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Uhr +steht natürlich -- Skandal! schon wieder mal das Aufziehen verbummelt! +Und schon ganz hell! Jeden Augenblick muß der Wagen kommen mit Pilgram, +dem gestrengen Senior, der so verdammt ungemütlich werden kann ... und +mit Durchlaucht, dem fürstlichen Konkneipanten eines wohllöblichen +C. C. der Franconia ... und dann warten lassen?! Herrgottsakra -- rin' +in die Buchsen --! + +Durchs offene Fenster schwamm herbstlicher Frühnebel in das schummrige +Studentenbudchen. Matt flimmerten an den Wänden die dreifarbenen +Wappenschilde, die gekreuzten Schläger, die langsam einstaubenden Mützen +und Bänder -- weit matter noch vom Schreibtisch her die Goldtitel des +_corpus iuris_, der spärlichen Lehrbücher der Rechtswissenschaft ... +Und weiß blinkte nun der gertengeschmeidige Körper des jungen Studenten: +Hals und Nacken wurden mit raschen, scharfen Güssen erfrischt, und dann +wusch der Jüngling sorgsam das dichte braune Haar mit schäumendem +Bay-Rum durch, um alle septischen Stoffe zu entfernen und der +Säuberungsarbeit des Paukarztes vorzuarbeiten ... Denn heute bekam Hans +Thumser Prügel, das stand in den Sternen geschrieben. Herr Borgmann, +Neo-Borussiae gewesener Zweiter, Erster _ad interim_ war der S. C. +Fechter ... gegen den konnte der schlanke Fuchsmajor der Franken nicht +an. Da galt es nur, sich gegen die unvermeidliche Abfuhr zu wehren, +solange Faust und Klinge hielten ... Schade, daß es gerade der Borgmann +sein mußte, der einen unterkriegte -- dieser üble Geselle, den man nicht +riechen konnte, mit seinem suffisanten Gesicht, seinem fatzkigen +Lächeln, den frostigen Froschaugen -- dem mal einen Streicher über die +Ohrfeigenvisage ziehen, von der Temporalis bis ins Kinn -- aber nee, +nich dran zu denken, er konnte zu viel, der Affe, der miserablichte! + +So -- die Toilette wäre beendigt! Noch einen Blick in den Spiegel -- +ade, du große schmale Nase, vielleicht auf Nimmerwiedersehen -- na, und +auf Stirn und Wange ist ja auch noch eine ganze Menge Platz, zwischen +den alten Abfuhren aus Heidelberg und denen vom Sommer, und nun statt +der grünen Mütze für heute den weichen Knockabout auf die Stirn gestülpt +-- denn in jener Stadt, in der das Reichsgericht saß, die erleuchtete +Körperschaft, welche die Schlägermensur für einen Zweikampf mit +tödlichen Waffen im Sinne des Strafgesetzbuches erklärt hatte -- im +guten biedern Leipzig waren Staatsanwaltschaft und Polizei nach der +Mahnung jenes schönen Würzburger Studentenverses tätig: + + »Darum auf, ihr Wächter des Gesetzes, + Hüter des Studentenpaukgehetzes -- + Lauscht überall + Auf Waffenschall + Und seid stets der Mensur + Auf der Spur!« + +Auch das dreifarbene Band wanderte zusammengerollt in die Tasche -- erst +draußen im braunen Herbstwalde bei Knauthain würde es sich um die junge +Brust schlingen dürfen ... und nun hinaus ... das Frühstück mußte man +sich für heut verkneifen, denn Frau Marie Wehe, genannt Mutter Ach, +stand um fünf Uhr noch nicht auf aus ihrem keuschen Witwenbette ... + +Als Hans Thumser im dunklen Korridor an der Tür zu der Nachbarbude +vorüberschritt -- der Nachbarbude, die dies Semester zu Mutter Achs +bittrem Schmerz unvermietet geblieben war -- da stolperte er plötzlich +über etwas Zierliches, Weiches ... was Teufel -- also doch noch +Nachbarschaft gekommen --?! + +Hans Thumser bückte sich und hob ein Etwas auf, das nur ... ein +Lackschuh sein konnte ... und zwar ein winziger ... mit knisternder +Seidenschleife besetzter ... ein feiner, geheimnisvoll irritierender +Duft entstieg ihm ... Hans Thumser trat mit seinem seltsamen Fund an +die Mattscheibe der Korridortür, die ein falbes Licht einfallen ließ, +und betrachtete mit der naiven Andacht seiner unverwöhnten zwanzig Jahre +das zierliche Wunder. Gott, welch eine Wirrnis von Träumen stieg empor +aus diesem schmalen Kahn der Sehnsucht ... Mit einem tiefen Seufzer, +von fröstelnden Schauern überrieselt setzte der Jüngling seine Beute +sacht und herzklopfend wieder vor die Tür, die nun auf einmal ein Eden +barg. Ein weißes Viereck schimmerte matt vor dem des Dämmers nun +gewöhnten Blick, als der Student sich wieder zu seiner ganzen Länge +aufgerichtet ... in unzähmbarer Neugierde tastete er nach seiner +Zündholzschachtel und las im zuckenden Flackerlichte die +lithographischen Schriftzüge: + + Asta Thöny + Herzoglich Meiningische Hofschauspielerin + +Was ... war das?! + +Hans Thumser hatte auf eines jener Dämchen geraten, die sich wohl +bisweilen im _Quartier latin_ einnisteten, um Jugendglut und +Monatswechsel der akademischen Bürger zu brandschatzen ... und nun --?! + +Eine Künstlerin ... ein Mitglied jener erlauchten Komödiantengilde, +deren Siegeszug dem staunenden Deutschland, nein der Kulturwelt erst +erschlossen die ganze Herrlichkeit des klassischen deutschen, des +klassischen germanischen Dramas --?! + +Hans Thumser sah sich in der Heimatstadt, auf einem Platze des zweiten +Ranges, den er vom Taschengeld abgeknausert, abgebettelt dem gütigen +Vater, der so schlecht nein sagen konnte -- sah sich sitzen als +ahnungsvollen Primaner und lauschen -- lauschen in Verzückung und +Tränen ... schauen voll seliger Gier und ungläubig-gläubigen +Ueberschwangs in eine Wunderwelt hinein, da alle seine Träume die +Erfüllung fanden ... und sah sich am andern Tage auf der Schulbank, +stumm und stumpf bei jeder Frage der Lehrer, gleichgültig gegen ihren +Zorn und den Spott der Mitschüler, die nicht ahnen konnten, was mit dem +Primus vorgegangen ... was ihm die flinke Zunge, das unfehlbare +Gedächtnis lähmte ... + +Und nun --?! Eine Meiningerin -- und seine Zimmernachbarin? + +Was konnte das bedeuten --? + +Etwa dies: daß die Meininger in Leipzig wären -- gastierten drüben im +Carolatheater --? + +Und davon -- davon hatte man nichts erfahren? + +Freilich -- unmöglich wär's nicht -- wie man so dahinlebte, das +Gladiatorendasein des aktiven Korpsstudenten ... + +Asta Thöny? Nein -- den Namen Asta Thöny verzeichnete seine Erinnerung +nicht -- das mußte wohl ein neues Mitglied sein, schlank und ... duftig +wie die Schuhchen, von denen nun, im wachsenden Tageslicht, ein paar +Lichtpünktchen aufgleißten aus dem Dämmer des Korridors ... + +Aber ein anderer Name stieg nun auf, ein weißleuchtendes Mädchenbild +tauchte glorienumstrahlt aus der Tiefe seiner Visionen: Jucunda Buchner, +die kaum Sechzehnjährige, die Thekla der Meininger ... + +Sie sah er, im dritten Akt der »Piccolomini«, einsam im finstern +Schloßgemach, mit der Laute hineingeschmiegt in einen faltenstarren +rotsamtenen Vorhang, scharf abgehoben die weiße Gestalt vom riesigen +Fenster, durch dessen hundert kreisrunde Scheiben die sternlose Nacht +hineinglotzte ... und wie ein Kind im Finstern singt, die +Herzensbangigkeit zu betäuben, so verloren, so verlassen, so +angstumschauert hatte das junge Weib seine schmachtende Weise vor sich +hingelallt: + + Der Eichwald brauset, die Wolken ziehn -- + Das Mägdlein wandelt an Ufers Grün -- + Das Auge von Weinen getrübet ... + + Du Heilige, rufe Dein Kind zurück -- + Ich habe genossen das irdische Glück -- + Ich habe gelebt und geliebet ... + +O Erinnerung ... o Ahnung ... o Kunst, du mächtige Weckerin, Vorschule +des Lebens, Tummelplatz der werdenden, in Werdeschauern erzitternden +Seele --! + +Gelebt und geliebet ... und du, junges Studentlein im finstern Korridor +-- aus dessen Dunkel die weißen Lichtpünktchen glitzern von Asta Thönys +Lackschuhchen -- --?! + +Hans Thumser schrak zusammen. Ihm war's, als hätte er aus weiter Ferne, +ungeduldig, seinen Namen rufen gehört ... + +Und richtig: + +»Thumser! Thumser! Zum Donnerwetter, wenn Du jetzt nicht kommst, fahren +wir ohne Dich!« + +Ach so ... ach ja ... die Stunde, die heischende ... die Stunde des +Burschenkampfes ... + +Hans Thumser fuhr auf, reckte sich -- kein Abschiedsblick mehr zurück zu +den Lichtpünktchen drunten, dem weißen Kärtchen an der Pforte des +Geheimnisses -- fort -- hinaus --! + +Er flog die krachenden Stiegen hinunter, der mächtige Haustürschlüssel +knarrte im Schloß -- und draußen auf der morgenstillen, morgenleeren +Sophienstraße empfing ihn ein Durcheinander von Begrüßung und Vorwurf -- + +»Na, Du Schlafratze -- endlich ausgepennt?« zürnte der Senior vom +Rücksitz aus. Und: + +»Hatten schon alle Hoffnung aufgegeben, Sie noch unter den Lebenden +begrüßen zu dürfen!« schnarrte der Major von Gorczynski, dessen kantige +Reiterfigur sich noch immer nicht in das elegante Zivil des +Prinzenbegleiters eingewöhnen mochte. + +Erbprinz Heribert aber, der durchlauchtigste Konkneipant der Franken, +zog nur stumm und mit indignierter Miene den steifen grauen Filzhut. +Also man ließ warten! na ja, an einer deutschen Hochschule funktioniert +der Betrieb nun einmal nicht wie am herzoglichen Hofe zu +Nassau-Dillingen ... man mußte Nachsicht üben ... + +Mit einem Ruck saß Hans Thumser neben seinem Korpsbruder auf dem +Rücksitz, dem Prinzen gegenüber, der ihn durch sein Monokel mit +kühl-durchdringendem Blick niederzuschmettern suchte, was ihm freilich +nicht gelang. + +»Also wenn Durchlaucht gestatten, fahren wir ab!« sagte Valentin Pilgram +mit korrektem Gesicht. Er war auch nicht sehr erbaut von der Ehre, einen +prinzlichen Mitkneipanten im Korps durch das Semester schleppen zu +müssen, zumal einen solchen faden Burschen, der nicht warm wurde unter +den Kommilitonen, deren Mütze er wie zum Maskenscherz die wenigen Male +aufsetzte, wenn er gelangweilt und verständnislos an den offiziellen +Veranstaltungen des Korps teilnahm ... indessen das gehörte nun einmal +dazu ... + +»Also los, Kutscher und lassen Sie gefälligst die Gäule loofen, sonst +fällt der erschte Hieb, ehe wir draußen sind!« + +»I herrjemerschnee, Herr Pilgram, das kann Sie ja gar nich passier'n -- +de Allererschten wär'n mer sein am Platze, da genn' Se sich drauf +verlass'n!« ... + +Als der Wagen anzog, fiel der Blick der Abfahrenden auf eine lange +Kolonne riesiger Möbeltransportwagen -- drüben waren sie aufgefahren vor +der nüchternen Häuserfront, deren Erdgeschoß die Einfahrt zum +Carolatheater durchstieß. Das Theater selber lag verborgen und +schmucklos dahinter im Hofe. Um die Wagen aber sammelte sich eine Rotte +herkulischer Blusenmänner und begann sie zu entladen. Was kam da alles +zum Vorschein! + +Das erste, was das Auge der Wageninsassen entdeckte, war der riesige +Körper eines schwarzen Pferdes, in liegender Stellung, in der Stellung +des Todes ausgestopft ... Unter derben Späßen hoben die untersetzten +Arbeiter die Bestie aus dem Finstern des Wagens und trugen sie in die +Dämmerung des Flurs. Und im schnellen Davonfliegen des Wagens erfaßte +der Blick der Enteilenden noch ein Chaos von Gegenständen, die bereits +ausgepackt an den Hauswänden lehnten: ein ganzes Arsenal eiserner +Rüstungen, Schwerter, Hellebarden, Federhelme ... und noch allerhand +Dinge, seltsam durch ihre Lage und Zusammenstellung: einen prunkvollen +gotischen Altar, einen mächtigen Eichbaumstumpf, dessen papierene +Blätter im Herbstmorgenhauche gespenstisch raschelten -- und endlich ein +kolossales Renaissance-Büfett, das Hans Thumser auf den ersten Blick +wiedererkannte: es hatte im Bankettsaal des Grafen Terzky gestanden, der +Zecherrausch der Friedländischen Generale hatte es umbrandet -- damals, +im Barmer Stadttheater, als Hans Thumser in Fieberschauern den +»Wallenstein« erlebte ... + +»Die reine Trödelbude --« sagte Valentin Pilgram, der Senior, und zog +die Winkel des schmalen Mundes verächtlich herab. »Ooch 'n Geschäft, +sich Abend für Abend die Visage zu beschmieren, sich vor so'ne Lappen +hinzustellen und mit Armen und Beinen zu fuchteln ...« + +Die blassen, matten Züge des Erbprinzen hatten sich plötzlich belebt. +»Sie vergessen, lieber Pilgram, daß diese Fuchtelei mit Armen und Beinen +doch manchmal ganz niedlich anzusehen ist ... namentlich wenn diese Arme +und Beine -- halten Sie sich mal die Ohren zu, Herr Major! -- na also, +wenn sie schlank, jung und ... _feminini generi_ sind ...« + +»-- _gener=is=_, Durchlaucht!« erlaubte sich der Erzieher zu bemerken. + +»Echauffieren Sie sich nicht, lieber Major -- als Sprachlehrer sind Sie +nicht engagiert -- Sie haben nur für meine Moral zu sorgen -- wenn's +auch schwer fällt ... aber nun sagen Sie mal, Sie Alleswisser -- was +bedeutet denn dieser Apparat da vor dem ollen muffigen Carolatheater?« + +»Die Meininger, Durchlaucht, beginnen in fünf Tagen ein vierwöchiges +Gastspiel in Leipzig,« sagte der Major. + +»Und das haben Sie mir bis jetzt unterschlagen, Sie Cerberus?« + +»Ich habe nicht gewußt, daß Durchlaucht sich auch für =ernste= Kunst +interessieren ...« + +»Ah bah -- Theater ist Theater ... und wo kann der Thronfolger eines -- +na sagen wir mal eines Staates von mäßigem Umfang -- wo kann ich mich +besser auf meinen künftigen Beruf vorbereiten als im Theater? Mein +Hoftheater, das ist doch der einzige Platz, wo ich später ... +gewissermaßen ... wirklich mal was zu sagen haben werde ...« + +»Durchlaucht ... ich darf wohl bitten ...« warf der Major ein. + +»Na, jedenfalls ist das meine Auffassung!« lachte der Erbprinz, »-- +können Sie meinetwillen nach Dillingen berichten! Und das bitte ich mir +aus, Herr Major: bei den Meiningern belegen Sie heut abend sofort die +vorderste Proszeniumloge! Ich sehe mir die ... Kunst ... gern aus der +nächsten Nähe an! Lieber Pilgram -- zur Eröffnungsvorstellung sind Sie +mein Gast, nicht wahr?« + +»Sehr gütig, Durchlaucht ...« sagte Valentin Pilgram und sann nach. +»Das wäre, soviel ich weiß, am nächsten Mittwoch ... da haben wir +allerdings offizielle Kneipe, und ich als Erster Chargierter dürfte +eigentlich nicht ... und dann ... habe ich auch nicht allzuviel fürs +Theater übrig ...« + +»Philister Sie! Na und Sie, Herr Thumser -- wie wär's mit Ihnen?« + +Hans Thumser wurde glühendrot ... halb in Glück, halb in Befangenheit +... er hatte sich bereits schmerzlich bewegt ausgerechnet, daß es gegen +Ende des Monats gehe, und sein Wechsel ihm einen Besuch der Meininger +wohl schwerlich vor dem ersten November gestatten würde ... also das +fiel ja geradezu vom Himmel ... andererseits ... mit diesem blasierten, +schwunglosen Menschen zusammen -- wie würde er's ertragen, in seine +Andacht hinein solche Reden vernehmen, gar ihnen ehrerbietig lauschen zu +müssen? + +Dennoch ... besser als gar nichts ... + +»Ich nehme mit Freuden an, Durchlaucht ...« + +»Also abgemacht! Was gibt's denn, Herr Major?« + +»Jungfrau von Orleans ...« + +»Ausgerechnet --!« schnarrte der Prinz -- »Schiller --! Gymnasium in +Wiesbaden -- verfluchten Angedenkens! Schiller! Was ist Schiller? Eine +Serie von Aufsatzthemen --!!« + +»Stimmt!« rief Pilgram. »Keine zehn Pferde ziehen mich ins Theater, wenn +Schiller gespielt wird! 'Die tragische Schuld der Maria Stuart' -- +'Wallenstein, ein tragischer Charakter' -- 'Die poetische Gerechtigkeit +in der Braut von Messina' -- pfui Deuwel! um junge Hunde zu kriegen --!« + +Wie bin ich unter diese Menschen geraten? dachte Hans Thumser. Warum +trage ich die gleiche Mütze und die gleichen Farben wie sie? Kein Takt +des Herzschlags, kein Gefühl, kein Wort ist mir mit ihnen gemeinsam ... + +Und derweil rollte der Wagen seitwärts durch die nüchternen, +morgenleeren, hallenden Straßen der Südstadt, dem fernen Kampfplatz +entgegen, wo Hans wieder einmal seine Zusammengehörigkeit mit seinen +Korpsbrüdern, seine Zugehörigkeit zum Frankenbunde mit seinem Herzblut +besiegeln sollte ... + +»Vergessen Sie nicht, Durchlaucht, daß Jucunda Buchner die Jungfrau +spielt ...« + +»Jucunda Buchner? Ist -- wer?« + +»Nun, der jugendliche Stern der Meininger -- einfach Sehenswürdigkeit -- +gewissermaßen das deutsche Mädchen in Reinkultur --« + +»Schön -- also abgemacht!« sagte der Erbprinz. »Aber halten Sie mich +fest, lieber Major, sonst mach' ich Dummheiten...« + +»Buchner?« sagte der Senior, »hm -- da fällt mir was ein. Mein Hauswirt, +der Kanzleirat Buchner, der hat ja, soviel ich weiß, irgendwo 'ne +Tochter beim Theater ... das wäre doch ulkig ... soviel ich weiß, wurde +ihre Ankunft erwartet ... und ich mein' auch, daß sie in Leipzig spielen +sollte, hätte die Alte erzählt -- ich hab' aber nicht recht hingehört -- +was geht mich das Theater an ...« + +»Herrgott, Mensch -- das Theater!« platzte Thumser heraus. -- »Hier +handelt sich's doch um die Meininger! Hast Du davon überhaupt eine +Ahnung, was dieses -- dieses Theater bedeutet? Die Entdeckung der +Klassiker, ihre Eroberung für die Bühne unserer Zeit, die Entbindung all +der tausend köstlichen Sinnlichkeiten, die im Drama unserer Großen +schlummern -- bist Du denn solch ein Barbar, solch ein Banause, daß Du +von all dem nichts weißt -- daß all das für Dich nicht existiert?« + +»Na, entschuldige schon, daß ich existiere!« schnarrte der Erste. »Ne +wirklich, teures Thumserherz, das alles ist mir schnuppe, schnupper, am +schnuppesten! Ich halt's mit meinem Vater, der nie in seinem Leben ins +Theater gegangen ist und doch Senatspräsident am Oberlandesgericht in +Dresden geworden ist, und jedenfalls noch ein Endchen weiter kommen wird +im Leben, eh er Schluß macht! Kunst ist Spielzeug für charakterlose +Müßiggänger -- unsere Zeit aber braucht Arbeiter, Charaktere -- Männer, +verstehste?!« + +»Bumm, bumm, bumm! Tusch!« sagte der Prinz. »Sie sind zum +Landtagsabgeordneten qualifiziert, lieber Pilgram ...« + +»Verzeihung, Durchlaucht, es muß auch -- Landtagsabgeordnete geben! Ne, +lieber Thumser, lauf Du nur immer ins Theater und laß Dir -- wie hast Du +so schön gesagt? -- laß Dir Deine tausend köstlichen Sinnlichkeiten +entbinden -- mein Bedarf ist mit Fechtboden, Kneipe und Windscheids +Drogenweltkolleg vollkommen gedeckt!« + +»Und so was hat nun das Glück, mit Jucunda Buchner unter einem Dache zu +wohnen ...« seufzte Erbprinz Heribert. + +»Das weiß ich noch nicht, das ist nur eine Vermutung von mir, +Durchlaucht ... Uebrigens ist die Sache wirklich ohne Interesse für +mich. Mit einer Komödiantin möcht' ich noch nicht mal eine Poussage +haben ... man kann ja doch nie wissen, ob sie einem nicht was vormimt +und einen innerlich auslacht ...« + +»Na, teurer Pilgram, nu sei'n Se aber friedlich!« schmunzelte der +Erbprinz. »Davon versteh'n Sie nu wirklich nischt -- det haben Sie noch +nich gehabt!« + +»Sie doch auch nicht, wie ich hoffe, Durchlaucht!« sagte der Major +und blinzelte seinem jungen Herrn unter grimmig zusammengezogenen +Brauen verschmitzt zu. Und Erzieher und Zögling wechselten ein +Augurnlächeln ... + +Der Wagen rollte. Niederer wurden die Häuser, die beiderseits die +Connewitzer Landstraße umsäumten. Und bald wurde die Bebauung offener, +ländlicher. Dann bog die Fahrt nach rechts, und in die braunen +Schattenhaine des Streitholzes ging's hinein, die Pleiße wurde +überschritten auf knarrender Holzbrücke, unter der sich die gelben +Fluten träge hinwälzten, noch angeschwollen von den ersten Herbstregen, +welche die vergangene Woche gebracht. Aber heut rang sich aus +Nebelbrodem die verschlafene Morgensonne mühsam durch, umgoldete das +rötliche Buchenlaub zu Häupten der Dahinrollenden, verhieß einen lustig +blanken Fechtertag, den letzten unter freiem Himmel für dies Jahr: der +nächste würde schon im benachbarten Halle, richtiger im Vorort +Cröllwitz, steigen müssen, an der murmelnden Saale, gegenüber den +reckenhaften Trümmern des Giebichenstein. + +Allmählich wandte sich das Gespräch von dem strittigen Thema des +Theaters zum minder kontroversenreichen des nahen Bestimmtages hinüber. +Daß der Fuchsmajor der Franken heute seine todsichern Senge bekommen +würde, galt als ausgemachte Sache, über die niemand Worte zu verlieren +brauchte. Es fragte sich bloß, ob Hans Thumser auf seine notorische +vielgeprüfte Quartblöße oder auf Borgmanns allgefürchteten Durchzieher +abgestochen werden würde -- von dem Valentin Pilgrim, der Senior, im +Gesicht bereits ein stattliches Exemplar trug, welches Ohrläppchen und +Mundwinkel mit einem linealgraden breiten Strich verband ... + +Aber während man also über Hans Thumsers nächste Zukunft verhandelte, +das Schicksal seiner linken Gesichtshälfte sachverständig abtaxierte +-- -- war Hans Thumsers Inneres auf geheimnisvolle Weise in +Gleichgültigkeit und Fernsein untergetaucht. + +Jungfrau von Orleans ... sang es in seinem Herzen ... Jucunda Buchner +... das war wie eine leuchtende, gnadenvolle Nähe, wie ein offener +Himmel, aus dem eine lichte Madonna sich neigt, gegenwärtig und doch +unnahbar, bekannt und doch undurchdringlich ... + +Und zwischen die Choralmelodien, die Harfenarpeggien, welche das +Heiligenbild umschauerten, kicherte und schwirrte es hinein wie +Flötentriller, wie kecke Geigenpizzicati: + +Asta Thöny ... Asta Thöny ... + +Und ein paar neckische, blinkende Lackschuhchen tanzten auf und nieder, +aus denen zwei schlanke, seidenbestrumpfte Knöchel guckten -- was +darüber war, verschwand in rosigen Schleiern, aus denen es lachte und +girrte wie Taubengurren: + +Asta Thöny ... Asta Thöny ... + +Ernsthaft und aufrecht saß Valentin Pilgram, der gestrenge Senior des +Korps Franconia. Als läge die Regierungslast eines Millionenstaates auf +seinen Schultern, so pflichtdurchdrungen, so würdeumbauscht saß er und +übersann das Programm des Tages ... Ob Heinz Hartwig, das muntre, +taprige, ewig korkende Füchslein, wohl heute endlich eine einwandfreie +Mensur liefern würde und daraufhin ins engere Korps rezipiert werden +könnte? Und Ivo Volkner, der leichtblütige Rheinländer aus Düsseldorf, +dessen letzte Mensur auch keineswegs tadelsfrei gewesen war -- ob er +wohl sein unstätes Musikantentemperament heute so weit im Zaume halten +würde, um sich herausreißen zu können? + +Und was sollte der C. C. auf den merkwürdig schnoddrigen Brief unseres +lieben Kartellkorps Pomerania zu Göttingen antworten? Ob es nicht doch +besser war, das alte Kartellverhältnis zu lösen und ein +frisch-fröhliches P. P. zu fechten?! Aber was würden die gemeinsamen +Alten Herren sagen? + +Und ob man den Rektor zur C. C.-Antrittskneipe einladen mußte -- +anläßlich der hohen Ehre, daß ein richtiggehender Prinz und Thronfolger +zu den Konkneipanten des Korps zählte? + +Ja, man hatte schon seine Sorgen ... Der Reichskanzler war am Ende auch +nicht viel schlimmer dran als der Erste Franconiae-Leipzig ... + +Der Erbprinz aber träumte von einer fernen Zukunft ... noch war der alte +Herr ja ... hm, hm! -- erheblich rüstig ... und seine Altersgenossen, +die Leutnants des Sophien-Regiments, hatten ihm gelegentlich in später +Stunde, wenn der Sekt die Zungen gelöst, das Gefühl der Distanz ein +wenig gemildert hatte -- na ja, dann hatten sie ihm gelegentlich etwas +gesteckt von all dem Gemunkel, das in der Residenzstadt umlief über die +zarten Beziehungen des hohen Herrn zu der weiblichen Elite des +Hoftheaters ... + +Er, Heribert Hans Herwig, würde sich das erlauchte Vorbild seines +gnädigsten Vaters zum Muster nehmen, wenn er einmal als Heribert XIV. +das Thrönchen seiner Väter bestiegen haben würde. + +Inzwischen hielt man sich studienhalber in Leipzig auf und würde auch da +auf seine Rechnung zu kommen wissen ... + +Jucunda Buchner ... das klang recht verheißungsvoll ... und Jungfrau von +Orleans ... Himmel, es gibt allerhand Arten von Jungfrauen ... + +Nun war man »draußen«. Mitten im tiefschattigen Buchenwald ein +wuchtender Eichbaum, sonst von tiefem Dämmerfrieden umwirkt, heut +umbraust von einem bunten, farbentollen Leben. Die wilden +Völkerschaften, die inmitten moderner Gesittung ein mittelalterliches +Reckendasein führten bei Waffenklirren, rauhem Sang und schäumenden +Kannen, die Franken und die Neo-Borussen, die Westfalen und Meißner und +Thüringer, hier hatten sie sich Stelldichein gegeben zur +allwöchentlichen feierlichen Rauferei. Und diesmal, als am ersten +Bestimmtage des Semesters, war alles in besonders gehobener Stimmung. +Die alten Bekannten in den verschiedenen Korps begrüßten sich hinüber +und herüber, mit besonderer Herzlichkeit jene, die bereits einmal oder +gar mehrmals die Klinge gekreuzt hatten -- wesentlich zeremonieller +schon jene, denen heute der blutige Gang bevorstand. Alles war in Wagen +gekommen, die nun als langer Park auf der Chaussee aufgefahren waren, +stets bereit, mit den Paukanten in Windesschnelle davonzusausen, wenn +die weithin aufgestellten Schnarrposten die Annäherung von Pickelhauben +und grünen Waffenröcken melden sollten. Alles war im »Bummel« gekommen, +das heißt im Hut, die Couleur in der Tasche; nun wurden schleunigst +Mützen und Bänder angelegt: gar lustig flimmerten auf dem bunten Tuch, +der dreifarben-gestreiften Seide, die Sonnentupfen, die durchs braune +Laubdach sich niederringelten. Und bald stand das erste Paar bereit: +Pilgram, Franconiae Erster, gegen den stämmigen Zweitchargierten der +Meißner. + +Und nun -- heiho! Gellende Kommandorufe hinein in die lauschende Stille, +widerhallend an den schlanken, weißleuchtenden Buchenstämmen ... und +nun: klirr, klirr der helle Klang, wenn Eisen scharf auf Eisen traf, im +Wechsel mit dem dumpfen Knall der flachen Hiebe, die über Stulp und +Schädel krachten -- heiho! uralte Reckenlust am tollen Raufen, am harten +Widereinander der jugendlichen Kräfte ... + +Jähes Halt der Sekundanten, Pause, Blut rinnend hüben über die schmalen, +herrischen Züge des Frankenseniors, drüben über die feisten Speckbacken +des Fechtchargierten der Meißner ... und wiederum Kommandos, hageldichte +Hiebe, Stahl auf Stahl ... + +Und dann war's plötzlich aus: der Meißner hatte seine Abfuhr weg, eine +lange Quart, fast unpariert, überm linken Ohr. Und in die +blutbeschmierte Bandage mußte nun Hans Thumser hinein. + +Schon stand er dem verhaßten Borgmann gegenüber, schon faßten die Gegner +einander fest ins Auge, schon flogen die Klingen in die Auslage, +kauerten die Sekundanten wie sprungbereite Katzen zu ihrer Kämpfer +Seiten -- da entstand eine Bewegung unter der lauschenden Korona. Auf +dem weichen Waldboden scholl ein dumpfes Klackern wie von Huftritten, +und auf dem schmalen Pfade, der am Wiesensaum entlang sich zog, flitzten +zwei Reiter heran -- aber nicht die Grünröcke der Gendarmen -- +Zivilisten waren's, ein Herr und eine Dame. Hans Thumser sah, wie alle +Köpfe sich wandten -- doch ihm blieb nicht Zeit -- nur einen grauen +Schleier sah er wehen von einem hohen, schwarzglänzenden Seidenhut; sah +etwas Lichtes, Klares darunter, hell abgehoben vom dämmernden Waldgrund +-- und dann -- + +»Auf die Mensur -- bindet die Klingen!« + +»Gebunden sind --!« + +»Los!« + +Und nun alles Leben in Aug und Handgelenk hinein sich krampfend -- und +ein Wille nur -- sich wehren -- und treffen! treffen --!! + +»Halt!« + +»Halt --!!« + +Und auch hier schon nach dem ersten Gange helle rote Bäche rinnend über +weiße Stirnen, zernarbte Wangen ... + +Und während der Paukarzt mit dem Wattebausch in Hansens klaffende +Stirnwunde tupft, vernimmt des Fechters Ohr ganz deutlich aus der Mitte +der Umstehenden die Worte: + +»Das ist die Buchner!« + +Und eine andere Stimme fragt: + +»Und der Herr -- wer ist das?« + +»Das ist Franz Burg -- der Heldenspieler ...« + +Inzwischen hat der Paukarzt seine Untersuchung beendigt; er lächelt: + +»Weiter!« + +»Herr Unparteiischer -- von unserer Seite kann's weitergehen ...« + +Aber drüben bei den Neo-Borussen scheint man noch nicht so recht im +Klaren ... na, wenn Hans Thumser auch schließlich wird dran glauben +müssen: auch Herr Borgmann hat sein Teil bekommen, scheint's! + +Er lugt umher: dort halten sie, die Reiter, unterm Eichbaum und spähen +neugierig hinüber ... Ja, das glaub' ich, ihr Komödianten -- so etwas +bekommt ihr nicht alle Tage zu sehen -- hier schwingt man die Waffe +nicht nur zum Spiel -- und was hier Stirn und Wange färbt, ist +wirkliches Blut, nicht Schminke ... + +Und dies schmale, feine junge Gesichtchen -- das ist ... Thekla -- das +ist Johanna von Arc?! + +Nun werden auch die Neo-Borussen wieder munter: + +»Herr Unparteiischer, von unserer Seite kann's weitergehen!« + +»_Silentium_ -- Pause _ex_!« + +»Auf die Mensur -- bindet die Klingen!« + +Jucunda! betet irgend etwas in Hans Thumsers Seele. Er fühlt, wie alle +Sehnen sich straffen. + +»Gebunden sind!« + +»Los!« + +Und zweimal, dreimal schmettert Hieb auf Hieb -- und: + +»Halt!« + +»Halt!« + +»Herr Unparteiischer, bitte drüben nachzusehen und einen Blutigen zu +konstatieren!« ruft Valentin Pilgram, Hansens Sekundant, wilden Triumph +in der Stimme -- sich aufrichtend, zischt er seinem Paukanten ins Ohr: + +»Du -- das ist Rest!!« + +»Rest? Bei wem? Bei mir?« fragt Hans Thumser ganz verdutzt. + +»Ne -- da drüben -- bei Borgmann! Teufel auch, Thumser -- der +Durchzieher -- so was darfste öfters schlagen!« + +Was? Er -- Hans Thumser -- er hätte den S. C. Fechter -- --? +Donnerwetter! + +An des Gegners Stirn klaffte ein breiter roter Spalt, aus dem zwei feine +warme Strahlen spritzten -- + +»'raus!« sagt drüben der Paukarzt. + +»Herr Unparteiischer, wir erklären die Abfuhr!« + +Borgmann stampfte vor Wut mit dem Fuß, als der Paukarzt von hinten mit +kräftigem Griff seine Stirn zusammenpreßte und ihn herumdrehte. Was +half's? + +»_Silentium_ -- Neo-Borussia erklärt Abfuhr nach anderthalb Minuten!« + +Als Hans Thumser sich aus dem Schwall der Glückwünsche seiner +Korpsbrüder losmachte und Ausschau hielt -- war das Reiterpaar +verschwunden. + +»Gratuliere!« sagte Erbprinz Heribert. »Fabelhaft, lieber Thumser, meine +vollste Bewunderung! Haben Sie übrigens die Buchner gesehen?! Vollkommen +tadelloses Mädchen ...« + + + + + 2. + + +Wenn Hans Thumser auf ein Glück wartete, so machte die Ungeduld ihn +krank, verdarb ihm jede Minute mit zehrender Sehnsucht. So war es schon +immer gewesen, solange er sich seiner erinnern konnte. Die letzten +Wochen vor dem Weihnachtsfest, vor dem Beginn der Sommerfrische waren +ihm stets eine endlose Tortur gewesen ... Und als er später begonnen +hatte zu empfinden, daß nur die Stunden wahrhaft lebenswert seien, in +denen er mit einem gewissen braunbezopften Menschenkind unter einem +Dache weilen durfte ... da war alles, was zwischen diesen Stunden lag, +nur wie ein unermeßlich langer, böser, dumpfer Traum und Alpdruck +gewesen ... + +Und so bedrückend, so angstumschnürt wälzten sich auch die Tage dahin, +die Hansens Mensurtriumph noch von der Eröffnungsvorstellung des +Meininger Gastspiels schieden. Er saß inmitten seiner Korpsbrüder, +schwatzte und trank mit ihnen wie immer, ließ ihre Lobesbezeigungen mit +der gleichen Gelassenheit über sich ergehen wie den boshaften Spott der +Neider, es sei nur ein »Schweinedusel« gewesen, daß er den S. C. +Fechter hinabgetan habe ... Er ließ auf offizieller Kneipe seine Füchse +in die Kanne steigen, daß sie quietschten, und schrieb morgens bei +Windscheid und Binding im Kolleg mit einem ganz ungewohnten, +krampfhaften Eifer nach, als steure er auf ein Prädikatexamen los -- -- +und all dies Tun blieb seiner Seele so fern, so fern ... + +Manchmal fragte er sich, ob er wohl bei ganz gesundem Verstande sei -- +ob es nicht eine fixe Idee, ein krampfhaftes Wahngebilde sei, das ihn so +grenzenlos hungern ließ nach -- nach einem Nichts, einem Spiel, dem +flüchtigen Schattenbilde eines Dichtertraums ... Und dann wieder genoß +er mit einer phantastischen Seligkeit sein Wesen, das ihn vom wachen +Leben hinweg so unwiderstehlich in luftige Spukwelten drängte ... + +Nur die Stunden zählten wenigstens halb, die er am Fenster seiner Bude +verbrachte, hinüberstarrend zur nüchternen Front jener Gebäude an der +langweiligen Sophienstraße, hinter denen der kahle Bau des +Carolatheaters sich barg. Dort war um die Vormittagsstunden ein +lebhaftes Kommen und Gehen. Früh um neun begannen die Proben, natürlich +nur für die neuangeworbene Statisterie, denn für die Solo-Rollen +»standen« selbstverständlich alle Stücke des Repertoires. Aber die +stattliche Schar des »Volkes«, die in jeder Stadt aufs neue +zusammengebracht und gedrillt werden mußte, die wimmelte heran, füllte +die sonst stille Straße mit Lachen und Geschwätz ... braunäugige Töchter +kleiner Bürgersleute, stellungslose Ladenfräulein und Kommis, +Stadtreisende und Konservatoristen -- vor allem aber Studenten, +Studenten von jener Sorte, die der Waffenstudent eigentlich nicht +mitrechnete, und die trotzdem die weitaus überwiegende Mehrzahl der +akademischen Bürgerschaft bildete: die »Finken«, auch »Bummler« genannt, +obwohl sie natürlich weit weniger bummelten als die jungen Herren in +Mützen und Bändern ... gar zu gerne hätte Hans Thumser sich mit ins +Gewühl der Statisten gemengt, um als »Volk« oder »Friedländischer +Soldat« oder als römischer Quirite sich an den großen, festlichen +Unternehmungen zu beteiligen, die da drüben vorbereitet wurden ... Und +eines Tages hatte er sich's getraut, vor den Ersten hinzutreten mit der +Bitte: + +»Sag' mal, Pilgram, wie ich höre, wirken eine ganze Menge Studenten in +den Vorstellungen der Meininger als Statisten mit -- hättest Du was +dagegen, wenn ich da ebenfalls mittäte?« + +Der Erste sah den Fuchsmajor mit einem Blick an, als bäte dieser um +Erlaubnis, silberne Löffel zu stehlen. + +»Hör mal, Du, Dein Kopfschmiß von Sonnabend eitert wohl nach innen, +he?!« + +Also damit war es nichts ... und so mußte man sich denn begnügen, von +weitem zuzuschauen, wie die glücklicheren Kommilitonen, frei des +korpsstudentischen Zwanges, nach Schluß der Probe froh erregt, mit +glühenden Köpfen, lebhaft diskutierend dem Eingangstor des Theaters +entströmten, um die namenlosen Kneipen aufzusuchen, in denen sie nach +eigener Wahl und entsprechend der Rücksicht auf die Dimensionen ihres +Monatswechsels verkehrten. Und inmitten dieser Beneidenswerten kamen +auch die Helden und Heldinnen aus der Probe -- natürlich mußten ja auch +sie wenigstens die Massenszenen immer wieder aufs neue mit probieren ... + +Und noch ein andres heimliches Fest blühte für Hans Thumser innerhalb +seiner bescheidenen vier Wände, die glücklicherweise so dünn waren, daß +sie manch ein Geräusch durchließen von jener geheimnisvoll lockenden +Welt, die hinter ihnen sich barg: das Klappern zierlicher Pantöffelchen, +das Rascheln seidener Röcke, keckes Mädchenlachen und halblautes +Geschwätz, wenn Kolleginnen drüben zum Besuch kamen ... Aber noch immer +war's ihm nicht geglückt, seine Nachbarin von Angesicht zu Angesicht zu +sehen. + +Inzwischen baute Hans in seinem Herzen ein seltsam Kirchlein auf: droben +war ein feierliches gotisches Heiligtum, in dem Jucunda Buchners weiße +Gestalt auf ernstem Altare stand, von Weihrauch und Kerzengeflacker +umspielt ... darunter aber, tief unter der Erde, barg sich eine dämmrige +romanische Krypta, in der tolle Orgien verbotener, heidnischer Kulte +nächtens gefeiert wurden vor einem üppig lächelnden Götzenbild -- seine +Züge waren nicht genau erkennbar -- verschwammen im hüpfenden +Fackellicht, das durch den Raum dunstete ... + +Aber Hänschen Thumser war nicht der Mann des tatenlosen Zuwartens. Es +mußte etwas geschehen, die dumpfe Qual dieser sehnsüchtigen Tage zu +verkürzen. Aber was? Immer wieder mündeten seine Pläne in die +Erkenntnis, daß man einem jungen verwöhnten Mädchen -- und eine +Schauspielerin konnte man sich ja doch nicht anders vorstellen als jung +und verwöhnt, nicht wahr? -- daß man solch einem Liebling der Götter und +Menschen nur nahen könne mit gebenden Händen ... und seine Hände waren +leer ... der Monatswechsel heidt -- knapp noch das Nötigste für die +letzten Tage vorhanden ... + +Auf einmal -- welch glorreicher Gedanke! Hänschen Thumser konnte ja +etwas, das am Ende doch nur die wenigsten unter Asta Thönys Verehrern -- +gewiß hatte sie unzählige -- reiche Bankiersöhne und Gardeleutnants und +-- na und solche Leute mit unerschöpflichen Portemonnaies -- aber gewiß +konnten solche Leute meistens eines nicht, oder wenigstens nicht so gut +wie Hänschen Thumser -- nämlich =dichten=! + +Juchhe! Hänschen hat kein Geld, um kunstvolle Blumenarrangements zu +kaufen -- aber wunderschöne Verse kann er machen! -- Also los! ein Blatt +aus dem Kollegheft gerissen und gereimt auf Deuwel komm heraus! + + »Ich bin ein junger Korpsstudent, + Die Schuhe Lack, der Rock patent -- + Korrekt und schick an mir ist alles --« + +lauter unbestreitbare Wahrheiten! aber nun kommt der Haken. + + »-- im Portemonnaie nur haust der Dalles --« + +So -- immer frisch heraus mit dem sauren Bekenntnis, dann weiß Asta auch +gleich, wie sie mit mir dran ist -- was sie von mir zu erwarten hat -- +und was nicht ... + + »Doch da das Schicksal über Nacht + Zu Budennachbarn uns gemacht --« + +(Ach du liebes, gnädiges Schicksal du!) + + »-- müßt' ich Dich eigentlich begrüßen, + Und Rosen legen Dir zu Füßen -- + Wie gerne würd' ich mich erdreisten -- + Doch leider --« + +Alle Wetter: das wird ja ein prachtvoller Reim: + + »-- kann ich mir's nicht leisten ...« + +Nun ein zweites offenes Bekenntnis: + + »Noch kenn' ich Dich, Du Schelmin, nicht, + Sah nicht einmal Dein Angesicht -- + Nur --« + +Gott, bleiben wir doch schon bei der Wahrheit: + + »-- hab' ich morgens früh gesehn + Vor Deiner Tür zwei Schuhchen stehn -- + So winzig, duftig, elegant --« + +Hans! du imponierst mir! So viel edle Dreistigkeit hätt' ich dir gar +nicht zugetraut -- aber freilich: auf dem Papier, und mit einer +schützenden Scheidewand dazwischen -- -- Aug' in Auge würde das Debüt +wohl etwas kümmerlicher ausfallen, wie? -- Aber weiter, weiter -- einen +Reim auf »elegant« -- pah, Spielerei! + + »-- daß gleich mein Herz in Flammen stand --« + +-- nein, das ist doch zu billig, zu abgeschabt: + + »Da gab es Funken -- Flammen -- Brand!« + +Ja, es ist eine alte Sache: Verse werden immer am besten, wenn man ganz +geradezu ausspricht, was wirklich passiert ist: + + »Und seitdem träum' ich wahnbetört, + Von dem, was da hineingehört --« + +Ist das nicht ... doch ... gar zu unverschämt?! Ach was, mehr wie hauen +kann sie schließlich nicht! + + »Willst Du mir's auf den Nacken setzen, + Mir wär's ein sklavisches Ergetzen --« + +-- ne, das ist ein falscher Ton -- von der Sorte sind wir doch nicht! -- + + »Ach, dürft' ich's einmal -- einmal küssen -- + Wirst mir's schon noch -- erlauben müssen -- + O welche süße Phantasie -- + Und ach -- probiert hab ich's noch nie -- --« + +Hans überlas das Geschriebene. Himmel, ist das schnurrig, wenn's auf +einmal so in einem zu dichten anfängt! Ein ganz andrer Mensch kommt da +plötzlich zum Vorschein als der, den man so im Leben darstellt ... + +Hatte er das wirklich geschrieben, er, der wohlerzogene Beamtensohn, der +geschniegelte, korrekte Korpsstudent, der künftige Richter des Volkes?! + +Ach, und es gefiel ihm so gut -- daß er's ganz hastig und mit fliegenden +Fingern ins Reine schrieb und kuvertierte ... dann stülpte er die grüne +Mütze auf, lauschte, ob seine Nachbarin daheim sei ... und da er +keinerlei Geräusch hörte, klinkte er im Vorbeigehen sachte die Tür zum +Nebenstübchen auf und sah -- + +Sah durch den Spalt eine zierliche Mädchengestalt in weißem Unterrock +und weißem Frisiermantel schlafend aufs Sofa hingestreckt ... ein +schwarzes Wuschelköpfchen ... und über den Rand des Sofas guckten ein +paar schwarzbestrumpfte Füße, an denen zierliche rote Halbpantöffelchen +baumelten ... + +Und schon hatte er mit einem Ruck den Briefumschlag mit seinen +unverschämten Versen mitten in die Stube geschleudert, die Tür mit +hartem Knall zugeklinkt -- und flog nun die Stufen hinunter -- die grüne +Mütze war ihm in den Nacken gerutscht, seine Wangen brannten, und +draußen zog er mit seinem spanischen Rohr einen Durchzieher durch die +Luft, daß es nur so pfiff. + + +Wie in Hans Thumsers unoffiziellem Herzen, so war auch in Valentin +Pilgrams korrekter Chargiertenseele Revolution ausgebrochen, und auch +die um einer Zimmernachbarschaft willen. Aber diese Revolution war doch +von einer ganz anderen Sorte und gipfelte in der Erklärung, die der +Senior in energischem Tone an die Frau Kanzleirat Buchner abgab: er +kündige hiermit seine Bude und werde sofort ein andres Quartier suchen, +wenn man den ruhestörenden Lärm und groben Unfug da nebenan nicht +abzustellen die Mittel finden würde ... + +Und das war so gekommen: + +Valentin Pilgram stand im sechsten Semester. Er war bereits zwei +Semester in Berlin inaktiv gewesen und nur nach Leipzig zurückgekehrt, +weil er als Königlich sächsischer Untertan sein Referendarexamen in +Sachsen ablegen mußte. Er war auf dringendes Bitten des C. C. zu Anfang +des Semesters noch einmal wieder aktiv geworden und hatte die erste +Charge interimistisch übernommen, weil kein anderer geeigneter +Korpsbursch für diesen Posten da war, und der Vertreter des Marburger +Kartellkorps, der die erste Charge später definitiv bekommen sollte, +doch erst einmal in Leipzig und im Korps warm werden mußte. +Interimistisch bekleidete dieser junge Herr die zweite Charge. Und so +teilte Pilgram mit seiner ganzen feierlichen Gewissenhaftigkeit seine +Zeit zwischen dem Korps und der Vorbereitung fürs Examen. Und in der +letzteren war er nun plötzlich und gründlich unterbrochen worden durch +ein grollendes Getöse, das aus der Nachbarkammer in seinen +Studienfrieden hinüberklang, aus der Nachbarkammer, in der, wie er +gelegentlich mit halbem Ohr vernommen hatte, die Tochter seiner +Hauswirte, die herzoglich meiningische Hofschauspielerin Jucunda +Buchner, für die Dauer des Gastspiels ihres Ensemble einquartiert +worden war. Mitten in die Lektüre der Windscheidschen Drogenweltweisheit +war da plötzlich eine sonore Altstimme hineingeklungen, zunächst in +sachtem, murmelndem Repetieren, dann aber in selbstvergessen wildem +Ausbruch: + + »Und =einer= Freude Hochgefühl entbrennet, + Und =ein= Gedanke schlägt in jeder Brust --« + +Da war der reckenhafte _candidatus iuris_ mit einem Wutknurren +aufgefahren ... aber umsonst: die sonore Stimme drinnen grollte weiter +-- sänftigte sich nun zu herzbeklommener Klage: + + »Doch mich, die all dies Herrliche vollendet, + Mich rührt es nicht, das allgemeine Glück, + Mir ist das Herz verwandelt und gewendet, + Es flieht von dieser Festlichkeit zurück ...« + +Aber bald schrillte sie wieder auf mit jähem Wehlaut, daß sich vor Wut +und Entsetzen dem Rechtskandidaten die Gedärme umkehrten. + + »Sollt' ich ihn tö--öten? Konnt' ich's, da ich ihm + Ins Auge sah? I--h--n tö--ö--öten? Eher hätt' ich + Den Mordstahl auf die eig'ne Brust gezückt!« + +Das war zuviel! Der Student riß einen seiner Lederpantoffeln von den +Füßen und pfefferte ihn krachend gegen die Nachbartür. + +Einen Augenblick verblüffte Stille -- doch o weh -- sein Warnsignal war +offenbar nicht verstanden worden -- schon nach wenigen Sekunden setzte +das Gegroll und Gewimmer drüben wieder ein: + + »Und bin ich strafbar, weil ich menschlich war? + Ist Mitleid Sünde?« + +»Nee!« brüllte Valentin Pilgram. »Mitleid is keene Sinde nich! Haben Sie +ruhig Mitleid mit mir und halten Sie den Mund -- ich muß lernen!!« + +Einen Augenblick war drüben alles stumm -- todesstarres Schweigen. Und +plötzlich fauchte ... ja fauchte, anders war's nicht zu nennen -- keifte +-- ja man muß schon sagen, keifte die sonore Stimme von nebenan: + +»So? Lernen müssen Sie? Na -- ich auch ... stopfen Sie sich Watte in die +Ohren!« Und noch dreimal mächtiger und markerschütternder grollte nun +der majestätische Alt: + + »Ist Mitleid Sünde? Mitleid! Hörtest Du + Des Mitleids Stimme und der Menschlichkeit + Auch bei den andern, die Dein Schwert geopfert?!« + +Da sprang Valentin Pilgram wütend auf, riß den Klingelzug, daß es +schrill durch den Flur gellte, und als die stattliche runde Frau +Kanzleirätin ganz entsetzt ins Zimmer schoß, schnauzte er sie an: + +»Was ist das für ein gottverfluchter Spektakel daneben? Wenn das nicht +in fünf Sekunden aufhört, zieh' ich!« + +»Erlooben Se mal, mei gutester Herr Pilgram!« entrüstete sich die +behäbige Dame im geblümten Morgenrock sehr energisch. »Se wissen, +scheint's, nich so recht, mit wäm Se's zu tun ha'm! Das is Se nämlich +meine Tochter, die große Jucunda Buchner von die Meininger -- die +Jungfrau von Orleans!« + +»Und wenn je die Jungfrau Maria selber wär' -- hier verlang' ich meine +Ruhe, versteh'n Se mich, Frau Kanzleirat?! Ich hab' diese Bude +gefälligst zum Studieren gemietet -- versteh'n Se? Wir sind Se hier nich +im Theater!!« + +»Se sollten Ihn' was schämen, Herr Pilgram, daß Se nich mal kenn'n +bißchen Ricksicht nähm' auf Studium von eener gottbegnadeten Ginstlerin, +wo ganz Leipz'g stolz drauf is!« + +»Wenn eener ä Vierteljahr vor'm Examen steht, dann hört die +Rücksichtnahme ergebenst auf!« brüllte Pilgram. »Ich muß ooch studieren, +aber mei Studium is wenigstens geräuschlos! Wenn Se e gottbegnadetes +Mädchen zur Tochter haben, die beim Studieren einen Schkandal macht, wo +die Mauern von Jericho von könnten einstürzen, dann vermieten Se +gefälligst keene Buden an Studenten nich!« + +»Herr Pilgram -- wenn ich gewußt hätte, was für e ungeschliffener Mensch +Sie sein kenn' -- nie wär'n Se mir ieber de Schwell gekomm', weeß +Knebbchen!« + +»Mamaa!« tönte da plötzlich der sonore Alt aus dem Nebenzimmer, »rege +Dich doch bitte ja nicht auf, Mamaaa! Der Herr mag ruhig ziehen -- ich +komme Deiner Haushaltungskasse für den Schaden auf!« + +Frau Kanzleirat musterte den Studenten von oben bis unten mit einem +Blick tiefster Verachtung. »Da heer'n Se's, Herr Pilgram! So benimmt +sich e wahrhaft vornähmer Mensch! -- Also wenn Se zieh'n woll'n, ich hab +Sie nich das mindeste dagegen -- lieber heut als morgen! Adieu, Herr +Pilgram -- ziehen Se glicklich!« + +Und die stattliche Dame rauschte hinaus mit der Würde einer Königin. Die +Schleppe des geblümten, nicht mehr ganz saubern Morgenrockes waberte +hinter ihr drein. + +Valentin Pilgram aber blieb etwas benommen an seinem einsamen +Studiertisch. Es war doch höchst fatal, nun so mitten in den +Examensvorbereitungen das lieb gewordene Quartier gegen ein noch +unbekanntes eintauschen zu müssen ... am Ende hätte er auch ein bißchen +weniger hitzig sein können ... vielleicht mit einem guten Wort hätte +sich die Sache viel besser einrenken lassen ... Aber das machte diese +verfluchte Kandidatenstimmung, das Bangen vor diesem fahlen Gespenst, +das am Ende der Studentenzeit hockte mit stieren Augen und sich ganz, +ganz unmerklich immer näher heranschob ... da sollte der Teufel nicht +nervös werden ... Was keine sausende Säbelklinge fertiggebracht hatte: +das Schreckbild der drei Männer hinterm grünen Tisch hatte es erreicht: +Valentin Pilgram hatte Angst ... und dieser Zustand, so ungewohnt, so +unmöglich, der hatte ihn toll gemacht ... Eigentlich hatte er sich ja +doch wirklich unqualifizierbar benommen ... es waren doch weibliche +Wesen, beinahe Damen, mit denen er so gröblich umgesprungen ... zwar ein +Kanzleirat war ein Subalternbeamter, und seine Frau gehörte nicht zur +Gesellschaft ... und vollends eine Komödiantin ... aber wenn auch ... +wenn auch ... Valentin Pilgram, ich glaube, dein Benehmen war durchaus +nicht auf der Höhe der berühmten korpsstudentischen Direktion ... deren +eifriger Hüter du selber so lange im C. C. gewesen ... + +Valentin wartete mit Spannung, ob nicht alsbald da drinnen wieder der +dunkeltönige Alt mit dröhnendem Jambenschwall einsetzen würde ... er +wartete mit Spannung und Verlangen ... das Fortdauern der Störung wäre +wie eine nachträgliche halbe Entschuldigung seiner Hitze gewesen ... +aber er wartete umsonst. Alles blieb still darinnen. Er hätt' also +triumphieren, den ertrotzten Arbeitsfrieden eifrig büffelnd genießen +können ... aber seltsam ... die richtige Streberstimmung wollte nicht +wiederkommen ... + +Teufel auch, Valentin Pilgram, du hast doch nicht etwa einen +»Moralischen«? + +Franconias Senior stand langsam auf und räumte Drogenweltlehrbuch und +Repetitorien zusammen. Er stülpte die grüne Mütze auf den strohblonden +Schädel und stieg sinnend die altehrwürdigen Holzstiegen hinab auf die +»Kleine Fleischergaß«. Drüben im ersten Stockwerk des »Cafébaums« winkte +über dem in Sandstein gemeißelten Amor, der schon seit Jahrhunderten +einem gleichfalls sandsteinernen Türken »e Schälchen Heeßen« kredenzte, +winkte Franconias Wappenschild, lockte, unter den morgendlich geöffneten +Fenstern des Kneipzimmers, im Morgengolde sich bauschend, das +grün-gold-rote Banner ... aber der Erste stieg nicht hinauf. Er ging +auch nicht auf Wohnungsuche: er tat etwas, was er im Leben noch nicht +getan hatte: er ging zur Universität und kämpfte inmitten eines +Massenandranges von Kommilitonen, ganz gewöhnlichen Nichtinkorporierten, +um ein Studentenbillett zur morgigen Eröffnungsvorstellung der Meininger +-- zur »Jungfrau von Orleans« ... + + +Ecke Roßplatz, und Roßstraße, vor dem Hotel Hauffe, in dessen erstem +Stockwerk der _studiosus iuris et cameralium_ Heribert Hans Herwig +Erbprinz von Nassau-Dillingen mit seinem militärischen Begleiter und +seiner Dienerschaft die ganze Zimmerflucht an der Straßenfront inne +hatte, harrten frühmorgens um sechse zwei Reitknechte in Livree mit drei +prächtigen Gäulen. Sie plauderten mit dem galonierten Portier. + +»Nanu?« meinte der Hotelgestrenge, »schon wieder? Ihr seid ja +Frühuffsteher geworden uff eemal?« + +»Was will mer mache?« meinte der ältere der herzoglich nassauischen +Pferdepfleger. »Unser junger Herr hat widder mal e funkelnagelneies +Veegelche g'fange ...« + +»Ei herrjemerschnee!« machte der Portier. »Was das nur zu bedeiten hat? +Das is doch ganz unnatierlich fier so 'n jungen Herrn -- Morgen fier +Morgen drei Stunden durch den Wald zu flitzen un sich den Schlaf um die +Ohr'n zu schlagen ...« + +»Ich glaub, ich weeß, was da derhinner steckt!« meinte der jüngere +Bursche. »Ich hab' neilich so ebb's uffg'schnappt, wie se beim Reite +g'sproche habe. Er und der Major!« + +»Da wär' ich Ihn' aber doch wahrhaft'g neigierig!« kicherte der Portier +und schob sich von seiner Treppe hinunter auf den Bürgersteig. + +»Nu -- e Weibsbild steckt da derhinner!« triumphierte der Reitknecht. +»Ich hann's neilich ganz g'nau geheert: Lasse mer heemreite, hat der +Major g'sagt -- heit morge finne mer se doch nit -- hat er g'sagt!« + +»I nee so was!« staunte der Portier. »Un dann sind se wärklich alle zwee +heemgeritten?« + +»Ja -- ganz wahrhaftig sinn se heemg'ridde!« + +»Wer das bloß sinn mag?« meinte der Portier. »Gewiß ganz was Vornähmes +-- sonst tät der gnädige Herr doch gewiß nich so viel Umstände dann +machen um so e Weibsbild!« + +»Pscht -- die Herre komme!« + +Der Erbprinz federte mit dem natürlichen Schwung seiner einundzwanzig +Jahre in den Sattel -- der Major mit der wohlkonservierten, doch +immerhin etwas gewollteren Elastizität seiner zweiundvierzig. Und im +Schritt ging's die gutgepflasterten Straßen der erwachenden Großstadt +hinab, am massiven Bau und klobigen Rundturm der Pleißenburg vorüber bis +zu den Anlagen jenseits des Flüßchens, wo man antraben konnte. + +»Wenn Sie ahnten, Durchlaucht, wie komisch Ihnen die Maske eines +schmachtenden Toggenburg steht -- Sie würden sich selber erheblich +auslachen!« meinte Herr von Gorczynski. + +»Gott, wenn mir's doch Vergnügen macht, lieber Major -- lassen Sie mir +schon den kindlichen Spaß!« + +»Ich versteh' Sie nicht, Durchlaucht -- Sie benehmen sich wie ein +Sekundaner von einem Kleinstadtpennal und nicht wie ein Fürst ... So'n +Theatermädel ... der schickt man doch einfach ein Rosenarrangement und +seine Visitenkarte -- und das Weitere findet sich!« + +Ueber das blasierte Knabenantlitz des Erbprinzen flog ein flüchtiges +Rot. »Wenn ich glaubte, bei der Buchner ginge das auch so, dann pfiff' +ich auf das ganze Abenteuer. Die Nummer kenn' ich nun allmählich! Die +Weiber, die sich kommandieren lassen, die hab' ich satt! Ich möchte +einmal ein Erlebnis haben -- ein richtiggehendes Erlebnis!« + +»Na, auf Ihre Manier werden Sie's höchstens bis zu einem richtiggehenden +Korbe bringen!« meinte der Major. »Ein Mann, der schmachtet, hat von +vornherein alle Chancen verloren! Selbst wenn er der Erbprinz von +Nassau-Dillingen wäre!« + +»Ich will aber diesmal überhaupt nicht der Erbprinz von Nassau-Dillingen +sein! Versteh'n Sie mich, Herr Major?! Es paßt mir nicht, immer nur auf +das Prinzenkonto geliebt zu werden! Schließlich bin ich doch ganz +simplement als junger Mann nicht zu verachten, wie? Sehen Sie -- und das +möcht' ich mal ausprobieren! Ich hab' mir's nun mal in den Kopf gesetzt! +Und gestern hab' ich der Buchner ein Rosenarrangement geschickt mit +einem Kärtchen, auf das ich nichts weiter geschrieben habe als: Herbert +von Dillingen, _studiosus iuris et cameralium_!« + +»Na, ich sag's ja, Durchlaucht! Sie sind auf dem besten Wege, einen +hahnebüchenen Unsinn aufzustecken! Aber was ich Ihnen sage: Ich habe +Ihnen viel durch die Finger gesehen -- aus unerschütterlicher Liebe zu +Ihnen --« + +»Na ja, aus unerschütterlicher Liebe zu mir. Und weil Ihnen Ihr gesunder +Menschenverstand sagt, daß Sie aller Voraussicht nach unter Bernhard dem +Sechzehnten noch zehn Jahre, unter Heribert dem Vierzehnten aber, will's +Gott, den ganzen Rest Ihrer Erdenlaufbahn abzuleisten haben werden!« + +»Oh -- aber Durchlaucht!« sagte der Major und legte mit pathetischer +Bewegung seine Hand auf jene Stelle seines Busens, unter der man den +Sitz seiner unerschütterlichen Liebe zu seinem jungen Herrn und Zögling +annehmen mußte. + +»Bitte, lieber Gorczynski -- stürzen Sie sich nicht in Unkosten -- ich +denke, wir beide kennen uns!« lachte Erbprinz Heribert. + +»Ernsthaft gesprochen, Durchlaucht!« sagte der Major etwas verärgert, +indem er seinen Gaul in Schritt fallen ließ, »ich lasse Ihnen jede +harmlose Affäre durchgehen -- wenn sich aber etwas Ernsthaftes anspinnt, +berichte ich _a tempo_ nach Dillingen! Ihr erlauchter Herr Vater hat +mich kategorisch dahin instruiert: keine Weibergeschichten! Und ich +glaube diese Instruktion ganz im Sinne meines gnädigen Herrn +aufzufassen, wenn ich --« + +»Wie kann man sich nur so sinnlos aufregen, mein Teuerster! Also weil es +mir Vergnügen macht, mal ein paar Vormittage im Leipziger Ratsholz +spazieren zu reiten, und weil ich dabei gelegentlich die Hoffnung +ausgesprochen habe, einen gewissen grauen Schleier noch einmal wehen zu +sehen, wittern Sie bereits allerlei Tragödien!« + +»Ich gestatte mir, Durchlaucht, mich auf meine Menschenkenntnis zu +berufen. Es ist wider die Natur, wenn ein von seinem gnädigen Herrn +Vater mit überaus auskömmlicher Apanage ausgestatteter und dank meiner +überaus riskierten Nachsicht bereits einigermaßen erfahrener junger +Prinz einer Theatermamsell wegen, die er ein einziges Mal von weitem +gesehen hat, an drei nacheinanderfolgenden Tagen um fünf statt um neun +Uhr aufsteht. Wenn ich das nach Dillingen berichte, gibt's eine +Katastrophe! Hab' ich nicht recht?« + +»Von weitem gesehen?« schmunzelte der Prinz. »Ich habe mir bereits +eingehenderes Material verschafft!« Und er holte einen großen Umschlag +aus seiner Rocktasche, reichte ihn von Schimmel zu Rappen zum Major +hinüber. Dem fielen beim Oeffnen drei Bilder in die Hand: es waren +Darstellungen eines jungen Mädchens; zunächst im Straßenkleide -- +Pelzjäckchen, Barett, Muff -- und dann im Eisenharnisch mit bloßem +Haupt, aufgelösten Haaren, ein Schwert und eine Fahne in Händen -- +und endlich im Samt, mit riesigen Puffenärmeln, das Gesicht von +langen Ringellocken umwallt und von einem starren weißen Rundkragen +eingesäumt ... + +»Kreuzmillionen --!« entfuhr es dem Major. »Das ist --?!« + +»Das ist -- =sie=,« sagte der Erbprinz, und über seinem fahlen +Lebemannsangesicht lag eine Sekundanerröte, die dem Major völlig fremd +war an seinem Zögling. Er starrte den jungen Mann an, als sehe er ihn +zum erstenmal. + +Verdammt -- also so stand die Sache?! Nun hieß es aber wahrhaftig +aufpassen ... + +Der Major reichte die Bilder zurück. »Na ja,« sagte er im Tone völliger +Wurstigkeit, »die Buchner ... Gott, warum nicht? Wenn Sie sich auf die +nun mal kaprizieren, Durchlaucht -- von meiner Seite aus steht nichts im +Wege! Nur fangen Sie's vernünftig an und halten Sie sich nicht zu lange +bei der Vorrede auf! Also wir werden sie auf -- na sagen wir auf morgen +abend, heut nach der Premiere wird sie schwerlich abkömmlich sein -- wir +werden sie auf morgen abend zum Souper einladen -- sie mag noch eine +Kollegin mitbringen -- und dann entwickelt sich alles weitere glatt und +prompt historisch!« + +Der Erbprinz antwortete nicht. Er gab dem Gaul die Schenkel, und zwar so +heftig, daß das rassige Tier ganz erschrocken zusammenfuhr und dann in +tollen Sätzen von dannen raste. Der Major flitzte hinterdrein und +überlegte im Hinsausen, ob er das als eine Zustimmung zu seinem +Vorschlage aufzufassen habe. + +Auf jeden Fall -- geschehen mußte es. Und wenn sein Schützling, ein +wenig verspätet allerdings -- na, wie nannte man das noch -- hm, hm! +sein -- sagen wir also: Herz entdeckt hätte -- dann möglichst schnell +diese kleine Entgleisung auf den Normalweg zu dem üblichen, gefahr- und +schmerzlosen Ausgang leiten ... So befahl es Pflicht und Instruktion ... + +Und in Gedanken redigierte er folgendes Billett, das er heut abend bei +der Premiere mit einer aufmunternd luxuriösen Blumenspende auf die Bühne +lancieren wollte -- heut abend? Nein -- da würde die Aktion vermutlich +ihren Effekt verfehlen -- würde untergehen in einem Wust und +Ueberschwall ... nein, morgen früh zum Frühstück -- das wird das +richtige sein! Also ungefähr folgendermaßen würde er schreiben: + + + »Mein sehr verehrtes _etcaetera_! Zwei aufrichtige und hingerissene + (gerissen ist sehr gut!) Verehrer Ihrer Kunst würden es sich zur + höchsten Ehre und Freude rechnen, Ihre nähere Bekanntschaft _etcaetera + etcaetera_. Wir wagen deshalb die dreiste Bitte, daß es Ihnen, + Verehrungswürdige, gefallen möge, morgen, Donnerstag abend, nach der + ersten Wiederholung der »Jungfrau« mit uns im Hotel Hauffe zwanglos zu + soupieren ... Sollten Sie unter Ihren liebenswürdigen Kolleginnen eine + nähere Freundin haben, die es nicht verschmähen würde, eine Stunde in + harmlos vergnügter Gesellschaft _etcaetera_, so würde uns das eine + ganz besondere _etcaetera_ ... In Voraussetzung Ihrer Zustimmung + werden wir uns erlauben, nach Schluß der Vorstellung ein Coupé zur + Verfügung der Damen am Bühneneingange _etcaetera_. Mit der + Versicherung unserer vollkommensten Bewunderung Ihre aufrichtigen + Verehrer + + v. Dillingen. v. Gorczynski.« + +Na ja -- das übliche Schema -- das nie versagende ... pöh ... eine +Komödiantin ... wenn's weiter nichts ist ... + +Und schließlich die Hauptsache: zwei blaue Lappen hinein -- für jede +einen -- damit die guten Kinder auch gleich merken, daß man ernsthafte +Absichten hat -- nicht wahr? + + + + + 3. + + +Am Mittwoch nachmittag um fünf war der allwöchentliche Seniorenkonvent: +die Zusammenkunft der Korpsburschen sämtlicher Leipziger Korps. Sie fand +auf der Kneipe des präsidierenden Korps statt: zurzeit war's +Neo-Borussia, die ihr Heim in nächster Nähe der Franken aufgeschlagen +hatte, im ersten Stock eines gleich uralten, verräucherten, +verwahrlosten Kneiphauses, wie der altberühmte Cafébaum eins war, in dem +Franconia residierte. Es stand irgendeine der welterschütternden Fragen +auf der Tagesordnung, um welche sich ein hoher S. C. an jedem Mittwoch +Nachmittag die Köpfe zu zerbrechen pflegte. Diesmal lag vor -- na was +noch? -- lag vor ein Antrag von Misnia und Thuringia, ein wohllöblicher +S. C. wolle beschließen, daß die Klingen der Mensurspeere an der Spitze +in Zukunft nicht mehr rechtwinklig und scharfkantig abgeschliffen +würden, wie es bisher üblich war, sondern abgerundet ... Infolge des +eckigen Schliffs waren nämlich an den letzten Bestimmtagen ein paar so +hahnebüchene Knochensplitter herausgekommen, daß die Paukärzte +kategorisch Wandel verlangten: die Klingen sollten in Zukunft an der +Spitze halbkreisförmig geschliffen werden ... Das war natürlich ein +Problem von fundamentaler Bedeutung, und so erhitzten sich die Gemüter +immer mehr und mehr, immer stärker wurde der Bierkonsum, immer massiver +der Zigarren- und Zigarettenqualm ... und immer hastiger rückte der +Zeiger jener Stunde zu, da im Carolatheater das Gastspiel der Meininger +beginnen sollte ... Theater -- pah! Wer hat Zeit, ans Theater zu denken, +wenn der bittre Ernst des Lebens einen im Bann hält? + +Einer hatte Zeit: der schlanke Fuchsmajor der Franken natürlich -- er +saß auf Kohlen und hätte sich mit Vergnügen bereit erklärt, sich am +Sonnabend auf Mensur mit einem kantig geschliffenen Speer ein halbes +Dutzend Knochensplitter aus dem Schädel hauen zu lassen, wenn er dadurch +diese entsetzliche Debatte hätte abkürzen und den Anschluß an den Beginn +der Vorstellung hätte erreichen können ... + +Endlich wagte er ein Aeußerstes. Er ging leise zum Ersten hinüber, +neigte sich und flüsterte ihm -- der mit aller Nervenanspannung der +hitzigen Rede seines Gegenpaukanten vom vergangenen Sonnabend, des +Meißner Zweiten, folgte -- flüsterte ihm ins Ohr: + +»Pilgram, ich darf Dich vielleicht daran erinnern, daß Durchlaucht mich +auf heut abend in seine Loge eingeladen hat -- da darf ich doch +keinesfalls zu spät kommen ... würdest Du wohl gestatten, daß ich den +S. C. verlasse?« + +»Du bist verrückt!« knurrte Pilgram halblaut. »S. C. geht doch vor allem +andern vor! Du siehst, ich muß ja auch aushalten!« + +»Du --?! Ja, wie soll ich das verstehen, Pilgram? Gehst Du ... denn auch +... ins ...« + +Der Erste errötete tief. Es war ihm herausgefahren, das Geheimnis, +dessen er sich vor allen Korpsbrüdern schämte: daß der traditionelle +Feind aller neun Musen sich ein Theaterbillett erstanden hatte -- und +noch dazu eine Studentenkarte zu einer Mark und zwanzig Pfennigen, um +gänzlich unstandesgemäß -- selbstverständlich im Bummel, also im +tiefsten Inkognito -- zwischen allerhand proletigen Kommilitonen, das +Parterre, ganz hinten, zu bevölkern -- sintemalen und alldieweilen es +auch bei ihm am Monatsschluß nicht mehr zu dem für das Korps +vorgeschriebenen Platz im ersten Rang hatte reichen wollen ... + +»Allerdings -- ich geh' auch!« zischte Pilgram. »Wir gehen nachher +zusammen -- aber im S. C. wird ausgehalten, und wenn uns die ganze +Affenkomödie durch die Lappen gehen sollte!« + +Vor solchem Pflichteifer verstummte Hans Thumser -- völlig erschüttert +... Freilich, was galt diesem Banausen die Versäumnis eines, zweier, +dreier Akte Schiller! Wie mochte der bloß auf die Idee gekommen sein, +ins ... Hallo -- sollte da am Ende ein ... trotz allem ... erwachtes +Interesse für seine berühmte _filia hospitalis_?! Alle Wetter -- das war +am Ende doch wohl die einzige Erklärung! + +Und während ein wohllöblicher S. C. sich weiterhin über krummen oder +geraden Schliff der Klingenspitzen aufregte, griff Hans Thumser alle +fünf Minuten heimlich nach seiner Taschenuhr ... halb sieben -- -- +sieben Uhr jetzt -- verflucht! War denn diese verdammte Zwiebel rasend +geworden? Und nun -- nun war es auf einmal halb acht -- in diesem +Augenblick hob sich da unten fern in der Südstadt, in der Sophienstraße, +der Vorhang zum Prolog, und der biedere Thibaut d'Arc verlobte seine +zwei ältesten Töchter ... Nun stand sie auf der Bühne -- sie, die +Madonna aus der oberen Kirche seines Herzens ... noch im schlichten +Kleide der Bäuerin, doch schon überlagert vom tragischen Schatten ihrer +göttlichen Sendung ... + +»Meine Herren,« sagte der Vorsitzende, Herr Borgmann, Neo-Borussiae, die +linke Stirnseite noch immer von mächtigem Wattebausch unter schwarzer +Kompresse bedeckt, da, wo Hans Thumsers kecker Durchzieher ihm wider +alle Vorsicht Schwarte, Knochenhaut und alle Aeste der Temporalis +durchgesäbelt -- »meine Herren, meiner Ueberzeugung nach würden wir uns +vor sämtlichen Glocke schlagenden S. C. eines hohen Kösener unsterblich +blamieren, wenn wir als einziger S. C. den allgemein üblichen +scharfkantigen Schliff abschaffen wollten -- und zwar aus einer +Anwandlung von Humanitätsdusel heraus, der für mein Empfinden einen +bedenklichen Beigeschmack von Kneiferei hat --« + +»Ich bitt' ums Wort!« + +»Ich auch! Ich auch!« so scholl's heftig aus der Korona. + +»Silentium für Herrn von Schubart, Misniae!« sagte Borgmann gelassen. + +»Ich muß mir aufs entschiedenste verbitten,« schrie Herr von Schubart, +der Zweite der Meißner, in den Zigarrenbrodem hinein, »daß der Herr +Erste Chargierte des präsidierenden Korps von einer Maßregel, die mein +C. C. befürwortet, erklärt, sie habe einen Beigeschmack von Kneiferei! +Ich verlange, daß der Herr Vorsitzende diese Aeußerung mit dem Ausdruck +des Bedauerns zurücknimmt -- andernfalls behält sich mein C. C. weitere +Schritte vor, sowohl gegen einen wohllöblichen C. C. des präsidierenden +Korps als auch gegen Herrn Borgmann persönlich!« + +Dreiviertel acht --! wimmerte Hans Thumsers sehnsüchtige Seele -- und in +seinem Herzen klang's: + + »Nichts von Verträgen! nichts von Uebergabe! + Der Retter naht, es rüstet sich zum Kampf -- + Vor Orleans soll das Glück des Feindes scheitern, + Sein Maß ist voll, er ist zur Ernte reif!« + +Thuringia schloß sich den Erklärungen Misnias an; Guestphalia schwankte, +während Franconia und Neo-Borussia gemeinschaftlich gegen den Antrag auf +Abänderung des Klingenschliffs auftraten. Unter allgemeiner Erregung +schritt der Vorsitzende endlich um zehn Minuten vor acht zur Abstimmung, +und nun fiel Guestphalia definitiv zur Partei des runden Schliffs. +Franconia und Neo-Borussia waren überstimmt: die holde Menschlichkeit +oder, wie Herr Borgmann Neo-Borussiae es nannte, der Geist der Kneiferei +hatte gesiegt ... Und mit dem Zigarrenrauch hingen unzählige P. P. +Suiten und Säbelforderungen in der Luft ... Morgen früh zum Frühschoppen +würden sie explodieren ... + +»Nu aber raus!« zischte Pilgram seinem Korpsbruder zu. »Weh Dir, wenn Du +den andern was davon sagst, daß ich ins Theater geh -- offiziell büffle +ich heut abend!« + +Drunten wartete des Ersten Chargierten der Korpsdiener mit Hut und +Regenschirm. Pilgram riß ihm beides aus der Hand, zog Mütze und Band ab +und übergab sie dem Getreuen. Thumser, der vornehm in der +Proszeniumsloge sitzen würde mit dem Erbprinzen, blieb natürlich in +Couleur. Und in rasendem Tempo hasteten nun die beiden Studenten die +kleine Fischergasse hinab. + +Auf dem Alten Markt standen Droschken aufgefahren. Die Wanderer warfen +einen wehmütigen Blick hinüber: + +»Wenn's doch schon der Erste wäre!« knirschte Hans Thumser. + +»Beine in die Hand!« knurrte Pilgram. + + +Als Hans Thumser sich auf Zehenspitzen in die Proszeniumsloge schob, +hatte der erste Akt bereits begonnen. Der Erbprinz und der Major wandten +kaum zu flüchtiger Begrüßung die Köpfe -- schon waren sie im Bann. Und +hinter den schwarzen Silhouetten der Vordermänner sah Hans nur mit einem +flüchtigen Blick die von der Bühne her matt erleuchteten vordersten +Reihen des Publikums im Parkett -- lauter Gesichter, im Lauschen und +Schauen erstarrt. Und schon schlugen auch über ihm die Wogen zusammen. + +Ein hoher gotischer Saal am Hoflager König Karls von Frankreich. Düstere +pfeilergetragene Holzdecke, die Wände eichengetäfelt, darüber Gobelins +mit steifen Reihen buntgewandeter Ritter und Edeldamen. Und ganz +tief hinten ein buntes Fenster, durch das sich ein paar verirrte +Sonnenstrahlen stehlen. Und mit zweien Getreuen der unglückliche +weichherzige König, dessen Knabenhand wohl seine Agnes Sorel zu kosen +vermag, nicht aber die Zeit, die aus den Fugen gegangen, wieder +einzurenken ... drei Ratsherren knien vor ihm, seine vielgetreuen Bürger +von Orleans, und flehen um Hilfe, um Entsatz ihrer hartbedrängten Stadt +... Verzweiflungsvoll ringt der König die kraftlosen Arme: + + »Kann ich Armeen aus der Erde stampfen? + Wächst mir ein Kornfeld in der flachen Hand?« + +Doch sieh: ein Lichtstrahl zittert in das Dunkel der Szene: Die Geliebte +kommt: Sie bringt opfermutig all den blinkenden kostbaren Tand, den ihr +König in süßen Stunden ihr um den Nacken gewunden ... Ein +schwarzlockiges, schmiegsames, kätzchenweiches Geschöpfchen ... Ihre +Augen schimmern in koketten Tränen, ihre Hände, weich und rosig wie +Frühlingswolken, umschmeicheln den Freund, noch in der Angst der +Verzweiflung liebeheischend, sehnsuchtsweckend ... + + »Agnes Sorel ... Asta Thöny« + +sagt der Theaterzettel. Herrgott ... das ist sie ... + +Und einen Moment ist Hans Thumser wieder Hans Thumser ... Er tastet nach +seiner Brusttasche, wo ein etwas zu stark parfümiertes rosa Billetchen +steckt: Die Worte, die es enthält, ach, die kann er auswendig, im +Träumen, von vorn und von hinten: + + »Nach zierlichen Schuhchen und dem, was drin steckt, + Liegt mancher Fuchs auf der Lauer -- + Eintritt verboten! Hier wird nicht geschleckt! + Füchschen, die Trauben sind sauer!« + +Also -- das ist sie ... das ... Füßchen werden nicht vorgezeigt, nur +zwei zierliche Goldspitzen lugen im Schreiten ab und an für einen +winzigen Moment unterm schweren Brokat des gotisch starren Gewandes +vor ... dafür aber läßt dies neidische Gewand einen Hals frei ... einen +Hals ... o Gott, o Gott ... + +Einen Augenblick ist Hans Thumser Hans Thumser -- der sehnsüchtige Knabe +an der Schwelle des Lebens ... nur einen Augenblick ... und schon wieder +ist er ... niemand und alles ... nur Auge, nur weitgeöffnet schauendes +Gottesauge -- nur Seele, alliebende, alldurchdringende Weltseele ... + +Höher schwillt die Flut des Entsetzens um den verlorenen Königsknaben +und sein zitterndes Lieb ... Eine Hiobspost jagt die andere, das Maß des +Ertragens ist voll, sein Land und seine Ehre gibt der Schwache preis, +und empört fallen die letzten seiner Getreuen von ihm ab ... Verlassen +steh'n die beiden Kinder ... + +Da auf einmal ... kommt einer der Entwichenen zurück ... auf seinem +zuckenden Gesicht, seinen stammelnden Lippen glüht ein Wort ... ein +Wort, das längst ins Fabelland entschwunden schien ... das Wort: +=Sieg= ... + +Und sieh -- da führen die edlen Herren aus des Königs Gefolge einen +riesigen Krieger heran: einen Ritter im zerhauenen, blutbekrusteten +Harnisch: ein blutiger Fetzen windet sich um seine kampfglühende Stirn, +aus seinem blutunterlaufenen Auge lodert das gleiche Zauberwort: das +unfaßbare: Sieg ... Sieg ... + +Und atemlos, stockend oft und nun in wahnwitzigen Jubel ausbrechend, +kündet er die phantastische Mär: + +Das Wunder ist herabgestiegen vom Himmel ... Ein weißes Mädchen ist in +die Mitte der umzingelten Franzosen getreten -- hat dem Fahnenträger das +Banner entrissen und an der Reisigen Spitze sich in den Feind gestürzt! + + »Ein Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen!« + +Und daß fassungsloser Unglaube kniebeugender Glaube werde -- -- wird sie +selber kommen! wird kommen -- hierher, an diese Stelle, auf der wir +stehen, harrend, bis ins Mark erschüttert und dennoch zweifelnd ... + +Und horch! Schon kündet sich's an: Da draußen, in den fernen Gassen der +Stadt, hören wir den Lärm eines jäh triumphierenden Empfangs ... Näher +und näher kommt das festliche Getös ... + +Und da -- da fangen ja die Glocken von allen Türmen plötzlich an zu +schwingen ... und heller tönt draußen das tolle Jauchzen der +Begeisterung ... und nun stürzen sie alle, die in der dumpfen, ragenden +Kammer weilen, in kindischer Hast ans Fenster da hinten und beugen sich +hinaus, und sieh, sie sehen's schon, das Wunder, das Unmögliche -- sie +schreien und winken und schreien -- + +Und horch, nun stürmt's da draußen die Stufen hinauf, nun stürzt, nun +strömt es herein. Ratsherren und Rittersleute und Bürger und Weiber und +Soldknappen und Kindervolk und ... eben Menschen, schreiende, tobende, +vor Erlösungstaumel sinnlose Menschen ... Vor dem König, der mit der +Geliebten, zitternd, schwindelnd, da vorn geblieben, werfen sie sich auf +die Knie, in den Staub, heulen und jauchzen: Sieg! Sieg! Sieg! + +Und nun -- nun öffnet sich auf einmal, wie die Flut des Roten Meeres vor +dem Durchzug der Kinder Israel, so klaffend öffnet sich durch die +Menschenflut eine Gasse ... und durch die Gasse ... schwebenden +Schrittes ... kommt ... sie ... + +Kommt ein weißes Mädchen, nein, kein Mädchen, kein Mensch ... ein +Gedanke, ein Gottgedanke, der Gedanke der Erlösung, der Gerechtigkeit, +der Freiheit, des Vaterlandes ... + +Und steht so vor dem König ... das Ewige, das Heilige, das Unendliche +selbst ... + +Und doch ... nur ein Mädchen ... ein junges, weißes Weib ... + + +In der winzigen Garderobe, rechts vom Schauspieler, auf der Frauenseite, +wartete Mutter Buchner ihrer berühmten Tochter. Sie hatte es sich zwar +nicht versagen können, sich von einem Eckplatz des Parketts aus an +Jucundas Spiel, den neidisch-ehrfurchtsvollen Blicken der Bekannten, dem +Jubelsturm des Publikums zu weiden; aber am Anfang des zweiten Aktes, +das wußte sie, trat Jucunda nicht auf, und da drängte es sie in die +Garderobe ihres Kindes, um ihr Zofendienste zu leisten. Ach, am liebsten +wäre sie ja von Ort zu Ort mitgereist ... Wenn ein Mädchen so ungeheuer +viel Talent hatte ... und so gut gewachsen war -- na, man wußte ja, von +wem sie das hatte! -- und so heißblütig -- ach Himmel, man war ja selber +auch mal jung gewesen! -- Das war ja ganz selbstverständlich, daß die +Mannsbilder hinter so einer her waren wie verrückt -- da hätte man ja +doch als Mutter eigentlich auf Schritt und Tritt aufpassen müssen ... +Aber da war ihr Alter, der Herr Rat ... der konnte ja nicht leben ohne +seine Doris ... Na, solange das Kind in Leipzig war, sollte es +wenigstens fühlen, was man an einer Mutter hat ... Und kaum war der +Vorhang nach dem ersten Akt gefallen, da flog -- während das Publikum +noch immer tobte, die Gardine auf und nieder tanzte, die Darsteller sich +immer und immer wieder süß lächelnd verneigten -- flog Mutter Doris aus +dem Zuschauerraum zu dem bekannten Pförtchen, das nur denen vom Bau sich +öffnet, hastete die steinerne Treppe hinauf in das winzige, von +Schminke, Puder und Menschendunst geschwängerte Kämmerchen und wendete +das gewärmte Hemd, das auf der Heizung bereit hing ... Denn wie ihre +Jucunda schwitzte bei so'ner großen Szene, das war schon nicht mehr +schön ... Von Kopf bis zu Füßen mußte sie die Unterwäsche wechseln +jedesmal, wenn irgend Zeit blieb ... Freilich, wie das Mädchen sich auch +ins Zeug legte ... + +Und nun kam sie -- kochend, dampfend, wie aus dem Backofen ... fiel in +den Frisierstuhl und streckte alle Viere von sich ... Frau Doris umarmte +sie zärtlich und drückte ihr einen begeisterten Mutterkuß auf die +triefende Stirn ... + +»Schinderei, verfluchte!« pustete Jucunda. »Wie aus dem Wasser gezogen +ist man -- und das schon nach dem ersten Akt! Schnell, Muttel, die +Lappen runter und frische Wäsche! Ich komm' ja um!« + +In der Tür der Garderobe drängten ein paar Kollegen nach, der Heldin des +Abends die Hand zu drücken. Alle mochten sie das stramme junge Ding +leiden, das mit seinen achtzehn Jahren so resolut durch diese +schminkestarrende Welt stapfte, als sei sie darinnen geboren und nicht +in einem engbrüstigen Leipziger Spießermilieu ... + +»'raus!« befahl Mutter Doris. »Alles 'raus! Meine Tochter wünscht +alleene zu sein!« + +Und rasch vollzog sich die Verwandlung. In kräftiger Frische, +schweißgebadet, stieg der derbe Mädchenleib aus den klatschnaß +zusammensinkenden Hüllen, wurde von sorglicher Mutterhand mit lauen +Güssen überspült und in die frischen gewärmten Unterkleider gesteckt. +Die Garderobiere, ein verknittertes, verhutzeltes Weiblein, stand müßig +daneben und träumte von der goldenen Zeit, als auch sie einmal am +Stadttheater zu Stallupönen erste Naive gewesen und von den Leutnants +der Garnison mit billigen Buketts und falschen Schmucksachen +überschüttet worden war ... Dann aber mußte sie eingreifen, denn über +das weiße Gewand des Bauernmädchens wurde nun die wuchtige Rüstung +geschnallt und mit einem Dutzend Riemen und Oesen befestigt -- darauf +verstand Mutter Doris sich denn doch nicht. Inzwischen aber schwatzten +die Frauen ohn' Unterlaß: + +»Gott, war das ein Spektakel zum Aktschluß! Namentlich da hinten im +Parterre!« sagte Jucunda und warf das langflutende braune Gelock über +die Rüstung zurück. + +»Natierlich -- das gloob' ich ooch!« erwiderte die Mutter und strich mit +glättendem Kamme bedächtig durch die krause Mähne der Tochter. »Da +sitzen doch die Herren Studenten! Was die trampeln kenn'! Gott soll mich +bewahren! 's ganze Parkett war Dir doch eene Staubwolke! Und =unserer= +is ooch dabei -- wirscht mer's glauben?« + +»Wer? Der unverschämte Mensch aus dem Eckzimmer?« + +»Freilich, der! Un gezogen is er noch lange nich!« + +»I nee so was!« lachte Jucunda. + +»Eegentlich is mer'sch ganz lieb, daß er noch nich weg is,« sagte Mutter +Doris. »Immerhin er is der Erste Scharschierte vons älteste und +angesehenste Korps in Leipz'g ... Un so lang als ich denken kann, hab' +ich immer Korpsstudenten bei mir wohnen gehabt -- 's wär doch sehr +unangenehm für mich gewäsen, wenn er wär' mit'n großen Krach von mir +fortgegangen -- leicht hätt's kenn' passieren, daß die ganzen Korps mich +hätt'n in'n Verruf getan -- damit sin se immer sehr fix bei der Hand, +wenn ma een' von ihn' mal schief angekuckt hat ... Unser Nachbar +Wunderlich, der Mützenmacher, der kann e Wertchen davon erzählen ... Der +hat mal een' von die Korpsstudenten, der absolut nich wollt' zahl'n, nu, +dem hat er en groben Brief geschrieben -- und iebermorgen war er schon +im S. C. Verruf -- das kost'n an sechshundert Mark jährlich!« + +»I herrjemerschnee!« lachte Jucunda, »das hätt' ich wissen sollen, daß +unser Student so ein großes Tier ist! Da hätt' ich durch meine Grobheit +ja beinahe Deinen Geschäftsbetrieb ganz bösartig geschädigt! Na, +hoffentlich kommst Du noch mal mit 'nem blauen Auge davon! Uebrigens, +Muttel, wenn ich mich recht erinnere, so hast Du den einflußreichen +Jüngling auch nicht gerade mit Glacéhandschuhen angefaßt ...« + +»Nu, ich hab' mich eben lassen hinreißen,« sagte Frau Doris. »Weeßte, +wenn eener mir mit mein' Goldkinde tut anbinden -- hernach weeß'ch mich +nich zu beherrschen -- reinweg wie ene Furie werd' ich Dir dann!« + +»Muttel!« sagte Jucunda zärtlich und legte einen Augenblick lang das +lockenumflutete Haupt an den mächtig wallenden Mutterbusen. + +In diesem Augenblick trat Franz Burg herein, der Oberregisseur, in der +klirrenden Rüstung des englischen Oberfeldherrn, in einer Maske so voll +schrecklichen Ingrimms, daß Jucunda hell auflachte: + +»Donnerwetter, lieber Freund -- mit Ihrem Konterfei kann man ja die +Pferde scheu machen!« + +»Himmel -- für die guten Leipziger muß man eben ein bißchen dick +auftragen ...« + +»Schön,« sagte Jucunda, »werd' ich mir merken. Passen Sie mal auf, +Meister, wie ich jetzt loslegen werde!« + +»Aber gefälligst mit einem vernünftigen Stimmansatz, und nicht wieder so +aufs Organ loswüsten wie im ersten Akt! Ihnen geht's zu gut, Kindchen, +Sie werden mir zu üppig ... In einem Alter, wo andre Kolleginnen froh +sind, wenn sie einmal ein Servierbrett mit Kaffeegeschirr hereinbringen +dürfen, toben Sie schon abendfüllend durch ganz Deutschland -- da muß ja +so ein achtzehnjähriger Verstand aus dem Leim gehen ...« + +»Ach, lassen Sie mich doch ...« Jucunda reckte den herrlichen Körper, +daß alle Niete und Scharniere der Rüstung knackten ... »Lassen Sie mich +doch, lieber Freund ... Es ist ja so schön ...« + +Franz Burgs Augen schimmerten hinter den grimmigen, rotgrauen Brauen in +einem ganz seltsam weichen Licht ... Sie glitten über die schlanke, +waffenblanke Gestalt, wie ein Streicheln. + +»Schön ist's, das glaube ich -- Sie sind eben ein Sonnenkind, +Langbeinchen!« So nannte er sie noch immer, aus jener Zeit, wo sie als +blutige Novize wegen ihres knabenhaften Wuchses immer die Pagen hatte +spielen müssen ... Jetzt freilich wäre das nicht mehr zu machen gewesen +-- sie war ein Weib geworden ... + +»Na also -- Sie sind fertig ... Nun halten Sie aber Ruhe, bis Sie geholt +werden ... Und nicht zu toll mit dem Organ aasen, verstanden? Adieu, +Langbeinchen!« + +»Adieu, Sie Bester!« + +Ein Blick so voll dankbarer Zärtlichkeit, daß der grimme Talbot rasch +das Visier herunterklappte ... Und durch die Augenlöcher klang sein +Knurren: + +»Also fang'n mer an!« + +Er rasselte von dannen. Jucunda warf ihm ein halbes Dutzend Kußhände +nach. + +»Aber Jucunda!« rief die Mutter ganz entsetzt. + +»Ach laß doch, Muttel! Einmal ein Mensch beim Theater, ein einziger, +der selbstlos gütig ist -- einen lehrt, einem vorwärts hilft, ohne +gleich -- --« + + +Der zweite, der dritte Akt waren vorübergebraust, mit Schlachtgetöse und +Siegesjubel und Sterbegrauen ... und hatten geendet mit der +naiv-gewaltigen Szene, in der Johannas tragisches Geschick sich wendet: +der Fluch ihrer übernatürlichen Sendung sich wider sie kehrt. Das Herz +der Jungfrau hat mit Entsetzen sein Mädchentum empfunden ... + +Große Pause nun -- alles strömte hinaus in die schmalen, +schlechtbeleuchteten Gänge, das dürftige Foyer des dumpfen winkligen +Hauses ... + +Und da oben fanden sich die beiden Franken, ihr fürstlicher Konkneipant +und sein Erzieher. Die Herren begrüßten einander mit dem gewohnten starr +offiziellen Gesicht, dem korrekten Händeschütteln der hoch gewinkelten +Arme ... Keiner mochte verraten, wie sehr er gepackt war. + +»Ganz nett -- wie?« näselte der Erbprinz. + +»Na ja ... Aber immer dies ewige eintönige Pathos, das hält kein Pferd +auf die Dauer aus!« schnarrte Pilgram. + +»Wie fanden Sie die Buchner?« fragte nachlässigen Tones der Prinz. + +»Na -- mein Himmel -- spielt eben Schiller!« erwiderte der +Rechtskandidat. + +Hans Thumser blieb stumm. Ihm standen Erregung und Entzücken bis an den +Hals -- die Tränen, die er mühsam hatte unterdrücken müssen, preßten ihm +die glühenden Augen. O Gott -- so Erhabenes, so Ungeheures erlebt zu +haben ... Und dann den gelassenen Weltmann mimen zu müssen mit zwanzig +Jahren ... Was war das für eine Jugend? Sie schämte sich aller +jugendlichen Empfindungen ... der Begeisterung, des Glaubens an das +Große, das Weltbezwingende ... + + +Und schnell vollendete sich's nun. Wie ward es Valentin Pilgram zumut, +als er nun im festlich geputzten Saale zu Reims die Verse erklingen +hörte, die er neulich so schmählich unterbrochen? + + »Sollt' ich ihn töten? Konnt' ich's, da ich ihm + Ins Auge sah? Ist Mitleid Sünde?!« + +Was war denn das, was so heiß und fremd unter der linken Westentasche +zuckte und hüpfte? Was war dieser geheimnisvolle Schmerz, dieser +brennende, der durch Hirn und Glieder rumorte, wenn dieses Mädchen +seine stählernen blauen Augen verloren in den dunklen Raum +hinausschweifen ließ, in dem er saß, inmitten der proletigen Finken +ringsum, die er verachtete, wie er alles verachtete, was nicht zu den +Angehörigen eines hohen Kösener S. C. Verbandes zählte?! War es die +Scham, daß er dies Mädchen, diese weiße, stolze Weibesgestalt da hinten, +gekränkt, gestört in ihrem Studium -- sich benommen gegen sie wie ein +Rauhbein, ein Knote ohne Kinderstube und Direktion! + +Ja, das mußte es sein, das und nichts andres ... Er wird morgen früh +seinen Bratenrock anziehen und seine beste Mütze aufsetzen -- wird sich +feierlich durch die Frau Kanzleirätin anmelden lassen und förmlich und +devotest um Verzeihung bitten ... Es ist männlich, begangenes Unrecht +einzusehen und zu sühnen, und durch Revokation und Deprekation einer +Dame gegenüber vergibt auch Franconiae gewesener Erster, Erster, Erster +_ad interim_ sich nichts -- nein, ganz gewiß nicht! + +Also das mach' ich! Gesegnet meine wüste Laune, gesegnet meine +Examensnervosität ... So hab' ich doch wenigstens einen anständigen +Grund, mich ihr vorzustellen, sie zu sehen, mit ihr zu sprechen ... Und +ich werde mich dermaßen kavaliermäßig benehmen ... Ich werde ... +Ueberhaupt ... Ich werde -- hol' mich der Teufel -- Eindruck werd' ich +machen, so wahr ich Valentin Pilgram bin, Franconiae gewesener Erster, +Erster, Erster _ad interim_! + + +Hans Thumsers Seele war aber zwiegeteilt, wie fast immer -- fast immer +... Noch einmal, in der zweiten Szene des vierten Aktes, kam die andere +-- nach der er ein geheimes, lästerliches und süßes Schmachten verspürt +hatte, nun sie so lange verschwunden war ... kam Agnes Sorel, stand +neben der herrischen Gestalt Jucundas in ihrer kätzchenhaften +Holdseligkeit ... schmiegte an Jucundas gepanzerten Busen die +unverhüllte, die rosige lockende Brust ... O Hans Thumser, und denken zu +müssen, daß diese Himmelswonne Nacht für Nacht neben deinem +Knabenstübchen schläft, nur durch eine dünne Ziegelmauer von dir +getrennt, in der es gar noch eine Tür gibt, die freilich verschlossen +ist und mit einem Kleiderschrank verstellt ... O Hans Thumser, wie wirst +du dies Bewußtsein ertragen, nun du sie kennst, sie gesehen hast mit +deinen scheuen, brennenden Augen, ihr Bild hineingesogen in deine +lechzende, lebenshungrige Seele ... Wie wirst du's ertragen? + +Füchschen, die Trauben sind sauer ... So hat sie geschrieben. Ach, du +Schelm, du böser, neckender Traumspuk du -- du warmes, weiches, nahes, +fernes, weltenfernes Menschenkind -- --! + +Still -- es erfüllt sich Johannas Geschick ... Vor dem Bannspruch des +Vaters, der sie höllischer Blendekünste zeiht, verstummt sie ... +verstummt vor dem Donner des Himmels ... flieht in Einsamkeit und +Verzweiflung -- fällt stumm und wehrlos in die Hand der Feinde ... + +Doch dann, in letzter, höchster Not, kommt noch einmal über sie die +alte, magische Kraft: Sie zerreißt ihre Ketten, entrafft sich den +entsetzten Feinden, trägt noch einmal das Banner der Jungfrau zum +Kampf ... und dann, die Todeswunde in der Brust, von Siegesbannern +überbauscht, läßt sie ihre reine Seele ins All hinüberströmen ... + +O Dichter! Dichter! betet Hans Thumser -- großer, herrlicher mit Deiner +wunderbaren Cherubseele -- einen Tropfen von Deinem Geist in mein +junges Herz -- einen Flammenfunken von Deinem Himmelsfeuer! + + »Wie wird mir? -- leichte Wolken heben mich -- + Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide -- + Hinauf -- hinauf -- die Erde flieht zurück -- + Kurz ist der Schmerz, und ewig ist die Freude!« + + +Ein heftig gestammelter Dank an den Prinzen, ein feierliches Schütteln +der korrekt eingewinkelten Hände mit ihm und dem Major, und dann hinaus +-- hinaus in die herbstliche Abendluft ... O glühende Stirn, o glühendes +Herz ... + +Und nun -- warten -- sie noch einmal sehen, sie, »die alles Herrliche +vollendet« ... nicht jene andre, das Kätzchen, den Spukgeist ... Nein, +die eine, die weiße, die königliche ... + +Warten auf sie -- sie warten ja alle ... Eine dichtgedrängte Schar, +lauter blutjunges Volk. Konservatoristinnen und Ladenmamsellchen +untermischt mit Primanern und Studenten ... Sie warten vor dem Portal, +vor dem ein einziger Wagen noch hält, ein einziger, während all die +andern mit ihrer Fracht schleierumhangener, kapuzenverhüllter +Weiblichkeit von dannen donnern -- ein einziger Wagen, in dem, hüstelnd +und frierend, ein bebrilltes Männlein hockt mit grauem Kragenbart: der +Kanzleirat Buchner ... + +Es dauert lange, dies Warten ... Aber Hans Thumser wartet nicht allein: +An seiner Seite, geduldig fröstelnd, harrt der gestrenge Senior, ganz +gegen jede Wahrscheinlichkeit und Psychologie ... + +»Ne, Pilgram, wie =Du= mir heute vorkommst!« + +»Na, was denn? Wieso denn?« knurrt der Erste. »Denkste vielleicht, Du +hast die Kunstbegeisterung alleene gepachtet?!« + +Und endlich -- endlich -- -- am Bühneneingang fliegen die Hüte, die +Mützen von den Köpfen -- + +»Jucunda Buchner -- hoch! hoch!« + +Voran schiebt sich eine derbe Matrone in uraltmodischer +schleifenbesetzter Kapuze -- und dann kommt -- sie -- so mädchenhaft auf +einmal, so spießbürgerlich schlicht ... Wie ein Backfisch schaut sie +aus, so menschlich, so nahe ... + +»Hoch! hoch!« brüllen die Studenten, juchzen die Mädels -- sie huscht +vorüber, kopfnickend, so lieb, so einfach, so -- so fabelhaft nett -- +sie schlüpft in die Wagentür, nickt noch einmal vom Fensterrand -- neuer +Jubel -- + +Ach was -- längst nicht genug! + +Eine neue, eine würdige Huldigung dem wundervollen Menschenkind! + +»Kommilitonen!« ruft Hans Thumser und schwenkt die grüne Mütze, +»Kommilitonen! Wir spannen ihr die Pferde aus, wir fahren sie im Triumph +nach Hause!« + +Ein Beifallsgeheul ist die Antwort. Und auf die Gäule stürzt sich +der Schwall -- im Nu sind die Scheuenden, Schäumenden abgesträngt, +der fluchende, peitschenschwingende Kutscher entwaffnet und vom Bock +gezerrt ... + +»Verrickt seid 'r! Alle mitenander seid 'r übergeschnappt! Der Deifel +soll Euch hol'n!« + +Und hundert Hände packen zu, langen nach der Deichsel, den Zugscheiten, +den Strängen -- hundert Hände greifen in die Speichen -- hurra! Der +Wagen rollt, rollt mit seiner vielgeliebten Fracht ... Und allen voran +als Führer, den Hut auf dem Stock balancierend, den Stock im Takt +schwingend wie ein Tambourmajor schreitet einer, der den Weg kennen +muß: Franconiae gewesener Erster, Erster, Erster _ad interim_! + +Und der Wagen rollt die Sophienstraße entlang, umdröhnt vom Jauchzen +schönheitstrunkener, größeberauschter Jugend ... Rollt die Zeitzer +Straße, den Peterssteinweg hinab, der Altstadt zu ... Und immer +zahlreicher wird das Huldigungsgefolge hinter dem Triumphzug, den Jugend +der Jugend, der Schönheit, der Kunst bereitet, immer betäubender +schwillt der allgemeine Jubel: + +»Jucunda Buchner -- hoch -- hoch Jucunda -- unsre Jucunda!« + + + + + 4. + + +Als der Triumphwagen endlich in der Katharinenstraße hielt, zog der alte +Buchner den riesigen Hausschlüssel aus der Tasche und stieg als erster +aus. Ein hundertstimmiger Jubel empfing ihn ... + +»Das ist der Vater -- Jucundas Alter ist das -- Papa Buchner hoch! +hoch!« + +Ein Dutzend Hände waren ihm behilflich, hoben ihn über die Bordschwelle, +ganz betäubt humpelte er durch die Gasse, die sich vor seinen Schritten +öffnete, fand die Tür seines Hauses zu seiner Verwunderung bereits +geöffnet und schlüpfte hinein, wie erlöst, daß er dem Getös entronnen +... + +Und nun schob sich Mama Buchners massives Gestell aus der Droschke. + +»Achtung, jetzt kommt Mamachen!« schrien kecke Stimmen. »Platz für +Mamachen!« Geblendet vom grellen Licht der Gaslaterne, dicht neben dem +finstern Hauseingang, verwirrt vom Stimmengewirr, dem Glanz blitzender +Augen, dem Durcheinander winkender Hände, flatternder Tücher verfehlte +Mutter Doris mit unbehilflich suchendem Fuß den Wagentritt und wäre +gestürzt, hätte nicht ein sehniger Arm sie gefaßt und ihre schwerfällige +Gestalt mit sicherem Griff aufs Trottoir, auf die Beine gestellt. Und +gleich darauf fühlte sie ihre Hand in diesen sehnigen Arm hineingezogen, +fühlte sich sicher und ritterlich der Haustür zugeführt -- sah dankbar +zu ihrem Beschützer empor und -- sah in das verlegenheitglühende Gesicht +ihres Mieters ... + +»Gnädige Frau --« stammelte Pilgram. + +Gnädige Frau --?! Es war das erstemal, daß ihr Student diese Anrede für +die Frau Kanzleirätin fand ... sie war direkt erschüttert ... + +»Herr Pilgram -- nee heer'n Se, das is aber hibsch von Ihn' ...« + +»Darf ich Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch zu dem Riesenerfolge +Ihres Fräulein Tochter -- gnädige Frau? und zugleich auch meine Bitte um +Entschuldigung wegen meines unqualifizierbaren Benehmens von vorgestern +morgen --« + +»Ach sei'n Se still, Herr Pilgram -- scheen war's ja grade nich ... Aber +Sie haben's ja gut gemacht ... Also woll'n mer uns wieder vertragen! +Aber wo bleibt denn 's Kind?« + +'s Kind war noch nicht abkömmlich. Sie mußte draußen die Dutzende von +Händen schütteln, die sich ihr entgegenstreckten ... Und dabei liefen +ihr die hellen Tränen nervöser Seligkeit über die Backen ... + +»Dank ... tausend, tausend Dank!« Das war das einzige, was sie nur immer +wieder stammeln konnte ... + +Und endlich fiel die Pforte denn doch ins Schloß, während die +begeisterte Jugend draußen weiter jubelte und tobte. Kanzleirat Buchner +wollte abschließen, aber Valentin Pilgram kam ihm zuvor. Und dann +entzündete er ein Wachsstreichholz und geleitete Mama Doris mit der +Galanterie eines Oberhofmarschalls die knackenden Treppen des +altehrwürdigen Baues hinan, der einstmals ein feierlich elegantes +Patrizierhaus gewesen war ... Der Kanzleirat und die Heldin des Abends +folgten. + +Oben wollte sich Valentin verabschieden, um in seinem Zimmer zu +verschwinden, aber Jucunda rief: + +»Was? Sie wollen schon schlafen? Nee, gibt's nich! Muttel, mach' Licht +in der guten Stube! Wir schwatzen noch eins! Und Du, Alter, rück' mal +ein paar Pullen Gose heraus! Ich hab' einen Pferd'sdurst!« + +Und sieh -- nach wenigen Minuten war's hell und mollig in der +behaglichen Wohnstube, und während Mutter Buchner drinnen Bemmchen +schmierte und Papa Kanzleirat Zigarren und Aschenbecher bereit stellte, +sorglich aus den dickbauchigen Goseflaschen das bernsteingelbe +bitterliche Naß in die hohen Stangengläser plätschern ließ, stand +Valentin Pilgram voll nie gefühlter Empfindungen am Fenster, hinter +Jucundas hoher Gestalt, die noch immer hinaus auf die Straße winkte und +Kußhände warf, während von drunten, vom Straßendamm empor ohn' Ermatten +das Begeisterungsgebrüll der Burschen tönte, die Taschentücher der +Mädels flatterten ... + +»So, Kind,« sagte Mutter Doris endlich, »nu mache schon Schluß, daß Du +was zu essen und zu trinken kriegst ... Bitte, Herr Pilgram, nehmen Sie +Platz!« + +Valentin und Jucunda traten vom Fenster zurück. Jetzt erst fand das +Mädchen Zeit, den jungen Gesellen zu mustern. + +»Sie sind wohl einen halben Kopf größer als ich,« sagte sie anerkennend. + +»Aber Sie -- Sie sind ... etwas ganz Besonderes ... eine ganz andre +Sorte von Mensch als ... nu als wir gewöhnlichen Leute, wir simplen +Rechtskandidaten ... und so was.« + +»Erlauben Sie mal -- Sie sind doch auch was Besonderes ... Erster +Chargierter des ältesten und angesehensten Korps in Leipzig ...« Sie +wies auf einen Stuhl. + +»Gott -- gnädiges Fräulein ... Wie können Sie so was überhaupt ... das +sind doch Kindereien, wenn man's mit ... mit Ihrer Kunst vergleicht ...« + +O Valentin Pilgram -- wer dir das gestern prophezeit hätte ... daß du so +zu einer Komödiantin sprechen würdest ... daß die Heiligtümer deiner +Seele so schnell verbleichen würden ... + +»Na, nu nähmt mal gefälligst ä bißchen Platz, Kinder!« rief der +Kanzleirat ... + +Kinder --?! Es durchfuhr die beiden jungen Menschen ... ein seltsames, +ahnungsvolles Gefühl ... Mit einem Male war Jucunda Buchner nicht die +glückverwöhnte, reichbegnadete Künstlerin, sondern ein Backfisch von +achtzehn Jahren ... und Valentin Pilgram nicht der Sohn des +Senatspräsidenten am Dresdener Oberlandesgericht, nicht der Erste +Chargierte eines wohllöblichen C. C. der Franconia, sondern ein Knabe +von vierundzwanzig, in all seiner senioralen Würde doch noch immer ein +junger, lebensunkundiger Novize des Daseins ... + +Zwei blutjunge Menschen ... zwei Kinder ... beide gewachsen wie ein paar +Tannen, beide jung, stark und heiß ... + +»Kinder!« hatte der alte Mann gesagt ... Wie seltsam das die Seele traf +... + +Beider Augen waren gesenkt, beider Stirnen glühten, als sie sich setzten +... + +Man stieß mit den langschäftigen Gosengläsern an, Jucunda tat einen +tiefen, herzhaften Schluck und biß dann nicht minder herzhaft in ihre +Butterbemme. + +»Donnerkiel!« sagte sie, »das tut aasig gut ...« + +»Nu sagen Se, Herr Pilgram, wie sind Sie denn bloß in's Theater +gekommen? Ich hab' gedacht, Sie haben gar nischt iebrig für die Kunst?« +erkundigte sich Mama Buchner. + +»Ja ... Frau Rätin,« sagte Valentin, »wie soll ich Ihnen das erklären? +Sie haben nämlich recht ... Ich hab' wirklich nicht viel Sinn für die +Kunst ... Ich -- nu ich war eben ... neugierig war ich -- auf meine +Budennachbarin ...« + +»Sehr schmeichelhaft!« lachte Jucunda und zündete sich eine Zigarette +an. »Na und -- und was sagen Sie nu?« + +»Gar nischt sag' ich --« bekannte der Student. »Wissen Sie ... zum +Komplimente machen ... bin ich nicht maulgewandt genug ... ich kann nur +sagen: dies war der schönste Tag meines Lebens.« + +»Hehe -- da siehst es, Jucunda, was fier ä Kerle Du bist!« schmunzelte +der Kanzleirat. + +»Ach -- das geht doch nicht auf mich!« wehrte Jucunda ab. »Herr Pilgram +ist eben von Schillers großer Dichtung so ergriffen gewesen ...« + +»Ne, gnädiges Fräulein, das könnt' ich nu gerade nich sagen,« erklärte +Valentin. »Ich bin eben doch, wie mein Korpsbruder Thumser sagt, ich bin +doch ein Banause. Schiller? Ich weeß nich ... es ist mir doch zu viel +Schmalz an der Brühe ... Wenn Sie nicht gewesen wären, gnädiges +Fräulein, ich glaube nicht, daß ich wäre bis zum Ende dageblieben ...« + +»Schämen Sie sich!« zürnte das Mädchen. + +»Ja -- 's tut mir selber leid, daß ich so wenig Verständnis habe für die +sogenannte Kunst ... Sehen Sie ... ich stamme aus einer alten Juristen- +und Beamtenfamilie ... bei uns zu Hause ist nie von was anderm die Rede +gewesen wie von Dienst und Vorgesetzten und Karriere machen und Orden +kriegen und Gesetzesnovellen ... und das Theaterspielen und Musikemachen +und Bilderklexen und Verseschmieren -- nee, davon hat man bei uns nie +was wissen wollen. Aber was Arbeit und Pflicht und Gehorsam ist und +Gewissenhaftigkeit und Treue ... das ist mir eingepaukt worden von +Kindesbeinen an ... und nicht nur mit der Moralpredigt, sondern mit dem +guten Beispiel, dem nachahmungswürdigen Vorbild ...« + +»Das is sähr scheen, wenn man das von sein' Elternhause kann sagen --« +meinte der Kanzleirat. »Prost, Herr Pilgram -- Ihre Herren Eltern sollen +leben.« + +Andächtig tat Pilgram Bescheid. Aber Jucunda war des trockenen Tones +satt: + +»Erzählen Sie mir lieber von heut abend -- erzählen Sie mir, wie ich +Ihnen gefallen habe! Sie können's ruhig ein bißchen dicke machen ... Sie +haben ja gar keine Ahnung, wieviel Honig und Weihrauch unsereins +vertragen kann nach so einer gewonnenen Schlacht ...« + +»Aber Jucunda -- so schäme Dich doch! Was soll denn Herr Pilgram von Dir +denken?« + +»Na -- nichts als was wahr ist! Daß ich eine ganz eitle, verwöhnte +Komödiantin bin! Nicht wahr, Herr Pilgram, so denken Sie doch! Nur +heraus damit ...« + +»Gnädiges Fräulein, ich denke an nichts andres als an den Augenblick, wo +Sie zuerst herauskamen ... Wir waren zu spät gekommen, aus dem S. C., +wissen Sie? da muß man aushalten -- und als wir kamen, hatte der erste +Akt schon angefangen ... und ich langweilte mich und dachte: na ja, +Schiller ... und überlegte, was für ein Aufsatzthema mein alter +vermickerter Professor auf Prima in Dresden wohl aus diesem ersten Akt +herausgeschlagen hätte: Würde Johanna d'Arc ihr Vaterland auch errettet +haben, wenn Karl der Siebente anstatt mit den Engländern mit den +Deutschen Krieg geführt hätte? oder so ähnlich ... Und da -- da kamen +Sie -- und auf einmal wurde alles wahr und richtig und interessant und +... na ja eben schön ... mit einem Wort ...« + +»Ich seh's kommen, daß se Dich noch ganz närr'sch werden machen, Jucunda +--« kicherte der Kanzleirat. + +»Ach ja ... macht mich nur ruhig närrisch, Kinder -- es ist ja so schön, +gefeiert zu werden ... und begraben zu werden unter Lorbeer und Rosen -- +und die Pferde ausgespannt zu kriegen ... hören Sie, Herr Pilgram -- die +Idee, die war wohl von Ihnen?« + +»Ehrlich gestanden, nein -- so leid mir's tut -- aber den glorreichen +Einfall, den hat mein Korpsbruder Thumser gehabt ...« + +»Schade -- sonst hätten Sie wahrhaft'gen Gott 'nen Kuß gekriegt dafür +--« + +Der Kanzleirat drohte der Tochter lächelnd mit dem Finger. + +»Säh'n Se, Herr Pilgram, wie se Ihn' schon überschnappt?« + +Und er ließ frische Gosefluten in die Gläser kluckern. + +Aber allmählich fielen dem alten, hageren Männchen, das sein ganzes +Leben in der muffigen, überhitzten Luft der Königlichen Justizbureaus +zugebracht hatte, die geröteten Aeugelchen zu. Er verabschiedete sich +und humpelte ins Schlafzimmer. + +Auch Mutter Doris fiel allmählich ab. + +»Nu, Herr Pilgram, wie denken Sie über's Schlafengehen?« + +»Gibt's nich!« erklärte Jucunda. »Wenn Du müde bist, Mamachen, kriech in +Gottes Namen in die Posen ... Ich bin noch nicht fällig, und Herr +Pilgram wird mir Gesellschaft leisten, bis meine Nerven ausgezappelt +haben ...« + +Und die jungen Menschen waren allein. Es wurde still, ganz still +ringsum. Von der Katharinenstraße klang ab und an noch das schläfrige +Geklapper eines heimwärts trottenden Droschkengauls ... Vom nahen +Rathausturme meldeten die Glocken mit hallenden Schlägen Viertelstunde +um Viertelstunde ... sonst nichts mehr. Leipzig schlief. + +»Erzählen Sie mir mehr von sich!« sagte Jucunda und legte sich mit +behaglichem Gähnen in die gestickten Schoner des grünen Plüschsofas +zurück. »Aber nicht so was Langweiliges vom Korps und von Ihren +Fechtereien und vom Examen und so! Was Schönes ... was Interessantes!« + +»Ach, gnädiges Fräulein -- ich bin ein schrecklich uninteressanter +Mensch ... ich schäme mich ordentlich, ich werde ganz klein, wenn ich +mein Leben mit Ihrem vergleiche.« + +»Na, aber Sie müssen doch irgend was Besonderes erlebt haben ... Waren +Sie denn nie verliebt? Haben Sie nie ein Mädchen geküßt?« Sie zündete an +dem Rest ihrer Zigarette eine frische an, pustete eine dicke Rauchwolke +zu Valentin hinüber und schielte durch den Qualm hindurch neckisch +blinzelnd zu ihm hin. + +Valentin Pilgram wurde verlegen. »Hm ... ich weiß nicht recht, was ich +da antworten soll ... als Künstlerin wissen Sie doch jedenfalls schon +manches vom Leben ... und wissen, was wir jungen Männer, Studenten und +so -- wie soll ich mich nur ausdrücken?« + +»Na, daß Ihr gerade keine Tugendspiegel seid ... Euch mit Kellnerinnen +und ... so 'ner Sorte von Weibsbildern herumtreibt ... Herr Pilgram, ich +bin ein Leipziger Kind, das alles ist mir nichts Neues. Aber -- sowas +zählt doch hoffentlich nicht?« + +»Nein -- Sie haben ganz recht ... es zählt nicht ... Sehen Sie, man +betrinkt sich ja auch zuweilen mal ganz stumpfsinnig ... so ähnlich ist +das ...« + +»Und -- sonst? Sonst haben Sie noch gar nichts ... erlebt? Niemals eine +richtige ... eine Leidenschaft ... ein Gefühl, daß Sie so richtig die +Zügel aus der Hand verloren haben? Daß es mit Ihnen durchgegangen ist +wie ein wildes Pferd, so zuck, zuck, hoppla, hopp, über Stock und Stein, +nur vorwärts, ins Weglose, ins Nichts -- nur vorwärts ... komme was +wolle?!« + +Hingerissen hing Valentins Blick an den flackernden Augen, dem zuckenden +Munde des Mädchens. »Ach nein ... gnädiges Fräulein ... so was hab' ich +nie erlebt ... ich glaube auch, so was kann mir nie passieren ... dazu +sind wir Pilgrams viel zu korrekt ... viel zu gewissenhaft ...« + +»Schade --« sagte Jucunda. »Ich denke mir, das müßte schön sein ...« + +»Das ... glaube ich auch ...« sagte Valentin langsam. »Schön ... und +schrecklich ...« + +»Wie wär's, wenn wir nun schlafen gingen? Ich fange doch allmählich an, +abzufallen ...« + +»Schade!« sagte nun der Student. Seine Augen überflogen noch einmal die +weiße Gestalt, die sich in so fester, straffer Leiblichkeit abhob von +dem verschlissenen Samt, auf dem sie ruhte, beide Ellbogen nach vorn +emporgewinkelt, die Hände nach rücklings um die Lehne des Sofas +geklammert. + +»Gott, war das ein Tag!« sagte das Mädchen. »Ein Schlachten war's, nicht +eine Schlacht zu nennen! Aber das Hübscheste daran war doch, daß ich Sie +nun kenne, Nachbar ... daß ich Sie Grobian doch ein bißchen gebändigt +habe ... nicht wahr? Und daß wir zwei nun allein noch übrig sind von all +dem Trubel und Trara ... was? Ist das nicht nett? Aber Sie sagen ja gar +nichts?« + +»Was ... soll ich sagen?« stotterte der Student. »Ich ... sehe Sie +an ... und denke, daß morgen ... morgen das alles vorbei ist ... daß Sie +morgen wieder die allgefeierte Jucunda Buchner sind ... und ich ... +irgendein simpler, gleichgültiger Rechtskandidat ... der Ihnen nichts +sein kann ... nichts für Sie tun ... Ihnen nichts bedeutet als eben ein +Stück Publikum ... einer von den Tausenden, die Ihnen allabendlich +zujubeln, ohne daß Sie sie kennen, mehr für sie übrig haben als ein +geschäftsmäßiges Lächeln, wenn der Vorhang sich noch einmal hebt ...« + +»Wer weiß!« sagte Jucunda mit einem gnädigen Blick. »Vielleicht, daß ich +doch einmal einen ... einen Ritter brauchen kann ... dann will ich mich +an diese Stunde erinnern ... und Sie rufen ... Soll ich?« + +»Gnädiges Fräulein ...« sprach Valentin Pilgram heiser ... »Das wäre +mehr Gunst vom Schicksal, als ich Mut habe zu hoffen ...« + +Sie reichte ihm die feste, warme Hand. Er küßte sie ... ehrfurchtsvoll, +als sei es einer Fürstin Hand ... und ging. + +Als er die Tür zu seinem Kämmerchen hinter sich geschlossen, stand er +einen Augenblick im tiefen Dunkel, regungslos. Ihm war's, als drehe sich +alles um ihn im Wirbel. Und der reckenhafte Gesell, der +zweiundzwanzigmal dem Schläger und fünfmal dem Säbel Stirn und Brust +geboten, fühlte ein rätselhaftes Grauen vor etwas Kommendem, dem er +keine Deutung wußte ... das im Dunkel hockte und ihn ansah mit den +blauen, hellen, befehlenden Augen, von denen er fühlte, daß er ihnen +gehorsam sein müßte, was immer sie ihm gebieten würden. + + + + + 5. + + +Die zwölf halben Liter Tucher, die Hans Thumser nach dem Jucunda-Rummel +auf der Kneipe noch in seine ausgepichte Fuchsmajorskehle gepumpt, +hatten die Erregung der zappelnden Nerven untergekriegt und für die +nötige Bettschwere gesorgt -- zum Anfang wenigstens. Aber dennoch -- als +der Student plötzlich aus dumpfen, wirbelnden Träumen in die Höhe fuhr, +so daß der kaum verheilte Schädel krachend gegen die Rückwand seines +Bettes bumste -- da war es noch stockfinster, und wie er ein Streichholz +entzündete, wies die Uhr halb vier ... + +Und wieder Dunkelheit und Schweigen, und im Herzen schwirrend und +rumorend viel hundert Bilder, viel tausend Farben und Klänge ... + +Wo soll es hin, das alles?! Was will's von dir, dies tolle, glühende +Leben?! + +Da horch ... ein seltsamer Laut ... ein zager, verzitternder ... von +irgendwoher aus dem Dunkel ... und wieder ... und wieder ... derselbe +bang verschwebende Klageton ... + +Weinen ... Weinen einer Frauenstimme -- ganz leise, mühsam unterdrückt +... von Tränen umschleiert ... erschütternd ... + +Nun scheint's zu verstummen ... horch -- kein Laut mehr ... doch nein -- +nur heftiger jetzt die wimmernde Klage ... + +Um Gott -- das ist -- da nebenan -- das ist ... Asta Thöny ... + +Tränen ... Tränen in Frauenaugen -- entsetzlicher Gedanke für einen +Jüngling, einen tatensehnsüchtigen, weltgläubigen -- wer konnte +glücklich sein, ach nur ruhig sein, nur schlafen -- wenn ein Mensch, ein +Mädchen weinen mußte?! + +Himmel -- vielleicht ist sie krank geworden -- Agnes Sorel, die +kätzchenweiche, mit dem süßen, rosigen Hals, den dunklen, flirrenden +Augensternen ... windet sich in Schmerzen ... und niemand hört sie, +niemand steht ihr bei, denn sie ist nicht ein gehegtes, umsorgtes +Haustöchterlein wie Hansens Schwestern daheim -- sie ist ganz allein auf +der Welt -- einsam, schutzlos, hilflos ... + +Gott, wenn das doch enden wollte! Das ist ja nicht zu ertragen, diese +hilflose Klage ... Aber was kann man tun? + +Sich melden -- seinen Beistand anbieten ... + +Aber -- könnte das nicht -- mißverstanden werden? Nachdem er nun einmal +die dummen, zudringlichen Verse hinübergeschickt? Und einen so +wohlverdienten, ach, eigentlich noch viel zu schmuck bebänderten Korb +gekriegt? + +Aber -- wenn sie nun wirklich leidend wäre -- Hilfe brauchte -- gewiß, +sie würde nicht böse werden ... + +Oder -- wenn man Mutter Ach weckte -- und ihr mitteilte, das Fräulein +scheine nicht wohl zu sein? + +Aber -- wenn's nun gar nichts Ernstes wäre -- vielleicht nur eine Laune, +eine kindische Gereiztheit -- was weiß ich -- dann hätte man um nichts +und wieder nichts den schnarchenden Schlummer der ehrsamen Wittib +gestört ... und es gäbe gar noch eine Szene, nachts um halb vier ... + +_Enfin_ -- was geht's mich an? Decke über die Ohren und weiter dachsen! + +Ja, wenn das so ginge! Die Phantasie hebt an zu spielen -- dringt durch +die Finsternis, die Tapetenwand und malt in rosigen Farben das Bild des +einsam weinenden Kindes da drinnen ... und ach, das bange Schluchzen +dringt auch zum verbarrikadierten Ohr ... + +Mut! Es muß! + +»Gnädiges Fräulein --?« ganz leise, kaum geflüstert ... + +Das Weinen geht weiter, still und bitter ... + +»Gnädiges Fräulein --?« + +Auf einmal ist's still da drüben -- Finsternis und lastende Stille +ringsum ... + +»Verzeihen Sie, mein gnädiges ... Fräulein ... ich ... hörte ... ich +ängstige mich ... Sie möchten nicht wohl sein ... Hilfe brauchen ... +darum hab' ich mir die Freiheit genommen ...« + +Noch immer alles still ... offenbar ist man böse ... + +»Gnädiges Fräulein ... ich ... ich will nicht weiter beschwerlich fallen +... Sie wissen nun, daß jemand zur Hand ist, wenn's not sein sollte ... +Wenn Sie also nichts weiter von sich hören lassen -- dann -- na dann +darf ich ja wohl annehmen, daß ... daß alles in Ordnung ist ... und dann +werd' ich also in Gottes Namen weiterschlafen!« + +Auf einmal ein Laut ... kein Weinen ... auch kein Wort ... etwas +andres ... etwas Silbern-Zwitscherndes -- ein ganz feines, ersticktes +Kichern ... + +»Ach so --!« sagte der Student völlig beruhigt. »Na, denn gut' Nacht, +mein gnädiges Fräulein, und sei'n Sie nicht böse!« + +Und krachend warf er sich auf die rechte Seite, fest entschlossen, nun +aber auch _a tempo_ -- + +Da horch! Noch einmal ein Lachen, nun aber hell, übermütig -- und dann +die Stimme, die girrende, die streichelnde der Agnes Sorel: + +»Aber bitte ... ich muß ja doch danken für die gute Meinung! Aber sei'n +Sie ganz ruhig -- mir fehlt wirklich nix -- ich hab' nur so ein bissel +für mich geweint -- das kann doch vorkommen -- gelt?« + +»Na -- wenn's weiter nichts ist ... ich hab' ja solch einen Schrecken +bekommen ...« + +»O -- das tut mir leid -- ich hab' Sie so friedlich -- na ja, so +friedlich schnarchen gehört -- da hab' ich gedacht: den störst du +nicht ... und da hab' ich halt ein bissel geweint ... Nehmen Sie's nicht +übel, es soll nicht wieder passieren ...« + +»Aber bitte -- von meinetwegen -- ich weiß ja jetzt, daß es nichts +weiter zu bedeuten hat, wenn Sie einmal nachts weinen -- da werd' ich +mich also künftig auch nicht mehr drum aufregen ...« + +»Ach du lieber Gott -- zu bedeuten hat's schon was ...« + +»Hm ... also doch?! -- -- Können Sie mir's nicht sagen?« + +»Ach ... so durch die Tür hindurch ...« + +Jetzt fingen Hans Thumsers Hände denn doch ein bißchen an zu zittern. Er +suchte nach einer Antwort ... fand keine ... Himmel! Meine unsterbliche +Seele für einen Einfall ... + +»Ja ... so durch die Tür ... das geht natürlich nicht recht ...« + +Endlich ... das erlösende Wort: da ist's: + +»Aber ... wenn ich Ihnen ... morgen früh ... einmal ... meine +nachbarliche ... Aufwartung machen dürfte ...« + +»Hm ... morgen früh?!« Es klang so gedehnt ... so ... nach einem leisen +Bedauern ... ach nein ... das war ja doch ... da mußte Hans Thumser sich +doch wohl ... verhört haben ... + +»Morgen früh? Da hab ich ja Probe von zehn bis zwei ... Da müssen Sie +schon morgen nachmittag kommen ... zum Tee um fünf, wenn Sie mögen -- +gelt?« + +O Gott ... solch eine Einladung ... zum erstenmal in diesem jungen Leben +einem so schönen ... so ... verlockenden ... Mädchen gegenüber ... mit +ihr allein ... Gibt's denn so etwas?! Ist das denn möglich?! + +»Nu -- Sie antworten ja gar nicht?« klang's ganz leise. »Sind Sie am +Ende gar -- schon wieder eingeschlafen?« + +»Aber mein gnädiges Fräulein -- wie können Sie nur denken ...« + +»Also Sie kommen? Das ist schön. -- Na, nu wollen wir aber auch ... gut +Nacht, Sie -- Sie Füchschen Sie!« + +»Bitte -- Fuchsmajor!« rief Hans Thumser fast laut vor Selbstbewußtsein. +»Also ... wenn's denn sein muß -- gut Nacht, Agnes Sorel! + + Auch jenseits der Loire liegt noch ein Frankreich, + Wir gehen in ein glücklicheres Land, + Da lacht ein milder, nie bewölkter Himmel, + Und schöner blüht das Leben und die Liebe!« + +Ja! Wenn man so ein phänomenales Versgedächtnis hat! Und seinen Schiller +_intus_! + +»Donnerwetter -- allerhand Achtung!« kicherte es von drinnen. »Da möchte +man ja wahrhaftig -- aber nein -- jetzt wird geschlafen -- gut Nacht, +Herr Fuchs=major=!« + +Tiefe Stille ... Dunkelheit ... und zitternde Sehnsucht ... zitternde +Hoffnung ... + +Hans Thumser fand keinen Schlaf. Zu toll rumorte die Jugendbangigkeit in +seinen Gliedern ... + +Er lauschte, ob er wohl noch einen Laut vernähme von da drüben ... aus +der Märchenwelt der Träume ... aber alles blieb stumm ... und endlich +vernahm er durch den lastenden Frieden der Nacht geruhig schwellende, +leise Atemzüge ... + +Sie schlief ... + +Da streckte sich auch Hans Thumser mit einem langen Seufzer ... und +versank. + + + + + 6. + + +Valentin Pilgram war erst spät aufgestanden. In wüstem Halbschlaf, von +tollen Träumen gequält, hatte er die Nacht verbracht. Nun saß er über +seinem Drogenwelt-Geruch und knuffte die vier Klassen der +Gradualerbfolge der Novelle 118 in den schmerzenden Schädel hinein. + +Da klopfte es heftig an die Tür seiner Bude, und im selben Augenblick, +noch eh er: herein! hatte rufen können, schoß auch schon die Frau +Kanzleirätin herein, im geblümten Morgenrock, dessen Schleppe hinter ihr +drein waberte, in schleifenbesetztem Häubchen, unter dem die grauen +Strähnen des ungeordneten Haares hervorlugten: + +»Ach herrjeses, Herr Pilgram, Herr Pilgram, kommen Se doch nur mal +schnell -- 's Kind hat ja en Weinkrampf -- ach es is gräßlich! Kennten +Se nich gehn und en Doktor holen? Ich hab ja keen' Menschen nich im +Hause ...« + +Valentin schoß in die Höhe. »Einen Weinkrampf? Um Gottes willen, was ist +denn passiert?« + +Ȁ Rosenbukett is gekommen, groß wie ä Turm ... un dabei ä Brief, ne, so +was von einer Unverschämtheit is überhaupt noch gar nich dagewäsen ...« + +»Ist sie denn ohnmächtig? Kann ich vielleicht helfen? Darf ich zu ihr +hinein?« + +»I du mein Himmel, Herr Pilgram, se is noch im Neglischee ... na aber, ä +Kinstlerin -- ä Kinstlerin sieht ja schließlich ooch im Neglischee ganz +anständ'g aus ... kommen Se nur, Herr Pilgram, helfen Se!« + +Aus der geöffneten Tür kam ein warmer Strom von Rosenduft ... und Rosen +überall, ein Rosenschwall, ein Rosenwald ... betäubend duftende, schon +leise welkende Rosen ... dazwischen die eigentlichen Blumen der Saison: +Dahlien, Astern, Erika ... und inmitten, auf eine Chaiselongue +hingeworfen, in leidenschaftlichem Schluchzen -- sie ... + +Ein riesiges Arrangement von Rosen und Chrysanthemen, in Manneshöhe, +lag umgestürzt auf dem Boden -- daneben ein aufgerissenes Kuvert +mit aufgeprägtem Wappen, ein zerknitterter Bogen schweren +Elfenbeinbriefpapieres, und -- -- zwei Hundertmarkscheine ... + +Auf dem Tisch aufgereiht die Karten der Spender der übrigen +Blumenherrlichkeiten -- Jucunda war offenbar eben beschäftigt gewesen, +den Gebern zu danken, prompt und akkurat, wie es zu den geschäftlichen +Pflichten einer vielgefeierten Künstlerin gehört ... da war =das da= +gekommen ... + +Frau Buchner hob das Briefchen auf, glättete es und hielt es Pilgram +hin. »Da läsen Se's -- und sagen Se, ob so was meeglich is -- so eene +Gemeinheit --!« + +Jucunda hatte sich beim Klang der Stimme ihrer Mutter aufgerichtet ... +nun tupfte sie rasch mit dem nassen Tüchlein die Tränen von den +glühenden Augen, ordnete das wirre Haar und verfolgte mit gierigen +Blicken Valentins Gesichtsausdruck, während er das Briefchen durchflog +... + +Valentin Pilgram las ... und eine dunkle Zornesflamme schlug über sein +feierliches Gesicht. + +»Halunken!« knurrte er. + +Er las weiter -- nun wendete er das Blatt und sah nach der Unterschrift +... und plötzlich wurden seine Züge ganz starr, und seine Hände ballten +sich zur Faust. Dann las er zu Ende ... ließ das Blatt sinken und +starrte die Schauspielerin an mit Augen, in denen Schreck, fassungs- und +ratlose Bestürzung stand. + +»Sie ... kennen, scheint's, die Herren --?« fragte die Kanzleirätin. + +»Es scheint, fast -- ja ... entsetzlich fatal ...« + +»Am Ende gar -- Korpsbrüder von Ihnen --?« + +»Hm -- wenn's richtige Korpsbrüder von mir wären -- denen wollt ich die +Flötentöne schon beibringen!! -- aber so ...« + +»Aber -- Sie kennen die Absender?« + +»Ich ... fürchte ... ich kenn' sie ... von Dillingen ... von Gorczynski +...« Und mit heftig stammelnden Worten erklärte er den Damen, wer es +sei, den er hinter diesen Namen vermuten müsse ... und in wie naher +Beziehung diese Herren zu seinem Korps, zu ihm selbst standen ... + +»Da sehen Sie's!« sagte Jucunda. »Ein Erbprinz! Ein Fürst! das muß man +eben einstecken ... nicht mal verklagen kann man so 'n großes Tier -- +sonst engagiert einen kein Hoftheater mehr ... ganz wehrlos und +schutzlos ist man ...« + +Und wiederum flossen die Tränen über das weiße, herrische Gesicht ... +und auch die Mutter, vom herzbrechenden Weinen der Tochter angesteckt, +schluchzte nun los. Um die Wette weinten die Frauen. + +Es arbeitete heftig in Valentin Pilgrams festem, offenem Gesicht. + +»Nein,« sagte er plötzlich hart und stand mit einem Ruck auf. +»Schutzlos? Das sind Sie nicht. Guten Morgen, meine Damen.« + +»Wohin, Herr Pilgram? Was haben Sie denn? Was ist Ihnen?« rief Jucunda +und hielt den Studenten am Aermel seines Bratenrockes fest. + +»Ich werde Ihnen Genugtuung verschaffen!« + +»Sie -- mir? Nein, Herr Pilgram, das ... das geht nicht ... Sie werden +ja die entsetzlichsten Unannehmlichkeiten haben ... werden sich +womöglich gar um meinetwillen -- nein, das will ich nicht -- das sollen +Sie nicht, Herr Pilgram!« + +»Nee, nee, Herr Pilgram!« sprudelte auch die Frau Kanzleirätin, »das +dürfen Se nich machen! Das kenn' wir ja gar nich von Ihn' verlangen! Das +dürfen wir ja gar nich von Ihn' annähm'!« + +»Seien Sie ohne Sorge meinetwegen!« sagte Valentin und reckte sich zu +seiner ganzen Länge. »Ich bin Manns genug, so eine Affäre standesgemäß +zu erledigen.« + +»Nein, Herr Pilgram, das dulde ich unter keinen Umständen! Wie kämen Sie +denn dazu, sich für mich ... ich bitte Sie, was gehe ich Sie denn +überhaupt an?« + +Da sah der Student das schöne Mädchen mit einem Blick an, vor dem sie +die Augen niederschlagen mußte in Schreck und stolzem Machtgefühl +zugleich. Gott, war das entsetzlich ... war das berauschend schön ... +was sie da so jäh, so unerwartet erlebte ... + +»Erinnern sie sich noch an ... gestern abend?« sagte der Jüngling. »Was +Sie mir da versprochen haben?« + +»Ach ... das war so leichtsinnig daher geredet ...« + +»Von =mir= nicht!« + +Ach ... wie süß das war ... dies Bewußtsein, daß ein Starker, ein Kühner +sich einsetzt für dich ... + +Aber nein ... das durfte nicht sein ... mit Blitzesschnelle flogen die +Bilder von hundert schrecklichen Möglichkeiten an ihrem Geiste vorbei. +Er war doch wohl Jurist -- seine Karriere würde er sich ruinieren -- +sein Examen zunächst ... und wer weiß -- zwar Prinzen -- die schlugen +sich ja wohl nicht -- aber der Major ... ein Offizier ... ein Duell ... +Himmel, und der junge Mensch hatte ja doch Eltern daheim ... und +schließlich -- auch sie selber konnte eigentlich keinen Skandal +gebrauchen ... was wohl Franz Burg dazu sagen würde ... und ihr +gnädiger, gütiger Herr daheim in Meiningen ... + +»Herr Pilgram -- das darf nicht sein! Ich bitte Sie, wenn Sie wüßten, +wie oft unsereine so etwas erleben muß -- wenn man da jedesmal Krach +machen wollte! Die Herren haben's ja wahrscheinlich gar nicht so schlimm +gemeint -- haben sich wohl gar nichts dabei gedacht --« + +»Sie haben ... weinen müssen ...« sagte Valentin Pilgram durch die Zähne +... »das sollen sie mir bezahlen ... die zwei.« + +Und mit sanftem Druck machte er die große, schlanke Hand los, die seinen +Rockärmel noch immer gefaßt hielt, küßte sie ehrerbietig und ging zur +Tür. + +»Ach -- die dummen Tränen --« rief Jucunda -- »das macht nichts, die +sitzen einem Mädchen ja so lose ... sehen Sie, ich lache ja schon wieder +... ich lache ja doch --« + +Und sieh: da liefen ihr wirklich aufs neue die heißen, hellen Tropfen +über die glühenden Backen ... sie schluchzte wie ein Kind: + +»Ich will aber doch nicht -- Sie sollen nicht, Herr Pilgram --!« + +Der war schon aus der Tür, schritt in seine Bude hinüber, riß die neuste +grüne Mütze vom Nagel und stülpte sie auf den Schädel. Nahm sein +silberbeschlagenes spanisches Rohr und ging zum Flur ... klinkte mit +hartem Ruck die Pforte auf und stieg mit hallenden Tritten die Treppen +hinab. Aus der steinumschnörkelten Pforte des altersgeschwärzten +Barockhauses trat er auf die belebte Katharinenstraße, ging den Markt +hinunter am Ladengewimmel des Rathausparterres vorbei und stolzierte +grimmigen Schrittes die Grimm'sche hinab. + +Und dabei sann er, was zu tun. Also jetzt werde ich die beiden Burschen +ankontrahieren müssen -- nicht auf Pistolen, bah! Vor die Klinge sollen +sie mir, vor die krumme! Freilich, der Prinz wird sich wohl hinter seine +Hausgesetze verkriechen und mir einen Ersatzmann präsentieren ... aber +der Major, dieser aalglatte Streber -- der muß 'ran! Hat ja auch wohl +jedenfalls den saubern Wisch verfaßt -- denn des Prinzen kindliche Pfote +war das nicht, die kenn' ich doch! Na, und dann wollen wir dem mal +zeigen, was 'ne Prim ist! + +Hm ... aber ... wie stellt sich das Korps dazu? Der Prinz ist +Konkneipant unseres Bundes, trägt offiziell seine Farben ... also ... +ich werde austreten müssen ... und nicht nur _pro forma_, denn sie +können mir ... nach dem Skandal können sie mir niemals das Band +zurückgeben ... + +Teufel auch, da hab' ich mir ja eine schöne Suppe eingerührt ... + +Aber was kann das helfen ... Ritterpflicht ist Ritterpflicht ... kein +Mädchen, und wär's zehnmal eine Komödiantin -- keine soll klagen, daß +ihre Ehre schutzlos sei, solange Valentin Pilgram noch eine Klinge +führen kann ... Hatte er sich nicht ihrem Dienste gelobt -- gestern +abend? Und wie rasch war das nun gekommen, daß dies Gelöbnis ihn zu +Taten rief! + +Geld hatte man ihr zu bieten gewagt ... ihr, die ganz Deutschland +vergötterte ... ihr, die vor seinen Augen dastand in so stolzer +Reinheit, wie eine Heilige ... die hatte man kaufen wollen wie eine ... +wie eine aus den dunklen Gäßchen der Stadt, durch die am hellsten Tage +niemand gehen mochte --?! Das forderte Blut -- nur mit Blut war das zu +sühnen --! + +Aber ... du selber, Valentin Pilgram --? + +Hm ... ist das nun nicht eigentlich doch ein Narrenstreich? Hat sie +nicht doch recht gehabt, als sie sagte: was geh' ich Sie an --?! + +O Valentin Pilgram, Rechtskandidat im achten Semester -- greif' in deine +Brust und frage dich: geht sie dich an -- diese -- diese da?! + +Ja -- wenn eine in der Welt, dann geht diese da dich an ... denn, +Valentin Pilgram, so närrisch das auch klingen mag ... Du bist ... +diesem Mädchen bist du verfallen seit dem Augenblick, als sie durch die +Gasse des jauchzenden Volkes vor Karl den Siebenten trat ... und +zugleich in dein Leben, Valentin Pilgram, schicksalsgewaltig ... für +immer -- für alle deine Tage --! + +Nun lag vor dem Schreitenden, herbstsonnenübergoldet, der Augustusplatz: +zur Rechten flimmerten die Wasser des Mendebrunnens, reckte sich die +finsterblinkende Front des Museums; zur Linken stieg in heiterer Anmut +der köstliche Bau des Neuen Theaters ins duftige Blau. Dorthin strebte +Franconias Senior, denn er wußte zu dieser Stunde das Korps im +Restaurant auf der Theaterterrasse zum Frühschoppen versammelt. Vor ihm +wanderte noch eine andere grüne Mütze: Pilgram ließ den Frankenpfiff +schallen: da fuhr der Kopf unter der grünen Fuchsmütze herum: + +»Ah ... Pilgram --« + +Ehrerbietig zog das blonde Füchschen vor dem gestrengen Ersten den +Deckel und sprang heran. + +»Also, Hartwig, geh' zum Frühschoppen und sage dem Fuchsmajor, er möge +sofort die Korpsburschen zum außerordentlichen Korpskonvent +zusammenbitten! Ich erwarte die Herren im Flügelzimmer des Restaurants +-- verstanden?« + +»Gewiß, gewiß, Pilgram -- ich laufe ...« + +Und vom muntern Frühtrunk weg, von der sonnüberglühten Terrasse, wo bei +rauschender Musik die Korps ihren offiziellen Frühschoppen hielten +inmitten neugierig beobachtender Fremden, verschwand ein wohllöblicher +C. C. der Franconia unter dem Rundbogen, der zum inneren Lokal führte, +und versammelte sich in einem kühlen, abseitigen Gastzimmer zum Konvent +-- gespannt, was diese unerwartete Ladung zu bedeuten haben möge. + +Die Franken waren's gewohnt, daß ein Ausdruck beklemmender Feierlichkeit +sich über das hagere Gesicht ihres Ersten legte, wenn er den +Korpskonvent eröffnete: aber so ... so unheimlich offiziell hatten sie +ihn doch noch niemals gesehen. + +»Ich habe dem C. C. von einer persönlichen Angelegenheit Mitteilung zu +machen, die -- zu meinem größten Bedauern -- mich in einen Widerspruch +mit den Interessen des Korps bringt. Unser Konkneipant, Seine +Durchlaucht der Erbprinz, und dessen Begleiter Major v. Gorczynski haben +sich einer schweren Beleidigung gegen eine Dame schuldig gemacht. Diese +Dame ... diese Dame steht unter meinem Schutze ... und deshalb sehe ich +mich genötigt, diesen Herren eine schwere Forderung zu übersenden. Ich +kann natürlich nicht erwarten, daß das Korps den Erbprinzen zur +Verantwortung zieht ... und deshalb bleibt mir nichts übrig, als den +C. C. zu bitten, mir die Entlassung ohne Farben zu gewähren, damit ich +den Ehrenhandel mit einem Herrn, der offiziell zu den Angehörigen des +Korps zählt, zum Austrag bringen kann. Wünscht jemand zu meinem Antrage +das Wort?« + +In stummer Verblüffung hatten die jungen Herren den Vortrag ihres +Häuptlings angehört -- angesteckt von seiner Erregung, seinem fiebernden +Ernst. Nun baten fast sämtliche Korpsburschen ums Wort und verlangten +nähere Erklärungen. Man fragte, wie es möglich sein könne, daß der junge +Prinz mit einer Dame, welche der nächsten Verwandtschaft ihres +Korpsbruders angehörte -- denn nur um eine solche Dame konnte es sich +doch handeln -- überhaupt in Berührung gekommen sein könne? + +»Die Dame, für die ich einzutreten habe, ist keine Verwandte von mir ... +es handelt sich um ein junges Mädchen, das außer seinem Vater, einem +älteren, gebrechlichen Herrn, keinen männlichen Schutz zur Seite hat -- +und für das einzutreten mir deshalb als die Pflicht eines Ehrenmannes +erscheint, zumal diese junge Dame zugleich eine berühmte und gefeierte +Künstlerin ist ... es handelt sich um die herzoglich meiningische +Hofschauspielerin Jucunda Buchner.« + +Ein unwillkürlicher Laut des Staunens, der tiefsten Ueberraschung +entfuhr jedem der jungen Herren. Keiner konnte sich den Zusammenhang +erklären ... wußte doch außer Hans Thumser noch nicht ein einziger von +ihnen, daß ihr Erster, der notorische Verächter alles dessen, was Kunst +und Künstler hieß, überhaupt gestern abend bei den »Meiningern« gewesen +war ... + +»Ich bitt' ums Wort!« rief Ivo Volkner, der temperamentvolle +Rheinländer, und als der Erste dem Konvent Silentium für Volkner +anbefohlen: »Ja, lieber Pilgram -- ohne uns in Deine persönlichen +Angelegenheiten hineinmischen zu wollen -- aber Deine Erklärungen sind +doch für uns alle dermaßen -- überraschend, daß wir doch wohl um etwas +genauere Auskunft bitten müssen ... was ist der ... jungen Dame ... denn +eigentlich passiert ... und wie kommst Du -- gerade Du dazu, Dich zu +ihrem Ritter aufzuwerfen?« + +»Ich will ... zuerst diese letzte Frage beantworten. Oder vielmehr nicht +beantworten. Liebe Korpsbrüder, Ihr kennt mich und wißt: ich weiß im +allgemeinen, was ich tue ... Und wenn ich Euch sage, das, was ich zu tun +vorhabe, das muß sein -- na, dann darf ich vielleicht von Euch erwarten, +daß Ihr mir das glaubt. Hab' ich recht?« + +Allgemeines Gemurmel der Zustimmung. + +»Also noch einmal: ich halte mich für verpflichtet, für die Dame +einzutreten ... und bitte den C. C. ... von einer näheren Darlegung +meiner Motive ... Abstand zu nehmen.« + +Volkner bat ums Wort und fragte: + +»Ohne weiter in Dich dringen zu wollen, Pilgram: wir hören doch alle in +diesem Augenblick zum ersten Male, daß Du die Dame überhaupt kennst. +Sollten wir dann nicht wenigstens erfahren, wann und ... unter welchen +Umständen Du ... ihr denn eigentlich dermaßen nähergetreten bist, daß Du +-- hm! daß Du nun dermaßen für sie in die Verlängerung springen willst?« + +»Das kann ich Euch mitteilen ... aber zur Erklärung meiner ... meines +Entschlusses wird's Euch wenig nützen ... ich muß da schon an ... an +Euer korpsbrüderliches Vertrauen appellieren ... ich kenne Fräulein +Buchner erst seit gestern abend ... sie ist die einzige Tochter des +Kanzleirats Buchner ... bei dem ich zur Miete wohne.« + +»Also sozusagen -- _filia hospitalis_!« sagte Volkner, und ein kurzes, +verständnisvolles Schmunzeln ging über die erregten Gesichter der +Korpsbrüder. + +»Nun, ich denke, ich habe Euch zu diesem Punkte mitgeteilt, was ... was +sich irgend mitteilen läßt. Und zweitens -- was wolltest Du ferner noch +wissen, Volkner?« + +»Ja -- was denn der Erbprinz eigentlich gemacht hat ...« + +»Er hat sie durch seinen Begleiter zum Souper einladen lassen -- na, das +möchte ja allenfalls gehen ... aber er hat dieser Einladung dadurch +einen nicht mißzuverstehenden Charakter gegeben -- daß er ... daß er +zwei Hundertmarkscheine beigefügt hat ...« + +Das Lächeln, das bei Erwähnung der Soupereinladung um die Lippen der +jungen Herren aufgezuckt hatte, erlosch ... Rufe wurden laut: + +»Geschmacklosigkeit!« + +»Donnerwetter, der geht aber aufs Ganze!« + +»Na ja -- ein Förscht -- der denkt eben, er braucht bloß auf'n Knopp zu +drücken ...« + +»Ich denke, liebe Korpsbrüder, Ihr seht ein, daß eine solche infame +Beleidigung -- einem anständigen Mädchen gegenüber -- Fräulein Buchner +=ist= ein anständiges Mädchen, und wenn sie zehnmal eine Komödiantin ist +-- was sagst Du, Thumser? Du kennst sie ja auch?« + +Hans Thumser hatte mit einem wahren Toben der Gefühle die Verhandlung +verfolgt, ohne selbst das Wort zu nehmen. Mein Gott, wie war aus dem +strahlenden Spiel von gestern so rasch ein grotesker, tragikomisch +grinsender Ernst geworden! Und was war doch dieser offizielle, +banausische Pilgram für ein Prachtkerl, daß er sich für ein jählings +erwachtes Gefühl gleich so ganz und rückhaltlos in die Schanze warf! + +Ach, und du, Hans Thumser? was soll denn heut nachmittag werden? Mit was +für Träumen, was für Begehrnissen, Hans Thumser, trägst du dich?! + +»Ein anständiges Mädchen?« rief er zur Antwort auf die Frage des Ersten. +»Eine Königin ist sie ... eine Göttin ... Pilgram, ich beneide Dich um +das Glück, für sie vom Leder ziehen zu dürfen!« + +»So überschwenglich brauchen wir das gar nicht mal auszudrücken,« sagte +der Erste. »Aber ein anständiges Mädchen ist sie ... und da ich nun mal +zufällig das Pech oder ... das Glück habe, mit ihr unter einem Dache zu +wohnen ... und der erste honorige Mensch zu sein, dem sie sich +anvertraut hat ... so bleibt ja wohl nichts andres übrig, als die +Konsequenzen zu ziehen ...« + +Bei diesen so nüchtern klingenden Worten schwoll's in all den jungen +Burschenherzen. Es war der romantische Glanz, der diese Tat ihres +Korpsbruders, ihres Führers, umwob, der ihnen allen Sinne und Urteil +blendete. Wenn auch der Idealismus, den das Gymnasium in ihnen erzogen, +durch die Formen blasierten, kaltschnäuzigen Lebemannstums verdeckt, ja +stellenweise überwuchert sein mochte -- noch lebte in ihnen allen etwas +von dem Adelsgeiste, unter dessen Herrschaft ihre ganze Jugend, die +Formung ihrer Seelen gestanden ... Wohl stieg in manchem von ihnen das +Gefühl auf, als hätte sich doch am Ende ein Kompromiß finden lassen ... +noch bedächtigere Seelen bedachten gar insgeheim, daß eine solche +Katastrophe, auch wenn Pilgram vorher offiziell aus dem Korps +ausschiede, doch nicht ohne Folgen für die Beziehungen des Korps zu dem +Erbprinzen und damit vielleicht überhaupt zu den deutschen Fürstensöhnen +bleiben könne ... In weiter Ferne dämmerte gar hie und da etwas wie der +Gedanke an verpfuschte Karriere, verspielte Zukunftsaussichten ... aber: + + »Wer die Folgen ängstlich zuvor erwägt, + Der beugt sich, wo man die Tiefquart schlägt -- + Frei ist der Bursch!« + +-- das galt auch heute noch, das galt, das sang man nicht nur, so +handelte man auch -- hol's der Teufel! + +Einstimmig ging Pilgrams Antrag durch, ihm die ehrenvolle Entlassung +ohne Band zu erteilen ... Aber durch jedes Herz ging's wie ein schriller +Riß, als nun Valentin Pilgram stumm das grün-gold-rote Band von der +Brust zog, es stumm auf die Mütze legte, die auf dem Tische lag, sich +mit schweigendem Händedruck von den ... ehemaligen Korpsbrüdern +verabschiedete ... und, mit einem Handwink im Kreise, an ihnen +vorüberschritt ... + +Er ging durch den Schenkraum des Theaterrestaurants, schritt barhaupt +quer über den Augustusplatz, kaufte sich in der Passage für seinen +letzten Taler (Gott sei Dank, morgen ist der Erste!) einen einigermaßen +schäbigen Filzhut und kehrte dann zur Theaterterrasse zurück. Grüßend +schritt er am Frankentisch vorbei, wo die harrenden Füchse in stummer +Verwunderung ihre Mützen zogen, lüftete flüchtig den Hut zu den Tischen +der übrigen Korps und trat auf den Neo-Borussentisch zu, an dessen +Spitze der Erste, Herr Borgmann, mit dem gewohnten süffisanten Lächeln +präsidierte. + +»Herr Borgmann -- kann ich Sie einen Moment sprechen?« + +»Mit dem größten Vergnügen, Herr Pilgram ...« + +Die beiden jungen Herren traten abseits an den Rand der Terrasse, von +der der Blick hinschweifte zum zitternden Spiegel des Schwanenteiches, +auf das braune, rieselnde Laub der Anlagen auf dem alten +Umwallungsgebiet. + +»Zunächst gestatte ich mir, Ihnen anzuzeigen, daß ich aus dem Korps +Franconia ausgeschieden bin ...« + +»Herr Pilgram --!« + +»Sie werden den Grund sogleich erraten: Ich bitte einen wohllöblichen +C. C. der Neo-Borussia um Waffenschutz und zugleich Sie persönlich um +die große Liebenswürdigkeit, Seiner Durchlaucht dem Erbprinzen von +Nassau-Dillingen und Herrn Major von Gorczynski je eine Forderung auf +schwere Säbel ohne Binden und Bandagen auf fünfundzwanzig Minuten bis +zur Abfuhr zu überbringen.« + + +In ratloser Verblüffung waren Mutter und Tochter zurückgeblieben, als +ihr Student sich so unerwartet und kategorisch zu Jucundas Ritter +aufgeworfen. Nun sie allein waren, wich die erste Rührung und +Ergriffenheit bald einem kaltblütigen Erwägen. + +»Das gibt weeß Knebbchen än richt'gen Schkandal!« platzte Mutter Doris +heraus. »Gucke, das hast Du nu davon, daß Du Dich so hast vergessen +kenn'! Schließlich -- so gefährlich war doch am Ende die ganze +Geschichte nu nich! Man hätte den Herrn ihr Geld einfach sollen +wiederschicken -- mit Abzug von's Porto nadierlich -- un den Korb zum +Gärtner zurück, un all's war in Ordnung! Statt dem wird der nun hingehn +und wird'n fordern, den Erbprinz, un der Krach is fertig! Un +schließlich, was wer'n die Leite sagen? Die Buchner hat's mit ä +Studenten, wer'n se sagen!« + +Eine Flut von wirren Gedanken wirbelte durch Jucundas Hirn. Da +war so unendlich Vieles, was beglückte, erregte, schmeichelte, +stachelte, berauschte! Welch eine Macht ging von ihr aus -- trieb den +langen Jungen, einen Sohn aus gutem Hause, den Ersten Chargierten +des ältesten und angesehensten Korps in Leipzig -- sie war ihren +Kindheitserinnerungen noch nahe genug, fühlte sich noch immer als +Tochter eines Hauses, das jahraus, jahrein nur Korpsstudenten +beherbergte -- wußte das als eine Ehre zu schätzen ... ihn trieb sie in +tolle, aberwitzige Abenteuer, diese unheimliche Macht, die von ihr +ausging ... Achtzehn Jahre, und schon der Mittelpunkt von Tragödien und +Katastrophen ... + +Aber da war noch eine andere Stimme: die Stimme der kalt rechnenden +Vernunft, die Stimme der kleinbürgerlichen Gerissenheit, die das früh +gewitzigte Töchterchen einer engbegrenzten Spießerwelt auf ihrem Anstieg +in lichte Höhen des Daseins bisher so sicher geleitet hatte: die warnte +vor dem Skandal ... mahnte zur Ruhe, zur Vorsicht ... + +»Wenn ich nur wüßte, was Hoheit in Meiningen zu so einer Geschichte +sagen würde ...« + +»Nu, ich glaub' nich, daß der gnädigste Herr sähre entzickt mechte sinn, +wenn's Geschichten gibt wegen en Prinzen aus fürstlichem Hause ...« +meinte die Mutter. + +Jucunda sann, an wen sie sich wohl um Rat wenden könnte. Franz Burg! +schoß es ihr durch den Sinn. Der wackere, selbstlose Freund und Förderer +hätte es wohl verdient, daß sie sich überhaupt zuerst an ihn gewandt +hätte ... Und das hätte sie ja auch sicherlich getan, wenn nicht ihre +Nerven, noch nachzitternd von den gestrigen Fiebern, ihr den Streich mit +dem Weinkrampf gespielt hätten ... ja, und da war's eben alles so von +selbst gekommen, das Andre, das Unwahrscheinliche, das süß Berauschende +und Erschreckende ... + +Mutter Doris war natürlich sehr einverstanden ... Und alsbald war +Jucunda auf dem Wege zu Franz Burg ... wie sie immer zu Franz Burg +gegangen war, wenn sie nicht mehr aus noch ein wußte ... es gingen +sehr viele Menschen zu Franz Burg, wenn sie nicht mehr aus noch ein +wußten ... + +Ach, wie ging sie gern zu Franz Burg! Erstens war es ein behagliches +Bewußtsein, daß er verheiratet war -- sehr glücklich verheiratet. +Zweitens war's ein sehr behagliches Bewußtsein, daß -- nun daß er +trotzdem heftig für sie schwärmte -- so was merkt man doch, nicht wahr? +-- daß sich hinter seiner trockenen, reservierten Freundschaft eine +Empfindung versteckte, die gewaltsam gebändigt werden mußte ... + +Gott, ist das entzückend, so zu fühlen, zu wissen, daß man wie eine +allvergötterte Königin durchs Leben schreitet ... Ihr fiel ein, daß sie +einmal von den Indianern gelesen hatte, sie sammelten die Skalpe ihrer +erlegten Feinde ... O Jucunda -- wenn du die Skalpe deiner zur Strecke +gebrachten Verehrer sammeln würdest ... was für ein Museum käme da +zusammen! + +So sann Jucunda, während sie hastig die Petersstraße hinabschritt, den +Weg, den man sie gestern im Triumphzug heimwärtsgeführt ... Unter dem +Torweg kaufte sie sich die Morgenzeitungen, außer dem Tageblatt, das +sie daheim zum Frühstück schon verschlungen, und las die Kritiken ... +eitel Hosianna über den ganzen Abend, und sie natürlich der Mittelpunkt +... und hier ein Bericht über ihre Heimkehr, feuilletonistisch +zurechtgestutzt -- brav so, brav, na ja, so was macht eine bildschöne +Reklame, das darf öfter passieren! + +Erst während sie die Anlagen am Roßplatz kreuzte, den Königsplatz +überschritt, kam ihr wieder in den Sinn, weshalb sie sich eigentlich +heut morgen zum Theater aufgemacht hatte, wo sie doch auf Rechnung +der gestrigen Strapaze von der Probe dispensiert war. Nein, dieser +gute Pilgram -- so ein Starrschädel! Eigentlich rührend ... und doch +ein bißchen zum Lachen, daß er sich ihretwegen ... des lumpigen Billetts +wegen, das doch wahrhaftig nicht das erste gewesen war und auch nicht +das letzte sein würde ... daß er sich deswegen mit Tod und Teufel +schlagen wollte -- sich sein Leben verpfuschen reineweg! Also solche +Männer gab es doch auch ... eigentlich eine Wohltat, wenn man so +inmitten dieses marklosen, irrlichtelierenden, an großen Worten sich +betrinkenden und vor jeder Tat mit eingekniffenem Schwanz abseits +schleichenden Künstlervolks lebte ... Franz Burg war ja eine Ausnahme +... aber ob er sich ihretwegen auch nur einem Schnupfen ausgesetzt +hätte statt einer Degenklinge -- das bezweifelte Jucunda denn doch +eigentlich ... + +Da war das Carolatheater ... Jucunda schritt durch den Eingang, +überquerte das schmale Höfchen, den Kassenflur, in dem sich bereits +wieder das Publikum um die Abendplätze prügelte -- Gott, wie wird Hoheit +sich über die Kassenrapporte freuen! -- schlüpfte durch die knarrende +Eisentür in den Bühnenumgang und horchte am Pförtchen, das zur Bühne +führte. Burg arrangierte eben das »Lager« ... + +»Kinder,« hörte sie seine Stimme, »faßt Eure Kriegsknechte man recht +feste um 'n Hals -- Ihr seid jetzt keine höheren Töchter mehr, Ihr seid +Lagerdirnen des Friedländers, die hatten etwas weniger etepetetige +Umgangsformen als die Leipzigerinnen von 1888! Und wenn's aus Versehen +mal 'nen handfesten Kuß absetzt -- na, für die Kunst muß man eben Opfer +bringen können!« + +Ja -- das konnte natürlich bis zur Erschlaffung so weitergehen ... und +dabei war doch Eile not ... Es half nichts, sie mußte unterbrechen ... +obschon sie wußte, daß er das auf den Tod nicht leiden konnte ... Sie +trat in den halbdunklen Bühnenraum, den nur die offenen Gasflammen der +Proberampe matt erhellten. Da stand Franz Burg neben dem Regietisch, +umringt von der andächtig lauschenden Schar des »Volkes«. + +»Suchen Sie mich, Buchner?« + +»Wenn Sie einen Moment Zeit für mich hätten, Meister ... es ist dringend +...« + +Jucunda störte nicht ohne Grund -- dafür kannte er sie. Aber allzu +gnädig klang es nicht, wie er drinnen im Konversationszimmer ein kurzes +»Also los!« hervorstieß. + +Und Jucunda berichtete. Ausführlich entschuldigte sie sich, daß sie sich +nicht zuerst an ihn gewandt ... ließ deutlich durchblicken, daß ihr die +ganze Geschichte nur so über den Kopf gekommen ... + +Ein sardonisches Schmunzeln zog über's ausgearbeitete Gesicht des +Oberregisseurs, in seinen dunklen, tiefliegenden Augen tanzten tausend +Teufelchen. + +»Un wat sall ick dorbi dauhn?« + +»Helfen sollen Sie, lieber Freund! Das darf doch nicht geschehen!« + +»Ganz im Gegenteil, Kindchen -- einer von den dreien muß auf der Strecke +bleiben -- noch besser alle! Die Schädel sollen sie sich spalten -- +einander auffressen wie die beiden Löwen in dem berühmten Liede: + + Zwei Löwen gingen einst selband + In einem Wald spazoren, + Und haben da, von Wut entbrannt, + Einander aufgezohren!« + +»Das -- kann Ihr Ernst nicht sein!« + +»Aber blutiger! Was liegt an einem Rechtskandidaten, einem Erbprinzen, +einem Stabsoffizier! Hin müssen sie allesamt werden, damit Jucunda +Buchner im Triumph über ihren Leichnamen zum Tempel des Ruhms +emporwandelt!« + +»Ach -- mir ist wirklich nicht nach Späßen zumut!« + +»Denken Sie, mir?! Merken Sie nicht, Kindchen: alles, was nicht zum Bau +gehört, ist Publikum, das heißt, einzig und allein dazu da, uns zu +bewundern, zu feiern, zu erhöhen ... Gestern abend haben sie Ihnen die +Pferde ausgespannt und Sie im Wagen nach Hause gezogen: geben Sie mal +acht, wenn Ihr Student und Ihr Erbprinz sich Ihretwegen gegenseitig +aufgespießt haben -- was die Leute dann erst mit Ihnen aufstecken! Auf +Händen werden Sie dann nach Hause getragen!« + +»Und ... was wird Hoheit zu der Geschichte sagen?« + +»Hm ... Hoheit ...« Burg sann einen Augenblick nach. Allerdings, das war +zu erwägen ... An Hoheit durfte so eine kindische Affäre natürlich nicht +herankommen ... + +Aber ... würde es denn überhaupt eine Affäre werden? Franz Burg kannte +die Welt und wußte, daß in ihr nichts so heiß gegessen wird, wie +jugendlicher Ueberschwang es kochen möchte ... + +»Na ... so weit sind wir ja noch lange nicht!« lachte er. »Vorläufig +wollen wir mal ruhig zusehen, wie das Rummelchen sich historisch +entwickelt ... Is ja ganz nett, auch mal Zuschauer spielen zu dürfen! +So, und nun muß ich wieder Affen dressieren -- komm her, Langbeinchen, +gib mir 'n Kuß!« + + +Als Jucunda auf der Straße stand, sah sie ihre Kollegin Thöny drüben in +einem Fenster des ersten Stockes liegen. Sie winkte ihr zu. + +»Was haben Sie denn da drinnen gemacht, Buchner? Kommen Sie 'nauf, wir +schwatzen ein bissel!« + +Die beiden Rivalinnen kamen rasch ins Gespräch. Plötzlich fiel's Jucunda +ein, daß ihre Mutter daheim mit dem Mittagessen wartete: Na, dem ließ +sich abhelfen -- es war nicht alle Tage so nett -- nicht alle Tage +vertrug man sich so gut mit seinen Kolleginnen -- das mußte man +auskosten. Sie pfiff sich einen barfüßigen Jungen von der Straße herauf +und schickte ihn mit einem Markstück und einem Stadttelegramm zum +nächsten Postamt. + + »Muß probieren, nicht zum Essen erwarten. Jucunda.« + +Die Mädchen teilten das frugale Mittagsmahl, das Mutter Ach ihrer +Pensionärin gekocht hatte, und schwatzten, küßten sich, schworen sich +ewige Freundschaft ... und Asta Thöny hatte ganz vergessen, daß sie noch +heut nacht so heiß geweint hatte, weil man Jucunda Buchner die Pferde +ausgespannt hatte und ihr nicht ... + +Und Jucunda Buchner dachte nicht mit einem Sterbensgedanken mehr daran, +daß um ihretwillen ein junger, wackerer Gesell im Begriff war, seine +Zukunft und sein Leben auf ein tolles Spiel zu setzen ... + + +Erbprinz Heribert und sein Mentor waren beim Dessert ... Zwei junge +Leutnants vom hundertsiebenten Regiment, Söhne verarmter +Nassau-Dillingenscher Adelsfamilien, deren alte Herren nur +Infanteriezulage erschwingen konnten, waren zu Tische geladen. Man trank +Pommery und beklatschte Hofskandäler der benachbarten Fürstenhöfe -- da +wurde in dringlicher, persönlicher Angelegenheit Herr Studiosus Borgmann +Neo-Borussiae gemeldet. + +»Hm ... dringliche, persönliche Angelegenheit? Also bitte ins +Empfangszimmer ... Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, meine +Herren ...« + +Sporenklirrend ging der Prinz -- den militärischen Gästen zu Ehren war +er heut in der Uniform seiner Sophiendragoner -- in den Salon hinüber, +dessen konventionelle Hoteleleganz durch ein paar erlesene Stücke aus +dem erbprinzlichen Schloß Beauregard eine Art persönliche Note empfangen +hatte. + +Herr Borgmann verneigte sich tief. Unter seiner schwarzen Kompresse +waren Stirn und Nase erblaßt vor feierlicher Erregung. + +»Durchlaucht ... ich bedaure unendlich ... furchtbar peinliche Mission +...« + +»Darf ich bitten, Platz zu nehmen?« + +Stotternd entledigte sich Herr Borgmann seines Auftrages. + +»Hören Sie mal, mein Verehrtester -- das ist ein Witz ... aber ein +fader!« sagte der Erbprinz. »Einen Augenblick ... ich werde Herrn von +Gorczynski rufen lassen, der ist ebenfalls beteiligt ...« + +Er klingelte und befahl, den Major zu bitten. + +»Nehmen Sie mir die Frage nicht übel, Herr Borgmann -- ist bei Ihrem +Herrn Auftraggeber vielleicht eine Schraube los?« + +»Ich bedaure, als Kartellträger eine Kritik an dem Inhalt meines +Auftrages ... weder selbst ausüben noch ... entgegennehmen zu dürfen +...« + +»Sehr korrekt!« lobte der Erbprinz. »Sie haben ganz recht -- verzeihen +Sie. Aber ich bin einstweilen dermaßen baff ... So was hab' ich denn +doch nicht für möglich gehalten.« + +Und zu dem eintretenden Major mit einem boshaften Schmunzeln: + +»Nun sagen Sie mal, mein Verehrtester -- was haben Sie uns da denn +eigentlich eingebrockt? Wir werden gefordert! Wir sollen uns prügeln -- +weil wir den perversen Wunsch geäußert haben, mit der Jungfrau von +Orleans zu soupieren!« + +Der Major begriff nicht -- mußte erst völlig aufgeklärt werden -- und +dann platzte er hell heraus ... Der Prinz stimmte ein, auch Borgmann +glaubte aus schuldiger Höflichkeit mitlachen zu müssen ... + +»In der Tat, die Sache ist zum Wälzen,« sagte der Prinz -- »aber Teufel +auch, wie bringen wir diesen rabiaten Burschen, den guten Pilgram, zur +Ruhe? Wie die ganze verfahrene Karre wieder ins Gleis? Ich danke für +einen Skandal ... die Sache muß unbedingt in aller Stille arrangiert +werden.« + +»Durchlaucht,« sagte der Major, »ich bin natürlich schuld. Ich habe +unsre ... hm, hm ... unsre vollkommen harmlose Soupereinladung scheinbar +doch ein bißchen zu herausfordernd stilisiert ... ich übernehme +selbstverständlich jede Verantwortung. Zunächst werde ich zu Fräulein +Buchner hinfahren, mich als den Schreiber des ... verhängnisvollen +Zettels bekennen ... und für mich, als den allein schuldigen Teil -- die +Verzeihung dieser ... nun der jungen Dame erbitten. Damit dürfte dann +wohl die Angelegenheit vollkommen erledigt sein -- nicht wahr, Herr +Borgmann?« + +»Hm ... ich will's hoffen,« meinte Herr Borgmann etwas kleinlaut. »Wenn +ich den Fall richtig taxiere, ist mein Herr Auftraggeber in ... na, in +gewissen ... heiligen ... Gefühlen gekränkt ... die bei etwas +temperamentvollen jungen Leuten leicht eine ... etwas explosive Form +annehmen ...« + +»Ach so -- Koller nennt man das ja wohl,« näselte der Erbprinz. »Ja ... +aber wenn ein solcher -- hm ... pathologischer Zustand gemeingefährlich +wird, dann muß eben eine Radikalkur versucht werden. Aeh -- die Sache +ödet mich ... Ich wünsche, lieber Herr von Gorczynski, daß Sie die +Angelegenheit völlig ins Reine bringen, verstehen Sie mich?« + +»Gewiß, gewiß, Durchlaucht, ich werde es an nichts fehlen lassen ...« +hastete der Major beflissen. + +»Und Sie, Herr Borgmann? Ich rechne auf Ihre Mitwirkung zu einer absolut +geräuschlosen Beilegung!« + +»Durchlaucht wollen versichert sein, daß ich mein möglichstes tun +werde!« + +Mit kurzer Verneigung schritt der Prinz an den beiden Herren vorüber und +überließ sie ihrer Ratlosigkeit. Auf dem Wege zum Speisesalon brach er +in ein schallendes Gelächter aus. + +So eine gerissene Katze -- bringt's fertig, einen Prinzen, einen +Prinzenbegleiter und einen langen Laban von Schlagetot vor ihren +Reklamewagen zu spannen ... und sowas ist achtzehn Jahre alt und spielt +weißgewaschene Tugendengel dermaßen überzeugend, daß einem ganz +kniefällig dabei zumute wird ... Na, warte Du, Dich zähm' ich mir noch +mal, Du süße, weiße Bestie Du -- das lohnt doch noch der Mühe! + +»Sie, lieber Aldringen, geben Sie mal 'n Glas Pommery -- aber etwas +lebhaft, bitte!« + + + + + 7. + + +Major von Gorczynski hatte beschlossen, den Stier bei den Hörnern zu +packen. So etwas Blödsinniges war ihm in seinem ganzen Leben noch nicht +passiert! Eine Soupereinladung an eine Bühnenprinzessin, die mit einer +Säbelforderung seitens eines Korpsstudenten beantwortet wird! Und noch +dazu eines Korpsstudenten, von dem man mit positiver Bestimmtheit weiß, +daß er allem, was Theater und Theaterweiber heißt, weltenfern steht! Das +war zu abgeschmackt ... Was konnte nur vorgegangen sein, das diese +ausgefallene Konstellation ermöglicht hatte! Das mußte man +herausbekommen ... Und das Einfachste war, man ging gleich vor die +rechte Schmiede ... Mit dem Mädel war jedenfalls noch am ehesten fertig +zu werden ... Absolut geräuschlose Erledigung hatten Durchlaucht +verlangt? Herr von Gorczynski kannte sich jedenfalls mit Mädeln noch +besser aus als mit dieser rauf- und trinkfesten Männerjugend in Band und +Mütze, deren Begriffe und Sitten so was mittelalterlich +Unkontrollierbares an sich hatten ... Also auf zu Jucunda! + +Frau Kanzleirätin Buchner öffnete selbst die Tür und war nicht wenig +entsetzt, als ein nicht mehr ganz junger, höchst eleganter und -- +hm! -- pikfein parfümierter Herr in Gehrock, Zylinder, hechtgrauen +Glacés an der Entreetür stand und Fräulein Jucunda Buchner zu sprechen +wünschte ... + +»Fräul'n Buchner is aus -- tut m'r unendl'ch leid ... Aber wenn ich was +kennte bestell'n -- ich bin die Mutter.« + +Herr von Gorczynski musterte die stattliche, rundliche Frau mit +Kennerblick. Es war nachmittags um vier, aber die ... Dame war noch +immer in Morgentoilette ... geblümter Schlafrock und Schleifenhäubchen +... Also aus so einem ... Milieu entstammte das Dämchen, für das der +Sohn eines hohen sächsischen Justizbeamten Korpsband und Karriere in den +Wind schlug ... Hm ... Das vereinfachte die Situation allerdings +außerordentlich. Herr von Gorczynski war auf eine feingebildete Familie +gefaßt gewesen ... Vielleicht Justiz, Universität, ein Predigerhaus ... +Und nun ... Na, wenn man mit so etwas nicht geräuschlos fertig werden +sollte ... + +»So ... Sie sind die Mutter ... Na da ist es vielleicht am besten, ich +unterhalte mich erst mal ein wenig mit Ihnen ... Major von Gorczynski +ist mein Name.« + +Frau Doris fühlte, wie ihr das Herz in die flanellenen Unterhosen +rutschte. »Ja, aber ... Sie sehen, Herr Major ... Ich bin Sie ja doch +gar nich angezogen ...« + +»Bitte, das macht nichts ... Was ich Ihnen zu eröffnen habe, das können +Sie auch unangezogen hören. Also wenn ich bitten darf -- oder wünschen +Sie meine Erklärungen auf dem Hausflur entgegenzunehmen?« + +»Ach nee ... Aber gewiß nicht, Herr Major ... Bitte treten Sie ein ... +in die gute Stube ...« + +Herr von Gorczynski überflog mit demonstrativer Geringschätzung die +verschlissene Herrlichkeit des Buchnerschen Salons. Dann setzte er sich +mit einer gewissen Vorsicht, als fürchte er, der Samtfauteuil könne +unter ihm zusammenbrechen, in den grünen Plüsch und sah die vor Erregung +fiebernde Frau mit durchdringendem Blick an. + +»Sie werden sich wohl ungefähr vorstellen können, weswegen ich komme, +Frau -- Buchner!« begann er scharf. »Nicht wahr?« + +Frau Doris' Kinnbacken schlotterten. Da hatte man die Bescherung! +Und ihr Rat war fern ... Und das Kind ... Und sie mußte den ersten +Ansturm des Schicksals ganz allein aushalten, von Gott und aller Welt +verlassen ... + +»Nu ja, nu nee ... denken ... kann ich mersch am Ende ...« + +»Na also: Um's kurz zu machen: Ihr Fräulein Tochter hat eine Einladung, +wie sie in der ganzen Welt Abend für Abend an tausend und abertausend +Kolleginnen Ihrer Tochter ergeht -- die hat sie damit beantwortet, daß +sie mir und ... meinem jungen Freunde, in dessen Namen ich mit +unterzeichnet hatte, eine Forderung auf schwere Waffen hat überbringen +lassen. Darf ich mich zunächst erkundigen, in welchen Beziehungen der +... junge Herr, der sich zum Beschützer Ihrer Familienehre aufgeworfen +hat, zu Ihrer Tochter steht?« + +»Aber ich bitt' Ihn', Herr Major -- in gar keener Beziehung. Er wohnt +hier im Haus ... zur Miete ... un da is er ... ganz zufäll'g is er dazu +gekommen, wie meine Tochter een Weinkrampf hat gekriegt, als das Bukett +ist angekommen ... un der Brief ... un ... un das Geld ...« + +Hm ... das Geld ... und ... ein Weinkrampf ... verdammt peinliche +Vorstellung ... aber was war zu machen ... man mußte oben bleiben. + +»So ... also in gar keinen Beziehungen ... verehrteste Dame, Sie haben +keinen dummen Jungen vor sich, dem Sie Lederstrumpfgeschichten +aufbinden können. Ich will also mal annehmen, der junge Herr ist der ... +Bräutigam Ihrer Tochter ...« + +»Ne, ne, wahrhaft'gen Gott nich -- aber gar keene Ahnung ... e junger +Student, ne, ne, wie kenn' Se nur so was denken ... So was hat meine +Jucunda wahrhaft'gen Gott nich neetig!« + +»Hm ... also nicht ... Na dann wollen wir's dahingestellt sein lassen, +welcher Art das ... Verhältnis zwischen den beiden jungen Leuten ist +...« + +Jetzt hatte Frau Doris sich denn doch gefunden. Die Ehre ihres Hauses, +ihres Mädchens --? Ne, ne, damit durfte man denn doch nicht spaßen ... + +»Heer'n Se, Herr Major,« rief sie zitternd, doch mit Entschiedenheit, +»das muß ich mir denn doch ganz ergäbenst verbitt'n! Meine Tochter hat +kein ... kein Verhältnis nich!« + +»In dem Sinne, in dem Sie das Wort verstanden zu haben scheinen, habe +ich es durchaus nicht gebraucht ... und verbitte mir meinerseits eine +derartige Auslegung meiner Worte! Nun aber zu Ihrem Fräulein Tochter! +Hat sie -- und haben Sie als Mutter -- oder wenn Ihr Mann noch unter den +Lebenden ist --« + +»Allerdings -- mein Mann ist der Kanzleirat Buchner -- ein königlicher +Beamter ...« warf Frau Doris ein, »Ritter des Albrechtkreuzes zweiter +Klasse ...« Sie richtete sich ordentlich auf an all diesen ehrenvollen +Tatsachen. + +»Na also! Haben Sie alle zusammen sich denn eigentlich nicht klar +gemacht, was ein so ... rabiates Vorgehen denn eigentlich für Ihre +Tochter ... vielleicht auch für Ihren Mann ... bedeutet? Ich nehme an, +daß Sie bereits in Erfahrung gebracht haben, wer wir eigentlich sind -- +wer sich hinter dem Namen von Dillingen versteckt -- hä? Wissen Sie das, +Frau Kanzleirat Buchner?« + +»Ja, ja, ich weeß -- ich weeß,« stammelte die geängstigte Frau und fuhr +mit dem Rücken der fleischigen Hand über die feucht gewordene Stirn. + +»Na also! Bilden Sie sich denn im Ernste ein, ein solcher Herr werde +sich wegen ... wegen einer Lappalie von einem x-beliebigen jungen +Menschen zur Rechenschaft ziehen lassen? Nee, verehrte Dame, die Sache +kommt anders: Es möchte Ihrer Tochter vielleicht doch peinlich sein, +wenn an ... eine gewisse Stelle ein Bericht über das ... eigentümliche +Interesse erginge, dessen Ihre Tochter sich in -- hm! Studentenkreisen +erfreut! Und wenn Ihre Tochter sich überlegt, daß ihr Kontrakt doch +am Ende noch nicht lebenslänglich und unkündbar ist, und daß es sich +wenig empfiehlt, sich die Gunst eines jungen Fürsten zu verscherzen, +der einmal der Brotherr eines der größeren deutschen Hoftheater sein +wird ... dann wird ihr am Ende klar werden, daß es ein bißchen übereilt +von ihr war, eine kleine Unbedachtsamkeit -- ich gebe ja zu, daß es +eine Unbedachtsamkeit war, Ihre Tochter ohne weiteres in eine Linie mit +der Mehrzahl ihrer Kolleginnen zu setzen ... Aber deshalb gleich nach +Blut -- nach Fürstenblut zu lechzen -- das scheint mir doch einigermaßen +kindisch!« + +Völlig zerschmettert hatte Frau Buchner die Suada ihres vornehmen +Besuchers über sich ergehen lassen. Vor ihrem Auge tanzten hundert +gräßliche Bilder ... Der gnädigste Herr in Meiningen hatte Jucunda seine +Gunst entzogen -- ihr Vertrag war gekündigt ... Vergebens klopfte sie an +die Pforten aller deutschen Bühnen ... Als »schwieriges Mitglied« wurde +sie überall abgelehnt ... Das Elend lauerte, der Hunger ... + +»Ne ... ne ... das is ja äne schreckliche Geschichte ...« stammelte sie. + +»Nun, Sie scheinen ja Vernunft annehmen zu wollen. Ich empfehle Ihnen +also, unverzüglich mit Ihrer Tochter Rücksprache zu nehmen: Sie soll +ihren ... ihren jugendlichen Beschützer veranlassen, seine höchst +törichte und kindische Herausforderung zurückzuziehen ... Damit dürfte +die Angelegenheit eine für alle Beteiligten befriedigende Erledigung +finden. Sind Sie dazu bereit?« + +»Aber mit dem greeßten Vergniegen -- 's wird sich doch am Ende noch +alles lassen ins reine bringen!« ächzte aufatmend die geängstigte Frau. + +»Na also --« der Major erhob sich -- »ich rechne darauf, daß Sie Ihren +mütterlichen Einfluß in diesem Sinne geltend machen. Meine Empfehlung +an Ihr Fräulein Tochter ... und ... böse ... braucht sie uns nicht zu +sein ... Die ganze Sache war vollkommen harmlos gemeint ... also ... +adieu, Frau Kanzleirätin!« + +Frau Buchner knixte ein übers andre Mal, während sie den Gast zur +Entreetür geleitete. + +Auf der Schwelle wandte der Major sich noch einmal um. + +»Apropos -- soweit ich unterrichtet bin, hat man bei Ihnen besonders +daran Anstoß genommen, daß meinem Briefchen ein ... ein kleines Geschenk +... in barem Gelde ... beigelegt war. Vermutlich haben Sie diese ... +diese kleine Aufmerksamkeit ... in Verwahrung genommen?« + +»Allerdings ... das hab' ich ... in meine Wirtschaftskasse hab' ich die +Scheine eingeschlossen ... Jucunda wollte sie zur Post bringen, aber ... +sie wollte sich erscht noch nach Ihrer ... genaueren ... Adresse +erkundigen ... Na un von dem Wege, da is se noch nich zurück ...« + +»Na, dann kann ich ihr ja den Gang ersparen ... Wenn Sie's mir gleich +aushändigen wollten ... und vielleicht --« ganz harmlos, nachlässig +wurde das hingelegt -- »vielleicht händigen Sie mir auch gleich das +Briefchen mit aus, das die Gemüter so sehr erregt hat -- und damit wäre +ja dann alles in schönster Ordnung ...« + +»Gewiß, gewiß, Herr Major -- das hab' ich ooch ... alles kenn' Se +kriegen -- ich bin ja froh, wenn ich's aus 'm Hause hab ...« + + +Teufel auch ... das war mehr, als ich gehofft habe! schmunzelte der +Major, als er mit seinem Raube die halbdunkle Stiege hinunterknarrte. + +Unten im Hausflur zog er den Brief hervor, entzündete ein Streichholz +und ließ das _corpus delicti_ in Flammen auflodern. Die beiden Scheine +aber, die er beim Empfang nur nachlässig in die Westentasche geschoben, +barg er nun sorgfältig in seinem Portefeuille. Es waren immerhin +zweihundert bare Mark ... + +Und dann ging er zu Aeckerlein hinüber und bestellte eine Flasche +Heidsieck. + + + + + 8. + + +Als Hans Thumser inmitten seiner Korpsbrüder das Theaterrestaurant +verließ und über den sonnenflimmernden Augustusplatz, die mittäglich +durchhastete Grimmaische Straße nach dem Baarmannschen Lokal am Markt +hinüberspazierte, wo das Korps speiste -- da wirbelte ihm der Kopf +dermaßen vom Fieber des Erlebens, daß die erregten Gespräche der Freunde +nur wie aus weiter Ferne zu ihm herüberklangen. Und doch disputierte er +selber eifrigst mit ... Es war ja kein Ende zu finden des Ueberlegens +und Projektierens -- wie alles kommen würde -- ob man sich nicht +übereilt, ob Pilgram, ob das Korps richtig gehandelt, ob sich nicht eine +minder schroffe Lösung des Konflikts hätte finden lassen ... Wie der +Erbprinz sich stellen würde ... und schließlich doch auch der Hof in +Nassau-Dillingen ... was der für Weisungen erteilen würde ... und was +all der welterschütternden Schicksalsfragen mehr noch waren. + +Und dabei immer der heimlich bohrende, süß erregende, wonnesam +beklemmende Hintergedanke an ... heut nachmittag ... + +Und so in Wirrnis und Ahnung verrannen die Stunden ... Jetzt ward alles +andre verdrängt durch das Mitgefühl mit Valentin Pilgrams Schicksal, des +Korpsbruders, der so ganz anders geartet war, mit dessen Wesen das +eigene niemals harmonisch hatte zusammenklingen wollen ... und dessen +starkgemute Jungmännlichkeit dennoch die lebenshungrige Seele fest in +ihren Bann geschlagen hatte -- längst eh dies opferstolze Einsetzen +seines ganzen Daseins für ein fremdes Mädchen, das Kind einer andern +Welt ... eh' diese Tat sein Bild in eine fast heroische Sphäre +emporgehoben ... + +Und dann wieder schwirrten mit scheuem Flügelschlage die Gedanken um das +eigene Hoffen und Bangen ... + +Und seltsam: Astas und Jucundas Bilder, sie rannen zusammen in der Seele +... Wer war's eigentlich, der ihn erwartete heut um fünf? War's nicht +jener Dämon, der in seines Korpsbruders Leben so verhängnismächtig +hineingegriffen? Jucunda! Jucunda! Der Name klang aus allen Gesprächen, +die in der Runde hin und wider flogen ... Daß es überhaupt eine Asta +Thöny gab, das wußte ja nur einer von seinen Freunden, und dieser eine +-- der war fern ... war ausgeschieden aus dem Bunde, dem sein ganzes +Herz gehörte, für dessen Farben er in siebenundzwanzig Waffengängen sein +junges Herzblut vergossen ... ausgeschieden um jener andern willen ... +und selbst dieser eine hatte sie doch nur auf der Bühne gesehen -- ahnte +nicht, daß sie mit Hans Thumser unter einem Dache wohnte ... konnte +nicht ahnen, daß sie heimlich nächtens in ihre Kissen weinen und dann +plötzlich lachen konnte, so girrend, so atemversetzend. + +Nach dem Mittagessen blieb das Korps beim Kaffee noch lange zusammen. +Die Füchse wurden fortgeschickt, und immer und immer wieder in heftigen +Disputen drehten und wendeten die Korpsburschen das Ereignis des Tages. +Hans aber zog von Zeit zu Zeit heimlich die Uhr und zählte, wie eine +Viertelstunde um die andere verrann von jenen, die ihn noch von dem +größten Erlebnis seines jungen Daseins trennten ... Und einmal zog er +heimlich auch sein Portemonnaie und stellte fest, daß er heute, am +einunddreißigsten Oktober, noch fünfundachtzig Pfennige sein eigen +nannte ... + +Teufel auch! Wenn man die Farben eines Korps trägt, kann man unmöglich +ohne ein bescheidenes Blümchen in der Hand bei einer Dame zum Tee +antreten ... Und Hans Thumser pumpte sich von Volkner, der immer Geld +hatte, eine Mark ... + +Und endlich war's dreiviertel fünf ... Und wie ein Träumender strich +Hans Thumser die Petersstraße hinunter, einen Busch rosa Dahlien, in +Seidenpapier gewickelt, in der Hand ... Zu wem ging's? Zu Asta? Zu +Jucunda? Er wußte es nicht ... es ging ... zu =ihr= ... + +Und so war's fast eine Selbstverständlichkeit, daß er sie nun =beide= +fand ... + +Die Stube schwamm von Zigarettenrauch ... Und auf dem Sofa, eng +aneinandergelehnt, zwei Mädchen ... die, die er zu suchen kam -- und die +andere ... + +»Ach Gott ...« lachte Asta in komischem Entsetzen auf, »Herr ... na wie +heißen Sie noch? Herr ...« + +»Thumser,« stotterte Hans und blieb ganz verdonnert an der Tür stehen. + +»Richtig, Herr Thumser -- mein Zimmernachbar -- nicht wahr, Sie sind's +doch? Mein Gott, Sie hatt' ich wahrhaftig total vergessen --« + +»O bitte, dann will ich nicht stören,« sagte Hans und griff zur Tür. + +Ein Kübel Eiswasser, einem glutgedörrten Saharawanderer jählings über +den Nacken gegossen ... + +»Aber nein! Stören! Weglaufen! Gibt's nicht!« Und das weiche Figürchen +in der nicht ganz tadellos frischen Batist-Matinee sprang auf, stand vor +dem schlanken Studenten, eine Hand, zart und warm wie ein +sonnendurchglühtes Rosenblatt, legte sich auf die seine und zog ihn ins +Zimmer. + +»Nicht böse sein! Meine Kollegin ist mich besuchen gekommen, und da +haben wir uns verschwatzt ... Ist's denn schon fünf Uhr? Himmel -- und +wie's hier ausschaut! Frau Wehe! Frau Wehe! Schnell kommen Sie mal her +und räumen S' ab! Gestattest Du, Jucunda? Mein Zimmernachbar, Herr +Studiosus Dummler --« + +»Thumser,« verbesserte Hans etwas pikiert. + +»Pardon -- Thumser -- meine Kollegin Buchner -- die große Buchner, +wissen S'!« + +Jucunda grüßte stumm und königlich. Sie hatte die grüne Mütze, die drei +Farben um die Brust des jungen Mannes wiedererkannt ... + +»Ich weiß ...« sagte Hans. »Ich war gestern abend in der 'Jungfrau' ... +und ich bin auch unter denen gewesen, die --« + +»-- ihr die Pferde ausgespannt haben -- natürlich! Das nächste Mal, Sie +Schlingel, spannen Sie mir die Pferde aus -- verstanden? Sonst ist's aus +mit der guten Nachbarschaft!« + +»Wird gemacht!« sagte Hans, der sich wiederfand. »Inzwischen darf ich +wohl als bescheidene Entschädigung diese Blümchen ...« + +»Ach -- das ist famos! Sehen Sie, Jucunderl, es wachsen heuer doch nicht +alle Blumen bloß für Dich ...« Und sie drückte den Studenten in einen +der verschlissenen, fettigen Damastfauteuils, welche Mutter Achs beste +Bude verherrlichten. + +Einen raschen Blick warf Hans Thumser in der Bude umher. Wild sah's +aus ... auf dem Tisch noch die Reste des bescheidenen Mittagsmahls, +Aepfelschalen und die zerknautschten Mundstücke abgerauchter Zigaretten +trieben sich auf dem fleckigen Tischtuch herum ... und drüben auf dem +Bette aufgestapelte Mullröcke und Spitzenhöschen, auf dem Schreibtisch +ein zusammengerolltes Korsett, dazwischen unsaubere Hefte mit +ausgeschriebenen Rollen und zerflederte Reclambändchen ... + +Asta war diesem Blick gefolgt und sah den Ausdruck von Mißbehagen, der +ununterdrückbar das schmissebedeckte tadellos rasierte Gesicht des +korrekten und gepflegten Jünglings überzog. + +»Bös schaut's aus da drin, gelt? Aber warten S' nur, ich schaff' schon +eine Ordnung! Faß an, Jucunderl, Du bist ja schuld, daß ich so einen +feschen, jungen Herrn in so einer Schlamperei muß empfangen! Und Sie, +Frau Wehe« -- die noch immer hübsche, kugelrunde Wittib stand mit +nachmittagschlafgeröteten Augen in der Tür -- »hinaus mit dem Abfall da! +Und ein' Tee kochen S' uns, und Kuchen will ich seh'n und Schlagsahn' +und was sich sonst gehört! Da haben S' ein Geld!« Und wie ein Irrlicht +fegte das dunkellockige Mädchen in der Stube umher, hob den Bettbezug +aus gewebter, leidlich defekter Spitze, das Ueberbett in die Höhe, +stopfte die herumliegenden intimen Kleidungsstücke drunter und deckte +mit einem Spitzbubenlächeln wieder zu, griff in die Nachttischschublade +und warf ein paar Markstücke auf den Tisch, daß zwei, drei in die Stube +kollerten und Hans Thumser sich bücken mußte, um sie wieder aufzulesen; +griff dazwischen in die Zigarettenschachtel, schob ihren beiden +Besuchern, sich selbst und schließlich auch der verlegen grinsenden +Wittib eine Zigarette zwischen die Lippen: + +»Da, Herr Dummser -- haben S' Feuer?« + +Und da flimmerten auch die feuchten Lippen, die dunklen, flackernden +Augen dicht vor Hansens Gesicht, loderten ihn an, während sie mit ihm +zugleich am nämlichen Zündholz ihre Zigarette anbrannte ... + +Inzwischen saß Jucunda stumm und königlich auf dem Sofa, ohne eine Hand +zu rühren, und ließ ihre runden blauen Augen von einem zum andern +leuchten. Und auch Hans Thumsers Blicke gingen hin und her, von dem +Schalk zu der jungen Königin, von der jungen Königin zu dem rastlosen +Schelm ... + +Und endlich gab's Ruhe und so etwas wie Ordnung, und mit einem tiefen +Aufseufzen warf Asta Thöny sich in das Sofa, kuschelte sich an Jucundas +kräftige Schulter ... und nun sahen zwei Augenpaare, das blaue, das +schwarze, den braunäugigen Studenten an ... + +»So, Herr Dummser, nu erzählen S' uns was!« + +Hans Thumser war des Umgangs mit weiblichen Wesen wenig gewohnt. Seine +Schwestern waren um vier und fünf Jahre jünger als er, die zählten, samt +ihrer Freundinnenschar, noch nicht mit, waren Gören, oder wie man daheim +sagte, Blagen ... unfähig, die erhabene Größe eines Studenten, eines +Korpsstudenten, eines Fuchsmajors richtig einzuschätzen. Und das Korps? +Es lebte außerhalb der Leipziger Gesellschaft, war völlig durch Mensur +und Kneipe absorbiert und kam höchstens auf dunklen und verschwiegenen +Pfaden einmal mit verachteten Parias der Weiblichkeit in Berührung ... + +Aber ... er war ein werdender Poet ... und der Zauber der Situation +löste ihm die Zunge, gab ihm Worte, wie sie gesellschaftliche Routine +nicht kennt ... + +»Erzählen soll ich Ihnen ... meine Damen? Ach ... ich hab' nichts +erlebt, was des Erzählens wert wär' in solch einem Augenblick ... +aber ... das darf ich ja wohl sagen, nicht wahr? daß ich sehr glücklich +bin ... Ich denke an gestern abend ... ich habe Sie beide gesehen und +bewundert und beneidet um das Glück Ihres Berufs ... den Menschen das +Schöne zu offenbaren ... und nun sitz' ich hier ... Ihnen gegenüber ... +seien Sie mir nicht böse, wenn das mir zu Kopf steigt und ... mich dumm +und stumm macht ... Sie nennen mich noch immer Dummser, gnädiges +Fräulein ... und das stimmt, ich bin auch ein dummer Bub, das fühl' ich, +jetzt, wo ich mit Ihnen zusammensitzen darf ... Nein, ich kann Ihnen +nichts erzählen ... ersparen Sie es mir, mich mit Konversationmachen +abzuquälen ... erlauben Sie mir nur ... da zu sein ... und Sie +anzuschauen ... und zu fühlen, ja bis ins Tiefste zu fühlen, wie schön +das ist ... was für ein Glück das ist!« + +»Aber warum machen Sie sich selber so schlecht?« sagte Jucunda und sah +ihn groß an -- »Sie sprechen gar nicht übel ... im Gegenteil -- ich +meine, ich hätte noch niemals einen Menschen so sprechen gehört ...« + +»Du --?« sagte Asta, »daß Du mir dem Jungen nicht zuviel Komplimente +machst! Das ist =meiner=, verstehst Du mich? Aber Du mußt immer alles +für Dich haben ... die Blumen -- die Kränze -- die ausgespannten Pferde +-- die Verehrer, alles muß sie allein haben! Und so was redet von +Freundschaft und Kollegialität! Schämen sollten S' Ihnen, mein +Fräulein!« + +Hans wurde glühendrot. »Ach, meine Damen, machen Sie sich nur immer über +mich lustig ... ich weiß ganz genau, wie wenig ich Ihnen sein kann. Nur +das eine muß ich Ihnen sagen: Sie ahnen gar nicht, was dieser Tag für +mich bedeutet ... Sie können sich wohl nicht vorstellen, wie barbarisch +und rauh dies Leben ist, das wir jungen Dächse so führen auf deutschen +Hochschulen ... Und seit gestern ist's auf einmal bunt und licht und ... +groß und ... schön um mich her ... seit ich Sie beide kenne ...« + +»Gott, wie süß er ist -- gelt, Jucunda?« sagte Asta und streichelte dem +Studenten mit einer raschen, zärtlichen Bewegung ganz leise und flüchtig +die glühende, narbenzerrissene Wange. »Nur mehr so Schönes, nur mehr! So +was kann man gar nicht genug hören!« + +»Ach -- Sie scherzen wieder, Gnädigste --« sagte Hans. »Sie sind weit +schönere Worte gewohnt ... Sie verkehren am Hof -- inmitten von Geist +und Grazie ... die Dichter, deren Werke Sie verkörpern, huldigen Ihnen +...« + +»Der hat Ahnung, gelt?« lachte Asta halb verschmitzt halb schmerzlich zu +ihrer Kollegin hinauf, in deren Arm sie sich drückte. + +»Nein, Herr Thumser,« sprach Jucunda langsam, »Sie haben doch wohl eine +etwas -- na sagen wir mal zu ideale Vorstellung von unserm Leben ... +Glauben Sie mir nur, es gibt nicht viel Männer, die so zu reden wissen, +daß es einem wohltut ...« + +»Gewiß, ich glaub's -- so verwöhnt, so anspruchsvoll wie Sie sein müssen +... denn so jung wie Sie sind, Sie sind berühmt, alles liegt Ihnen zu +Füßen, Sie kommen wie das Schicksal ... wehe dem, der Ihnen verfällt +...« + +Ein Schatten war bei diesen Worten über die enthusiastischen Züge +geflogen, die flammenden Augen hatten sich verdunkelt. + +Jucundas Stirn hatte sich langsam zusammengezogen. + +»Wie das Schicksal?« fragte sie, »wie meinen Sie das?« + +»O ... ich dachte an ... eine gewisse Geschichte ... eine sonderbare, +aufregende Geschichte ... von der Sie doch wohl auch wissen müssen ...« + +»Sie ... meinen ... die Sache ... mit Herrn Pilgram? Von der wissen Sie +also auch schon?« + +»Ich weiß ... selbstverständlich weiß ich ... wir sind ja doch +Korpsbrüder ...« + +»Eine ... Sache?« fragte Asta ganz erstaunt. »Was hat's gegeben? Hast +mir ja doch gar nichts davon erzählt, daß es was gegeben hat? Heraus mit +der Geschichte!« + +»Ich möchte ... eigentlich überhaupt nicht davon sprechen ...« meinte +Jucunda. + +»Und ich ... ich halte mich ebenfalls nicht für berechtigt ...« setzte +Hans befangen hinzu. + +»Schöne Sachen sind mir das!« zürnte Asta. »Ich bring' Euch zwei +zusammen, und schon habt Ihr Geheimnisse miteinander, und ich werd' +ausgesperrt und hab 's Zuschau'n! Na wartet -- jetzt kommt der Tee mit +dem Kuchen, hernach setz' ich Euch vor die Tür und ess' alles alleinig!« + +Jucunda hatte einen Moment sinnend den Rauchwölkchen ihrer Zigarette +nachgestarrt. Es war dämmrig im Zimmer geworden. Frau Wehe kam mit dem +Tee, dem Gebäck, zündete die Petroleum-Hängelampe über dem Tische an, +und hell gleißten nun die drei jungen Gesichter auf dem Hintergrunde der +abgenutzten Stube, die rasch in völliges Dunkel versank. + +Als die Wirtin gegangen, sagte Jucunda langsam: »Ich verstehe, daß Sie +sich über die ... Angelegenheit ... die bewußte ... nicht gern +aussprechen. Aber Sie werden begreifen: ich bin ziemlich gespannt. Sie +wissen schon drum ... also die Sache kommt doch, scheint's, wirklich an +die große Glocke. Ich bin ja schließlich doch ein bißchen beteiligt ... +Wollen Sie mir nicht sagen, was inzwischen eigentlich passiert ist?« + +»Hm ... wenn unsre ... gütige Gastgeberin gestattet, daß wir uns in +ihrer Gegenwart über ... eine Sache unterhalten, die sie nicht ... in +die wir sie nicht einweihen dürfen?« »Na macht schon, macht schon ...« +maulte Asta, »Ihr brennt ja darauf, Eure Geheimnisse auszutauschen ... +ich ess' Kuchen.« Und wütend bissen ihre blinkenden Zähne in einen +braunlächelnden Mohrenkopf. + +»Also kurz ... Er ... ist aus dem Korps ausgetreten ... und hat die ... +die bewußten beiden Herren auf Säbel ohne ohne gefordert ... Genügt +Ihnen diese Andeutung?« fragte Hans. + +»Hm ... und mehr ... wissen Sie also noch nicht?« + +»Noch nicht.« + +»Immerhin ... also der Skandal ist fertig. Schöne Bescherung ...« + +»Hol Euch der Satan, Kinder, Ihr macht eins aber wirklich neugierig wie +eine Ziege!« sagte Asta und ließ die kuchenstopfenden Finger sinken. +»Säbelforderung -- Skandal ... und dabei habt Ihr Euch vor einer halben +Stunde erst kennen gelernt vor meinen sehenden Augen ...« + +»Gott, warum soll man's ihr schließlich nicht erzählen?« meinte Jucunda. +»Morgen weiß es ganz Leipzig ...« + +»Hast einmal wieder was, womit Du Dich kannst int'ressant machen, +Jucunderl? Gott, das Mädel hat einen Dusel! Daß es um Dich geht, soviel +hab' ich schon heraus ... Also es werden zwei sich die Köpf' +entzweischlagen Deinetwegen ... hernach schauen die Leut' unsereins +überhaupt nicht mehr an ... und so ist's in allem! Schon wie's heißt -- +Jucunda! Wie kommt bloß ein Vater auf die Idee, so ein Wurm 'Jucunda' zu +taufen? Als ob er damals schon geahnt hätt', daß das Kind einmal wird +unters Theater gehen! Sag' doch, Mädel -- wo kommst an so einen Namen, +so ein' ausgefall'nen?« + +»Ach -- das ist einfach genug ... da war eine alte Tante, die eine +Beamtenpension zu verzehren hatte und so schöne uralte Möbel und Bilder +gehabt hat aus der Goethezeit ... um die sind alle Verwandte herum +gewesen erbschleichen ... aber meine Eltern haben den Vogel abgeschossen +und mich nach ihr getauft ... das hat sie so erschüttert, daß sie mir +den ganzen Krempel vermacht hat ...« + +»Ach -- und nun hast Du das ganze schöne Zeugs?« + +»I Gott bewahre -- verkauft hat's mein Vater und für mich in einem +Sparkassenbuch angelegt ... und davon sind mein Studium und meine +modernen Kostüme bezahlt worden -- paar Groschen werden wohl auch noch +da sein, denk' ich ...« + +»Ja schaust, was Du für ein Glückskind gewesen bist ...« Astas Augen +irrten in die Ferne, ein ganz fremder Ausdruck von Bitterkeit und Ekel +umschattete das pfirsichweiche Oval. -- »So eine Tante wenn ich gehabt +hätt', meinetwegen hätten s' mich Eulalia mögen taufen! Ich hab' das +alles allein müssen schaffen, so gut oder -- so hundsfött'sch wie's hat +gehen mögen ... Dabei wird man ein armes, gerissenes, mit allen Hunden +gehetztes Wildkatzerl allenfalls ... und wenn man ein bisserl Talent +hat, hernach wurschtelt sich eins am End' auch noch rechtzeitig in die +Höh' ... aber eine Priesterin, vor der die Menschen sich platt auf den +Bauch schmeißen, eine Jungfrau von Orleans wird man nicht auf die Art!« + +Mit herablassender Zärtlichkeit streichelte Jucunda die zierliche +Kollegin. »Ich sollte meinen, Asta, Du könntest noch ganz zufrieden sein +mit Dir -- nicht wahr, Herr ... Gott, dieser lächerliche Name -- schon +wieder hab' ich ihn verschwitzt --« + +»Herr Dummerle!« half Asta ein, und um die schmerzlich verzogenen Lippen +huschte schon wieder der Schalk. + +Hans Thumsers Blicke wanderten rastlos von einer zur andern. Welches +Glück, daß er den goldenen Apfel des Paris nicht zu vergeben hatte! + +Und Valentin Pilgram? Und die Affäre? Schon längst wieder versunken ... +kaum die Oberfläche des Gesprächs hatte sie gekräuselt, die Geschichte +von dem wackren Gesellen, der um dieses achtzehnjährigen Weibes willen +sein Blut, sein Schicksal aufs Spiel gesetzt hatte -- als Dank für ein +paar freundliche Worte, die sie ihm geschenkt ... + +Dieser Gedanke tauchte dann und wann flüchtig auf in Hans Thumsers +Denken -- aber die Gegenwart, die nie erlebte, der beiden jungen, +blutjungen und doch schon aller Machtmittel ihres Geschlechtes kundigen +Geschöpfe verdrängte das Bild des Korpsbruders, das heut morgen in so +lichtem Heroenglanze gestrahlt hatte. + +»Sagen Sie, Herr Thumser, was studieren Sie eigentlich?« fragte Jucunda. + +»Gott, was studier' ich? Die Geheimnisse des S. C. Paukkomments -- die +Kunst, eine Tiefquart unter der steilsten Auslage hindurch in die +Nasenspitze des Gegners zu dirigieren ...« + +»Das glaub' ich nicht ... so sehen Sie nicht aus, als ob das alles wäre, +was Sie treiben ...« + +»Na ... meine kümmerlichen Versuche, mich mit der Juristerei +anzufreunden, werden Sie mir doch wohl kaum am Gesicht ansehen können?« + +»Das nun schon gar nicht! Nein, es steckt noch etwas andres hinter Ihnen +--« + +»Soll ich's verraten?« fiel Asta ein -- »ich weiß es nämlich ...« + +Und mit ihrem Spitzbubenlächeln, das Köpfchen tief auf die weiche +Schulterlinie geneigt, fing sie an zu rezitieren: + + »Ich bin ein junger Korpsstudent, + Die Schuhe Lack, der Rock patent, + Korrekt und schick an mir ist alles -- + Im Portemonnaie nur --« + +»Halt! Gnade!« rief Hans und legte seine Hand beschwörend auf Astas +runden Unterarm -- von dessen Wärme süße Schauer in seine Fingerspitzen, +seine Arme, sein Blut hinüberströmten. + +»Ach -- sieh da -- Verse -- und von Ihnen?« fragte Jucunda. »Also ein +junger Schiller -- oder Goethe? Sieh da!« + +»Ach Gott -- diese elenden Knittelreime -- wenn man nichts Besseres +könnte ...« + +»Oh -- das ist aber nicht hübsch von Ihnen, daß Sie sich meinetwegen so +wenig angestrengt haben --« sagte Asta. »Na, was können Sie denn +Besseres? Heraus damit!« + +»Jawohl, Herr Poet, eine Probe Ihrer Kunst!« + +Hans Thumser ließ sich nicht lange bitten. Er sann einen Augenblick +nach. Dann richtete er sich unwillkürlich etwas auf, ein feierlicher, +strahlender Ausdruck kam in seine Züge; und in tiefinnerer Bewegung +sprach er: + + »Abgründe klaffen rechts und links + Von meinem schwindelschmalen Pfade, + Und hinter mir schleicht stumm die Sphinx -- + Doch über mir geigt Engelsgnade. + Ich aber will nachtwandlerkühn + Den Gratgang bis ans Ende wagen, + Und hell durchsonnt von Morgenglühn + Der Harfe gold'ne Saiten schlagen!« + +»Ah ... bravo ... das ist wirklich ein Gedicht ...« sagte Jucunda. »Sieh +da -- wer hätte das hinter diesem wandelnden Modejournal gesucht ...« + +»Oh ... seh' ich aus wie ein wandelndes Modejournal?« + +»Na, so seht Ihr Korpsstudenten doch alle aus ...« + +»Gott ja -- es braucht ja nicht jeder Poet auszusehen wie die Jünglinge +aus dem Café Größenwahn -- von denen mir ein Berliner Korpsbruder +neulich erzählt hat.« + +»Nein, da haben Sie recht,« sagte Jucunda. »Die Sorte kenn' ich auch -- +aus der Zeit unseres Gastspiels am Viktoriatheater ... ich denke mir, +der junge Goethe ist hier in Leipzig auch so etwa wie ein wandelndes +Modejournal herumgelaufen, während seine Kollegen lange fettige Haare +und schmutzige Hemdkragen trugen ... Sieh da -- also so schaut ein +junger Dichter aus ... alte kenn' ich ja schon diesen oder jenen, aber +das waren alles sehr verschlissene, sehr diplomatische, sehr nüchterne +und ... ernüchternde Herren ... Sie sind nicht nüchtern, Herr Thumser, +Sie laufen wie in einem ewigen Rausch herum -- wenn Sie auch noch so +schneiderelegant aufgemacht sind ...« + +»Ja, das ist wahr!« sagte Hans lebhaft. »Ewiger Rausch! Sie haben recht! +Ich bin immer wie betrunken von ... von all dem Herrlichen um mich her +-- von all dem Neuen und Gewaltigen, das jede Stunde bringt! Ist nicht +die Welt ein einziges, ungeheures Wunder? Und so ein armes Menschenherz +viel zu klein und eng, um das alles zu fassen? Und wenn man's nun so +erleben darf, die Schönheit, die Kunst, die Poesie leibhaftig vor sich +zu sehen ... wie in Ihnen, Jucunda Buchner ...« + +Die braunen Augen hingen an den blauen, die blauen an den braunen -- mit +hochaufgerichteten Leibern saßen die jungen Menschen einander gegenüber, +und Ströme des Lebens rauschten von einem zum andern. + +Jucunda fühlte sich wachsen in dieser naiven Bewunderung eines Menschen, +in dem ihr weiblicher Instinkt die gärenden, schäumenden Kräfte witterte +... und Hans Thumsers gläubiges Märchenherz erblickte in dem weißen, vom +Schöpfer in einer Künstlerlaune so edel ausgeformten Gesicht die +fleischgewordene Schönheit, herabgestiegen vom Himmel, um ihm, dem +Werdenden, die Fülle zu offenbaren ... + +Auf einmal fuhren beide herum: ein Ton, ein erstickter, war in ihre +Versunkenheit gedrungen -- ein Ton, den Hans schon einmal vernommen zu +haben meinte: der Ton eines bittren, unbezwinglichen Weinens ... + +Asta Thöny hatte den Kopf in die Finger gedrückt, die Hände auf die Knie +gepreßt ... ganz in sich zusammengekauert saß sie da, die zierlichen +Schultern zuckten, aus dem Nest der schwarzen Flechten hatten sich ein +paar glänzende Locken gelöst und rollten über den weißen Nacken ... + +»Aber Kind -- was ist Dir nur?« fragte Jucunda und legte den Arm um die +Hüften der Kollegin. + +Aber die schüttelte die Umschlingung ab, sprang auf, eilte zum Fenster +hinüber und lehnte den hochgehobenen Arm, die tiefgesenkte Stirn an die +Scheiben ... + +»Aber ... was ist Ihnen denn nur, gnädiges Fräulein?« stammelte Hans +Thumser. + +»Ach, geht mir doch -- laßt mich doch in Ruh, Ihr zwei! Poussiert doch +miteinander, so viel Ihr Lust habt -- aber nicht in meiner Gegenwart!« + +»Aber Kind!« sagte Jucunda, stand auf, sah Hans an mit einem Blick, der +für die Kollegin um wohlwollende Nachsicht zu bitten schien, wie für ein +törichtes, verzogenes Kind, und trat zu ihr ans Fenster. + +»Ach, gehen Sie doch, Buchner -- lassen Sie mich! Es ist ja immer +dieselbe Geschichte! Alles müssen Sie für sich haben, alles belegen Sie +mit Beschlag -- alles muß zu Ihren Füßen liegen, keiner andern gönnen +Sie was! Den Jungen da, den hab' ich nun entdeckt -- und kaum hab' ich +ihn eingeladen, schon sind Sie da, als wenn Sie's gewittert hätten -- +und gleich geht's los, das alte Spiel -- nur Jucunda Buchner redet, man +sieht nur sie, man hört nur sie, man vergafft sich nur in sie, nichts +existiert auf Gottes weiter Welt, nichts und gar nichts, als einzig und +immer wieder Jucunda Buchner!« + +»Herr Thumser, ich bitte Sie um Ihr unparteiisches Zeugnis!« sagte +Jucunda ruhig, ganz beherrschte Weltdame -- »ist das nun gerecht, wie +diese Dame mich behandelt? Habe ich auch nur den geringsten Versuch +gemacht, Sie -- wie hat sie gesagt? -- mit Beschlag zu belegen? Haben +wir nicht vollkommen harmlos geplaudert alle drei? Und auf einmal aus +heitrem Himmel diese Explosion? Habe ich das verdient, Herr Thumser? +Bitte, sprechen Sie.« + +In tödlichster Verlegenheit hatte Hans Thumser diesen Ausbruch, dieses +Zwiegespräch der Kolleginnen über sich ergehen lassen. Er suchte +vergebens nach der rechten Antwort auf Jucundas Frage. + +»Gnädiges Fräulein ...« stammelte er zuletzt, »verzeihen Sie, wenn ich +auf Ihre Frage nicht antworte. Wir sind beide Fräulein Thönys Gäste ... +Ich bin untröstlich, daß ich Ihr Mißfallen erregt habe, Fräulein Thöny +... ich darf Ihnen zwar versichern, daß es keineswegs meine Absicht war, +Sie irgendwie zu ... wie soll ich sagen? ... zu vernachlässigen ... Wenn +ich dennoch ... es an der schuldigen Rücksicht habe fehlen lassen -- so +bitte ich tausendmal um Entschuldigung ...« + +Asta Thöny antwortete nicht. Sie stand noch immer am Fenster ... der +Schein der Straßenlaternen von drunten umrandete ihre dunkle Silhouette +mit einem silbernen Streif -- den weißen Batist, den zarten Flaum des +Armes, die Flimmerlöckchen des schwarzen Haars. Wie das Kabinettstück +eines der holländischen Kleinmeister sah das aus. + +Jucunda und Hans blickten einander an -- der Jüngling in ratloser +Befangenheit, das Mädchen gelangweilt, mit verdrossenem Achselzucken ... + +In diesem Augenblick erklang draußen eine heftige, erregte Stimme, die +Jucunda auffahren machte: + +»Na, Gott sei Dank und Lob -- endlich also! G'sucht hab' ich das Mädchen +durch die halbe Stadt ... nee so was, nee so was!« + +Die Tür sprang auf, und eine massive Frauengestalt füllte den Rahmen -- +Frau Wehe verschwand fast ganz hinter dem roten, schwitzenden Gesicht, +das von den Samtschleifen, den Seidenbändern eines schwarzen Kapothutes +eingesäumt war -- hinter den mächtigen Schultern unterm perlbesetzten +Samtcape ... + +»Jucunda -- endlich ... Wenn Du wüßtest, was ich hab' müssen aussteh'n +diesen Nachmittag Dir zuliebe ... Daß mich der Schlag nicht hat +gerührt, das is mir ä blaues Wunder ...« + +»Mutter -- Du?« sagte Jucunda langsam und ungnädig. Sie empfand dunkel, +daß diese Erscheinung in schroffem Widerspruch stand zu dem mystischen +Glanz, der, sie wußte es, von ihr ausging, wenn sie wollte, und wenn der +Glückliche, der in diesem Glanze stand, die nötige Naivität besaß. + +»Was ist denn passiert? Darf ich zunächst bekannt machen? Meine Kollegin +Fräulein Asta Thöny -- Herr Studiosus -- na wie war's doch noch? +Dummser, nicht wahr?« + +»Thumser,« sagte Hans. + +»-- meine Mutter, Frau Rat Buchner. Also was steht Dir zu Diensten, +Mama?« + +»Nu nee -- ich weeß nich recht, ich mecht wohl mal e Wertchen mir Dir +alleene sprech'n, Jucunda ... Entschuldigen Se nur, meine Herrschaft'n +-- aber kannste nich e bißchen mit mir uff de Straße 'nunter kommen, +Kind?« + +»O bitte, gnädige Frau, wenn Sie mit Ihrem Fräulein Tochter etwas unter +vier Augen zu besprechen haben« -- fiel Hans Thumser ein -- »meine Stube +ist nebenan, die steht Ihnen mit Vergnügen zur Verfügung -- darf ich +Mutter Ach -- Frau Wehe, wollt' ich sagen, darf ich ihr Auftrag geben, +daß sie Licht macht?« + +Jucunda dankte mit einem Lächeln, kühl und hoheitsvoll, wie nie zuvor, +als gälte es, den etwas befremdlichen Eindruck, den das Erscheinen ihrer +Mutter gemacht, durch doppelt königliches Wesen wettzumachen. Und Hans +und Asta blieben allein zurück. + +Stumm war's im Zimmer, während jenseits der Tür, jenseits der beiden +Kleiderschränke, die sie hüben und drüben verbarrikadierten, ein +erregtes Flüstern anhob. In weißen Schwaden lag der Zigarettenqualm über +dem Tisch, wob um die Hängelampe, ward von Wärmestrudeln in ihren Schirm +hineingesogen und stieg um ihren Zylinder steil wie aus einem Schlot +empor. + +Ein weiches, brüderliches Gefühl zog Hans zu dem Mädchen hin, das noch +immer schweigend am Fenster stand, vom Laternenlicht umsilbert, von +stoßweis zuckendem Schluchzen den schlanken Leib geschüttelt. + +»Fräulein Asta!« sagte er und trat ein paar Schritte auf sie zu; das +Herz schlug ihm bis in den Hals. Nun war es da: er war zum erstenmal in +seinem Leben mit einem Mädchen allein. + +Sie antwortete nicht, nur heftiger flossen ihre Tränen beim Klang der +gedämpften Stimme, die so erregt, so gütig ihren Namen sprach. + +»Fräulein Asta,« sagte Hans noch einmal, »so wahr ich lebe, ich habe +nicht daran gedacht, daß mein Benehmen Sie kränken könnte. Und Sie +müssen mir's glauben, wenn ich Ihnen sage: es war reiner Zufall, daß +ich ... daß ich mich mehrmals hintereinander mit meinem Gespräch +nur an Fräulein Buchner gewendet habe -- ich weiß wohl, daß ich +gesellschaftlich noch nicht sehr gewandt bin ... aber ... Fräulein +Buchner ... Ihnen ... vorziehen ... daran hab' ich ja mit keinem +Sterbensgedanken gedacht ... ich wäre doch auch ein Narr ... Sie ... +Sie sind ja so ein ... so ein wundervolles Geschöpf ... Sie ahnen ja gar +nicht, wie ich ... hingerissen gewesen bin ... gestern, wie ich Sie auf +der Bühne sah ...« + +Er lauschte, ob eine Antwort käme ... aber regungslos stand das Mädchen, +Arm und Stirn an die Scheiben gepreßt, die von der Wärme ihrer Glieder +mit einem feinen Nebel beschlugen. Und wie Hans sich zage, Schritt um +Schritt, der Fensternische näher schob, fiel sein Blick auf die +Sophienstraße: drüben, vorm Eingang des Carolatheaters, drängte sich +schon wieder, noch weit über eine Stunde vor Beginn der Vorstellung, ein +dichter Menschenhauf, des Augenblicks wartend, da die Kasse sich zur +ersten Wiederholung der »Jungfrau« öffnen würde. Noch nicht +vierundzwanzig Stunden waren vergangen, seit er Asta Thöny zum ersten +Male gesehen ... + +Aber ihre Tränen waren versiegt: sie harrte, ohne sich zu rühren ... es +war, als lausche sie ... als lechze sie, mehr zu hören ... mehr ... + +Hans Thumser fühlte, wie alle seine Glieder nur ein einziges banges, +verlangendes Beben wurden ... auch seine Stimme bebte heftig, als er +weitersprach, ohne zu wissen, was er sagte ... + +»Asta ... ich habe noch nie ... noch nie ein Mädchen berührt ... ich bin +ein ganz dummer, dummer Bub ... Sie ... Sie müssen Geduld mit mir haben +... Wenn Sie ahnen könnten, wie mir zumut ist ... wie ich mich sehne ... +ach, wie namenlos ich mich sehne ... ach, und ich hab' mich ja schon so +gesehnt ... seit ich Sie gesehen hab' da drüben ... in Ihrer Schönheit +... und heut nacht, o Mädchen, wie haben meine Gedanken, meine Träume +sich an Dich gedrängt ... hast Du das denn nicht gefühlt? nicht geahnt? +Seien Sie doch nicht so stumm, sagen Sie mir doch, daß Sie mir verziehen +haben ... mir ist ja so bang, so namenlos bang ist mir nach Dir ...« + +Da wandte das junge Weib sich um ... Ihre duftenden Arme warf sie dem +Knaben um den Nacken und überflutete ihm die Lippen, die Augen, den Hals +mit dem schäumenden Strom ihrer Küsse. + + +»Also, Jucunda, Du weeßt nu, was die Glocke geschlagen hat ...« beendete +drüben in Hans Thumsers Studentenbudchen Mutter Doris ihren Bericht über +die schwerste Stunde ihres Lebens -- wie sie den Nachmittagsbesuch des +Herrn vom Nassau-Dillingenschen Hofe genannt hatte. Sie thronte auf dem +Kanapee unter den gekreuzten durchbohrten Mützen, den staubigen, +verblichenen Bändern in ihrer ganzen schnaubenden, dampfenden +Leiblichkeit ... Die Korsettstangen knackten unter den keuchenden +Atemstößen der eingepreßten Lungen, die fleischige Hand wedelte ohn' +Unterlaß mit dem feuchten Taschentuch den beperlten Hängebacken +Erfrischung zu. Jucunda saß stumm in einem der geblümten Fauteuils, mit +zusammengepreßten Lippen, das stolze Haupt ein wenig zurückgeneigt, die +blauen Augen starr zur Decke gerichtet. Sie schwieg auch, als die Mutter +ihren Bericht geendet und erwartungsvoll an den Zügen der Tochter hing. + +»Nu rede Du aber gefälligst ooch en Ton!« polterte Mutter Doris +schließlich heraus. »Ich mein', ich hätte mich nu genügend abgerackert +für Dich!« + +»Na, wenn Du meine Meinung denn wirklich hören willst, Mutter: Du +scheinst mir eine märchenhafte Dummheit begangen zu haben.« + +»I herrjemersch nee ... nu wird mer'sch aber doch zu tolle! Und was wär' +das fier ä Dummheit, wenn's gefällig wär?« + +»Wie Du den Brief hast herausgeben können, Mutter, das versteh ich +einfach nicht ... das Geld, mag sein, obgleich mir's schon lieber wäre, +ich hätte einen Postquittungsschein in Händen ... aber den Brief -- +unglaublich einfach!« + +Sie sprang heftig auf, stieß den Fauteuil mit einem Ruck zur Seite, daß +er in seinen Grundfesten krachte, und rannte zum Fenster -- starrte +hinaus, wie drüben vorher die zierliche Kollegin ... + +Ach ... da drunten drängten sich die Massen -- eben war der Kassenflur +geöffnet worden -- stießen sich, balgten, prügelten sich um den Vorrang +... wem galt das alles als ihr? Die alle da unten, hatten die einen +anderen Gedanken als -- Jucunda Buchner? + +Und nach der Tortur dieser letzten Viertelstunde, nach all dem Ekel, der +Zukunftsbangigkeit, die in ihr aufgequollen war beim Bericht der Mutter +-- kam da auf einmal eine wunderbare Gelassenheit über das Mädchen. Pah +-- was konnte ihr geschehen?! + +Inzwischen hatte Mutter Doris sich von ihrem ersten Schreck erholt. + +»Nee, weeßte, Jucunda, ich versteh Dich nich, wahrhaft'gen Gott, ich +versteh Dich nich. Erscht stellst Du Dich an wer weeß wie sähre, daß De +so än Brief kriegst, un ... un das andre ... un nu kommt der, der Dir's +geschickt hat, und holt sich's wieder ab -- un nu is ooch wieder nicht +recht -- -- un ich hab' Dir doch bloß die scheißliche Geschichte woll'n +vom Halse halten ... nee, nee, so was! Das hätt' ich wissen sollen, dann +hätt' ich dem dicknäsigen Herrn ganz einfach gesagt: kommen Se +gefälligst wieder, wenn Fräulein Jucunda Buchner derheeme is -- mich +geht's nischt an!« + +»Hättest Du das man getan, Mutter ... Ich hätte dem Herrn schon +beigebracht, wie man mit Jucunda Buchner spricht -- das kannst mir +glauben! Ach -- aber es ist ja alles egal ...« + +Sie reckte sich ... ein harter Glanz kam in ihre Augen ... Noch eine +knappe Stunde, und die Rampenlichter flammten auf, und sie tauchte +hinein in ihren blendenden Schimmer -- und von jenseits, aus dem dunkel +gähnenden Zuschauerraum, dampfte die Vergötterung der anderthalb Tausend +ihr entgegen ... + +»Was wirscht De denn nu anfangen?« fragte Mutter Doris ganz halblaut. +»Wo der Herr Major doch verlangt hat, Du sollst machen, daß der ... der +Herr Korpsstudent seine ... seine Aufforderung zum Duell ... daß er die +zurück tut nähm'!« + +Jucunda versank in einen Wirbel der Gedanken. Das Bild des jungen +Gesellen stieg in ihr auf, der so viel für sie getan ... aus einem +ritterlichen Empfinden heraus, das so einfach, so natürlich war, daß +Jucunda es wohl verstehen mußte, würdigen konnte in seiner schlichten, +starken Mannhaftigkeit ... Und nun sollte sie selber von ihm verlangen, +daß er den kühnen, verhängnisvollen Schritt, den er zu ihrem Schutze +getan -- rückwärts tun sollte ... Sie war in einer Luft groß geworden, +in die immerfort, aus den Stübchen der Mieter ihrer Eltern in die gute +Stube da hinten mit den grünen Plüschmöbeln, in die Träume ihres eigenen +Mädchenkämmerleins hinein -- die romantischen Vorstellungen und Begriffe +von korpsstudentischem Schneid, von Burschenehre hineingeweht waren ... + +O sie wußte ganz genau, was es für den weiland Ersten Chargierten der +Franconia bedeutete, aus dem Korps auszutreten, um einen Prinzen, der an +offiziellen Kneipabenden die grüne Mütze anlegte, zum Säbelduell fordern +zu können ... und was es nun erst bedeuten mußte, wenn sie ihm +zumutete, seine Forderung zurückzunehmen, ohne daß eine Sühne erfolgt +war ... ohne selbst eine formelle Bitte um Entschuldigung ... denn als +eine solche konnte doch der Besuch des Majors, seine unverblümten +Drohungen, die Erlistung des Briefes und des Geldes aus der Hand der +hilf- und ahnungslosen Mutter unmöglich aufgefaßt werden ... + +Immerhin -- hier war der Ansatzpunkt. Die Sache mußte dem Studenten so +dargestellt werden, als habe der Major den Auftrag gehabt, eine Bitte um +Verzeihung im eigenen Namen und im Namen seines prinzlichen Zöglings +zu überbringen ... als ob er diese Bitte auch tatsächlich überbracht +habe ... und wenn sie, die Beleidigte, sich mit dieser Genugtuung +einverstanden erklärte, dann war ja doch wohl für ihren Beschützer kein +vernünftiger Grund mehr, seine Forderung aufrecht zu erhalten ... und +alles in schönster Ordnung ... + +Alles in Ordnung? Nein ... Jucunda war ein viel zu klarer Kopf, als daß +sie die Folgen des Geschehenen nicht zu Ende gedacht hätte ... + +Also er zieht seine Forderung zurück, und dann? Nun dann ist er, auf gut +deutsch gesagt, der unrettbar Blamierte ... Er ist aus dem Korps +ausgetreten und hat ein Mitglied des Korps gefordert -- die Forderung +ist zwar nicht zum Austrag gekommen, aber die unsühnbare Feindschaft +zwischen den beiden jungen Männern besteht -- sie können nicht mehr auf +der Kneipe zusammensitzen, nicht mehr die gleichen Farben tragen ... Und +da das Korps seiner ganzen Tradition nach, um seiner Beziehungen zu Hof, +Behörden, Gesellschaft willen den Prinzen nicht fallen lassen kann, so +wird eben Pilgram dran glauben müssen ... Er hat sein Band verloren, +ist ausgeschieden aus dem Kreise der Freunde seiner Jugend ... All das +tapfere Ringen, Mensuren, Chargen, verbummelte Semester umsonst ... + +Das alles wußte Jucunda und wurde sich im angestrengten Nachsinnen +weniger Minuten über all diese Folgen klar, mitleidslos gegen sich und +ihn ... + +Und wieder meinte sie sein hartes, herrisches Gesicht zu sehen, wie es +weich, selbstlos, opferfreudig aufglühte um ihrer Ehre willen ... + +»Sie haben weinen müssen -- -- -- das sollen sie mir bezahlen, die zwei +...« + +Wie gut, wie tapfer, wie ... heldenhaft seine Worte, seine Tat ... und +nun?! + +Hieß das nicht ... ihn schmählich verleugnen ... wenn sie nun +zurückwich, sie ... und dadurch seiner Tat den ritterlichen Glanz +raubte ... sie zu einer Narrensposse, zu einem Dummenjungenstreich +erniedrigte? + +Aber ... ihre eigene Zukunft? Ihre Karriere? War das nicht alles, alles +das, was der Major ihrer Mutter angedeutet hatte ... waren das nicht +alles Wahrheiten?! + +Einen Augenblick lang war sie geneigt, das alles in den Wind zu schlagen +... Pah ... Engagement in Frage gestellt ... Bericht gegen sie beim Hof +in Meiningen ... War sie nicht Jucunda Buchner? Brauchte sie die +Hoftheater? Oder brauchten die Hoftheater -- sie?! + +Ach nein ... So stand es doch nicht ... Man war nicht immer achtzehn +Jahre, nicht immer eine neue Entdeckung, eine Sensation, eine Mode ... +Jucunda wußte schon viel, viel zu viel von den brutalen Gesetzen der +Macht, der Laune, des Glücks, des Wechsels, welche die schillernde Welt +regierten, in der es ihr bislang so herrlich, so unverdient und +unfaßbar glänzend gegangen ... sie dachte an ihre alte, verknitterte +Garderobiere, die auch einmal eine vergötterte junge Liebhaberin gewesen +war -- freilich nur am Stadttheater in Stallupönen, aber je höher der +Anstieg, um so grimmiger die Gefahr, um so steiler und zerschmetternder +der Sturz ... Nein, beim Theater konnte sich niemand erlauben, nur auf +sein Talent, seine eigene Kraft und Persönlichkeit zu bauen und die +Gunst der Mächtigen, der Brotgeber leichtsinnig zu verscherzen ... +Niemand konnte sich das erlauben, auch Jucunda Buchner nicht ... + +Er ... oder ich -- -- so stellte sich schließlich die Frage ... und +waren da die Chancen nicht doch zu ungleich? Schließlich ... ersparte +sie nicht auch ihm durch ihren Entschluß, ihn fallen zu lassen, das +größere Opfer, das noch ausstand? Das Risiko eines, nein zweier +Zweikämpfe mit schweren Waffen, unter den schärfsten Bedingungen? +Ersparte sie ihm nicht den definitiven, den viel größeren, gar nicht +wieder gut zu machenden Skandal?! + +Eine ... Enttäuschung ... eine schmerzliche Wunde für sein jugendlich +enthusiastisches Empfinden bedeutete es ihm, wenn sie sich zurückzog ... +mehr doch nicht ... Für sie aber stand ihre ganze Zukunft, ihre Zukunft +als Künstlerin wie ihre materielle Existenz auf dem Spiele ... + +Gab es da eine Wahl? + +Und letzten, allerletzten Endes: Hatte er das alles nicht sich selber +zuzuschreiben? Hatte sie ihn um seinen Schutz -- gebeten?! Nein, das +hatte sie nicht getan, mit keinem Wort, keinem Blick ... Er hatte sich +zum Verteidiger ihrer Ehre aufgeworfen ... Hatte sich eigentlich, wenn +man es einmal mit einem etwas scharfen Ausdruck bezeichnen wollte, +aufgedrängt ... Und hatte sie nicht alles Mögliche versucht, ihn von +diesem unerbetenen Opfer abzuhalten?! Aber er war ja fortgestürmt, als +ging's um seine eigene Ehre, um sein Leben ... + +Jucunda stand am Fenster, noch immer regungslos. Und hinüber, herüber +schossen die Gedanken, anklagend und entschuldigend ... + +Mutter Doris saß ganz still und gedrückt in ihrem Kanapee ... Daß sie +eine furchtbare Dummheit gemacht, als sie das verhängnisvolle Briefchen +aus der Hand gegeben ... das war ihr nun völlig klar ... Ihre +spießbürgerliche Verschlagenheit sagte ihr ja nun selber, daß man aus +solchen Beweisstücken Kapital hätte schlagen müssen ... +Selbstverständlich nicht im materiellen Sinne -- o nein, so etwas hatte +man ja gottlob nicht nötig ... Aber man kann doch nie wissen, wozu man +ein solches Zettelchen einmal gebrauchen kann ... So etwas läßt man sich +doch nicht ganz umsonst aus den Fingern drehen ... + +Und dies Bewußtsein: die einzige Waffe, die ihre Tochter besaß, blöde, +gedankenlos aus der Hand gegeben zu haben -- das machte sie klein und +stumm ... + +Jucunda schloß unterdessen ab. Ganz kühl, ganz klar hatte sie alles +abgewogen. Nein, es ging nicht ... Sie konnte sich nicht, wider ihre +innersten Lebensinteressen, von dem Don-Quichotte-Streich des jungen +Burschen durch dick und dünn fortschleppen lassen ... Losketten mußte +sie das Schiff ihres Glücks von der toll und steuerlos dahinrasenden +Fahrt des überheizten Dampfers, der sie so mir nichts dir nichts ins +Schlepptau genommen ... + +Und doch ... und doch ... + +'Sie haben weinen müssen ... Das sollen sie mir bezahlen ... die +zwei ...' + +Wenn man -- diesen Ton, diesen Blick nur los werden könnte ... + +Pah ... Es =mußte= sein ... + +Und schließlich und endlich -- wer war Herr Pilgram?! Ein gleichgültiger +junger Mensch, von dem sie nichts wußte, als daß er sie einmal sehr grob +in ihrer Arbeit gestört ... sich für diese Grobheit dann freilich sehr +manierlich entschuldigt ... und eine Abendstunde mit ihr geplaudert +hatte ... in der sie, das wußte sie ganz genau, ihm nicht die leiseste +Andeutung einer Sympathie gemacht hatte, die sie ja auch nie empfunden +hatte ... Denn schließlich, sie machte sich ja doch nicht das mindeste +aus ihm ... Er war ein kreuzbraver, aber doch durchaus alltäglicher +Geselle ... Ja, wenn noch etwas in ihrem Herzen sich geregt hätte bei +dem Gedanken an ihn ... die Ahnung von etwas Besonderem ... wie sie es +eben, vor einer halben Stunde, so deutlich gefühlt hatte im Gespräch +mit ... jenem andern grünbemützten Studenten, in dessen Zimmer sie jetzt +stand ... der so schöne Verse machen konnte und so seltsam verhaltene +Worte reden... in dem irgend etwas gärte und brodelte, das ihrem eigenen +Wesen und Wollen auf eine geheimnisvolle Weise verwandt war ... + +Nein ... Herr Pilgram war ... irgendein Herr Pilgram ... war nichts und +niemand ... Herr Pilgram hatte sich in ihr Leben eingedrängt ... man +würde ihn mit möglichster Schonung, doch unmißverständlich wieder +hinauskomplimentieren müssen ... + +»Es ist gut, Mutter ...« sagte Jucunda und wandte sich ruhig um. »Ich +will Herrn Pilgram schreiben ... jetzt gleich ... er soll seine +Forderung zurückziehen ... Den Brief kannst Du ihm hernach -- wenn wir +aus dem Theater nach Hause kommen -- dann kannst Du ihm den Brief auf +die Stube legen ... Hoffentlich ist er nicht zu Hause, wenn wir kommen +-- sonst -- na sonst mußt Du ihm den Brief eben geben.« + +»Na, das is verninft'g von Dir, Mädchen!« seufzte die stattliche Frau +und atmete tief auf, daß die Korsettstangen knackten. »Hier, mache nur +schnell ... Da is ja der Schreibtisch, und Briefpapier liegt ooch genug +herum -- gleich setz' Dich und schreib'! Kannst Dich ja hernach bei dem +Herrn entschuld'gen ...« + +Jucunda ging zum Schreibtisch des Studenten hinüber, fand Briefbogen, +entdeckte aber, daß sie sämtlich oben in der linken Ecke den Zirkel des +Korps Franconia und darunter das Monogramm des Eigentümers trugen. Da +drehte sie kurz entschlossen einen Bogen herum und schrieb auf die +Rückseite: + + »Leipzig, den 31. Oktober 1888. + + Sehr geehrter Herr! + + Ihr ritterliches Eintreten für mich hat den gewünschten Erfolg gehabt: + die beiden Herren, die mir diesen abscheulichen Brief geschickt haben, + haben mündlich bei mir um Entschuldigung gebeten. Ich bin über diese + Lösung hocherfreut und danke Ihnen innigst für Ihren gütigen Beistand, + ich weiß wohl, daß Sie mir ein großes Opfer gebracht haben. Nun ist + der Zweck Ihres Handelns erreicht. Bitte tun Sie mir nun auch den + Gefallen und nehmen Sie so bald als möglich Ihre Herausforderung zum + Duell zurück, damit nicht noch weitere Unannehmlichkeiten entstehen. + + Ich bin mit der nochmaligen Versicherung meines aufrichtigen Dankes + + Ihre ganz ergebene + J. B.« + +In einem Zuge, ohne Besinnen, hatte Jucunda geschrieben: Nun überlas +sie die Zeilen und wunderte sich, wie klar und einfach und +selbstverständlich das alles klang. Und darum wunderte sie sich noch +viel mehr, weshalb ihr nur so übel dabei zumute war. Sie hatte ja doch +recht, tausendmal recht ... Es war eine so klare vernünftige Lösung -- +es konnte ja doch schlechterdings nicht anders gemacht werden ... + +'Sie haben weinen müssen ... Das sollen sie mir bezahlen, die zwei ...' + +Das war ja doch eigentlich ein Unsinn ... Was gingen ihn, den fremden +jungen Mann, ihre Tränen an? Was berechtigte ihn, für diese Tränen Sühne +zu fordern? Da war irgend etwas, das stimmte nicht ... ein Fehler, ein +Gedankenfehler ... Und aus diesem Fehler war alles entstanden ... + +Dennoch ... Sie fühlte es ganz deutlich: Um das törichte, unbesonnene +Handeln des Jünglings war etwas Leuchtendes, etwas, das den Taten des +Mädchens von Orleans verwandt war ... Und es war wie in Talbots Worten, +des eisigen Vernünftlers, dessen hundeschnäuzige Kriegsmathematik vor +dem frommen Wahn der Jungfrau zusammenbrach: + + »Unsinn, du siegst ... und ich muß untergehn ...« + +Und während Jucunda Buchner den Brief kuvertierte und die Adresse darauf +schrieb: + + »Herrn Stud. Pilgram« + +-- seinen Vornamen entsann sie sich auf der Visitenkarte gelesen zu +haben, die er an seine Tür genagelt hatte, aber er wollte ihr nicht +einfallen -- als sie so schrieb, da empfand sie es ganz deutlich, ganz +unabweisbar, daß sein Tun gut und groß gewesen war ... und ihres frostig +und häßlich und gemein ... + +»Da, Mutter, steck den Brief in Deinen Pompadour ... und jetzt« -- sie +zog die Uhr -- »sieben bereits!« Donnerwetter! Jetzt revidierte der +Inspizient drüben schon die Garderoben! Teufel auch -- höchste Zeit ins +Theater -- »Vorwärts, Mutter!« + +»Willste nich Deine Kollegin daneben abholen?« + +»Na -- die wird wohl schon hinüber sein -- aber ich kann ja mal +nachsehen ...« + +Sie klopfte an die Tür des Nachbarstübchens, und da keine Antwort kam, +klinkte sie auf. Die kleine Kammer lag dunkel und still. Nur durch die +Fenster fiel der Schein der Gaslaternen von der Straße durch die +Gardinen, malte ein paar große Rechtecke an die weißgetünchte Decke. +Also Asta Thöny warf sich drüben bereits wieder in den steiflinigen +Brokat der Agnes Sorel ... + +»Sie ist schon hinüber -- und kommt doch erst im ersten Akt -- und ich +muß schon zum Prolog 'raus ... Glücklicherweise nur das Bauernkleid ... +Vorwärts, Mutter ...« + +Das hatte sie freilich nicht sehen können oder wenigstens nicht gesehen +in der Finsternis, daß auf dem Sofa noch einsam und regungslos der +junge Student gesessen hatte, das Poetlein, um dessen »schwindelschmalen +Pfad Abgründe klafften rechts und links ...« + +Daß er noch immer da saß, seitdem das Mädchen sich aus seinen Armen +gerissen ... Alle Glieder und das Herz wie mit Blei beschwert vor +trunkener Zärtlichkeit, sein ganzes Wesen durchschauert von +Erfüllungsglück ... + +Jucunda schritt über den Hof, der mit Dekorationsstücken vollgepfropft +war, die zum Schutze gegen den Regen mit Wachsleinwand verhangen waren +-- stolperte über die Beine des ausgestopften schwarzen Pferdes, dessen +Leichnam im dritten Akt so überzeugend die Stimmung des blutgedüngten +Schlachtfeldes heraufbeschwor -- nahm dies Stolpern für ein gutes Omen, +hastete weiter, so schnell, daß Mutter Doris in weitem Abstande hinter +ihr drein schnaufte ... Und als sie nun das schmale Pförtchen aus +Eisenblech öffnete, das zum Bühnenraum führte, als ihr der vertraute +Dunst von Schminke, wirbelndem Staub und Menschenbrodem entgegenschlug, +als sie den schlechterleuchteten Korridor, den halbdunklen Bühnenraum +kreuzte, auf dem die Arbeiter eben den Prospekt zum Prolog anbohrten ... +als sie dann die hallende Steintreppe hinanflog, in ihr Kämmerchen +schoß, wo die zerknitterte Krausen herzklopfend ihrer harrte -- (»Ach +Gottchen nee, gnäd'ges Fräulein, daß Se nu endlich kommen! Der +Inspizient und der Herr Oberregisseur sind schon sechsmal mind'stens +dagewäsen nach Ihn' fragen!«) als ihr weißes Gewand, als das blanke +Eisen ihrer Rüstung, ihres Helmes aufgleißten im hellen Licht der +Spiegellampen -- + +-- da fühlte sie, wie alles, alles abfiel, was dieser Tag ihr Fremdes, +Verworrenes, unheimlich Störendes gebracht. Fühlte, daß sie noch +dieselbe war wie gestern abend um diese Stunde -- dieselbe, die sie +immer sein würde, so oft der Rausch des Komödienspiels, des +Im-Spiele-Gestaltens über sie kam. + +Sie riß die Taille ihres Straßenkleides ab, reckte die herrlichen Arme, +schmetterte durch den Raum, daß die Wände wankten: + + »Ins Kriegsgewühl hinein will es mich reißen, + Es treibt mich fort mit Sturmes Ungestüm, + Den Feldruf hör' ich mächtig zu mir dringen, + Das Schlachtroß steigt, und die Trompeten klingen!« + +Ja, es parierte, das erzene Organ ... vor dem sogleich die anderthalb +Tausend da drunten erzittern würden ... Ja, sie war es noch, um +derentwillen die alle da draußen vor allem doch gekommen waren -- die +Heldin des Stückes, die Heldin dieses Abends ... + +Kaum stand sie im Bäuerinnengewand, die braunen Haare zu schlichtem +Flechtenbau um das runde Haupt gelegt, da trat Franz Burg ein, im +ledernen Koller bereits, doch noch ohne das rasselnde Blech drüber, noch +ohne Maske: + +»Nun, Langbeinchen? Das kennt man ja gar nicht von Ihnen, daß Sie mal zu +spät kommen! Wie ist die Stimmung?« + +»Prima prima!« lachte sie und leuchtete den Freund an. + +»Nichts Neues in der Affäre?« fragte er leise. + +»Nichts von Belang ... Ich denke, es renkt sich ein.« + +»Oh!« Franz Burg zog die tiefschattenden Augenbrauen hoch -- »das wäre +aber jammerschade ... Können Sie denn nichts dazu tun, daß die +Geschichte mit dem nötigen Theaterdonner zum Klappen kommt?« + +»Ach ... Ich bin froh, wenn sie aus der Welt ist ... Ich muß freien Kopf +haben, freie Arme zum Arbeiten, zum Schaffen ...« + +»Soll ich Ihnen mal was verraten? -- Ihr Erbprinz ist im Theater -- hat +noch vor einer halben Stunde einen Levkoyen geschickt und eine Loge +bestellen lassen ... Da alles futsch war, hat der Intendant die +Direktionsloge zur Verfügung gestellt ...« + +»Hm ... Das ist ja interessant ... Werde mir den jungen Herrn doch mal +anschaun ...« + +»Sie kennen ihn noch gar nicht?« + +»Keine Ahnung ...« + +»Na -- die Hauptsache ist: Er ist da -- jedenfalls ein Beweis, daß man +nicht ungnädig ist ... Na, die Reklame haben Sie verscherzt, nun halten +Sie sich wenigstens den hochgeborenen Verehrer warm ...« + +Der Inspizient steckte den Kopf zur Tür herein: + +»Fräulein Buchner -- bitte auf die Szene!« + +»Also, Langbeinchen, wieder mal: Hals- und Beinbruch!« + +»Danke, Meister!« + +Mit Wohlgefallen sah Franz Burg der weißen, stolzen Gestalt nach. +Künstlerblut! dachte er, kennt nichts als sich und ihre Arbeit ... Alles +andre ist Dreck ... + +Und Jucunda schritt die Treppe hinunter. Alles grüßte mit vertraulicher +Höflichkeit, wenn sie vorüberging: die Friseure, die Bühnenarbeiter, die +Statisten, die Volontäre ... + +Und in ihrer Seele schwoll die unbändige Lust des Schaffens. Es schwang +und klang in ihr von dröhnendem Jambenstrom und schmelzender +Trochäenklage ... »Frommer Stab, o hätt' ich nimmer mit dem Schwerte +dich vertauscht« ... Kaum konnte sie das Maß, die scheue, entrückte +Gebärde für die Stimmung des Anfangs finden, da sie noch ein schlichtes +Hirtenmädchen ist, von geheimen Stimmen, phantastischen Visionen +geängstigt, doch ihrer Sendung noch ahnungsvoll unbewußt ... + +Und endlich rauschte die Gardine empor, wogte drunten das Gebraus, das +wohlbekannte, von Zettelknistern und Räuspern und Zurechtrücken, +klappten die Sitze der Zuspätkommenden, tönte das leise Zischen der +Gestörten ... Und all dies wirre Durcheinander verebbte nach und nach, +und die große schaurige Stille ward, in die ihrer Partner Verse +hineinklapperten, wie eine belanglose Ouvertüre, ein gleichgültiger +Auftakt des Augenblicks, da sie die ersten Worte zu sprechen haben würde +... Ach, aber wie endlos lang dieser Auftakt! Die kamen ja heut wohl gar +nicht vom Fleck, der alte Thibaut, ihre Schwestern, die Bräutigame -- +biedre Chormitglieder, die heute ein paar Verse zu lallen hatten ... + +Gesenkten Hauptes, stumm stand das Hirtenmädchen im Hintergrund ... Nur +zuweilen hob sie zaghaft und scheu die großen Augen, ließ sie von einem +zum andern flattern, als verstände sie die Sprache ihrer nächsten +Menschen nicht mehr ... Und aus den verträumten Augen Johannas d'Arc +spähte Jucunda Buchners ganz wacher, lauernder Sinn in den +Zuschauerraum, dorthin, wo dicht an der Rampe links die Direktionsloge +lag ... Die Lichter blendeten abscheulich -- dennoch konnte sie +allmählich ganz vorn, matt angestrahlt vom Widerschein des hellen +Bühnentages, zwei Gesichter erkennen: ein fahles, junges mit der +blinkenden Scherbe im Auge -- und daneben ein verwettertes, +tiefgebräuntes mit flatterndem Schnurrbart ... Also das waren die zwei +-- »von Dillingen -- von Gorczynski« -- das waren die Schreiber des +verhängnisvollen Briefchens -- die Spender des Rosenturms und der ... +beiden ... blauen ... Lappen ... + +Achtung jetzt! Bertrand kommt, den blinkenden Helm in der Hand, den »ein +Bohemerweib« ihm aufgedrungen im Gewühl ... Gleich wird das Stichwort +kommen ... Horch ... Die letzten Verse rannen hin: + + »Da war das Weib mir aus den Augen schnell -- + Hinweggerissen hatte sie der Strom + Des Volkes, und der Helm blieb mir in Händen.« + +In diesem Augenblick versank alles, alles ... Jucunda Buchner versank, +und nichts mehr war als Johanna von Orleans ... Die schoß nun wie ein +Meteor aus der scheuen Zurückgezogenheit vor, riß dem alten Bauern den +Helm aus der Hand: + + »Gebt mir den Helm!« + +Erschrocken fragt der Alte: + + »Was frommt Euch dies Gerät? + Das ist kein Schmuck für ein jungfräulich Haupt!« + +Und wie eine Fanfare jauchzt es aus der endlich entfesselten Brust der +jungen Heldin: + + »Mein ist der Helm -- und mir gehört er zu!« + +Alles -- alles ist versunken -- nur eines wirkt und wogt: der große +Rausch des Schaffens ... + +Und Johanna wurde erst wieder Jucunda, als nach dem ersten großen +Monolog die Gardine sank und gleich darauf, wie hinweggerissen vom Orkan +des Beifalls, wieder emporrauschte ... als tausendstimmiger Jubelruf sie +umbrandete ... + +Da war Jucunda wieder da -- ganz wach, ganz klar ... Und sie neigte sich +... neigte sich zuerst mit tiefem Hofknix nach der Direktionsloge. + + + + + 9. + + +Als Herr Borgmann Neo-Borussiae das Hotel Hauffe verließ und verloren, +ziellos nach dem Augustusplatz hinüberschlenderte, kam er sich +entsetzlich dumm vor. Was sollte er nun seinem Auftraggeber und +Doppelgegenpaukanten ausrichten? Man hatte seine Forderung nicht +angenommen, aber auch nicht abgelehnt ... Ein Witz ... aber ein fader +... Ist bei Ihrem Auftraggeber eine Schraube los? Rabiater Bursche -- +ich danke für einen Skandal ... Koller ... Pathologischer Zustand ... +Verlange absolut geräuschlose Erledigung ... Rechne dabei auf Ihre +Mitwirkung ... Das waren so ungefähr die Schlagworte, die Herrn Borgmann +noch im Gedächtnis hängen geblieben waren und nun in der korrekten +Chargiertenseele einen tollen Tanz vollführten ... Ja, was sollte man +auch einem Prinzen antworten, der von korpsstudentischer Direktion und +Haltung keinen Schimmer hatte? Der eine so blutig ernste Sache wie eine +Säbelforderung einfach behandelte ... wie ... na wie einen +Hanswurststreich ... wie einen faulen Kalauer?! + +Und das hatte man sich gefallen lassen? Man hatte Ja und Amen gesagt zu +der ungeheuerlichen Zumutung, nach solch einem Affront auch noch an +einer ... hm, hm! geräuschlosen Beilegung mitzuwirken?! + +Herr Borgmann nahm die weiße Mütze mit dem weiß-schwarz-weißen +Randstreifen ab und tupfte die von weißblonden, seltsamerweise schon +etwas gelichteten Haaren umsäumte Stirn. Was konnte man seinem +Auftraggeber nun eigentlich berichten? Hatte der Prinz irgend eine +Erklärung zur Sache selbst abgegeben? Eine Entschuldigung bei der +beleidigten jungen Dame in Aussicht gestellt? Nicht das mindeste ... Er +hatte nichts weiter geäußert als Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des +Mandanten -- und das kategorische Verlangen, die Sache müsse aus der +Welt geschafft werden! + +Na, und du, Wilhelm Borgmann, Neo-Borussiae gewesener Zweiter, Erster?! +Was für eine Antwort hast du gefunden? + +Gar keine! Völlig aus dem Konzept hat man dich gebracht, verblüfft, +verhohnepiepelt ... Schindluder hat man mit dir getrieben, ganz einfach! + +Und warum? Warum hast du nicht aufgemuckt? Warum hat deine ganze +mühevoll erworbene korpsstudentische Direktion, deine Haltung, dein +Schimmer dich verlassen? Weil dies junge hagere Herrchen im hellblauen +Dragonerüberrock mit den silberblinkenden Knöpfen ein ... Prinz von +Geblüt war ... Da war von deiner Spießbürgerseele der dünne Firnis des +Kavaliers abgefallen, den man dir in einer Dressur von fünf Semestern +aufgepinselt -- und du warst in Lakaiendevotion submissest +zusammengeknickt! + +Und drüben im Theaterrestaurant sitzt der unglückselige Pilgram, weiland +Franconiae, und wartet auf Antwort ... Wartet auf das Schicksal ... + +Ja, was sagt man ihm nur? So wie die Geschichte in Wirklichkeit +abgelaufen ist, so kann man sie ja gar nicht erzählen -- der rabiate +Bursche schlägt sonst Krach! Das muß man sich erst ein bißchen +zurechtlegen ... + +Herr Borgmann suchte einen Zufluchtsort. Café Felsche? Viel zu viel +Betrieb jetzt da, wahrscheinlich auch ein Tisch voll Neo-Borussen -- -- + +Ein Einfall! Das Museum! Das war zu dieser Stunde vielleicht noch +geöffnet ... + +Und Studiosus Borgmann tat etwas, was ihm in seinen fünf Semestern, die +er in Leipzig zugebracht, noch niemals passiert war: Er ging ins Museum +hinein, stieg die prächtige Marmortreppe hinan, schritt gleichgültig +durch die Säle voll bemalter Lappen in goldenen Rahmen und versank in +einem Plüschsofa des großen Oberlichtsaales ... Und sann, wie er die +Sache deichseln könne, ohne seine Blamage eingestehen zu müssen. + +Inzwischen saß Valentin Pilgram in regungslosem Warten in einer dunklen +Ecke des Theaterrestaurants. Was werden würde? Nun das war ja ganz klar: +Sowohl der Major als auch der Erbprinz, der die Charge eines +Rittmeisters bekleidete, würden die militärisch korrekte Erklärung +abgeben, daß sie die Tatsache der erfolgten Forderung ihrem zuständigen +Ehrenrat unterbreiten würden ... Der würde dann einen formellen +Ausgleichsversuch machen -- wenn dieser, wie selbstverständlich, +gescheitert wäre, würde der Erbprinz einen Ersatzmann stellen, einen +möglichst fechtgewandten Offizier eines Gardekavallerieregiments ... Und +dann stiegen eben die beiden Partien ... Na Himmel, das hatte man ja +doch schon fünfmal durchgemacht -- zwar nicht unter ganz gleich schweren +Bedingungen ... Aber -- na ja, Eisen ist Eisen, und fechten haben wir ja +gottlob gelernt ... + +Und dann ... + +Valentin Pilgram versank in Träume ... Dann mußte irgend etwas kommen, +etwas Schönes, von dem man sich keine rechte Vorstellung machen konnte. +So ganz ohne Dank und Lohn würde man ihn doch nicht laufen lassen ... + +Dank und Lohn? Aber wie? + +Valentin Pilgram hatte bewiesen, daß er bereit war, sich jeden vors +krumme Messer zu langen, der an dies Mädchen anders dachte denn an eine +Heilige ... Und Heilige ... Wie belohnen sie denn? + +Mit ihrer Gnade ... Mit Fürsprache im Himmel ... + +Sie belohnen von ferne ... Mit Gaben, für die man sich auf Erden +verdammt wenig kaufen kann ... + +Na, und das wird ja auch wohl dein Fall sein, mein guter Valentin -- +nicht wahr?! + +Na -- und wenn auch! Wir haben eben getan, was wir mußten ... + +Ein alter Reckenspruch aus den goldenen Tagen des Rittertums klang ihm +durch den Sinn: + + _A Dieu mon âme, + Ma vie au roi, + Mon coeur aux dames, + L'honneur pour moi._ + +_Pour moi_ ... Na eben, das war's: das Bewußtsein: So gehört sich's -- +und so hab' ich's gemacht ... + +Endlich! Da kam sein Kartellträger ... + +»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Borgmann ...« + +»Gewiß, gern ... Herr Ober, eine Schale Schwarz ...« + +»Also ... Angenommen?« + +»Hm ... Die Herren haben Erklärungen abgegeben, die vielleicht ... als +befriedigend gelten könnten ...« + +»Was! sie kneifen?!« + +»Hm ... Doch wohl etwas zu schroffer Ausdruck ... Der Prinz hat den +Major beauftragt, die Angelegenheit in Güte zu arrangieren ... Ich nehme +also an, daß er Familie Buchner im beiderseitigen Namen um Verzeihung +bitten wird ... Was macht's, Ober? Fünfundzwanzig? Schön -- ziehen Sie +fünfunddreißig ab ...« + +Valentin Pilgram war wie vor den Kopf gestoßen. + +In Güte arrangieren ... Fräulein Buchner um Verzeihung bitten ... Hm ... +Verteufelt einfache Lösung ... Und das hatte man sich nicht mal im +Traume vorgestellt, daß es so kommen würde ... kommen ... müßte ... + +Himmel ja -- man war eben Korpsstudent -- trat für alles, was man gesagt +und getan -- selbst in der Hitze gesagt und getan -- für das trat man +eben stramm und rücksichtslos ein mit Waffe und Blut, mit Schädeldach +und Nase, mit Brustbein und Armknochen -- konnte sich gar nicht +vorstellen, daß jemand auswich -- revozierte und deprezierte -- den +Schwanz einzog und ... na eben kniff. + +Und ... jeden andern Kneifer durfte man einen Kneifer schimpfen ... +Dieser aber stand außerhalb der Lebensgesetze der akademischen Welt -- +der er _pro forma_ doch angehörte ... Der konnte sich eine Kneiferei +leisten, obwohl er doch auch Student, offiziell sogar Korpsstudent war +... + +Was für ein Hohn ... Was für eine blöde Farce! + +»Hm ... Und Sie meinen, Herr Borgmann -- mit diesen Erklärungen müsse +ich mich begnügen?« + +»Ich ... glaube wenigstens nicht, daß ... nach diesen Erklärungen ... +das Ehrengericht Ihre Forderung noch genehmigen würde, wenn Sie darauf +bestehen wollten ... Selbst ein S. C. Ehrengericht nicht ... Aber vor +das kommt die Sache ja überhaupt nicht ... Die kommt vor den +Offiziersehrenrat ... Na und der wird eben selbstverständlich die Sache +für erledigt erklären unter diesen Umständen ...« + +Ach so ... Also alles in schönster Ordnung ... Die Ehre der +angegriffenen jungen Dame _in integrum_ restituiert durch die +Deprekation ... und nur er selber ... er selber um sein Korpsband +gekommen ... und eigentlich ... der ... Blamierte ... + +Hm ... es stimmte ... Da war nichts zu machen ... Aber auch gar nichts +... + +Ja ... Wie war denn das aber möglich? Hatte er denn irgend einen ... +Fehler gemacht? + +Nein ... Er hatte den Geboten der Ehre, der Ritterlichkeit gefolgt ... +Und was sich da wider ihn aufreckte ... das war etwas, was er bis dahin +noch nicht geahnt hatte -- der Unsinn des Daseins ... die Tragikomödie +des Idealismus ... dieses phantastischen romantischen Idealismus, der +den eigenen Adel, die eigene heroisch-naive Auffassung von Pflicht und +Ehre noch für das Gesetz des Weltganges hält ... + +Valentin Pilgram stand auf ... stumm ... stieren, korrekten Antlitzes. + +»Ich danke Ihnen verbindlichst für Ihren gütigen Beistand, Herr Borgmann +... Nun, dann wird sich die Sache ja wohl in aller Güte und Freundschaft +erledigen ... zwischen den ... =Nächstbeteiligten= ... Adieu, Herr +Borgmann ...« + +Donnerwetter -- dachte Wilhelm Borgmann -- das hat besser gegangen, als +ich mir's träumen ließ ... + +Valentin Pilgram irrte durch die Straßen ... Dies Menschengewoge, der +Spätherbstglanz über der Welt, die Wagen, die klingelnde Pferdebahn, das +alles machte ihn rasend. Er floh ins Rosental, strich ziellos durch die +Laubgänge ... + +Jucunda! Das war sein einziger Trostgedanke ... Jucunda würde zu ihm +stehen ... ihm danken, ihn belohnen ... irgendwie ... für alles, was er +ihr geopfert ... + +Er rannte immer weiter, immer tiefer ins Holz hinein -- über die Elster +hinüber, kreuzte die sumpfigen Wiesen jenseits der Marienbrücke, verlor +sich in den braunen Forsten des Leutzscher Holzes. Es kam die frühe +Dämmerung, es wurde feucht und frostig unter dem Laubdach, von dem +langsam Blatt um Blatt niederrieselte im melancholischen Schweigen des +windstillen Herbstabends -- Valentin Pilgram bemerkte es nicht. Und wie +die Fledermäuse, die lautlos um die schattenhaften Säume der Gebüsche +schwirrten, über den perlmuttfarbenen Spiegeln der Sumpfteiche huschten, +so flatterten durch des wackern Gesellen Hirn die aberwitzigen +Gedanken. + +Er hatte doch recht getan -- gehandelt wie ein Mann und Kavalier ... Und +eine lächerliche Blamage war die Folge ... Das Korpsband, das geliebte, +war von seiner Brust hinweggeweht, wie ein klagender Abendhauch die +ziehenden Nebelstreifen dort auf den Wiesen hinwegstreifte ... + +Das konnte doch das Ende nicht sein -- so dummejungenmäßig beiseite +geschoben werden, das war doch kein Abschluß für Valentin Pilgrams +stolze, prangende Burschenherrlichkeit ... + +Nein ... Es mußte noch irgend etwas kommen -- die Ahnung irgend eines +süßen oder schrecklichen Ereignisses düsterte durch die Seele des +einsamen Wanderers. + +Es war schon Nacht, sternüberflimmerte Spätherbstnacht, als er vor sich +die dunklen Umrisse des Leutzscher Bahnhofes auftauchen, die +grellfarbigen Lichter des Bahnkörpers flimmern sah. Eine dumpfe +Sehnsucht nach der Stadt zurück überkam ihn plötzlich, nach wogenden +Menschenmassen, nach Wagenlärm und glitzernden Schaufenstern. Er +erkundigte sich: der nächste Zug fuhr erst in einer halben Stunde. In +dem schmutzigen Bahnhofsrestaurant schüttete er hastig, gedankenlos ein +paar Glas Bier in die brennende Gurgel. Als der Zug herannahte und er +die Börse zog, bemerkte er, daß er an seiner Uhrkette noch den +Bierzipfel trug, ein Stück des grün-gold-roten Korpsbandes mit goldenen +Beschlägen ... Da hakte er mit einem bitteren Zucken der Mundwinkel den +blanken Zierat ab und barg ihn in seiner Brieftasche. + +Als er auf dem Thüringer Bahnhof ankam, war es gegen neun Uhr. Er +hastete heimwärts. Jetzt war Jucunda im Theater -- spielte abermals die +Jungfrau ... An allen Anschlagsäulen hing der Theaterzettel, der ihren +Namen trug ... Es trieb ihn nach Hause, dahin, wo sie geboren und groß +geworden war, eine seltene, phantastische Wunderblume, in einem +abgezirkelten, banalen Spießergärtchen erblüht ... + +Alles war still und finster in dem engen, muffigen Korridor, als er die +Entreetür öffnete. Natürlich, die Eltern waren ja mit im Theater, ihr +Goldkind zu bewundern ... + +Er suchte seine Zündholzschachtel, fand sie, aber sie war leer. +Vergebens tappte er nach Licht. Die Tür zur Wohnstube war angelehnt, ein +matter Lichtreflex von der Straßenbeleuchtung fiel heraus. Valentin +konnte der Versuchung nicht widerstehen und trat ein. Stumm und dunkel +und dumpfig lag das Zimmer. Dort am Fenster hatte er mit ihr gestanden +-- wann doch nur? Vor einer Ewigkeit?! Pah -- es war noch nicht +vierundzwanzig Stunden her ... Und hier auf dem verschlissenen Plüsch +hatte sie gesessen, das weiße Königinnenhaupt zurückgelehnt ... und -- +wie hatte sie nur gesagt? 'Vielleicht kann ich doch einmal einen Ritter +gebrauchen -- dann will ich an diese Stunde denken und Sie rufen ...' +Und jetzt? Hatte sie ihn nicht gerufen? -- Nein -- das eigentlich wohl +nicht ... Aber hatte sie nicht geweint?! Sie ... sie ... und hatte +geweint um einer bübischen Kränkung willen ... + +Und da hatte er getan, was er genau so rasch, so selbstverständlich und +geradezu getan hätte für seine Schwesterchen daheim in Dresden ... Und +morgen würde ganz Leipzig über ihn lachen ... + +Hastig trat er auf den stockfinstern Korridor zurück und tappte nach +seiner Stube hinüber. Zufällig bekam er die Klinke zu Jucundas +Kammertür in die Hand ... Er drückte sie nieder, und ein Duft wehte ihm +entgegen, der ihn mit einem Schwall stummer, wirrer Sehnsuchtswünsche +bedrängte. Das Zimmer lag nach einem Seitengäßchen hinaus und war fast +völlig finster. Nur aus einem gegenüberliegenden Fenster fiel ein ganz +matter Lichtschein hinein. In diesem Schein leuchtete das weiße Bett, +schon aufgeschlagen, für die Nachtruhe der Künstlerin ... + +Ein Grausen des Verlangens schnürte dem reckenhaften Burschen die Kehle +zusammen. Er schloß hastig die Tür und stand einen Augenblick lang in +der Dunkelheit. Alle Glieder bebten, seine Kinnbacken schlugen im Frost +zusammen. Dann übergoß ihn glühende Scham. Er war der Mann nicht, sich +an dem Dunste der Geliebten verstohlen schnüffelnd zu erletzen. Er +rannte hinaus, fand endlich die Tür seiner Bude und saß lange mit +fiebernden Gliedern in der Finsternis, auf seinem Sofa. Endlich fuhr er +auf, schwankte zu seinem Nachttischchen hinüber, machte Licht, zündete +die Petroleumlampe an und sah die aufgeschlagenen Repetitorien liegen, +wie er sie morgens verlassen hatte, als die Kanzleirätin in sein Zimmer +gestürzt war ... + +Und eine stumpfe Ruhe kam über ihn. Arbeiten! Arbeiten! Er wühlte sich +in die schematisch öde Zusammenstellung der elementaren Grundbegriffe +seiner Wissenschaft hinein. Seiner Wissenschaft -- ah bah! Die Quelle +des Wissens, die hell in seiner Nähe sprudelte, hatte er ängstlich +gemieden sieben Semester lang und nur dem Korps gedient ... Nun galt es +hastig und mechanisch einen Haufen seelenloser Notizen in sich +hineinzustopfen, um den toten Popanz, die pappdeckelne Attrappe einer +fadenscheinigen Examensweisheit aufzurichten ... + +Immerhin ... wenigstens Vergessen wirkte dies stumpfsinnige Büffeln ... + +Und eine Stunde verrann -- zwei Stunden ... Plötzlich draußen auf dem +Flur die Stimmen der heimkehrenden Familie Buchner. Valentin lauschte +angestrengt ... Ob sie ihn denn nicht noch zu sprechen wünschte? Ihm zu +danken für die ... glückliche Lösung, die sein Eingreifen doch +herbeigeführt? + +Und wirklich -- es pochte an seine Tür ... + +»Herein!« + +Mutter Kanzleirätin stand auf der Schwelle. Ein wenig rot und verlegen +... In der schleifenbesetzten Kapuze, dem altmodischen Abendmantel, +genau wie gestern, als er sie aus dem Wagen gehoben ... + +»Sie wär'n entschuld'gen, Herr Pilgram -- hier is Sie nämlich ä +Briefchen von meiner Tochter ...« + +Ein -- Brief? Und warum konnte sie denn nicht selber --?! + +So deutlich stand diese Frage in des jungen Mannes starr aufgerissenen +Augen, daß Frau Buchner die unausgesprochene beantwortete: + +»Nämlich, Se dürfen's ihr nich iebel nähm', selber kann se's Ihn' nich +sagen, sie is Ihn' nämlich gar zu sähre angegriff'n von der Vorstellung +... Gut Nacht, Herr Pilgram, wünsch' gute Ruh ...« + +Und hastig war die massive Gestalt aus der Tür ... Nur der Brief blieb +zurück, lag weiß und fremd auf dem fleckigen, grellgemusterten +Tischtuch. + +Mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge nahm Valentin das Kuvert und +studierte die großen, fahrigen Züge der Aufschrift: + + »Herrn Stud. Pilgram ...« + +Weder Fakultät noch Vorname ... + +Was steht darin? Nun, es kann doch nur eins sein: Dank und abermals +Dank, feuriger, inniger Dank ... + +Er riß den Umschlag auf und las: + + »Sehr geehrter Herr ...« + +Er las und las ... »erwünschte Erfolg« -- »Herren haben mündlich bei mir +um Entschuldigung gebeten« -- »danke Ihnen innigst« -- »großes Opfer« -- +»Zweck erreicht« -- »nehmen Sie Ihre Herausforderung zurück, damit +nicht noch ... weitere ... Unannehmlichkeiten entstehn ...« -- »mit +der nochmaligen Versicherung meines aufrichtigsten Dankes Ihre ganz +ergebene ...« + +Na ja ... na also ... + +Völlig korrekt das alles ... Nichts fehlte, was man so erwarten und +verlangen konnte ... + +Nichts fehlte ... gar nichts ... + +Valentin Pilgram sah lange und regungslos in den hellen Lichtkegel der +Petroleumlampe, bis die Augen ihn zu schmerzen anfingen. + +Na ja ... na also ... + +Und endlich klappte er den Brief zusammen. Wollte ihn in den Umschlag +schieben ... Da auf einmal blieben seine Augen an etwas hängen, das er +nicht begriff. Auf der letzten Seite des Bogens, am unteren Rande und +mit dem Kopfe nach unten, fand sich ein Monogramm aus den Buchstaben T +und H und darüber der Zirkel eines wohllöblichen C. C. der Franconia zu +Leipzig. + +Was war das?! + +T. H.? Oder ... H. T.? Und darüber der Frankenzirkel? + +Kein Name der verflossenen Korpsbrüder fing mit einem H an, aber mit +einem T? Thumser? Hans ... Thumser ... Das ... stimmte ... + +Was war das? Wie kam Jucunda Buchner zu einem Briefbogen von Hans +Thumser?! Teufel -- + +Hatte der am Ende den Makler gespielt? Und geholfen, ihm diese ungeheure +Blamage einzubrocken?! + +Valentin Pilgram dachte nach. Nun, der kleine Thumser war ein Faselhans, +hatte den Kopf voll konfuser Ideen, voll unvorschriftsmäßiger, +inkorrekter, umstürzlerischer Gedanken über allerhand heilige, +unantastbare Dinge, Dinge, die immer so gewesen waren und immer so +bleiben sollten ... Sah ein bißchen von oben herab auf alle Menschen und +Zustände -- aber eine Gemeinheit, eine heimtückische Verräterei und +Niedertracht -- die war ihm denn doch nicht zuzutrauen ... + +Aber -- wie war dies -- Unfaßbare da -- zu erklären?! + +War denn irgendeine Möglichkeit, daß Jucunda und der versedrechselnde, +kunstsimpelnde Korpsbruder in Berührung hätten kommen können? + +Gestern abend -- so viel stand fest -- kannte Thumser die Künstlerin +noch nicht persönlich -- hatte zwar die Idee gehabt mit dem +Pferdeausspannen, aber nicht ein Wort mit dem Mädchen gewechselt ... + +Aber -- hatte nicht er selber, Valentin, gestern abend im Gespräch mit +der Familie Buchner den Namen Thumsers genannt als desjenigen, der den +glorreichen Einfall mit der Pferdeausspannerei ausgeheckt ... + +'Dafür hätten Sie 'nen Kuß gekriegt,' hatte Jucunda gesagt ... Noch ganz +deutlich entsann sich Valentin einer dunklen Regung von Eifersucht ... + +Wär's möglich -- sie hätte sich vielleicht an den gewandt um ... um +einen Ausweg aus der Verlegenheit, in die Valentin Pilgrams rasche +Ritterschaft sie hineingestürzt?! + +Oder?! Hatte er -- Hans Thumser -- die Bekanntschaft eingeleitet? Er +wußte aus dem C. C., was vorgefallen war ... Er war sehr schweigsam +gewesen im C. C. ... Sollte er diese ... Gelegenheit ... seine +Wissenschaft um die Situation -- sollte er die benutzt haben, um sich +bei Jucunda lieb Kind zu machen?! + +Wie es auch sein mochte -- es war etwas geschehen zwischen den beiden +... Hans Thumser hatte seine Hand im Spiel -- in dem falschen, +ränkevollen Spiel, an dessen Ende seine, Valentins, hilflose Blamage +stand ... + +Himmel und Hölle! Da stand ja auf einmal ein neuer Feind auf -- ein +Feind, der eine harmlos grinsende Freundesmaske trug ... und einer, der +nicht unangreifbar war, wie die andern -- nicht geschützt wie diese +Jucunda durch ihr Geschlecht -- nicht durch Rang, durch Pflichten der +Rücksichtnahme, durch die Ausnahmegesetze der militärischen +Standesordnung -- wie das fürstliche Käsegesicht mit der Scherbe im Auge +oder sein schnurrbärtiger Begleiter ... + +Einer, den man sich langen konnte! + +Ein Korpsbruder?! Pah ... er selber war ja nicht mehr Korpsstudent ... +Konnte ramschen, mit wem es ihm beliebte ... Seine Rache kühlen an dem +ersten besten, der seinem Grimm in den Weg lief ... + +Ja, seinem Grimm -- der besinnungslosen Wut, die ihm nun auf einmal in +die Augen stieg mit blutrotem Schimmer, ihm Blick und Fassung trübte -- +daß er aufsprang, die Halsbinde, den Kragen aufriß, um nicht zu +ersticken ... + +Nebenan raschelten Kleider, klapperten die leisen Tritte müder +Mädchenfüße ... + +Sie -- und nur eine dünne Wand zwischen ihm und seinem Schicksal ... + +Er lauschte ... flüsternde Frauenstimmen klangen: Mutter Kanzleirätin +brachte wohl das Goldkind schlafen ... Nun knarrte die Tür, nun +schlürften die Pantoffeln der Alten über den Korridor, zum ehelichen +Schlafgemach hinüber ... Und ein herzhaftes, langgezogenes Gähnen ... +Und nun krachte das Bett, rauschten die Kissen ... + +Valentin Pilgram saß noch immer steif und regungslos an seinem +Schreibtisch und starrte in den Lichtkegel der Petroleumlampe ... Und in +der Faust hielt er den halbzerknüllten Briefbogen, der vorne Jucunda +Buchners Brief und hinten Hans Thumsers Monogramm und den Frankenzirkel +trug ... + +Na ja ... Na also -- -- --!! + + + + + 10. + + +Die Franken hatten C. C. gehabt und Chargenwahl vollzogen. Ivo Volkner +aus Düsseldorf war Erster geworden an Pilgrams Statt. Hartwig, der +Vertreter des Marburger Kartellkorps, hatte die zweite Charge bekommen, +und der eben erst rezipierte Jungbursch Feldmann die dritte. Volkner +Senior -- das bedeutete einen Wechsel des Regimes. Statt des zähen, +wortkargen, sparsamen und fechtgewaltigen Sachsen der leichtsinnige, +wohlhabende, lebenslustige Rheinländer -- das war ein wahrer Umschwung +für den Geist des Frankenbundes ... + +Hans Thumser säumte nicht, von diesem Umschwung zu profitieren. Alle +paar Tage bat er um Dispens zum Besuch der Konzerte, des Theaters, +schwänzte regelmäßig Sonnabends das gemeinsame Mittagessen, um der +Motette des Knabenchors in der Thomaskirche zu lauschen ... + +Und eines Morgens erlangte er gar die Erlaubnis, bei den Meiningern zu +statieren ... + +Die Meininger ... sie hielten ihn völlig im Bann. Er versäumte keine +Premiere. Drama auf Drama reckten sich die genialen Machtschöpfungen der +erhabensten Meisterwerke des germanischen Theaters vor dem +schönheitshungrigen Auge des jungen Studenten auf ... + +Und all die heiße Inbrunst, die solch aufrüttelnde, seelenentzückende +Schau in ihm entflammt hatte, die küßte er der zierlichen Asta Thöny auf +den feuchten, bebenden Mund ... Es war ein toller Märchenrausch von +Begeisterung und Liebe, in dem die Tage, die Nächte dahinrasten. Und so +ganz versunken war alles, was sich nicht der Erinnerung aufdrängte, daß +er nicht ein einziges Mal auf den Einfall gekommen war, sich nach dem +armen Valentin Pilgram umzusehen, mit dem er doch drei Semester lang die +gleichen Farben getragen -- der aus dem Korps geschieden war um eines +Entschlusses willen, den er heiß bewunderte wie alle Korpsbrüder ... Er +wußte, die andern pflegten eifrig den Verkehr mit dem ausgeschiedenen +Freunde -- er nahm sich täglich vor, ihn aufzusuchen, und täglich vergaß +er's in seinem Taumel von Sehnsucht und Erfüllung, Erfüllung und +Sehnsucht ... + +Ja, Erfüllung ... und Sehnsucht ... Denn wenn Hans Thumsers flaumige +Jugend in Asta Thönys schimmernden Armen lag, dann am heißesten +verlangte seine Seele nach der andern, die Abend für Abend die ganz +großen, ganz lichten Visionen der Dichter verkörperte, statt jener +kleinen, sündigen, irdischen Geschöpfe, die Asta Thönys Kunst umspannte +... + +Aber außerhalb der Bühne hatte er sie niemals wieder zu sehen bekommen +-- Jucunda, die allvergötterte. Es war ein förmliches Jucundafieber +ausgebrochen unter der Leipziger Jugend, der männlichen wie der +weiblichen, der akademischen wie der Philisterwelt ... Allabendlich +schritt die Künstlerin durch ein jubeltrunkenes Spalier ihrer Verehrer +zu ihrem Wagen -- nach jeder Premiere wiederholte sich die gleiche +Komödie. -- Der Kutscher strängte die Gäule schon vorher ab und stellte +sie auf Seite und sich daneben, damit ihm die Tiere nicht ganz verrückt +wurden und er selber ohne blaue Flecke vom Bock herunterkäme ... + +Und Liebesbriefe ohne Zahl, voll ungelenker Gedichte, stammelnder +Mädchenverzückung und kecker Jungmännerwerbung flatterten in das +bescheidene Kämmerchen an der Katharinenstraße ... + +Selbst die Waffenstudenten, deren Gesichtskreis doch sonst mit ihren +Couleurangelegenheiten völlig ausgefüllt war, wurden in den allgemeinen +Theatertaumel mit hineingezogen. Wenn Jucundas Triumphwagen mit seiner +keuchenden, brüllenden Bespannung durch die Straßen südlich des +Königsplatzes der Altstadt zurollte, dann blinkten in der Schar der +Ziehenden und der Geleitenden die Mützen der Korps neben denen der +Burschenschaften, der Turner neben denen der Landsmannschaften -- Arion +und Paulus wetteiferten mit dem heiligen Wingolf im Dienste der +Jucundabegeisterung ... Es war wie im Paradiese, da das Lämmlein bei dem +Tiger weidete ... + +Und der regelmäßigste Besucher war der Gast der fest abonnierten +Proszeniumsloge vorn links vom Schauspieler, neben der Direktionsloge +... war der Erbprinz von Nassau-Dillingen. Zu jeder Premiere schleppten +die herzoglichen Leibdiener ein kostbares Blumenarrangement von +schier unermeßlichen Dimensionen auf die Bühne, daran ein Kuvert mit +geprägtem Wappen hing ... Es enthielt des Erbprinzen Visitenkarte, +darauf immer nur die Worte: »In Verehrung« ... geschrieben in einer +unausgeschriebenen Knabenschrift. Niemals aber hatte sich Jucunda +künftighin über den leisesten Versuch einer Annäherung zu beklagen +gehabt. + +Und Jucundas Dank beschränkte sich stets auf den Hofknix vor der ersten +Parkettloge links ... + +»So ist's recht, Langbeinchen,« sagte Franz Burg mehr als einmal zu der +jungen Freundin -- »so muß man's machen: hübsch in Distanz halten die +hochgeborenen Verehrer -- aber keinesfalls wegöden ... das hat keinen +Sinn -- immer warm halten -- man kann nie wissen, wozu man so etwas +einmal brauchen kann ...« + +Und Jucunda begriff. Es blieb doch nicht nur bei dem Hofknix. Wie jeder +andre Spender einer Blumengabe bekam auch Erbprinz Heribert ein paar +Dankesworte auf goldgerändertem Kärtchen ... Anfangs waren's nur drei +konventionelle, schematische Zeilen ... Bei der dritten Spende aber +stellte sich ein Zusatz ein: + + »Sie beschämen mich, Durchlaucht, -- ich weiß nicht, wodurch ich + soviel gnädige Anteilnahme verdient habe.« + +Das nächste Mal enthielt das wappengeprägte Kuvert an der riesigen +Seidenschleife, die in den Nassau-Dillingenschen Landesfarben von einem +riesigen Lorbeerrade niederrauschte -- enthielt das Kuvert ein Briefchen +von zwanzig Zeilen: + + »... Sie sind mir böse gewesen, und ich muß leider zugeben, nicht ganz + ohne Grund, obwohl ich für die geschmacklose Form der Huldigung, die + Ihnen in meinem Namen überreicht wurde, nichts kann. Sind Sie wieder + gut? Ich bitte Sie um ein Zeichen ...« + +In der Premiere des »Wintermärchens«, die kurz auf dies Briefchen +folgte, lockte der tumultuarische Applaus nach der Gerichtsszene die +eben hinter den Kulissen gestorbene Hermione-Jucunda auf die Bühne ... +Und wieder schleppten livrierte Diener eine weißleuchtende Kaskade von +rieselnden Chrysanthemen heran ... Da zog Hermione aus dem Blütenschwall +eine ganze Handvoll der märchenhaften, hundertstrahligen Blumensterne +und steckte sie an ihre Brust, um sich dann erst mit feierlichem Lächeln +im tiefen Hofknix zu neigen gegen die Proszeniumsloge vorn links vom +Schauspieler ... + + +Also Hans Thumser durfte statieren -- mit hoher Genehmigung des Herrn +Ersten Chargierten. Er ging sonach eines Morgens um zehn nach dem +Fechtboden zum Bureau des Carolatheaters und meldete sich als Statist +für »Wallensteins Tod«. Er wurde sofort und freundlich angenommen. Denn +es war hier wie immer und überall: Nach den ersten Tagen der +Begeisterung waren von den angeworbenen und mühsam eingedrillten +Komparsen viele Dutzende abgefallen, hatten sich schriftlich +entschuldigt oder waren einfach weggeblieben. Er mußte gleich in die +Probe. Es handelte sich nur um zwei Szenen: die große Kürassierszene am +Schluß des dritten Aktes und die Mordszene am Ende des fünften. + +Vom Bureau aus schickte man Hans Thumser auf die Bühne. Aber den Weg +mußte er sich selber suchen und erfragen. Er wurde durch sechs bis acht +verschiedene Türen gewiesen, kam sechs- bis achtmal an das weglose Ende +dunkler, verschlossener Korridore, stieß sich die Schienbeine wund an +allerhand unbeschreiblichen, geheimnisvollen Gegenständen, welche in der +Finsternis herumstanden ... Endlich fand er ein eisernes Pförtchen, an +dem in Weiß die Aufschrift stand: Zur Bühne ... und voll Ehrfurcht trat +er in einen hohen, frostigen Raum, in dem im halben Tageslicht ein +Gewirr von hölzernen Lattenrahmen, mit grauer Leinwand überspannt, +erkennbar war. An diesen Wänden war vielfach die aufgepinselte Inschrift +zu erkennen: »W. T. III. Saal.« + +Man wies ihn an, eine hohe bretterne Treppe hinanzuklimmen, auf deren +oberem Podest er plötzlich ein seltsames Schauspiel sah: eine Wand wie +ein riesiges, aus zahllosen kleinen Scheiben bestehendes Fenster, hinter +dem der Treppenpodest wie eine lange Galerie sich hinzog. Das +Glasfenster lief jenseits der Treppe in eine eichene Tür aus, von der +aus dann eine andere Treppe zum Bühnenpodium hinunterführte ... Diese +Treppe aber war im Bogen geschweift und aus massivem, dunkelgebeiztem +Eichenholz mit schwerem Renaissancegeländer -- wenigstens sah sie so +aus. Unten ein dunkler, wuchtiger Saal mit Kamin, Gobelins, gepolsterten +Bänken an den Wänden, und da standen an siebenzig jüngere Männer und +lauschten andächtig der Instruktion des Oberregisseurs Burg. + +»Aha -- noch 'n Kürassier?« unterbrach dieser seinen Vortrag. »Kennen +Sie 'n Wallenstein?« + +»Auswendig ...« + +»Um so besser ... + + »Geselle Dich zu uns -- komm hier! + Es ist ein pudelnärrisch Tier ...« + +Also bitte weiter zu hören, meine Herren. Ihr wollt Euren geliebten +Oberst Max -- hier steht er, Barthel ist sein Name, Alexander Barthel, +na, Ihr werdet doch unsern großen, schönen Alexander kennen?« + +»Ja! ja!« murmelten die Kürassiere mit Begeisterung. + +»Also den wollt Ihr dem Friedländer -- das heißt mir! -- entreißen ... +Ihr bildet Euch nämlich ein, ich hielte ihn in Gefangenschaft. Einzeln, +truppweise strömt Ihr herein, und wie Ihr in den Saal kommt, seht Ihr +etwas ganz Unerwartetes: Euer Kommandeur ist nicht gefesselt, sondern +frei: nicht ich halte ihn, sondern etwas anderes, der stärkste Magnet, +den es gibt, natürlich ein Frauenzimmer: die da, meine Tochter Jucunda, +ich wollte sagen Thekla ...« + +Ein weißer Schatten im halbdunklen Raum: sie, die Erträumte, von tausend +Sehnsuchtsgedanken Umschwärmte, die Verkörperung des Mädchenideals +deutscher Jugend im neunten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts ... +da stand sie im fußfreien grauen Rock, eine schlichte graue Bluse um den +festen Oberkörper ... + +»Nun stutzt natürlich jede Gruppe,« fuhr der Oberregisseur in seiner +Instruktion fort, »und es verstummen die Rufe, mit denen Ihr einander +angefeuert ... Die erstaunten Blicke gehen von ihm zu mir, von mir zu +ihr -- befangen flüstert einer dem andern zu, was er sich bei der Sache +denken mag ... und so steht Ihr schweigend, mit gesenkten Schwertern ... +nichts ist vernehmbar, als das leise Rascheln der eisernen Rüstungen -- +bis Euer Führer sich an Euch wendet und Euch warnt, ihm zu folgen. -- +Schlagen Sie an, Barthel!« + +Und der schöne Alexander trat einen halben Schritt vor, sprach lächelnd, +mit halber Stimme: + + »Bedenket, was ihr tut! Es ist nicht wohlgetan, + Zum Führer den Verzweifelten zu wählen -- + Ihr reißt mich weg von meinem Glück -- wohlan, + Der Rachegöttin weih' ich Eure Seelen ...« + +»Bitte halt!« unterbrach Burg. »In diesem Augenblick richtet sich jeder +auf, die Augen blitzen mutig den Führer an: Herr befiehl! Wir sind Dein +-- führ' uns in die Schlacht, führ' uns in den Tod, wir folgen Dir ... +Das geht wie ein Ruck durch die ganze eisenstarrende Gesellschaft durch, +versteht Ihr? Und nun weiter, Barthel!« + + »Ihr habt gewählt zu eigenem Verderben -- + wer mit mir geht, der sei bereit zu sterben!« + +so schmetterte der schöne Barthel heraus, berauscht von der klingenden +Herrlichkeit seines erzenen Organs. + +»So -- und auf dies Wort wirft er sich herum und stürzt sich in Eure +Mitte -- mit einem einzigen Aufschrei des Jubels, des wilden, +todbereiten Jubels umringt Ihr ihn, so daß die Eisenmasse ihn +gewissermaßen einschluckt, die Schwerter schießen in die Höhe wie eine +schäumende Flut, die über seinem Helmbusch zusammenschlägt ... Noch +einmal taucht er auf, als er in Eurer Schar die Treppe hinaufstürzt, Ihr +hinter ihm drein; der Schwall wälzt sich durch die Galerie, im Gedränge +werden ein paar Glasscheiben eingestoßen und klirren schneidend in das +Getös des Sterbejauchzens, der Hörner hinein, die von drunten zum +letzten Kampfe werben -- und denn Vorhang und aus!« + +Mit sprühenden Augen, mit langhin malenden Gesten seiner hageren Arme +hatte der Oberregisseur die ganze ungeheure Szene aufgebaut vor den +Augen der lauschenden Statistenlehrlinge ... die brachen nun in lauten +Beifall aus, als ihr Meister aus der hinreißenden Beredsamkeit in einen +trockenen Ulkton am Schluß fiel ... + +»So, Herrschaften, nun zählt mal von vorne nach hinten ab, und jeder +merke sich genau seine Zahl!« + +Dann wurden die zweiundsiebenzig in sieben Gruppen eingeteilt nach der +Nummer, und jede bekam ihr Stichwort zugeteilt ... »Scheidet -- Gott!« +hieß dasjenige für die erste Gruppe -- »Dein ewig teures und verehrtes +Antlitz« das für die zweite -- und so fort. Und dann mußten sie alle +über die breite Renaissancetreppe zurück -- »damit Ihr Euch an die +Stufen gewöhnt,« -- und draußen in der Dunkelheit wurden sie vom +Inspizienten zu einzelnen Klumpen zusammengeballt und aufgestellt ... + +»Sind Sie fertig, Ruperti?« klang dann Burgs Stimme von drinnen. »Ja? Na +dann bitte -- ich fange an: Dreiundzwanzigster Auftritt, ich komme mit +Illo und Buttler die Treppe hinunter --« + +Und nun herrenhaft, mit grollendem Erzklang in der Stimme. »Terzky!« + +»Mein Fürst!« antwortete drinnen eine andere Stimme, erregt, geschmeidig +-- + + »Laß unsre Regimenter + Sich fertig halten, heut noch aufzubrechen, + Denn wir verlassen Pilsen noch vor Abend ...« + +Und auf einmal war alles im Fluß. Der Zauber wirkte, der ungeheure, dem +einst der zitternde Knabe erlegen war, im Barmer Stadttheater, auf dem +Eckplatz des zweiten Ranges ... nur daß der Jüngling nun hineinschaute +in das Innere des komplizierten Mechanismus, der das Wunder wirkte ... +und eine dumpfe Sehnsucht sprang auf -- diesen geheimnisvollen Apparat +einmal aus eigener Machtvollkommenheit heraus zum Funktionieren zu +bringen ... + +Gott ... welch ein Gedanke ... selbst einmal etwas zu schaffen aus der +Magie des eigenen Innern heraus ... etwas, das die hundert Geister +dieses dunklen Heerbannes zur Tat, zur Heeresfolge zwingen könnte ... + +Scheuer Knabentraum, bist du mehr als nur ein Traum -- bist du die +mystische Vorahnung kommender Kraft, der Vorklang künftigen Schicksals?! + +Und Gruppe auf Gruppe der jungen Männer wurde vom Inspizienten +losgelassen, tobte die Treppe hinauf, erstarrte droben in staunender +Verständnislosigkeit, schob sich dann scheu und verhalten drüben die +breite Treppe hinunter in den Saal, wo Max Piccolominis todgeweihte +Liebe ihren letzten Verzweiflungskampf mit dem Dämon der Eidespflicht +ausfocht ... + +Freilich, manchesmal empfing sie drunten ein Hohngelächter des +Spielleiters. + +»Ne, Kinder, so geht das nicht -- Ihr seid ja keine Verbrecherbande ... +Ihr macht ja auf einmal Gesichter, als hättet Ihr alle einen Sack +silberne Löffel gestohlen! Ihr seid Soldaten, wüste Kerle, schlichte +Burschen, die nicht recht verstehen, weshalb man eines Mädels wegen +soviel Umstände macht ... dazu ein Rest von Scheu vor dem geliebten, +gefürchteten Auge Eures Feldherrn, 'das Eure Sonne war in heißer +Schlacht' -- aber vor allem doch Trotz, Empörertrotz, verhalten, +verbissen, gedämpft, aber Entsetzen einflößend, Schauer aushauchend, +kalt wie das blanke Eisen in Eurer Faust -- so will ich's haben, so hat +der Schiller sich's gedacht!« + +Das alles klang nur durch die bemalten Lappen hindurch an Hans Thumsers +Ohr. Denn er gehörte ja zur allerletzten Gruppe ... er würde nicht viel +mehr zu sehen bekommen ... und er ahnte nur die Gegenwart des Mädchens, +um dessen Bild all seine Gedanken kreisten, ihr Bild, das ihm die Seele +dieser wundersamen Kunst erschien, die aus Schein und Flitter das +ungeheure Widerspiel des Lebens webt, wahrer als alle Wirklichkeit, +tiefer als alles reale Erdengeschehen ... + +Als er so in stummem Lauschen den Gang der gigantischen Maschine +verfolgte, die das werdende Werk schuf -- da sah er plötzlich aus der +Gruppe sechs ein Augenpaar mit hartem, feindlichem Ausdruck zu sich +herüberblitzen. Es waren Valentin Pilgrams Augen ... + +Im Nu war er an der Seite des einstigen Korpsbruders. + +»Pilgram, Du? Also endlich ... endlich seh' ich Dich mal wieder ...« + +»Hm ... hat Dir wohl wenig dran gelegen -- sonst hättest Du das +Vergnügen früher haben können ...« + +»Hast ganz recht, es ist meine Schuld ... es ist ein Skandal, daß ich +mich so gar nicht um Dich gekümmert habe ... Aber wenn Du wüßtest ... +ich will mich auch bessern, sei mir nicht bös ... Und nun sag' nur, wie +kommst Du hierher?« + +»Das könnte ich Dich fragen,« sagte Pilgram hart. + +»Nu -- ich ... Du weißt doch, daß ich Dich selber seinerzeit schon um +Erlaubnis gebeten hatte -- Du wolltest nicht ... Na, nun haben wir den +Volkner, der ... denkt ein bißchen anders über solche Sachen ...« + +»Jawohl ... und seid mich glücklich los ... gratuliere.« + +»Aber Pilgram! Du weißt doch, wie furchtbar leid es uns allen getan hat +...« + +»Dir auch?!« fragte Pilgram finster. + +»Ich versteh Dich nicht, Pilgram ... so wie Du und ich doch immer +miteinander gestanden haben ...« + +»Hm ... wenn Deine korpsbrüderlichen Gefühle für mich ... echt gewesen +wären ... dann hätten sie sich wohl ein bißchen besser gehalten ...« + +»Aber Pilgram --!« + +»Ruhe, meine Herren!« fuhr der Inspizient dazwischen. »Sie da, Sie +gehören doch überhaupt zur Gruppe sieben -- nu bleiben Sie gefälligst +aber auch bei Ihrem Haufen! Ausquatschen können Sie sich ja genügend, +wenn's hier aus geworden ist!« + +»Wir sprechen uns noch!« sagte Thumser und trat zu seiner Gruppe zurück. + +Himmel -- was hatte der Pilgram nur? Und wie schrecklich er sich +verändert hatte in den wenigen Tagen seit seinem Austritt aus dem +Korps ... Die Augen, tiefumrändert, waren in ihre Höhlen gesunken ... +der sonst so peinlich korrekte Anzug vernachlässigt ... die früher +straffen und sicheren Bewegungen unruhig und zerfahren ... + +Und Valentin Pilgram fragte sich: Wie ist es möglich, daß ich es bis +heute ausgehalten habe, diesen falschen Hund nicht zu stellen? -- Es +kann ja nur sein böses Gewissen sein, das ihn von mir ferngehalten +hat ... alle die Tage, die zwei Wochen seit ... damals ... + +Ha, warum hatte er's nicht getan? Aus Furcht vor ... einer neuen +Uebereilung ... einer neuen Blamage ... + +Daß Thumser seine Hand in dem schändlichen Spiele gehabt haben müsse, +das man ihm gespielt, das war ja klar. Der Briefbogen mit dem +Frankenzirkel und dem H. T. auf der Rückseite und mit Jucundas +Absagebrief auf der Vorderseite -- das war ja doch ein untrüglicher +Beweis. Mit Jucundas Absagebrief! Ja, ein Absagebrief, das war's, und +nichts andres! Die glatten, gleißnerischen Dankesworte, ihn, den +Desillusionierten, blendeten sie nicht mehr. Er verstand, sie hatte ihn +verleugnet, er hatte sie verloren. Aber wie kam der andere dazu? Welche +Rolle hatte er gespielt in dem Gewirr von Ränken und Tücken, von denen +Valentin Pilgram sich umstrickt sah? Das war nicht zu erraten und nicht +zu erfahren ... Und aufs Geratewohl abermals unbedacht zufahren mit +einem züchtigenden Wort, einem rächenden Schlag -- Valentin Pilgram +besaß nicht mehr die frühere Sicherheit des Handelns, seit sein Instinkt +ihn so schmählich in die Irre, in die Wirrnis, in die lächerliche +Don-Quichottiade hineingestoßen hatte. So hatte er von einem zum andern +Tage gewartet und gewartet in der dumpfen Hoffnung, daß irgend etwas +sich ereignen würde, das ihm Klarheit gäbe ... Er hatte auf ein +Wiedersehen mit Jucunda, auf einen Besuch Thumsers gehofft, auf eine +Aussprache mit ihr und mit ihm, in deren Verlauf er brüsk und +kategorisch die Frage hätte stellen können: Wie war das möglich? Wie ist +dieser Brief auf dieses Blatt geraten? Erklärt mir den Zusammenhang, +zerstreut meinen grausamen Verdacht und bekennt, bekennt und empfangt +den Lohn, den Euer Verrat verdient! + +Aber nichts von alledem war geschehen. So häufig er den teilnahmsvollen +Besuch seiner ehemaligen Korpsbrüder erhielt, so oft er mit ihnen am +dritten Orte zusammentraf -- der schlanke Fuchsmajor blieb aus. Und +Jucunda? Sie war wie aus der Welt verschwunden. Wohl hörte er abends ihr +Heimkommen aus dem Theater, ihr herzhaftes Gähnen, den energischen +Plumps, mit dem sie sich arbeitsmüde auf ihr krachendes Bettchen warf, +und nachts, wenn er sich schlaflos auf seinem Lager wälzte, ihr +geruhsames, selbstzufriedenes Schnarchen ... denn bei Gott, sie +schnarchte wie ein Mann ... Und morgens vernahm er wohl, wie sie leise +ihre Rollen repetierte. Ach, wie gern hätte er noch einmal den sonoren +Alt in seinem vollen Glanze von da drüben schmettern gehört! Aber sie +hatte einen Flor über ihr Organ gebreitet, und er fühlte, das war die +Scheu vor ihm. Und die gleiche Scheu mußte es sein, unter deren Druck +sie es darauf anlegte, ihm um jeden Preis aus dem Wege zu gehen. Es war, +als überwache sie sein Gehen und Kommen und richte ihre eigenen +Ausgänge, ihre Rückkunft danach ein. Oft legte er es geradezu darauf an, +mit ihr im Korridor, auf der Treppe zusammenzutreffen, aber wie ein +Geist war sie dann von hinnen gehuscht, hinter irgend einer Tür +verschwunden, die Treppe hinuntergeschnurrt ... + +Der tolle Wirrwarr von Wut und Sehnsucht, von Ekel und Hingebung, in dem +seine Tage, seine Nächte dahinrannen, trieb ihn immer und immer wieder +ins Theater. Und dann sah und hörte er nichts von dem Stück -- er sah, +er fühlte, er träumte nur Jucunda. In welcher Gestalt, welcher Maske, +welchem Gewande sie auf der Bühne stand, ihm galt es gleich. Er sah +nicht die Künstlerin, er sah nur das Mädchen, dem seine Seele wie sein +Leben verfallen war. Fiebernd, stumpfsinnig harrend ließ er die +Auftritte an sich vorübergehen, bis sie erschien. Von folternden +Schmerzen zermartert und doch an ihr Bild gebannt, weit vorgebeugten +Oberkörpers, verfolgte er jeden Schritt, jede Bewegung, bis sie wieder +die Bühne verließ oder der Vorhang fiel -- er hätte seinen Nachbarn an +die Kehle fahren können, wenn sie fanatisch Beifall trampelten, wenn sie +wie toll ihr »Buchner! Buchner!« riefen ... Und wenn's zu Ende war, dann +stand er draußen unter der harrenden Rotte der Verehrer, den Kragen +seines Paletots hoch aufgeklappt, den Hut tief in die Stirn geschoben, +sah sie vorüberschweben und mit königlicher Gnade ein Lächeln rechts, +ein Lächeln links verteilen, atmete tief und stöhnend auf, wenn der +Wagenschlag klappte, die Pferde anzogen ... Wenn aber nach der Premiere +die schäumende Begeisterung der Jugend abermals den gewohnten Triumphzug +entfesselte, dann stellte sich Valentin Pilgram inmitten derer auf, die +von hinten Jucundas Wagen schoben, und arbeitete im Schweiße seines +Angesichts. Dann war ihm am wohlsten, dann fühlte er sich ihr am +nächsten ... + +Und als er eines Tages auf den Anschlagsäulen ersah, daß der +»Wallenstein« in Vorbereitung sei, da fiel ihm Thumsers Bitte ein, +in diesem Stücke mit statieren zu dürfen. Damals hatte er als Senior +diese Bitte abgeschlagen, nun nickte er sich selbst ein bitter +lächelndes Ja, als eine Stimme in ihm befahl, er solle sich in die Schar +der Pappenheimer Kürassiere mischen, um den Geliebten aus Theklas Armen +und in den Schwertertod hineinzureißen ... Und so war er nun hier, in +dieser pappdeckelnen, bretternen Trödelwand. Nie hätte er sich's träumen +lassen ... Nun war er, der weiland Erste Franconias, ein Statist in +Gruppe sechs ... + +Die Probe ging ihren Gang. + +Wie eines Meisters Hände den bildsamen Ton, so knetete Franz Burgs +zielsichere Regie die Schar der zweiundsiebenzig jungen und älteren +Männer in eine Horde entfesselter Pappenheimscher Soldateska um. Immer +und immer wieder wurde eine Gruppe nach der andern die Treppe hinauf- +und hinuntergejagt, jedes Knurren der Wut, jedes Aufheulen der +Begeisterung wurde einstudiert, jede Bewegung, jeder Blick festgelegt +und in das tausendmaschige Gewebe des farbenleuchtenden Teppichs +eingefügt, den der Szenenmeister vor dem lauschenden Publikum zu +entrollen gedachte. Und immer klarer, immer überzeugender modellierte +sich das Bild des kurzen, erschütternden Vorganges heraus, wie die +todestrunkene Schar der Kürassiere sich ihren Führer aus den +Verstrickungen der Liebespflicht herausholt und ihn auf schäumender Woge +hinwegreißt in Tod und Vernichtung. Keiner spürte Ermüdung, keiner nahm +Anstoß am derbsten Poltern, am spitzigsten Spotte des eisernen Mannes, +der diese Zweiundsiebzig am Drahte seines Willens zappeln ließ wie +ebensoviel Marionetten. + +Und endlich schien's getan: tief aufatmend lachte Franz Burg: »So, +Herrschaften, ich denk', nun könnt Ihr's, jetzt kommt der Tragödie +zweiter Teil: Rüstungen verpassen! Also Pause zum Verschnaufen und dann +gefälligst gruppenweise hinauf zur Rüstkammer, dort laßt Ihr Euch die +klapprigen Konservenbüchsen um den Leib hängen, holt Euch Euren +Eisentopf und Eure Bratspieße -- und denn geht's wieder von vorne los!« + +Da leuchteten die ermüdeten Augen der abgejagten Schar wieder hell auf. +Das hatte ja nur noch gefehlt, das Kostüm, das vollendete die +Verwandlung, das brachte das Letzte an Stimmung, was noch fehlte ... Und +während die Gruppen zwei bis sieben sich plaudernd und lärmend in dem +dunklen Hintergrunde des schwarzgähnenden Bühnenraumes verloren, +kletterte Gruppe eins unter Führung des Inspizienten lachend und +prustend die hallenden Steintreppen hinauf, um droben das Eisengewand +der Pappenheimer anzulegen. + +Hans Thumser hatte sich vergebens den Kopf zerbrochen, weshalb wohl der +Korpsbruder so maßlos gereizt auf ihn sein könne. Himmel ja, er hatte +ihn ja unverantwortlich vernachlässigt in der letzten Zeit -- aber +schließlich war das doch kein Grund, ihn dermaßen hundemiserabel zu +behandeln. Na, man würde nochmals um Entschuldigung bitten, und dann +müßte der arme Kerl doch schließlich Vernunft annehmen. Also, wo steckt +er denn bloß? + +Gruppe sechs -- wo ist Gruppe sechs? jawohl -- alles durcheinander +gewürfelt, alles wie verschluckt von der schwarzen Finsternis dahinten +jenseits des Prospekts. + +Hans Thumser drängte sich durch die Gruppen der »Kürassiere«, rief hin +und wieder halblaut Pilgrams Namen, aber umsonst, der Freund ließ sich +nicht sehen -- schließlich postierte er sich unten an der Treppe, die +zur Rüstkammer hinaufführte. Aber selbst als Gruppe sechs, der er +angehörte, vom Inspizienten zum Empfang der Rüstungen geführt wurde, war +Valentin Pilgram nicht darunter. Es schien, er wolle sich nicht sehen +lassen ... und schließlich konnte Hans das am Ende begreifen: er war +eben böse, weil Hans ihn so schnöde vernachlässigt hatte. Nun, das ließ +sich am Ende nachholen ... + +Und mit ganz wunderlichen Empfindungen ließ sich auch Hans Thumser den +rasselnden Eisenharnisch der Pappenheimer Kürassiere um die +geschmeidigen Glieder schnallen. Es war ja nur Spiel, nur Mummenschanz +-- und doch, welch sonderbare Macht lag in diesem starren Eisengewand, +lag überhaupt im Kostüm! Hans meinte ordentlich zu fühlen, wie er ein +anderer wurde, wie schlichte, rohe und starke Gefühle aus +jahrhundertfernen Tiefen sich an die Oberfläche seiner Seele drängten, +wie er verschmolz mit der gepanzerten Schar seiner Gefährten ... + +Und nun hinunter! Die matt erhellten Korridore, der stockfinstere Raum +hinter dem Prospekt war nun von geheimnisvollem Rascheln und Klirren +erfüllt. Es war, als sei der Geist der Wallensteinschen Soldateska über +die ganze junge Schar gekommen: rauher und härter klangen die Stimmen, +derber und knapper die Scherze, das Gelächter. + +Und von neuem begann die Probe. Teufel! war das schwer, sich in diesem +niederwuchtenden Gewand, in den kolossal steifen Stulpenstiefeln zu +bewegen, den mächtigen Pallasch mit dem breit ausladenden Stahlkorb +nicht zwischen die Beine zu bekommen! Und nun gar die Treppen hinauf, +hinunter! Da verhedderte sich mancher in den handlangen stählernen +Sporen, stolperte, krachte zu Boden und mußte schwerfällig, wie eine +Schildkröte, von den Kameraden aufgerichtet werden. + +Und unten auf dem Podium inmitten des Schloßsaales stand Franz Burg und +hielt sich beide Seiten vor Lachen ... und neben ihm im Halbkreis +gruppiert: Thekla, Terzky, Illo, Buttler, Max Piccolomini -- und alle +lachten sie sich schier zu Tode über die stolpernde, prustende, +schwitzende Kürassiergarde. + +Und doch, allmählich klärte sich auch dies neue Chaos. Und endlich sagte +Franz Burg: + +»So, meine Herrschaften, nun fangen wir richtig zu probieren an! Also +bitte, Kürassiere von der Bühne, die Soloherrschaften an ihre Plätze!« + +Und abermals stand die harrende Schar der Eisenreiter im Hintergrunde zu +Füßen der schmalen Holztreppe versammelt -- und abermals klang's von +drinnen herrenhaft in grollendem Erzklang: + + »Terzky!« + »Mein Fürst!« + »Laß unsre Regimenter + Sich fertig halten, heut noch aufzubrechen, + Denn wir verlassen Pilsen noch vor Abend.« + +Und Gruppe auf Gruppe erhielt ihr Stichwort, Gruppe auf Gruppe klirrte +die Treppe hinauf, strudelte die Galerie entlang, ergoß sich in den Saal +hinab ... + +Als aber Gruppe sechs aus dem Finster der Bühnentiefe die Treppe +hinanstieg, sah Hans Thumser, daß Pilgram doch noch vorhanden war. Seine +riesige Gestalt, sein hartes Herrengesicht standen vortrefflich zu der +blanken Wehr -- aber kein Blick für den einstigen Korpsbruder ... + +Was er nur haben mochte? -- Das war doch Kinderei, so offiziell zu tun. + +»Also Gruppe sieben!« zischte der Inspizient. »Los! Los!« + +Und Hans Thumser keucht die schmalen Stufen empor, stößt wie die +Kameraden rauhe gurgelnde Töne aus, stutzt droben am Treppenrande, +stutzt und verstummt ... + +Aber nicht nur, weil es so probiert ist ... Im gelben Lichte +der Proberampe sieht er drunten Jucunda Buchners schmales +Prinzessinnengesicht ... aber jetzt nicht mehr wie vorhin, von Lachen +und Schelmerei gerötet -- nein, nun ist sie plötzlich Thekla, +das verzweifelnde Kind, das Liebe, Glück, Leben versinken sieht in +den eisenschäumenden Wogen des Schicksals. So abgrundtief, so +herzdurchbohrend der Ausdruck des Schmerzes auf ihren tränengefurchten +Wangen -- Hans Thumser kann den Blick nicht lassen von diesem Bild +adligen Grams ... + +Aber die Masse der Kameraden schiebt ihn vorwärts -- und plötzlich fühlt +er keinen Boden mehr unter seinen Füßen, er strauchelt, schlägt krachend +nach vorn, alle Glieder knacken -- tausend Feuerräder kreiseln in seinem +Hirn -- ein lauter Aufschrei übertönt das Knacken und Klirren der +hundert Eisenringel, die seine Glieder umschlossen halten und im Sturz +in Schulter und Schienbein sich hineinzwängen -- und dann nichts mehr. + +Eine hilflose Masse, so war des Studenten Körper die fünfundzwanzig +Stufen der Freitreppe hinuntergekollert, anfangs noch ein wenig +aufgehalten durch die Schienbeine seiner Vordermänner, dann aber, als +alles instinktiv zur Seite sprang, ganz hemmungslos. Nun lag er bleich, +mit geschlossenen Augen am Fuß der Treppe. Die Sturmhaube war ihm vom +Kopf gefallen und in weiten Sprüngen ihm voran in den Saal +hineingehüpft. Einen Augenblick hatte alles vor Schrecken erstarrt +gestanden, nun sprangen fünf, sechs der nächststehenden Kürassiere zu +und richteten den schwerfälligen Körper auf. + +Durch den Wall der Geharnischten aber drängte sich Jucunda Buchner +hindurch. Sie hatte den Jüngling straucheln und vornüber stürzen gesehen +und in dem Augenblick sein Gesicht erkannt, ohne daß sie gleich wußte, +woher. Nun kniete sie neben dem aufgerichteten Oberkörper des Studenten +nieder, umfaßte seine Schultern und legte seinen zerschundenen Kopf +behutsam auf ihr Knie. Und da schlug Hans Thumser die Augen auf -- und +in diesem Augenblick wußte Jucunda, wo sie diesen leuchtenden Blick +schon einmal gesehen hatte -- der junge Poet ... er, neben dessen +»schwindelschmalem Pfade Abgründe klafften rechts und links« -- nun, in +einen dieser Abgründe war er nun glücklich hineingeplumpst ... freilich, +es schien ihm ganz gut bekommen zu sein, denn mit einem zufriedenen +Lächeln schloß er die erstaunten Augen, reckte sich ganz behaglich und +machte sich's ordentlich bequem auf dem weichen Kissen, auf das er sich +gebettet fühlte. + +Und nun löste sich der allgemeine Schreck in ein befreites Aufatmen. Da +schlug der Student die Augen abermals auf, und nun schien ihm das +Komische seiner Situation bewußt geworden zu sein: mit einem Ruck +richtete er den Oberkörper auf, sprang auch sofort auf die Beine und +reckte die Knochen. + +»Na? Kein edlerer Teil entzwei?« fragte der dröhnende Baß des +Szenenleiters. Hans Thumser versuchte sich diejenige Stelle seines +Körpers zu reiben, welche bei dem Fall am meisten in Mitleidenschaft +gezogen war, aber das gelang ihm nicht -- sie war zu gut gepanzert ... + +Nun brach ein endlos dröhnendes Gelächter aus, dazu rasselten die +Rüstungen der Pappenheimer, die sich die eisenbewehrten Bäuche hielten. +Am hellsten aber lachte Jucunda. In einer raschen Wallung trat sie auf +den jungen Burschen zu und klopfte ihm mit beiden Händen die glühenden +Backen. + +»Dunnerwetter!« tönte da aus den Reihen der Kürassiere eine neiderfüllte +Stimme. »Ich wär' nächstens ooch mal de Treppe 'nunner purzeln!« + +»Na, ich dächte, nach diesem kleinen Zwischenfall probieren wir weiter!« +rief Burg, »also alles zurück, meine Herrschaften, und noch einmal von +vorne!« + +Hans Thumser war's nun aber doch zumut, als klapperten alle seine +Knochen einzeln und lose in dem großen Blechtopfe durcheinander, der sie +einschloß -- und er bat um die Erlaubnis, sie wieder zusammenzusuchen. + +Als dies gewährt worden war, trat er vorn an die Proberampe und kam +neben Jucunda zu stehen. Die lachte ihn an und flüsterte ihm zu: + +»Ich habe ja so lange nichts mehr von Ihnen gehört -- warten Sie nach +der Probe auf mich -- ich möchte wissen, wie es Ihnen inzwischen +ergangen ist!« + +Da wurde es Hans Thumser klar, daß er wieder mal mehr Glück als Verstand +gehabt hatte ... + +Noch eine weitere halbe Stunde voll schwitzenden Bemühens -- dann war's +geschafft. Und nun harrte der Student am Bühnenpförtchen seiner Göttin. +Er drückte sich in den dunklen Schatten der Donnermaschine und ließ den +Schwall der Geharnischten an sich vorüber strudeln. Und endlich kam sie +-- kam nicht allein, sondern am Arm der majestätischen Kollegin Frau +Anna Cederlund, welche die Gräfin Terzky spielte. Im ersten Augenblick +verließ den Studenten der Mut ... Als aber die beiden ragenden +Frauengestalten an ihm vorüberschritten, ohne ihn zu bemerken, da +sprach's in ihm: Sei kein Narr! Und er schoß aus seiner Finsternis +hervor, daß die Frauen ordentlich zusammenschraken. + +»Gnädigste haben mich zu sprechen befohlen!« + +»Ah, sieh da, Herr Dummerle! Nun? Was macht die Poesie? Gestatten Sie, +Annerl -- Herr Studiosus Dummerle, dichtet -- hat immer die Nase in der +Luft und purzelt deswegen mit Vorliebe die Treppen hinunter -- meine +Kollegin, Frau Cederlund. Ja, also was fang' ich nun mit Ihnen an? +Wissen Sie was? Sie könnten ja auch mal zu mir zum Tee kommen -- wollen +Sie?« + +»Darf es heute sein?« antwortete Hans Thumser. + +»Aber warum denn nicht? Also um fünf -- soll's gelten?« + +Hans Thumser konnte sich nur stumm verneigen -- tief, tief auf die +schlanke Hand, die sich ihm entgegenstreckte -- und dann war's vorbei +... + +Und wie ein Begnadeter stolperte Hans Thumser die hallenden Steintreppen +zur Rüstkammer hinauf, um sich aus einem Pappenheimer wieder in einen +Fuchsmajor zu verwandeln. Zwei Minuten aber, nachdem das Eisenpförtchen, +das vom Bühnenraum zum Garderobenumgang führte, hinter ihm zugeklappt +war, löste sich aus dem Dunkel der Kulissen noch eine zweite +Kürassiergestalt los. Die einsame Glühbirne, die am Inspizientenpulte +brannte, beleuchtete ein finstres, verzerrtes Jungmännergesicht unter +dem tiefschattenden Doppelschirm der Sturmhaube: es war das Gesicht des +weiland Ersten der Franconia. + + + + + 11. + + +Asta Thöny war ein wenig eingenickt nach dem bescheidenen Mittagsmahl, +das Frau Wehe ihr aufgetischt. Nun fuhr sie empor, flog ans Fenster, +steckte den glühenden Kopf hinaus und klatschte jubelnd in die Hände, +als sie die ersten Schneeflocken durch das mürrische Grau der +Sophienstraße wirbeln sah ... + +Köstlich! köstlich! Würde das ein fröhliches Streifen werden mit dem +geliebten Jungen durch dies wattige Weiß hindurch an der graulich +gurgelnden Pleiße entlang! Sie wußte, wie gut ihr die prachtvolle +Sealskingarnitur stand, das splendide Andenken ihres Rittmeisters in +Gera ... Und nun schmückte sie sich nach Herzenslust für den Leipziger +Freund. Ob er wohl schon daheim war? Sie klopfte an die Wand -- keine +Antwort. Na, er würde schon nicht auf sich warten lassen, um vier Uhr +hatte er ja versprochen sie zum Spaziergang abzuholen. -- Aber es wurde +vier -- und kein Hans Thumser! Na, vielleicht war er schon längst zu +Hause und lag drüben auf seinem Kanapee in den geliebten +Nachmittagsschlaf versunken. Sie hatte eine Tüte Pralinees für ihn +gekauft, sie kannte seine schwache Stelle. Die steckte sie in die +Jackettasche, hüpfte zur Tür hinaus und pochte an die seine; da keine +Antwort kam, klinkte sie auf -- und richtig -- da lag er auf dem Sofa, +lang hingestreckt, in Hemdsärmeln, das blinkende Korpsband über der +Weste. Auf Zehen schlich sie heran und hielt ihm die duftende Tüte unter +die Nase. Da schlug er blinzelnd die Augen auf, lachte sie fröhlich an +und breitete die Arme aus -- mit einem leisen Jauchzen warf sie sich +hinein. + +Nachdem sie sich satt geküßt, richtete sie sich stramm auf und befahl: + +»So, nun antreten zum Spaziergang!« (Die militärischen Allüren ihrer +jüngsten Vergangenheit saßen ihr noch in den Gliedern.) + +Aber statt des erwarteten Entzückens trat in Hans Thumsers Züge +plötzlich eine peinliche Befangenheit, und ein Erröten stieg ihm langsam +in die Augen. + +»Nun, was ist Dir?« + +»Liebes Kind, ich bin trostlos ... Spaziergang ist nicht.« + +»Was ist das? Was fällt Dir ein!« + +»Ja ... ich ... ja ... ich ... es tut mir entsetzlich leid ... aber ... +wir haben heute nachmittag C. C. ...« + +»Das ist abscheulich, Hans! Wie kommt denn das, was ist denn los?! Und +ich hatte mich doch so gefreut, habe mich so hübsch für Dich gemacht, +das hast Du Ungeheuer überhaupt noch gar nicht bemerkt!« + +»Ob ich das bemerkt habe! ... aber -- es tut mir riesig leid, Du weißt, +das Korps spaßt nicht.« + +Asta sah, daß er ihren Blick vermied -- lügen hatte er noch nicht +gelernt. + +»Du, das mit dem C. C. das ist geschwindelt, da steckt was andres +dahinter! Beichte!« + +»Aber nein ... ganz wahrhaftig, Kind, wir haben C. C., Du kannst Dich +drauf verlassen.« + +»Sieh mich an, Hans --! Siehst Du, Du kannst es nicht --« + +»Aber ja ... ich kann's.« + +Nein wahrhaftig, er konnte es nicht. + +»Also heraus damit! Was ist los?« + +Sie stampfte mit den zierlichen Füßen auf, die in mächtigen +pelzbesetzten Boots steckten. + +Hans kämpfte einen Augenblick, dann sah er ihr gerade ins Gesicht mit +dem Ausdruck eines trotzigen Buben, der sich auf einer Schandtat ertappt +sieht: + +»Die Buchner hat mich zum Tee geladen.« + +»Das ist nicht wahr! Das darf nicht wahr sein!« + +»Aber warum soll ich denn nicht auch mal zur Buchner zum Tee gehen?« + +»Weil Du mir gehörst. Das gibt's nicht. Da wird nichts draus.« + +»Ich hab's versprochen.« + +»Dann bleibst Du eben einfach weg. Die Buchner weiß ganz genau, daß Du +mein bist. Es ist eine Niedertracht von ihr -- ich laß mir's nicht von +Dir gefallen!« + +»Und ich laß mir's nicht von Dir gefallen, daß Du über mich verfügst, +wie über ein Spielzeug.« + +»Hans, so darfst Du nicht zu mir sprechen, das weißt Du auch, daß Du +das nicht darfst! Du hast auch ein böses Gewissen dabei!« + +Hans Thumser ging mit drei raschen Schritten ans Fenster und trommelte +an die Scheiben. Wahrhaftig, sie hatte recht -- es war ihm hundeelend +zumute -- nichts als Liebes hatte sie ihm getan, weit über Hoffen und +Träumen hinaus hatte sie ihn glücklich gemacht ... und er -- er hatte +immer über sie hinweg geträumt von der andern. + +»Nun, hast Du Dich besonnen -- kommst Du mit mir?« + +»Ich kann's nicht ... ich hab's versprochen.« + +»Und mir? -- Wem hast Du's zuerst versprochen, mir oder ihr?« + +»Aber Kindchen, das mußt Du doch einsehen ... daß das für mich -- wie +soll ich sagen -- daß das für mich eine große Sache ist ... schließlich +ist sie doch ... die Buchner.« + +»Ach so -- und ich, ich bin nur die Thöny, die kleine Thöny, und sie die +große Jucunda! Hansel, das wird Dir noch mal leid tun!« + +Laut aufweinend stürzte sie hinaus ... die Schleppe ihres Pelzjacketts +fegte die Pralineetüte vom Tisch, und alles kollerte in die Stube. Hans +Thumser mußte aufsammeln. Dabei glühten seine Backen vor Scham. Es war +wirklich hundsgemein von ihm, das herzliebe Mädel so ruppig zu versetzen +-- er fühlte, er hatte sie bis ins Tiefste gekränkt. Mit hundert +Gewalten zog's ihn hinüber, die Tränen von den schönen Augen +wegzuküssen, die ihm so manche Stunde durchsonnt hatten ... und dann +fiel sein Blick auf Jucundas Bild, auf das bronzene Heroinenprofil, das +unterm Helm der Jungfrau so sieghaft leuchtete. -- Und er wußte, daß +zehn Astas diese Stunde nicht aufwiegen würden, die ihm bevorstand. + +Er lauschte -- wieder wie in jener ersten Nacht klang da drüben jenseits +der Doppeltür und der beiden Kleiderschränke, die sie verbarrikadierten, +das herzerschütternde Weinen ... aber diesmal nicht verhalten wie damals +-- nein -- in wilder leidenschaftlicher Empörung. -- Und diese, diese +Tränen hatte er auf dem Gewissen ... + +Und das war so niederträchtig, so infam: daß man im tiefsten Grunde +seiner Seele sogar noch etwas wie eine Genugtuung empfand über diese +Tränen, die man selbst verschuldet hatte. War es nicht eigentlich ein +verdammt stolzes Gefühl, daß man ein Kerl war, um den so heiße +Mädchentränen fließen konnten? + +Hans Thumser warf einen Blick in den Spiegel: also so sieht so ein +verfluchter Gesell aus, um den ein Mädchen wie Asta Thöny -- Tausende +würden ihn beneiden um so einen süßen Kameraden! -- um den so ein +himmelsüßes Geschöpf sich quält? + +Und mit einem verwegenen Ruck stülpte er die grüne Franken-Mütze auf den +braunen Schädel und ging zu Jucunda Buchner. + + +War's nicht eigentlich toll? Hans Thumser war in einer ganz +niederträchtig vergnügten Stimmung, als er durch das wirbelnde +Flockengestiebe den Peterssteinweg, die Petersstraße hinanschlenderte. +Jedem Mädel guckte er verwegen, wie er's nie getan, unters Pelzbarett: +Ja, wenn ihr wüßtet, ihr Leipziger Gänschen --! Eben hab' ich die Asta +Thöny geküßt ... die von den Meiningern, ihr wißt doch! Und nun -- nun +gehe ich zur Buchner ... und wer weiß -- wer weiß! So ein Kerl bin ich, +verflucht nich noch mal! + +Als er den schneebepuderten Marktplatz überquerte und in die +Katharinenstraße einbog, fiel ihm plötzlich ein, daß er ja nun endlich +den Weg zu Valentin Pilgrams Wohnung gefunden habe. Der arme Junge! Ob +der wohl auch schon mal von Jucunda Buchner zum Tee geladen worden war? +Wohl schwerlich -- und doch, was alles hatte der an dies Mädchen gesetzt +... und er --? Er hatte nichts getan, und alles fiel ihm in den Schoß. +Teufel auch -- man war eben ein Poet, ein Götterliebling --! nischt wie +verdammte Pflicht und Schuldigkeit vom Schicksal! + +Ob er den armen Burschen wohl mal aufsuchte? Eigentlich hätte sich's +gehört ... daß er gekränkt war, lag ja auf der Hand nach seinem Benehmen +von heut morgen ... aber freilich ... erst zu Pilgram gehen und dann +sich von ihm verabschieden mit der Erklärung, man sei zu Jucunda Buchner +zum Tee geladen -- das war doch wahrhaftig mehr eine Kränkung, wie die +Dinge nun einmal lagen, als die Erfüllung der längst geschuldeten +Freundschaftspflicht. Also lassen wir's doch lieber ... + +Glücklicherweise, im letzten Augenblick, fiel's ihm ein, daß er ja noch +ohne Blumen war. Er fand eine Gärtnerei, wählte die herrlichsten Rosen, +die es gab, und erschrak nicht im mindesten, als die Verkäuferin ihm +fünf Mark abverlangte. Denn diesmal war's ja in der ersten Hälfte des +Monats und nicht Ultimo, wie damals, als er mit dem gepumpten Markstück +ein Dahliensträußchen für Asta erstand ... Und so bewaffnet bis an die +Zähne kletterte er die wohlbekannten Stufen im dunklen Treppenhause +empor und zog die gellende Klingel an der Korridortür des Kanzleirats +Buchner. + +Eine stattliche Frau öffnete ihm. Er erkannte in ihr sofort Jucundas +Begleiterin von jenem ersten Triumphzuge wieder. Alle Wetter ja, seine +Idee von damals hatte Schule gemacht ... das blitzte ihm so durch den +Kopf, als er seiner Führerin durch den dunklen Korridor folgte, bis sie +haltmachte und anklopfte. + +»Bist Du es, Mutter?« tönte von drinnen die wohlbekannte Stimme ... die +Stimme, die durch sein Wachen und seine Träume klang. So hatte sein +junges Herz noch niemals an die Rippen gehämmert ... auch nicht bei +Beginn des Abiturienten-Examens ... auch nicht vor der ersten Mensur. + +»Hier ist der Herr, wo Du zum Tee hast eingeladen!« + +»Herein -- nur herein!« + +Die Tür sprang auf, und als dunkle Silhouette gegen die schimmernd +weißen Vorhänge abgehoben, stand Jucunda. Mit ausgestreckten Händen kam +sie ihm entgegen: + +»Wie freue ich mich! -- Die Poesie bei mir zu Gast ... das ist das +erstemal. Laß uns allein, Mutter.« + +Hans warf einen Blick in der Stube umher. Tausend ja, hier sah's anders +aus als damals bei Asta. Jucunda, das sah er sofort, hatte nicht +vergessen, daß sie sein Kommen gewünscht -- alles war sorgfältig für +seinen Empfang vorbereitet, der Tisch zierlich gedeckt und mit Rosen +bestreut, die Teemaschine dampfte, Zigaretten, Zigarren standen bereit, +eine gehäufte Schüssel Gebäcks. Und ringsum herrschte Ordnung, +Sauberkeit, noch mehr: Schönheit ... oder doch wenigstens die deutliche +Absicht sie hervorzuzaubern ... überall Blumenarrangements und Körbe +lebender Pflanzen, an den Wänden die welkenden Lorbeerkränze mit +riesigen langflutenden goldbedruckten, goldbefransten Atlasschleifen. +Uebers Bett aber war ein hermelinbesetzter Mantel von Purpursamt +königlich hingebreitet, und ein frischer Strauß tiefdunkelroter Rosen +lag oben drauf. Alles war abgetönt mit einem naiven Sinn für Eleganz und +Repräsentation. + +Hans Thumser sah nicht, daß die Möbel abgeschabt, die Bezüge +verschlissen waren, fühlte nicht, daß der Stuhl wackelte, auf den +er sich setzte, der Tisch, auf dem das Teegeschirr brannte ... auch +nicht, daß die Tassen gesprungen waren, und hier und da gar ein Henkel +fehlte ... ihm war zumut, als sei er in einem Königsschloß, in einem +Märchenpalast. Und wie eine Königin erschien ihm auch Jucunda. Sie +trug ein lang hinschleppendes Spitzenkleid, das ihm vorkam wie eine +märchenhafte Kostbarkeit -- er konnte ja nicht beurteilen, daß es +maschinengewebte Spitzen waren, nur bestimmt auf die Entfernung zu +wirken -- er war im Bann, im Traum. Und nur die eine Empfindung +durchdrang ihn mit wohligen Schauern: hier war er erwartet, hier hatte +man Staat für ihn gemacht, hier wollte man ihn ehren, ihn entzücken. + +Er saß ganz still, als Jucundas große, schlanke Hände den Tee +bereiteten, und sah nichts als das anmutige Spiel der elfenbeinfarbenen +Arme, die aus den Spitzenärmeln hervorlugten: + +»Erinnern Sie sich noch, daß wir schon einmal beim Tee zusammengesessen +haben?« + +»Wie können Sie fragen, gnädigstes Fräulein! Ich habe seitdem von nichts +geträumt, als daß dies einmal kommen könnte ... dies, was jetzt ist.« + +Jucunda stellte den dampfenden Tee vor ihn hin, sah ihn von oben her mit +ironischem Lächeln an und fragte: + +»Und Asta?! Haben Sie die Courage gehabt, ihr zu verraten, daß Sie heute +bei mir sind?« + +»Warum sollte ich nicht? Das ist doch nicht verboten!« + +»Nun, und was sagte sie?« + +Hans wurde rot. Ob Asta geschwatzt hatte? Ob Jucunda wußte, wie er mit +ihr stand? + +»Sehen Sie wohl,« lachte das Mädchen, »Sie können nicht antworten -- Sie +haben Schelte bekommen --! Dacht' ich mir's doch.« + +»Ich wüßte nicht, daß irgend jemand das Recht hätte mich zu schelten,« +sagte der Student etwas kleinlaut und trotzig. + +»Sagen Sie das nicht!« sagte Jucunda. »Wohltun verpflichtet -- oder ist +die ... Episode schon zu Ende?« + +»Welche Episode?« + +»Fragen Sie nicht so dumm!« + +Hans Thumser sah sich durchschaut. Aber wenn Jucunda doch wußte, daß +Asta immerhin doch gewisse ... Ansprüche geltend machen konnte ... warum +hatte sie ihn geladen, was wollte sie von ihm? Er richtete sich auf: + +»Gnädiges Fräulein, ich glaube nicht, daß Sie mich zu sich gebeten +haben, um mir klar zu machen, daß ich eigentlich wo anders hingehörte.« + +»Da haben Sie recht,« lachte die Schauspielerin, »Sie sind nun einmal +hier, nun seien Sie's auch ganz. Asta ist tot, es lebe Jucunda, nicht +wahr?« + +Sie streckte ihm die Fingerspitzen hin, er neigte sich darüber. + +»Nun, blaue Flecke von heute morgen?« + +»An allen Gliedern!« gestand Hans. »Na, irgend etwas muß der Mensch doch +schließlich tun, um eine solche Stunde zu verdienen.« + +»O, seien Sie nur ruhig, man wird von Ihnen vielleicht noch mehr +verlangen!« + +»Verlangen Sie.« + +»Was macht Ihr Korpsbruder Pilgram?« + +»Mein ... früherer Korpsbruder, wollten Sie sagen.« + +»Hm ... er tut mir so leid, aber ich habe ihm nicht helfen können, er +hatte es gar zu eilig, sich in die Bredouille zu stürzen -- also, was +treibt er? Erzählen Sie!« + +»Ja, haben Sie ihn denn heute morgen nicht bemerkt?« + +»Wo? doch nicht etwa auch unter den Kürassieren?« + +»Gewiß! der Längste und Schönste unter den Pappenheimern.« + +»Nein wahrhaftig -- er ist mir nicht aufgefallen! Er hat sich ja auch +nicht so bemerkbar gemacht wie Sie!« + +»Ja, es hat eben nicht jeder den Dusel, über fünfundzwanzig +Treppenstufen Ihnen geradewegs vor die Füße zu kollern.« + +»Wie denkt er denn über mich und -- über die ganze Affäre?« + +»Das weiß ich nicht. Ich schäme mich es zu gestehen, aber ich sah ihn +seitdem nicht mehr -- meine Schuld -- doch was will ich machen? Wenn ich +nicht Franke bin, so bin ich Meininger, in jeder Stunde, Tag und Nacht. +Ach, gnädigstes Fräulein, ich habe nie gedacht, daß es so etwas gäbe, +daß man sich so ganz verlieren, so ganz vergessen kann! Ich lebe wie im +Fieber -- mir ist, als hätte ich Flügel -- ich möchte tausend Augen, +tausendfache Sinne haben, um all das festzuhalten, was in mir strudelt +und braust. Was für Hexenmeister seid Ihr: alles, was ich ahnte, wenn +ich in meinem Knabenstübchen die großen Dichter las, ist Leben geworden, +Wirklichkeit, Erfüllung ... Und damit nicht genug, ich selber, ich +schaue nicht nur, ich selber stehe mitten drin, in all dem Schwall -- +ein Strom von Glück und Sehnsucht braust unter mir und wirbelt mich auf +und nieder. Wo soll ich hin mit all dem Drang -- wo soll ich hin?!« + +Lächelnd hob Jucunda die Hand und streichelte die glühenden Wangen des +Jünglings, wie sie es heut morgen im Theater getan. + +»Sie Dichter!« sagte sie, »Sie Dichter --! Lassen Sie es doch brodeln +und gären, lassen Sie's doch! Machen Sie Gedichte daraus, schön wie das, +welches Sie mir damals sprachen ... so schön und schöner noch!« + +»Ja,« sagte er, »das will ich tun ... später einmal, später, wenn alles +das vorüber ist ... denn ich weiß ja, es währt nicht ewig ... acht Tage +noch, dann zieht Ihr fort ... und ich bin wieder, was ich war -- ein +armes Studentlein, Franconiae Fuchsmajor, einer von Tausenden -- und um +mich ist wieder nichts als Bier und klirrende Speere und Drogenwelt und +die Dutzendgesichter meiner Kommilitonen -- o Gott! wie soll ich das +ertragen! Ich weiß, ich werde irgendeine Dummheit machen -- ich laufe +fort, in die weite Welt, dahin, wo Ihr seid -- wo Sie sind, Sie +wunderbarer Mensch -- Sie Zauberin!« + +»Das werden Sie nicht tun!« sagte Jucunda. »Ich weiß, daß Sie das nicht +tun werden -- ich weiß, Sie werden dann stille Stunden der Besinnung +haben ... es wird Ihnen werden, wie es denen gewesen ist, deren Verse, +deren Szenen wir abends sagen und gestalten. Sie werden dichten -- +glauben Sie's mir.« + +»Ach, wenn das wahr wäre -- wenn das möglich sein könnte!« + +»Es wird so sein,« sagte Jucunda. Ihre Stimme war weich, ihre blauen +Augen hingen an den braunen des Knaben. Soviel lebendige Dichter +hatte sie nun schon gesehen in ihrem Leben: was waren das alles für +reservierte, verbrauchte, zermürbte, grauköpfige Herren gewesen -- +wie hatten sie gezittert hinter den Kulissen, wenn ihre Stücke vom +Stapel gingen, da draußen -- wie hatten sie ängstlich auf den Applaus +gelauert, wenn der Vorhang sank, wie hilflos sich hinausziehen lassen +ins blendende Rampenlicht, um sich linkisch und schweratmend nach dem +schwarz gähnenden Zuschauerraum hin zu verneigen, wo das Publikum über +das Schicksal ihrer Schöpfungen entschied! -- Dieser hier war noch ganz +Poet, er wußte noch nichts von all dem Gräßlichen, das auf ihn wartete +hinter den grauen Schleiern, die seine Zukunft verhüllten, ihn trennten +von diesem schauderhaften Leben des angstvollen Ringens um Erfolg, +um Gold und Lorbeer, in das sie selbst, die Achtzehnjährige, schon so +tiefe Blicke hineingetan. In ihm sprudelten noch ganz ungetrübt die +heiligen Quellen der Phantasie, darinnen Sonn' und alle Sterne sich +spiegelten ... + +Einen Augenblick war's ganz still im Zimmer -- der Tee wurde kalt in den +Tassen, und sein Duft mengte sich mit dem Rosenhauch, mit den blauen +Wölkchen der Zigaretten, die durch die Stube kräuselten. Von der Straße +her fiel der erste Laternenschein in die umdunkelte Stube und ließ die +goldigen Schriften der Kranzschleifen matt aufglimmern. -- Mit langsamen +Bewegungen stand Jucunda auf, um Licht zu machen. + +»Nicht doch,« wehrte Hans -- »nicht Licht machen ... es ist so schön +so.« + +»Aber anders ist es besser!« sagte Jucunda mit leisem Lächeln und +entzündete die Lampe. Und wieder ließ sie sich in das Sofa fallen und +neigte den flechtenbeschwerten Kopf auf die Lehne zurück. + +Wie seltsam das doch war --! Sie kannte so viel Männer von Geist und +Rang ... wie kam's, daß ihr heut zumut war wie nie zuvor --? War's die +Kraft, die ungebrochene, die ihrer selbst noch unbewußte, die sie ahnte +in den Tiefen dieser empor sich ringenden Seele? War's die edlere Rasse, +die sie witterte, sie, das Kind einer enggebundenen Welt, einer Welt +ohne Schwung und Größe? Sie war Künstlerin genug, dies alles zu ahnen, +was in dem jungen Menschen da vor ihr wirkte und wallte ... + +Und Hans fragte sich immer wieder im stillen, ob das denn wahr, ob das +denn möglich sei ... ob das Leben wirklich so schön sein könne, so +maßlos reiche Gaben spende ... + +Still war's. Von der Katharinenstraße heraus klapperten behäbig +trottende Pferdehufe, der Schritt der Fußgänger, die von ihrer Arbeit +heimwärts steuerten. + +»Wie gut,« sagte Jucunda, »daß ich heut abend mal ausnahmsweise nicht +spiele, so gehört uns diese Stunde wenigstens ganz!« + +»Und wehe dem, der kommen wollte sie uns zu stören -- Sie wissen das +alles ja gar nicht -- Sie wissen nicht, was das alles mir bedeutet, was +Sie mir bedeuten -- ich weiß es selber erst seit wenig Augenblicken. Ich +denke zurück an zwei Abende meiner Jugend, die der Wendepunkt waren, ich +fühle es nun. Ihr spieltet daheim, in dem alten engen Stadttheater an +der Rathausbrücke -- Sie waren eben entdeckt worden, ein märchenhaft +aufleuchtender Stern -- und ich, ein sehnsüchtiger Primaner droben auf +dem zweiten Rang im »Wallenstein« -- Sie drunten als Thekla mit der +Laute in den rotsamtnen Vorhang geschmiegt, weißleuchtend abgehoben von +dem riesigen Glasfenster, durch das die sternlose Nacht hineingähnte. +Sie sangen Ihr Lied, Sie wissen's ja -- Sie singen's übermorgen wieder +-- Und wissen Sie, wie ich Sie empfand? Sie waren die leuchtende Seele +des gigantischen Gedichts, Sie waren die Schönheit, die versinken muß +unterm erbarmungslosen Schritte des Schicksals -- Sie waren die Tugend, +die zermalmt wird von den geifernden Kinnbacken des Verbrechens, Sie +waren ... das Ideal, das waren Sie ... ach! und Sie sind's mir +geblieben. Jetzt fühl' ich's, daß Sie immer mit mir gegangen sind in den +zwei Jahren -- und nun, ist's möglich! Nun sitze ich Ihnen gegenüber, +könnte Ihre Hand erreichen, wenn ich's wagte, darf in Ihre Augen sehen +und fühlen: das Geschick meines Lebens ist über meinem Haupt.« + +Seine Stimme zitterte -- die braunen Augen leuchteten, der Atem flog. + +»Und dennoch --« sagte Jucunda langsam, großäugig -- »und dennoch haben +Sie Asta Thöny geküßt.« + +»Ja, Jucunda, ich habe Asta Thöny geküßt. -- -- Wie soll ich Ihnen das +erklären -- sie war die erste, die kam, damit ist alles gesagt. Sie hat +mich genommen, weil alles in mir nach der Erfüllung lechzte, die nur +Jucunda heißen durfte. Ach! so ist's wohl stets im Leben, daß man sich +bescheiden muß und dankbar sein, wenn man Kupfer bekommt für Gold. Das +andere, das ganz große Glück, das gibt's ja nicht, das darf's ja gar +nicht geben -- denn gäb' es das, wir wären Götter und nicht Menschen ... +und Götterschicksal erträgt sie ja wohl nicht, diese arme, irdische +Seele, dieser schwache, tönerne Leib. -- Und doch, ich fühl's: daß ich +das habe tun können, daß ich, Ihr Bild im Herzen, die andere umarmt +habe, das hat mich Ihrer unwert gemacht und unwert auch all dessen, was +ich mir an eigenem Wert und Werden erträumt habe. Ja, Jucunda, ich habe +Asta Thöny geküßt -- und nun muß ich ja wohl auch gehen, nicht wahr?« + +Er war aufgestanden, gesenkten Auges stand er neben ihr. Da griff sie +nach seiner Hand: + +»Du lieber, süßer, dummer Junge, Du ... Hans Thumser, kleiner dummer +Bub, komm, sei vernünftig, setz' Dich mal her zu mir aufs Sofa. Ja, es +ist schade, lieber Freund, daß Sie so zu mir kommen -- aus den Armen der +andern. Aber vielleicht bin ich selber dran schuld ... warum habe ich +Sie nicht erkannt beim erstenmal, da wir uns sahen? Ich, ich bin in +Ihrer Schuld, ich war in Wirklichkeit die Dumme ... die Blinde ... Doch +was tut's, das alles? Ich will, daß es nicht gewesen sein soll -- und es +ist fort -- ich wisch' es aus, ich streiche den Namen Asta Thöny von der +Tafel Deines Lebens ... Und nun ist nichts mehr da als ich, nicht, mein +Hans?!« + +»O nichts, nichts als Du --!« stammelte er und sank neben dem Sofa in +die Knie. Seine glühende Stirn sank in ihren Schoß, ihre weißen Hände +glitten über seine braunen Locken. -- Da richtete er sich auf, irren +Auges, die Wangen feucht, und sah sie an, so ganz Inbrunst, Ergebung und +Verlangen, daß es sie niederzog zu ihm. Sie umschlang seinen Nacken, +ihre Lippen hingen über den seinen. + +In diesem Augenblick wurde heftig an die Tür geklopft. Die beiden jungen +Menschen fuhren empor -- das war nicht wahr, das durfte nicht sein ... +aus solchem Traume gibt's kein Erwachen, eh er zu Ende geträumt ist. Und +doch -- es klopfte abermals. + +»Jucunda, darf' ich 'rein kommen?« klang Frau Buchners fette Stimme. + +Die beiden Kinder richteten sich auf. Die mühevoll eindressierte +Haltung, sie versagte nicht in diesem trauervollsten Augenblick. Im Nu +saß Hans Thumser auf seinem Stuhl, ganz Korpsstudent, ganz korrekter +junger Gentleman -- und sie, ihm gegenüber, auf dem Sofa, ganz Dame, +ganz Komödiantin: + +»Bitte, Mama ...« + +Frau Buchner trat ein, mit einem Lächeln des Triumphs auf den Lippen. +Ein wenig stutzig sah sie von einem zum andern, doch ihr prüfender +Mutterblick fand keine Spur, die Besorgnis erregt hätte. + +»Nu, Jucunda, was sagste nu?« Mit spitzen Fingern hielt sie eine +Visitenkarte in den Bereich der Lampe, eine vielzackige Krone darauf und +darunter die Worte: + +Heribert Hans Herwig, Erbprinz von Nassau-Dillingen + +»Was?« rief Jucunda, »er ist draußen?« + +»Ei, herrjemerschnee! Ne so was -- ne so was ... Natierlich ist er +draußen -- in höchsteigener Person! Soll ich 'n 'rinlassen?« + +Mit einem Blick hatte auch Hans Thumser die Schrift auf der Karte +entziffert, der zweite flog mit schreckhafter Spannung zu Jucunda +hinüber. + +Und -- sie? Das Gesicht, das ihm eben geleuchtet hatte wie der Genius +seines Lebens selbst, es hatte den Ausdruck völlig gewandelt: ein dünnes +Lächeln befriedigter Eitelkeit spielte um die schmalen, herrischen +Lippen, die Augen flackerten einen Augenblick in unstetem Sinnen, die +Stirn hatte sich gekraust. Aber schon war der kurze Kampf zu Ende: + +»Selbstverständlich, Mama. Sie haben ja wohl nichts dagegen, Herr +Thumser, wie? Der Herr ist ja doch ein Korpsbruder von Ihnen.« + +Mit einem Ruck war Hans Thumser emporgeschnellt: + +»Dann verzeihen Sie wohl, wenn ich mich empfehle, mein gnädigstes +Fräulein -- ich wünsche nicht zu stören.« + +»Aber ich bitte Sie, was heißt stören? Wir könnten ja so nett zu dreien +...« + +Starr und förmlich verneigte sich der Student: + +»Adieu, meine Damen.« + +Er griff nach seiner grünen Mütze, die auf einem Stuhl an der Tür lag, +dem spanischen Rohr mit Silberbeschlag, das daneben lehnte, und schritt +hinaus. + +Im engen Korridor stand der Erbprinz, in Ueberrock und spiegelnden +Lackschuhen, den Zylinder in der Hand, die Scherbe im Auge. Sein Gesicht +wies den Ausdruck blöder Verblüffung. Mit einer kurzen Verneigung +stürmte Hans Thumser an ihm vorüber und ließ die Korridortür ins Schloß +fallen. + + + + + 12. + + +Vor ihrem Bett war Asta Thöny in die Knie gesunken und hatte geweint, +wie nie zuvor in ihrem Leben -- und doch, wieviel Tränen waren schon +über ihre vergangenen Tage geflossen ... Wie teuer hatte sie die +flüchtigen Augenblicke des Glücks erkaufen müssen, zwischen denen nichts +gewesen war als Kampf -- Kampf mit zusammengebissenen Zähnen -- Hunger +und Verzicht -- Abschied und Sehnsucht ... Und nun war's wieder einmal +tief, tief dunkel geworden um sie her ... + +Sie sprang in die Höhe. Die eingeschlossene Luft in dem engen Stübchen +preßte ihr die Brust zusammen -- sie riß das Fenster auf: da draußen auf +der Sophienstraße noch immer das Flockentreiben und all die Fenstersimse +der schwarzen Häuserzeilen schon weiß überlagert, die Straßen drunten +wie versunken unter der weißen Last -- die aufgespannten Regenschirme +bestäubt, die Hutkrempen, die Mäntel schneebepudert. Da hinein, in dies +wehmütig tolle Treiben hatte sie mit dem Liebsten schwärmen wollen -- da +hinein zog's sie nun, die glühenden Augen zu kühlen, die schneidende +Luft in tiefen Atemzügen in die schmerzende Brust zu saugen. + +Einen kurzen Blick warf sie in den Spiegel und sah ihre Lider, ihr +ganzes Gesicht fieberisch gerötet. Sie suchte den dichtesten Schleier, +den sie hatte, und knüpfte ihn fest ums Gesicht. Dabei fiel ihr Auge auf +die schönen neuen pelzgefütterten Glacéhandschuhe. Sie waren ganz +verdorben vom Strom ihrer Tränen ... ach, wie gleichgültig das war. + +Nun war sie drunten auf der Straße -- wie dunkel es schon war um diese +frühe Nachmittagsstunde -- wie sie emporblickte, lag's über den Dächern +wie eine graue Decke, aus der es unablässig niederrieselte. Im Nu trug +auch sie die Livree des Winters. + +Den wirbelnden Flockenschauern entgegen stapfte sie gen Westen, kreuzte +die Zeitzer Straße und überschritt auf schmalem Brückchen den Mühlgraben +... In den Wald hinaus, nur fort von den Menschen, fort aus der Stadt -- +in die Einsamkeit, dahin, wo sie hatte einsam sein wollen mit ihm. +Nun dehnte sich zur Rechten die endlose Schneefläche der Rennbahn, und +vor ihr stand der Wald, ein schwarzer Saum, weiß überzackt. Unter +der Schleußiger Brücke gurgelten gelb und angeschwollen die trägen +Pleißefluten -- ohn' Unterlaß sanken die leuchtenden Flocken in die +schmutzigen Gewässer und wurden eingeschluckt -- wie der Schwall des +Lebens Wesen um Wesen verschluckt. Den schmalen Pfad schlug sie ein, der +hart am Ufer drüben aufwärts führte zu den graulich aufragenden +Eichenschäften, dem Gewirr des Ufergestrüpps, dran jedes Zweiglein +schon seine feuchte weiße Last trug ... Und wirr durcheinander, wie +die stäubenden Flocken, jagten ihre Gedanken. Gott, wie grenzenlos +allein sie doch war auf der Welt: Tochter eines kleinen Gerichtsbeamten +in München, war sie von der strengen katholischen Rechtgläubigkeit und +engen Spießbürgersittsamkeit ihrer Eltern um jener ersten Liebschaft +willen, die sie einem schmucken Leutnant von den Chevauxlegers in +die Arme geweht hatte, aus Haus und Heimat verstoßen worden. Das +Gräflein hatte brav an ihr gehandelt. Ihre berufliche Ausbildung, ihren +ersten Schatz an Kostümen verdankte sie seiner Freigebigkeit. Und +dennoch hatten am Ende der Abschied, die Tränen, die Verlassenheit +gestanden ... + +Und nun: die kleinen Engagements in Nürnberg, in Regensburg, in +Augsburg. Immer umringt von einer Verehrerrotte, die nichts von ihr +wollte als immer das gleiche -- das eine -- für die sie niemals eine +Seele, ein Mensch, eine Künstlerin gewesen war, sondern immer nur eine +hübsche Schale, ein Spielzeug, ein Zeitvertreib, eine Sklavin ... Und +endlich das große Glück: ein einziges Mal ein Mensch, der sie ernsthaft +nahm, Franz Burg, der Meininger Oberregisseur, der sie entdeckte ganz +hinten im Ensemble eines Mittelstadtbühnchens. Und nun: Engagement, +kleine Rollen, mittlere Rollen, Erfolg -- Karriere. Karriere? Ach, du +lieber Gott! Bis zu den Sternen war man nicht gekommen -- immerhin, man +war geborgen, man konnte sich ausruhen, konnte arbeiten -- stand +inmitten eines großen, künstlerischen Treibens, brauchte sich nicht mehr +wegzuwerfen, zu verkaufen. + +Aber ach, verdorben war man nun doch einmal, konnte nicht mehr leben +ohne Küsse, ohne Rosen, ohne Liebesbriefe, ohne Zärtlichkeiten ... Und +so flog man doch auch jetzt immer noch aus einem Arm in den andern, +blieb ein Spielzeug -- blieb der rasch vergessene Kamerad flüchtiger +Taumelstunden ... + +Da war der eine gekommen, dies grasgrüne Studentlein, das so ganz, ganz +anders war als alle die frühern ... Was war's eigentlich gewesen, was +ihn von ihnen unterschied? Er hatte sie genommen, sie hatte sich ihm +gegeben, genau wie's immer gewesen war -- nur eines war anders gewesen +-- ach, sie wußte es wohl, der Klang seiner Rede war's, die schäumende +Flut von klingenden, schwingenden Worten, in denen seine Zärtlichkeit, +sein Rausch sich ausströmte über sie hin -- ach nein -- auch noch ein +andres. All die andern, die sie gekannt hatte, waren erfahrene, +abgebrühte, blasierte Burschen gewesen -- diesem einen, sie wußte es, +hatte sie das erste Glück des Lebens gebracht. Sie hatte träumen dürfen, +ihm etwas zu sein, etwas, das nicht verfliegen könnte mit dem Rausch der +flüchtigen Erfüllungsstunden ... Und nun, nun war auch das ein Trug, ein +Wahn gewesen ... + +Tief gesenkten Hauptes schritt das einsame Mädchen fürbaß. Und wie ein +fernes Brausen klang weit, weit hinten das Treiben der großen Stadt, +gedämpft durch die rastlos niedersinkenden Flockenmassen. Und in der +Nähe schien jeder Schall des Lebens erstorben -- nur der eigne Schritt +knirschte leise im lockren Teppich, der die Welt überzog. Und zur Linken +glucksten die gelben Wasser. Unter der nassen Last lösten sich die +letzten gelben Blätter von den Wipfeln und sanken schwer und matt wie +dunkle Schattengebilde inmitten des weißen Geriesels nieder, lagen ein +paar Sekunden als schwarze Flecken auf dem leuchtenden Grund und wurden +dann schnell verschüttet und begraben ... Und Asta sann in die Zukunft +-- was hatte sie noch zu hoffen? Zu den höchsten Höhen der Kunst, +dorthin, wo die strahlende Rivalin stand, ach, dorthin würde sie sich +niemals emporschwingen. Nur die Niederungen waren ihr bestimmt, die +wenigen Jahre, bis Jugend und Anmut verweht sein würden -- und was dann? +-- Und was inzwischen? -- Immer nur Neid und Enttäuschungen ... Ab und +an, wenn einmal eine neue Rolle neue Hoffnung brachte, ein verzweifeltes +Emporraffen, ein neues zähneknirschendes Einsetzen der ganzen Kraft -- +dem, ach, doch immer wieder das Versagen, das Ermatten, die Erkenntnis +der Begrenztheit des eigenen Wesens und Könnens folgen müßten, wie noch +stets bisher. + +Und wo war dann Trost als in neuen Umarmungen, in neuen Tändeleien, ohne +Glauben, ohne Hoffnung, ohne Sinn? + +Nein, wenn sie nicht einmal diesen einen dauernd hatte fesseln können, +wenn selbst dieser eine, in dessen Leben sie am Anfang der Liebe +gestanden, wenn sie nicht einmal ihn länger hatte binden können denn auf +ein paar Wochen, dann war sie doch wohl gar nichts wert. Nicht einmal +als Liebchen, nicht einmal als Weibchen! Und das nun immer und immer +wieder erleben müssen, hatte das einen Zweck? -- Ließ sich das ertragen? + +Und doch, etwas in ihr bäumte sich auf gegen diese Verneinung ihres +ganzen Daseins. War sie denn wirklich so ein Nichts, so ein Püppchen +ohne Existenzberechtigung, ohne Lebenswert? Ach nein ... nur den +falschen Weg war sie gegangen -- nein -- nicht gegangen: gestoßen war +sie worden von dem aberwitzigen Schicksal. Damals, als sie sich von dem +blinkenden Rock, der gleißenden Grafenkrone ihres ersten Galans hatte +blenden lassen, als sie ihren einzigen Besitz, ihr Mädchentum, einem +eitlen, egoistischen Jungen hingeworfen hatte, ohne zu denken, ohne zu +fragen wohin, wozu -- damals war sie aus dem Gleise geworfen worden ... +Irgendwo in der Welt lebte doch gewiß ein braver, schlichter Mensch +ihres eigenen Standes, des Standes, in dem alle ihre Instinkte +wurzelten, dem hätte sie in Bescheidenheit und Treue Gesellin und +Helferin werden müssen. Das wäre dann ein Leben gewesen, für das ihre +Kräfte gereicht hätten, in das sie Sonne, Glücksgenügen hätte zaubern +können für ein ganzes Erdendasein. -- Nun hieß sie eine Künstlerin, ohne +ein Künstlermensch zu sein ... Nun sollte sie gestalten, ohne in sich +die Fülle der Gesichte zu tragen ... Sollte die Schöpfungen von +Dichtern verkörpern, ohne selbst ein Stück Dichterin zu sein ... + +Die Dämmerung kam. Immer schauriger ängstete die Stille um sie her, und +lichtlos wie die nebelverhangene Waldeinsamkeit ringsum lagen Zukunft +und Leben. Eine grenzenlose Müdigkeit kam über das verlassene Kind -- +eine Sehnsucht nach Schlaf ohn' Erwachen. Und in der lastenden Stille, +in die sie sich hineingesogen fühlte, war nun ein Laut nur noch: das +einlullende Rieseln und Rauschen der gelben Gewässer neben ihrem Pfad, +die so erbarmungslos die weißen Flocken einschluckten in ihren +gurgelnden Schwall. Ach! wer auch so eine weiße Flocke wäre, so rasch +und völlig versinken, zergehen könnte ... + +Aber schreckhafte Gesichte drängen sich vor -- wie schauervoll müßte das +Ende sein, wären diese Flocken nicht fühllos, wären sie nicht der Flut +wesensgleich, die sie verschlang? Du aber, Asta, du bist ein junges, +heißes Menschenkind, du wirst nicht leicht und sanft dich auflösen und +verschmelzen mit den Gewässern, die meerwärts rollen da unten. Du wirst +dich quälen müssen, alles in dir wird im letzten verzweifelten Ansturm +noch einmal nach dem Leben in Glanz und Licht verlangen, dem du verwandt +bist, in dem du dich umgetrieben, zwar oft in Tränen und Verzweiflung, +doch bisweilen auch in Schauern von Seligkeit ... + +Und dennoch, eine Stille wird kommen nach der kurzen Qual -- eine lange, +tiefe, wunschlose Stille. + +Und noch ein Gedanke kam, der Furcht und Grauen schuf: Asta war in +römischer Frömmigkeit erzogen, der Kinderglaube war nie ganz versiegt in +ihrer unbewehrten Seele. Wenn's nun wahr wäre, was man sie gelehrt +hatte von ewiger Verdammnis, von einem Wiedererwachen zu unnennbarer, +unendlicher Qual? Ach nein, das war doch wohl nur Märchen und +Kinderschreck -- ach nein -- wenn erst die Glut hier drinnen verloschen +war, wenn die Glieder, die so heiß gefiebert hatten im Ueberschwang der +Daseinswonne -- wenn sie erst so kalt und leblos geworden waren wie +drunten die strömende Flut, dann war's aus und vorbei, dann kam nichts +mehr -- kein Glück mehr und kein Schrecknis. + +Da stieg aus den falben Nebeln, die mählich den Fluß überlagerten, ein +niedres Gebäude empor, eine hölzerne Wirtschaftsbaracke, grau +gestrichen, hart bis an die Strömung des Flüßchens herangeschoben, mit +einer Galerie, die über das Ufer vorsprang. »Zum Wassergott« lautete die +Inschrift auf dem getünchten Wirtshausschild. Im Sommer mochte hier zur +Abendstunde muntres Treiben herrschen, friedliche Philisterbehaglichkeit +-- nun lag das kleine Anwesen kläglich verödet, ganz versunken in +trostloses Schweigen. + +Asta trat ans Geländer und sah, wie die gelbe Flut in quirlenden +Strudeln um die schneeverwehte Treppe rauschte, an der sonst das +Fährboot anlegen mochte. Und nun zu denken, daß man morgen so gefunden +würde, weit, weit unten irgendwo, entstellt, zerzaust, aufgedunsen -- -- +Aber ... das ging einen ja dann nichts mehr an, das fühlte man ja doch +nimmer. Dann mochte die Welt laufen, wie sie wollte. Dann mochte der +kleine Hans Thumser vor Jucunda Buchner auf den Knien rutschen und um +die Gunst betteln, die Asta ihm, ach, allzu wohlfeil, allzu willfährig +gewährt. Dann mochten sie Komödie spielen, solange es ihnen noch Spaß +machte, sich abzuquälen für die undankbare Bande im dunkeln Parkett -- +ach! und wie dankbar war man doch gewesen, wenn die mal ein bißchen +mitgegangen waren, wenn man ab und an sich hatte vorlügen dürfen, man +sei auch wer, man habe auch die Kraft in sich, die da hinten zu packen +und durch und durch zu rütteln, wie die paar es konnten, die paar +Echten, die paar Großen ... Ja, spielt nur, spielt nur Komödie -- auf +den Brettern und im Leben. Lügt Euch Gefühle vor und laßt Euch welche +vorlügen, glaubt daran oder tut doch wenigstens so, als glaubtet Ihr. +Denn auch Du hast ja gelogen, kleiner Hans Thumser, als Du unter Küssen +und Tränen mir schwurst, ich habe Dir das Glück geschenkt. Ich weiß es +ja nun, Du hast in meinen Armen immer nur an die andre gedacht. Ob Du's +bei ihr finden wirst, das Glück, das sogenannte Glück? Ob Du es +überhaupt jemals finden wirst im Leben? Ich will Dir's gönnen, kleiner +Hans, denn ich habe Dich sehr lieb gehabt -- ich will Dir's gönnen, +kleiner Hans -- ich aber -- ich tu nicht mehr mit, ich habe genug ... + +Einen spähenden Blick noch warf Asta in die Runde. Es war nun fast ganz +dunkel geworden und nichts ringsum, als das sachte Sinken der weißen +Kristalle, hinter denen die schwarzen Stämme ragten, finster und stumm. +-- Ob es wohl lange dauern würde? Ob es sie noch einmal emportragen +würde an die Oberfläche? Hoffentlich würden die nassen Kleider sie rasch +in die Tiefe ziehen. Es war nicht schade drum, sie hatte sich für einen +Fußmarsch im Schnee zurecht gemacht. Das bissel Flitter, was daheim +herumlag, dafür würde sich schon irgendeine Verwendung finden: nur das +schöne Sealskinjackett und das Barett und der Muff dazu, das war doch zu +schade für die Pleiße! Irgendein Armes mochte das hier finden und es +verkaufen und sich einen guten Tag dafür machen ... Sie zog die +kostbaren Hüllen ab und legte sie sorgfältig zusammengefaltet unter das +weitvorspringende Holzdach der Wirtschaftsveranda, wo sie einigermaßen +vor dem Schnee geschützt waren. Nun schauerte sie fröstelnd zusammen im +Nebelhauch der Waldtiefe. Gott -- und daß nun niemand, niemand morgen +weinen wird, wenn sie's hören, wenn's in der Zeitung steht, wenn zum +letzten Mal von Asta Thöny was in der Zeitung steht -- ach, allzu viel +Schönes hat nie dringestanden über Asta Thöny -- und keiner wird weinen, +nicht ein einziger von all den vielen, vielen, die mich geküßt und mir +von Liebe geschwatzt haben, nicht einer. Auch Du nicht, Hans Thumser, +ach, auch Du nicht ... + +Und sachte wie die weißen Flocken in die träge ziehenden Fluten +niederglitten, so sachte ließ Asta Thöny sich niedergleiten von der +schneeverwehten Treppe an der Holzveranda des Restaurants »Zum +Wassergott« ... + + +Valentin Pilgram war nachmittags gegen halb vier von dem Repetitor nach +Hause gekommen, um sich in das gewohnte, besinnungslose Arbeiten +hineinzustürzen, mit dem er nun schon seit Wochen sich zu betäuben +gewohnt war. + +Als er durch den dunklen Korridor schritt, kam die Frau Kanzleirätin aus +der Küche mit einem Brett voll Teegeschirr und ging zu Jucundas Stube +hinüber. Verlegen erwiderte sie seinen Gruß; wie die Tochter, so wich +auch die Mutter dem Zimmerherrn aus, wo irgend möglich, seit jenem +verhängnisvollen Morgen ... + +Als sich die Tür zu der Stube der Schauspielerin öffnete, sah Valentin +Pilgram mit einem Blick, daß dort Vorbereitungen für den Empfang eines +Besuches getroffen wurden: festlich gedeckt glänzte der Tisch, +sorgfältig waren die Blumenspenden der letzten Abende arrangiert, kurz, +alles verriet ein nahes Fest. + +Wer mochte erwartet werden? Ein paar Kolleginnen oder Kollegen ... oder? +-- Valentin wußte, daß der Erbprinz keine Vorstellung versäumte, in der +Jucunda auftrat, er hatte bei jeder Premiere unter den Riesenschleifen +der Lorbeerkränze die Farben von Nassau-Dillingen erkannt. Also zum +mindesten war Seine Durchlaucht nicht mehr in der Ungnade ... + +Merkwürdig: der gewohnte Arbeitsfriede wollte heute nicht kommen. Immer +lauschte der Kandidat auf Stimmen da drüben, in der ingrimmigen, +quälenden Hoffnung, sie möchten recht behalten, jene ekelhaften +Vermutungen, die sich immer deutlicher in ihm emporreckten: der +Erwartete möchte der Erbprinz sein ... + +Und endlich schlug die Glocke im Hausflur an. Valentin Pilgram fuhr in +die Höhe, schlich zur Tür und lauschte. Dabei überkam ihn brennende +Scham: was war aus ihm geworden, daß er das Tun und Treiben anderer +Menschen zu beschnüffeln und zu bespitzeln gelernt hatte? Das war doch +früher nie gewesen ... + +Und horch -- die Stimme eines jungen Mannes ... aber das näselnde, +gequetschte Organ des Prinzen war's nicht, es war eine frische, +klangvolle Stimme ... es war ... Hans Thumsers Stimme ... Ach -- also +der! + +Er hörte ganz genau, wie Mutter Kanzleirätin den Besuch zur Stube der +Tochter führte, wie sie anklopfte, wie des Mädchens volltöniger Alt das +Herein ertönen ließ, wie sie lebhaft und freudig den Besucher begrüßte, +wie jener verbindlich und bewegt erwiderte. + +Das Blut stieg dem Lauscher ins Hirn, in die Augen -- die Gedanken +quirlten einander überstürzend empor und machten ihn schwindeln. Also er +--! Wundervoll! wundervoll! Wie das alles sich zusammenfand, wie die +vagen Vermutungen, die greulichen Phantasien der letzten Wochen sich nun +zu festen, zweifelsbaren Schlüssen zusammenfügten! Nun freilich -- nun +war's ja klar, wie der Frankenzirkel und Hans Thumsers Initialen auf +jenen Bogen geraten waren, der Jucundas Absagebrief trug! Man hatte es +verstanden, ihn beiseite zu schieben -- hatte seine schnelle +Ritterschaft lächerlich zu machen gewußt, um seine eigenen Chancen zu +verbessern! Freilich, daß man mit einer solchen Gemeinheit auf dem +Gewissen den Mut nicht gefunden hatte, den Hintergangenen, den an die +Wand Gedrückten in seiner Einsamkeit zu besuchen -- kein Wunder +schließlich! Und auch heute hatte man den Weg zur Tür des einstigen +Korpsbruders nicht gefunden, obwohl man unter einem Dache mit ihm war! +Also so etwas gab's -- so viel Infamie barg sich hinter der zur Schau +getragenen Besonderheit, der phantastischen Eigenart des +Reimedrechslers! -- -- Na warte, Bursche! + +Valentin Pilgram hatte kein Talent zum Lauscher an der Wand. Er schlich +an seinen Schreibtisch zurück, vergrub den Kopf in den Händen und wühlte +sich in das krause System des römischen Erbrechts hinein. Aber die +Buchstaben hüpften vor seinen Augen, die Sätze verwirrten sich, führten +sinnlose Tänze auf, und etwas Unwiderstehliches zog ihm immer wieder die +geballten Fäuste von den Ohren ... Da drüben klapperten die Tassen, +plätscherte munteres Gespräch ... kein Satz zu verstehen, höchstens +einmal ein einzelnes Wort. Nun ein erregtes Lachen, nun Schritte durchs +Zimmer, nun in raschem Wechsel Geplauder, ein Hinüber und Herüber von +Scherz und Neckerei jetzt und nun von Rede, deren Sinn man nicht +verstand, deren Klang aber deutlich genug von wachsender +Vertraulichkeit, von innigem Austausch redete ... Ja freilich, der wußte +besser, wie man mit Frauen, mit Künstlerinnen reden muß, um Eindruck zu +machen! + +Valentins Gedanken verwirrten sich. Es war ihm nun, als müsse Hans +Thumser das alles mit diabolischem Raffinement ausgeheckt haben, was +sich vollzogen hatte. Gewiß war er schon längst hinter Jucunda her -- +war er's nicht gewesen, der die Idee mit dem Pferdeausspannen ausgeheckt +-- und war er nicht an jenem Abend als des Erbprinzen Gast an seiner +Seite im Theater gewesen? Gewiß hatte er auch in Erfahrung gebracht, mit +welch geschmackloser Zudringlichkeit der Erbprinz und der Major sich bei +Jucunda einführen wollten, und hatte schon damals sein Plänchen +geschmiedet ... Alle Wut und Qual der letzten Wochen knäuelte sich +zusammen zu einem einzigen, alles verdrängenden Gefühle der Empörung, +des Ingrimms, der Rachelust ... ihn, diesen glatten Lächler, diesen +geschmeidigen Buben, stellen ... züchtigen! + +Aber nein -- das war nicht länger zu ertragen, dieser Zusammenklang der +zwei Stimmen da drüben, der gehaßten und der ach ... in tausend +Schmerzen geliebten! War er denn verdammt, all jenes Glückes Ohrenzeuge +zu sein, das er für sich selbst nur in fernen Träumen zu ersehnen gewagt +hatte? Und das dem Buben da drüben in den Schoß fiel. Nein, das nicht, +das doch nicht! Fort, hinaus, in das Schneegetriebe da draußen, weg aus +diesem dumpfen Zimmer, dessen Luft bis zum Ersticken angefüllt war mit +vergangener und gegenwärtiger Gedankenqual! + +Valentin Pilgram stand auf. Er warf seinen Winterpaletot um, stülpte den +weichen, zerknüllten Filzhut auf den unfrisierten Kopf, nicht achtend, +daß beide Kleidungsstücke seit Tagen nicht gebürstet, von dickem Staub +umlagert waren. Er, der sonst so peinlich gestriegelte Korpsstudent, +hatte seit Wochen sein Aeußeres schlimmer vernachlässigt als der +armseligste Prolet unter den Kommilitonen ... Er griff nach dem wüsten +Knotenstock, den er sich für fünfzig Pfennig in irgend einem Kram +gekauft, seit er das silberbeschlagene spanische Rohr mit der Dedikation +seines Leibburschen nicht mehr führen durfte ... und nun hinaus -- nur +hinaus! + +In der kurzen Stunde, seit der Jungschnee sich eingestellt, waren +Bürgersteig und Straße mit fußhohen Schneemassen überschüttet. Mühsam +bahnten sich die Fußgänger ihren Weg, trübselig stapften die +Droschkengäule daher, wie schwarze Silhouetten schoben Menschen, Tiere, +Gefährte einander vorüber, die ersten Laternen äugelten mit trübem +Blinzeln durch den Flockennebel, der ohn' Unterlaß herniederwogte. Von +weißen Kanten eingesäumt, reckten sich die finstern Fronten der alten +Barockpaläste zu beiden Seiten der engen Straße. Jedes Geräusch war +eingesogen von den weichen Polstern des Grundes, den stiebenden +Flockenmassen, welche die Luft verhängten. + +Der junge Gesell, der mit aufgeschlagenem Rockkragen, die Hände in den +Manteltaschen vergraben, verloren und ziellos durch die Straßen +pendelte, hielt es nicht aus inmitten des lautlosen Lebens, das sich +schattenhaft an ihm vorbeidrängte. An der Thomaskirche vorüber, deren +schwarzer Giebel sich droben in dem weißen Dunst verlor, pendelte er auf +den Ring hinaus, wo die Zweige der Baumreihen, des Gebüschs unter der +Wucht ihrer weißen Last sich bogen und knackten. Zur Linken stieg das +finster dräuende Massiv der Pleißenburg in die silbernen Schwaden, das +Rund des Turmes hob sich als riesiger Schattenriß von den Lichtfluten um +den Roßplatz und Königsplatz ab. Und nun der winterstille, menschenleere +Johannispark! Hier ließ sich aufatmen, hier wurde die Brust freier. Hier +klärte sich das Gedankenchaos ... + +Ja, es mußte gehandelt werden. Die ganze Fülle der verhängnisvollen +Ereignisse, die Valentin Pilgram aus seines Lebens sicher +vorgezeichneter Bahn so jählings hinausgeschleudert in ein uferloses +Nichts, das alles drängte zu einer entladenden, entlastenden Tat. Und +diesmal würde seinem Vorsatz Erfüllung werden -- diesmal würde er nicht +wie Don Quichotte gegen die Windmühlenflügel anrennen, um alsbald +entsattelt an der Erde zu zappeln, ein Spott der Welt ... Diesmal würde +er den waffengeübten Arm zum sicher treffenden Schlag zu brauchen +wissen, mitten in des Feindes Fratze! + +Des Feindes! -- es gab ja nur den einen! In ihm schien dies aberwitzige +Schicksal der letzten Wochen Gestalt angenommen zu haben -- in jenem +jungen Burschen, der sich jetzt gewiß von Jucundas Lippen den Dank holte +für eine ganze Kette von Niederträchtigkeiten und Bübereien. Ihn +züchtigen -- ja das war's! Das forderte die Stunde! + +Und dann? Was kam dann?! Dann würde man sich gegenüberstehen, Aug' +in Auge, den Lauf der Waffe auf des Feindes Herz gerichtet ... das war +dann das Gottesgericht ... Dann würde sich's zeigen, wer von ihnen +beiden weichen müsse von dieser Welt, die nicht Raum mehr hatte für sie +beide ... + +Und ... dann?! + +Hans Thumser sollte fallen. Er wollte es. All die eiserne Willenskraft, +die bis zu dieser Stunde sein junges Leben vorwärts getrieben, er würde +sie in das kleine Stückchen Blei hineinlegen, das des Feindes Herz +finden sollte. Das war dann die Sühne, das war die Wiederherstellung +der heiligen Weltordnung, welche von den Gesetzen der Ehre regiert wird, +der Ehre, deren Ritter er gewesen war, und die jener andere mit Füßen +getreten hatte ... jener andere, der heut noch das dreifarbene Band +um die Brust trug, das er, der Getreue, eingebüßt hatte dank jenem +sinnlosen Schicksal, dem er unterlegen war bis heut. Aber dies +stumpfsinnige, brutale Schicksal, es sollte nicht Meister bleiben +in der Welt, solange er noch Kraft hatte, den Hahn einer Pistole +abzudrücken ... + +Und dann?! Er wußte den Gesetzesparagraphen zu nennen, dem er dann +verfallen war; die Höhe der Strafe, welche seiner wartete. Das war ja +wiederum der groteske Unsinn dieser Zeit, daß die Gesetze des Staates +das Recht der Selbsthilfe dem Manne versagten, der am Heiligsten seines +Lebens gekränkt war: an seiner Ehre ... Dieselben Gesetze, die den +Beleidiger der Ehre mit Strafen von kindischer Winzigkeit bedrohten ... + +Immerhin -- lieber zwei Jahre lang als Gefangener auf dem Königstein, +lieber das, was liberale Zeitungsschmierer einen Duellmord nannten, +lieber das alles, als dieses zermürbende Gefühl der Ohnmacht, der +Wehrlosigkeit gegen menschliche Infamie und den Aberwitz des Fatums! + +Schon war des einsamen Wanderers Hutkrempe von einem dichten Schneekranz +umlagert. Nasse Schauer sprühten ihm um die glühenden Wangen, eisige +Tropfen rieselten ihm über Hals und Nacken. Er achtete es nicht. Den +Kopf tief in den Schultern vergraben, stolperte er fürbaß. Schon lag der +Park hinter ihm, mechanisch verfolgte er den nächsten Pfad, der hart am +Saume des rechten Pleißeufers zwischen den reckenhaften Schäften der +hochstämmigen Eichen und dem dürren Gestrüpp der Erlen entlang führte. +Als sein Blick zufällig die gelben Fluten der gurgelnden Pleiße +streifte, stieg mitten in sein finsteres Brüten hinein ein lachendes +Bild heiterer Jugendlust: + +Die S. C.-Kahnfahrt nach Connewitz, welche die Leipziger Korps in jedem +Sommersemester gemeinsam unternommen hatten ... + +Wann war doch das gewesen? Vor einer Ewigkeit ... in einem andern, +versunkenen Leben ... Damals hatte die Welt in tausend Farben +geleuchtet, hatten bunte Mützen und grellfarbige Bänder geblinkt, heiter +abgehoben vom dunklen Grün der Ufersäume, vom Blau des klaren Himmels, +das sich in den freundlichen Wellen des Flusses spiegelte ... Flüchtig, +wie es herangeweht, zerstob das Bild, und wieder war nichts als der +schneestarrende Wald und drunten die blaugraue Flut und ringsum +Dämmerung und lastende Einsamkeit. Nur drüben, am jenseitigen Ufer, wohl +zwanzig Schritte vor Pilgram, ging noch ein anderer einsamer Mensch, +ein schwarzer, formloser Schatten, vorüberhuschend vor dem silbernen +Reif, der den ganzen Wald, der alle Welt überflitterte. + +Und wieder tauchte Valentin Pilgram tief in den schaurigen Abgrund +seiner Grübeleien. + +Wie, wenn es nun anders kam? Wenn das Gottesgericht gegen ihn entschied? +Nun dann war eben alles aus -- und er brauchte doch wenigstens nicht +mehr zu leben auf einer Welt ohne Sinn ... + +Aber -- die daheim --?! Die Eltern, deren Stolz er war, er wußte das ... +Der eifrige Vater, der in rastloser Arbeit zu einer der obersten +Stellungen in der Königlich sächsischen Rechtspflege emporgestiegen war +und in den zwanzig Jahren rüstiger Arbeit, die noch vor ihm liegen +sollten, noch höher zu steigen hoffte? Er, in seiner starren +Rechtlichkeit, seiner tadellosen Korrektheit der Art des Sohnes so innig +verwandt? Nie hatten Vater und Sohn voreinander Worte zu machen +gebraucht von dem, was sie beide längst wußten: daß sie Menschen einer +Rasse, eines Wesens waren, würdige Glieder einer uralten Familie +hochangesehener Gelehrten, Geistlichen, Beamten, die stets eine Zierde +der Stadt, des Staates gewesen waren ... und die gute Mutter, ein +Mensch, so recht zur Ergänzung dieses Schlages geschaffen, ohne starke +Persönlichkeit, voll tiefsten Respekts gegenüber dem Gatten und dem +Sohne, denen sie sich allzeit als freudige und nützliche Dienerin +untergeordnet hatte, entsprechend den Traditionen der ehrbaren +Geschlechter, aus denen auch sie entsprossen war, und die allzeit +aufrechte Säulen der Ordnung und Tüchtigkeit gewesen waren. Die +Schwestern, von der Mutter nach ihrem Vorbilde erzogen zu braven +Gattinnen für diese ehrenfeste Art Männer, wie das Vaterland sie immer +gebraucht hatte und, will's Gott, immer brauchen würde ... und nun -- +ein Sohn im Duell gefallen ... in einem Duell, in dem eine Rolle, eine +wenn auch noch so entfernte Rolle immerhin ... eine Schauspielerin ... +gespielt hatte? War das nicht wider den Stil der Familie? wider alle +Gewohnheit ihrer Daseinsführung? + +Nein, das war es nicht. Untadelig war, was immer er getan, seit Jucunda +Buchners Bild emporgetaucht war in seinem jungen Leben, das nichts als +Ehre gewesen war. Untadelig ... Und so würde er's vor jenem ernsten +Gange für die Lieben daheim aufzeichnen, würde für jeden seiner Schritte +die Motive, die Handlungen angeben, die Zeugen benennen. Und so würden +die Seinen des Gefallenen mit tiefer und reiner Trauer ohne Groll und +ohne Scham gedenken können, ja mit Stolz als eines Menschen, der auch +diesem absurden Spiel dämonischer Mächte gegenüber geblieben, was er +stets gewesen: ein Mensch ihrer Art ... + +In diesem Augenblick trieb ein Windstoß dem einsamen Wanderer einen +heftigeren Guß prickelnden Schnees ins Gesicht und scheuchte ihn aus +seiner Versunkenheit auf. Es war fast völlig finster geworden, und +Valentin Pilgram entschloß sich zur Stadt zurückzukehren. Seine +Entschlüsse waren gefaßt, klar vor ihm lag der Weg, den seine Pflicht +ihn gehen hieß. Zu was noch länger ziellos durch die Einsamkeit +streifen? Daheim waren die Bücher ... und in wenig Tagen würde das +Examen beginnen ... und Ruhe würde ja nun auch geworden sein daheim. +Heut abend waren wieder die »Piccolomini« -- Jucunda würde schon im +Theater sein ... + +Schon war Valentin Pilgram im Begriff kehrtzumachen, da fiel sein Blick +zum jenseitigen Ufer, und er sah im letzten Dämmerschein etwas +Unbegreifliches: + +Kaum noch in matten Umrissen erkennbar, lag drüben die Sommerwirtschaft +»Zum Wassergott«. Dort hatte er nach manchem Spaziergange mit +Korpsbrüdern die Hitze des Marsches an einer Gose gekühlt und dem +munteren Treiben der sonntäglichen Kähne auf dem Flusse zugeschaut. Und +seitlich, an der Treppe, wo die Fähre anzulegen pflegte, stand ein +Mensch, eine Frau. Auch sie nur ein grauer Schatten vor dem Dunkel, das +unter der Galerie lastete. Und dieser Mensch tat nun etwas ganz +Sonderbares: dieses Weib legte seine Kopfbedeckung ab -- es schien eine +Pelzmütze zu sein -- und zog das Jackett aus, schob beides +zusammengefaltet nach hinten in das Dunkel und stieg nun die Treppe +hinunter bis dicht ans Wasser. Und nun -- -- in jähem Schrei entlud sich +Valentins Entsetzen! + +Schon in der nächsten Sekunde aber reagierte ganz automatisch sein +Instinkt auf das grauenhafte Schauspiel, das sich bot. Mit einem Ruck +riß er die Knöpfe seines Paletots und seines Rockes auf, schleuderte +beide Kleidungsstücke mit einer jähen Bewegung in den Schnee und war mit +einem Satz am Ufersaum, mit einem zweiten schoß er in die gelbe Flut +hinaus. -- Die markerschütternde Kälte des Wassers lähmte eine Sekunde +lang seine Glieder wie sein Hirn, im nächsten Augenblick aber durchschoß +ihn ein siedender Feuerstrom. Jeder Nerv, jeder Muskel spannte sich an +wider das eisige Grauen -- Arme und Beine strafften sich, mit heftigen, +ruckartigen Stößen setzte er sich zur Wehr gegen die zähe Umklammerung +des kalten Elements, in dem er trieb. Er schwamm, er wußte sein Ziel. +Ueber der fernen Stadt lag ein roter Schwaden, dessen Widerschein sich +in den träge hingleitenden Fluten spiegelte. In diesem matten +Perlmutterglast glitt eine dunkle Masse, auf die schwamm er zu. Wenig +Stöße, dann war's getan. Er griff in ein nasses Bündel Kleider hinein, +fühlte warme Menschenglieder, umspannte eine schlanke Gestalt. Kaum +spürte der wehrlose Körper die fremde Berührung, da zuckte er in +aufbäumendem Entsetzen zusammen, krümmte sich, warf sich hin und her in +den Eisstrudeln, welche die hintreibenden Leiber umquirlten. Doch nicht +umsonst hatte der Student seine Muskeln in der harten Zucht des +Fechtbodens gestählt und ihre Kraft in mehr denn zwanzig Waffengängen +erprobt. Mit eisernem Griff umschlang er das zarte Figürchen, rang die +strampelnden Arme nieder und lenkte mit heftigen Beinstößen dem nahen +Ufer zu. Die nassen Kleider legten sich wie stählerne Klammern um seine +Beine, der Druck der Schuhe machte die Füße schwer und hilflos, doch mit +wildem Ungestüm zwang der Wille jedes Hemmnis nieder, den Frost, den +Verzweiflungskampf der zuckenden Glieder, die er mit seinen Armen +umschloß. Nach wenigen Sekunden fühlten die Füße Grund, Schlammgrund, +doch er hielt. Nun packten beide Arme mit unwiderstehlichem Griff das +leichte Körperchen um Hüften und Knie -- noch ein kurzes, heftiges +Ringen, dann griff die Linke einen tiefniederhängenden Weidenast, die +Rechte schleifte die zappelnde Last durch die gurgelnden Wellen. Nun +spannten beide Arme noch einmal sich an und hoben mit hartem Ruck den +gefangenen Leib in die knackenden Büsche der Uferböschung hinein. Nun +klang ein wimmerndes Stöhnen, nun keuchten klagende Laute wie eines +kranken Kindes Stimme: + +»Lassen Sie mich doch ... o bitte ... bitte, lassen Sie mich doch los!« + +»Ne -- gibt's nich!« keuchte der Student. Mit letzter versagender Kraft +würgte er sich selber durch die schneeüberstäubten Zweige des +Ufergestrüpps hindurch, zog den Körper der Geretteten vollends hinauf +und ließ ihn in den lockeren Schnee gleiten, weil die ausgepumpten +Muskeln nichts mehr hergaben. Schwarze Finsternis ringsum -- nichts +hörte Valentin, als das raschelnde Keuchen der eigenen Lungen, das +ratternde Hämmern des eigenen Herzschlages und dazu aus der +geheimnisvollen Dunkelheit zu seinen Füßen das wimmernde Schluchzen +einer Mädchenstimme -- immer nur dies wimmernde Schluchzen, dies +hilflose Greinen. + +»Lassen Sie mich doch los ... o bitte, bitte ... lassen Sie mich doch!« + +»Ne,« keuchte Valentin Pilgram, »das können Sie nun wirklich nich ... +von mir ... verlangen, Verehrteste ... ich hab' mich dermaßen für Sie +... abgeschunden ... jetzt lass' ich Sie nich wieder ... in die nasse +Sauce da!« + +Mit der Ueberwindung der Gefahr war ein grimmiger Humor über ihn +gekommen. Er richtete sich auf, reckte die stählernen Glieder, schlug +ein paar mal die Arme über der Brust mit kräftigem Ruck zusammen, um +sich gegen die Frostschauer zu wehren, die sich in seine Haut einfraßen. +Dann bückte er sich zu der Geretteten, bekam das schlanke Figürchen um +die Taille zu fassen und setzte es mit einem energischen Hub auf die +Beine. + +»So, nun bleiben Sie gefälligst stehen ... aber nein, kommen Sie mit +mir, wir rennen zum »Wassergott« zurück ... das macht warm ... Sie +haben ja da meines Wissens Ihre Oberkleider gelassen, die holen wir ...« + +Dabei versuchte er die Dunkelheit zu durchdringen, um etwas von den +Zügen der Gesellin dieser seltsamen Begebenheit zu erkennen. Umsonst -- +nur etwas Nasses, Zitterndes hielt er in seinen Armen, dessen Wärme +langsam die eisige Nässe der Hüllen durchdrang, die um ihre Glieder +schlotterten. Die zarte Gestalt wollte wieder in die Knie sinken, aber +er raffte sie empor, zog sie herzhaft an seine Seite und zwang sie, in +raschem Schritt durch den lockeren Schnee mit ihm den Fußpfad +pleißeaufwärts zu verfolgen. + +Dabei redete er ohn' Unterlaß auf das junge Menschenkind ein, das +wankend und noch immer leise wimmernd an seiner Seite schritt. + +»Nun sagen Sie bloß, meine Gnädigste, wie sind Sie auf die verrückte +Idee gekommen, bei so schauderhaftem Wetter Schwimmversuche in der +Pleiße zu machen? -- Dabei können Sie sich ja einen Schnupfen holen, den +Sie in diesem Leben nicht mehr los werden. Denken Sie bloß, wenn ich +nicht zufällig des Weges gekommen wäre ... Und noch dazu in Kleidern, +das bringt ja nicht einmal ein Mann fertig, geschweige denn so ein +kleines zartes Mädel wie Sie. -- Oder sind Sie gar eine junge Frau? Dann +sagen Sie's mir, damit ich Sie richtig anrede ... kommen Sie, wir müssen +schneller laufen ... damit wir warm werden, Sie zittern ja +gottserbärmlich. Schade, daß der »Wassergott« zugemacht hat, ich wäre +kolossal für einen Grog oder auch deren mehrere, Sie nicht auch?« + +So schwatzte er drauf los, allerhand banales Zeug, was ihm gerade in den +Kopf kam, und nahm mit Befriedigung wahr, daß das Wimmern schwächer und +schwächer ward und schließlich ganz verstummte. + +Und dann kam eine wilde Lust an dem unerwarteten Abenteuer über ihn, das +in seine verzweifelte Stimmung hineingeplatzt war wie ein Weckruf zu +neuem Leben ... Und immer brennender wurde in ihm die Neugierde, die +Züge der Unbekannten zu sehen, in deren Schicksal er hatte eingreifen +dürfen wie vom Himmel gefallen. + +Als die beiden einen Augenblick verpusteten, griff er in seine +Hosentasche und zog die Zündholzschachtel hervor, sie war ganz trocken. +Die wenigen Sekunden, die er in dem nassen Element zugebracht, hatten +nicht genügt, um seine Kleidung gänzlich zu durchfeuchten. Da ließ er +ein Hölzchen aufflammen und sah mit jähem Entzücken, welchen holdseligen +Fang er gemacht. Dabei weckte ihm das triefende, glühende Gesicht, von +langen dunklen Haarsträhnen überhangen, unbestimmte Erinnerungen ... + +Aber eine Scheu verbot ihm zu fragen ... + +Und das Flämmchen verlosch, das angstvolle Gesicht, die hilflos +blickenden Augen versanken wieder in der Finsternis. Nein, jetzt nicht +fragen -- wie wund mußte diese arme flüchtige Seele sein ... + +Da war der »Wassergott«. Valentin stapfte in die schneeverwehte Galerie +hinein, aber die Gerettete ließ er dabei nicht los. + +»Ne, ne, kommen Sie ruhig mit, Gnädigste, ich habe Angst, Sie möchten zu +viel Geschmack an Ihren Schwimmkünsten gefunden haben ... und ob ich Sie +zum zweiten Male da herausbrächte? Ich weiß wirklich nicht.« + +In der Finsternis fand er die weichen, duftigen Pelzhüllen, ahnte voll +Respekt, daß es sich um Kostbarkeiten handeln müsse, und hüllte seine +Gefangene sorglich hinein. Sie wehrte sich nicht ... + +Und nun der Heimweg. Durch das schneebepuderte Gitterwerk des dürren +Waldes am jenseitigen Ufer leuchtete der Widerschein der fernen Stadt, +der einen gelblichen Lichtbogen wie eine matte Aureole in die +niederwallenden Schneenebel hineinzeichnete. Perlmutterfarben +widerleuchtete sein Schein auf den friedlich meerwärts gleitenden +Pleißefluten. + +Das junge Blut, vom raschen Gang, von der fiebernden Erregung der Herzen +aufgepeitscht, besiegte mählich die Frostschauer, die von den nassen +Kleidern her die Glieder überrieselten. Und mit einem geheimnisvollen +Gefühl brüderlichen Stolzes hielt der Student das zarte Figürchen +umschlungen, preßte es an sich, wie um ihm abzugeben von der Siedeglut, +die ihn durchpulste. + +Noch immer schwieg sie, und wie ein Wasserfall redete Valentin auf sie +ein: + +»Das hätt' ich mir weiß Gott auch nicht träumen lassen, daß ich meinen +Spaziergang in so angenehmer Gesellschaft beenden würde. -- Und Sie? +Finden Sie es nicht doch viel netter, zu zweit hier im Schnee zu waten, +als einsam da unten in der dreckigen Pleiße zu paddeln? -- Sehen Sie +mal, wie hübsch sich drüben das Gezweige von dem roten Himmel abhebt! Da +kann man's wahrhaftig sehen, wie helle die Leipziger sind -- sogar der +ganze Himmel ist hell über dem guten alten Biernest ... Aber nu sagen +Sie doch auch mal was, Fräulein! oder haben Sie Ihre Stimme da unten im +Wasser gelassen? Das wäre doch schade. Ich denke mir, Sie müssen sehr +niedlich plaudern können ... Soll ich Sie vielleicht noch einmal +erleuchten und mich auch, damit Sie sehen, daß Sie es mit einem ganz +ordentlichen Kerl zu tun haben? Sie haben doch am Ende nicht gar Angst +vor mir?« + +Und horch! + +Da klang's auf einmal aus der Dunkelheit neben seiner Schulter, leise +wie ein Taubengirren: + +»Angst ... ach nein -- wie könnte ich Angst vor Ihnen haben, Sie sind ja +so gut zu mir --« + +»Hurra! sie kann wieder reden!« jauchzte der Bursch. »Herrlich! +herrlich! Und nun -- nun sagen Sie mir's mal gleich, wohin ich Sie +bringen darf? Denn nach so einer Strapaze gehören kleine Mädchen ins +Bett ... Auch ein Glühwein könnte nicht schaden. Also -- wohin soll's +gehen? Heraus damit!« + +Leise nannte das Mädchen seine Adresse. Unwillkürlich schmiegte sie sich +fester in den führenden, schützenden Arm. Ihr war, als sei ihr noch nie +so wohl gewesen, so geborgen wie in diesem Augenblick. Das Dasein, das +ihr vor einer Viertelstunde noch schal und wertlos erschienen war, nun +glomm es wieder auf in ihr voll Sehnsucht nach neuem Erleben, voll +Dankbarkeit, noch da zu sein, die eigene Wärme siegen zu fühlen über die +eisige Nässe, der sie sich anvertraut -- das ferne Leuchten zu sehen +über der Stadt, wo die Menschen hausten, wo das Leben brandete, wo man +Komödie spielte -- aß und trank, lachte und küßte ... Gott, welch ein +Wahn, welch eine Raserei war doch nur über sie gekommen und hatte sie da +hinuntergetrieben --? + +Ach leben -- nur leben. Besser, sich prügeln lassen vom Schicksal, +besser, sich auf und ab wirbeln lassen zwischen Glückseligkeit und +Tränen, Tränen und Glückseligkeit, als dies kalte Nichts da unten. + +»Ich danke Ihnen,« stammelte sie. »Ich danke Ihnen!« + +Und lustig schwatzend von den gleichgültigsten, törichtsten Dingen, als +seien sie zwei alte Bekannte, die sich beim Spaziergang begegnet, +stapften die zwei Menschen fürbaß durch den knietiefen Schnee. + +»Haben Sie warme Backen?« fragte der Student. »Au! Teufel ja, die +brennen ja wie ein Oefchen -- und die Hände? Ziehen Sie doch die nassen +Handschuhe aus, das gibt ja Rheumatismus -- richtig, die sind wie zwei +Eiszapfen. Da weiß ich Rat, wir werden uns schneeballen. Los! Greifen +Sie zu, ich laufe voraus. Daß Sie mir aber nicht wieder auskneifen und +in die Pleiße spazieren!« + +Nein -- Asta hatte keine Sehnsucht mehr nach der Pleiße. Sie bückte +sich, griff mit den erstarrten Händen in die lockere Masse, die alles +überlagerte -- und klatsch, da flog ein raschgeformter Ball dem riesigen +Begleiter vor die Brust, daß es nur so knallte ... Und lachend, rennend, +prustend, wie zwei Kinder, tollten die zwei den Weg entlang. + +Schon schatteten die dunklen Fronten der Vorstadthäuser in das silberne +Flockengeflitter hinein. Nun galt's sittsam und verständig nebeneinander +durch die Straßen zu schreiten, in denen nur wenige schneebepuderte +Gestalten unter weißbezuckerten Regenschirmen hastig und lautlos ihren +Behausungen zustrebten. + +Als aber der erste Laternenschein dem wandelnden Paar die Gestalt des +Partners zeigte, schrie das Mädchen plötzlich auf: + +»Um Gottes willen, Sie sind ja in Hemdärmeln! Sie werden sich den Tod +holen!« + +»Ach! keine Spur!« lachte der Student. »Ich glühe nur so! vorwärts, nur +vorwärts!« + +Jeder Vorüberwandelnde stutzte, als er das seltsame Schauspiel sah, daß +ein junger Mann barhäuptig und hemdärmelig neben einer elegant bepelzten +Dame herschritt. + +Rasch war Valentin des Anstarrens, des Stehenbleibens satt. Auf der +Zeitzer Straße rief er eine Droschke an, deren schneebepackter Gaul +mühselig und dampfend dahin keuchte. Und nun war nach wenigen Minuten +die Sophienstraße erreicht, die Hausnummer, die das Mädchen angegeben. + +Es kostete Mühe, in den nassen Kleidern die Treppe hinan zu kommen, den +Korridorschlüssel zu finden. + +Mit Ueberraschung bemerkte der Student, daß es die wohlbekannte Wohnung +war, in der Mutter Ach schaltete, sie, die ganze Generationen von +Franken beherbergt hatte. Sie, bei der jetzt jener andere wohnte, dem +Valentin Pilgram in ingrimmiger Einsamkeit eine fürchterliche Vergeltung +geschworen ... + +Starr vor Entsetzen stand die behäbige Witwe, als im matten Schein des +Flurlämpchens ihre Mieterin vor ihr stand: + +»Ei, herrjemerschnee! ne so was -- ne so was ... Was hab'ns denn nur +gemacht, Freilein? ... Und wer is denn das? -- Weeß Knebbchen, das is +Sie ja der Herr Pilgram! Herr Pilgram, is es meeglich?! Nu komm' Se doch +bloß mal in die Stube 'nein -- ich wer' gleich Feier machen -- und Tee +wer' ich 'n kochen, i nee so was, nee so was.« + +Bei dem Namen Pilgram hatte das Mädchen gestutzt. Höher noch flammte ihr +glühendes Gesicht. Stumm klinkte sie ihre Stubentür auf und huschte +hinein. Die Tür ließ sie offen in dem dunklen Gefühl, daß ihr Retter +einen Anspruch auf die behagliche Wärme habe, die ihr von drinnen +entgegenschlug. + +Doch der folgte ihr nicht -- starr hingen seine Augen an dem weißen +Kärtchen, das an der Stubentür befestigt war. + +»=Das= -- sind Sie?« fragte er mit zusammengebissenen Zähnen. + +»Ja, das bin ich -- kommen Sie doch herein -- wärmen Sie sich.« + +Zögernden Schrittes trat der Student näher. In scheuem Staunen musterten +sich die beiden jungen Menschen, das Hirn von wirren Gedanken +durchkreuzt ... + +Frau Wehe hastete herein, rannte geschäftig zum Feuer, um frische Kohlen +aufzuschütten. + +»Nu sagen Se bloß, Herr Pilgram, was haben Se denn angefangen alle zwei? +Wer looft denn bloß in so en' Wetter hemdärmlig 'rum und mit bloßem +Koppe?! Und naß wie de Katzen seid 'r alle zwee! Da soll wer anders +draus klug wer'n!« + +»Das Fräulein ist spazierengegangen an der Pleiße, hat im Dunkeln den +Weg verfehlt, ist ins Wasser gefallen, ich habe sie herausgezogen,« +erklärte Pilgram hastig. + +»Gott soll mich bewahr'n!« schrie Frau Wehe. »Nu aber mal schnell ins +Bett mit dem Kind! -- Und Sie, Herr Pilgram, Sie gehen nebenan zum Herrn +Thumser und nehm' sich Wäsche und Kleider, versteh'n Se mich?! Am besten +wär's schon, Sie legten sich einfach da nebenan ins Bette! Herr Thumser +wird schon nich beese sinn! Und dann koch' ich Euch Tee oder Grog, 'ne +paar Wärmepullen unter de Decke, ich wer' schon machen!« + +»Nein!« schrie da Asta Thöny. »Herr Thumser, nein -- das geht nicht -- +der darf nichts davon wissen ... der auf keinen Fall!« + +»Ach Quatsch!« rief die stämmige Wirtin. »Ihr holt Euch ja den Tod alle +zwee, da gibt's nischt zu reden -- machen Se fort, Herr Pilgram, in's +Bette mit Ihn' --!« + +Mit angstvollen, flehenden Blicken hingen des Mädchens Augen an den +erstarrten Zügen ihres Retters, seiner finster zusammengekrausten Stirn. +-- Sie schwieg, sie wußte, daß sie nicht länger bitten durfte, wo es um +seine Gesundheit ging, vielleicht um sein Leben ... + +Heiser fragte da Valentin Pilgram: + +»Thumser? Warum darf der nicht wissen --? Kennen Sie Thumser?« + +Tief senkte das Mädchen den Kopf, stand regungslos, schauerte plötzlich +in Frösten zusammen. Auch der Student schwieg. In wirrem Grübeln, in +finstrem Forschen gingen seine dunklen Blicke zwischen dem zitternden +Mädchen, der hilflos, verständnislos dreinglotzenden Frau hin und wider. + +»Kennen Sie Hans Thumser, gnädiges Fräulein?« fragte er noch einmal, +hart und befehlend. Ein Verdacht reckte sich dräuend in ihm auf. So +phantastisch, so aberwitzig, daß der Verstand sich sträubte, ihn zu +formulieren ... + +Asta antwortete nicht. Sie sank immer tiefer in sich zusammen. Und +plötzlich knickte sie in die Knie, ihre Arme fielen auf einen Stuhlsitz, +das Köpfchen mit den triefenden, zerzausten Flechten glitt in die +silbernen Falten des Pelzwerks, das sich um ihre Glieder schmiegte, und +ein jähes Schluchzen durchrüttelte die hingeworfene Gestalt. + +Valentin Pilgram begriff ... Das fehlte noch, das war das letzte ... Und +die ganze, kochende sinnverwirrende Wut, die den Nachmittag über sein +Inneres verwüstet, schlug in roter Lohe aus den Tiefen seines Wesens +empor, stieg ihm in die Augen, in die Stirn, in die Fäuste. -- + +»Der Hund --! Ah, der Hund!« knirschte er. »Sorgen Sie mir gut für das +Fräulein, Frau Wehe! Adieu!« + +Er stürzte hinaus. Die Stubentür, die Korridortür krachten hinter ihm +ins Schloß. + +Asta Thöny war emporgefahren. Blitzschnell schloß sich die +Gedankenkette: Also der da, ihr Retter, das war Valentin Pilgram -- er, +den sie kannte aus Hansens Erzählungen, von dem sie wußte, wie er in +jähem Zorn sich zur Sühne für eine Schmach gedrängt, die ihrer großen +Kollegin widerfahren ... Und nun, nun stürmte er von hinnen, +unvollkommen bekleidet wie er war, schäumend vor Wut, wie sie ihn mit +einem letzten Blick gesehen. Und sein letztes Wort war eine gräßliche +Drohung für Hans Thumser gewesen. Für ihn, von dem er nicht einmal in +dieser Not trockene Kleider hatte annehmen wollen. + +Das bedeutete Gefahr -- Todesgefahr für den geliebten, den treulosen +Jungen --! + +Todesgefahr --! Noch meinte sie den stählernen Druck des Armes zu +fühlen, der sie aus dem kalten Flutengraus gerissen, der sie so sicher +und brüderlich heimgeleitet. + +Wehe dem, der diesem Arm verfiel. + +Nein, nein ... das nicht, das nicht! Um diesen Preis gerettet zu sein, +nein, das nicht ... o Gott, das nicht --! + +»I herrjemerschnee, Fräulein Thöny, was hat er denn nur, der Herr +Pilgram, was hat er nur?« stammelte Frau Wehe. + +»Still, still!« winkte Asta ab. »Lassen Sie mich einen Augenblick.« Und +hastig sann sie, wo Hans Thumser nur stecken könne in diesem Augenblick +... + +Ach so -- Mittwoch -- offizielle Kneipe ... Ach, sie kannte den +Wochenkalender des Korps in- und auswendig. Also im Cafébaum, auf der +Frankenkneipe ... Und da ... da würde ja auch der Rächer ihn suchen ... +nein -- das nicht ... o Gott, das nicht -- + +Und mit einem Ruck stülpte sie das Barett wieder auf, klappte den Kragen +des Pelzjacketts in die Höhe, und triefend und schlotternd, wie sie war, +rannte sie an der verblüfften Wirtin vorüber, flog die halbdunkle Stiege +hinunter, stand auf der Sophienstraße ... + +Drüben fluteten dichte Menschenströme, vom Glast der Laternen des +Carolatheaters überstrahlt, vom Flockengestiebe silbern umflittert, in +die dunkel gähnenden Pforten des Kassenflurs hinein. + +Gott sei Dank, »Piccolomini« --! Asta war dienstfrei. In die erste +Droschke, die drinnen ihre Fracht abgeladen hatte und aus der dunklen +Ausfahrt herausrumpelte, sprang Asta hinein, rief im Einsteigen dem +Kutscher zu: + +»Kleine Fleischergasse, Cafébaum, so schnell das Pferd laufen kann -- +einen Taler Trinkgeld sollen Sie haben, wenn's rasch geht!« + +Der Wagenschlag klappte, der Kutscher schlug die Peitsche dem Gaul um +die dampfenden Flanken, und durch die dunklen, schneeverwehten Straßen +schwerfällig von dannen rollte das Gefährt. + + + + + 13. + + +Auf der Sophienstraße geriet Valentin Pilgram in den Schwall der +Theaterbesucher hinein, der zum Carolatheater drängte. + +Ach so -- ha, ha! natürlich, da spielte man ja Komödie, heut' wie alle +Abende! + +Und Jucunda Buchner natürlich wieder der Stern des Abends, der Zielpunkt +aller Blicke, die Sehnsucht aller Herzen! Ja gewiß: wie er sich durch +die Menge schob, auf allen Lippen das leise, andächtig hingesprochene: +Die Buchner ... die Buchner ... + +Der lange Gesell, der im tollen Schneetreiben hemdärmelig und barhaupt +sich durch die Menge zwängte, machte alles stutzen, alle Hälse sich +wenden. + +»Nanu, was hat denn der? Das is wohl ä Verrickter am Ende! Schutzmann! +he, Schutzmann! Nähmen Se'n doch feste, den Langen da!« + +Nein -- so ging's nicht weiter. Er erwischte eine Droschke, warf sich +hinein, befahl Katharinenstraße zweiundzwanzig. Er konnte ja auch +unmöglich so auf Korpskneipe erscheinen, sie hätten ihn da wohl auch für +wahnsinnig gehalten -- hätten sein Rächeramt, seine heilige Mission, die +beleidigte Ehre des grün-gold-roten Bandes wiederherzustellen, für einen +Ausfluß des Aberwitzes genommen. Und dann: es schüttelte ihn. Fieberglut +und Frostschauer tobten abwechselnd durch seine Reckenglieder. + +Herrgott! Dieser alte Klepper wollte gar nicht vom Fleck. + +Und doch -- es wurde geschafft. Er flog die Treppe hinauf, langte +keuchend oben an. Als er den Schlüssel suchte, taumelte er -- das +Fieber verwirrte sein Hirn. Kaum gelang es ihm, den Schlüssel +einzustecken -- so leise er konnte, drehte er um, schlich sich auf +Zehenspitzen durch den dunklen Flur, machte drinnen Licht -- erschrak, +als er sein fahles Gesicht im Spiegel sah mit den stieren Augen, den +rotfleckigen Wangen. + +Einerlei -- nur fort, nur es zu Ende bringen! + +Er riß die triefenden, dunstigen Kleider vom Leibe, die schweißnasse +Wäsche, zog sich vom Kopf bis zu Füßen frisch an, schauerte zusammen in +der Siedeglut, die ihn durchrann. Er fühlte sich plötzlich müde zum +Sterben -- das aufgeschlagene Bett zog ihn magnetisch an. War's nicht +das beste, da hineinzukriechen, die Decke über die Ohren zu ziehen und +unterzusinken in bleiernes Vergessen ...? + +Aber nein -- das ging ja nicht. Die Mission! die Mission ... Abrechnung +mußte gehalten werden. -- Sauber mußte die Welt wieder werden ... Der +Schandfleck mußte weg ... Und mit fliegenden Händen kleidete er sich an. +Taumelte abermals, als er die Stiefel anziehen wollte, biß die Zähne +zusammen, bezwang die todgleiche Erschlaffung. + +Als er vor dem Spiegel die Halsbinde zu schlingen versuchte, versagten +die Hände. Da knüpfte er nur die Enden in einen wüsten Knoten, stülpte +statt des Hutes, der draußen an der Pleiße geblieben, eine +schwarzseidene Mensurmütze auf, hing statt des Winterpaletots, den er +ebenfalls im Schnee gelassen, einen dünnen Sommerhavelock um ... und nun +fort -- fort ... + +Er warf einen Blick auf die Uhr -- dreiviertel neun, gerade recht. Die +offizielle Kneipe mußte eben begonnen haben, und bis zur Kleinen +Fleischergasse waren's ja nur zwei Minuten. + +Halt! Einen Stock brauchte man noch, man konnte nicht wissen ... + +Nun, so mochte es schon das silbern beschlagene spanische Rohr sein, die +Dedikation seines Leibburschen. Daß er kein Recht mehr hatte, dieses +Stück zu führen, das mit dem Zirkel Franconias geschmückt war, was +verschlug's in dieser Stunde --?! Es war eben doch ... ein Stock ... + + +Noch einer war an diesem Nachmittage bis tief in den endlosen +Novemberabend hinein draußen im Schnee umhergeirrt: Hans Thumser. + +Als er aus Jucundas Zimmer gestürzt, an dem verblüfften Erbprinzen +vorüber, da war es auch ihm unmöglich gewesen, es auszuhalten zwischen +den hastenden Menschen, den keuchenden, dampfenden Droschkengäulen, in +den engen, finstern Straßen, unter den blinzelnden Laternen. + +Er war ins Rosental geraten und stundenlang durch die schweigende +Einsamkeit des schneeverwehten Parks geirrt. + +Ha! ha! Also so lief die Karre! Freilich, freilich! Wenn Fürstengnade +winkte, was galten da ein paar armselige Studentlein ...? Denen spielte +man eine nette kleine Komödie vor: Hilflose, beleidigte, +schutzbedürftige Unschuld dem einen, glühendes Verständnis, tiefinnige +Seelenharmonie dem andern ... Und dann -- dann ließ man einfach im +rechten Augenblick den Vorhang fallen, und ein neues Stück fing an. + +Komödie -- Komödie -- jedes Wort, jeder Blick, nichts als Reminiszenzen +aus abgespielten Stücken, nichts als der Nachhall erlogenen, +erheuchelten Gefühls ... Komödie ... Komödie ... Komödie --! + +War das nicht Strafe? War dieser Abfall, diese Blamage, die fressende +Scham -- da drinnen -- war das alles nicht verdient?! Hatte nicht auch +er selber leichtherzig den Vorhang fallen lassen über einem lieblichen +Spiel voll erster Seligkeit, voll flammender Glut und reizender +Tändelei, das die vergangenen Wochen seinem jungen Leben beschert +hatten? + +War er besser als jene Jucunda? Er, der danklos und roh die Gesellin so +köstlicher Entzückungen beiseite geschoben, um diesem gleißenden Phantom +nachzujagen, das heute vor seinen entsetzen Augen die Larve hatte fallen +lassen? + +Asta! Asta! Dich hatte ich. Du hast dich mir geschenkt ... und ich ließ +dich los und rannte einem Irrwisch nach ... + +Ja, Hans Thumser ging streng mit sich ins Gericht. Er kam sich so klein +vor, so dummejungenhaft, so unwert alles dessen, was die vergangenen +Wochen ihm in den Schoß geworfen. Eine jähe Sehnsucht kam über ihn, sich +in Astas Arme zu flüchten, die Stirn an ihre Knie zu drücken und um +Verzeihung zu betteln. + +Und doch -- Knabentrotz und Knabenscham jagten ihn immer tiefer in die +Schneewildnis hinein. Jetzt vor Asta hintreten und bitten: vergiß --?! + +Sie würde sogleich begreifen, daß er -- nun, daß er eben ... abgefallen +war bei Jucunda. Und würde sie dann nicht triumphieren, sich bedanken +für das Vergnügen, ihn über seinen Abfall trösten zu sollen? + +Nein -- das ging nicht. Das mußte man allein hinunterwürgen. Ha ha! +Gab's nicht ein Mittel, die Qual dieser Beschämung, dieser +fürchterlichen Blamage abzukürzen? Wozu war man denn Student -- +Korpsstudent -- Fuchsmajor?! Und wozu heut abend offizielle Kneipe? + +Ganz recht: besaufen werden wir uns! einen Eimer Bier in uns +hineinpumpen, bis wir mitsamt der ganzen Corona der Füchse unterm Tisch +liegen und den Himmel für 'nen Dudelsack ansehen. Hol' der Teufel die +Weiber --! + +Und morgen früh auf dem Fechtboden -- Filzmaske aufgesetzt, drauflos +gedroschen, solange Arm und Schädel halten wollen --! + +Kaum konnte Hans die Stunde der offiziellen Kneipe erwarten. Als er zum +Cafébaum schlenderte, grinsten ihm von allen Anschlagsäulen die riesigen +Lettern entgegen: + + »Wallensteins Lager« + »Die Piccolomini« + +Pah! was für Hieroglyphen waren das eigentlich?! Was ging das alles ihn +an? Pah, die Meininger! Pah! Schiller --! + +Komödie ... Komödie! + +Damit war man fertig, das mußte versunken sein und vergessen. -- Und was +stand ganz unten am Rande des Zettels? + + »Freitag: Wallensteins Tod« --?! + +Ja, hatte man gestern nicht selbst probiert, sollte morgen früh wiederum +probieren für die Komödie von übermorgen? Hatte man nicht im Eisenwams +der Pappenheimer Kürassiere gesteckt und sich als Friedländischer +Reitersknecht gefühlt, eine Stunde lang? + +Lüge, alles Lüge ... äffisches Spiel mit längst verpulster Glut, längst +verschütteter Leidenschaft -- Komödie das alles! Unwürdig des jungen +sehnenden Menschentums, das man in allen Knochen fühlte, das leidend +sich aufkrampfte gegen die Not der Stunde -- das nach wildem Rausch, +nach taumelnder Betäubung sich sehnte, das sich selbst vergessen wollte +und vergessen alles um sich her --! + +Nein -- Hans Thumser wird niemals wieder Komödie spielen ... + +Hans Thumser wird mehr nicht sein wollen, als er ist: ein ungarer, +unfertiger Mensch, dessen verdammte Pflicht und Schuldigkeit das eine +nur ist: zu lernen, zu arbeiten, sich zu stählen für die kommenden +Kämpfe des wahren, des wachen Lebens. Morgen, morgen soll's beginnen -- +heut aber: Bier her! Saufen bis zum Umsinken! Vergessen ... vergessen +... vergessen ... + +Da war der »Cafébaum«. Da winkte vom Sims des ersten Stockwerks das +dreifarbene Schild, schneeüberlagert. Und der steingemeißelte riesige +Türke, der sich von dem feisten kleinen Putten die Mokkaschale kredenzen +läßt, trug über seinem steinernen Turban einen doppelt so hohen aus +Schnee ... + +Nun die enge, muffige Stiege hinauf, nun die Klingel gezogen. Drinnen +lärmten schon die Korpsbrüder, die sich zum gewohnten Zechgelage +versammelten. Als der Korpsdiener öffnete, empfing den Ankömmling schon +auf dem Korridor, wo rings die grünen Kneipjacken mit den rot und +goldenen Schnüren an den Wänden hingen, lautes Hallo. + +Volkner, der Senior, hatte geschwatzt: er war Hans Thumser begegnet, als +dieser mit einem mächtigen, seidenpapierumhüllten Rosenstrauß in das +Haus Katharinenstraße zweiundzwanzig hineingegangen war. Daß dieser +Besuch nicht etwa dem früheren Korpsbruder Pilgram gegolten habe, das +hatte der Blumenstrauß verraten. Wo also konnte Thumser gewesen sein als +bei Jucunda Buchner? Halb mit Ulk und halb mit Neid empfing man den +Glücklichen. Der Name Jucundas war ein bißchen verdächtig von dem Fall +Pilgram her. Obwohl der weiland Senior sich bei den Besuchen der +früheren Korpsbrüder hartnäckig über seine Beziehungen zu der Diva +ausschwieg, hatten die Korpsbrüder doch allmählich herausbekommen, daß +jenem sein ritterliches Eintreten für das gekränkte Mädchen wenig Dank +eingetragen hatte ... + +Sich mit Jucunda Buchner einzulassen, das hatte also beinahe schon einen +Beigeschmack von Komik und drohendem Hereinfall ... + +Und dennoch ... der Duft des Lorbeers, der eine ganze Stadt berauschte, +zog wie lichter Weihrauchdunst auch durch die Hirne, welche die grünen +Mützen bedeckten ... + +Der Schwall der Neckereien, die sich über Hans Thumser ergossen, ging +ihm heiß in das siedende Blut -- immer wilder schwoll die sinnlose +Saufstimmung in ihm empor. + +»Füchse, _ad loca_!« brüllte er und nahm am unteren Ende der Kneiptafel +Platz, auf dem hochlehnigen Stuhl, der in Eichenschnitzerei die +Märchengestalt eines aufrechtstehenden Fuchses zeigte, in Cerevis, +Couleurband und Kanonenstiefeln, den Vorderlauf mit einem Schläger +bewehrt. Und um ihren jungen Herrn und Meister zur Rechten und zur +Linken scharte sich die Fuchscorona, sieben junge Bürschlein, darunter +vier Krasse, die erst seit ein paar Wochen der Zucht ihres +Schulmeisters entronnen waren, um der noch viel gestrengeren des +Fuchsmajors zu verfallen -- und drei Brander, Wangen und Nasen schon mit +den ersten Dokumenten bewährten Mensurschneids verziert. + +»Füchse, ich komm Euch den ersten und den zweiten Halben!« rief Hans +Thumser und schüttete das volle Glas hinunter, das der Korpsdiener vor +ihn hingesetzt. + +Gleichzeitig beschied auch der Senior Volkner alles, was der Fuchtel des +Fuchsmajors bereits entwachsen war, an das obere Ende der Kneiptafel: +die Korpsburschen, die Inaktiven der Kartell- und befreundeten Korps, +die sich in Leipzig studienhalber aufhielten und beim Korps verkehrten, +und einzelne Alte Herren aus der Stadt, die sich dann und wann zu den +Zusammenkünften des Korps einfanden. + +Und nun entwickelte sich das altvertraute Bild: von allen Wänden +schauten die Wappenschilder, die gekreuzten Fahnen und Schläger, die +Ehrenhumpen und silberbeschlagenen Trinkhörner, die zahllosen +jahrzehntealten Gruppenbilder, Silhouetten, Porträte der einstigen +Mitglieder des Bundes auf die zechende und lärmende Schar herunter. + +Mit zeremoniellem Anstand erhob sich der Erste: + +»_Silentium!_ Wir trinken zur Eröffnung einer fidelen, offiziellen +Kneipe unser Glas in Gestalt eines Schoppens Salamander! _Ad exercitium +salamandri_ -- eins, zwei, drei!« + +In langen Güssen kollerte der erste Ganze in die zechbereiten Mägen, +rasselnd wirbelte der Salamander und endete mit einem krachenden +Aufklappen aller Gläser auf die massive Eichenplatte der Kneiptische. + +»_Silentium!_« klang da wieder die Stimme des Präsidenten: »Wir singen +als erstes offizielles Lied auf Seite 159: Brüder, zu den festlichen +Gelagen ...« + +In rauhem, taktfestem Unisono schwoll das Lied durch den niedern Raum, +in dem das Brandopfer der Pfeifen und Zigarren sich mystisch über der +Sängerschar emporkreiselte: + + »Brüder, zu den festlichen Gelagen + Hat ein guter Gott uns hier vereint, + Allen Sorgen laßt uns jetzt entsagen, + Trinken mit dem Freund, der's redlich meint. + Da, wo Nektar glüht, + Holde Lust erblüht, + Wie den Blumen, wenn der Frühling scheint.« + +Und Hans Thumser fühlte beglückt, wie die dumpflastende Beklemmung der +einsamen Spätnachmittagstunden von ihm abfiel, und in grimmigem Behagen +stürzte er sich hinein in den schäumenden Strudel des Gelages, spürte, +wie alles, was ihn so im Tiefsten erschüttert, verschwamm, versank, +verflog -- und nichts mehr war, als der tolle Rausch der Stunde. + +»Füchse! Ich komme Euch den elften und zwölften Halben!« + + »Lasset nicht die Jugendkraft verrauchen, + In dem Becher winkt der goldne Stern! + Honig laßt uns von den Lippen saugen, + Lieben ist des Lebens süßer Kern! + Ist die Kraft versaust, + Ist der Wein verbraust, + Folgen, alter Charon, wir Dir gern!« + +-- so verscholl das hellaufrauschende Lied ... + +»_Silentium_ -- schönes Lied _ex_! Ein Schmollis den Sängern!« + +Da trat der Korpsdiener ein. Das glänzende Bemmchengesicht verstört, +fassungslos. Er schlich sich zu dem ragenden Stuhl des Ersten heran, +flüsterte mit vorgehaltener Flosse seinem jungen Herrn etwas ins Ohr, +das diesen stutzen und auffahren machte. Einen Augenblick sann Volkner +nach -- dann flüsterte er dem Korpsdiener zu: + +»Es ist gut -- sagen Sie's Herrn Thumser -- er mag hinausgehen.« + +Mit scharfen Blicken verfolgte Volkner den Gang des Korpsdieners, der +sich nun mit so lächerlicher Behutsamkeit, als tripple er auf Eiern, +hinter den Stühlen seiner Herren entlang zum Fuchsmajor schob und auch +diesem seine Botschaft zuraunte: + +»Entschuld'gen Se, Herr Thumser -- da draußen is Sie nämlich der Herr +Pilgram -- der läßt Ihn' bitten, ob Se nich mächten so freindlich sinn +und gomm'n een Augenblickchen auf'n Flur -- er hat 'n ä wicht'ge +Mitteilung zu machen!« + +Ganz deutlich sah Volkner, wie Thumser zusammenschrak, hastig aufsprang, +einen Augenblick nachsann, dann mit einem fragenden Blick die Erlaubnis +erbat, die Kneiptafel zu verlassen. Nachdem Volkner Gewährung genickt, +bat Thumser den ihm zunächst sitzenden Korpsburschen, ihn in seinem Amt +als Vorsitzender der Fuchsentafel eine Weile zu vertreten. Dann raffte +er sich zusammen und schritt aufrecht, doch blaß, mit zusammengezogenen +Brauen zur Tür hinaus. + +Als er mit dem Korpsdiener durch das anstoßende Konventszimmer schritt, +flüsterte der Alte ihm zu: + +»Se missen nämlich wissen, Herr Thumser, es is Sie schon vor eener +Viertelstunde eene sähre hiebsche, junge Dame dagewesen und hat mich +gefragt, ob der Herr Pilgram mächte uff der Kneipe sinn. Nu, da hab'ch +ihr natierlich nur kennen sagen, daß der Herr Pilgram ieberhaupt nich +mehr wirde uff Kneipe komm' -- und da is se denn wieder abgemacht. Ich +kann Ihn' nur sagen, Herr Thumser, sähr ä hiebsche Dame is es gewesen! +Nobel, püh, ich kann Ihn' sagen, Herr Thumser --!« + +Hans Thumser war einen Augenblick stehengeblieben. Wirre Vermutungen +schossen hin und wider. Pilgram --? Und eine Dame, die nach Pilgram +fragte? Was für unwahrscheinliche Begebenheiten -- auch nicht den +Schimmer eines Verständnisses fand Hans. + +Wer konnte die Dame sein, die Pilgram auf der Frankenkneipe vermutete +--? Was wollte Pilgram von ihm selber --?! + +Nun -- man würde ja hören ... Und abermals straffte Hans den Nacken und +öffnete die Tür zum Korridor. + + +Herzklopfend, von Glut und Frost hin und wider geschüttelt, war Asta +Thöny vor dem Cafébaum aus der Droschke in den weichen Schnee +gesprungen, der nun schon fußtief Bürgersteig und Fahrdamm der schmalen +Gasse überzog. Ob ihr Retter wohl schon drüben sein mochte? + +Hell erleuchtet glänzten die Fenster des ersten Stocks in das +schummerige Dunkel der Straße hinaus, während die ragenden Fronten der +geschwärzten Gebäude ringsum nur noch wenige matte Lichtspuren zeigten. +Auf der Kleinen Fleischergasse wohnte nur bescheidenes Bürgertum, da +ging man früh zur Rast. + +Asta trat auf das jenseitige Trottoir und spähte hinauf. Ab und an +huschte droben schattenhaft der Umriß einer jungen bemützten +Männergestalt vorüber. Durch die verschlossenen Doppelfenster drang +Lachen, vielstimmiges Gespräch, Tabakwolken kräuselten zur Decke, +Wappenschilder, Schläger blinkten an den Wänden -- sonst war nichts zu +erkennen. + +Es blieb nichts übrig: Asta mußte sich in das dunkle jahrhundertalte +Gebäude hineinwagen, mußte fragen, ob droben Herr Pilgram schon +eingetroffen. Mit versagendem Herzschlag kletterte sie die winklige, +dunstige Stiege hinan, hielt einen Augenblick vor der Tür still, an der +ein grün-gold-rotes Farbenschild angebracht war und ein längliches +Porzellanschildchen mit der Aufschrift: + + »Corps Franconia.« + +Drinnen klang lauter nun Lärm und Gelächter. Was half's -- sie mußte es +wagen ... + +Eine schrille Klingel schlug an, Schritte tappten heran, ein ältliches, +gerötetes, glattrasiertes Männergesicht lugte durch den Spalt und +blinzelte befremdet, als es des ungewohnten Besuches ansichtig ward. + +Mit stammelnden Lippen fragte Asta, ob Herr Pilgram schon angekommen. +Verblüfft grinste der Türhüter und erklärte: Herr Pilgram gehöre nicht +mehr zum Korps, er komme überhaupt nicht mehr. + +Gottlob -- also jedenfalls noch nicht zu spät gekommen ... + +Und Asta huschte wieder die Treppe hinunter, stapfte in den Schnee +hinaus und patrouillierte auf dem jenseitigen Bürgersteig, +frostgeschüttelt, erwartungfiebernd. + +Ab und zu kam noch eine grünbemützte Jünglingsgestalt und bog in den +schlechterleuchteten Flur des Cafébaums ein. Von Pilgram keine Spur! -- +Ob er seinen Vorsatz aufgegeben hatte? Sie wußte ja nicht, was er +eigentlich geplant hatte, aber etwas Grausames, etwas Wildes, etwas +Schauerliches mußte es gewesen sein! Davon hatten seine Züge deutlich +genug gesprochen. Und geduldig trippelte das Mädchen auf und ab, ohne +einen Blick von dem schmalen Lichtspalt zu wenden, der durch die +angelehnte Tür des Restaurants auf die Straße lugte. + +Der Schneefall hatte aufgehört. In winterlicher Schwermut gähnte die +menschenleere Straße. Und in die lautlose Stille, welche die abendliche +Stadt überlagerte, klang nun von drüben ein munterer Burschensang, +gedämpft durch die Doppelfenster, doch deutlich vernehmbar. Die Weise +meinte Asta zu kennen, aber Worte dazu wußte sie nicht. Ach, da oben war +er, der liebe, böse Junge ... + +Schau! zur Rechten, vom Marktplatz her glitt lautlos ein riesiger +Schatten heran, scharf abgezeichnet von dem weißen Grunde der Straße, +vom gelben Lichthof, den die Laternen in die Nebel der Nacht zeichneten. + +Er war's! Mit raschen Schritten steuerte er dem »Cafébaum« zu. Da schoß +Asta über den schmalen Straßendamm, traf hart an der Tür auf Pilgram: + +»Herr Pilgram -- ach, Herr Pilgram!« + +Gesenkten Blickes war jener geschritten, nun schrak er zusammen bei der +unerwarteten Begegnung. + +»Ah -- Sie, mein gnädiges Fräulein? -- Ja, um Gottes willen, sind Sie +denn toll? Warum nicht im Bett -- warum hier -- was soll das heißen?!« + +»Ich hatte solch entsetzliche Angst, Herr Pilgram!« + +»Angst? Was fällt Ihnen ein! Angst? Um wen?« + +»Um Sie, Herr Pilgram, um Sie und ... ach! Sie wissen's ja ... um wen -- +um wen noch. Herr Pilgram, ich bitte Sie -- ich flehe Sie an, was haben +Sie vor gegen Herrn Thumser?« + +Flehend hatte sie mit beiden Händen den linken Arm des Studenten +umklammert. + +»Aber Verehrteste ... ich begreife faktisch nicht ... wie kommen Sie auf +derartige Vermutungen?« + +»Ach, ich weiß ... ich weiß ... Sie wollen sich rächen an Herrn Thumser! +Ich weiß alles -- alles weiß ich ... Fräulein Buchner, meine Kollegin -- +Sie sind für sie eingetreten damals ... und dann ... dann hat sie sich +schlecht gegen Sie benommen ... und Sie, Sie hatten doch so viel für sie +dahingegeben, nicht wahr, so war's doch? Und heut -- heut ist Herr +Thumser bei Fräulein Buchner zum Tee gewesen, nicht wahr? ... Und Sie, +Sie haben das gehört und sind wütend auf ihn -- weil Sie denken, er hat +mehr Glück bei Fräulein Buchner als Sie nicht wahr? O, gestehen Sie's +nur, es ist ja keine Schande -- und dann, dann haben Sie mich gefunden +da draußen und denken, er hat mich auf dem Gewissen ... Sie sehen, ich +weiß, ich weiß alles. Und nun, nun wollen Sie ihn -- ich weiß nicht, was +Sie mit ihm machen wollen, aber etwas Schreckliches ist's gewiß. Sehen +Sie -- Sie schweigen -- sehen Sie, ich habe alles begriffen, alles! +Ist's nicht so?« + +Mit zusammengekniffenen Lippen, die Augen fast geschlossen, regungslos +hatte Valentin Pilgram den Schwall dieser bebenden Fragen über sich +dahinschauern lassen. Mit grimmiger Scham fühlte er sich durchschaut, +fühlte den geheimsten Trieb seines Wollens bloßgelegt, den er vergeblich +mit dem lügnerischen Pomp eines Rächers verratener Ehre verhüllt hatte, +und der doch nichts anderes war im letzten Grunde als der Neid des +Verschmähten gegen den Glücklichen, als Eifersucht -- ganz ordinäre, +banale Eifersucht ... + +Doch nein, das war ja nicht wahr -- das durfte ja nicht wahr sein! Da +oben klang der muntere Burschensang -- da oben tafelte die Runde derer, +die sich Mitglieder des ältesten Korps der Hochschule nennen durften, +die das grün-gold-rote Band tragen durften, das nur den Makellosen +schmücken soll. Und in ihrer Mitte saß einer, der doppelten Verrats +schuldig war: an dem Gefährten dreier Semester und an der Gesellin +glückseliger Liebesstunden. + +Und er --? Er hatte auf all das verzichtet, verzichten müssen um der +Ehre willen. Hatte das einen Sinn? Durfte das so bleiben? Nein, beim +Himmel, das sollte es nicht, solange es einen Valentin Pilgram gab. Wenn +er denn schon selber die geliebten Farben nicht mehr tragen durfte, +deren er doch wahrhaft würdig war wie einer, sollte dann der andere sich +mit ihnen brüsten dürfen, der das Recht auf sie schmählich verscherzt +hatte ...?! + +»Herr Pilgram,« klang's da in schmelzendem Flehen neben ihm, »so +sprechen Sie doch! Bitte, bitte, so sprechen Sie doch, habe ich nicht +recht?« + +»Mein verehrtes Fräulein,« sagte der Student, indem er seinen linken +Arm der flehenden Umschlingung entzog, »ich bedaure, Ihnen über mein +Tun und Lassen keine Rechenschaft ablegen zu können. Es mag sein, daß +ich etwas Aehnliches, wie Sie denken -- nun, daß ich ... das gewollt +habe ... und noch will. Wenn es so ist, so dürfen Sie überzeugt sein: +ich weiß genau, was meine Pflicht ist ... Und darum muß ich Sie schon +bitten, mich gewähren zu lassen.« + +Da trat ihm das Mädchen in den Weg, legte beide Hände auf seine +Schultern, brennende Augen starrten zu ihm empor, aus denen Tränen +rannen, hell aufblitzend im matten Lichtstreifen, der aus der Flurtür in +den Schnee der Gasse fiel: + +»Nein -- nein, das dürfen Sie nicht! Mir zuliebe dürfen Sie's nicht ... +Ja, es ist wahr, wegen dem da oben hab' ich heute das Leben wegwerfen +wollen -- nun haben Sie mich gerettet -- aber wenn Sie ihm etwas zuleide +tun, dann ist alles aus, dann hätten Sie mich nur lieber gleich da unten +in der Pleiße lassen sollen ... Ich will nicht, daß ihm ein Leids +geschieht um meinetwillen -- ich will's nicht -- und Sie, Sie dürfen's +nicht -- Sie dürfen mich nicht wieder dahin zurückstoßen, woher Sie mich +heut abend geholt haben -- nein! Herr Pilgram, das dürfen Sie nun und +nimmermehr.« + +»Gnädiges Fräulein,« sagte Valentin, »wenn es Sie beruhigen kann, so +will ich Ihnen versichern: das, was jetzt gleich geschehen wird, war +beschlossene Sache schon ehe ich Sie ... da draußen ... fand. Ich kann +mich nicht darauf einlassen, Ihnen das alles so auseinanderzusetzen. Was +Sie von mir denken mögen oder nicht denken mögen -- ich kann's bedauern, +aber ich kann's nicht ändern. Das alles muß nun seinen Lauf gehen. +Versuchen Sie nicht mich aufzuhalten, es hat keinen Zweck.« + +Es sollte wohl nur ein sanfter Druck sein, mit dem die hageren Hände des +weiland Frankenseniors die runden Gelenke der Schauspielerin von seinen +Schultern lösten, doch er war unwiderstehlich, wie das Zupacken +stählerner Zangen. Mit der gleichen unerbittlichen Gewalt, mit der er +vor wenig Stunden des Mädchens Glieder der Flutenumschlingung entrissen, +schob er sie nun zur Seite, wie ein willenloses Püppchen, und war mit +zwei raschen Schritten im gähnenden Toreingang verschwunden. + +Asta taumelte, als der Druck der gewaltigen Hände plötzlich nachließ. +Dabei trat sie unversehens einen halben Schritt rückwärts, geriet mit +dem Fuß in den lockeren Schneeaufwurf über dem Rinnstein, sank tief ein, +strauchelte, fiel in die Knie, stieß einen Schmerzenslaut aus: sie mußte +sich den Fuß verstaucht haben. Aber die heiße Angst um das, was werden +mochte, jagte sie wieder empor. Sie humpelte mit schmerzverzogenem +Gesicht zur Tür, stieß sie auf, lauschte hinein. Droben auf der Treppe +waren Pilgrams Schritte schon verhallt. Nur das Burschenlied brauste +noch immer weiter, klang und schwang durch das ganze altersmüde Gebäude. +In dem kleinen Restaurant des Erdgeschosses zur Linken das schläfrige +Stammtischgeschwätz, das Auftrumpfen der Karten, das Klappern der +Biergläser. Asta schlich durch den Hausflur, hinkte mühsam die Treppe +hinauf, stand wieder an der Tür mit dem Porzellanschildchen: Corps +Franconia, legte das Ohr an die dünne Holzwand und lauschte. + +Ganz deutlich dröhnte nun ein neuer Vers des feierlichen Liedes da +drinnen, dazwischen halblaute Stimmen, es schien Pilgram zu sein, +welcher im Flur mit dem alten Mann verhandelte, der sie vorhin an der +Pforte beschieden. Aber dies leise Gespräch blieb unverständlich, +dagegen war der Text des Liedes Wort für Wort zu verstehen. In frohem +Trotz scholl die alte Jugendweise daher: + + »Lasset nicht die Jugendkraft verrauchen, + In dem Becher winkt der gold'ne Stern! + Honig laßt uns von den Lippen saugen, + Lieben ist des Lebens süßer Kern! + Ist die Kraft versaust, + Ist der Wein verbraust, + Folgen, alter Charon, wir Dir gern!« + +Und nun plötzlich war das Lied zu Ende, ein paar unverständliche, +kommandoartige Worte klangen von drinnen, ein lustiger Aufschrei von +vielen Stimmen, dann munter durcheinander schwirrendes Stimmengewirr. +Einige Sekunden verflossen so: dann hörte Asta ganz deutlich, wie +drinnen eine Tür heftig aufgerissen wurde und jemand in den Flur trat -- +und jetzt klang drinnen gedämpft, doch klaren, festen Klanges des +geliebten Jungen Stimme: + +»Guten Abend, Pilgram -- Du hast mich zu sprechen gewünscht? Bitte, was +steht zu Deinen Diensten?« + +Da fühlte Asta, wie der Puls ihres Herzens aussetzte. Ganz fest preßte +sie ihr Ohr an das glatte, ölgestrichene Holz, ihre froststarren Hände +umklammerten krampfhaft den messingenen Türgriff, und in schlotterndem +Lauschen vernahm sie jedes Wort, das drinnen gesprochen wurde, vernahm +sie alles, was drinnen geschah ... + + +Hochaufgerichtet standen die zwei schlanken Jünglingsgestalten einander +drinnen gegenüber in dem schmalen Flur, den nur eine schwelende +Petroleumlampe erleuchtete. Rechts und links hingen Kneipjacken und +Garderobenstücke an den Regalen, welche die Wände umzogen -- ein fader +Dunst von altem Tabak und Bierneigen füllte den dumpfen Raum. Hinter der +mittleren Tür, die zum Kneipzimmer führte, klang heftiges Stimmengewirr, +das stiller und stiller ward. Offenbar war man drinnen aufmerksam +geworden, daß hier draußen sich Ungewöhnliches vollziehe, wartete man +gespannt, wie das wohl werden möchte. + +Hans Thumser hatte Pilgram die Hand hingestreckt. Der übersah sie, griff +stumm in die Brusttasche seines Rockes und reichte Hans Thumser einen +Brief hin. + +»Lies!« sagte er. + +Hans ließ die erstaunten Blicke hin und wider gleiten zwischen dem +Schreiben und dem, der es ihm gereicht, dann trat er in den Lichtbereich +des mattglänzenden Flurlämpchens und erkannte, daß der Brief mit +fahrigen, steilen Schriftzügen einer Frauenhand bedeckt war: + + »Sehr geehrter Herr! Ihr dankenswertes Eintreten für meine Ehre hat + schnell den gewünschten Erfolg gehabt. Die beiden Herren, welche mir + zu nahe getreten waren, haben mündlich bei mir um Entschuldigung + gebeten. Ich danke Ihnen innigst für das große Opfer, das Sie mir + gebracht haben ...« + +Verblüfft ließ Hans den Brief sinken: + +»Was soll ich damit?« fragte er, »was geht das mich an?!« + +»Dreh doch gefälligst einmal den Bogen um!« befahl Pilgram in +ingrimmiger Ruhe. + +Hans wandte den Bogen um und entdeckte mit grenzenlosem Staunen rechts +an der unteren Ecke der vierten Seite, auf dem Kopfe stehend, seine +Initialen und darüber den Frankenzirkel. Er drehte den Bogen um, und +richtig: es war kein Zweifel, das war einer von seinen eigenen +Briefbogen. Völlig verdutzt sah er den einstigen Korpsbruder an, um +dessen festgeschlossene Lippen ein mattes Lächeln des Triumphes irrte. + +»Von wem ist der Brief?« fragte Hans Thumser mit unsicherer Stimme. + +»Spiel' mir gefälligst keine Komödie vor!« brauste Pilgram auf. + +»Aber ich versichere Dir, ich habe nicht den leisesten Schimmer.« + +»Pfui Deubel -- nicht mal den Mut hast Du ... Gib her den Brief! Und nun +weiter! Warst Du heut' nachmittag bei Fräulein Buchner?« + +»Aber ich verstehe faktisch nicht,« stammelte Hans. »Wenn ich Dir sage, +daß ich auch nicht die entfernteste Ahnung habe --!« + +»Ich frage Dich, ob Du heut nachmittag bei Fräulein Buchner warst? Gib +Antwort -- oder ich mache kurzen Prozeß mit Dir!« + +Nun richtete sich Hans denn doch aus der unsicheren Haltung verlegenen +Staunens zu seiner ganzen Größe auf. Zwar reichte er nicht an die +riesige Länge des einstigen Freundes, aber gleich straff emporgereckt +stand er ihm gegenüber, sah ihm von unten frei und trotzig ins Gesicht, +und funkelnd, wie zwei Säbelklingen in der Auslage, so blitzten das +braune, das blaue Augenpaar einander an. + +»Ich frage Dich,« sprach er kalt gemessen, »was Dich berechtigt, mich in +einem derartigen Ton zur Rede zu stellen?« + +»Das weißt Du.« + +»Nein, ich weiß es nicht. Ich wünsche es von Dir zu hören.« + +»Ich verzichte darauf, Dir Aufklärung zu geben. Ich wiederhole Dir meine +Frage -- willst Du antworten?!« + +»Wer mich in diesem Tone fragt, bekommt keine Antwort!« + +»Schön! Was wirst Du nun aber sagen, wenn ich Dir mitteile, daß in +derselben Stunde, in der Du bei Jucunda Buchner warst, Fräulein Asta +Thöny am 'Wassergott' in die Pleiße gesprungen ist --?!« + +Da wurde Hans Thumsers fester Blick plötzlich stier und starr. Die +Kinnbacken klappten herunter, langsam schob sich seine Rechte an der +Brust empor, glitt tastend nach dem Achtzentimeterkragen. + +»Das ist ... das ist nicht wahr!« + +»Mein Ehrenwort, daß es wahr ist ... und Du weißt, scheint's, auch, wer +sie hineingetrieben hat?!« + +Da umklammerte Hans Thumser plötzlich mit beiden Händen des ehemaligen +Korpsbruders Arm und stammelte, schlotternd vor Entsetzen: + +»Sie ist tot?!« + +Valentin Pilgram machte sich frei, trat einen halben Schritt zurück. + +»Ich hatte das Glück sie zu retten ... bedank' Dich also bei mir, daß Du +nicht als Mörder vor mir stehst.« + +Ein stöhnender Laut, ein Jauchzen halb und halb ein Schluchzen brach aus +Hans Thumsers Brust zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor: + +»Erzähl' doch -- so erzähl' mir doch.« + +»Nein,« sagte Valentin Pilgram hart, »Du hast Fräulein Thöny von Dir +gestoßen -- es mag Dir genügen, daß sie lebt -- alles weitere geht Dich +nichts mehr an.« + +»Also was willst Du von mir?« schrie Hans Thumser, »sag' mir endlich, +was Du von mir willst?!« + +»Du sollst bekennen, daß Du ein elender, wortbrüchiger Bube bist ... Du +sollst das Korpsband da abziehen ... Du verdienst nicht mehr, es zu +tragen. Willst Du? Oder soll ich Dich dazu zwingen?« + +Da straffte sich Hansens Gestalt aufs neue. Seine Fäuste ballten sich, +als erwarteten sie den Angriff des Feindes -- ja, des Feindes, denn was +in den blauen Augen drüben düster flammte, war Feindschaft -- +Todfeindschaft ... + +»Versuch's!« sagte er nur. + +In diesem Augenblick ward die Tür zum Kneipzimmer hastig von drinnen +aufgerissen, blendender Lichtglanz quoll hervor, und hinter der Tür, +Kopf an Kopf, drängte sich das Korps: ein zu Tode erschrockenes +Jungmännergesicht hinter dem andern, ganz hinten stand man auf Stühlen +und Tischen, um das entsetzenerregende Schauspiel zu erreichen, wie da +zwei Jünglinge, die einst die gleichen Farben getragen, auf Leben und +Tod einander gegenüberstanden. + +»Pilgram! Thumser!« schrie alles durcheinander, »um Gottes willen, was +habt Ihr nur?!« + +Gleichzeitig schlug mit gellendem Schrillen die Etagenklingel an, und +gegen das Holz der Flurtür hämmerten matte Schläge, wie von einem zarten +Kinderhändchen. Und wie ein Schrei klang draußen das wimmernde Flehen +einer Frauenstimme: + +»Herr Pilgram -- tun Sie's nicht, Herr Pilgram!« + +Mit halbem Blick nur überflog Valentin Pilgram die hervordrängende Schar +der einstigen Korpsbrüder ... dann, als sei er noch allein mit dem +Gegner Aug' in Auge, wandte er sich wieder zu ihm und wiederholte: + +»Also noch einmal: Gibst Du es zu, daß Du ein elender Schelm bist? +unwürdig des Bandes, das Du trägst?« + +Mit eisiger Festigkeit hielt Hans Thumser des Feindes haßsprühenden +Blick aus. + +»Geh!« sagte er, »das weitere findet sich morgen.« + +In derselben Sekunde hatte Valentin Pilgram dem Gegner das Korpsband von +der Brust gerissen und es zu Boden geschleudert. Nun holte seine Rechte +weit aus, um ihm die Mütze vom Kopf zu schlagen. Im selben Augenblick +aber warfen sich die Korpsburschen mit lauten Entsetzensschreien auf +beide Gegner von hüben und drüben, trennten sie, alles schrie wie toll +durcheinander: + +»Pilgram, Du bist wohl wahnsinnig!« + +»Zurück, haltet Ruhe, zum Teufel!« + +»Was fällt Euch ein?!« + +»Wir sind auf Korpskneipe!« + +»Schmeißt ihn hinaus, er hat hier nichts mehr zu suchen!« + +»Laß gut sein, Thumser, er wird Dir Satisfaktion geben, morgen findet +sich alles -- morgen!« + +Volkner, der Senior, brach sich Bahn durch die dicht zusammengekeilte +Schar der jungen Männer. + +»_Silentium!_« schrie er. »Ich bin hier der Herr im Haus. Tritt vor, +Pilgram, was soll das, was fällt Dir ein? Dich hier einzudrängen und +Dich an einem von uns zu vergreifen? Du weißt, Du hast kein Recht mehr, +hier zu sein!« + +Die Zucht vieler Semester, die eiserne Disziplin des Korps rief Pilgram +zur Besinnung zurück. + +»Du hast recht, Volkner,« sagte er. »Habt die Freundlichkeit mich +loszulassen ... es wird nichts weiter passieren, verlaßt Euch drauf.« + +Und ruhig und gemessen trat er vor den Senior: + +»Verzeih mir -- ich hatte mich vergessen. Ich denke, Ihr verzichtet wohl +alle auf eine weitere Aufklärung ... dafür ist ja das Ehrengericht da.« + +»Allerdings,« sagte Volkner, »dafür ist ja wohl das Ehrengericht da.« + +»Gut,« sagte Pilgram. »Ich bitte das Korps also nochmals feierlichst um +Entschuldigung -- ich bin morgen vormittag bis ein Uhr in meiner +Wohnung. Guten Abend.« + +Alles wich zur Seite. Noch einmal maß Valentin Pilgram mit kurzem Blick +der Todfeindschaft seinen Gegner, der schwer atmend, mit +rotunterlaufenen Augen, doch völlig gefaßt inmitten seiner Korpsbrüder +stand ... schritt zur Tür, riß sie auf. + +Da bot sich ein unerwartetes Schauspiel: Auf der Schwelle kniete, +tränenüberströmt, zusammengekauert, ein Mädchen im grauen Pelzjackett. +Nun sprang sie auf die Füße, starrte mit angstverzerrten Zügen, blöden +Blicks in den Korridor hinein, in dem Kopf an Kopf Grünbemützte sich +drängten, warf sich dann jählings herum und floh wie gejagt die Treppe +hinunter. + +Und langsam, schwerfälligen Schritts ging Valentin Pilgram von dannen +und ließ die Tür ins Schloß fallen. + + + + + 14. + + +Asta hatte nicht schlafen können. Das Fieber hatte in dem zierlichen, +doch kerngesunden Körperchen rumort -- doch der Gedankensturm, der ihr +Hirn durchbrauste, der Drang zu leben, zu helfen, ihr armes bißchen Sein +dafür einzusetzen, daß nicht unsagbar Entsetzliches geschähe -- dies +inbrünstige Wollen hatte die heraufbrauende Krankheit niedergeworfen. +Und früh um neun schon klopfte sie an Jucunda Buchners Tür. + +Frau Kanzleirätin, noch in Nachtjacke und Unterrock, hatte hoch und +teuer geschworen, Jucunda sei noch nicht zu sprechen. Asta Thöny hatte +sich nicht abweisen lassen. + +»Sie wird mir's danken, gnädige Frau!« + +Aber Jucunda Buchner dankte nicht. + +Aus unruhigen Morgenträumen voll ehrgeiziger Hoffnungen und +ahnungsvoller Beklemmungen hatte das Pochen der Kollegin sie +aufgeschreckt. Nun saß sie aufrecht im Bett, sehr ungnädiger Laune, +kaum, daß sie der Besucherin einen Stuhl anbot. Sie liebte es nicht, +sich unvorbereitet überraschen zu lassen. + +Mit fliegenden Worten berichtete Asta: ihren Spaziergang an der Pleiße +verschwieg sie allerdings, um so genauer aber erzählte sie von dem +Renkontre zwischen Pilgram und Thumser auf der Frankenkneipe und sparte +nicht an grellen Farben. Sie war überzeugt gewesen, Jucunda würde +alsbald um Hans Thumsers willen mit allen Anzeichen des Entsetzens aus +dem Bette springen und Hals über Kopf zu dem Geliebten wollen, um ihm +nicht von seiner Seite zu weichen, bis die Gefahr an ihm vorübergegangen +war ... + +Statt dessen sah Jucunda sie stillschweigend mit spöttisch +zusammengebissenen Lippen an, als sie hocherglühend ihren Bericht +geendet. + +»Nun?« fragte Asta ganz erstaunt. + +»Mir fällt etwas auf an Deiner Erzählung, liebes Kind,« sagte Jucunda. +»Du erzählst mir da von einem Auftritt, der sich auf der Frankenkneipe +zugetragen hat ... und zwar wenn ich recht verstanden habe, hast Du +nicht nur vom Hörensagen berichtet, sondern Du warst selber dabei +gewesen -- stimmt's oder stimmt's nicht?!« + +Astas Wangen, vom heftigen Gang durch den Schnee gerötet, glühten noch +höher auf. + +»Ja ... ich habe alles ... selbst mit angehört ...« gestand sie. + +»Hm -- dann darf ich mir wohl die Frage gestatten: wie kommst denn Du +auf die Frankenkneipe?« + +Astas Hände zupften unstet an den Falten ihres Rockes. + +»Ja, wie soll ich Dir das ... erklären? Es ist ja auch ... eigentlich +gleichgültig ... wie ich hingekommen bin -- ich war eben ... da.« + +»Nun, so gleichgültig kann ich das eigentlich nicht finden,« meinte +Jucunda. Sie lehnte sich zurück in die Kissen, stützte sich auf die +Ellbogen und fixierte die niedliche Kollegin mit überlegen spöttischem +Blick. »Na, also lassen wir das einstweilen mal dahingestellt. Aber: zu +welchem Zweck teilst Du mir denn das alles mit?« + +»Ja, aber um Gottes willen, Jucunda, das geht doch nicht, das darf doch +nicht sein, daß die zwei guten Jungens sich totschießen Deinethalb!« + +»Meinethalb?« Jucunda hatte sich hochaufgerichtet. »Wieso meinethalb? +Erkläre mir das!« + +»Ja, aber Jucunda -- das ist doch ganz klar! Uebrigens, um Gottes +willen, der eine, der Pilgram, der wohnt doch hier nebenan, gelt, kann +der uns auch nicht etwa hören?« + +»Beruhige Dich, liebes Kind, meine Mutter hat mir schon mitgeteilt, daß +er heut nacht nicht nach Hause gekommen ist. Also bitte, wie kommst Du +auf diesen Einfall?« + +»Aber begreifst Du denn das noch immer nicht?! Der Pilgram ist doch nur +eifersüchtig auf den Thumser, weil Du ihn hast abfallen lassen und den +andern -- --« + +»Und den andern?!« fragte Jucunda scharf. »Na, was denn! Bitte, was +denn?!« + +»Nun, der andere ... ist denn der andere nicht gestern nachmittag bei +Dir ... bei Dir gewesen --?« + +»Er war gestern nachmittag zum Tee bei mir, nu! Und was weiter?« + +»Zum -- Tee --?!« fragte Asta mit einem halb wehmütigen, halb +verschmitzten Lächeln. »Nur zum Tee --?« + +»Na! zu was denn sonst, bitte?!« fragte Jucunda heftig. + +»Na, wir wollen nicht streiten,« meinte Asta. »Also: ob die zwei braven +Kerle sich Löcher in den Leib schießen Deinethalb, Dir ist's rund herum +egal, scheint's?!« + +»Meinethalb? Ich weiß nicht, ob sie's meinethalb tun, mir haben sie's +nicht gesagt. Und übrigens -- ich möchte wissen, was ich daran ändern +kann, wenn die zwei sich's in den Kopf gesetzt haben, aufeinander +loszuknallen. Ich habe sie nicht geheißen, ich kann sie nicht hindern!« + +Asta Thöny spielte mit den Zipfeln ihres Pelzjacketts und sann +angestrengt nach mit zusammengekniffenen Brauen. Dabei stieg eine helle +Freude, ja ein lustiger Uebermut langsam, aber immer mächtiger in ihr +empor. Das war ja eigentlich wunderschön, was sie da erfuhr. Sieh da, +Hanschen! Viel Glück scheinst du mit deinem Teebesuch bei der großen +Jucunda ja nicht gehabt zu haben! Und für das bißchen Ehre auch noch +totgeschossen zu werden -- nein, das wollen wir doch mal sehen, ob wir +das nicht hintertreiben können. Aber dazu brauchen wir ja wohl nicht die +große Jucunda -- das können wir uns schließlich auch allein verdienen +... + +»Verzeih, liebe Jucunda,« sagte sie. »Ich habe mir eingebildet, Du +hättest was übrig für Hans Thumser, da habe ich mich also anscheinend +geirrt. Nun dann freilich --« + +»Allerdings, mein Kind, da hast Du Dich geirrt. Vielleicht erinnerst Du +Dich daran, daß Herr Thumser zwanzig Jahr und ein Student ist. Es mag ja +Kolleginnen geben, die sich aus derartig -- ungaren jungen Herren was +machen. Ich für meine Person -- ich lege auf derartige Bekanntschaften +keinen Wert.« + +Ach so, die Großartige willst du spielen! Na warte --! + +»Wenigstens nicht, wenn's ein x-beliebiger Bürgerlicher ist, willst Du +sagen, nicht wahr? Wenn's freilich ein Prinz wäre -- das ist was andres, +gelt, Jucunderl, denn kann er so ungar sein wie er will, hab' ich +recht?« + +Da fuhr Jucunda Buchner so heftig in die Höhe, daß Asta Thöny +unwillkürlich aufstand und einen halben Schritt zurückwich. Die schönen +Hände krallten sich, das majestätische Gesicht verzerrte sich zum +Ausdruck einer Medusa, die stahlblauen Augen funkelten Wut gleich den +Lichtern einer gereizten Katze: + +»Was fällt Dir ein, was erlaubst Du Dir?!« Doch rasch glätteten sich +ihre Züge zum Ausdruck eiskalter Verachtung, sanken die schönen +Schultern nachlässig in die Kissen zurück, und mit einer Handbewegung, +gleich jener, mit der eine Königin eine unbotmäßige Kammerfrau entläßt, +befahl sie: + +»Verlassen Sie mein Zimmer, mein Fräulein!« + +Asta Thöny lächelte ihr boshaftes Spitzbubenlächeln. Sie sank in einem +tiefen Hofknix zusammen: + +»Zu Befehl, Frau Marquise, wünsche gute Karriere.« Und schon war sie +hinaus. + +Während sie die Katharinenstraße hinunterschritt und den Marktplatz +überquerte, dessen Schneedecke grell im duftumschleierten Lichte des +frühen Wintermorgens gleißte, fühlte sie sich fast erstickt von der +Seligkeit, die verhaßte Rivalin einmal bis aufs Blut geärgert zu haben. + +So eine Hundeschnauze! so eine eiskalte! Tut, als hätte sie keine +Ahnung, daß sie es doch allein ist, die all den Unfug angestiftet hat in +den Brauseköpfen hüben und drüben -- Gott! und wer weiß, was für +Dummheiten sie sonst noch alles auf dem Gewissen hat! Ist nicht dies +ganze Nest wie verrückt nach ihr? Aber das ist das Blödsinnige an dem +Ruhm: hat unsereins sich erst mal durchgesetzt, dann liegt die Welt vor +ihr auf dem Bauch, und das verrückte Mannsvolk bringt sich um für das +Glück, von ihr mit Füßen getreten zu werden ... + +Aber jetzt -- jetzt ist sie wild. Jetzt faucht sie zu Hause, jetzt hat +sie einmal gespürt, daß auch noch andere Katzen Krallen haben --! + +Aber schau -- wer war denn das? Da kamen aus der Kleinen Fleischergasse +zwei grüne Mützen heraus, zwei Franken-Korpsburschen, sehr feierlich. +Der eine, der ältere, trug den Paletot nachlässig geöffnet, und man sah +darunter den bis hoch hinauf zugeknöpften Bratenrock ... Handschuhe +trugen sie, gestreifte Hosen und Gummigaloschen. Der ältere, den kannte +sie, den hatte ihr Hans einmal von ihrem Fenster aus gezeigt, es war +Volkner, der jetzige Häuptling des Frankenbundes. Ingrimmigen Ernst auf +den jungen Gesichtern, steuerten die zwei über den Marktplatz, bogen in +die Katharinenstraße und verschwanden in der Tür, die sie selber soeben +verlassen. + +O Gott -- sie wußte, was die zwei zu suchen hatten bei Valentin Pilgram +da droben ... sie wußte: die sollten ihm Hans Thumsers Forderung +überbringen ... das waren die Kartellträger ... + +Daß Hans Thumser kein Glück gehabt bei Jucunda ... und daß sie selber es +der verhaßten Rivalin einmal gründlich gegeben -- über dieses doppelte +Glück hatte Asta völlig den blutigen Ernst der Situation vergessen ... +Sie wußte: Kavaliere -- und waren sie auch erst seit ein paar Semestern +flügge geworden, wie die Herren Korpsstudenten -- die fackeln nicht +lange mit dem Austrag solcher Händel. Und wenn erst die Pistolen geladen +sind, dann kommt guter Rat zu spät ... und dabei mußte sie ja doch in +die Probe. Morgen abend war ja Abschiedsvorstellung -- »Wallensteins +Tod« -- und wenn sie auch nur ein winziges Röllchen hatte, das Fräulein +von Neubrunn, Theklas Gesellschafterin und Vertraute -- die Probe +versäumen, das hätte sie sich doch nicht getraut. Der stramme +Pflichtgeist, der das Meininger Ensemble beseelte, ließ einen solchen +Gedanken selbst in höchster Not niemals aufkommen. Schon dreiviertel +zehn, also höchste Zeit! Asta sprang in eine Droschke, befahl »Zum +Carolatheater!« und drückte sich fröstelnd in den verschlissenen Plüsch. +All ihr Uebermut war verweht. Was auf den starren, korrekten +Amtsgesichtern der zwei jungen Gesellen da gestanden hatte, das legte +sich wie eisig umklammernde Knochenfinger um ihr Herz. + +Die zwei suchten Pilgram ... und wenn er jetzt noch nicht daheim war, er +würde kommen, sie würden ihn finden, würden ihre Botschaft ausrichten +... Und dahinter lauerte ein Schreckensbild: das Bild einer +tiefverschneiten Waldblöße, die in unberührter, weiter Fläche daliegt im +ersten Morgenschein ... Nun rollen von hüben und drüben zwei Wagen +heran, lautlos ... ein paar junge Männer entsteigen ihnen, rüsten sich +zu geheimnisvoll grausigem Tun -- nun treten sie alle rechts und links +zur Seite, und zweie nur bleiben inmitten stehen, wenige Schritte nur +voneinander, sie heben blitzende Läufe -- einer zielt nach des andern +Herzen ... und der eine von ihnen heißt Hans Thumser ... + +Was tun? o Gott, was tun?! + +Da, ein rettender Gedanke: Franz Burg ... der war doch einmal +akademischer Bürger ... Wenn einer der Meininger nicht mehr ein noch aus +wußte, ging er ja immer zu Franz Burg ... + +Ja, das war's! Franz Burg mußte Rat schaffen. Aber wie den Gestrengen +erreichen? Wenn sie auf die Bühne kam, würde die Generalprobe bereits +begonnen haben -- und bis die beendigt war, durfte man dem Szenenleiter +mit nichts anderm kommen, aber auch mit gar nichts. Solange gehörte er +nur seinem Werk. Und jeder Versuch, ihn mit andern Dingen zu befassen, +würde höchstens eine erstaunliche Grobheit eingetragen haben. + +Und darüber würde es drei Uhr werden ... Gott, was konnte inzwischen +alles geschehen! So lange war man machtlos, war man im Dienst ... war +man »Fräulein von Neubrunn, Hofdame der Prinzessin«. + +Und die Prinzessin? -- Selbstverständlich Jucunda Buchner ... die große +Jucunda ... + + +Drei Uhr nachmittags. + +Auf der Kneipe des Korps Misnia tagte das S. C. Ehrengericht zur +Entscheidung über die hängende Pistolenforderung des Korpsburschen eines +wohllöblichen C. C. der Franconia Thumser wider den früheren C. B. +Pilgram. + +Der Kneipsaal, sonst nur »zu den festlichen Gelagen« bestimmt, war nun +zu verhängnisschwerer Tagung eingerichtet. An den hufeisenförmigen +Tischen saßen die Ehrenrichter, je zwei von jedem der fünf Leipziger +Korps, und von dem präsidierenden Korps Misnia noch ein dritter +Korpsbursch als Protokollführer. + +Wie um das feierlich Eindrucksvolle des Femgerichts zu unterstreichen, +waren die Schlagläden heruntergelassen, und die gelben Flammen der +Gaslichtkrone warfen zuckende Reflexe auf die bunten Mützen, die +dreifarbenen Bänder, die blinkenden Scheiben der Klemmer und Monokels, +die schmißdurchsetzten Jugendwangen, die in feierlich offizielle Falten +gelegt waren. + +Hans Thumser, als der Beleidigte, wurde zuerst gehört. + +Mit knappen Worten berichtete er den Vorfall, der sich am gestrigen +Abend auf der Kneipe seines Korps zugetragen. Als er geendet, fragte der +Vorsitzende, Graf Schmettow, der Erste der Meißner, ein über die Maßen +patenter, hagerer Gesell, dessen linke Wange eine furchtbare Säbelnarbe +von der Schläfe über den Mundwinkel bis ins Kinn hinein durchzog: + +»Danke, Herr Thumser. Ihre Erzählung ist natürlich so, wie sie da +vorgetragen worden ist ... äh ... nicht so recht verständlich ... +offenbar ist doch zwischen Ihnen beiden ... äh ... noch irgend etwas +andres vorgekommen ...? Wollen Sie uns auch darüber Auskunft geben, oder +wünschen Sie, daß zunächst sich Ihr Herr Gegner ... äh ... über den von +Ihnen vorgetragenen Tatbestand erklärt?« + +Hans Thumser sann einen Augenblick nach. Astas Bild, Jucundas tauchte +einen Augenblick vor seinem Geiste auf. Hatte es einen Zweck, diese +Erlebnisse in die Verhandlung mit hineinzuziehen? -- Es war ja +schließlich ganz gleichgültig, wie das alles geworden war ... wie es +hatte kommen können, daß der einstige Korpsbruder ihm das Band von der +Brust gerissen ... das war nun einmal geschehen. Die Tat lag vor, nackt +und unerbittlich ... Für sie hatte er Sühne zu fordern -- sie zu +erklären war allenfalls des andern Sache, nicht die seine ... + +»Ich habe vorläufig nichts weiter mitzuteilen, Herr Vorsitzender.« + +Damit war er entlassen. + +Und mit angespannter Neugier hingen nun die Blicke der jugendlichen +Ehrenrichter an der Reckengestalt des Jünglings, der so lange als der +Besten einer in ihrer Mitte gestanden hatte, dessen scharfe Klinge nicht +nur, dessen scharfes Wort, dessen ganzes vorbildliches Wesen einem jeden +stets den vollkommensten Respekt abgezwungen. Da war keiner im +Leipziger S. C., der nicht den Fall Pilgram mit brennendem Interesse, +mit aufrichtiger Sympathie verfolgt hätte. Und jeder hatte Gelegenheit +gehabt zu beobachten, wie Franconias einstiger Senior schon gar bald +nach seinem Ausscheiden aus dem Korps wie unter der Last eines +grundstürzenden Erlebnisses förmlich in sich zusammengesunken war, +verändert, verwildert, tiefster Verbitterung anheimgefallen. + +Nun schien er wieder der Alte, zum mindesten in seiner äußeren +Erscheinung. Korrekt gescheitelt und gekleidet, in tadellosem Gehrock +und Lackschuhen stand er vor dem Ehrengericht, nur um seine Brust fehlte +das Band und auf seinem Gesicht das alte trotzig-heitere +Selbstbewußtsein ... + +»Herr Pilgram,« begann der Vorsitzende, »ich brauche Ihnen nicht zu +sagen, worum es sich handelt. Herr Thumser Franconiae hat Ihnen eine +Pistolenforderung auf fünfzehn Schritt Barriere und Kugelwechsel bis zur +Kampfunfähigkeit übersandt wegen eines Renkontres, das Sie mit ihm +gestern abend gegen neun Uhr auf der Frankenkneipe gehabt haben. +Entsinnen Sie sich der Ausdrücke, die Sie gebraucht haben, und ist es +Ihnen auch bewußt, daß Sie ihm das Korpsband von der Brust gerissen, +dann zum Schlage ausgeholt haben, und nur durch das Dazwischentreten der +Herren Korpsbrüder des Herrn Thumser verhindert worden sind, Herrn +Thumser noch weiter tätlich anzugreifen?« + +»Allerdings,« erklärte Pilgram ruhig. »Ich entsinne mich des Vorfalls +genau. Ich war vollständig Herr meiner Sinne und übernehme für meine +Handlungsweise die volle Verantwortung.« + +»Sie sind also bereit, Herrn Thumser die standesübliche Genugtuung mit +der Waffe zu geben? Und haben andrerseits nicht die Absicht, +irgendwelche andere Formen der Sühne in Vorschlag zu bringen?« + +»Nein!« sagte Valentin Pilgram. + +Einer der Ehrenrichter bat ums Wort. Herr ten Brink, der Erste +Chargierte der Guestphalia, ein langer, semmelblonder, sommersprossiger +Sohn der roten Erde. + +»Es ist mir was aufgefallen in der Erzählung des Herrn Thumser,« sagte +er. »Herr Thumser hat erzählt, Sie hätten ihm einen Brief zu lesen +gegeben, dessen Inhalt ihm vollständig unbekannt gewesen sei. Wollen Sie +sich über diesen Punkt vielleicht auslassen?« + +»Darf ich mir die Frage gestatten, Herr Vorsitzender,« erwiderte +Pilgram, »ob Herr Thumser über diesen Punkt bereits nähere Erklärungen +gegeben hat?« + +»Nein!« sagte Graf Schmettow. »Wir haben vorläufig darauf verzichtet, +uns überhaupt mit der Frage zu beschäftigen, was für ... äh ... Motive +hinter dem ... Renkontre vorhanden gewesen sein mögen.« + +»Dann --« sagte Valentin Pilgram, »dann würde ich für meine Person +vorziehen, diese Seite der Sache ebenfalls unerörtert zu lassen, +vorausgesetzt, daß ein hohes Ehrengericht nicht seinerseits darauf +besteht.« + +»Ich verstehe,« sagte der Vorsitzende. »Die Herren scheinen also einig +darüber zu sein, daß der Tatbestand der Beleidigungen lediglich an und +für sich hier zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden soll, ohne +daß auf ihre Veranlassung weiter einzugehen sein würde -- aus Gründen +der Diskretion vermutlich, nicht wahr?« + +Pilgram nickte stumm. + +»Wenn ich recht verstehe,« fuhr der Vorsitzende fort, »so stellen die +beiden Herren Gegner sonach den Sachverhalt übereinstimmend dar. Danach +würde wohl eine Vernehmung von Zeugen und jede weitere Aufklärung des +Sachverhalts erübrigen, nicht wahr, meine Herren?!« + +Zustimmend nickten die Ehrenrichter, und der Vorsitzende entließ den +Beleidiger. + +Die Beratung war nur kurz. Der Fall lag ganz klar: es handelte sich um +eine tätliche Beleidigung, die zur Ausführung gekommen war, und um eine +solche, deren Ausführung nur durch das Eingreifen Dritter verhindert +worden war. Die erstere, das Abreißen des Korpsbandes, kam an Schwere +der zweiten, vereitelten mindestens gleich. Neben diesen Realinjurien +spielen die vorgefallenen wörtlichen Beleidigungen nur eine +nebensächliche Rolle. Der Beleidiger hatte zugegeben, bei klarem +Verstande und wohlüberlegt vorgegangen zu sein. Unter diesen Umständen +war es vollkommen klar, daß die Forderung genehmigt werden mußte, und +zwar ohne daß ein Anlaß vorlag, die sehr scharfen Bedingungen zu +ermäßigen. + +Schon neigte sich die Verhandlung ihrem Ende, da erbat Herr ten Brink +Guestphaliae Erster noch einmal das Wort: + +»Ich weiß nicht, meine Herren, die Sache kommt mir eigentlich ein +bißchen merkwürdig vor. Die Geschichte mit dem Brief will mir nicht +aus dem Kopf, ich habe das Gefühl, da steckt ein Mißverständnis hinter. +Ich meine, das Ehrengericht ist doch schließlich nicht bloß dazu da, +über eine Forderung zu entscheiden -- ich meine, unter Umständen wäre es +doch unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, Mißverständnisse +aufzuklären ... kurz, zwischen den Parteien zu vermitteln. Ich meine, +wir sollten in diesem Fall doch ein wenig genauer auf die Vorgeschichte +des Renkontres eingehen. Um so mehr, als meines Erinnerns Herr Thumser +geäußert hat, der fragliche Brief sei von einer Dame geschrieben +gewesen. Na, meine Herren, wir wissen doch alle, wenn die Weiber in so +'ne Affäre hineinspielen, dann ist es meistens halb so schlimm.« + +Ein kurzes, verständnisinniges Schmunzeln auf allen Gesichtern, das aber +schnell der gewohnten, feierlichen Korrektheit wich. Der Vorsitzende +meinte: + +»Ich halte uns nicht für befugt, in die persönlichen Angelegenheiten +der Kontrahenten einzudringen, wenn diese nicht selbst Wert darauf +legen. Ich glaube -- der Versuch einer Vermittlung zwischen den Herren +würde ... äh ... eine Ueberschreitung unserer Kompetenz sein ... und +zugleich ein Eingriff in die Verfügungsfreiheit der Herren, den sie sich +nicht gefallen zu lassen brauchten. Aber ich weiß nicht, wie die anderen +Herren darüber denken? Bitte sich zu äußern!« + +Es stellte sich heraus, daß ten Brink mit seiner Auffassung ganz allein +stand. So wurde denn die Forderung mit den Stimmen aller Ehrenrichter +gegen die seinige genehmigt und dies den beiden Parteien mitgeteilt. + +Das Schicksal war gefallen. + +Gleich nach dem Ehrengericht traten die Sekundanten der beiden Parteien +zusammen. Volkner für Thumser und Herr Borgmann Neo-Borussiae Erster für +Pilgram. Sie verabredeten als Platz für das Duell die Heiderwiese, eine +Waldlichtung im Ratsholz, südwestlich von Connewitz, unfern des linken +Pleißeufers, am Reitwege nach Gautzsch, und als Zeit für die Austragung +punkt sechs Uhr am folgenden Morgen. + +Hiervon benachrichtigten sie ausschließlich den Grafen Schmettow und +ersuchten ihn, als Senior des derzeit präsidierenden Korps das Amt +eines Unparteiischen zu übernehmen. + +Dann wurden die Korpsdiener unter Hinweis auf ihre Pflicht zu absoluter +Verschwiegenheit ins Vertrauen gezogen und angewiesen, den +Pistolenkasten instandzusetzen, Wagen zu bestellen. Den Vertrauensarzt +des S. C. in derartigen Fällen, den Sanitätsrat Dr. Collwitz, einen +Alten Herrn der Neo-Borussia, übernahm Herr Borgmann zu bestellen. + +Diese Vereinbarungen hatten im Konventszimmer der Misnia stattgefunden, +welches den Herren für diesen Zweck zur Verfügung gestellt war. Nun +verabschiedete man sich voneinander mit dem üblichen Händedruck bei +hochgehobenen, eingewinkelten Ellenbogen und zeremonieller Verbeugung. + +Volkner begab sich in eine gegenüberliegende Konditorei, in der Hans +Thumser seine Mitteilungen abwartete, und benachrichtigte ihn vom +Geschehenen. + +Das alles geschah in kurzen, formelhaften Wendungen. Kein Wort wurde +gesprochen zwischen den beiden jungen Leuten, das über das sachlich +absolut Notwendige hinausging. Jeder mußte die letzte Kraft aufwenden, +Haltung zu bewahren angesichts des Grauens, das von diesem Unabwendbaren +ausging, von diesem Unabwendbaren, das nun herankroch mit dem +schleichenden Schritt der Sekunden und Minuten; das sich vollenden +mußte, bevor es abermals Tag geworden. + + +Nach Schluß der Probe mußte Asta lange warten, bevor sie den +Oberregisseur für sich allein bekam. Tausend Geschäfte, tausend Bitten +drängten sich noch an ihn heran. Schließlich wurde es ihm zu toll: + +»Kinder, ich bin auch nur ein Mensch und muß heut abend den Wallenstein +spielen. Jetzt schert Euch gefälligst alle zum Teufel! Ich will +schlafen.« + +Asta schoß hinter ihm drein. + +»Meister, eine Bitte, Sie müssen mich anhören, es geht um Tod und +Leben!« + +»Und wenn's um sechsundzwanzig Paar Regensburger Würschte geht, ich kann +nicht mehr.« + +»Helfen Sie mir, Meister, oder soll ich hier auf dem Korridor einen +Kniefall tun?« + +»Nützt Ihnen auch nichts, kommt alle Tage vor. Lassen Sie mich in +Frieden!« + +Asta brach in Tränen aus und hängte sich an des Davonhastenden Arm. + +»Pah!« brummte der, »auch noch flennen! nützt Dir auch nichts, kommt +auch alle Tage vor!« + +Aber er schüttelte sie doch nicht ab, als sie sich an seinen Arm hing +und das feuchte Gesichtchen an seiner Schulter barg -- als sie sich +hinter ihm in seine Garderobe drängte. + +»Also in drei Teufels Namen, was gibt's? Aber kurz, bitte!« + +Er ließ seine lange Gestalt mit einem Grunzen halb des Grimms, halb des +Behagens auf das schminkfleckige Sofa fallen. Wies der Besucherin mit +Handwink den Frisierstuhl als Sitzgelegenheit. Asta drehte den Stuhl +herum, hockte auf seiner vordersten Kante, erzählte stockend, befangen, +verwirrt ... + +Als sie schwieg, tippte Franz Burg mit dem Mittelfinger der Rechten auf +seine Brust und zuckte ein paarmal langsam die Schultern. Seine Brauen +waren hochgezogen, um die schmalen Lippen spielte in tausend Fältchen +ein Mephistoschmunzeln. + +»Sie sollen mir raten, was ich tun soll, Meister!« + +»Ja, Kindchen, soweit ich aus der Geschichte klug geworden bin, handelt +es sich also um zwei Studenten, und einer von ihnen ist momentan +Quartiergast in dem Kämmerchen da drüben unter Ihrem Pelzjackett, das +freilich, soviel mir bekannt ist, häufig seinen Mieter wechselt. Aber, +wat sall ick dorbi dauhn?« + +»Einen Rat -- einen Rat will ich, lieber Herr Burg. Sie sind doch +Student gewesen -- was fängt man nur an, um die zwei wieder +auseinanderzukriegen? Was soll ich tun, sagen Sie mir, was soll ich +tun?!« + +»Die Karre laufen lassen, wie sie laufen will! Ich bitt' Sie -- die +jungen Leute müssen doch was erleben ... Sehen Sie sich doch um in der +Welt! da geht ja heute alles so verflucht ehrbar, korrekt und +vorschriftsmäßig zu, es passiert nichts -- und passieren muß doch was in +der Welt ... wovon sollen wir denn sonst leben, wir armen Komödianten, +und die Poeten, die für uns Komödie schreiben! Ist ja 'n wahrer Segen, +daß wenigstens auf deutschen Hochschulen noch manchmal 'n bißchen +gerauft und geknallt wird. Ich freue mich immer, wenn ich sehe, daß noch +Leidenschaft in der Jugend drin steckt ... daß noch Tragödien passieren. +Das wäre ja doch ein wahrer Jammer, wenn man so was hintertreiben +wollte.« + +»Aber wenn nun ein Menschenleben dabei zugrunde ginge, bedenken Sie +doch, Meister! So ein blühendes, herziges, junges Studentenleben!« + +»Na -- wenn schon!« knurrte Burg, »Studenten gibt's doch weiß Gott genug +auf der Welt. Eine große Sensation ... eine -- na, einen Stoff -- das +ist wahrhaftig so'n Allerweltsstudentenleben wert!« + +»Herr Burg, Sie sagen Allerweltsstudentenleben ... das stimmt hier aber +nicht; der eine, das ist kein Allerweltsstudent, das ist was ganz +Besonderes --« + +»Der eine? Also =Ihrer= selbstverständlich, nicht wahr?« + +»Gott ja, meiner, wenn Sie wollen.« + +»Nun, was ist denn so Besonderes an ihm?!« + +»Er ist ein Dichter! Ach, so wundervolle Gedichte macht er. Wenn ich +doch nur eins bei mir hätt'!« + +»Sieh, sieh!« schmunzelte der Oberregisseur. »Also ein zukünftiger +Bühnenlieferant. Na, dann soll er sich erst recht schießen!« + +»Aber Herr Burg ... um Gottes willen!« + +»Ja gewiß soll er. Entweder er geht drauf -- na, in Gottes Namen: er ist +der erste nicht. Wie mancher Homer ist blind geworden, =ehe= er Zeit +gehabt hat, die Welt, das Leben so tief in sich hineinzusaugen wie der +alte Griechenbarde ... Wie mancher Aeschylos mag in der Seeschlacht +gefallen sein, wie mancher Schiller auf der Karlsschule in Verzweiflung +und Verblödung hineingeknutet ... Das ist Kismet ... Wenn er aber übrig +bleibt, glauben Sie nicht, daß er dann ein ganz andrer Kerl ist wie +vorher, wenn er mal dem Tode ganz nahe ins Gesicht gesehen hat? Glauben +Sie nicht, daß er Ihnen nachher noch viel schönere Verse machen wird; +daß er noch 'ne ganz andere Nummer von Tragödie zustandebringt, wenn er +erst mal erlebt hat, wie einem zumute ist, der die Nase hinhalten muß, +wenn's drüben blitzt und knallt?« + +Asta sprang auf, rannte schluchzend zum Fenster. + +»Das ist entsetzlich, Herr Burg, das ist grausam!« + +»Ne, das ist klug, das ist weise, Kindchen!« + +»Also gut!« schrie die Kleine, warf sich herum, stand mit geballten +Fäusten vor dem Oberregisseur, das reizende Gesicht von Grimm und Haß +verzehrt. »Also gut! Sie sollen sich schießen ... einer soll auf dem +Platze bleiben, alle beide -- was kommt dabei heraus?! Nur eine neue +Reklame für sie, für die große Jucunda! Was wird's heißen? Zwei +Studenten haben sich geschossen ... wegen ihr, wegen Jucunda Buchner! +Das ist's ja auch, was sie will, darauf hat sie's ja auch angelegt mit +allem Raffinement, die Katze, die verdammte! Der ist's recht, wenn ein +paar so fesche junge Kerle zum Teufel gehen ihretwegen -- das paßt ihr +grad in ihren Kram, dem hundeschnauzenkalten Weibsbild, das an nichts +denkt -- nur an sich, nur an sich!« + +»Ach so!« lächelte Franz Burg. »Da zielt's hinaus! Mag sein, Sie haben +recht, Kindchen ... Vielleicht ist unsere große Jucunda wirklich eine +ganz haarsträubende Egoistin -- aber ich wollte zu Ihrem Besten, Kleine, +Sie selber wären's auch. Wenn Sie das erfreuliche Temperament, das Sie +anscheinend im Leben besitzen, ein bißchen mehr zusammenhielten und auf +Ihre Kunst losließen, statt auf Ihre ... auf die Mieter Ihres +Herzenskämmerleins -- glauben Sie mir, Sie wären eine größere +Künstlerin, als Sie's leider sind. Sagen Sie mir nichts gegen die +Jucunda, die ist ganz gut so wie sie ist. Die ist, was Sie nicht sind: +eine Komödiantin. Die fühlt und weiß, wozu sie auf der Welt ist: nämlich +zum Komödienspielen! Lieben und sich lieben lassen -- schöne Sache, o +ja, für die andern, für die Alltagsweiber -- aber nicht für Euch. +Zusammenhalten sollt Ihr Eure Glut, kalt wie Hundeschnauzen sollt Ihr +meinetwegen sein im Leben, wenn Ihr nur abends, sobald der Lappen in die +Höhe fliegt, Vulkane seid, wie die Jucunda einer ist! -- Na, haben Sie +noch weiter Schmerzen, Kleine?« + +Gesenkten Blickes, mit zuckendem Kinn hatte Asta die Standrede des +Meisters über sich ergehen lassen. Nun warf sie den Kopf trotzig in den +Nacken, stampfte mit dem Fuß auf: + +»Ich will aber nicht, ich will nicht, daß der lange Pilgram mir meinen +süßen Jungen totschießt! Wollen Sie mir helfen, wollen Sie mir einen +vernünftigen Rat geben?! Oder soll ich meiner Wege gehen?« + +»Hm ... also das sage ich Ihnen, Astachen, gehen Sie weg vom Theater, +aus Ihnen wird niemals was. -- Also, wenn's denn absolut sein muß, die +Sache ist doch entsetzlich einfach: Wenn Studenten Dummheiten machen, +dann steckt man sich hinter ihre Eltern. Leben die respektiven Herren +Väter noch?« + +»Beide, soviel ich weiß.« + +»Na also, und wo wohnen sie denn, die würdigen Erzeuger der beiden +Hitzschädel?« + +»Der eine wohnt da hinten im Rheinland irgendwo, soviel ich weiß.« + +»Welcher? Ihr moralischer Schwiegerpapa oder der andere?« + +»Nein, der =eine=,« sagte Asta, und das alte Schelmenlächeln blitzte +durch Grimm und Tränchen wieder hindurch. + +»Also an den wird bis morgen nicht dranzukommen sein -- und der andere?« + +»Der andere, der ist, soviel ich weiß, irgendein hohes Tier in +Dresden!« + +»Teufel, das trifft sich ja glänzend! Also, setzen Sie sich auf die +Bahn, Kindchen, und rücken Sie dem Alten -- wie heißt er? -- dem alten +--?« + +»Pilgram,« half Asta ein. + +»Also, rücken Sie dem alten Pilgram auf die Bude und petzen Sie ihm, daß +sein wackerer Sprößling seinen Monatswechsel dazu mißbraucht, statt +hinter seinen Büchern zu hocken, andern jungen Leuten Löcher in den +Bauch zu schießen. Ich wette, dann entwickelt sich alles weitere +historisch.« + +Asta sprang auf den Oberregisseur zu, der noch immer langhingestreckt +auf dem schminkfleckigen Sofa lag, fiel ihm um den Hals und küßte ihn +stürmisch. + +»Ach, Franzel, Sie sind doch der Allerbeste! Das wird gemacht, das ist +die Rettung!« + +»Aber bitte, erst nach dem 'Lager' -- die kleine Oerzen ist krank +geworden. Sie spielen heut abend die Gustel von Blasewitz. Nachher +reisen Sie meinetwegen, wohin Sie wollen.« + +»Ich danke Ihnen, oh, ich danke Ihnen tausendmal, Sie Goldiger!« + +»Es ist ein Skandal,« knurrte Franz Burg. »Da hat unser Herrgott endlich +mal wieder eine richtiggehende Tragödie angelegt, und so ein dummes, +kleines Gör zerreißt ihm das Konzept und macht eine Posse draus!« + + + + + 15. + + +Wenige Minuten nach halb zwölf stieg Asta Thöny am Böhmischen Bahnhof in +Dresden aus dem Leipziger Schnellzuge. Sie hatte schon in Leipzig das +Dresdener Adreßbuch eingesehen und festgestellt, daß der +Senatspräsident am Oberlandesgericht Heinrich Pilgram in der +Marschallstraße Nummer zweiundzwanzig wohnte. + +In dem milderen Klima der Residenzstadt war der Neuschnee des gestrigen +Tages schon geschmolzen und hatte das Pflaster mit einer zähen +Schlammkruste überzogen. In den Straßen war schon alles Leben erstorben. +Trübselig spiegelte sich der Schein der Straßenlaternen in den Kotlachen +der überschwemmten Rinnsteine. Trübselig klapperte der Gaul durch die +physiognomielosen Straßen der Vorstadt und durch die kaum angebauten +Alleen an der Grenze der Altstadt. + +Eigentlich doch ein wahnsinniger Plan: um Mitternacht einer wildfremden +Familie auf die Bude zu rücken! Aber schließlich, man hatte doch wohl +alle Veranlassung, ihr dankbar zu sein. -- Endlich: da stand sie vor der +Pforte einer vierstöckigen Mietskaserne, und während der Wagen von +dannen rollte, riß sie sich schier die Hände ab in dem Bemühen, den +Portier zu alarmieren. + +Ein Tattergreis, der hastig Hose und Rock über sein Nachtgewand gezogen, +mit wirrem Graukopf und schlampigen Pantoffeln empfing sie, bösartig +knurrend, und war nur durch etliche Markstücke so weit zu bezähmen, daß +er sie bei der schwankenden Beleuchtung einer schwelenden Handlaterne +bis zum dritten Stock hinaufbegleitete, wo ein Porzellanschild mit der +Aufschrift »Pilgram« an einer breiten, mit Vorhängen abgeblendeten +Glastür den Eingang wies. + +Drinnen alles finster. + +Wahnsinnige Situation! Aber was half's! Die Klingel schrillte, und zu +Astas freudiger Ueberraschung erschien schon nach wenigen Minuten ein +verschlafenes Dienstmädchen, das entsetzt zurückprallte, als es der +fremden, eleganten Dame ansichtig wurde. + +Die Herrschaften seien in Gesellschaft, würden aber wohl bis ein Uhr +wieder zurück sein ... + +Den unbekannten Besuch in die Wohnung einzulassen, dazu war das Mädchen +nicht zu bewegen, und so mußte Asta unter Führung des Tattergreises +abermals die drei Stiegen hinunter, um draußen auf der ganz verlassenen +Straße in Schlamm und Tauwind auf und ab zu patrouillieren, wie sie +abends vorher im Schnee auf der Kleinen Fleischergasse auf- und +abpatrouilliert war ... + +Endlich nach einer Stunde Wartens nahten von der Altstadt her vier +vermummte Gestalten: ein Herr im Zylinder, den Rockkragen +hochgeschlagen, und drei Damen, eine kugelrunde und zwei schlanke, +hochgewachsene, in Abendmänteln und Kapuzen. + +Im Augenblick, als der alte Herr den Schlüssel einschob, um zu öffnen, +trat Asta auf ihn zu: + +»Um Verzeihung! Ich habe wohl die Ehre, Herrn Präsidenten Pilgram ...« + +Der alte Herr richtete sich aus seiner gebückten Stellung auf, stand +völlig verblüfft, musterte die Fragerin. + +Im selben Augenblick sah Asta durch goldgefaßte Brillengläser hindurch +zwei scharfe, klare Augen mit durchdringendem Blick auf sich gerichtet. + +»Allerdings! Ich heiße Pilgram -- Sie wünschen?!« + +Inzwischen waren die Damen herangekommen, starrten völlig verblüfft und +verständnislos auf die zierliche Gestalt im silbergrauen Jackett, deren +Züge ein grauer Schleier fast ganz verbarg. + +»Entschuldigen Sie gütigst, Herr Präsident, könnte ich Sie wohl einen +Moment allein sprechen?« + +»Was für eine Angelegenheit, bitte, meine Dame? Es ist ein Uhr!« + +»Eine sehr dringende Angelegenheit,« stammelte Asta, »ich komme aus +Leipzig, es handelt sich um Ihren Sohn.« + +Ein noch schärferer Augenblitz traf das Mädchen. + +»Hm ...« sagte er nur, dann bückte er sich aufs neue, schloß auf und +sagte zu seinen Damen: + +»Ihr seid wohl so freundlich und geht schon hinauf solange.« + +Mit angstvoller Neugier musterten die drei Damen die Fremde, aber ein +scharfes: »Also bitte!« veranlaßte sie, dem Wunsche des +Familienoberhauptes Folge zu leisten. Die Tür fiel ins Schloß. + +»Also zuvörderst, wer sind Sie?« fragte der alte Herr. + +»Ich bin die Herzoglich Meiningische Hofschauspielerin Asta Thöny.« + +»Hm ... und Sie wünschen?« + +»Ihr Sohn Valentin wird sich morgen früh mit einem andern Studenten +schießen.« + +Die buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen, der graue +Fransenschnurrbart zuckte. + +»Und dieser andere Student ist wer?« + +»Ein Herr Hans Thumser.« + +»Hans Thumser?! Das ist ja ein Korpsbruder meines Sohnes!« + +»Ihr Herr Sohn ist schon vor Wochen aus dem Korps ausgetreten ...« + +»Was ist das?!« + +Der Präsident richtete sich straff auf: + +»Das müßte ich denn doch wohl wissen, mein Fräulein!« + +»Es ist aber so, Herr Präsident.« + +»Hm ... lassen wir's zunächst einmal dahingestellt, ob Sie recht haben. +Was veranlaßt Sie, mir diese Mitteilung zu machen?« + +Asta war auf diese Frage vorbereitet und hatte sich ihre Antwort +zurechtgelegt. + +»Ich bin ... mit Herrn Thumser ... nahe befreundet.« + +»Hm -- mit Herrn Thumser? Sie machen mir also Ihre Mitteilungen weniger +im Interesse meines Sohnes als vielmehr in dem des Herrn Thumser, wenn +ich recht verstanden habe?« + +»Nein, das doch nicht, Herr Präsident. Allerdings ... vor allem doch +wohl Herrn Thumser zuliebe ... Aber Ihren Herrn Sohn kenne ich auch, +zwar nur sehr flüchtig, aber ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet, er +hat mich ... er hat mir gestern ... das Leben gerettet.« + +Der alte Herr sah das erregte Mädchen mit einem Blick an, in dem ganz +deutlich zu lesen war, er zweifle an ihrem Verstand. + +»Darf ich Sie bitten, meine Gnädigste, Ihren Schleier zu heben, damit +ich sehe, wen ich eigentlich vor mir habe?!« + +Mit zwei raschen Bewegungen streifte Asta Thöny den Schleier in die +Höhe. Sie fühlte sich mit scharfer Prüfung gemustert. Aber das Ergebnis +mußte wohl nicht ungünstig sein, denn erheblich liebenswürdiger als +zuvor fuhr der alte Herr fort: + +»Darf ich Sie bitten, mein gnädiges Fräulein, sich mit mir hinauf in +meine Wohnung zu bemühen: Sie werden mir erzählen.« + +Er entzündete ein Wachsstreichholz und leuchtete dem seltsamen Gast die +Treppe hinauf. Der Hausflur war nun hell erleuchtet. An einer +halboffenen Tür drängten sich drei weibliche Köpfe, die hastig +verschwanden, als der Präsident mit seinem Besuch eintrat. Sehr höflich +nahm er dem Gaste den Regenschirm ab und geleitete ihn in ein dunkles +Zimmer zur Rechten, entzündete zwei Gasflammen, bat, ihn einen Moment zu +entschuldigen. + +Einen raschen Blick warf Asta in dem Zimmer umher. Die übliche, +gutbürgerliche Einrichtung der sechziger Jahre: Mahagonimöbel, grüner +Plüschbezug, an den Wänden ehrwürdige Familienbilder in Oel mit +Darstellungen von Priestern und Gelehrten aus den beiden letzten +Jahrhunderten. Am Fenster ein Mahagonisekretär mit Rolljalousie, darauf +zahlreiche Photographien in Ständerrahmen, unter denen Asta sofort die +eines schlanken Studenten in Mütze und Band herauserkannte. + +Der Präsident kam zurück, bat, auf dem Sofa Platz zu nehmen, und setzte +sich ihr gegenüber in einen Plüschsessel. Er hatte abgelegt. Auf der +linken Brust seines Fracks schimmerte eine blinkende Ordenreihe. + +Und abermals mußte Asta die Geschichte des gestrigen Abends erzählen. +Der Präsident lauschte gespannt, ohne sie mit einem Wort, mit einer +Frage zu unterbrechen. Als sie geendet, trat er auf sie zu, streckte ihr +die Hand hin: + +»Ich danke Ihnen, meine Gnädigste. Das war sehr gescheit von Ihnen, daß +Sie gekommen sind. Ich fahre mit Ihnen nach Leipzig. Ich habe schon +nachgesehen, um drei Uhr vierzig fährt der Zug, um halb sechs sind wir +drüben. Darf ich Sie inzwischen meinen Damen zuführen?« + +»Sehr gütig, Herr Präsident. Und was wird werden, was wollen Sie tun?« + +»Den beiden jungen Herren klar machen, daß ihre Eltern sie nicht deshalb +großgezogen haben, damit sie sich untereinander als Zielscheibe +benutzen.« + +»Aber werden wir auch nicht zu spät kommen? Wollen Sie nicht vielleicht +vorher noch ein dringliches Telegramm an Ihren Sohn ablassen?« + +»Liebes Fräulein, ich war selbst einmal Student -- bin sogar Alter Herr +des Korps Franconia --, wie ich die Buben kenne, scheren sie sich in +solchen Fällen den Teufel um ein väterliches Telegramm. Im Gegenteil: +wenn sie erst wittern, daß wir ihnen auf der Spur sind, dann kriegen wir +sie morgen früh überhaupt nicht mehr zu fassen. Um halb sechs Uhr sind +wir dort, vor sechs Uhr wird's ja überhaupt nicht hell um diese +Jahreszeit; inzwischen werden wir überlegen, was zu tun ist. Darf ich +Sie jetzt bitten, zu meiner Frau und zu meinen Töchtern +hinüberzukommen?« + +»Verzeihung, Herr Präsident, würden Sie es nicht für besser halten, wenn +Sie zunächst Ihre werten Damen über den Zweck meines Besuchs +aufklärten?« + +»Da haben Sie recht, liebes Fräulein. Wenn Sie mich also einen +Augenblick beurlauben wollen ...?« + +Nur wenige Minuten blieb Asta allein. Dann flogen zwei schlanke Mädels +herein, in Balltoilette, mit glühenden Backen, glänzenden Augen, in +denen die Angst um den Bruder und dabei doch auch brennende Neugier und +gespannte Erregung standen, und stellten sich mit befangenen Knixen vor. +Achtzehn und zwanzig mochten sie sein, die ältere dem Vater und Bruder +wie aus den Augen geschnitten; die jüngere, ein munteres, molliges Ding, +das Ebenbild der Mutter, wie sich alsbald herausstellte, als nun auch +die rundliche Frau Präsidentin auf der Bildfläche erschien. Und alsbald +saß Asta mit Valentin Pilgrams Mutter und Schwestern unter der +Hängelampe eines altmodisch-behaglichen Speisezimmers. Man stopfte sie +mit Butterbrot und Süßigkeiten, man fragte sie aus nach tausend Dingen, +von denen sie keine Ahnung hatte. + +Während dessen hatte sich der Präsident entfernt, kam nach ein paar +Minuten zurück. + +»So, mein gnädiges Fräulein, ich habe mir die Sache überlegt. Ich werde +jetzt gleich zum nächsten Telegraphenamt gehen und eine dringliche +Depesche an die Leipziger Polizei aufgeben. Hören Sie, was ich +aufgesetzt habe: + + 'Königl. Kreishauptmannschaft Leipzig! Morgen früh soll dort + Pistolenduell zwischen meinem Sohn Valentin und Stud. Hans Thumser + stattfinden. Ort und Zeit unbekannt. Abreise sofort, um selbes zu + verhindern. Ankomme 5.29 dort Dresdener. Erbitte Unterstützung, + womöglich berittenen Gendarmen, am Bahnhof. + + Pilgram, + Senatspräsident am Oberlandesgericht.' + +So, ich nehme an, daß man einem königlichen Beamten meines Ranges in +angemessener Weise entgegenkommen wird. Wenn die Polizei einigermaßen +ihre Pflicht und Schuldigkeit tut, so kommen die jungen Herren morgen +früh überhaupt nicht aus ihrer Bude heraus, sondern werden gleich mit +Beschlag belegt. Sollte aber wider alles Erwarten die Sache nicht +klappen, so sind wir ja da!« + +»Ja, aber um Gottes willen, Herr Präsident,« meinte Asta, »wir haben +doch keine Ahnung, wo die schreckliche Geschichte eigentlich vom Stapel +gehen soll -- wie wollen Sie das denn herauskriegen?« + +»Ja, Papachen, wie willst Du das nur herauskriegen?« echoten die +Töchter. + +»Liebe Kinder, ich war doch selbst mal in dem Geschäft. Gebt acht: Wenn +man sich schlagen will, geht man nicht zu Fuß heraus, sondern bestellt +sich einen Wagen. Wenn man aber Korpsstudent ist, so hat man für diesen +Wagen eine ganz bestimmte Bezugsquelle: das Korps nimmt nämlich seinen +Wagen immer bei ein und demselben Fuhrwerksbesitzer, der ihm +Vorzugspreise gewährt. Den Namen aber des Wagenlieferanten der +Franconia, den kenne ich leider nur zu genau. Oder soll ich jetzt sagen: +glücklicherweise? Ich habe nämlich am Schluß des vorigen Semesters für +unseren guten Valentin noch eine ganz erkleckliche Wagenrechnung +berappen müssen ... Der gute Mann wohnt in der Nähe des Bayrischen +Bahnhofs, an ihn also wenden wir uns zunächst und versuchen +herauszubekommen, wohin die Fahrt gehen soll.« + +»Aber wird er's auch verraten?« meinte Asta, »das könnte das Korps ihn +doch teuer entgelten lassen?« + +»Ich glaube, wenn ich mit der Polizei drohe und darauf aufmerksam mache, +daß man ihn wegen Beihilfe zum Zweikampf mit tödlichen Waffen am +Schlafittchen kriegen könnte, dann wird er wohl mit sich reden lassen!« + +»Ach, Papachen, wie klug Du bist!« riefen die Töchter, strahlend vor +Entzücken über das unerwartete Abenteuer. Himmel, wie interessant endete +der Abend, der so langweilig, ganz nach dem Schema F verlaufen war. + +»Nun aber müssen Sie schlafen, liebes Fräulein,« meinte die Präsidentin, +nachdem ihr Gatte sich entfernt hatte, um das Telegramm aufzugeben. »In +einer Stunde müssen Sie schon wieder zum Bahnhof, die sollen Sie +wenigstens zur Ruhe benutzen.« + +Aber Asta dankte. Sie könne nachher in der Eisenbahn noch genug +schlafen, sie würde jetzt doch kein Auge zutun. Nur Hunger habe sie +noch, wenn sie's denn schon sagen solle, und Durst auch. + +Und die vier Frauen schwatzten und lachten zusammen wie alte Freundinnen +... und nur selten einmal ging's einer von ihnen durch den Kopf, was für +morgen auf dem Spiele stand. + +Papachen würde schon alles machen. Wenn Papachen eine Sache in die Hand +genommen hatte, dann konnte es ja nicht schief gehen! + + +Als Asta und der Präsident fast als einzige Passagiere dem Frühzuge +entstiegen, trat ein behäbiger Herr in einem undefinierbaren Räuberzivil +auf den alten Herrn zu. + +»Verzeihen Sie gütigst, ich habe wohl die Ehre, Herrn Senatspräsidenten +Pilgram ... Mein Name ist Gensel, Königlicher Kriminalkommissar. Stelle +mich im Auftrage der Kreishauptmannschaft zu Ihrer Verfügung.« + +»Ah, charmant, Verehrtester. Haben Sie auch einen Gendarmen zur Hand?« + +»Der wartet draußen mit seinem Gaul.« + +»Nun, und was ist sonst geschehen?« + +»Ja, Herr Präsident, wir haben unser Möglichstes getan. Wir haben sofort +zwei Kriminalschutzleute zu den Wohnungen der beiden jungen Leute +geschickt und feststellen lassen, ob sie zu Hause wären. Ihr Herr Sohn +hat seine bisherige Wohnung bei dem Kanzleirat Buchner seit gestern ganz +aufgegeben und ist ins Hotel übergesiedelt, in welches, das wußten die +Leute nicht. Und der andere, Herr Thumser heißt er ja wohl, der ist heut +nacht nicht nach Hause gekommen.« + +»Teufel! Das ist scheußlich -- was nun?!« + +»Ja, was nun, Herr Präsident? Ich weiß auch nicht, was ich machen soll!« + +Der Jurist sann eine Weile nach, dann erklärte er dem Polizeibeamten +seinen Plan, durch den Fuhrwerksbesitzer den Duellanten auf die Spur zu +kommen. + +Der Kommissar war völlig einverstanden. Man stieg in eine Droschke und +rollte durch die hier noch immer mit kotigem Schnee bedeckten Straßen +zum Bayrischen Bahnhof. + +Im trüben Laternenschein huschten hastige Fußgänger vorüber, das Leben +der großen Stadt erwachte -- die Arbeit begann. + +Die Herren berieten eifrig während der kurzen Fahrt. Der Präsident im +Rücksitz, der Kriminalkommissar ihm gegenüber. Asta lehnte in ihrer +Ecke, fröstelnd, übernächtig, von Angst geschüttelt, und lauschte der +halblauten Unterhaltung der Herren. + +Der Gendarm war vorausgetrabt. Als man vor dem Fuhrhof ankam, hielt er +bereits an dem Portal mit dem Geschäftsinhaber, einem grobknochigen Mann +in Flausrock und Holzpantoffeln. + +Schnell kletterte der Kommissar aus dem Wagen und inquirierte sofort den +Fuhrherrn: + +»Ist der Wagen für das Korps Franconia schon fort?« + +»Weeß Knebbchen, ja, Herr Kommissar, schon seit zehn Minuten is er +weg ... tut mir sähre leid.« + +»Und wohin geht die Fahrt?« + +»Das kann ich Sie nich sagen, uff mei Ehrenwort nich. Der Wagen is +bestellt für um den Herrn Volkner abzuholen, Kleine Fleischergasse fünfe +... aber da wird er nu ja woll ooch schon nich mehr sinn.« + +Der Präsident war ebenfalls ausgestiegen und fragte: »Na, lieber Herr, +Sie werden ja doch wohl eine Ahnung haben, wohin es geht?! Wo fahren +denn die jungen Herren gewöhnlich hin, wenn sie was Besonderes vorhaben, +he?!« + +»Nu, mei gutester Herr, wenn ich's ehrlich sagen soll, gewehnlich machen +se doch so was im Ratsholz ab, un da gibt's eigentlich nur een' Weg: +Kaiser-Wilhelm-Straße 'runter, dann Kaiserin-Augusta-Straße, am alten +Wasserwerk vorbei und ins Streitholz hinein. Freilich, was für ä +Plätzchen se sich dasmal haben ausgesucht, davon habe ich Sie natierlich +de leiseste Ahnung nich, mei gutester Herr.« + +»Also, Herr Robolski,« sagte der Kriminalkommissar, »ich mache Sie +darauf aufmerksam: Wenn sich's herausstellt, daß Sie uns nicht die reine +Wahrheit gesagt haben, dann krieg' ich Sie bei die Hammelbeene, +verstehen Sie mich?!« + +»Mein Ehrenwort,« sagte der Fuhrherr, »mein heiligstes Ehrenwort, Herr +Kommissar, das, was ich gesagt habe, ist alles, was ich weeß.« + +»Schön! Also, Gendarm Mehlhorn, Sie haben gehört: sitzen Sie auf, traben +Sie was haste was kannste nach dem Streitholz. Wir kommen nach. Sie +reiten bis zum Schnittpunkt der 'Neuen Linie' und der 'Linie', +meinetwegen auch die 'Linie' hinauf, bis zum Flußgraben, dann zurück bis +zum Wegekreuz, dort warten! Merken Sie inzwischen was von den +Duellanten, so greifen Sie selbständig ein, verstanden?!« + +»Zu Befehl, Herr Kommissar!« sagte Mehlhorn dienstlich, schwang sich auf +seinen Braunen und klapperte die Bayrische Straße hinunter. + +Die beiden anderen Herren verabschiedeten sich mit flüchtigem Gruß und +Dank von dem Fuhrwerksbesitzer, wiesen den Kutscher an, hinter dem +Gendarmen drein zu fahren, stiegen ein, und die Gäule zogen an. + +Die drei im Wagen schwiegen und sannen. + +Vom Bayrischen Bahnhof blinkten grelle Signallichter, schrillten +Lokomotivenpfiffe, ratterten mit dumpfen Stößen ausfahrende Züge über +die Schienen. Drüber stand schon heller Tagesglast. Auf der matt +erleuchteten Kreisscheibe der Bahnhofsuhr standen die beiden Zeiger in +einer geraden, senkrechten Linie ... + +O Gott, wenn man zu spät kam! Es konnte sich ja nur um Minuten handeln. + + + + + 16. + + +Hans Thumser erwachte. Oben an der Decke war irgend etwas, das blendete +ihn. Mit verschlafenen Augen blinzelte er hinauf und sah, daß es +Laternenschein war, der, von drunten herauffallend, das Lichtbild eines +Fensters auf die weiße Tünche zeichnete. Teufel ja, wo kam das denn her? +Das war sonst doch nicht so?! + +Mit einem Mal fiel's ihm ein: er war ja gar nicht in seinem eigenen +Zimmer, lag nicht in seinem Bett ... aber wo nur? Richtig, er war ja +doch auf Volkners Bude -- aber warum nur, was war denn eigentlich los? + +Mit einemmal krampfte sich sein Herz zusammen in siedendem Schreck: o +Gott, morgen früh --! + +Eigentlich doch eine sehr vernünftige Idee von Volkner, ihn nicht allein +zu lassen in dieser Nacht, in dieser vielleicht ... letzten Nacht. Und +auch sonst war alles sehr vernünftig gewesen, was der Senior gesagt und +geraten: + +»Weißt Du, Thumser, vor einer solchen Affäre ist das einzig Richtige, +sich so zu betragen, als sei gar nichts Besonderes los. Um Gottes +willen, bloß sich nicht hinsetzen und ein halbes Dutzend Abschiedsbriefe +schreiben: an die Eltern, an den Schatz, an die Erbtante, und wer weiß +an wen sonst noch. Das hat ja gar keinen Zweck. -- Mein Gott, so'n +bißchen Knallerei! Ja, wenn Du jedesmal Dein Testament machen wolltest, +wenn Du Dich in Lebensgefahr begibst, dann müßtest Du es von Rechts +wegen machen, so oft Du vor die Tür gehst! Ueberall kann Dir ein +Dachziegel auf den Schädel fallen. Und wenn Du in Deiner Bude und im +Bette bleibst, kann schließlich die Decke einstürzen ...« + +Des Korpsbruders rheinischer Leichtsinn hatte Hans Thumser über die +Abendstunden hinweggeholfen. Man war auf der Kneipe gewesen, hatte +Quodlibet gespielt und den blödesten Bierulk betrieben. Dann hatte +Volkner ihn mit auf seine Bude geschleift, ihm großmütig sein Bett +abgetreten und sich dann selber auf dem Kanapee einlogiert. Von dort +herüber drang jetzt sein melodisches Schnarchen. Na ja, der hatte gut +schnarchen! + +Vorher aber, vor dem Einschlafen, hatten die zwei noch einen besonderen +Trall ausgeheckt: Volkner hatte seine Geige genommen, und beide waren +sie vor die Kammertür von Volkners bejahrter Hauswirtin gezogen und +hatten ihr ein Ständchen gebracht, indem sie zu sanft hinschmelzender +Violinbegleitung das schöne Lied gesungen hatten: + + Seh ich ein Haus von weitem, + Wo ein lieb Mädel träumt, + Sing ich zu allen Zeiten + Ein Lied ihr ungesäumt. + Und wird's im Fenster helle, + Sei es auch noch so spat: + So weiß ich auf der Stelle + Wieviel's geschlagen hat. + +Erst als die Pantoffeln der Alten von drinnen gegen die Tür knallten, +hatten sie Ruhe gegeben und waren dann beide auch sofort eingeschlafen. + +Volkners Bude befand sich im ersten Stock des Hauses, das an der Kleinen +Fleischergasse dem Cafébaum direkt gegenüber lag. Und der Lichtschein +der Laterne, die neben dem Eingang des Restaurants stand, war es, der +Hans Thumser geweckt hatte. Er tastete nach seiner Taschenuhr und +stellte im matten Reflex des Deckenlichts fest, daß es zwei Uhr war. + +Auf halb fünf war der Korpsdiener zum Wecken, auf viertel sechs der +Wagen bestellt. Um viertel sieben sollte der erste Schuß fallen ... also +noch zwei und eine halbe Stunde Schlaf und vielleicht noch vier und eine +viertel Stunde zu leben ... + +Die ganze vorige Nacht hindurch hatte Hans Thumser wie ein Sack +geschlafen. Die nötige Bettschwere hatte er sich ja schon vor dem +Zusammenstoß mit Pilgram angezecht. Der gestrige Tag war in beständiger +Unrast hingegangen, und so kam jetzt in nächtlicher Stille zum erstenmal +Ordnung in den Wirrwarr der Gedanken, die um das Schicksal der kommenden +Morgenstunde flatterten. + +Also sterben vielleicht ... und warum denn eigentlich? Nun, die Antwort +war sehr einfach: Ein anderer war Hansens Ehre zu nahe getreten, hatte +ihn tätlich aufs schwerste beleidigt, dafür galt es eben die +standesübliche Sühne zu fordern. + +Schön! Das klang ja ganz vernünftig. Aber schließlich ... eine +Beleidigung hatte doch irgendeinen Grund, ein Motiv. Was hatte er +Pilgram denn eigentlich zuleide getan? Was hatte er begangen, daß +Pilgram ihn wie einen ehrlosen Buben behandelt hatte? Nun, das eine war +ja klar: Pilgram war eifersüchtig, er bildete sich ein, er selber, Hans +Thumser, sei sein Nebenbuhler bei Jucunda, und zwar ein begünstigter. +Ein begünstigter? Ach, du lieber Gott ...! + +Freilich, an ihm selber hatte es ja nicht gefehlt ... Und wer weiß, was +geschehen wäre, wenn nicht im Augenblick, als Jucunda anfing, gnädig zu +werden, sehr gnädig -- -- wenn nicht der andere dazu gekommen wäre, +dieser fade Laffe, über dessen blasiertem Geckenschädel der Nimbus einer +Fürstenkrone schwebte? + +Aber schließlich, es war doch ein Irrtum, wenn Pilgram sich einbildete, +Thumser sei glücklicher gewesen als er selber. + +Also ein Mißverständnis! Ein Wahn! + +Aber da war noch etwas andres, das nicht stimmte: Was das nur mit dem +Brief gewesen war, den Pilgram ihm vorgehalten? Offenbar ein Brief von +Jucunda, ein Brief, in dem sie sein Eintreten für ihre Ehre mehr oder +weniger verblümt abgelehnt hatte. Und dieser Brief hatte auf einem +Briefbogen gestanden, der seine, Hans Thumsers, Initialen trug. Wie kam +der Brief auf dieses Papier? Erst jetzt in der Stille der Nacht fand +Hans Zeit, um über dies Phänomen nachzugrübeln ... + +Und plötzlich stand ihm der Augenblick vor der Seele, wie er Jucunda +und ihrer Mutter sein Zimmer zur Verfügung gestellt hatte, um sich +auszusprechen. Natürlich, das war's ja! Da hatten die Frauen das +Uriasbrieflein ausgeheckt und das liebliche Plänchen gleich realisiert. +Sie hatten genommen, was gerade zu erreichen war, das Briefpapier +des Mannes, der ihnen vertrauensvoll seine Behausung zur Verfügung +gestellt ... + +Pilgram aber, der hatte natürlich für die sonderbare Erscheinung sich +eine ganz andere Erklärung in den Kopf gesetzt. Er mußte sich +eingebildet haben, der Korpsbruder sei mitschuldig an der Abfassung des +Briefes, habe ihn vielleicht sogar redigiert ... + +Also Mißverständnis Numero zwei. + +Schön! Zwei grobe Irrtümer in der Rechnung. Wenn man sich aber einmal in +Pilgrams vermutliche Auffassung hineinzudenken versuchte, so konnte man +ihm schließlich nicht so unrecht geben, wenn er bis aufs Blut gereizt +war, wenn er den einstigen Korpsbruder infamer Gesinnung und +Handlungsweise verdächtigte. + +Und darum Mord und Totschlag! Darum zwei junge Leben vor die Mündung +geladener Pistolen gestellt! War das nicht Wahnsinn? War es nicht noch +in diesem Augenblick Pflicht, eine offene Aussprache herbeizuführen, den +Irrtum aufzuklären?! + +Aber bei dem Irrtum war es nicht geblieben. Er hatte eine schreckliche +Folge gehabt: die rasche Tat, eine Tat, die nicht milder war denn ein +Schlag mitten ins Angesicht des Feindes. Und auch zu diesem Schlag wär's +ja gekommen, wenn nicht die Korpsbrüder dazwischen getreten wären. + +Mißverständnisse und Irrtümer ließen sich aufklären -- die Tat war nicht +ungeschehen zu machen. Der Kavalier, der von einem Kavalier einen Schlag +erhält, muß blutige Sühne fordern. Das war das eiserne Gebot des +Ehrenkodex, daran war nicht zu deuteln noch zu rütteln. + +Und dann -- wer mochte den ersten Schritt tun? Machte der sich nicht +verdächtig, als sei es nur die Angst vor der blauen Bohne, die ihn zur +Aussöhnung geneigt machte? Würde man ihn nicht der Kneiferei zeihen? + +Der Kneiferei? Nun, wer vierzehn Schlägermensuren mit Ehren bestanden +hatte, brauchte der sich vor dem Verdacht der Kneiferei zu fürchten? + +Halt! So eine Knipserei, das war doch was andres als das bissel +Bestimmungsmensur mit Binden und Bandagen. + +Nein, da war nichts zu wollen, dafür war man Korpsstudent! Der andere, +der war an allem schuld. Der hätte die Aussprache herbeiführen müssen +vor der Tat. Daß er dem Freund, dem Korpsbruder aus drei Semestern eine +ehrlose Gesinnung überhaupt zugetraut, das war die eigentliche +Beleidigung, das war die Schmach, die nur mit Blut abgewaschen werden +konnte. Die Worte, die Handlungen, die aus dieser abscheulichen +Unterstellung erwachsen waren, die waren schließlich nichts anderes als +der zufällige Ausdruck für einen Verdacht, der auch ohne Wort und Schlag +ins Herz der Ehre traf. + +Nein, es gab keinen anderen Ausweg -- und so würde man morgen früh +aufeinander losknallen »bis zur Kampfunfähigkeit«. + +Und nun kamen die Gedanken an daheim. An Eltern und Geschwister -- nein, +das ging ja doch nicht, einen solchen Gang zu tun, ohne sich vorher von +den liebsten Menschen verabschiedet zu haben. Wenn er nun fiel -- wie +sollten sie diese wirre, dunkle Geschichte verstehen? Sie würden doch +nachforschen, würden wissen wollen, was denn eigentlich geschehen war, +wie es hatte so weit kommen können -- und dann war's zu spät. Dann war +sein Mund, der allein Licht in die Wirrnis hätte bringen können, +verstummt. Sein Tod würde den Lieben ein düsteres, grauenhaftes Rätsel +bleiben. + +Also das geht nicht. Hans wird aufstehen und einen langen, langen Brief +an die Geliebten daheim schreiben. Ihnen alles erzählen, ohne +Verschweigen, auch das Glück -- die landläufige Moral nannte es ja wohl +ein sündiges Glück --, das er in Asta Thönys Armen genossen, auch die +verworrenen Dränge, die ihn zu Jucunda getrieben. Alles, alles wird er +berichten, und so wird wenigstens Klarheit liegen über seinem +schauerlichen Ende ... + +Ob sie ihn verstehen werden daheim? Mein Himmel, der Vater ist doch auch +einmal jung gewesen ... + +Und in Gedanken entwarf Hans Thumser den Wortlaut seiner Beichte. Immer +eindringlicher, immer inbrünstiger vertiefte er die Schilderung seines +Seelenzustandes, immer heißer und drängender formte er seine Bitte um +Verständnis, um Vergebung, um ein Gedenken ohne Groll. Und über all dem +Sinnen und Grübeln war er plötzlich versunken und verschwunden und +wachte erst wieder auf, als Volkner ihn wach rüttelte, und die +schlampige Alte, die sie beide gestern abend angeserenadet, in +Nachthaube und Nachtjacke, grimmigen Gesichts und knurrenden Mundes den +Kaffee auf den Tisch setzte. + +Nun war's zu spät, nach Hause zu schreiben. Nun blieb's doch bei +Volkners Theorie. + +Die trockenen Semmeln von gestern wollten nicht in die Kehle, der +glühheiße Bliemchenkaffee blieb fast unberührt. Ein Glück, daß Volkner +mit ein paar Tafeln Schokolade und einem besseren Schnaps versehen war. + +Geschäftig bediente er den Korpsbruder, wie man um einen Kranken, um +einen Sterbenden sich müht. Und dabei fühlte Hans Thumser ganz deutlich, +daß der andere sich im tiefsten Innern höchst mollig fühlte bei dem +Gedanken: Gott sei Dank, daß ich selber nicht derjenige welcher bin! + +Um Punkt halb sechs knallte drunten die Peitsche des Kutschers. Die +jungen Männer machten sich bereit. + +Im Schauer des dämmrigen Morgens fuhr Hans Thumser fröstelnd zusammen, +als sie vor die Tür traten, als sein Blick auf die eingeschnurrte +Gestalt des Korpsdieners fiel, der übernächtig auf dem Bock neben dem +Kutscher hockte und auf den Knien einen schmalen, schwarzpolierten +Kasten trug ... + +Nebeldurchdunstet lagen die Straßen. Das Weiß des frischen Schnees war +längst in ein kotiges Braun verwandelt, das der Frost der jüngsten Nacht +mit tausend Rauhreifkristallen überzogen hatte. Ringsum erwachte das +Leben der großen, fleißigen Stadt der Arbeit. + +Den Rockkragen hochgeschlagen, dampfenden Atems schritten die Männer, +huschten die Frauen einher, jeder an sein Geschäft. Schwarz und finster +reckten sich die Fronten der alten Straßen, deren Häuser sich im Laufe +der Jahrhunderte aus eleganten Wohnpalästen in dumpfe, mit Affichen +überladene Geschäftshäuser verwandelt hatten. + +Aber die Nebel sanken, von Osten wuchs die junge Tageshelle. Erste, +schüchterne Sonnenstrahlen spielten droben um die Giebeldächer, ein Tag +voll winterlicher Herrlichkeit flammte herauf. + +Nun wurden die Anlagen durchquert. Weißleuchtend zackte sich das Gewirr +der umreiften Aeste ins junge Blau. + +Ivo Volkner aber und Hans Thumser studierten eifrig den +S. C.-Pistolen-Komment, der in einem handschriftlichen Exemplar auf +ihren Knien lag, und zündeten eine Zigarette an der anderen an. + +Ganz kühl und geschäftsmäßig sprachen sie immer und immer wieder den +vorgeschriebenen Gang der Mensur durch, um später auch nicht den +leisesten Schnitzer zu begehen. + +Endlich aber hielt es Hans Thumser nicht mehr aus. Er schob das +schwarzgebundene Heft zurück, riß das frostbeschlagene Wagenfenster auf, +atmete in tiefen Zügen die Morgenfrische und sog mit brennenden Augen +das Bild der Morgenwelt in sich hinein. + +Und eine wilde Sehnsucht kam über ihn -- Sehnsucht nach all dem +Unsagbaren, das von da draußen in seine Seele hineinflutete, nach all +dem unendlich Schönen des Lebens, das er doch kaum mit erstem Erwachen +des Begreifens gegrüßt ... und das doch schon tausend Vorahnungen +künftiger Glücksmöglichkeiten in ihm geweckt hatte. Ach, +Glücks=möglichkeiten=?! Nein, er =war= ja schon glücklich gewesen! + +Asta Thöny! klagte es in seiner Seele. Gott! so undankbar konnte man +sein? An sie hatte er noch gar nicht gedacht ... Daß er von ihr sich +verabschieden mußte, das war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen ... +Und doch -- wieviel hatte sie ihm geschenkt! Wie unsäglich gut war sie +zu ihm gewesen, und er ... er hatte sie achtlos beiseite geschoben. Und +das letzte, das er von ihr gesehen, waren bittere Tränen gewesen. + +Zu spät ... Nun mußte das Schicksal seinen Gang gehen. Nun blieb nur +noch eins: der Feindeskugel die Brust zu bieten und die Stirn dem +wahllosen Walten des Geschicks. + +Und doch, wie schön die Welt! Wie reich, was sich barg hinter den weißen +Nebelschwaden, die das Kommende verhüllten. Wie selig selbst dieser +Augenblick ahnungsvollen Grauens ... + +Und Hans Thumsers Seele fühlte sich leben in diesem Augenblick. Leben, +wie sie nie zuvor gelebt ... In langen, schmerzvollen Zügen trank sie +das Glück des Augenblicks hinein. Das Glück, noch da zu sein, noch ein +paar schmerzvoll süße Minuten lang die tiefe Wonne des Daseins atmen zu +dürfen. + + +In einem billigen Zimmer des Hotel de Russie -- dritter Stock nach +hinten hinaus -- hatte Valentin Pilgram sich einquartiert und die halbe +Nacht mit Briefeschreiben zugebracht. Erst nach Mitternacht hatte er +sich aufs Bett gestreckt und ein paar Stunden hingedämmert ... + +Nun marschierte er auf dem Reitweg, der erst rechts, dann links der +»Neuen Linie« durch das Streitholz führte, dem Kampfplatz entgegen, ein +einsamer Wanderer ... + +Er hatte sich nicht entschließen können, die letzten Augenblicke in +Gesellschaft seines ihm tief unsympathischen Sekundanten Borgmann +zuzubringen, mit dem er zweimal die Klinge und noch viel öfter in +hitzigen Debatten des S. C. das Schwert des Wortes gekreuzt. + +Um nicht mit dem Wagen zusammenzutreffen, war er vom Fahrdamm abgebogen, +auf den Reitweg hinüber, auf dem um diese Morgenstunde noch keine +Begegnung zu befürchten war. Er sah nicht die Pracht des jungen Tages, +fühlte nicht die Schönheit des Daseins, die ringsum tausend Wunder +winterlicher Herrlichkeit erblühen ließ. Er fühlte nichts als seinen Haß +-- sah nichts als die Gestalt des Gegners, wie sie nun gleich vor ihm +stehen würde, ein sicheres Ziel dem stählernen Druck seiner Hand, dem +unbeirrbaren Blick seines Auges. + +Da ließ ein Geräusch ihn aufschauen, ein Geräusch, das rasch sich +näherte. Pferdegetrappel war's, gedämpft durch den Schnee -- nur wenn +die Hufe ab und an gegen die harte Eiskruste stießen, die den Boden +überzog, dann gab's einen klirrenden Ton. Der hatte ihn geweckt. + +Da vorne, in den silbernen Nebeln, die noch über der Pleißeniederung +lagerten, tauchten, schattenhaft abgehoben vom umgoldeten Himmel, zwei +Reitersilhouetten auf: ein Herr und eine Dame. In raschem Trabe näherten +sich die schnaubenden Gäule. + +Valentin Pilgram konnte keines Menschen Blick ertragen in diesem +Augenblick. Er trat rasch hinter den mächtigen Schaft einer Eiche und +ließ die Reiter vorüberflitzen. Im letzten Augenblick erkannte er sie: +es waren Jucunda und der Erbprinz. + +Es war ihm, als hätte er einen Stoß vor die Brust erhalten. Er taumelte, +starrte ein paar Sekunden wie ein Blödsinniger hinter den enteilenden +Schatten her. Noch klang Jucundas übermütiges Lachen, des Prinzen +näselnde Stimme in sein Ohr: + +»... mal sehen, ob der Generalintendant meines alten Herrn für ein +Gastspiel in diesem Winter ...« + +Das waren die Worte, die er aufgefangen ... + +Ha ha! -- ha ha ha ha ha --!! Das also war das Ende! Darauf lief es +hinaus! + +Während er zum Todesgange schritt mit jenem andern, der ihm der +Glückliche gewesen war bis zu diesem Augenblick ... In derselben +Stunde ... pfui Deubel! pfui Deubel! + +In dumpfer Betäubung trottete er weiter. + +Wo war der blindwütende Haß, der ihm den Nacken gestählt, die Sehnen +gestrafft? Verweht -- verflattert, wie die weißen Nebelschwaden um die +rauhreifumsilberten Kronen der Bäume zerwehten. + +Und plötzlich ward er sich des grausamen Wahnsinns bewußt, der in all +den Geschehnissen lag, die er selbst ins Rollen gebracht, und die nun +abschwirrten, wie ein gräßlich zermalmender Mechanismus, unhemmbar, +unwiderstehlich. + +Da blinkte schon der Lauf der Pleiße ... da vorn tauchte aus den +Morgendünsten der Umriß eines Wagens auf, der sich im Schritt gen Süden +bewegte, und hinter ihm klang das Rollen eines zweiten Wagens. + +Er beschleunigte den Gang, er mochte sich nicht überholen lassen, weder +von seinem Sekundanten noch von der ... andern Partei. + +Nun hatte er die »Linie« erreicht, verfolgte sie einige hundert Schritte +weit gen Osten ... und sieh, da öffnete sich rechts eine weite Lichtung: +die Heiderwiese ... + +Am Wegekreuz hielt der Wagen, der vor ihm gefahren war. Er sah, wie drei +männliche Gestalten ihm entstiegen und durch den Schnee ins Innere der +Lichtung hinein wateten. Das waren die andern: Hans Thumser, Volkner, +der Korpsdiener. + +Valentin Pilgram blieb am Chausseerand stehen und wartete auf seinen +Sekundanten. Nach wenigen Minuten war der Wagen heran. Ihm entstiegen +Herr Borgmann im grellkarierten Winterpaletot, sehr zeremoniös, +platzend vor Feierlichkeit, und Graf Schmettow, der Meißner-Senior, der +als Unparteiischer zu fungieren hatte, verkatert, die Scherbe im Auge. +Und ferner der alte Sanitätsrat Dr. Collwitz, der sich als zweiten +Paukarzt einen seiner Assistenten mitgebracht hatte. Einen jüngeren, +bebrillten Herrn mit langflutendem blonden Vollbart. Dieser wurde als +Doktor Köllicker vorgestellt. + +Pilgram dankte den Aerzten für ihr Erscheinen, die üblichen Redensarten +wurden getauscht in gezwungen nachlässigem Tone, den der Ernst der +Stunde mit frostigem Schauer durchzitterte. Dann stapften die Herren der +Gegenpartei nach gen Süden. + +Hinter ihnen schritt der Korpsdiener der Neo-Borussia, er trug einen mit +gelben Messingknöpfen benagelten Koffer, der Instrumente und Materialien +für die Aerzte enthalten mochte. + +Valentin Pilgrams Blicke suchten den Gegner und erkannten die schlanke, +geschmeidige Gestalt. Aber wohin war der Haß geschwunden, der ihn durch +Wochen gemartert, wenn er Hans Thumsers bloß gedachte?! Er sah nur noch +den Freund, den Korpsbruder aus drei Semestern. + +Thumser hatte seinen Paletot abgelegt und stand mit offenem Jackett, +über der Weste blitzte das grün-gold-rote Band. + +Und dahin sollte man nun zielen, dahin das Todesblei entsenden?! + +Und doch, es gab kein Zurück ... Und ob er wollte oder nicht, die +grausame Farce mußte nun mit Anstand zu Ende gespielt werden ... + +Und rasch und vorschriftsmäßig wickelte sich nun der Gang der Dinge ab. +In genauestem Anschluß an den Wortlaut des Komments wurden nun die +Plätze bestimmt, so daß das Licht gleichmäßig verteilt war; wurden die +Waffen geladen, die Duellanten instruiert. Der Unparteiische schritt +selber mit Riesensätzen seiner langen Storchbeine die Barriere ab und +bezeichnete sie durch zwei niedergelegte Spazierstöcke, hüben und +drüben. Noch zehn Schritt weiter jenseits wurden durch Kreuze, die in +den Schnee geritzt wurden, die Plätze für die Duellanten festgelegt, die +sonach durch fünfunddreißig reichlich bemessene Schritte voneinander +getrennt waren. + +Zuletzt nahmen die Sekundanten ihren Fechtern noch Brieftasche, Uhr und +Geldbörse ab und geleiteten sie dann zu ihrem Platze. Dort übergaben sie +ihnen die Waffen und traten dann jeder zwanzig Schritt zur Seite. + +Der Unparteiische nahm seinen Stand zwanzig Schritte seitwärts von der +Mitte der Schußlinie. + +»Meine Herren!« sprach er mit schallender Stimme, »ich wiederhole noch +einmal: ich zähle bis vier. Wenn ich eins! gezählt habe, dürfen Sie +avancieren bis an die Barriere, bis vier müssen Sie abgeschossen haben. +Herr Thumser, als der Beleidigte, hat den ersten Schuß. -- Bin ich +verstanden?« + +Mit stummem Nicken antworteten die Gegner. + +Hochaufgerichtet stand Hans Thumser und sah übers schneeblinkende Feld. +Endlos schien ihm die Entfernung, die ihn von dem Feinde trennte. Aber +er wußte, daß sie sich rasch verringern würde, zusammenschrumpfen zu +einem schrecklichen Aug' in Auge ... + +Ein jähes Frösteln rann durch seine Gestalt, kaum konnte er das Klappern +seiner Zähne bemeistern, kaum den Hahn der Pistole spannen ... Und nun +noch ein Blick in die goldige Morgenwelt hinaus. Ein Blick in die +Zukunft, die vor ihm versinken wollte wie der Tau einer Nacht. Und da +überfiel ihn eine jähe, ingrimmige Wut auf den, der ihm das alles rauben +wollte. Nein, sich wehren ... sich wehren bis zum letzten Atemzug! Ins +Herz den Gegner treffen -- ins Herz! Wenn einer fallen soll, gut, so +sei's der andere!! + +»Eins!« scholl da schneidend scharf das Kommando des Unparteiischen. + +Und nun war alles versunken, alles bis auf die hagere, starr +emporgereckte Gestalt da drüben, die einst geliebte, nun bis in den Tod +gehaßte ... + +Wie fern sie war, wie klein ... und nun, nun kam sie heran, nun wuchs +sie ... wuchs und wuchs ... und nun blieb sie stehen ... bot sich zum +Ziel ... + +Da raffte auch Hans Thumser sich zusammen. Mit hastigen Schritten schoß +er vorwärts, bis seine Fußspitzen den Spazierstock berührten, der die +Barriere bezeichnete. + +»Zwei!« klang des Unparteiischen Stimme. + +Hans Thumser hob die Waffe bis in die Augenhöhe, zielte auf des Gegners +Brust, sah ganz deutlich, wie über dem Visier die breiten Schultern +standen, das fahle Gesicht. + +»Drei!« + +Da drückte er los ... + +Er sah den Gegner wanken, sah, wie die Rechte, welche bisher die Waffe +gesenkt gehalten, eine rasche, zuckende Bewegung nach der linken +Schulter machte. Dann aber fand der Taumelnde Halt, hob nun ebenfalls +den Lauf, aber hoch bis über die Stirn, und schoß -- schoß hoch in die +Luft ... + +»Vier!« klang das Kommando des Unparteiischen. + +In diesem Augenblick ließ Valentin Pilgram die Pistole fallen und griff +mit der Rechten krampfhaft in das linke Schultergelenk hinein. + +Doktor Köllicker sprang zu, riß Pilgrams Rock auf, das weiße Hemd wies +Blutflecken, er zertrennte es mit raschem Zerren, untersuchte das +verletzte Gelenk. Dann winkte er dem Sanitätsrat, der hinzutrat. + +Auch Borgmann, der Sekundant, und Graf Schmettow eilten zu dem +Verwundeten heran. + +Der lächelte mit schmerzverzerrtem Munde. »Viel scheint's nicht zu sein, +meine Herren. Von mir aus kann's weiter gehen!« + +Aber der linke Arm hing kraftlos herunter, ein Versuch, ihn zu bewegen, +mißlang. + +Die Herren steckten in flüsternder Beratung die Köpfe zusammen. Die +Forderung lautete bis zur Kampfunfähigkeit ... und die lag wohl nicht +vor, obwohl das Schultergelenk schwer verletzt schien. + +Hans Thumser trug's nicht länger. Der andere hatte, obwohl getroffen, +seinen Schuß verloren gegeben. Was konnte das bedeuten? Doch nur dies +eine: die Erkenntnis begangenen Unrechts. + +Hans winkte seinen Sekundanten heran. + +»Ich kann nicht mehr, Volkner -- geh und biete Satisfaktion an ...« + +In derselben Sekunde scholl auf der Chaussee ein hastiges Hufegeklacker, +und eine atemlose Männerstimme keuchte: + +»Halt! Im Namen des Gesetzes: halt, meine Herren!« + +Zwischen den Büschen des Wiesenrandes tauchte ein goldblinkender Helm +auf, ein grüner Waffenrock, der braune Bug eines Pferdes, in rasendem +Galopp gestreckt. Fünf Minuten später preschte der Reiter an der Gruppe +der Herren vorüber, die sich um den Verwundeten zusammengeballt hatten, +warf den Gaul herum, versuchte den Flankenzitternden, Schäumenden zum +Stehen zu bringen. + +Hans Thumser hielt sich nicht länger. In langen Sätzen übersprang er die +fünfzehn Schritt, die ihn von dem Verwundeten trennten, streckte ihm die +Hand hin: + +»Komm, Pilgram -- das geht ja doch nicht mehr!« + +Die Herren, die den Verwundeten umdrängten, hatten ihm Platz gemacht. + +Aug' in Aug' standen die einstigen Freunde einander gegenüber, tauschten +einen Blick, in dem mehr als Versöhnung lag ... Genesungsglück +schimmerte darin, neue Hoffnung, neues Leben ... + +Mit der heilen Rechten schlug Valentin Pilgram in Hans Thumsers Hand +ein ... und auf einmal lagen die Jünglinge sich in den Armen. + +Da klangen wiederum Hufschläge auf der Chaussee. Und sieh, ein Wagen +hielt am Wiesenrand, ihm entstiegen zwei Herren und eine Dame, die mit +hastigen Schritten über den schneebedeckten Wiesengrund herankamen. + +Nun löste sich aus der Gruppe der drei die hagere Gestalt eines alten +Herrn in Gehpelz und Zylinder los, der mit langen Sätzen über die +klirrenden Schollen voranstelzte. Immer hastiger ward sein Gang ... ward +zum Lauf ... + +»Donnerwetter!« schrie da Volkner plötzlich, »sieh doch nur, Pilgram -- +Dein alter Herr!« + +Die Aerzte hatten sich ins Mittel gelegt und die Umarmung der +wiedergefundenen Freunde getrennt, um sich ihres Patienten zu +bemächtigen und die verletzte Schulter genauer zu untersuchen. + +Nun hob Valentin Pilgram den Kopf, alles wich zurück, so daß die Gruppe +der Herankommenden frei wurde -- und Pilgram erkannte seinen Vater ... + +Schon war der Präsident heran, ergriff mit beiden Händen die Rechte des +Sohnes, die sich ihm entgegenstreckte. Mit zuckenden Augen, mit +zuckenden Lippen standen Vater und Sohn einander gegenüber. + +»Ihr verfluchten Bengels!« sagte der alte Herr, »was macht Ihr für +Geschichten?« + +»Etwas zu spät bist Du doch gekommen, lieber Papa -- Du siehst, der Fall +ist bereits erledigt!« + +»Ich wollt's Euch auch geraten haben! Schlimm genug, daß es so weit +gekommen ist! Na, was hat's denn abgesetzt?« + +»Ach, nicht der Rede wert,« lachte der Junge und zwang den grimmigen +Schmerz nieder, der von dem verletzten Gelenk aus durch den ganzen +Oberkörper fraß. + +»Nun, und Du wunderst Dich gar nicht, daß ich hier bin?!« + +Valentins Blicke hatten die Gestalt des jungen Weibes erkannt, das nun +herankam in Begleitung eines dicken Herrn. An diesen ritt der Gendarm +heran und machte ihm in dienstlicher Haltung eine Meldung, während das +Mädchen mit glühenden Backen und strahlenden Augen nähertrat, um dann +ein paar Schritt vor den Herren plötzlich tiefbefangen stehen zu +bleiben. + +»Die da, nicht wahr?« fragte Valentin den Vater. + +»Jawohl, die da ... zum Dank für ... vorgestern!« + +»Ach, ich glaube, es war ihr weniger um mich zu tun ...« sagte Valentin +Pilgram und suchte das Auge des wiedergefundenen Freundes. + +Aber der hatte keinen Blick für ihn. In tiefer Erschütterung, regungslos +starrte er zu der hellen Gestalt hinüber, die über die weißen Schollen +herangeschwebt kam wie ein Frühlingshauch. Als sie nun aber stehen +blieb, da sprang er ihr entgegen, die Hände weit ausgestreckt. Da hob +auch sie ihm die Hände entgegen, und er ergriff sie und drückte sein +glühendes Gesicht hinein. + + +Erbprinz Heribert hatte nach seiner Rückkehr vom Morgenritt wie +gewöhnlich von neun bis zwölf das Kolleg besucht und war dann in seine +Wohnung im Hotel Hauffe zurückgekehrt, um mit Major von Gorczynski zu +frühstücken. + +»Nun, Durchlaucht, wie war's?« Der Major hob das Portweinglas. + +»Danke, ganz nett.« + +»Nur ganz nett?!« + +»Ach, wissen Sie, lieber Gorczynski, ich glaube, das ist eine von den +ganz Gerissenen ... die sichert sich =vorher= -- verstehen Sie?« + +Der aufwartende Lakai brachte auf silbernem Brett eine Besuchskarte. Der +Prinz las: + + =Pilgram= + Senatspräsident am Königlichen Oberlandesgericht + Dresden. + +»Haben Sie gesagt, daß wir beim Frühstück sind?« + +»Zu Befehl, Durchlaucht, aber der Herr bittet dringend um eine +Unterredung.« + +»Schön -- ins Empfangszimmer.« + +Als der Bediente verschwunden war, reichte der Erbprinz seinem Erzieher +die Karte hinüber. + +»Vermutlich der Vater meines ... äh ... meines Kollegen!« + +»Kollegen?! Wieso?« + +»Na, weil der auch auf die Buchner reingefallen ist. Kommen Sie mit, +lieber Gorczynski -- für alle Fälle.« + +Hoch aufgerichtet, die Ordensrosette im Knopfloch seines Ueberrocks, +erwartete der alte Herr den jungen Fürsten. Des Umgangs mit +hochgestellten Persönlichkeiten gewohnt und seiner guten Sache sicher, +neigte er sich mit gemessenem Selbstbewußtsein. + +»Sehr erfreut -- Herr Präsident, was verschafft mir die Ehre? Darf ich +bekannt machen? Herr Major von Gorczynski -- Herr Präsident Pilgram. -- +Stört Sie die Gegenwart meines Begleiters, Herr Präsident?« + +»Ich bitte, Durchlaucht.« + +»Bitte Platz zu nehmen, meine Herren.« + +»Durchlaucht, ich komme im Interesse meines Sohnes Valentin, den Sie +kennen!« + +»Ich habe die Freude.« + +»Durchlaucht wissen, daß mein Sohn aus dem Korps Franconia ausgetreten +ist, um Ihnen gegenüber für eine Dame eintreten zu können, von der er +annahm, daß Sie, Durchlaucht, ihr -- --« + +»Hm ...« machte der Erbprinz, »ich weiß.« + +»Durchlaucht haben die Güte gehabt, diese Angelegenheit in ritterlicher +Weise beizulegen. Trotzdem hat das Korps Franconia aus Rücksicht auf +Durchlaucht davon Abstand genommen, meinen Sohn in die Reihen seiner +Mitglieder wieder aufzunehmen.« + +»Allerdings ...« sagte der Erbprinz. »Das habe ich mir wohl so gedacht +-- aber wenn ich mir eine Zwischenbemerkung erlauben darf, Herr +Präsident: die Geschichte war mir höchst fatal ... und ich habe mich +seitdem vom Verkehr bei dem Korps fast völlig zurückgezogen ... Es war +mir kolossal peinlich ... verstehen Sie, Herr Präsident?« + +»Ich begreife sehr wohl,« sagte der Präsident ruhig. »Die jungen Herren +haben wohl eine zu geringe Meinung von Euer Durchlaucht wohlwollendem +Verständnis für die korpsstudentische Auffassung gehabt, sonst hätte +sich doch wohl ein Ausweg finden lassen, um meinem Sohn die +wohlverdiente Ehre der Zugehörigkeit zu dem Korps -- zu dessen Alten +Herren ich, beiläufig bemerkt, auch selber zähle -- wiederum zu +verschaffen. Oder täusche ich mich, Durchlaucht?« + +»Ne, ne, mein verehrter Herr Präsident. Sie haben in der Tat vollkommen +recht ... Wenn's nach mir gegangen wäre ... aber man hat mich ja gar +nicht gefragt. Mir für meine Person wär's ja doch zehnmal angenehmer +gewesen, wäre die ganze Geschichte diskret behandelt worden. Aber man +hatte ja die Sache dermaßen übers Knie gebrochen ... ich stand vor einem +_fait accompli_ ... und da hielt ich's für das beste, mich um gar nichts +mehr zu bekümmern. Das werden Sie begreifen, nicht wahr, Herr +Präsident?« + +»Ich begreife vollkommen, Durchlaucht. Ich sehe aber auch, daß ich mich +in meinen Vermutungen über Eurer Durchlaucht Ansichten von der Sache in +keiner Weise getäuscht habe: und darum komme ich jetzt mit der formellen +Bitte, die der Zweck meines Besuches ist: wollen Durchlaucht die große +Güte haben, durch meinen Mund dem Korps Franconia mitteilen zu lassen, +daß einer Rückgabe des Bandes an meinen Sohn Ihrerseits nichts im Wege +steht?« + +»Aber mit dem größten Vergnügen, Herr Präsident! Ich bin ja höchst +erfreut, daß die fatale Geschichte endgültig aus der Welt kommt ...« + +»Ich danke ehrerbietigst für diese Gnade, Durchlaucht. Ich glaube, sie +ist an keinen Unwürdigen verschwendet! Da Sie nun aber in so überaus +verständnisvoller Weise meinem Vorschlage entgegengekommen sind, so darf +ich wohl auch noch eine andere Begebenheit erzählen, die mit der +besprochenen nicht ganz ohne Zusammenhang ist, und die glücklicherweise +ebenfalls eine Wendung zum Besseren genommen hat?« + +Und nun erzählte der Präsident in knappen Worten von dem Renkontre der +beiden einstigen Korpsbrüder und seinem blutigen Austrag. Die Motive des +Zusammenstoßes ließ er unberührt. Er konnte sich wohl vorstellen, daß +der Erbprinz den Zusammenhang auch so durchschauen würde ... und darin +hatte er sich nicht getäuscht. Als er geschlossen hatte, erhob sich der +Erbprinz und streckte seinem Besucher die hagere Hand hin: + +»Ich danke Ihnen, Herr Präsident, Ihre Geschichte soll mir eine Lehre +sein ... gewisse Leute sind anscheinend ... äh ... mit Vorsicht zu +genießen. Was meinen Sie, lieber Gorczynski? Na, ich werde mir's +merken!« + +»Gestatten Durchlaucht nochmals meinen ehrerbietigsten Dank.« + +»Aber ich bitte, mein verehrter Herr Präsident -- nur ich habe zu +danken, nur ich ... Sie haben mir einen größeren Dienst geleistet, +als Sie vielleicht ahnen. Grüßen Sie Ihren Sohn, oder noch besser: +sagen Sie ihm, ich hoffe heute abend auf der Frankenkneipe mit ihm auf +gute Freundschaft anzustoßen ... Doch halt! Vorher müssen wir noch +einmal ins Theater ... Nicht wahr, lieber Major? Heut ist ja die +Abschiedsvorstellung der Meininger, das dürfen wir uns doch nicht +entgehen lassen ... Aber nachher, nicht wahr, Herr Präsident, dann +treffen wir uns im Cafébaum!« + +»Ich hatte gleichfalls vor, das Theater zu besuchen, Durchlaucht, wenn +ich mir die Bemerkung gestatten darf -- und zwar mit meinem Sohn und +unserm Korpsbruder Thumser. Die Verletzung meines Sohnes ist ja freilich +nicht ganz unbedeutend: das linke Oberarmbein ist in Höhe des unteren +Ansatzes des Oberarmkopfes getroffen, die Kugel ist im Knochen stecken +geblieben, konnte aber mit Leichtigkeit entfernt werden.« + +»Sehr erfreulich zu hören, Herr Präsident. Also auf Wiedersehen heut +abend, nicht wahr?« + + +Um zwölfeinhalb Uhr fuhr der alte Pilgram am Cafébaum vor, stieg die +Stufen zur Frankenkneipe hinan und wurde vom Korpsdiener in das +Konventszimmer geführt, wo Franconias Korpsburschen bereits zum C. C. +versammelt waren. + +Ehrerbietig begrüßte die Schar der Studiosen den Alten Herrn, der sofort +beim Eintreten eine grüne Mütze, die der Korpsdiener ihm dargereicht, +auf seinen grauen Schädel gestülpt hatte. + +Volkner bat Platz zu nehmen und eröffnete den C. C. Er erteilte dem +Alten Herrn Pilgram das Wort. Dieser berichtete über seinen Besuch bei +dem Prinzen und entledigte sich seiner Mission. + +Mit strahlenden Gesichtern vernahmen die Korpsburschen die frohe +Botschaft. + +Unmittelbar, nachdem der Alte Herr geendigt, sprach der Senior: + +»Ich stelle den Antrag, dem früheren C. B. Pilgram, gewesenen Zweiten, +Ersten, Ersten das Band zurückzugeben. Wünscht jemand zu dem Antrage das +Wort?« + +Alles schüttelte den Kopf, aus jedem Auge strahlte helles Glück. Hans +Thumser aber schämte sich nicht, daß ihm zwei Tränen über die frischen +Wangen rollten. Unfähig jeden Wortes, reichte er dem Präsidenten über +den Tisch hinüber die Hand. + + +Und nun saßen sie im Carolatheater, auf einer der vordersten +Parkettreihen. Präsident Pilgram inmitten der beiden jungen Gesellen, +zur Rechten sein Sohn: er trug den linken Arm in der schwarzen Binde, +fest im Gipsverband verschient, den Rock nur lose über die linke Achsel +gehängt, den Aermel leer. Ueber die rechte Schulter aber, über die Weste +und die schwarze Binde zog sich das grün-gold-rote Band. + +Hans Thumser saß zur Linken. Ueber den alten Herrn hinweg aber schauten +die Freunde sich immer und immer wieder in die Augen. Sie fühlten: so +hatten sie sich noch nie gehört, so sich noch nie geliebt. Und diese +Liebe, die würde nun bleiben fürs ganze Leben ... + +Oft aber flogen ihre Blicke auch nach der zweiten Proszeniumsloge des +Parketts vorn rechts hinüber. Da saß der Erbprinz, die Scherbe im fahlen +Gesicht, und hinter ihm verschwanden die groben Züge, der wehende +Schnurrbart des Majors im Dämmer des Logenhintergrundes. + +Aber auf den blasierten Zügen des jungen Fürsten lag heute ein seltsames +Leuchten, das noch niemand an ihm gekannt hatte. Und wenn sein Blick den +Augen des alten und der beiden jungen Franken da unten im Parkett +begegnete, dann lachte sein ganzes Gesicht so knabenhaft fröhlich, so +jung und gut, als sei auch er ein x-beliebiges junges Studentlein und +nicht der Erbe eines deutschen Fürstenthrones. + +Ringsum aber drängte sich ganz Leipzig und füllte das Haus bis zum +letzten Stehplatz droben auf der Galerie. Eine festlich dankbare +Stimmung lag über der erregten Versammlung. + +Fünf Wochen lang war dies Haus ein Tempelhaus gewesen. Fünf Wochen lang +hatte man hier den höchsten Offenbarungen gelauscht, welche die edelste +Blüte der zeitgenössischen Bühnenkunst geschaffen hatte im Bunde mit den +erhabensten Genietaten der großen Szenenbeherrscher des Dramas der +Weltliteratur. Und nun wollte man am letzten Tage noch einmal mit voller +Seele, mit allen Sinnen genießen, wollte in sich aufnehmen die +gigantischste Schöpfung der deutschen Tragödie: »Wallensteins Tod«. + +Das Spiel begann. + +Inmitten der Bilder seiner Gestirne stand der einsam-stolze Mann, über +dessen Haupte schon die schwarzen Fledermausschwingen des Verbrechens, +die Rabenfittiche des Todes rauschen. Am nächtlichen Himmel suchte er +den Stern seines Lebens, der sich nun so bald verfinstern sollte ... Und +in raschen, unfehlbaren Schlägen vollzog sich sein Geschick. + +Der alte Herr aber da vorn im Parkett und seine beiden jungen Gefährten +harrten ungeduldig des Augenblicks, da der Vorhang sich zum dritten Akt +heben und die beiden Mädchengestalten auftauchen würden, die so tiefe +Furchen in die Herzen, in die Geschicke der jungen Männer gezogen. + +Und sieh -- nun erfüllte sich's. + +Die Gardine rauschte empor; und es erschloß sich ein dunkler wuchtiger +Saal mit Kamin, Gobelins, gepolsterten Bänken an den Wänden. Nach hinten +stieg eine Treppe empor, im Bogen geschweift aus massivem, +dunkelgebeiztem Eichenholz mit schwerem Renaissance-Geländer. Sie führte +zu einer langen Galerie, die gegen die Bühne zu von einem riesigen, aus +zahllosen kleinen Scheiben bestehenden Glasfenster abgeschlossen war. + +Und wie verloren in dem weiten, angstdurchschauerten Raum saßen vorn +rechts auf der Bank zwei Frauengestalten mit weiblichen Arbeiten +beschäftigt, während eine dritte oben auf der Galerie stand und aus den +Fenstern nach drunten spähte -- Wallensteins Schwägerin, die Schwester +seiner Seele ... + +Die zwei da unten aber -- die beiden jungen Franken, die kannten sie. + +Scheu und wesenlos wie ein gutes, dienstbares Geistlein hockte Asta +Thöny als Fräulein von Neubrunn neben der jungen, schönheitsstrahlenden +Herrin. + +Die aber saß weiß und blaß, den adligen Kopf in schmerzvoller Starrheit +zurückgelehnt an die braune Täfelung. + +Sie war die Schönheit, die versinken muß unterm erbarmungslosen Schritt +des Schicksals, sie war die Tugend, die zermalmt wird von den geifernden +Kinnbacken des Verbrechens, sie war die leuchtende Seele des +gigantischen Gedichts, sie war ... das Ideal ... + +Und alles vollendete sich nun. + +Mit unerhörter Wucht stampfte das Fatum daher und ließ den Lügenbau der +friedländischen Größe zusammenkrachen. Blatt um Blatt sank hernieder von +dem ragenden Baum, bis er einsam stand, entlaubt, doch herrlich in +seinem starren Trotz. + +Und nun kam jene gewaltigste aller Szenen, die Valentin Pilgram und Hans +Thumser als Pappenheimer Kürassiere mitprobiert hatten, und der sie nun +als Zuschauer nur lauschen durften, wie damals, als Hans, ein scheuer +Primaner, sie zum erstenmal erschaut, dahinten, weit in der Heimat -- im +Barmer Stadttheater, auf dem Eckplatz des zweiten Ranges. + +Zwischen den zwei eisengeharnischten Männern, dem fürstlichen Vater +rechts, dem ritterlich prangenden Geliebten links stand das +unglückselige, geopferte Mädchen. Vor die grausame Pflicht gestellt, zu +wählen zwischen Gehorsam und Liebe. + +Und sie wählte den Gehorsam ... Mit den unschuldig reinen Händen riß sie +die Liebe aus ihrem Herzen und stieß sie von hinnen ... in den +unerbittlichen Schlachtentod ... + +War das Jucunda Buchner? War's das junge Ding von achtzehn Jahren, mit +dem die zwei schlanken Burschen da unten an einem Tisch gesessen, in +einer Stube? Um derentwillen sie heut morgen in der Frühe des +leuchtenden Wintertages einander mit der Pistole in der Hand gegenüber +gestanden hatten, während sie mit einem gefürsteten Knaben über Feld +ritt, nur von dem einen Gedanken erfüllt, ein Gastspiel am Hoftheater in +Nassau-Dillingen für den nächsten Winter herauszuschlagen? + +Nein, sie war es nicht. Ihre sterbliche Hülle war's! Und doch auch die +nicht mehr. Auch die verwandelt, erhöht, durchleuchtet, durchseelt von +der geheimnisvollen Flamme, die tief drinnen in ihr loderte, +unerklärlich, unbegreifbar ... der heiligen Flamme, die, solange sie +loderte, alles überstrahlte, alles verzehrte, alles verklärte, was +irdisch, was menschlich, was gewöhnlich, was häßlich war an ihr ... + +Horch, schon brandete von draußen der Schwall der Pappenheimer heran ... +Schon klang die wilde Feuerweise des Reitermarsches, der zu Kampf und +Tode lud ... + +Und nun -- nun tobte der rasselnde Schwall die Stiegen hinauf, stapfte +in die Galerie hinein, daß die Scheiben klirrend barsten, strudelte die +Treppe hinunter, überschwemmte in immer erneuten Güssen blinkender Wogen +die ganze Bühne ... entblößte Schwerter, haßflammende Blicke ... + +Und inmitten die zwei jungen Menschen, -- neben dem todgeweihten Manne +das todgeweihte Weib, die weiße, unschuldig leuchtende Gestalt, das tief +gesenkte, sterbensmatte Haupt. + +Und nun, nun ist der grausame Kampf zu Ende gekämpft. Aus dem Arm der +Geliebten reißt Oberst Max sich los. + + »Bedenket, was Ihr tut. Es ist nicht wohlgetan, + Zum Führer den Verzweifelten zu wählen. + Ihr reißt mich weg von meinem Glück, wohlan, + Der Rachegöttin weih' ich Eure Seelen! + Ihr habt gewählt zum eigenen Verderben, + Wer mit mir geht, der sei bereit, zu sterben!« + +Und mit hochgereckten Armen stürzt er sich hinein in die eisenschäumende +Woge. Die brüllt hell auf, schäumt gischtend empor, schlingt ihn +hinunter, reißt ihn von hinnen. Die Treppe hinauf strudelt der gärende +Schwall -- noch einmal taucht der wehende Helmbusch, der silberne +Harnisch auf ... versinkt aufs neue in den gleißenden Fluten. In den +wütenden Jubel der todestrunkenen Schar gellen die wirbelnden, erzenen +Rhythmen des Reitermarsches ... + +Da unten, da vorn, bricht das verlassene Kind vor des starren Vaters +eisenumschienten Knien zusammen ... es erfüllt sich das tragische Los +des Schönen auf der Erde ... Das Edle sinkt ... Das Ideal verweht ... + +Vorbei ... vorbei ... + +Während die Gardine niederrauschte, legte der alte Präsident seine +beiden Hände um die Schultern der jungen Männer zu seiner Rechten und +seiner Linken: + +»Kinder ... =jetzt= versteh' ich Euch ...!« + + +Am andern Morgen begleitete Hans Thumser seine Asta im Wagen zum +Bayrischen Bahnhof. Das Leipziger Gastspiel der Meininger war zu Ende -- +weiter rollte der Thespiskarren ... Schon übermorgen abend würde man im +Gärtnerplatz-Theater in München mit »Jungfrau« eröffnen ... + +Auf dem Bock thronte ein riesiger Reisekoffer. Vier Kisten mit Kostümen +waren schon als Eilgut vorausgegangen. + +Drinnen aber im Wagen lachten die zwei und machten die tollsten Witze. +Das Herz war ihnen gar zu voll und gar zu schwer. + +»Asta ...« sagte Hans mit einem Male im tiefsten Ernst, »-- ich bin ein +dummer, grüner Junge ... und ein Habenichts dazu ... sonst sagte ich zu +Dir: Laß uns zusammenbleiben ...« + +»Du Dummerle!« schalt Asta heftig und gab ihm einen derben Klaps auf die +Backe -- »Du bist doch wirklich ein riesengroßes Dummerle! So etwas darf +man nicht einmal denken ... so ein feiner, nobler Junge wie Du ... und +eine ... eine Landstreicherin wie ich ...« + +Aber ihre Lippen zuckten bitter und sehnsüchtig dabei, und in den Augen +schimmerte es verdächtig ... + +»Pfui, Asta! Abscheulich, so von Dir zu sprechen! Von meiner ... meiner +süßen Asta --!« + +»Sag's noch einmal!« bat Asta. »Es klingt so schön ... und ich werd's ja +doch niemals wieder hören ...« + +»Niemals wieder?! So oft Du willst, Süße, so oft Du willst ... und so +oft ... ich ... kann ...« + +»Da hast Du's ja ... Du wirst nicht können, mein armes Dummerle ... und +ich ... ich werde auch nicht wollen ... Es war so schön ... nun ist's zu +Ende ... und das ist gut so. Für uns beide ... für mich auch ... Denn +wenn's noch länger gedauert hätte ... dann ... dann wär ich am Ende doch +nicht mehr von Dir los gekommen ...« + +»Asta ... Asta ... So viel hast Du für mich getan ...« + +»Ja siehst Du -- da hast Du wieder so recht mein ganzes Pech: alles, +was ich für Dich hab' tun wollen, ist beim guten Willen geblieben ... +Ich hab' Dich glücklich machen wollen ... und Du bist zur Jucunda +gelaufen ... Ich hab' Dir das Leben retten wollen ... und bin zu spät +gekommen ... Eh wir dazwischen kamen, hattet Ihr Euch schon vertragen +... So geht mir's immer -- --« + +»Asta ... mein Mädchen ... ich ... ich hab' Dich ja so lieb ... +so unsagbar lieb ... ich laß Dich nicht fort ... ich ... ich brenne +durch ... Ich geh' mit nach München ... Ich frage Euren Herrn Burg, ob +er einen Volontär brauchen kann ... Ich sollte meinen, zu einem +Komödianten müßt' es doch auch bei mir reichen ...« + +Asta tupfte die Augen mit ihrem Spitzentüchelchen, und die zuckenden +Mundwinkel lachten schon wieder ihr lieblichstes Spitzbubenlachen. + +»Ne, Hanserl -- das glückt Dir nicht ... Das können wir vor Deinen +Herren Eltern nicht verantworten! Bleib Du, was Du bist ... ein Jurist +... oder ... werd' einmal ein Dichter, wenn Du kannst ... ich glaube, +Du kannst -- -- und dann, in zehn oder zwanzig Jahren schreibst Du +einmal ein Stück, das über alle Bühnen geht -- mit einer wunderhübschen +Rolle für die komische Alte darin ... Und wenn Du dann auf Reisen +zufällig einmal nach Krotoschin oder nach Stallupönen kommst und siehst +an irgendeiner Bauernkneipe oder Scheune den Theaterzettel einer +Schmiere kleben, die Dein Stück spielt, und hinter der Rolle der +komischen Alten findest Du den Namen Asta Thöny ... dann setz Dich +irgendwo unter das 'verehrliche Publikum' ... aber ganz, ganz weit +hinten ... daß ich Dich nicht etwa erkenne ... und denk' daran, daß das +alte, häßliche Weiblein da oben einmal in Deinen Armen gelegen hat ... +vor langer, langer Zeit ... als Du noch jung warst und unberühmt und +nichts weiter als ein Korpsstudent in Leipzig ... Gelt, Hans, Das tust +Du --?« + +Hans Thumser konnte nicht sprechen. Er küßte nur immer wieder die +rosige, weiche Hand, die er zwischen seinen harten, waffengestählten +Tatzen eingepreßt hielt, als wollte er sie zerdrücken. + +Der Wagen hielt vor dem Abfahrtportal des Bayrischen Bahnhofs. Es war +zehn Uhr morgens. In grellem Weiß standen die beschneiten Dächer gegen +das satte Himmelsblau, das gleißende Sonnenlicht. + +Auf dem Bahnsteig hielt bereits der Münchener Schnellzug. Für das +Ensemble der Meininger waren auf Bestellung ein paar Extrawagen +angehängt worden. Im Kassenflur, unter der Halle, wimmelte es von +glattrasierten Männergesichtern, von lebhaften mit betonter Eleganz +gekleideten Frauen. Riesige Koffermassen wurden in die Gepäckwagen +verstaut ... + +Daß Asta Thöny sich auf dem Bahnhof in Begleitung eines grünbemützten +Studenten einfand, erregte keinerlei besondere Sensation unter ihren +Kollegen und Kolleginnen. Derartiges war man von ihr gewohnt. Sonst +war's meist eine Uniform ... + +Die große Jucunda schritt mit spöttischem Naserümpfen an dem Paare +vorüber, einen ungeheuren Strauß der wunderbarsten Rosen in der Hand, +den ihr soeben ein prinzlicher Lakai überbracht hatte. Ja ... den +Rosenstrauß hatte sie wohl ... aber keinen herzlieben Jungen zur Seite, +der bei ihr hatte bleiben wollen bis zum letzten Augenblick ... Nur ihre +Eltern gaben ihr das Geleit, Mutter Doris aufgedonnert im +unglaublichsten Staat -- Vater Kanzleirat im abgeschabten Winterpaletot +und zerbürsteten Zylinder, ein armseliger, hüstelnder Schatten neben den +beiden mächtigen Frauengestalten. + +Die übrigen Kollegen gingen mit diskret abgewandten Gesichtern an Asta +und ihrem schmucken Begleiter vorüber. + +Nur Franz Burg trat grüßend heran: + +»Guten Morgen, Kleine ... Na -- ist das Ihr Dichter?« + +»Ja, liebster Freund -- das ist er ...« + +Burg lüftete lächelnd seinen Hut, nannte seinen Namen, streckte dem +Studenten die Hand hin: + +»Nun, ich sehe, Sie sind noch sehr lebendig ... Höchst erfreulich das.« + +Mit korrekt eingewinkeltem Arm schlug Hans Thumser ein in Franz Burgs +Händedruck und zog höchst offiziell die Mütze. + +»Hm,« machte der Oberregisseur und musterte ungeniert das feierlich +zurechtgefaltete Jugendgesicht -- »vorläufig ist noch nicht viel +zu lesen auf der Physiognomie da ... aber wer weiß ... vielleicht +stehen wir uns noch einmal an anderer Stelle gegenüber, und Sie legen +mir ehrfurchtdurchfröstelt das Manuskript Ihres ersten Dramas in die +Hand ... wer weiß! Dann wollen wir uns dieses Augenblicks erinnern ...« + +»Und ich werde mich Ihres 'Wallenstein' erinnern, Meister -- -- +einstweilen lassen Sie mich Ihnen dafür danken ...« sagte der Student +... und Franz Burg sah auf einmal mit Staunen, wie auf dem jungen +Gesicht die feierlich korrekten Falten sich auflösten, wie aus den +dunklen Augen eine heiße Flamme sehnsüchtiger Leidenschaft schlug. Da +leuchtete auch sein Blick dem jungen Gesellen freundlich und ermunternd +ins Gesicht. + +»Also -- auf dereinstiges Wiedersehen, junger Freund --! Jetzt aber +sollt Ihr zwei die paar letzten Augenblicke noch füreinander haben, +Kinder ...« + +Die paar letzten Augenblicke -- -- + +Hans Thumser und Asta Thöny senkten die Häupter und die Blicke ... Hoben +sie dann und ließen die Augen lange, lange ineinander ruhen ... Dabei +schwiegen die Lippen, Unsagbares quoll auf in ihren Herzen. + +»Bitte Platz nehmen!« schnarrten da die Stimmen der Schaffner. + +Da warf Asta die Arme um Hans Thumsers Nacken. Es kümmerte sie nicht, +daß die Kollegen vom Fenster aus mit Grinsen und halblautem Scherz den +Abschied beobachteten ... + +»Leb wohl ... mein Hanserl ... auf ewig ... leb wohl ...« + +»Nein ... nicht auf ewig ... das ist ja unmöglich ... das ertrag ich ja +nicht --« + +»Ach, Hanserl -- wie gut Du das ertragen wirst ... aber Du ... von Zeit +zu Zeit einmal an mich denken ... gelt? an ... Dein ... erstes Glück ... +gelt, Hanserl?!« + +Aus der finstern Halle polterte der Zug in die sonnige Morgenhelle +hinaus. Grell im Sonnenlichte leuchtete der weiße Rauchschwaden, den der +enteilende Schlot der Maschine hinter sich herzog. Und ein großes +Abschiedwinken ging aus den Fenstern des Zuges, ging auf dem Bahnsteig, +wo in ganzen Rudeln die Freunde und Verehrer standen, welche die +scheidende Künstlerschar bis zum letzten Augenblick begleitet hatten ... + +Ein Tüchlein aber wehte länger als alle andern ... und Hans Thumser +blickte ihm nach, winkte ihm nach, bis alles vorbei war. + +Dann wandte er sich rasch und schritt gesenkten Hauptes aus der Halle. +Einen Korpsstudenten in Couleur sollte niemand weinen sehen. + + + + + Von =Walter Bloem= sind früher erschienen: + + + Sonnenland + + + Eine Fahrt in die Schönheitswelt Griechenlands, in die + Märchenstädte des Orients an Bord eines schmucken + Lloyd-Schiffes, auf dem der Zufall eine bunte + Reisegesellschaft zusammenwürfelt. Ein munterer Kreis + meist humoristisch gesehener Gestalten und im + Hintergrund ein leuchtender Reigen von Kultur- und + Landschaftsbildern aus den gesegneten Zonen des + sonnigen Südens. + + Preis 1 Mark + + + * + + + Das lockende Spiel + + + Ein Buch vom Theater, von seiner berauschenden Magie, + die keinen aus ihrem Zauberkreis entläßt, der ihr + einmal verfiel. Wer es einmal gespielt hat das + »lockende Spiel«, er kann es nimmer lassen. Eine neue + Theatergründung in Berlin wird zum Mittelpunkt für ein + fröhliches Ringen um die Palme des Bühnendichters, + Schauspielers, Regisseurs. In diesen Kampf verkettet + sich ein zweites »lockendes Spiel«, das Spiel und + Gegenspiel der Liebe bei zwei jungen Menschenpaaren. + + Preis 1 Mark + + + Verlag Ullstein & Co / Berlin-Wien + + + + + + + + Ullstein & Co + + [Illustration Verlagslogo] + + Berlin SW 68 + + + + + Anmerkungen zur Transkription + + + Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originaltextes wurden + übernommen, nur offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. + + Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt, fremdsprachliche Passagen, + die im Original in Antiqua gesetzt sind, sind _so_ gekennzeichnet, + für Abkürzungen, wie C. C. und Regentenzahlen wie XIV wurde dies + nicht gemacht. Text der im Original g e s p e r r t gesetzt ist, + ist hier =so= gekennzeichnet. + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Komödiantinnen, by Walter Bloem + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44647 *** diff --git a/44647-h/44647-h.htm b/44647-h/44647-h.htm new file mode 100644 index 0000000..003a3a5 --- /dev/null +++ b/44647-h/44647-h.htm @@ -0,0 +1,12204 @@ +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.0 Strict//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml1/DTD/xhtml1-strict.dtd"> +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml" xml:lang="de" lang="de"> + <head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html;charset=UTF-8" /> + <meta http-equiv="Content-Style-Type" content="text/css" /> + <title> + The Project Gutenberg eBook of Komödiantinnen, by Walter Bloem. + </title> + <link rel="coverpage" href="images/cover.jpg" /> + <style type="text/css"> + +body { + margin-left: 10%; + margin-right: 10%; +} + +h1,h2 { + text-align: center; /* all headings centered */ + clear: both; +} + +h1 { + margin-top : 6em; 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Teufel auch! das nenn' +ich dachsen! Und diese Pestbeule von einem Korpsdiener +hatte mich doch wecken wollen? Wieviel mag's denn sein? +Uhr steht natürlich — Skandal! schon wieder mal das Aufziehen +verbummelt! Und schon ganz hell! Jeden Augenblick +muß der Wagen kommen mit Pilgram, dem gestrengen +Senior, der so verdammt ungemütlich werden +kann ... und mit Durchlaucht, dem fürstlichen Konkneipanten +eines wohllöblichen C. C. der Franconia ... und dann +warten lassen?! Herrgottsakra — rin' in die Buchsen —!</p> + +<p>Durchs offene Fenster schwamm herbstlicher Frühnebel +in das schummrige Studentenbudchen. Matt flimmerten +an den Wänden die dreifarbenen Wappenschilde, die gekreuzten +Schläger, die langsam einstaubenden Mützen +und Bänder — weit matter noch vom Schreibtisch her die +Goldtitel des <i lang="la">corpus iuris</i>, der spärlichen Lehrbücher +der Rechtswissenschaft ... Und weiß blinkte nun der +gertengeschmeidige Körper des jungen Studenten: Hals +und Nacken wurden mit raschen, scharfen Güssen erfrischt, +und dann wusch der Jüngling sorgsam das dichte braune +Haar mit schäumendem Bay-Rum durch, um alle septischen +Stoffe zu entfernen und der Säuberungsarbeit des +Paukarztes vorzuarbeiten ... Denn heute bekam Hans +Thumser Prügel, das stand in den Sternen geschrieben. +Herr Borgmann, Neo-Borussiae gewesener Zweiter, +Erster <i lang="la">ad interim</i> war der S. C. Fechter ... gegen den +konnte der schlanke Fuchsmajor der Franken nicht an. Da +galt es nur, sich gegen die unvermeidliche Abfuhr zu wehren, +solange Faust und Klinge hielten ... Schade, daß es gerade +der Borgmann sein mußte, der einen unterkriegte — dieser +üble Geselle, den man nicht riechen konnte, mit seinem suffisanten +Gesicht, seinem fatzkigen Lächeln, den frostigen Froschaugen +— dem mal einen Streicher über die Ohrfeigenvisage +ziehen, von der Temporalis bis ins Kinn — aber nee, nich +dran zu denken, er konnte zu viel, der Affe, der miserablichte!</p> + +<p>So — die Toilette wäre beendigt! Noch einen Blick +in den Spiegel — ade, du große schmale Nase, vielleicht +auf Nimmerwiedersehen — na, und auf Stirn und Wange +ist ja auch noch eine ganze Menge Platz, zwischen den +alten Abfuhren aus Heidelberg und denen vom Sommer, +und nun statt der grünen Mütze für heute den weichen +Knockabout auf die Stirn gestülpt — denn in jener Stadt, +in der das Reichsgericht saß, die erleuchtete Körperschaft, +welche die Schlägermensur für einen Zweikampf mit tödlichen +Waffen im Sinne des Strafgesetzbuches erklärt +hatte — im guten biedern Leipzig waren Staatsanwaltschaft +und Polizei nach der Mahnung jenes schönen Würzburger +Studentenverses tätig:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Darum auf, ihr Wächter des Gesetzes,<br /></span> +<span class="i0">Hüter des Studentenpaukgehetzes —<br /></span> +<span class="i0">Lauscht überall<br /></span> +<span class="i0">Auf Waffenschall<br /></span> +<span class="i0">Und seid stets der Mensur<br /></span> +<span class="i0">Auf der Spur!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Auch das dreifarbene Band wanderte zusammengerollt +in die Tasche — erst draußen im braunen Herbstwalde +bei Knauthain würde es sich um die junge Brust schlingen +dürfen ... und nun hinaus ... das Frühstück mußte man +sich für heut verkneifen, denn Frau Marie Wehe, genannt +Mutter Ach, stand um fünf Uhr noch nicht auf aus ihrem +keuschen Witwenbette ...</p> + +<p>Als Hans Thumser im dunklen Korridor an der Tür +zu der Nachbarbude vorüberschritt — der Nachbarbude, +die dies Semester zu Mutter Achs bittrem Schmerz unvermietet +geblieben war — da stolperte er plötzlich über +etwas Zierliches, Weiches ... was Teufel — also doch +noch Nachbarschaft gekommen —?!</p> + +<p>Hans Thumser bückte sich und hob ein Etwas auf, das nur +... ein Lackschuh sein konnte ... und zwar ein winziger ... +mit knisternder Seidenschleife besetzter ... ein feiner, geheimnisvoll +irritierender Duft entstieg ihm ... Hans Thumser +trat mit seinem seltsamen Fund an die Mattscheibe der +Korridortür, die ein falbes Licht einfallen ließ, und betrachtete +mit der naiven Andacht seiner unverwöhnten zwanzig Jahre +das zierliche Wunder. Gott, welch eine Wirrnis von Träumen +stieg empor aus diesem schmalen Kahn der Sehnsucht ... +Mit einem tiefen Seufzer, von fröstelnden Schauern überrieselt +setzte der Jüngling seine Beute sacht und herzklopfend +wieder vor die Tür, die nun auf einmal ein Eden barg. +Ein weißes Viereck schimmerte matt vor dem des Dämmers +nun gewöhnten Blick, als der Student sich wieder zu +seiner ganzen Länge aufgerichtet ... in unzähmbarer +Neugierde tastete er nach seiner Zündholzschachtel und las +im zuckenden Flackerlichte die lithographischen Schriftzüge:</p> + +<p class="center"> +Asta Thöny<br /> +Herzoglich Meiningische Hofschauspielerin<br /> +</p> + +<p>Was ... war das?!</p> + +<p>Hans Thumser hatte auf eines jener Dämchen geraten, +die sich wohl bisweilen im <i lang="fr">Quartier latin</i> einnisteten, +um Jugendglut und Monatswechsel der akademischen +Bürger zu brandschatzen ... und nun —?!</p> + +<p>Eine Künstlerin ... ein Mitglied jener erlauchten +Komödiantengilde, deren Siegeszug dem staunenden +Deutschland, nein der Kulturwelt erst erschlossen die ganze +Herrlichkeit des klassischen deutschen, des klassischen germanischen +Dramas —?!</p> + +<p>Hans Thumser sah sich in der Heimatstadt, auf einem +Platze des zweiten Ranges, den er vom Taschengeld abgeknausert, +abgebettelt dem gütigen Vater, der so schlecht +nein sagen konnte — sah sich sitzen als ahnungsvollen +Primaner und lauschen — lauschen in Verzückung und +Tränen ... schauen voll seliger Gier und ungläubig-gläubigen +Ueberschwangs in eine Wunderwelt hinein, da +alle seine Träume die Erfüllung fanden ... und sah sich +am andern Tage auf der Schulbank, stumm und stumpf +bei jeder Frage der Lehrer, gleichgültig gegen ihren Zorn +und den Spott der Mitschüler, die nicht ahnen konnten, +was mit dem Primus vorgegangen ... was ihm die flinke +Zunge, das unfehlbare Gedächtnis lähmte ...</p> + +<p>Und nun —?! Eine Meiningerin — und seine Zimmernachbarin?</p> + +<p>Was konnte das bedeuten —?</p> + +<p>Etwa dies: daß die Meininger in Leipzig wären — +gastierten drüben im Carolatheater —?</p> + +<p>Und davon — davon hatte man nichts erfahren?</p> + +<p>Freilich — unmöglich wär's nicht — wie man so +dahinlebte, das Gladiatorendasein des aktiven Korpsstudenten ...</p> + +<p>Asta Thöny? Nein — den Namen Asta Thöny verzeichnete +seine Erinnerung nicht — das mußte wohl ein +neues Mitglied sein, schlank und ... duftig wie die +Schuhchen, von denen nun, im wachsenden Tageslicht, +ein paar Lichtpünktchen aufgleißten aus dem Dämmer +des Korridors ...</p> + +<p>Aber ein anderer Name stieg nun auf, ein weißleuchtendes +Mädchenbild tauchte glorienumstrahlt aus der +Tiefe seiner Visionen: Jucunda Buchner, die kaum +Sechzehnjährige, die Thekla der Meininger ...</p> + +<p>Sie sah er, im dritten Akt der »Piccolomini«, einsam im +finstern Schloßgemach, mit der Laute hineingeschmiegt in +einen faltenstarren rotsamtenen Vorhang, scharf abgehoben +die weiße Gestalt vom riesigen Fenster, durch +dessen hundert kreisrunde Scheiben die sternlose Nacht +hineinglotzte ... und wie ein Kind im Finstern singt, +die Herzensbangigkeit zu betäuben, so verloren, so verlassen, +so angstumschauert hatte das junge Weib seine +schmachtende Weise vor sich hingelallt:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">Der Eichwald brauset, die Wolken ziehn —<br /></span> +<span class="i0">Das Mägdlein wandelt an Ufers Grün —<br /></span> +<span class="i0">Das Auge von Weinen getrübet ...<br /></span> +</div><div class="stanza"> +<span class="i0">Du Heilige, rufe Dein Kind zurück —<br /></span> +<span class="i0">Ich habe genossen das irdische Glück —<br /></span> +<span class="i0">Ich habe gelebt und geliebet ...<br /></span> +</div></div> + +<p>O Erinnerung ... o Ahnung ... o Kunst, du mächtige +Weckerin, Vorschule des Lebens, Tummelplatz der +werdenden, in Werdeschauern erzitternden Seele —!</p> + +<p>Gelebt und geliebet ... und du, junges Studentlein im +finstern Korridor — aus dessen Dunkel die weißen Lichtpünktchen +glitzern von Asta Thönys Lackschuhchen — —?!</p> + +<p>Hans Thumser schrak zusammen. Ihm war's, als +hätte er aus weiter Ferne, ungeduldig, seinen Namen +rufen gehört ...</p> + +<p>Und richtig:</p> + +<p>»Thumser! Thumser! Zum Donnerwetter, wenn Du +jetzt nicht kommst, fahren wir ohne Dich!«</p> + +<p>Ach so ... ach ja ... die Stunde, die heischende ... +die Stunde des Burschenkampfes ...</p> + +<p>Hans Thumser fuhr auf, reckte sich — kein Abschiedsblick +mehr zurück zu den Lichtpünktchen drunten, dem +weißen Kärtchen an der Pforte des Geheimnisses — +fort — hinaus —!</p> + +<p>Er flog die krachenden Stiegen hinunter, der mächtige +Haustürschlüssel knarrte im Schloß — und draußen auf +der morgenstillen, morgenleeren Sophienstraße empfing +ihn ein Durcheinander von Begrüßung und Vorwurf —</p> + +<p>»Na, Du Schlafratze — endlich ausgepennt?« zürnte +der Senior vom Rücksitz aus. Und:</p> + +<p>»Hatten schon alle Hoffnung aufgegeben, Sie noch +unter den Lebenden begrüßen zu dürfen!« schnarrte der +Major von Gorczynski, dessen kantige Reiterfigur sich noch +immer nicht in das elegante Zivil des Prinzenbegleiters +eingewöhnen mochte.</p> + +<p>Erbprinz Heribert aber, der durchlauchtigste Konkneipant +der Franken, zog nur stumm und mit indignierter +Miene den steifen grauen Filzhut. Also man ließ warten! +na ja, an einer deutschen Hochschule funktioniert der Betrieb +nun einmal nicht wie am herzoglichen Hofe zu +Nassau-Dillingen ... man mußte Nachsicht üben ...</p> + +<p>Mit einem Ruck saß Hans Thumser neben seinem +Korpsbruder auf dem Rücksitz, dem Prinzen gegenüber, +der ihn durch sein Monokel mit kühl-durchdringendem +Blick niederzuschmettern suchte, was ihm freilich nicht +gelang.</p> + +<p>»Also wenn Durchlaucht gestatten, fahren wir ab!« +sagte Valentin Pilgram mit korrektem Gesicht. Er war +auch nicht sehr erbaut von der Ehre, einen prinzlichen Mitkneipanten +im Korps durch das Semester schleppen zu +müssen, zumal einen solchen faden Burschen, der nicht +warm wurde unter den Kommilitonen, deren Mütze er +wie zum Maskenscherz die wenigen Male aufsetzte, wenn +er gelangweilt und verständnislos an den offiziellen Veranstaltungen +des Korps teilnahm ... indessen das gehörte +nun einmal dazu ...</p> + +<p>»Also los, Kutscher und lassen Sie gefälligst die +Gäule loofen, sonst fällt der erschte Hieb, ehe wir draußen +sind!«</p> + +<p>»I herrjemerschnee, Herr Pilgram, das kann Sie ja +gar nich passier'n — de Allererschten wär'n mer sein am +Platze, da genn' Se sich drauf verlass'n!« ...</p> + +<p>Als der Wagen anzog, fiel der Blick der Abfahrenden +auf eine lange Kolonne riesiger Möbeltransportwagen — +drüben waren sie aufgefahren vor der nüchternen Häuserfront, +deren Erdgeschoß die Einfahrt zum Carolatheater +durchstieß. Das Theater selber lag verborgen und +schmucklos dahinter im Hofe. Um die Wagen aber +sammelte sich eine Rotte herkulischer Blusenmänner und +begann sie zu entladen. Was kam da alles zum Vorschein!</p> + +<p>Das erste, was das Auge der Wageninsassen entdeckte, +war der riesige Körper eines schwarzen Pferdes, in liegender +Stellung, in der Stellung des Todes ausgestopft ... +Unter derben Späßen hoben die untersetzten Arbeiter die +Bestie aus dem Finstern des Wagens und trugen sie in +die Dämmerung des Flurs. Und im schnellen Davonfliegen +des Wagens erfaßte der Blick der Enteilenden +noch ein Chaos von Gegenständen, die bereits ausgepackt +an den Hauswänden lehnten: ein ganzes Arsenal eiserner +Rüstungen, Schwerter, Hellebarden, Federhelme ... und +noch allerhand Dinge, seltsam durch ihre Lage und Zusammenstellung: +einen prunkvollen gotischen Altar, einen +mächtigen Eichbaumstumpf, dessen papierene Blätter im +Herbstmorgenhauche gespenstisch raschelten — und endlich +ein kolossales Renaissance-Büfett, das Hans Thumser auf +den ersten Blick wiedererkannte: es hatte im Bankettsaal +des Grafen Terzky gestanden, der Zecherrausch der +Friedländischen Generale hatte es umbrandet — damals, +im Barmer Stadttheater, als Hans Thumser in Fieberschauern +den »Wallenstein« erlebte ...</p> + +<p>»Die reine Trödelbude —« sagte Valentin Pilgram, +der Senior, und zog die Winkel des schmalen Mundes +verächtlich herab. »Ooch 'n Geschäft, sich Abend für Abend +die Visage zu beschmieren, sich vor so'ne Lappen hinzustellen +und mit Armen und Beinen zu fuchteln ...«</p> + +<p>Die blassen, matten Züge des Erbprinzen hatten sich +plötzlich belebt. »Sie vergessen, lieber Pilgram, daß +diese Fuchtelei mit Armen und Beinen doch manchmal +ganz niedlich anzusehen ist ... namentlich wenn diese +Arme und Beine — halten Sie sich mal die Ohren zu, +Herr Major! — na also, wenn sie schlank, jung und ... +<i lang="la">feminini generi</i> sind ...«</p> + +<p>»— <i lang="la">gener<em class="gesperrt-in">is</em></i>, Durchlaucht!« erlaubte sich der Erzieher +zu bemerken.</p> + +<p>»Echauffieren Sie sich nicht, lieber Major — als +Sprachlehrer sind Sie nicht engagiert — Sie haben nur +für meine Moral zu sorgen — wenn's auch schwer fällt ... +aber nun sagen Sie mal, Sie Alleswisser — was bedeutet +denn dieser Apparat da vor dem ollen muffigen Carolatheater?«</p> + +<p>»Die Meininger, Durchlaucht, beginnen in fünf Tagen +ein vierwöchiges Gastspiel in Leipzig,« sagte der Major.</p> + +<p>»Und das haben Sie mir bis jetzt unterschlagen, Sie +Cerberus?«</p> + +<p>»Ich habe nicht gewußt, daß Durchlaucht sich auch für +<em class="gesperrt">ernste</em> Kunst interessieren ...«</p> + +<p>»Ah bah — Theater ist Theater ... und wo kann der +Thronfolger eines — na sagen wir mal eines Staates +von mäßigem Umfang — wo kann ich mich besser auf +meinen künftigen Beruf vorbereiten als im Theater? +Mein Hoftheater, das ist doch der einzige Platz, wo ich +später ... gewissermaßen ... wirklich mal was zu sagen +haben werde ...«</p> + +<p>»Durchlaucht ... ich darf wohl bitten ...« warf der +Major ein.</p> + +<p>»Na, jedenfalls ist das meine Auffassung!« lachte der +Erbprinz, »— können Sie meinetwillen nach Dillingen +berichten! Und das bitte ich mir aus, Herr Major: bei +den Meiningern belegen Sie heut abend sofort die vorderste +Proszeniumloge! Ich sehe mir die ... Kunst ... +gern aus der nächsten Nähe an! Lieber Pilgram — zur +Eröffnungsvorstellung sind Sie mein Gast, nicht wahr?«</p> + +<p>»Sehr gütig, Durchlaucht ...« sagte Valentin Pilgram +und sann nach. »Das wäre, soviel ich weiß, am +nächsten Mittwoch ... da haben wir allerdings offizielle +Kneipe, und ich als Erster Chargierter dürfte eigentlich +nicht ... und dann ... habe ich auch nicht allzuviel fürs +Theater übrig ...«</p> + +<p>»Philister Sie! Na und Sie, Herr Thumser — wie +wär's mit Ihnen?«</p> + +<p>Hans Thumser wurde glühendrot ... halb in Glück, +halb in Befangenheit ... er hatte sich bereits schmerzlich +bewegt ausgerechnet, daß es gegen Ende des Monats +gehe, und sein Wechsel ihm einen Besuch der Meininger +wohl schwerlich vor dem ersten November gestatten +würde ... also das fiel ja geradezu vom Himmel ... +andererseits ... mit diesem blasierten, schwunglosen +Menschen zusammen — wie würde er's ertragen, in seine +Andacht hinein solche Reden vernehmen, gar ihnen ehrerbietig +lauschen zu müssen?</p> + +<p>Dennoch ... besser als gar nichts ...</p> + +<p>»Ich nehme mit Freuden an, Durchlaucht ...«</p> + +<p>»Also abgemacht! Was gibt's denn, Herr Major?«</p> + +<p>»Jungfrau von Orleans ...«</p> + +<p>»Ausgerechnet —!« schnarrte der Prinz — »Schiller —! +Gymnasium in Wiesbaden — verfluchten Angedenkens! +Schiller! Was ist Schiller? Eine Serie von Aufsatzthemen +—!!«</p> + +<p>»Stimmt!« rief Pilgram. »Keine zehn Pferde ziehen +mich ins Theater, wenn Schiller gespielt wird! 'Die +tragische Schuld der Maria Stuart' — 'Wallenstein, ein +tragischer Charakter' — 'Die poetische Gerechtigkeit in +der Braut von Messina' — pfui Deuwel! um junge Hunde +zu kriegen —!«</p> + +<p>Wie bin ich unter diese Menschen geraten? dachte +Hans Thumser. Warum trage ich die gleiche Mütze und +die gleichen Farben wie sie? Kein Takt des Herzschlags, +kein Gefühl, kein Wort ist mir mit ihnen gemeinsam ...</p> + +<p>Und derweil rollte der Wagen seitwärts durch die +nüchternen, morgenleeren, hallenden Straßen der Südstadt, +dem fernen Kampfplatz entgegen, wo Hans wieder +einmal seine Zusammengehörigkeit mit seinen Korpsbrüdern, +seine Zugehörigkeit zum Frankenbunde mit +seinem Herzblut besiegeln sollte ...</p> + +<p>»Vergessen Sie nicht, Durchlaucht, daß Jucunda +Buchner die Jungfrau spielt ...«</p> + +<p>»Jucunda Buchner? Ist — wer?«</p> + +<p>»Nun, der jugendliche Stern der Meininger — einfach +Sehenswürdigkeit — gewissermaßen das deutsche Mädchen +in Reinkultur —«</p> + +<p>»Schön — also abgemacht!« sagte der Erbprinz. »Aber +halten Sie mich fest, lieber Major, sonst mach' ich Dummheiten...«</p> + +<p>»Buchner?« sagte der Senior, »hm — da fällt mir +was ein. Mein Hauswirt, der Kanzleirat Buchner, der +hat ja, soviel ich weiß, irgendwo 'ne Tochter beim Theater +... das wäre doch ulkig ... soviel ich weiß, wurde ihre +Ankunft erwartet ... und ich mein' auch, daß sie in Leipzig +spielen sollte, hätte die Alte erzählt — ich hab' aber nicht +recht hingehört — was geht mich das Theater an ...«</p> + +<p>»Herrgott, Mensch — das Theater!« platzte Thumser +heraus. — »Hier handelt sich's doch um die Meininger! +Hast Du davon überhaupt eine Ahnung, was dieses — +dieses Theater bedeutet? Die Entdeckung der Klassiker, +ihre Eroberung für die Bühne unserer Zeit, die Entbindung +all der tausend köstlichen Sinnlichkeiten, die im +Drama unserer Großen schlummern — bist Du denn solch +ein Barbar, solch ein Banause, daß Du von all dem nichts +weißt — daß all das für Dich nicht existiert?«</p> + +<p>»Na, entschuldige schon, daß ich existiere!« schnarrte +der Erste. »Ne wirklich, teures Thumserherz, das alles +ist mir schnuppe, schnupper, am schnuppesten! Ich halt's +mit meinem Vater, der nie in seinem Leben ins Theater +gegangen ist und doch Senatspräsident am Oberlandesgericht +in Dresden geworden ist, und jedenfalls noch ein +Endchen weiter kommen wird im Leben, eh er Schluß +macht! Kunst ist Spielzeug für charakterlose Müßiggänger +— unsere Zeit aber braucht Arbeiter, Charaktere +— Männer, verstehste?!«</p> + +<p>»Bumm, bumm, bumm! Tusch!« sagte der Prinz. +»Sie sind zum Landtagsabgeordneten qualifiziert, lieber +Pilgram ...«</p> + +<p>»Verzeihung, Durchlaucht, es muß auch — Landtagsabgeordnete +geben! Ne, lieber Thumser, lauf Du nur +immer ins Theater und laß Dir — wie hast Du so schön +gesagt? — laß Dir Deine tausend köstlichen Sinnlichkeiten +entbinden — mein Bedarf ist mit Fechtboden, Kneipe und +Windscheids Drogenweltkolleg vollkommen gedeckt!«</p> + +<p>»Und so was hat nun das Glück, mit Jucunda Buchner +unter einem Dache zu wohnen ...« seufzte Erbprinz +Heribert.</p> + +<p>»Das weiß ich noch nicht, das ist nur eine Vermutung +von mir, Durchlaucht ... Uebrigens ist die Sache wirklich +ohne Interesse für mich. Mit einer Komödiantin möcht' +ich noch nicht mal eine Poussage haben ... man kann ja +doch nie wissen, ob sie einem nicht was vormimt und +einen innerlich auslacht ...«</p> + +<p>»Na, teurer Pilgram, nu sei'n Se aber friedlich!« +schmunzelte der Erbprinz. »Davon versteh'n Sie nu +wirklich nischt — det haben Sie noch nich gehabt!«</p> + +<p>»Sie doch auch nicht, wie ich hoffe, Durchlaucht!« sagte +der Major und blinzelte seinem jungen Herrn unter +grimmig zusammengezogenen Brauen verschmitzt zu. Und +Erzieher und Zögling wechselten ein Augurnlächeln ...</p> + +<p>Der Wagen rollte. Niederer wurden die Häuser, die +beiderseits die Connewitzer Landstraße umsäumten. Und +bald wurde die Bebauung offener, ländlicher. Dann bog +die Fahrt nach rechts, und in die braunen Schattenhaine +des Streitholzes ging's hinein, die Pleiße wurde überschritten +auf knarrender Holzbrücke, unter der sich die +gelben Fluten träge hinwälzten, noch angeschwollen von +den ersten Herbstregen, welche die vergangene Woche +gebracht. Aber heut rang sich aus Nebelbrodem die verschlafene +Morgensonne mühsam durch, umgoldete das +rötliche Buchenlaub zu Häupten der Dahinrollenden, +verhieß einen lustig blanken Fechtertag, den letzten unter +freiem Himmel für dies Jahr: der nächste würde schon +im benachbarten Halle, richtiger im Vorort Cröllwitz, +steigen müssen, an der murmelnden Saale, gegenüber +den reckenhaften Trümmern des Giebichenstein.</p> + +<p>Allmählich wandte sich das Gespräch von dem strittigen +Thema des Theaters zum minder kontroversenreichen des +nahen Bestimmtages hinüber. Daß der Fuchsmajor der +Franken heute seine todsichern Senge bekommen würde, +galt als ausgemachte Sache, über die niemand Worte zu +verlieren brauchte. Es fragte sich bloß, ob Hans Thumser +auf seine notorische vielgeprüfte Quartblöße oder auf +Borgmanns allgefürchteten Durchzieher abgestochen werden +würde — von dem Valentin Pilgrim, der Senior, im Gesicht +bereits ein stattliches Exemplar trug, welches Ohrläppchen +und Mundwinkel mit einem linealgraden breiten +Strich verband ...</p> + +<p>Aber während man also über Hans Thumsers nächste +Zukunft verhandelte, das Schicksal seiner linken Gesichtshälfte +sachverständig abtaxierte — — war Hans Thumsers +Inneres auf geheimnisvolle Weise in Gleichgültigkeit und +Fernsein untergetaucht.</p> + +<p>Jungfrau von Orleans ... sang es in seinem Herzen +... Jucunda Buchner ... das war wie eine leuchtende, +gnadenvolle Nähe, wie ein offener Himmel, aus dem eine +lichte Madonna sich neigt, gegenwärtig und doch unnahbar, +bekannt und doch undurchdringlich ...</p> + +<p>Und zwischen die Choralmelodien, die Harfenarpeggien, +welche das Heiligenbild umschauerten, kicherte und +schwirrte es hinein wie Flötentriller, wie kecke Geigenpizzicati:</p> + +<p>Asta Thöny ... Asta Thöny ...</p> + +<p>Und ein paar neckische, blinkende Lackschuhchen tanzten +auf und nieder, aus denen zwei schlanke, seidenbestrumpfte +Knöchel guckten — was darüber war, verschwand in rosigen +Schleiern, aus denen es lachte und girrte wie Taubengurren:</p> + +<p>Asta Thöny ... Asta Thöny ...</p> + +<p>Ernsthaft und aufrecht saß Valentin Pilgram, der gestrenge +Senior des Korps Franconia. Als läge die Regierungslast +eines Millionenstaates auf seinen Schultern, +so pflichtdurchdrungen, so würdeumbauscht saß er und +übersann das Programm des Tages ... Ob Heinz Hartwig, +das muntre, taprige, ewig korkende Füchslein, wohl +heute endlich eine einwandfreie Mensur liefern würde +und daraufhin ins engere Korps rezipiert werden könnte? +Und Ivo Volkner, der leichtblütige Rheinländer aus Düsseldorf, +dessen letzte Mensur auch keineswegs tadelsfrei gewesen +war — ob er wohl sein unstätes Musikantentemperament +heute so weit im Zaume halten würde, um +sich herausreißen zu können?</p> + +<p>Und was sollte der C. C. auf den merkwürdig +schnoddrigen Brief unseres lieben Kartellkorps Pomerania +zu Göttingen antworten? Ob es nicht doch besser war, +das alte Kartellverhältnis zu lösen und ein frisch-fröhliches +P. P. zu fechten?! Aber was würden die gemeinsamen +Alten Herren sagen?</p> + +<p>Und ob man den Rektor zur C. C.-Antrittskneipe einladen +mußte — anläßlich der hohen Ehre, daß ein richtiggehender +Prinz und Thronfolger zu den Konkneipanten +des Korps zählte?</p> + +<p>Ja, man hatte schon seine Sorgen ... Der Reichskanzler +war am Ende auch nicht viel schlimmer dran als +der Erste Franconiae-Leipzig ...</p> + +<p>Der Erbprinz aber träumte von einer fernen Zukunft +... noch war der alte Herr ja ... hm, hm! — erheblich +rüstig ... und seine Altersgenossen, die Leutnants des +Sophien-Regiments, hatten ihm gelegentlich in später +Stunde, wenn der Sekt die Zungen gelöst, das Gefühl der +Distanz ein wenig gemildert hatte — na ja, dann hatten +sie ihm gelegentlich etwas gesteckt von all dem Gemunkel, +das in der Residenzstadt umlief über die zarten Beziehungen +des hohen Herrn zu der weiblichen Elite des +Hoftheaters ...</p> + +<p>Er, Heribert Hans Herwig, würde sich das erlauchte +Vorbild seines gnädigsten Vaters zum Muster nehmen, +wenn er einmal als Heribert XIV. das Thrönchen seiner +Väter bestiegen haben würde.</p> + +<p>Inzwischen hielt man sich studienhalber in Leipzig auf und +würde auch da auf seine Rechnung zu kommen wissen ...</p> + +<p>Jucunda Buchner ... das klang recht verheißungsvoll +... und Jungfrau von Orleans ... Himmel, es gibt +allerhand Arten von Jungfrauen ...</p> + +<p>Nun war man »draußen«. Mitten im tiefschattigen +Buchenwald ein wuchtender Eichbaum, sonst von tiefem +Dämmerfrieden umwirkt, heut umbraust von einem +bunten, farbentollen Leben. Die wilden Völkerschaften, +die inmitten moderner Gesittung ein mittelalterliches +Reckendasein führten bei Waffenklirren, rauhem Sang +und schäumenden Kannen, die Franken und die Neo-Borussen, +die Westfalen und Meißner und Thüringer, +hier hatten sie sich Stelldichein gegeben zur allwöchentlichen +feierlichen Rauferei. Und diesmal, als am ersten +Bestimmtage des Semesters, war alles in besonders gehobener +Stimmung. Die alten Bekannten in den verschiedenen +Korps begrüßten sich hinüber und herüber, mit +besonderer Herzlichkeit jene, die bereits einmal oder gar +mehrmals die Klinge gekreuzt hatten — wesentlich +zeremonieller schon jene, denen heute der blutige Gang +bevorstand. Alles war in Wagen gekommen, die nun +als langer Park auf der Chaussee aufgefahren waren, +stets bereit, mit den Paukanten in Windesschnelle davonzusausen, +wenn die weithin aufgestellten Schnarrposten +die Annäherung von Pickelhauben und grünen Waffenröcken +melden sollten. Alles war im »Bummel« gekommen, +das heißt im Hut, die Couleur in der Tasche; +nun wurden schleunigst Mützen und Bänder angelegt: +gar lustig flimmerten auf dem bunten Tuch, der dreifarben-gestreiften +Seide, die Sonnentupfen, die durchs braune +Laubdach sich niederringelten. Und bald stand das erste +Paar bereit: Pilgram, Franconiae Erster, gegen den +stämmigen Zweitchargierten der Meißner.</p> + +<p>Und nun — heiho! Gellende Kommandorufe hinein +in die lauschende Stille, widerhallend an den schlanken, +weißleuchtenden Buchenstämmen ... und nun: klirr, klirr +der helle Klang, wenn Eisen scharf auf Eisen traf, im +Wechsel mit dem dumpfen Knall der flachen Hiebe, die +über Stulp und Schädel krachten — heiho! uralte Reckenlust +am tollen Raufen, am harten Widereinander der +jugendlichen Kräfte ...</p> + +<p>Jähes Halt der Sekundanten, Pause, Blut rinnend +hüben über die schmalen, herrischen Züge des Frankenseniors, +drüben über die feisten Speckbacken des +Fechtchargierten der Meißner ... und wiederum Kommandos, +hageldichte Hiebe, Stahl auf Stahl ...</p> + +<p>Und dann war's plötzlich aus: der Meißner hatte seine +Abfuhr weg, eine lange Quart, fast unpariert, überm +linken Ohr. Und in die blutbeschmierte Bandage mußte +nun Hans Thumser hinein.</p> + +<p>Schon stand er dem verhaßten Borgmann gegenüber, +schon faßten die Gegner einander fest ins Auge, schon +flogen die Klingen in die Auslage, kauerten die Sekundanten +wie sprungbereite Katzen zu ihrer Kämpfer Seiten +— da entstand eine Bewegung unter der lauschenden +Korona. Auf dem weichen Waldboden scholl ein dumpfes +Klackern wie von Huftritten, und auf dem schmalen Pfade, +der am Wiesensaum entlang sich zog, flitzten zwei Reiter +heran — aber nicht die Grünröcke der Gendarmen — +Zivilisten waren's, ein Herr und eine Dame. Hans +Thumser sah, wie alle Köpfe sich wandten — doch ihm +blieb nicht Zeit — nur einen grauen Schleier sah er wehen +von einem hohen, schwarzglänzenden Seidenhut; sah etwas +Lichtes, Klares darunter, hell abgehoben vom dämmernden +Waldgrund — und dann —</p> + +<p>»Auf die Mensur — bindet die Klingen!«</p> + +<p>»Gebunden sind —!«</p> + +<p>»Los!«</p> + +<p>Und nun alles Leben in Aug und Handgelenk hinein +sich krampfend — und ein Wille nur — sich wehren — +und treffen! treffen —!!</p> + +<p>»Halt!«</p> + +<p>»Halt —!!«</p> + +<p>Und auch hier schon nach dem ersten Gange helle rote +Bäche rinnend über weiße Stirnen, zernarbte Wangen ...</p> + +<p>Und während der Paukarzt mit dem Wattebausch in +Hansens klaffende Stirnwunde tupft, vernimmt des +Fechters Ohr ganz deutlich aus der Mitte der Umstehenden +die Worte:</p> + +<p>»Das ist die Buchner!«</p> + +<p>Und eine andere Stimme fragt:</p> + +<p>»Und der Herr — wer ist das?«</p> + +<p>»Das ist Franz Burg — der Heldenspieler ...«</p> + +<p>Inzwischen hat der Paukarzt seine Untersuchung beendigt; +er lächelt:</p> + +<p>»Weiter!«</p> + +<p>»Herr Unparteiischer — von unserer Seite kann's +weitergehen ...«</p> + +<p>Aber drüben bei den Neo-Borussen scheint man noch +nicht so recht im Klaren ... na, wenn Hans Thumser auch +schließlich wird dran glauben müssen: auch Herr Borgmann +hat sein Teil bekommen, scheint's!</p> + +<p>Er lugt umher: dort halten sie, die Reiter, unterm +Eichbaum und spähen neugierig hinüber ... Ja, das glaub' +ich, ihr Komödianten — so etwas bekommt ihr nicht alle +Tage zu sehen — hier schwingt man die Waffe nicht nur +zum Spiel — und was hier Stirn und Wange färbt, ist +wirkliches Blut, nicht Schminke ...</p> + +<p>Und dies schmale, feine junge Gesichtchen — das ist ... +Thekla — das ist Johanna von Arc?!</p> + +<p>Nun werden auch die Neo-Borussen wieder munter:</p> + +<p>»Herr Unparteiischer, von unserer Seite kann's weitergehen!«</p> + +<p>»<i lang="la">Silentium</i> — Pause <i lang="la">ex</i>!«</p> + +<p>»Auf die Mensur — bindet die Klingen!«</p> + +<p>Jucunda! betet irgend etwas in Hans Thumsers Seele. +Er fühlt, wie alle Sehnen sich straffen.</p> + +<p>»Gebunden sind!«</p> + +<p>»Los!«</p> + +<p>Und zweimal, dreimal schmettert Hieb auf Hieb — und:</p> + +<p>»Halt!«</p> + +<p>»Halt!«</p> + +<p>»Herr Unparteiischer, bitte drüben nachzusehen und +einen Blutigen zu konstatieren!« ruft Valentin Pilgram, +Hansens Sekundant, wilden Triumph in der Stimme — +sich aufrichtend, zischt er seinem Paukanten ins Ohr:</p> + +<p>»Du — das ist Rest!!«</p> + +<p>»Rest? Bei wem? Bei mir?« fragt Hans Thumser +ganz verdutzt.</p> + +<p>»Ne — da drüben — bei Borgmann! Teufel auch, +Thumser — der Durchzieher — so was darfste öfters +schlagen!«</p> + +<p>Was? Er — Hans Thumser — er hätte den S. C. +Fechter — —? Donnerwetter!</p> + +<p>An des Gegners Stirn klaffte ein breiter roter Spalt, +aus dem zwei feine warme Strahlen spritzten —</p> + +<p>»'raus!« sagt drüben der Paukarzt.</p> + +<p>»Herr Unparteiischer, wir erklären die Abfuhr!«</p> + +<p>Borgmann stampfte vor Wut mit dem Fuß, als der +Paukarzt von hinten mit kräftigem Griff seine Stirn zusammenpreßte +und ihn herumdrehte. Was half's?</p> + +<p>»<i lang="la">Silentium</i> — Neo-Borussia erklärt Abfuhr nach +anderthalb Minuten!«</p> + +<p>Als Hans Thumser sich aus dem Schwall der Glückwünsche +seiner Korpsbrüder losmachte und Ausschau +hielt — war das Reiterpaar verschwunden.</p> + +<p>»Gratuliere!« sagte Erbprinz Heribert. »Fabelhaft, +lieber Thumser, meine vollste Bewunderung! Haben Sie +übrigens die Buchner gesehen?! Vollkommen tadelloses +Mädchen ...«</p> + +</div> +<div> +<h2>2.</h2> + +<p class="start-chapW">Wenn Hans Thumser auf ein Glück wartete, so machte +die Ungeduld ihn krank, verdarb ihm jede Minute mit +zehrender Sehnsucht. So war es schon immer gewesen, +solange er sich seiner erinnern konnte. Die letzten Wochen +vor dem Weihnachtsfest, vor dem Beginn der Sommerfrische +waren ihm stets eine endlose Tortur gewesen ... +Und als er später begonnen hatte zu empfinden, daß nur +die Stunden wahrhaft lebenswert seien, in denen er mit +einem gewissen braunbezopften Menschenkind unter einem +Dache weilen durfte ... da war alles, was zwischen diesen +Stunden lag, nur wie ein unermeßlich langer, böser, +dumpfer Traum und Alpdruck gewesen ...</p> + +<p>Und so bedrückend, so angstumschnürt wälzten sich auch +die Tage dahin, die Hansens Mensurtriumph noch von der +Eröffnungsvorstellung des Meininger Gastspiels schieden. +Er saß inmitten seiner Korpsbrüder, schwatzte und trank +mit ihnen wie immer, ließ ihre Lobesbezeigungen mit der +gleichen Gelassenheit über sich ergehen wie den boshaften +Spott der Neider, es sei nur ein »Schweinedusel« gewesen, +daß er den S. C. Fechter hinabgetan habe ... Er ließ +auf offizieller Kneipe seine Füchse in die Kanne steigen, +daß sie quietschten, und schrieb morgens bei Windscheid +und Binding im Kolleg mit einem ganz ungewohnten, +krampfhaften Eifer nach, als steure er auf ein Prädikatexamen +los — — und all dies Tun blieb seiner Seele so +fern, so fern ...</p> + +<p>Manchmal fragte er sich, ob er wohl bei ganz gesundem +Verstande sei — ob es nicht eine fixe Idee, ein krampfhaftes +Wahngebilde sei, das ihn so grenzenlos hungern +ließ nach — nach einem Nichts, einem Spiel, dem flüchtigen +Schattenbilde eines Dichtertraums ... Und dann +wieder genoß er mit einer phantastischen Seligkeit sein +Wesen, das ihn vom wachen Leben hinweg so unwiderstehlich +in luftige Spukwelten drängte ...</p> + +<p>Nur die Stunden zählten wenigstens halb, die er am +Fenster seiner Bude verbrachte, hinüberstarrend zur nüchternen +Front jener Gebäude an der langweiligen Sophienstraße, +hinter denen der kahle Bau des Carolatheaters +sich barg. Dort war um die Vormittagsstunden ein lebhaftes +Kommen und Gehen. Früh um neun begannen +die Proben, natürlich nur für die neuangeworbene Statisterie, +denn für die Solo-Rollen »standen« selbstverständlich +alle Stücke des Repertoires. Aber die stattliche Schar +des »Volkes«, die in jeder Stadt aufs neue zusammengebracht +und gedrillt werden mußte, die wimmelte heran, +füllte die sonst stille Straße mit Lachen und Geschwätz ... +braunäugige Töchter kleiner Bürgersleute, stellungslose +Ladenfräulein und Kommis, Stadtreisende und Konservatoristen +— vor allem aber Studenten, Studenten von +jener Sorte, die der Waffenstudent eigentlich nicht mitrechnete, +und die trotzdem die weitaus überwiegende Mehrzahl +der akademischen Bürgerschaft bildete: die »Finken«, +auch »Bummler« genannt, obwohl sie natürlich weit +weniger bummelten als die jungen Herren in Mützen und +Bändern ... gar zu gerne hätte Hans Thumser sich mit +ins Gewühl der Statisten gemengt, um als »Volk« oder +»Friedländischer Soldat« oder als römischer Quirite sich an +den großen, festlichen Unternehmungen zu beteiligen, die +da drüben vorbereitet wurden ... Und eines Tages hatte +er sich's getraut, vor den Ersten hinzutreten mit der Bitte:</p> + +<p>»Sag' mal, Pilgram, wie ich höre, wirken eine ganze +Menge Studenten in den Vorstellungen der Meininger +als Statisten mit — hättest Du was dagegen, wenn ich da +ebenfalls mittäte?«</p> + +<p>Der Erste sah den Fuchsmajor mit einem Blick an, als +bäte dieser um Erlaubnis, silberne Löffel zu stehlen.</p> + +<p>»Hör mal, Du, Dein Kopfschmiß von Sonnabend eitert +wohl nach innen, he?!«</p> + +<p>Also damit war es nichts ... und so mußte man sich +denn begnügen, von weitem zuzuschauen, wie die glücklicheren +Kommilitonen, frei des korpsstudentischen +Zwanges, nach Schluß der Probe froh erregt, mit glühenden +Köpfen, lebhaft diskutierend dem Eingangstor des +Theaters entströmten, um die namenlosen Kneipen aufzusuchen, +in denen sie nach eigener Wahl und entsprechend +der Rücksicht auf die Dimensionen ihres Monatswechsels +verkehrten. Und inmitten dieser Beneidenswerten kamen +auch die Helden und Heldinnen aus der Probe — natürlich +mußten ja auch sie wenigstens die Massenszenen immer +wieder aufs neue mit probieren ...</p> + +<p>Und noch ein andres heimliches Fest blühte für Hans +Thumser innerhalb seiner bescheidenen vier Wände, die +glücklicherweise so dünn waren, daß sie manch ein Geräusch +durchließen von jener geheimnisvoll lockenden Welt, die +hinter ihnen sich barg: das Klappern zierlicher Pantöffelchen, +das Rascheln seidener Röcke, keckes Mädchenlachen +und halblautes Geschwätz, wenn Kolleginnen drüben +zum Besuch kamen ... Aber noch immer war's ihm nicht +geglückt, seine Nachbarin von Angesicht zu Angesicht zu +sehen.</p> + +<p>Inzwischen baute Hans in seinem Herzen ein seltsam +Kirchlein auf: droben war ein feierliches gotisches Heiligtum, +in dem Jucunda Buchners weiße Gestalt auf ernstem +Altare stand, von Weihrauch und Kerzengeflacker umspielt +... darunter aber, tief unter der Erde, barg sich +eine dämmrige romanische Krypta, in der tolle Orgien +verbotener, heidnischer Kulte nächtens gefeiert wurden +vor einem üppig lächelnden Götzenbild — seine Züge +waren nicht genau erkennbar — verschwammen im hüpfenden +Fackellicht, das durch den Raum dunstete ...</p> + +<p>Aber Hänschen Thumser war nicht der Mann des +tatenlosen Zuwartens. Es mußte etwas geschehen, die +dumpfe Qual dieser sehnsüchtigen Tage zu verkürzen. +Aber was? Immer wieder mündeten seine Pläne in die +Erkenntnis, daß man einem jungen verwöhnten Mädchen +— und eine Schauspielerin konnte man sich ja doch nicht +anders vorstellen als jung und verwöhnt, nicht wahr? — +daß man solch einem Liebling der Götter und Menschen +nur nahen könne mit gebenden Händen ... und seine +Hände waren leer ... der Monatswechsel heidt — knapp +noch das Nötigste für die letzten Tage vorhanden ...</p> + +<p>Auf einmal — welch glorreicher Gedanke! Hänschen +Thumser konnte ja etwas, das am Ende doch nur die +wenigsten unter Asta Thönys Verehrern — gewiß hatte +sie unzählige — reiche Bankiersöhne und Gardeleutnants +und — na und solche Leute mit unerschöpflichen Portemonnaies +— aber gewiß konnten solche Leute meistens +eines nicht, oder wenigstens nicht so gut wie Hänschen +Thumser — nämlich <em class="gesperrt">dichten</em>!</p> + +<p>Juchhe! Hänschen hat kein Geld, um kunstvolle +Blumenarrangements zu kaufen — aber wunderschöne +Verse kann er machen! — Also los! ein Blatt aus dem +Kollegheft gerissen und gereimt auf Deuwel komm heraus!</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Ich bin ein junger Korpsstudent,<br /></span> +<span class="i0">Die Schuhe Lack, der Rock patent —<br /></span> +<span class="i0">Korrekt und schick an mir ist alles —«<br /></span> +</div></div> + +<p>lauter unbestreitbare Wahrheiten! aber nun kommt der +Haken.</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»— im Portemonnaie nur haust der Dalles —«<br /></span> +</div></div> + +<p>So — immer frisch heraus mit dem sauren Bekenntnis, +dann weiß Asta auch gleich, wie sie mit mir dran ist — +was sie von mir zu erwarten hat — und was nicht ...</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Doch da das Schicksal über Nacht<br /></span> +<span class="i0">Zu Budennachbarn uns gemacht —«<br /></span> +</div></div> + +<p>(Ach du liebes, gnädiges Schicksal du!)</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»— müßt' ich Dich eigentlich begrüßen,<br /></span> +<span class="i0">Und Rosen legen Dir zu Füßen —<br /></span> +<span class="i0">Wie gerne würd' ich mich erdreisten —<br /></span> +<span class="i0">Doch leider —«<br /></span> +</div></div> + +<p>Alle Wetter: das wird ja ein prachtvoller Reim:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i10">»— kann ich mir's nicht leisten ...«<br /></span> +</div></div> + +<p>Nun ein zweites offenes Bekenntnis:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Noch kenn' ich Dich, Du Schelmin, nicht,<br /></span> +<span class="i0">Sah nicht einmal Dein Angesicht —<br /></span> +<span class="i0">Nur —«<br /></span> +</div></div> + +<p>Gott, bleiben wir doch schon bei der Wahrheit:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i6">»— hab' ich morgens früh gesehn<br /></span> +<span class="i0">Vor Deiner Tür zwei Schuhchen stehn —<br /></span> +<span class="i0">So winzig, duftig, elegant —«<br /></span> +</div></div> + +<p>Hans! du imponierst mir! So viel edle Dreistigkeit hätt' +ich dir gar nicht zugetraut — aber freilich: auf dem Papier, +und mit einer schützenden Scheidewand dazwischen — — +Aug' in Auge würde das Debüt wohl etwas kümmerlicher +ausfallen, wie? — Aber weiter, weiter — einen Reim +auf »elegant« — pah, Spielerei!</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»— daß gleich mein Herz in Flammen stand —«<br /></span> +</div></div> + +<p>— nein, das ist doch zu billig, zu abgeschabt:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Da gab es Funken — Flammen — Brand!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Ja, es ist eine alte Sache: Verse werden immer am +besten, wenn man ganz geradezu ausspricht, was wirklich +passiert ist:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Und seitdem träum' ich wahnbetört,<br /></span> +<span class="i0">Von dem, was da hineingehört —«<br /></span> +</div></div> + +<p>Ist das nicht ... doch ... gar zu unverschämt?! Ach +was, mehr wie hauen kann sie schließlich nicht!</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Willst Du mir's auf den Nacken setzen,<br /></span> +<span class="i0">Mir wär's ein sklavisches Ergetzen —«<br /></span> +</div></div> + +<p>— ne, das ist ein falscher Ton — von der Sorte sind +wir doch nicht! —</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Ach, dürft' ich's einmal — einmal küssen —<br /></span> +<span class="i0">Wirst mir's schon noch — erlauben müssen —<br /></span> +<span class="i0">O welche süße Phantasie —<br /></span> +<span class="i0">Und ach — probiert hab ich's noch nie — —«<br /></span> +</div></div> + +<p>Hans überlas das Geschriebene. Himmel, ist das +schnurrig, wenn's auf einmal so in einem zu dichten anfängt! +Ein ganz andrer Mensch kommt da plötzlich zum +Vorschein als der, den man so im Leben darstellt ...</p> + +<p>Hatte er das wirklich geschrieben, er, der wohlerzogene +Beamtensohn, der geschniegelte, korrekte Korpsstudent, +der künftige Richter des Volkes?!</p> + +<p>Ach, und es gefiel ihm so gut — daß er's ganz hastig +und mit fliegenden Fingern ins Reine schrieb und kuvertierte +... dann stülpte er die grüne Mütze auf, lauschte, ob +seine Nachbarin daheim sei ... und da er keinerlei Geräusch +hörte, klinkte er im Vorbeigehen sachte die Tür zum +Nebenstübchen auf und sah —</p> + +<p>Sah durch den Spalt eine zierliche Mädchengestalt in +weißem Unterrock und weißem Frisiermantel schlafend +aufs Sofa hingestreckt ... ein schwarzes Wuschelköpfchen ... +und über den Rand des Sofas guckten ein paar schwarzbestrumpfte +Füße, an denen zierliche rote Halbpantöffelchen +baumelten ...</p> + +<p>Und schon hatte er mit einem Ruck den Briefumschlag +mit seinen unverschämten Versen mitten in die Stube geschleudert, +die Tür mit hartem Knall zugeklinkt — und flog +nun die Stufen hinunter — die grüne Mütze war ihm in +den Nacken gerutscht, seine Wangen brannten, und draußen +zog er mit seinem spanischen Rohr einen Durchzieher durch +die Luft, daß es nur so pfiff.</p> + +<p class="start-chapW space-above">Wie in Hans Thumsers unoffiziellem Herzen, so war +auch in Valentin Pilgrams korrekter Chargiertenseele +Revolution ausgebrochen, und auch die um einer Zimmernachbarschaft +willen. Aber diese Revolution war doch von +einer ganz anderen Sorte und gipfelte in der Erklärung, +die der Senior in energischem Tone an die Frau Kanzleirat +Buchner abgab: er kündige hiermit seine Bude und +werde sofort ein andres Quartier suchen, wenn man den +ruhestörenden Lärm und groben Unfug da nebenan nicht +abzustellen die Mittel finden würde ...</p> + +<p>Und das war so gekommen:</p> + +<p>Valentin Pilgram stand im sechsten Semester. Er war +bereits zwei Semester in Berlin inaktiv gewesen und nur +nach Leipzig zurückgekehrt, weil er als Königlich sächsischer +Untertan sein Referendarexamen in Sachsen ablegen +mußte. Er war auf dringendes Bitten des C. C. zu Anfang +des Semesters noch einmal wieder aktiv geworden +und hatte die erste Charge interimistisch übernommen, weil +kein anderer geeigneter Korpsbursch für diesen Posten da +war, und der Vertreter des Marburger Kartellkorps, der +die erste Charge später definitiv bekommen sollte, doch erst +einmal in Leipzig und im Korps warm werden mußte. +Interimistisch bekleidete dieser junge Herr die zweite +Charge. Und so teilte Pilgram mit seiner ganzen feierlichen +Gewissenhaftigkeit seine Zeit zwischen dem Korps +und der Vorbereitung fürs Examen. Und in der letzteren +war er nun plötzlich und gründlich unterbrochen worden +durch ein grollendes Getöse, das aus der Nachbarkammer +in seinen Studienfrieden hinüberklang, aus der Nachbarkammer, +in der, wie er gelegentlich mit halbem Ohr vernommen +hatte, die Tochter seiner Hauswirte, die herzoglich +meiningische Hofschauspielerin Jucunda Buchner, für die +Dauer des Gastspiels ihres Ensemble einquartiert worden +war. Mitten in die Lektüre der Windscheidschen Drogenweltweisheit +war da plötzlich eine sonore Altstimme +hineingeklungen, zunächst in sachtem, murmelndem Repetieren, +dann aber in selbstvergessen wildem Ausbruch:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Und <em class="gesperrt">einer</em> Freude Hochgefühl entbrennet,<br /></span> +<span class="i0">Und <em class="gesperrt">ein</em> Gedanke schlägt in jeder Brust —«<br /></span> +</div></div> + +<p>Da war der reckenhafte <i lang="la">candidatus iuris</i> mit einem +Wutknurren aufgefahren ... aber umsonst: die sonore +Stimme drinnen grollte weiter — sänftigte sich nun zu +herzbeklommener Klage:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Doch mich, die all dies Herrliche vollendet,<br /></span> +<span class="i0">Mich rührt es nicht, das allgemeine Glück,<br /></span> +<span class="i0">Mir ist das Herz verwandelt und gewendet,<br /></span> +<span class="i0">Es flieht von dieser Festlichkeit zurück ...«<br /></span> +</div></div> + +<p>Aber bald schrillte sie wieder auf mit jähem Wehlaut, +daß sich vor Wut und Entsetzen dem Rechtskandidaten die +Gedärme umkehrten.</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Sollt' ich ihn tö—öten? Konnt' ich's, da ich ihm<br /></span> +<span class="i0">Ins Auge sah? I—h—n tö—ö—öten? Eher hätt' ich<br /></span> +<span class="i0">Den Mordstahl auf die eig'ne Brust gezückt!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Das war zuviel! Der Student riß einen seiner Lederpantoffeln +von den Füßen und pfefferte ihn krachend gegen +die Nachbartür.</p> + +<p>Einen Augenblick verblüffte Stille — doch o weh — +sein Warnsignal war offenbar nicht verstanden worden — +schon nach wenigen Sekunden setzte das Gegroll und Gewimmer +drüben wieder ein:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Und bin ich strafbar, weil ich menschlich war?<br /></span> +<span class="i0">Ist Mitleid Sünde?«<br /></span> +</div></div> + +<p>»Nee!« brüllte Valentin Pilgram. »Mitleid is keene +Sinde nich! Haben Sie ruhig Mitleid mit mir und halten +Sie den Mund — ich muß lernen!!«</p> + +<p>Einen Augenblick war drüben alles stumm — todesstarres +Schweigen. Und plötzlich fauchte ... ja fauchte, +anders war's nicht zu nennen — keifte — ja man muß +schon sagen, keifte die sonore Stimme von nebenan:</p> + +<p>»So? Lernen müssen Sie? Na — ich auch ... +stopfen Sie sich Watte in die Ohren!« Und noch dreimal +mächtiger und markerschütternder grollte nun der majestätische +Alt:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Ist Mitleid Sünde? Mitleid! Hörtest Du<br /></span> +<span class="i0">Des Mitleids Stimme und der Menschlichkeit<br /></span> +<span class="i0">Auch bei den andern, die Dein Schwert geopfert?!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Da sprang Valentin Pilgram wütend auf, riß den +Klingelzug, daß es schrill durch den Flur gellte, und als die +stattliche runde Frau Kanzleirätin ganz entsetzt ins Zimmer +schoß, schnauzte er sie an:</p> + +<p>»Was ist das für ein gottverfluchter Spektakel daneben? +Wenn das nicht in fünf Sekunden aufhört, +zieh' ich!«</p> + +<p>»Erlooben Se mal, mei gutester Herr Pilgram!« entrüstete +sich die behäbige Dame im geblümten Morgenrock +sehr energisch. »Se wissen, scheint's, nich so recht, mit wäm +Se's zu tun ha'm! Das is Se nämlich meine Tochter, die +große Jucunda Buchner von die Meininger — die Jungfrau +von Orleans!«</p> + +<p>»Und wenn je die Jungfrau Maria selber wär' — +hier verlang' ich meine Ruhe, versteh'n Se mich, Frau +Kanzleirat?! Ich hab' diese Bude gefälligst zum Studieren +gemietet — versteh'n Se? Wir sind Se hier nich im +Theater!!«</p> + +<p>»Se sollten Ihn' was schämen, Herr Pilgram, daß Se nich +mal kenn'n bißchen Ricksicht nähm' auf Studium von eener +gottbegnadeten Ginstlerin, wo ganz Leipz'g stolz drauf is!«</p> + +<p>»Wenn eener ä Vierteljahr vor'm Examen steht, +dann hört die Rücksichtnahme ergebenst auf!« brüllte Pilgram. +»Ich muß ooch studieren, aber mei Studium is +wenigstens geräuschlos! Wenn Se e gottbegnadetes +Mädchen zur Tochter haben, die beim Studieren einen +Schkandal macht, wo die Mauern von Jericho von könnten +einstürzen, dann vermieten Se gefälligst keene Buden an +Studenten nich!«</p> + +<p>»Herr Pilgram — wenn ich gewußt hätte, was für e +ungeschliffener Mensch Sie sein kenn' — nie wär'n Se +mir ieber de Schwell gekomm', weeß Knebbchen!«</p> + +<p>»Mamaa!« tönte da plötzlich der sonore Alt aus dem +Nebenzimmer, »rege Dich doch bitte ja nicht auf, Mamaaa! +Der Herr mag ruhig ziehen — ich komme Deiner Haushaltungskasse +für den Schaden auf!«</p> + +<p>Frau Kanzleirat musterte den Studenten von oben +bis unten mit einem Blick tiefster Verachtung. »Da heer'n +Se's, Herr Pilgram! So benimmt sich e wahrhaft vornähmer +Mensch! — Also wenn Se zieh'n woll'n, ich hab +Sie nich das mindeste dagegen — lieber heut als morgen! +Adieu, Herr Pilgram — ziehen Se glicklich!«</p> + +<p>Und die stattliche Dame rauschte hinaus mit der Würde +einer Königin. Die Schleppe des geblümten, nicht mehr +ganz saubern Morgenrockes waberte hinter ihr drein.</p> + +<p>Valentin Pilgram aber blieb etwas benommen an +seinem einsamen Studiertisch. Es war doch höchst fatal, +nun so mitten in den Examensvorbereitungen das lieb gewordene +Quartier gegen ein noch unbekanntes eintauschen +zu müssen ... am Ende hätte er auch ein bißchen weniger +hitzig sein können ... vielleicht mit einem guten Wort hätte +sich die Sache viel besser einrenken lassen ... Aber das +machte diese verfluchte Kandidatenstimmung, das Bangen +vor diesem fahlen Gespenst, das am Ende der Studentenzeit +hockte mit stieren Augen und sich ganz, ganz unmerklich +immer näher heranschob ... da sollte der Teufel nicht +nervös werden ... Was keine sausende Säbelklinge +fertiggebracht hatte: das Schreckbild der drei Männer +hinterm grünen Tisch hatte es erreicht: Valentin Pilgram +hatte Angst ... und dieser Zustand, so ungewohnt, so unmöglich, +der hatte ihn toll gemacht ... Eigentlich hatte er +sich ja doch wirklich unqualifizierbar benommen ... es +waren doch weibliche Wesen, beinahe Damen, mit denen +er so gröblich umgesprungen ... zwar ein Kanzleirat war +ein Subalternbeamter, und seine Frau gehörte nicht zur +Gesellschaft ... und vollends eine Komödiantin ... aber +wenn auch ... wenn auch ... Valentin Pilgram, ich +glaube, dein Benehmen war durchaus nicht auf der Höhe +der berühmten korpsstudentischen Direktion ... deren +eifriger Hüter du selber so lange im C. C. gewesen ...</p> + +<p>Valentin wartete mit Spannung, ob nicht alsbald da +drinnen wieder der dunkeltönige Alt mit dröhnendem +Jambenschwall einsetzen würde ... er wartete mit Spannung +und Verlangen ... das Fortdauern der Störung +wäre wie eine nachträgliche halbe Entschuldigung seiner +Hitze gewesen ... aber er wartete umsonst. Alles blieb +still darinnen. Er hätt' also triumphieren, den ertrotzten +Arbeitsfrieden eifrig büffelnd genießen können ... aber +seltsam ... die richtige Streberstimmung wollte nicht +wiederkommen ...</p> + +<p>Teufel auch, Valentin Pilgram, du hast doch nicht etwa +einen »Moralischen«?</p> + +<p>Franconias Senior stand langsam auf und räumte +Drogenweltlehrbuch und Repetitorien zusammen. Er stülpte +die grüne Mütze auf den strohblonden Schädel und stieg +sinnend die altehrwürdigen Holzstiegen hinab auf die +»Kleine Fleischergaß«. Drüben im ersten Stockwerk des +»Cafébaums« winkte über dem in Sandstein gemeißelten +Amor, der schon seit Jahrhunderten einem gleichfalls sandsteinernen +Türken »e Schälchen Heeßen« kredenzte, winkte +Franconias Wappenschild, lockte, unter den morgendlich +geöffneten Fenstern des Kneipzimmers, im Morgengolde +sich bauschend, das grün-gold-rote Banner ... aber der +Erste stieg nicht hinauf. Er ging auch nicht auf Wohnungsuche: +er tat etwas, was er im Leben noch nicht getan +hatte: er ging zur Universität und kämpfte inmitten eines +Massenandranges von Kommilitonen, ganz gewöhnlichen +Nichtinkorporierten, um ein Studentenbillett zur morgigen +Eröffnungsvorstellung der Meininger — zur »Jungfrau +von Orleans« ...</p> + +<p class="start-chapI space-above">Ecke Roßplatz, und Roßstraße, vor dem Hotel Hauffe, +in dessen erstem Stockwerk der <i lang="la">studiosus iuris et +cameralium</i> Heribert Hans Herwig Erbprinz von Nassau-Dillingen +mit seinem militärischen Begleiter und seiner +Dienerschaft die ganze Zimmerflucht an der Straßenfront +inne hatte, harrten frühmorgens um sechse zwei Reitknechte +in Livree mit drei prächtigen Gäulen. Sie plauderten +mit dem galonierten Portier.</p> + +<p>»Nanu?« meinte der Hotelgestrenge, »schon wieder? +Ihr seid ja Frühuffsteher geworden uff eemal?«</p> + +<p>»Was will mer mache?« meinte der ältere der herzoglich +nassauischen Pferdepfleger. »Unser junger Herr hat +widder mal e funkelnagelneies Veegelche g'fange ...«</p> + +<p>»Ei herrjemerschnee!« machte der Portier. »Was das +nur zu bedeiten hat? Das is doch ganz unnatierlich fier +so 'n jungen Herrn — Morgen fier Morgen drei Stunden +durch den Wald zu flitzen un sich den Schlaf um die Ohr'n +zu schlagen ...«</p> + +<p>»Ich glaub, ich weeß, was da derhinner steckt!« +meinte der jüngere Bursche. »Ich hab' neilich so ebb's +uffg'schnappt, wie se beim Reite g'sproche habe. Er und +der Major!«</p> + +<p>»Da wär' ich Ihn' aber doch wahrhaft'g neigierig!« +kicherte der Portier und schob sich von seiner Treppe hinunter +auf den Bürgersteig.</p> + +<p>»Nu — e Weibsbild steckt da derhinner!« triumphierte +der Reitknecht. »Ich hann's neilich ganz g'nau geheert: +Lasse mer heemreite, hat der Major g'sagt — heit morge +finne mer se doch nit — hat er g'sagt!«</p> + +<p>»I nee so was!« staunte der Portier. »Un dann sind +se wärklich alle zwee heemgeritten?«</p> + +<p>»Ja — ganz wahrhaftig sinn se heemg'ridde!«</p> + +<p>»Wer das bloß sinn mag?« meinte der Portier. +»Gewiß ganz was Vornähmes — sonst tät der gnädige +Herr doch gewiß nich so viel Umstände dann machen +um so e Weibsbild!«</p> + +<p>»Pscht — die Herre komme!«</p> + +<p>Der Erbprinz federte mit dem natürlichen Schwung +seiner einundzwanzig Jahre in den Sattel — der Major +mit der wohlkonservierten, doch immerhin etwas gewollteren +Elastizität seiner zweiundvierzig. Und im +Schritt ging's die gutgepflasterten Straßen der erwachenden +Großstadt hinab, am massiven Bau und klobigen +Rundturm der Pleißenburg vorüber bis zu den Anlagen +jenseits des Flüßchens, wo man antraben konnte.</p> + +<p>»Wenn Sie ahnten, Durchlaucht, wie komisch Ihnen +die Maske eines schmachtenden Toggenburg steht — Sie +würden sich selber erheblich auslachen!« meinte Herr +von Gorczynski.</p> + +<p>»Gott, wenn mir's doch Vergnügen macht, lieber Major +— lassen Sie mir schon den kindlichen Spaß!«</p> + +<p>»Ich versteh' Sie nicht, Durchlaucht — Sie benehmen +sich wie ein Sekundaner von einem Kleinstadtpennal und +nicht wie ein Fürst ... So'n Theatermädel ... der schickt +man doch einfach ein Rosenarrangement und seine Visitenkarte +— und das Weitere findet sich!«</p> + +<p>Ueber das blasierte Knabenantlitz des Erbprinzen flog +ein flüchtiges Rot. »Wenn ich glaubte, bei der Buchner +ginge das auch so, dann pfiff' ich auf das ganze Abenteuer. +Die Nummer kenn' ich nun allmählich! Die Weiber, +die sich kommandieren lassen, die hab' ich satt! Ich möchte +einmal ein Erlebnis haben — ein richtiggehendes Erlebnis!«</p> + +<p>»Na, auf Ihre Manier werden Sie's höchstens bis zu +einem richtiggehenden Korbe bringen!« meinte der Major. +»Ein Mann, der schmachtet, hat von vornherein alle +Chancen verloren! Selbst wenn er der Erbprinz von +Nassau-Dillingen wäre!«</p> + +<p>»Ich will aber diesmal überhaupt nicht der Erbprinz +von Nassau-Dillingen sein! Versteh'n Sie mich, Herr +Major?! Es paßt mir nicht, immer nur auf das Prinzenkonto +geliebt zu werden! Schließlich bin ich doch ganz +simplement als junger Mann nicht zu verachten, wie? +Sehen Sie — und das möcht' ich mal ausprobieren! Ich +hab' mir's nun mal in den Kopf gesetzt! Und gestern hab' +ich der Buchner ein Rosenarrangement geschickt mit einem +Kärtchen, auf das ich nichts weiter geschrieben habe als: +Herbert von Dillingen, <i lang="la">studiosus iuris et cameralium</i>!«</p> + +<p>»Na, ich sag's ja, Durchlaucht! Sie sind auf dem +besten Wege, einen <a id="InCorr1">hahnebüchenen</a> Unsinn aufzustecken! +Aber was ich Ihnen sage: Ich habe Ihnen viel durch die +Finger gesehen — aus unerschütterlicher Liebe zu Ihnen —«</p> + +<p>»Na ja, aus unerschütterlicher Liebe zu mir. Und +weil Ihnen Ihr gesunder Menschenverstand sagt, daß Sie +aller Voraussicht nach unter Bernhard dem Sechzehnten +noch zehn Jahre, unter Heribert dem Vierzehnten aber, +will's Gott, den ganzen Rest Ihrer Erdenlaufbahn abzuleisten +haben werden!«</p> + +<p>»Oh — aber Durchlaucht!« sagte der Major und legte +mit pathetischer Bewegung seine Hand auf jene Stelle +seines Busens, unter der man den Sitz seiner unerschütterlichen +Liebe zu seinem jungen Herrn und Zögling annehmen +mußte.</p> + +<p>»Bitte, lieber Gorczynski — stürzen Sie sich nicht in +Unkosten — ich denke, wir beide kennen uns!« lachte Erbprinz +Heribert.</p> + +<p>»Ernsthaft gesprochen, Durchlaucht!« sagte der Major +etwas verärgert, indem er seinen Gaul in Schritt fallen +ließ, »ich lasse Ihnen jede harmlose Affäre durchgehen — +wenn sich aber etwas Ernsthaftes anspinnt, berichte ich +<i lang="la">a tempo</i> nach Dillingen! Ihr erlauchter Herr Vater +hat mich kategorisch dahin instruiert: keine Weibergeschichten! +Und ich glaube diese Instruktion ganz im +Sinne meines gnädigen Herrn aufzufassen, wenn ich —«</p> + +<p>»Wie kann man sich nur so sinnlos aufregen, mein +Teuerster! Also weil es mir Vergnügen macht, mal ein +paar Vormittage im Leipziger Ratsholz spazieren zu +reiten, und weil ich dabei gelegentlich die Hoffnung ausgesprochen +habe, einen gewissen grauen Schleier noch +einmal wehen zu sehen, wittern Sie bereits allerlei +Tragödien!«</p> + +<p>»Ich gestatte mir, Durchlaucht, mich auf meine +Menschenkenntnis zu berufen. Es ist wider die Natur, +wenn ein von seinem gnädigen Herrn Vater mit überaus +auskömmlicher Apanage ausgestatteter und dank meiner +überaus riskierten Nachsicht bereits einigermaßen erfahrener +junger Prinz einer Theatermamsell wegen, die +er ein einziges Mal von weitem gesehen hat, an drei +nacheinanderfolgenden Tagen um fünf statt um neun Uhr +aufsteht. Wenn ich das nach Dillingen berichte, gibt's +eine Katastrophe! Hab' ich nicht recht?«</p> + +<p>»Von weitem gesehen?« schmunzelte der Prinz. »Ich +habe mir bereits eingehenderes Material verschafft!« Und +er holte einen großen Umschlag aus seiner Rocktasche, +reichte ihn von Schimmel zu Rappen zum Major +hinüber. Dem fielen beim Oeffnen drei Bilder in die +Hand: es waren Darstellungen eines jungen Mädchens; +zunächst im Straßenkleide — Pelzjäckchen, Barett, Muff +— und dann im Eisenharnisch mit bloßem Haupt, aufgelösten +Haaren, ein Schwert und eine Fahne in Händen — +und endlich im Samt, mit riesigen Puffenärmeln, das +Gesicht von langen Ringellocken umwallt und von einem +starren weißen Rundkragen eingesäumt ...</p> + +<p>»Kreuzmillionen —!« entfuhr es dem Major. »Das +ist —?!«</p> + +<p>»Das ist — <em class="gesperrt">sie</em>,« sagte der Erbprinz, und über seinem +fahlen Lebemannsangesicht lag eine Sekundanerröte, die +dem Major völlig fremd war an seinem Zögling. Er +starrte den jungen Mann an, als sehe er ihn zum +erstenmal.</p> + +<p>Verdammt — also so stand die Sache?! Nun hieß +es aber wahrhaftig aufpassen ...</p> + +<p>Der Major reichte die Bilder zurück. »Na ja,« sagte +er im Tone völliger Wurstigkeit, »die Buchner ... Gott, +warum nicht? Wenn Sie sich auf die nun mal kaprizieren, +Durchlaucht — von meiner Seite aus steht nichts im +Wege! Nur fangen Sie's vernünftig an und halten Sie +sich nicht zu lange bei der Vorrede auf! Also wir werden +sie auf — na sagen wir auf morgen abend, heut nach +der Premiere wird sie schwerlich abkömmlich sein — wir +werden sie auf morgen abend zum Souper einladen — +sie mag noch eine Kollegin mitbringen — und dann entwickelt +sich alles weitere glatt und prompt historisch!«</p> + +<p>Der Erbprinz antwortete nicht. Er gab dem Gaul +die Schenkel, und zwar so heftig, daß das rassige Tier +ganz erschrocken zusammenfuhr und dann in tollen Sätzen +von dannen raste. Der Major flitzte hinterdrein und +überlegte im Hinsausen, ob er das als eine Zustimmung +zu seinem Vorschlage aufzufassen habe.</p> + +<p>Auf jeden Fall — geschehen mußte es. Und wenn +sein Schützling, ein wenig verspätet allerdings — na, wie +nannte man das noch — hm, hm! sein — sagen wir also: +Herz entdeckt hätte — dann möglichst schnell diese kleine +Entgleisung auf den Normalweg zu dem üblichen, gefahr- und +schmerzlosen Ausgang leiten ... So befahl es Pflicht +und Instruktion ...</p> + +<p>Und in Gedanken redigierte er folgendes Billett, das +er heut abend bei der Premiere mit einer aufmunternd +luxuriösen Blumenspende auf die Bühne lancieren wollte +— heut abend? Nein — da würde die Aktion vermutlich +ihren Effekt verfehlen — würde untergehen in einem +Wust und Ueberschwall ... nein, morgen früh zum Frühstück +— das wird das richtige sein! Also ungefähr +folgendermaßen würde er schreiben:</p> + +<blockquote> + +<p>»Mein sehr verehrtes <i lang="la">etcaetera</i>! Zwei aufrichtige +und hingerissene (gerissen ist sehr gut!) Verehrer Ihrer +Kunst würden es sich zur höchsten Ehre und Freude +rechnen, Ihre nähere Bekanntschaft <i lang="la">etcaetera +etcaetera</i>. Wir wagen deshalb die dreiste Bitte, +daß es Ihnen, Verehrungswürdige, gefallen möge, +morgen, Donnerstag abend, nach der ersten Wiederholung +der »Jungfrau« mit uns im Hotel Hauffe zwanglos +zu soupieren ... Sollten Sie unter Ihren liebenswürdigen +Kolleginnen eine nähere Freundin haben, +die es nicht verschmähen würde, eine Stunde in harmlos +vergnügter Gesellschaft <i lang="la">etcaetera</i>, so würde uns das +eine ganz besondere <i lang="la">etcaetera</i> ... In Voraussetzung +Ihrer Zustimmung werden wir uns erlauben, nach +Schluß der Vorstellung ein Coupé zur Verfügung der +Damen am Bühneneingange <i lang="la">etcaetera</i>. Mit der +Versicherung unserer vollkommensten Bewunderung +Ihre aufrichtigen Verehrer</p> + +<p class="right"> +v. Dillingen. v. Gorczynski.« +</p></blockquote> + +<p>Na ja — das übliche Schema — das nie versagende ... +pöh ... eine Komödiantin ... wenn's weiter nichts ist ...</p> + +<p>Und schließlich die Hauptsache: zwei blaue Lappen +hinein — für jede einen — damit die guten Kinder auch +gleich merken, daß man ernsthafte Absichten hat — nicht +wahr?</p> +</div> +<div> +<h2>3.</h2> + +<p class="start-chapA">Am Mittwoch nachmittag um fünf war der allwöchentliche +Seniorenkonvent: die Zusammenkunft der Korpsburschen +sämtlicher Leipziger Korps. Sie fand auf der +Kneipe des präsidierenden Korps statt: zurzeit war's +Neo-Borussia, die ihr Heim in nächster Nähe der Franken +aufgeschlagen hatte, im ersten Stock eines gleich uralten, +verräucherten, verwahrlosten Kneiphauses, wie der altberühmte +Cafébaum eins war, in dem Franconia +residierte. Es stand irgendeine der welterschütternden +Fragen auf der Tagesordnung, um welche sich ein hoher +S. C. an jedem Mittwoch Nachmittag die Köpfe zu zerbrechen +pflegte. Diesmal lag vor — na was noch? — +lag vor ein Antrag von Misnia und Thuringia, ein wohllöblicher +S. C. wolle beschließen, daß die Klingen der +Mensurspeere an der Spitze in Zukunft nicht mehr rechtwinklig +und scharfkantig abgeschliffen würden, wie es +bisher üblich war, sondern abgerundet ... Infolge des +eckigen Schliffs waren nämlich an den letzten Bestimmtagen +ein paar so <a id="InCorr2">hahnebüchene</a> Knochensplitter herausgekommen, +daß die Paukärzte kategorisch Wandel verlangten: +die Klingen sollten in Zukunft an der Spitze +halbkreisförmig geschliffen werden ... Das war natürlich +ein Problem von fundamentaler Bedeutung, und so erhitzten +sich die Gemüter immer mehr und mehr, immer +stärker wurde der Bierkonsum, immer massiver der Zigarren- +und Zigarettenqualm ... und immer hastiger +rückte der Zeiger jener Stunde zu, da im Carolatheater +das Gastspiel der Meininger beginnen sollte ... Theater +— pah! Wer hat Zeit, ans Theater zu denken, wenn +der bittre Ernst des Lebens einen im Bann hält?</p> + +<p>Einer hatte Zeit: der schlanke Fuchsmajor der Franken +natürlich — er saß auf Kohlen und hätte sich mit Vergnügen +bereit erklärt, sich am Sonnabend auf Mensur +mit einem kantig geschliffenen Speer ein halbes Dutzend +Knochensplitter aus dem Schädel hauen zu lassen, wenn +er dadurch diese entsetzliche Debatte hätte abkürzen und +den Anschluß an den Beginn der Vorstellung hätte erreichen +können ...</p> + +<p>Endlich wagte er ein Aeußerstes. Er ging leise zum +Ersten hinüber, neigte sich und flüsterte ihm — der mit +aller Nervenanspannung der hitzigen Rede seines Gegenpaukanten +vom vergangenen Sonnabend, des Meißner +Zweiten, folgte — flüsterte ihm ins Ohr:</p> + +<p>»Pilgram, ich darf Dich vielleicht daran erinnern, daß +Durchlaucht mich auf heut abend in seine Loge eingeladen +hat — da darf ich doch keinesfalls zu spät kommen ... +würdest Du wohl gestatten, daß ich den S. C. verlasse?«</p> + +<p>»Du bist verrückt!« knurrte Pilgram halblaut. »S. C. +geht doch vor allem andern vor! Du siehst, ich muß ja +auch aushalten!«</p> + +<p>»Du —?! Ja, wie soll ich das verstehen, Pilgram? +Gehst Du ... denn auch ... ins ...«</p> + +<p>Der Erste errötete tief. Es war ihm herausgefahren, +das Geheimnis, dessen er sich vor allen Korpsbrüdern +schämte: daß der traditionelle Feind aller neun Musen +sich ein Theaterbillett erstanden hatte — und noch dazu +eine Studentenkarte zu einer Mark und zwanzig Pfennigen, +um gänzlich unstandesgemäß — selbstverständlich +im Bummel, also im tiefsten Inkognito — zwischen allerhand +proletigen Kommilitonen, das Parterre, ganz hinten, +zu bevölkern — sintemalen und alldieweilen es auch bei +ihm am Monatsschluß nicht mehr zu dem für das Korps +vorgeschriebenen Platz im ersten Rang hatte reichen +wollen ...</p> + +<p>»Allerdings — ich geh' auch!« zischte Pilgram. »Wir +gehen nachher zusammen — aber im S. C. wird ausgehalten, +und wenn uns die ganze Affenkomödie durch +die Lappen gehen sollte!«</p> + +<p>Vor solchem Pflichteifer verstummte Hans Thumser — +völlig erschüttert ... Freilich, was galt diesem Banausen +die Versäumnis eines, zweier, dreier Akte Schiller! Wie +mochte der bloß auf die Idee gekommen sein, ins ... +Hallo — sollte da am Ende ein ... trotz allem ... erwachtes +Interesse für seine berühmte <i lang="la">filia hospitalis</i>?! +Alle Wetter — das war am Ende doch wohl die einzige +Erklärung!</p> + +<p>Und während ein wohllöblicher S. C. sich weiterhin +über krummen oder geraden Schliff der Klingenspitzen +aufregte, griff Hans Thumser alle fünf Minuten heimlich +nach seiner Taschenuhr ... halb sieben — — sieben Uhr +jetzt — verflucht! War denn diese verdammte Zwiebel +rasend geworden? Und nun — nun war es auf einmal +halb acht — in diesem Augenblick hob sich da unten fern +in der Südstadt, in der Sophienstraße, der Vorhang zum +Prolog, und der biedere Thibaut d'Arc verlobte seine +zwei ältesten Töchter ... Nun stand sie auf der Bühne — +sie, die Madonna aus der oberen Kirche seines Herzens ... +noch im schlichten Kleide der Bäuerin, doch schon überlagert +vom tragischen Schatten ihrer göttlichen Sendung ...</p> + +<p>»Meine Herren,« sagte der Vorsitzende, Herr Borgmann, +Neo-Borussiae, die linke Stirnseite noch immer +von mächtigem Wattebausch unter schwarzer Kompresse +bedeckt, da, wo Hans Thumsers kecker Durchzieher ihm +wider alle Vorsicht Schwarte, Knochenhaut und alle Aeste +der Temporalis durchgesäbelt — »meine Herren, meiner +Ueberzeugung nach würden wir uns vor sämtlichen Glocke +schlagenden S. C. eines hohen Kösener unsterblich +blamieren, wenn wir als einziger S. C. den allgemein +üblichen scharfkantigen Schliff abschaffen wollten — und +zwar aus einer Anwandlung von Humanitätsdusel +heraus, der für mein Empfinden einen bedenklichen Beigeschmack +von Kneiferei hat —«</p> + +<p>»Ich bitt' ums Wort!«</p> + +<p>»Ich auch! Ich auch!« so scholl's heftig aus der Korona.</p> + +<p>»Silentium für Herrn von Schubart, Misniae!« sagte +Borgmann gelassen.</p> + +<p>»Ich muß mir aufs entschiedenste verbitten,« schrie +Herr von Schubart, der Zweite der Meißner, in den +Zigarrenbrodem hinein, »daß der Herr Erste Chargierte +des präsidierenden Korps von einer Maßregel, die mein +C. C. befürwortet, erklärt, sie habe einen Beigeschmack von +Kneiferei! Ich verlange, daß der Herr Vorsitzende diese +Aeußerung mit dem Ausdruck des Bedauerns zurücknimmt +— andernfalls behält sich mein C. C. weitere +Schritte vor, sowohl gegen einen wohllöblichen C. C. des +präsidierenden Korps als auch gegen Herrn Borgmann +persönlich!«</p> + +<p>Dreiviertel acht —! wimmerte Hans Thumsers sehnsüchtige +Seele — und in seinem Herzen klang's:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Nichts von Verträgen! nichts von Uebergabe!<br /></span> +<span class="i0">Der Retter naht, es rüstet sich zum Kampf —<br /></span> +<span class="i0">Vor Orleans soll das Glück des Feindes scheitern,<br /></span> +<span class="i0">Sein Maß ist voll, er ist zur Ernte reif!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Thuringia schloß sich den Erklärungen Misnias an; +Guestphalia schwankte, während Franconia und Neo-Borussia +gemeinschaftlich gegen den Antrag auf Abänderung +des Klingenschliffs auftraten. Unter allgemeiner +Erregung schritt der Vorsitzende endlich um zehn Minuten +vor acht zur Abstimmung, und nun fiel Guestphalia +definitiv zur Partei des runden Schliffs. Franconia und +Neo-Borussia waren überstimmt: die holde Menschlichkeit +oder, wie Herr Borgmann Neo-Borussiae es nannte, der +Geist der Kneiferei hatte gesiegt ... Und mit dem +Zigarrenrauch hingen unzählige P. P. Suiten und Säbelforderungen +in der Luft ... Morgen früh zum Frühschoppen +würden sie explodieren ...</p> + +<p>»Nu aber raus!« zischte Pilgram seinem Korpsbruder +zu. »Weh Dir, wenn Du den andern was davon sagst, +daß ich ins Theater geh — offiziell büffle ich heut abend!«</p> + +<p>Drunten wartete des Ersten Chargierten der Korpsdiener +mit Hut und Regenschirm. Pilgram riß ihm beides +aus der Hand, zog Mütze und Band ab und übergab sie +dem Getreuen. Thumser, der vornehm in der Proszeniumsloge +sitzen würde mit dem Erbprinzen, blieb natürlich in +Couleur. Und in rasendem Tempo hasteten nun die beiden +Studenten die kleine Fischergasse hinab.</p> + +<p>Auf dem Alten Markt standen Droschken aufgefahren. +Die Wanderer warfen einen wehmütigen Blick hinüber:</p> + +<p>»Wenn's doch schon der Erste wäre!« knirschte Hans +Thumser.</p> + +<p>»Beine in die Hand!« knurrte Pilgram.</p> + +<p class="start-chapA space-above">Als Hans Thumser sich auf Zehenspitzen in die +Proszeniumsloge schob, hatte der erste Akt bereits +begonnen. Der Erbprinz und der Major wandten kaum +zu flüchtiger Begrüßung die Köpfe — schon waren sie im +Bann. Und hinter den schwarzen Silhouetten der Vordermänner +sah Hans nur mit einem flüchtigen Blick die von +der Bühne her matt erleuchteten vordersten Reihen des +Publikums im Parkett — lauter Gesichter, im Lauschen +und Schauen erstarrt. Und schon schlugen auch über ihm +die Wogen zusammen.</p> + +<p>Ein hoher gotischer Saal am Hoflager König Karls +von Frankreich. Düstere pfeilergetragene Holzdecke, die +Wände eichengetäfelt, darüber Gobelins mit steifen Reihen +buntgewandeter Ritter und Edeldamen. Und ganz tief +hinten ein buntes Fenster, durch das sich ein paar verirrte +Sonnenstrahlen stehlen. Und mit zweien Getreuen der +unglückliche weichherzige König, dessen Knabenhand wohl +seine Agnes Sorel zu kosen vermag, nicht aber die Zeit, +die aus den Fugen gegangen, wieder einzurenken ... +drei Ratsherren knien vor ihm, seine vielgetreuen Bürger +von Orleans, und flehen um Hilfe, um Entsatz ihrer hartbedrängten +Stadt ... Verzweiflungsvoll ringt der König +die kraftlosen Arme:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Kann ich Armeen aus der Erde stampfen?<br /></span> +<span class="i0">Wächst mir ein Kornfeld in der flachen Hand?«<br /></span> +</div></div> + +<p>Doch sieh: ein Lichtstrahl zittert in das Dunkel der +Szene: Die Geliebte kommt: Sie bringt opfermutig all +den blinkenden kostbaren Tand, den ihr König in süßen +Stunden ihr um den Nacken gewunden ... Ein schwarzlockiges, +schmiegsames, kätzchenweiches Geschöpfchen ... +Ihre Augen schimmern in koketten Tränen, ihre Hände, +weich und rosig wie Frühlingswolken, umschmeicheln den +Freund, noch in der Angst der Verzweiflung liebeheischend, +sehnsuchtsweckend ...</p> + +<p class="center"> +»Agnes Sorel ... Asta Thöny«<br /> +</p> + +<p>sagt der Theaterzettel. Herrgott ... das ist sie ...</p> + +<p>Und einen Moment ist Hans Thumser wieder Hans +Thumser ... Er tastet nach seiner Brusttasche, wo ein +etwas zu stark parfümiertes rosa Billetchen steckt: Die +Worte, die es enthält, ach, die kann er auswendig, im +Träumen, von vorn und von hinten:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Nach zierlichen Schuhchen und dem, was drin steckt,<br /></span> +<span class="i0">Liegt mancher Fuchs auf der Lauer —<br /></span> +<span class="i0">Eintritt verboten! Hier wird nicht geschleckt!<br /></span> +<span class="i0">Füchschen, die Trauben sind sauer!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Also — das ist sie ... das ... Füßchen werden nicht +vorgezeigt, nur zwei zierliche Goldspitzen lugen im Schreiten +ab und an für einen winzigen Moment unterm schweren +Brokat des gotisch starren Gewandes vor ... dafür +aber läßt dies neidische Gewand einen Hals frei ... einen +Hals ... o Gott, o Gott ...</p> + +<p>Einen Augenblick ist Hans Thumser Hans Thumser — +der sehnsüchtige Knabe an der Schwelle des Lebens ... +nur einen Augenblick ... und schon wieder ist er ... +niemand und alles ... nur Auge, nur weitgeöffnet schauendes +Gottesauge — nur Seele, alliebende, alldurchdringende +Weltseele ...</p> + +<p>Höher schwillt die Flut des Entsetzens um den verlorenen +Königsknaben und sein zitterndes Lieb ... Eine +Hiobspost jagt die andere, das Maß des Ertragens ist voll, +sein Land und seine Ehre gibt der Schwache preis, und +empört fallen die letzten seiner Getreuen von ihm ab ... +Verlassen steh'n die beiden Kinder ...</p> + +<p>Da auf einmal ... kommt einer der Entwichenen +zurück ... auf seinem zuckenden Gesicht, seinen stammelnden +Lippen glüht ein Wort ... ein Wort, das längst ins +Fabelland entschwunden schien ... das Wort: <em class="gesperrt">Sieg</em> ...</p> + +<p>Und sieh — da führen die edlen Herren aus des +Königs Gefolge einen riesigen Krieger heran: einen +Ritter im zerhauenen, blutbekrusteten Harnisch: ein blutiger +Fetzen windet sich um seine kampfglühende Stirn, +aus seinem blutunterlaufenen Auge lodert das gleiche +Zauberwort: das unfaßbare: Sieg ... Sieg ...</p> + +<p>Und atemlos, stockend oft und nun in wahnwitzigen +Jubel ausbrechend, kündet er die phantastische Mär:</p> + +<p>Das Wunder ist herabgestiegen vom Himmel ... Ein +weißes Mädchen ist in die Mitte der umzingelten Franzosen +getreten — hat dem Fahnenträger das Banner entrissen +und an der Reisigen Spitze sich in den Feind gestürzt!</p> + +<p class="quote"> +»Ein Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen!« +</p> + +<p>Und daß fassungsloser Unglaube kniebeugender Glaube +werde — — wird sie selber kommen! wird kommen — +hierher, an diese Stelle, auf der wir stehen, harrend, bis +ins Mark erschüttert und dennoch zweifelnd ...</p> + +<p>Und horch! Schon kündet sich's an: Da draußen, in +den fernen Gassen der Stadt, hören wir den Lärm eines +jäh triumphierenden Empfangs ... Näher und näher +kommt das festliche Getös ...</p> + +<p>Und da — da fangen ja die Glocken von allen Türmen +plötzlich an zu schwingen ... und heller tönt draußen das +tolle Jauchzen der Begeisterung ... und nun stürzen sie +alle, die in der dumpfen, ragenden Kammer weilen, in +kindischer Hast ans Fenster da hinten und beugen sich +hinaus, und sieh, sie sehen's schon, das Wunder, das Unmögliche +— sie schreien und winken und schreien —</p> + +<p>Und horch, nun stürmt's da draußen die Stufen hinauf, +nun stürzt, nun strömt es herein. Ratsherren und +Rittersleute und Bürger und Weiber und Soldknappen +und Kindervolk und ... eben Menschen, schreiende, +tobende, vor Erlösungstaumel sinnlose Menschen ... Vor +dem König, der mit der Geliebten, zitternd, schwindelnd, +da vorn geblieben, werfen sie sich auf die Knie, in den +Staub, heulen und jauchzen: Sieg! Sieg! Sieg!</p> + +<p>Und nun — nun öffnet sich auf einmal, wie die Flut +des Roten Meeres vor dem Durchzug der Kinder Israel, +so klaffend öffnet sich durch die Menschenflut eine Gasse ... +und durch die Gasse ... schwebenden Schrittes ... +kommt ... sie ...</p> + +<p>Kommt ein weißes Mädchen, nein, kein Mädchen, +kein Mensch ... ein Gedanke, ein Gottgedanke, der Gedanke +der Erlösung, der Gerechtigkeit, der Freiheit, des +Vaterlandes ...</p> + +<p>Und steht so vor dem König ... das Ewige, das Heilige, +das Unendliche selbst ...</p> + +<p>Und doch ... nur ein Mädchen ... ein junges, weißes +Weib ...</p> + +<p class="start-chapI space-above">In der winzigen Garderobe, rechts vom Schauspieler, +auf der Frauenseite, wartete Mutter Buchner ihrer berühmten +Tochter. Sie hatte es sich zwar nicht versagen +können, sich von einem Eckplatz des Parketts aus an +Jucundas Spiel, den neidisch-ehrfurchtsvollen Blicken der +Bekannten, dem Jubelsturm des Publikums zu weiden; +aber am Anfang des zweiten Aktes, das wußte sie, trat +Jucunda nicht auf, und da drängte es sie in die Garderobe +ihres Kindes, um ihr Zofendienste zu leisten. Ach, +am liebsten wäre sie ja von Ort zu Ort mitgereist ... +Wenn ein Mädchen so ungeheuer viel Talent hatte ... +und so gut gewachsen war — na, man wußte ja, von wem +sie das hatte! — und so heißblütig — ach Himmel, man +war ja selber auch mal jung gewesen! — Das war ja ganz +selbstverständlich, daß die Mannsbilder hinter so einer her +waren wie verrückt — da hätte man ja doch als Mutter +eigentlich auf Schritt und Tritt aufpassen müssen ... +Aber da war ihr Alter, der Herr Rat ... der konnte ja +nicht leben ohne seine Doris ... Na, solange das Kind +in Leipzig war, sollte es wenigstens fühlen, was man an +einer Mutter hat ... Und kaum war der Vorhang nach +dem ersten Akt gefallen, da flog — während das Publikum +noch immer tobte, die Gardine auf und nieder tanzte, +die Darsteller sich immer und immer wieder süß lächelnd +verneigten — flog Mutter Doris aus dem Zuschauerraum +zu dem bekannten Pförtchen, das nur denen vom Bau sich +öffnet, hastete die steinerne Treppe hinauf in das winzige, +von Schminke, Puder und Menschendunst geschwängerte +Kämmerchen und wendete das gewärmte Hemd, das auf +der Heizung bereit hing ... Denn wie ihre Jucunda +schwitzte bei so'ner großen Szene, das war schon nicht +mehr schön ... Von Kopf bis zu Füßen mußte sie die +Unterwäsche wechseln jedesmal, wenn irgend Zeit blieb ... +Freilich, wie das Mädchen sich auch ins Zeug legte ...</p> + +<p>Und nun kam sie — kochend, dampfend, wie aus dem +Backofen ... fiel in den Frisierstuhl und streckte alle Viere +von sich ... Frau Doris umarmte sie zärtlich und drückte +ihr einen begeisterten Mutterkuß auf die triefende Stirn ...</p> + +<p>»Schinderei, verfluchte!« pustete Jucunda. »Wie aus +dem Wasser gezogen ist man — und das schon nach dem +ersten Akt! Schnell, Muttel, die Lappen runter und +frische Wäsche! Ich komm' ja um!«</p> + +<p>In der Tür der Garderobe drängten ein paar Kollegen +nach, der Heldin des Abends die Hand zu drücken. +Alle mochten sie das stramme junge Ding leiden, das mit +seinen achtzehn Jahren so resolut durch diese schminkestarrende +Welt stapfte, als sei sie darinnen geboren und +nicht in einem engbrüstigen Leipziger Spießermilieu ...</p> + +<p>»'raus!« befahl Mutter Doris. »Alles 'raus! Meine +Tochter wünscht alleene zu sein!«</p> + +<p>Und rasch vollzog sich die Verwandlung. In kräftiger +Frische, schweißgebadet, stieg der derbe Mädchenleib aus +den klatschnaß zusammensinkenden Hüllen, wurde von sorglicher +Mutterhand mit lauen Güssen überspült und in die +frischen gewärmten Unterkleider gesteckt. Die Garderobiere, +ein verknittertes, verhutzeltes Weiblein, stand +müßig daneben und träumte von der goldenen Zeit, als +auch sie einmal am Stadttheater zu Stallupönen erste +Naive gewesen und von den Leutnants der Garnison mit +billigen Buketts und falschen Schmucksachen überschüttet +worden war ... Dann aber mußte sie eingreifen, denn +über das weiße Gewand des Bauernmädchens wurde nun +die wuchtige Rüstung geschnallt und mit einem Dutzend +Riemen und Oesen befestigt — darauf verstand Mutter +Doris sich denn doch nicht. Inzwischen aber schwatzten die +Frauen ohn' Unterlaß:</p> + +<p>»Gott, war das ein Spektakel zum Aktschluß! Namentlich +da hinten im Parterre!« sagte Jucunda und warf das +langflutende braune Gelock über die Rüstung zurück.</p> + +<p>»Natierlich — das gloob' ich ooch!« erwiderte die +Mutter und strich mit glättendem Kamme bedächtig durch +die krause Mähne der Tochter. »Da sitzen doch die Herren +Studenten! Was die trampeln kenn'! Gott soll mich bewahren! +'s ganze Parkett war Dir doch eene Staubwolke! +Und <em class="gesperrt">unserer</em> is ooch dabei — wirscht mer's +glauben?«</p> + +<p>»Wer? Der unverschämte Mensch aus dem Eckzimmer?«</p> + +<p>»Freilich, der! Un gezogen is er noch lange nich!«</p> + +<p>»I nee so was!« lachte Jucunda.</p> + +<p>»Eegentlich is mer'sch ganz lieb, daß er noch nich weg +is,« sagte Mutter Doris. »Immerhin er is der Erste +Scharschierte vons älteste und angesehenste Korps in +Leipz'g ... Un so lang als ich denken kann, hab' ich +immer Korpsstudenten bei mir wohnen gehabt — 's wär +doch sehr unangenehm für mich gewäsen, wenn er wär' +mit'n großen Krach von mir fortgegangen — leicht hätt's +kenn' passieren, daß die ganzen Korps mich hätt'n in'n Verruf +getan — damit sin se immer sehr fix bei der Hand, +wenn ma een' von ihn' mal schief angekuckt hat ... Unser +Nachbar Wunderlich, der Mützenmacher, der kann e +Wertchen davon erzählen ... Der hat mal een' von die +Korpsstudenten, der absolut nich wollt' zahl'n, nu, dem +hat er en groben Brief geschrieben — und iebermorgen war +er schon im S. C. Verruf — das kost'n an sechshundert +Mark jährlich!«</p> + +<p>»I herrjemerschnee!« lachte Jucunda, »das hätt' ich +wissen sollen, daß unser Student so ein großes Tier ist! +Da hätt' ich durch meine Grobheit ja beinahe Deinen Geschäftsbetrieb +ganz bösartig geschädigt! Na, hoffentlich +kommst Du noch mal mit 'nem blauen Auge davon! +Uebrigens, Muttel, wenn ich mich recht erinnere, so hast +Du den einflußreichen Jüngling auch nicht gerade mit +Glacéhandschuhen angefaßt ...«</p> + +<p>»Nu, ich hab' mich eben lassen hinreißen,« sagte Frau +Doris. »Weeßte, wenn eener mir mit mein' Goldkinde +tut anbinden — hernach weeß'ch mich nich zu beherrschen +— reinweg wie ene Furie werd' ich Dir dann!«</p> + +<p>»Muttel!« sagte Jucunda zärtlich und legte einen +Augenblick lang das lockenumflutete Haupt an den mächtig +wallenden Mutterbusen.</p> + +<p>In diesem Augenblick trat Franz Burg herein, der +Oberregisseur, in der klirrenden Rüstung des englischen +Oberfeldherrn, in einer Maske so voll schrecklichen Ingrimms, +daß Jucunda hell auflachte:</p> + +<p>»Donnerwetter, lieber Freund — mit Ihrem Konterfei +kann man ja die Pferde scheu machen!«</p> + +<p>»Himmel — für die guten Leipziger muß man eben +ein bißchen dick auftragen ...«</p> + +<p>»Schön,« sagte Jucunda, »werd' ich mir merken. +Passen Sie mal auf, Meister, wie ich jetzt loslegen werde!«</p> + +<p>»Aber gefälligst mit einem vernünftigen Stimmansatz, +und nicht wieder so aufs Organ loswüsten wie im ersten +Akt! Ihnen geht's zu gut, Kindchen, Sie werden mir zu +üppig ... In einem Alter, wo andre Kolleginnen froh +sind, wenn sie einmal ein Servierbrett mit Kaffeegeschirr +hereinbringen dürfen, toben Sie schon abendfüllend durch +ganz Deutschland — da muß ja so ein achtzehnjähriger +Verstand aus dem Leim gehen ...«</p> + +<p>»Ach, lassen Sie mich doch ...« Jucunda reckte den +herrlichen Körper, daß alle Niete und Scharniere der +Rüstung knackten ... »Lassen Sie mich doch, lieber +Freund ... Es ist ja so schön ...«</p> + +<p>Franz Burgs Augen schimmerten hinter den grimmigen, +rotgrauen Brauen in einem ganz seltsam weichen +Licht ... Sie glitten über die schlanke, waffenblanke Gestalt, +wie ein Streicheln.</p> + +<p>»Schön ist's, das glaube ich — Sie sind eben ein +Sonnenkind, Langbeinchen!« So nannte er sie noch +immer, aus jener Zeit, wo sie als blutige Novize wegen +ihres knabenhaften Wuchses immer die Pagen hatte spielen +müssen ... Jetzt freilich wäre das nicht mehr zu machen +gewesen — sie war ein Weib geworden ...</p> + +<p>»Na also — Sie sind fertig ... Nun halten Sie aber +Ruhe, bis Sie geholt werden ... Und nicht zu toll mit +dem Organ aasen, verstanden? Adieu, Langbeinchen!«</p> + +<p>»Adieu, Sie Bester!«</p> + +<p>Ein Blick so voll dankbarer Zärtlichkeit, daß der grimme +Talbot rasch das Visier herunterklappte ... Und durch +die Augenlöcher klang sein Knurren:</p> + +<p>»Also fang'n mer an!«</p> + +<p>Er rasselte von dannen. Jucunda warf ihm ein halbes +Dutzend Kußhände nach.</p> + +<p>»Aber Jucunda!« rief die Mutter ganz entsetzt.</p> + +<p>»Ach laß doch, Muttel! Einmal ein Mensch beim +Theater, ein einziger, der selbstlos gütig ist — einen lehrt, +einem vorwärts hilft, ohne gleich — —«</p> + +<p class="start-chapD space-above">Der zweite, der dritte Akt waren vorübergebraust, mit +Schlachtgetöse und Siegesjubel und Sterbegrauen ... +und hatten geendet mit der naiv-gewaltigen Szene, in der +Johannas tragisches Geschick sich wendet: der Fluch ihrer +übernatürlichen Sendung sich wider sie kehrt. Das Herz +der Jungfrau hat mit Entsetzen sein Mädchentum empfunden +...</p> + +<p>Große Pause nun — alles strömte hinaus in die +schmalen, schlechtbeleuchteten Gänge, das dürftige Foyer +des dumpfen winkligen Hauses ...</p> + +<p>Und da oben fanden sich die beiden Franken, ihr fürstlicher +Konkneipant und sein Erzieher. Die Herren begrüßten +einander mit dem gewohnten starr offiziellen Gesicht, +dem korrekten Händeschütteln der hoch gewinkelten +Arme ... Keiner mochte verraten, wie sehr er gepackt +war.</p> + +<p>»Ganz nett — wie?« näselte der Erbprinz.</p> + +<p>»Na ja ... Aber immer dies ewige eintönige Pathos, +das hält kein Pferd auf die Dauer aus!« schnarrte Pilgram.</p> + +<p>»Wie fanden Sie die Buchner?« fragte nachlässigen +Tones der Prinz.</p> + +<p>»Na — mein Himmel — spielt eben Schiller!« erwiderte +der Rechtskandidat.</p> + +<p>Hans Thumser blieb stumm. Ihm standen Erregung +und Entzücken bis an den Hals — die Tränen, die er +mühsam hatte unterdrücken müssen, preßten ihm die +glühenden Augen. O Gott — so Erhabenes, so Ungeheures +erlebt zu haben ... Und dann den gelassenen Weltmann +mimen zu müssen mit zwanzig Jahren ... Was war das +für eine Jugend? Sie schämte sich aller jugendlichen +Empfindungen ... der Begeisterung, des Glaubens an +das Große, das Weltbezwingende ...</p> + +<p class="start-chapI space-above">Und schnell vollendete sich's nun. Wie ward es Valentin +Pilgram zumut, als er nun im festlich geputzten +Saale zu Reims die Verse erklingen hörte, die er neulich +so schmählich unterbrochen?</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Sollt' ich ihn töten? Konnt' ich's, da ich ihm<br /></span> +<span class="i0">Ins Auge sah? Ist Mitleid Sünde?!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Was war denn das, was so heiß und fremd unter der +linken Westentasche zuckte und hüpfte? Was war dieser +geheimnisvolle Schmerz, dieser brennende, der durch Hirn +und Glieder rumorte, wenn dieses Mädchen seine stählernen +blauen Augen verloren in den dunklen Raum hinausschweifen +ließ, in dem er saß, inmitten der proletigen +Finken ringsum, die er verachtete, wie er alles verachtete, +was nicht zu den Angehörigen eines hohen Kösener S. C. +Verbandes zählte?! War es die Scham, daß er dies +Mädchen, diese weiße, stolze Weibesgestalt da hinten, gekränkt, +gestört in ihrem Studium — sich benommen gegen +sie wie ein Rauhbein, ein Knote ohne Kinderstube und +Direktion!</p> + +<p>Ja, das mußte es sein, das und nichts andres ... Er +wird morgen früh seinen Bratenrock anziehen und seine +beste Mütze aufsetzen — wird sich feierlich durch die Frau +Kanzleirätin anmelden lassen und förmlich und devotest +um Verzeihung bitten ... Es ist männlich, begangenes +Unrecht einzusehen und zu sühnen, und durch Revokation +und Deprekation einer Dame gegenüber vergibt auch +Franconiae gewesener Erster, Erster, Erster <i lang="la">ad interim</i> +sich nichts — nein, ganz gewiß nicht!</p> + +<p>Also das mach' ich! Gesegnet meine wüste Laune, gesegnet +meine Examensnervosität ... So hab' ich doch +wenigstens einen anständigen Grund, mich ihr vorzustellen, +sie zu sehen, mit ihr zu sprechen ... Und ich werde mich +dermaßen kavaliermäßig benehmen ... Ich werde ... +Ueberhaupt ... Ich werde — hol' mich der Teufel — Eindruck +werd' ich machen, so wahr ich Valentin Pilgram bin, +Franconiae gewesener Erster, Erster, Erster <i lang="la">ad interim</i>!</p> + +<p class="start-chapI space-above">Hans Thumsers Seele war aber zwiegeteilt, wie fast +immer — fast immer ... Noch einmal, in der zweiten +Szene des vierten Aktes, kam die andere — nach der er +ein geheimes, lästerliches und süßes Schmachten verspürt +hatte, nun sie so lange verschwunden war ... kam Agnes +Sorel, stand neben der herrischen Gestalt Jucundas in +ihrer kätzchenhaften Holdseligkeit ... schmiegte an Jucundas +gepanzerten Busen die unverhüllte, die rosige lockende +Brust ... O Hans Thumser, und denken zu müssen, daß +diese Himmelswonne Nacht für Nacht neben deinem +Knabenstübchen schläft, nur durch eine dünne Ziegelmauer +von dir getrennt, in der es gar noch eine Tür gibt, die +freilich verschlossen ist und mit einem Kleiderschrank verstellt +... O Hans Thumser, wie wirst du dies Bewußtsein +ertragen, nun du sie kennst, sie gesehen hast mit +deinen scheuen, brennenden Augen, ihr Bild hineingesogen +in deine lechzende, lebenshungrige Seele ... +Wie wirst du's ertragen?</p> + +<p>Füchschen, die Trauben sind sauer ... So hat sie geschrieben. +Ach, du Schelm, du böser, neckender Traumspuk +du — du warmes, weiches, nahes, fernes, weltenfernes +Menschenkind — —!</p> + +<p>Still — es erfüllt sich Johannas Geschick ... Vor dem +Bannspruch des Vaters, der sie höllischer Blendekünste +zeiht, verstummt sie ... verstummt vor dem Donner des +Himmels ... flieht in Einsamkeit und Verzweiflung — +fällt stumm und wehrlos in die Hand der Feinde ...</p> + +<p>Doch dann, in letzter, höchster Not, kommt noch einmal +über sie die alte, magische Kraft: Sie zerreißt ihre Ketten, +entrafft sich den entsetzten Feinden, trägt noch einmal das +Banner der Jungfrau zum Kampf ... und dann, die +Todeswunde in der Brust, von Siegesbannern überbauscht, +läßt sie ihre reine Seele ins All hinüberströmen ...</p> + +<p>O Dichter! Dichter! betet Hans Thumser — großer, +herrlicher mit Deiner wunderbaren Cherubseele — einen +Tropfen von Deinem Geist in mein junges Herz — einen +Flammenfunken von Deinem Himmelsfeuer!</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Wie wird mir? — leichte Wolken heben mich —<br /></span> +<span class="i0">Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide —<br /></span> +<span class="i0">Hinauf — hinauf — die Erde flieht zurück —<br /></span> +<span class="i0">Kurz ist der Schmerz, und ewig ist die Freude!«<br /></span> +</div></div> + +<p class="start-chapI space-above">Ein heftig gestammelter Dank an den Prinzen, ein feierliches +Schütteln der korrekt eingewinkelten Hände mit +ihm und dem Major, und dann hinaus — hinaus in die +herbstliche Abendluft ... O glühende Stirn, o glühendes +Herz ...</p> + +<p>Und nun — warten — sie noch einmal sehen, sie, »die +alles Herrliche vollendet« ... nicht jene andre, das +Kätzchen, den Spukgeist ... Nein, die eine, die weiße, +die königliche ...</p> + +<p>Warten auf sie — sie warten ja alle ... Eine +dichtgedrängte Schar, lauter blutjunges Volk. Konservatoristinnen +und Ladenmamsellchen untermischt mit Primanern +und Studenten ... Sie warten vor dem Portal, +vor dem ein einziger Wagen noch hält, ein einziger, +während all die andern mit ihrer Fracht schleierumhangener, +kapuzenverhüllter Weiblichkeit von dannen donnern +— ein einziger Wagen, in dem, hüstelnd und frierend, ein +bebrilltes Männlein hockt mit grauem Kragenbart: der +Kanzleirat Buchner ...</p> + +<p>Es dauert lange, dies Warten ... Aber Hans Thumser +wartet nicht allein: An seiner Seite, geduldig fröstelnd, +harrt der gestrenge Senior, ganz gegen jede Wahrscheinlichkeit +und Psychologie ...</p> + +<p>»Ne, Pilgram, wie <em class="gesperrt">Du</em> mir heute vorkommst!«</p> + +<p>»Na, was denn? Wieso denn?« knurrt der Erste. +»Denkste vielleicht, Du hast die Kunstbegeisterung alleene +gepachtet?!«</p> + +<p>Und endlich — endlich — — am Bühneneingang +fliegen die Hüte, die Mützen von den Köpfen —</p> + +<p>»Jucunda Buchner — hoch! hoch!«</p> + +<p>Voran schiebt sich eine derbe Matrone in uraltmodischer +schleifenbesetzter Kapuze — und dann kommt — sie — so +mädchenhaft auf einmal, so spießbürgerlich schlicht ... +Wie ein Backfisch schaut sie aus, so menschlich, so nahe ...</p> + +<p>»Hoch! hoch!« brüllen die Studenten, juchzen die +Mädels — sie huscht vorüber, kopfnickend, so lieb, so einfach, +so — so fabelhaft nett — sie schlüpft in die Wagentür, +nickt noch einmal vom Fensterrand — neuer Jubel —</p> + +<p>Ach was — längst nicht genug!</p> + +<p>Eine neue, eine würdige Huldigung dem wundervollen +Menschenkind!</p> + +<p>»Kommilitonen!« ruft Hans Thumser und schwenkt die +grüne Mütze, »Kommilitonen! Wir spannen ihr die +Pferde aus, wir fahren sie im Triumph nach Hause!«</p> + +<p>Ein Beifallsgeheul ist die Antwort. Und auf die +Gäule stürzt sich der Schwall — im Nu sind die Scheuenden, +Schäumenden abgesträngt, der fluchende, peitschenschwingende +Kutscher entwaffnet und vom Bock gezerrt ...</p> + +<p>»Verrickt seid 'r! Alle mitenander seid 'r übergeschnappt! +Der Deifel soll Euch hol'n!«</p> + +<p>Und hundert Hände packen zu, langen nach der Deichsel, +den Zugscheiten, den Strängen — hundert Hände greifen +in die Speichen — hurra! Der Wagen rollt, rollt mit +seiner vielgeliebten Fracht ... Und allen voran als +Führer, den Hut auf dem Stock balancierend, den Stock +im Takt schwingend wie ein Tambourmajor schreitet einer, +der den Weg kennen muß: Franconiae gewesener Erster, +Erster, Erster <i lang="la">ad interim</i>!</p> + +<p>Und der Wagen rollt die Sophienstraße entlang, umdröhnt +vom Jauchzen schönheitstrunkener, größeberauschter +Jugend ... Rollt die Zeitzer Straße, den Peterssteinweg +hinab, der Altstadt zu ... Und immer zahlreicher wird +das Huldigungsgefolge hinter dem Triumphzug, den +Jugend der Jugend, der Schönheit, der Kunst bereitet, +immer betäubender schwillt der allgemeine Jubel:</p> + +<p>»Jucunda Buchner — hoch — hoch Jucunda — unsre +Jucunda!«</p> +</div> + +<div> +<h2>4.</h2> + +<p class="start-chapA">Als der Triumphwagen endlich in der Katharinenstraße +hielt, zog der alte Buchner den riesigen Hausschlüssel +aus der Tasche und stieg als erster aus. Ein hundertstimmiger +Jubel empfing ihn ...</p> + +<p>»Das ist der Vater — Jucundas Alter ist das — Papa +Buchner hoch! hoch!«</p> + +<p>Ein Dutzend Hände waren ihm behilflich, hoben ihn +über die Bordschwelle, ganz betäubt humpelte er durch die +Gasse, die sich vor seinen Schritten öffnete, fand die Tür +seines Hauses zu seiner Verwunderung bereits geöffnet +und schlüpfte hinein, wie erlöst, daß er dem Getös entronnen +...</p> + +<p>Und nun schob sich Mama Buchners massives Gestell +aus der Droschke.</p> + +<p>»Achtung, jetzt kommt Mamachen!« schrien kecke +Stimmen. »Platz für Mamachen!« Geblendet vom +grellen Licht der Gaslaterne, dicht neben dem finstern +Hauseingang, verwirrt vom Stimmengewirr, dem Glanz +blitzender Augen, dem Durcheinander winkender Hände, +flatternder Tücher verfehlte Mutter Doris mit unbehilflich +suchendem Fuß den Wagentritt und wäre gestürzt, hätte +nicht ein sehniger Arm sie gefaßt und ihre schwerfällige +Gestalt mit sicherem Griff aufs Trottoir, auf die Beine +gestellt. Und gleich darauf fühlte sie ihre Hand in diesen +sehnigen Arm hineingezogen, fühlte sich sicher und ritterlich +der Haustür zugeführt — sah dankbar zu ihrem Beschützer +empor und — sah in das verlegenheitglühende +Gesicht ihres Mieters ...</p> + +<p>»Gnädige Frau —« stammelte Pilgram.</p> + +<p>Gnädige Frau —?! Es war das erstemal, daß ihr +Student diese Anrede für die Frau Kanzleirätin fand ... +sie war direkt erschüttert ...</p> + +<p>»Herr Pilgram — nee heer'n Se, das is aber hibsch +von Ihn' ...«</p> + +<p>»Darf ich Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch zu +dem Riesenerfolge Ihres Fräulein Tochter — gnädige +Frau? und zugleich auch meine Bitte um Entschuldigung +wegen meines unqualifizierbaren Benehmens von vorgestern +morgen —«</p> + +<p>»Ach sei'n Se still, Herr Pilgram — scheen war's ja +grade nich ... Aber Sie haben's ja gut gemacht ... +Also woll'n mer uns wieder vertragen! Aber wo bleibt +denn 's Kind?«</p> + +<p>'s Kind war noch nicht abkömmlich. Sie mußte draußen +die Dutzende von Händen schütteln, die sich ihr entgegenstreckten +... Und dabei liefen ihr die hellen Tränen nervöser +Seligkeit über die Backen ...</p> + +<p>»Dank ... tausend, tausend Dank!« Das war das +einzige, was sie nur immer wieder stammeln konnte ...</p> + +<p>Und endlich fiel die Pforte denn doch ins Schloß, +während die begeisterte Jugend draußen weiter jubelte +und tobte. Kanzleirat Buchner wollte abschließen, aber +Valentin Pilgram kam ihm zuvor. Und dann entzündete +er ein Wachsstreichholz und geleitete Mama Doris mit der +Galanterie eines Oberhofmarschalls die knackenden +Treppen des altehrwürdigen Baues hinan, der einstmals +ein feierlich elegantes Patrizierhaus gewesen war ... +Der Kanzleirat und die Heldin des Abends folgten.</p> + +<p>Oben wollte sich Valentin verabschieden, um in seinem +Zimmer zu verschwinden, aber Jucunda rief:</p> + +<p>»Was? Sie wollen schon schlafen? Nee, gibt's nich! +Muttel, mach' Licht in der guten Stube! Wir schwatzen +noch eins! Und Du, Alter, rück' mal ein paar Pullen Gose +heraus! Ich hab' einen Pferd'sdurst!«</p> + +<p>Und sieh — nach wenigen Minuten war's hell und +mollig in der behaglichen Wohnstube, und während Mutter +Buchner drinnen Bemmchen schmierte und Papa Kanzleirat +Zigarren und Aschenbecher bereit stellte, sorglich aus +den dickbauchigen Goseflaschen das bernsteingelbe bitterliche +Naß in die hohen Stangengläser plätschern ließ, stand +Valentin Pilgram voll nie gefühlter Empfindungen am +Fenster, hinter Jucundas hoher Gestalt, die noch immer +hinaus auf die Straße winkte und Kußhände warf, +während von drunten, vom Straßendamm empor ohn' +Ermatten das Begeisterungsgebrüll der Burschen tönte, +die Taschentücher der Mädels flatterten ...</p> + +<p>»So, Kind,« sagte Mutter Doris endlich, »nu mache +schon Schluß, daß Du was zu essen und zu trinken kriegst ... +Bitte, Herr Pilgram, nehmen Sie Platz!«</p> + +<p>Valentin und Jucunda traten vom Fenster zurück. Jetzt +erst fand das Mädchen Zeit, den jungen Gesellen zu mustern.</p> + +<p>»Sie sind wohl einen halben Kopf größer als ich,« +sagte sie anerkennend.</p> + +<p>»Aber Sie — Sie sind ... etwas ganz Besonderes ... +eine ganz andre Sorte von Mensch als ... nu als wir gewöhnlichen +Leute, wir simplen Rechtskandidaten ... und +so was.«</p> + +<p>»Erlauben Sie mal — Sie sind doch auch was Besonderes +... Erster Chargierter des ältesten und angesehensten +Korps in Leipzig ...« Sie wies auf einen +Stuhl.</p> + +<p>»Gott — gnädiges Fräulein ... Wie können Sie so +was überhaupt ... das sind doch Kindereien, wenn man's +mit ... mit Ihrer Kunst vergleicht ...«</p> + +<p>O Valentin Pilgram — wer dir das gestern prophezeit +hätte ... daß du so zu einer Komödiantin sprechen +würdest ... daß die Heiligtümer deiner Seele so schnell +verbleichen würden ...</p> + +<p>»Na, nu nähmt mal gefälligst ä bißchen Platz, Kinder!« +rief der Kanzleirat ...</p> + +<p>Kinder —?! Es durchfuhr die beiden jungen Menschen +... ein seltsames, ahnungsvolles Gefühl ... Mit +einem Male war Jucunda Buchner nicht die glückverwöhnte, +reichbegnadete Künstlerin, sondern ein Backfisch +von achtzehn Jahren ... und Valentin Pilgram nicht der +Sohn des Senatspräsidenten am Dresdener Oberlandesgericht, +nicht der Erste Chargierte eines wohllöblichen +C. C. der Franconia, sondern ein Knabe von vierundzwanzig, +in all seiner senioralen Würde doch noch immer +ein junger, lebensunkundiger Novize des Daseins ...</p> + +<p>Zwei blutjunge Menschen ... zwei Kinder ... beide +gewachsen wie ein paar Tannen, beide jung, stark und +heiß ...</p> + +<p>»Kinder!« hatte der alte Mann gesagt ... Wie seltsam +das die Seele traf ...</p> + +<p>Beider Augen waren gesenkt, beider Stirnen glühten, +als sie sich setzten ...</p> + +<p>Man stieß mit den langschäftigen Gosengläsern an, +Jucunda tat einen tiefen, herzhaften Schluck und biß dann +nicht minder herzhaft in ihre Butterbemme.</p> + +<p>»Donnerkiel!« sagte sie, »das tut aasig gut ...«</p> + +<p>»Nu sagen Se, Herr Pilgram, wie sind Sie denn bloß +in's Theater gekommen? Ich hab' gedacht, Sie haben gar +nischt iebrig für die Kunst?« erkundigte sich Mama +Buchner.</p> + +<p>»Ja ... Frau Rätin,« sagte Valentin, »wie soll ich +Ihnen das erklären? Sie haben nämlich recht ... Ich +hab' wirklich nicht viel Sinn für die Kunst ... Ich — nu +ich war eben ... neugierig war ich — auf meine Budennachbarin +...«</p> + +<p>»Sehr schmeichelhaft!« lachte Jucunda und zündete sich +eine Zigarette an. »Na und — und was sagen Sie nu?«</p> + +<p>»Gar nischt sag' ich —« bekannte der Student. »Wissen +Sie ... zum Komplimente machen ... bin ich nicht maulgewandt +genug ... ich kann nur sagen: dies war der +schönste Tag meines Lebens.«</p> + +<p>»Hehe — da siehst es, Jucunda, was fier ä Kerle Du +bist!« schmunzelte der Kanzleirat.</p> + +<p>»Ach — das geht doch nicht auf mich!« wehrte Jucunda +ab. »Herr Pilgram ist eben von Schillers großer Dichtung +so ergriffen gewesen ...«</p> + +<p>»Ne, gnädiges Fräulein, das könnt' ich nu gerade nich +sagen,« erklärte Valentin. »Ich bin eben doch, wie mein +Korpsbruder Thumser sagt, ich bin doch ein Banause. +Schiller? Ich weeß nich ... es ist mir doch zu viel +Schmalz an der Brühe ... Wenn Sie nicht gewesen +wären, gnädiges Fräulein, ich glaube nicht, daß ich wäre +bis zum Ende dageblieben ...«</p> + +<p>»Schämen Sie sich!« zürnte das Mädchen.</p> + +<p>»Ja — 's tut mir selber leid, daß ich so wenig Verständnis +habe für die sogenannte Kunst ... Sehen Sie ... +ich stamme aus einer alten Juristen- und Beamtenfamilie +... bei uns zu Hause ist nie von was anderm +die Rede gewesen wie von Dienst und Vorgesetzten +und Karriere machen und Orden kriegen und Gesetzesnovellen +... und das Theaterspielen und Musikemachen +und Bilderklexen und Verseschmieren — nee, davon hat man +bei uns nie was wissen wollen. Aber was Arbeit und +Pflicht und Gehorsam ist und Gewissenhaftigkeit und Treue +... das ist mir eingepaukt worden von Kindesbeinen an +... und nicht nur mit der Moralpredigt, sondern mit dem +guten Beispiel, dem nachahmungswürdigen Vorbild ...«</p> + +<p>»Das is sähr scheen, wenn man das von sein' Elternhause +kann sagen —« meinte der Kanzleirat. »Prost, +Herr Pilgram — Ihre Herren Eltern sollen leben.«</p> + +<p>Andächtig tat Pilgram Bescheid. Aber Jucunda war +des trockenen Tones satt:</p> + +<p>»Erzählen Sie mir lieber von heut abend — erzählen +Sie mir, wie ich Ihnen gefallen habe! Sie können's ruhig +ein bißchen dicke machen ... Sie haben ja gar keine +Ahnung, wieviel Honig und Weihrauch unsereins vertragen +kann nach so einer gewonnenen Schlacht ...«</p> + +<p>»Aber Jucunda — so schäme Dich doch! Was soll +denn Herr Pilgram von Dir denken?«</p> + +<p>»Na — nichts als was wahr ist! Daß ich eine ganz +eitle, verwöhnte Komödiantin bin! Nicht wahr, Herr +Pilgram, so denken Sie doch! Nur heraus damit ...«</p> + +<p>»Gnädiges Fräulein, ich denke an nichts andres als an +den Augenblick, wo Sie zuerst herauskamen ... Wir +waren zu spät gekommen, aus dem S. C., wissen Sie? +da muß man aushalten — und als wir kamen, hatte +der erste Akt schon angefangen ... und ich langweilte mich +und dachte: na ja, Schiller ... und überlegte, was für +ein Aufsatzthema mein alter vermickerter Professor auf +Prima in Dresden wohl aus diesem ersten Akt herausgeschlagen +hätte: Würde Johanna d'Arc ihr Vaterland +auch errettet haben, wenn Karl der Siebente anstatt mit +den Engländern mit den Deutschen Krieg geführt hätte? +oder so ähnlich ... Und da — da kamen Sie — und +auf einmal wurde alles wahr und richtig und interessant +und ... na ja eben schön ... mit einem Wort ...«</p> + +<p>»Ich seh's kommen, daß se Dich noch ganz närr'sch +werden machen, Jucunda —« kicherte der Kanzleirat.</p> + +<p>»Ach ja ... macht mich nur ruhig närrisch, Kinder — +es ist ja so schön, gefeiert zu werden ... und begraben +zu werden unter Lorbeer und Rosen — und die Pferde +ausgespannt zu kriegen ... hören Sie, Herr Pilgram — +die Idee, die war wohl von Ihnen?«</p> + +<p>»Ehrlich gestanden, nein — so leid mir's tut — aber +den glorreichen Einfall, den hat mein Korpsbruder +Thumser gehabt ...«</p> + +<p>»Schade — sonst hätten Sie wahrhaft'gen Gott 'nen +Kuß gekriegt dafür —«</p> + +<p>Der Kanzleirat drohte der Tochter lächelnd mit dem +Finger.</p> + +<p>»Säh'n Se, Herr Pilgram, wie se Ihn' schon überschnappt?«</p> + +<p>Und er ließ frische Gosefluten in die Gläser <a id="InCorr3">kluckern</a>.</p> + +<p>Aber allmählich fielen dem alten, hageren Männchen, +das sein ganzes Leben in der muffigen, überhitzten Luft +der Königlichen Justizbureaus zugebracht hatte, die geröteten +Aeugelchen zu. Er verabschiedete sich und humpelte +ins Schlafzimmer.</p> + +<p>Auch Mutter Doris fiel allmählich ab.</p> + +<p>»Nu, Herr Pilgram, wie denken Sie über's Schlafengehen?«</p> + +<p>»Gibt's nich!« erklärte Jucunda. »Wenn Du müde +bist, Mamachen, kriech in Gottes Namen in die Posen ... +Ich bin noch nicht fällig, und Herr Pilgram wird mir Gesellschaft +leisten, bis meine Nerven ausgezappelt haben ...«</p> + +<p>Und die jungen Menschen waren allein. Es wurde +still, ganz still ringsum. Von der Katharinenstraße klang +ab und an noch das schläfrige Geklapper eines heimwärts +trottenden Droschkengauls ... Vom nahen Rathausturme +meldeten die Glocken mit hallenden Schlägen Viertelstunde +um Viertelstunde ... sonst nichts mehr. Leipzig schlief.</p> + +<p>»Erzählen Sie mir mehr von sich!« sagte Jucunda und +legte sich mit behaglichem Gähnen in die gestickten Schoner +des grünen Plüschsofas zurück. »Aber nicht so was Langweiliges +vom Korps und von Ihren Fechtereien und vom +Examen und so! Was Schönes ... was Interessantes!«</p> + +<p>»Ach, gnädiges Fräulein — ich bin ein schrecklich uninteressanter +Mensch ... ich schäme mich ordentlich, ich werde +ganz klein, wenn ich mein Leben mit Ihrem vergleiche.«</p> + +<p>»Na, aber Sie müssen doch irgend was Besonderes +erlebt haben ... Waren Sie denn nie verliebt? Haben +Sie nie ein Mädchen geküßt?« Sie zündete an dem Rest +ihrer Zigarette eine frische an, pustete eine dicke Rauchwolke +zu Valentin hinüber und schielte durch den Qualm +hindurch neckisch blinzelnd zu ihm hin.</p> + +<p>Valentin Pilgram wurde verlegen. »Hm ... ich weiß +nicht recht, was ich da antworten soll ... als Künstlerin +wissen Sie doch jedenfalls schon manches vom Leben ... +und wissen, was wir jungen Männer, Studenten und +so — wie soll ich mich nur ausdrücken?«</p> + +<p>»Na, daß Ihr gerade keine Tugendspiegel seid ... Euch +mit Kellnerinnen und ... so 'ner Sorte von Weibsbildern +herumtreibt ... Herr Pilgram, ich bin ein Leipziger +Kind, das alles ist mir nichts Neues. Aber — sowas +zählt doch hoffentlich nicht?«</p> + +<p>»Nein — Sie haben ganz recht ... es zählt nicht ... +Sehen Sie, man betrinkt sich ja auch zuweilen mal ganz +stumpfsinnig ... so ähnlich ist das ...«</p> + +<p>»Und — sonst? Sonst haben Sie noch gar nichts ... +erlebt? Niemals eine richtige ... eine Leidenschaft ... +ein Gefühl, daß Sie so richtig die Zügel aus der Hand +verloren haben? Daß es mit Ihnen durchgegangen ist +wie ein wildes Pferd, so zuck, zuck, hoppla, hopp, über +Stock und Stein, nur vorwärts, ins Weglose, ins Nichts — +nur vorwärts ... komme was wolle?!«</p> + +<p>Hingerissen hing Valentins Blick an den flackernden +Augen, dem zuckenden Munde des Mädchens. »Ach +nein ... gnädiges Fräulein ... so was hab' ich nie erlebt +... ich glaube auch, so was kann mir nie passieren ... +dazu sind wir Pilgrams viel zu korrekt ... viel zu gewissenhaft +...«</p> + +<p>»Schade —« sagte Jucunda. »Ich denke mir, das +müßte schön sein ...«</p> + +<p>»Das ... glaube ich auch ...« sagte Valentin langsam. +»Schön ... und schrecklich ...«</p> + +<p>»Wie wär's, wenn wir nun schlafen gingen? Ich +fange doch allmählich an, abzufallen ...«</p> + +<p>»Schade!« sagte nun der Student. Seine Augen überflogen +noch einmal die weiße Gestalt, die sich in so fester, +straffer Leiblichkeit abhob von dem verschlissenen Samt, +auf dem sie ruhte, beide Ellbogen nach vorn emporgewinkelt, +die Hände nach rücklings um die Lehne des +Sofas geklammert.</p> + +<p>»Gott, war das ein Tag!« sagte das Mädchen. »Ein +Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen! Aber +das Hübscheste daran war doch, daß ich Sie nun kenne, +Nachbar ... daß ich Sie Grobian doch ein bißchen gebändigt +habe ... nicht wahr? Und daß wir zwei nun +allein noch übrig sind von all dem Trubel und Trara ... +was? Ist das nicht nett? Aber Sie sagen ja gar nichts?«</p> + +<p>»Was ... soll ich sagen?« stotterte der Student. »Ich +... sehe Sie an ... und denke, daß morgen ... morgen +das alles vorbei ist ... daß Sie morgen wieder die allgefeierte +Jucunda Buchner sind ... und ich ... irgendein +simpler, gleichgültiger Rechtskandidat ... der Ihnen nichts +sein kann ... nichts für Sie tun ... Ihnen nichts bedeutet +als eben ein Stück Publikum ... einer von den +Tausenden, die Ihnen allabendlich zujubeln, ohne daß +Sie sie kennen, mehr für sie übrig haben als ein geschäftsmäßiges +Lächeln, wenn der Vorhang sich noch einmal +hebt ...«</p> + +<p>»Wer weiß!« sagte Jucunda mit einem gnädigen Blick. +»Vielleicht, daß ich doch einmal einen ... einen Ritter +brauchen kann ... dann will ich mich an diese Stunde +erinnern ... und Sie rufen ... Soll ich?«</p> + +<p>»Gnädiges Fräulein ...« sprach Valentin Pilgram +heiser ... »Das wäre mehr Gunst vom Schicksal, als +ich Mut habe zu hoffen ...«</p> + +<p>Sie reichte ihm die feste, warme Hand. Er küßte sie ... +ehrfurchtsvoll, als sei es einer Fürstin Hand ... und ging.</p> + +<p>Als er die Tür zu seinem Kämmerchen hinter sich geschlossen, +stand er einen Augenblick im tiefen Dunkel, +regungslos. Ihm war's, als drehe sich alles um ihn im +Wirbel. Und der reckenhafte Gesell, der zweiundzwanzigmal +dem Schläger und fünfmal dem Säbel Stirn und +Brust geboten, fühlte ein rätselhaftes Grauen vor etwas +Kommendem, dem er keine Deutung wußte ... das im +Dunkel hockte und ihn ansah mit den blauen, hellen, befehlenden +Augen, von denen er fühlte, daß er ihnen gehorsam +sein müßte, was immer sie ihm gebieten würden.</p> +</div> + +<div> +<h2>5.</h2> + +<p class="start-chapD">Die zwölf halben Liter Tucher, die Hans Thumser nach +dem Jucunda-Rummel auf der Kneipe noch in +seine ausgepichte Fuchsmajorskehle gepumpt, hatten die +Erregung der zappelnden Nerven untergekriegt und für +die nötige Bettschwere gesorgt — zum Anfang wenigstens. +Aber dennoch — als der Student plötzlich aus dumpfen, +wirbelnden Träumen in die Höhe fuhr, so daß der kaum +verheilte Schädel krachend gegen die Rückwand seines +Bettes bumste — da war es noch stockfinster, und wie er +ein Streichholz entzündete, wies die Uhr halb vier ...</p> + +<p>Und wieder Dunkelheit und Schweigen, und im Herzen +schwirrend und rumorend viel hundert Bilder, viel tausend +Farben und Klänge ...</p> + +<p>Wo soll es hin, das alles?! Was will's von dir, dies +tolle, glühende Leben?!</p> + +<p>Da horch ... ein seltsamer Laut ... ein zager, verzitternder +... von irgendwoher aus dem Dunkel ... und +wieder ... und wieder ... derselbe bang verschwebende +Klageton ...</p> + +<p>Weinen ... Weinen einer Frauenstimme — ganz leise, +mühsam unterdrückt ... von Tränen umschleiert ... +erschütternd ...</p> + +<p>Nun scheint's zu verstummen ... horch — kein Laut +mehr ... doch nein — nur heftiger jetzt die wimmernde +Klage ...</p> + +<p>Um Gott — das ist — da nebenan — das ist ... Asta +Thöny ...</p> + +<p>Tränen ... Tränen in Frauenaugen — entsetzlicher +Gedanke für einen Jüngling, einen tatensehnsüchtigen, +weltgläubigen — wer konnte glücklich sein, ach nur ruhig +sein, nur schlafen — wenn ein Mensch, ein Mädchen +weinen mußte?!</p> + +<p>Himmel — vielleicht ist sie krank geworden — Agnes +Sorel, die kätzchenweiche, mit dem süßen, rosigen Hals, den +dunklen, flirrenden Augensternen ... windet sich in +Schmerzen ... und niemand hört sie, niemand steht ihr +bei, denn sie ist nicht ein gehegtes, umsorgtes Haustöchterlein +wie Hansens Schwestern daheim — sie ist ganz +allein auf der Welt — einsam, schutzlos, hilflos ...</p> + +<p>Gott, wenn das doch enden wollte! Das ist ja nicht +zu ertragen, diese hilflose Klage ... Aber was kann +man tun?</p> + +<p>Sich melden — seinen Beistand anbieten ...</p> + +<p>Aber — könnte das nicht — mißverstanden werden? +Nachdem er nun einmal die dummen, zudringlichen Verse +hinübergeschickt? Und einen so wohlverdienten, ach, +eigentlich noch viel zu schmuck bebänderten Korb gekriegt?</p> + +<p>Aber — wenn sie nun wirklich leidend wäre — Hilfe +brauchte — gewiß, sie würde nicht böse werden ...</p> + +<p>Oder — wenn man Mutter Ach weckte — und ihr mitteilte, +das Fräulein scheine nicht wohl zu sein?</p> + +<p>Aber — wenn's nun gar nichts Ernstes wäre — +vielleicht nur eine Laune, eine kindische Gereiztheit — +was weiß ich — dann hätte man um nichts und wieder +nichts den schnarchenden Schlummer der ehrsamen Wittib +gestört ... und es gäbe gar noch eine Szene, nachts um +halb vier ...</p> + +<p><i lang="fr">Enfin</i> — was geht's mich an? Decke über die Ohren +und weiter dachsen!</p> + +<p>Ja, wenn das so ginge! Die Phantasie hebt an zu +spielen — dringt durch die Finsternis, die Tapetenwand +und malt in rosigen Farben das Bild des einsam weinenden +Kindes da drinnen ... und ach, das bange Schluchzen +dringt auch zum verbarrikadierten Ohr ...</p> + +<p>Mut! Es muß!</p> + +<p>»Gnädiges Fräulein —?« ganz leise, kaum geflüstert ...</p> + +<p>Das Weinen geht weiter, still und bitter ...</p> + +<p>»Gnädiges Fräulein —?«</p> + +<p>Auf einmal ist's still da drüben — Finsternis und +lastende Stille ringsum ...</p> + +<p>»Verzeihen Sie, mein gnädiges ... Fräulein ... ich +... hörte ... ich ängstige mich ... Sie möchten nicht +wohl sein ... Hilfe brauchen ... darum hab' ich mir die +Freiheit genommen ...«</p> + +<p>Noch immer alles still ... offenbar ist man böse ...</p> + +<p>»Gnädiges Fräulein ... ich ... ich will nicht weiter +beschwerlich fallen ... Sie wissen nun, daß jemand zur +Hand ist, wenn's not sein sollte ... Wenn Sie also nichts +weiter von sich hören lassen — dann — na dann darf +ich ja wohl annehmen, daß ... daß alles in Ordnung ist ... +und dann werd' ich also in Gottes Namen weiterschlafen!«</p> + +<p>Auf einmal ein Laut ... kein Weinen ... auch kein +Wort ... etwas andres ... etwas Silbern-Zwitscherndes +— ein ganz feines, ersticktes Kichern ...</p> + +<p>»Ach so —!« sagte der Student völlig beruhigt. »Na, +denn gut' Nacht, mein gnädiges Fräulein, und sei'n Sie +nicht böse!«</p> + +<p>Und krachend warf er sich auf die rechte Seite, fest entschlossen, +nun aber auch <i lang="la">a tempo</i> —</p> + +<p>Da horch! Noch einmal ein Lachen, nun aber hell, +übermütig — und dann die Stimme, die girrende, die +streichelnde der Agnes Sorel:</p> + +<p>»Aber bitte ... ich muß ja doch danken für die gute +Meinung! Aber sei'n Sie ganz ruhig — mir fehlt wirklich +nix — ich hab' nur so ein bissel für mich geweint — das +kann doch vorkommen — gelt?«</p> + +<p>»Na — wenn's weiter nichts ist ... ich hab' ja solch +einen Schrecken bekommen ...«</p> + +<p>»O — das tut mir leid — ich hab' Sie so friedlich — +na ja, so friedlich schnarchen gehört — da hab' ich gedacht: +den störst du nicht ... und da hab' ich halt ein bissel +geweint ... Nehmen Sie's nicht übel, es soll nicht wieder +passieren ...«</p> + +<p>»Aber bitte — von meinetwegen — ich weiß ja jetzt, +daß es nichts weiter zu bedeuten hat, wenn Sie einmal +nachts weinen — da werd' ich mich also künftig auch nicht +mehr drum aufregen ...«</p> + +<p>»Ach du lieber Gott — zu bedeuten hat's schon was ...«</p> + +<p>»Hm ... also doch?! — — Können Sie mir's nicht +sagen?«</p> + +<p>»Ach ... so durch die Tür hindurch ...«</p> + +<p>Jetzt fingen Hans Thumsers Hände denn doch ein +bißchen an zu zittern. Er suchte nach einer Antwort ... +fand keine ... Himmel! Meine unsterbliche Seele für +einen Einfall ...</p> + +<p>»Ja ... so durch die Tür ... das geht natürlich nicht +recht ...«</p> + +<p>Endlich ... das erlösende Wort: da ist's:</p> + +<p>»Aber ... wenn ich Ihnen ... morgen früh ... +einmal ... meine nachbarliche ... Aufwartung machen +dürfte ...«</p> + +<p>»Hm ... morgen früh?!« Es klang so gedehnt ... +so ... nach einem leisen Bedauern ... ach nein ... +das war ja doch ... da mußte Hans Thumser sich doch +wohl ... verhört haben ...</p> + +<p>»Morgen früh? Da hab ich ja Probe von zehn bis +zwei ... Da müssen Sie schon morgen nachmittag kommen +... zum Tee um fünf, wenn Sie mögen — gelt?«</p> + +<p>O Gott ... solch eine Einladung ... zum erstenmal +in diesem jungen Leben einem so schönen ... so ... verlockenden +... Mädchen gegenüber ... mit ihr allein ... +Gibt's denn so etwas?! Ist das denn möglich?!</p> + +<p>»Nu — Sie antworten ja gar nicht?« klang's ganz leise. +»Sind Sie am Ende gar — schon wieder eingeschlafen?«</p> + +<p>»Aber mein gnädiges Fräulein — wie können Sie +nur denken ...«</p> + +<p>»Also Sie kommen? Das ist schön. — Na, nu wollen +wir aber auch ... gut Nacht, Sie — Sie Füchschen Sie!«</p> + +<p>»Bitte — Fuchsmajor!« rief Hans Thumser fast laut +vor Selbstbewußtsein. »Also ... wenn's denn sein muß — +gut Nacht, Agnes Sorel!</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">Auch jenseits der Loire liegt noch ein Frankreich,<br /></span> +<span class="i0">Wir gehen in ein glücklicheres Land,<br /></span> +<span class="i0">Da lacht ein milder, nie bewölkter Himmel,<br /></span> +<span class="i0">Und schöner blüht das Leben und die Liebe!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Ja! Wenn man so ein phänomenales Versgedächtnis +hat! Und seinen Schiller <i lang="la">intus</i>!</p> + +<p>»Donnerwetter — allerhand Achtung!« kicherte es von +drinnen. »Da möchte man ja wahrhaftig — aber nein — +jetzt wird geschlafen — gut Nacht, Herr Fuchs<em class="gesperrt-in">major</em>!«</p> + +<p>Tiefe Stille ... Dunkelheit ... und zitternde Sehnsucht +... zitternde Hoffnung ...</p> + +<p>Hans Thumser fand keinen Schlaf. Zu toll rumorte +die Jugendbangigkeit in seinen Gliedern ...</p> + +<p>Er lauschte, ob er wohl noch einen Laut vernähme +von da drüben ... aus der Märchenwelt der Träume ... +aber alles blieb stumm ... und endlich vernahm er durch +den lastenden Frieden der Nacht geruhig schwellende, +leise Atemzüge ...</p> + +<p>Sie schlief ...</p> + +<p>Da streckte sich auch Hans Thumser mit einem langen +Seufzer ... und versank.</p> +</div> + +<div> +<h2>6.</h2> + +<p class="start-chapW">Valentin Pilgram war erst spät aufgestanden. In +wüstem Halbschlaf, von tollen Träumen gequält, hatte +er die Nacht verbracht. Nun saß er über seinem Drogenwelt-Geruch +und knuffte die vier Klassen der Gradualerbfolge +der Novelle 118 in den schmerzenden Schädel +hinein.</p> + +<p>Da klopfte es heftig an die Tür seiner Bude, und im +selben Augenblick, noch eh er: herein! hatte rufen können, +schoß auch schon die Frau Kanzleirätin herein, im geblümten +Morgenrock, dessen Schleppe hinter ihr drein +waberte, in schleifenbesetztem Häubchen, unter dem die +grauen Strähnen des ungeordneten Haares hervorlugten:</p> + +<p>»Ach herrjeses, Herr Pilgram, Herr Pilgram, kommen +Se doch nur mal schnell — 's Kind hat ja en Weinkrampf +— ach es is gräßlich! Kennten Se nich gehn und +en Doktor holen? Ich hab ja keen' Menschen nich im +Hause ...«</p> + +<p>Valentin schoß in die Höhe. »Einen Weinkrampf? Um +Gottes willen, was ist denn passiert?«</p> + +<p>Ȁ Rosenbukett is gekommen, groß wie ä Turm ... +un dabei ä Brief, ne, so was von einer Unverschämtheit is +überhaupt noch gar nich dagewäsen ...«</p> + +<p>»Ist sie denn ohnmächtig? Kann ich vielleicht helfen? +Darf ich zu ihr hinein?«</p> + +<p>»I du mein Himmel, Herr Pilgram, se is noch im Neglischee +... na aber, ä Kinstlerin — ä Kinstlerin sieht ja +schließlich ooch im Neglischee ganz anständ'g aus ... kommen +Se nur, Herr Pilgram, helfen Se!«</p> + +<p>Aus der geöffneten Tür kam ein warmer Strom von +Rosenduft ... und Rosen überall, ein Rosenschwall, ein +Rosenwald ... betäubend duftende, schon leise welkende +Rosen ... dazwischen die eigentlichen Blumen der +Saison: Dahlien, Astern, Erika ... und inmitten, auf eine +Chaiselongue hingeworfen, in leidenschaftlichem Schluchzen +— sie ...</p> + +<p>Ein riesiges Arrangement von Rosen und Chrysanthemen, +in Manneshöhe, lag umgestürzt auf dem Boden — +daneben ein aufgerissenes Kuvert mit aufgeprägtem Wappen, +ein zerknitterter Bogen schweren Elfenbeinbriefpapieres, +und — — zwei Hundertmarkscheine ...</p> + +<p>Auf dem Tisch aufgereiht die Karten der Spender der +übrigen Blumenherrlichkeiten — Jucunda war offenbar +eben beschäftigt gewesen, den Gebern zu danken, prompt +und akkurat, wie es zu den geschäftlichen Pflichten einer +vielgefeierten Künstlerin gehört ... da war <em class="gesperrt">das da</em> gekommen ...</p> + +<p>Frau Buchner hob das Briefchen auf, glättete es und +hielt es Pilgram hin. »Da läsen Se's — und sagen Se, +ob so was meeglich is — so eene Gemeinheit —!«</p> + +<p>Jucunda hatte sich beim Klang der Stimme ihrer +Mutter aufgerichtet ... nun tupfte sie rasch mit dem +nassen Tüchlein die Tränen von den glühenden Augen, +ordnete das wirre Haar und verfolgte mit gierigen Blicken +Valentins Gesichtsausdruck, während er das Briefchen +durchflog ...</p> + +<p>Valentin Pilgram las ... und eine dunkle Zornesflamme +schlug über sein feierliches Gesicht.</p> + +<p>»Halunken!« knurrte er.</p> + +<p>Er las weiter — nun wendete er das Blatt und sah +nach der Unterschrift ... und plötzlich wurden seine Züge +ganz starr, und seine Hände ballten sich zur Faust. Dann +las er zu Ende ... ließ das Blatt sinken und starrte die +Schauspielerin an mit Augen, in denen Schreck, fassungs- +und ratlose Bestürzung stand.</p> + +<p>»Sie ... kennen, scheint's, die Herren —?« fragte die +Kanzleirätin.</p> + +<p>»Es scheint, fast — ja ... entsetzlich fatal ...«</p> + +<p>»Am Ende gar — Korpsbrüder von Ihnen —?«</p> + +<p>»Hm — wenn's richtige Korpsbrüder von mir wären +— denen wollt ich die Flötentöne schon beibringen!! — +aber so ...«</p> + +<p>»Aber — Sie kennen die Absender?«</p> + +<p>»Ich ... fürchte ... ich kenn' sie ... von Dillingen ... +von Gorczynski ...« Und mit heftig stammelnden Worten +erklärte er den Damen, wer es sei, den er hinter diesen +Namen vermuten müsse ... und in wie naher Beziehung +diese Herren zu seinem Korps, zu ihm selbst standen ...</p> + +<p>»Da sehen Sie's!« sagte Jucunda. »Ein Erbprinz! Ein +Fürst! das muß man eben einstecken ... nicht mal verklagen +kann man so 'n großes Tier — sonst engagiert +einen kein Hoftheater mehr ... ganz wehrlos und schutzlos +ist man ...«</p> + +<p>Und wiederum flossen die Tränen über das weiße, +herrische Gesicht ... und auch die Mutter, vom herzbrechenden +Weinen der Tochter angesteckt, schluchzte nun +los. Um die Wette weinten die Frauen.</p> + +<p>Es arbeitete heftig in Valentin Pilgrams festem, +offenem Gesicht.</p> + +<p>»Nein,« sagte er plötzlich hart und stand mit einem +Ruck auf. »Schutzlos? Das sind Sie nicht. Guten Morgen, +meine Damen.«</p> + +<p>»Wohin, Herr Pilgram? Was haben Sie denn? Was +ist Ihnen?« rief Jucunda und hielt den Studenten am +Aermel seines Bratenrockes fest.</p> + +<p>»Ich werde Ihnen Genugtuung verschaffen!«</p> + +<p>»Sie — mir? Nein, Herr Pilgram, das ... das geht +nicht ... Sie werden ja die entsetzlichsten Unannehmlichkeiten +haben ... werden sich womöglich gar um meinetwillen +— nein, das will ich nicht — das sollen Sie nicht, +Herr Pilgram!«</p> + +<p>»Nee, nee, Herr Pilgram!« sprudelte auch die Frau +Kanzleirätin, »das dürfen Se nich machen! Das kenn' wir +ja gar nich von Ihn' verlangen! Das dürfen wir ja gar +nich von Ihn' annähm'!«</p> + +<p>»Seien Sie ohne Sorge meinetwegen!« sagte Valentin +und reckte sich zu seiner ganzen Länge. »Ich bin Manns +genug, so eine Affäre standesgemäß zu erledigen.«</p> + +<p>»Nein, Herr Pilgram, das dulde ich unter keinen +Umständen! Wie kämen Sie denn dazu, sich für mich ... +ich bitte Sie, was gehe ich Sie denn überhaupt an?«</p> + +<p>Da sah der Student das schöne Mädchen mit einem +Blick an, vor dem sie die Augen niederschlagen mußte in +Schreck und stolzem Machtgefühl zugleich. Gott, war das +entsetzlich ... war das berauschend schön ... was sie da so +jäh, so unerwartet erlebte ...</p> + +<p>»Erinnern sie sich noch an ... gestern abend?« sagte der +Jüngling. »Was Sie mir da versprochen haben?«</p> + +<p>»Ach ... das war so leichtsinnig daher geredet ...«</p> + +<p>»Von <em class="gesperrt">mir</em> nicht!«</p> + +<p>Ach ... wie süß das war ... dies Bewußtsein, daß +ein Starker, ein Kühner sich einsetzt für dich ...</p> + +<p>Aber nein ... das durfte nicht sein ... mit Blitzesschnelle +flogen die Bilder von hundert schrecklichen Möglichkeiten +an ihrem Geiste vorbei. Er war doch wohl +Jurist — seine Karriere würde er sich ruinieren — sein +Examen zunächst ... und wer weiß — zwar Prinzen — +die schlugen sich ja wohl nicht — aber der Major ... ein +Offizier ... ein Duell ... Himmel, und der junge Mensch +hatte ja doch Eltern daheim ... und schließlich — auch +sie selber konnte eigentlich keinen Skandal gebrauchen ... +was wohl Franz Burg dazu sagen würde ... und ihr +gnädiger, gütiger Herr daheim in Meiningen ...</p> + +<p>»Herr Pilgram — das darf nicht sein! Ich bitte Sie, +wenn Sie wüßten, wie oft unsereine so etwas erleben +muß — wenn man da jedesmal Krach machen wollte! Die +Herren haben's ja wahrscheinlich gar nicht so schlimm +gemeint — haben sich wohl gar nichts dabei gedacht —«</p> + +<p>»Sie haben ... weinen müssen ...« sagte Valentin +Pilgram durch die Zähne ... »das sollen sie mir bezahlen +... die zwei.«</p> + +<p>Und mit sanftem Druck machte er die große, schlanke +Hand los, die seinen Rockärmel noch immer gefaßt hielt, +küßte sie ehrerbietig und ging zur Tür.</p> + +<p>»Ach — die dummen Tränen —« rief Jucunda — +»das macht nichts, die sitzen einem Mädchen ja so lose ... +sehen Sie, ich lache ja schon wieder ... ich lache ja doch —«</p> + +<p>Und sieh: da liefen ihr wirklich aufs neue die heißen, +hellen Tropfen über die glühenden Backen ... sie schluchzte +wie ein Kind:</p> + +<p>»Ich will aber doch nicht — Sie sollen nicht, Herr +Pilgram —!«</p> + +<p>Der war schon aus der Tür, schritt in seine Bude hinüber, +riß die neuste grüne Mütze vom Nagel und stülpte +sie auf den Schädel. Nahm sein silberbeschlagenes spanisches +Rohr und ging zum Flur ... klinkte mit hartem +Ruck die Pforte auf und stieg mit hallenden Tritten +die Treppen hinab. Aus der steinumschnörkelten Pforte +des altersgeschwärzten Barockhauses trat er auf die belebte +Katharinenstraße, ging den Markt hinunter am +Ladengewimmel des Rathausparterres vorbei und stolzierte +grimmigen Schrittes die Grimm'sche hinab.</p> + +<p>Und dabei sann er, was zu tun. Also jetzt werde ich +die beiden Burschen ankontrahieren müssen — nicht auf +Pistolen, bah! Vor die Klinge sollen sie mir, vor die +krumme! Freilich, der Prinz wird sich wohl hinter seine +Hausgesetze verkriechen und mir einen Ersatzmann präsentieren +... aber der Major, dieser aalglatte Streber — +der muß 'ran! Hat ja auch wohl jedenfalls den saubern +Wisch verfaßt — denn des Prinzen kindliche Pfote war +das nicht, die kenn' ich doch! Na, und dann wollen wir +dem mal zeigen, was 'ne Prim ist!</p> + +<p>Hm ... aber ... wie stellt sich das Korps dazu? Der +Prinz ist Konkneipant unseres Bundes, trägt offiziell seine +Farben ... also ... ich werde austreten müssen ... +und nicht nur <i lang="la">pro forma</i>, denn sie können mir ... nach +dem Skandal können sie mir niemals das Band zurückgeben +...</p> + +<p>Teufel auch, da hab' ich mir ja eine schöne Suppe eingerührt +...</p> + +<p>Aber was kann das helfen ... Ritterpflicht ist Ritterpflicht +... kein Mädchen, und wär's zehnmal eine Komödiantin +— keine soll klagen, daß ihre Ehre schutzlos sei, solange +Valentin Pilgram noch eine Klinge führen kann ... +Hatte er sich nicht ihrem Dienste gelobt — gestern abend? +Und wie rasch war das nun gekommen, daß dies Gelöbnis +ihn zu Taten rief!</p> + +<p>Geld hatte man ihr zu bieten gewagt ... ihr, die ganz +Deutschland vergötterte ... ihr, die vor seinen Augen dastand +in so stolzer Reinheit, wie eine Heilige ... die hatte +man kaufen wollen wie eine ... wie eine aus den dunklen +Gäßchen der Stadt, durch die am hellsten Tage niemand +gehen mochte —?! Das forderte Blut — nur mit +Blut war das zu sühnen —!</p> + +<p>Aber ... du selber, Valentin Pilgram —?</p> + +<p>Hm ... ist das nun nicht eigentlich doch ein Narrenstreich? +Hat sie nicht doch recht gehabt, als sie sagte: was +geh' ich Sie an —?!</p> + +<p>O Valentin Pilgram, Rechtskandidat im achten Semester +— greif' in deine Brust und frage dich: geht sie +dich an — diese — diese da?!</p> + +<p>Ja — wenn eine in der Welt, dann geht diese da dich +an ... denn, Valentin Pilgram, so närrisch das auch klingen +mag ... Du bist ... diesem Mädchen bist du verfallen +seit dem Augenblick, als sie durch die Gasse des +jauchzenden Volkes vor Karl den Siebenten trat ... und +zugleich in dein Leben, Valentin Pilgram, schicksalsgewaltig +... für immer — für alle deine Tage —!</p> + +<p>Nun lag vor dem Schreitenden, herbstsonnenübergoldet, +der Augustusplatz: zur Rechten flimmerten die +Wasser des Mendebrunnens, reckte sich die finsterblinkende +Front des Museums; zur Linken stieg in heiterer Anmut +der köstliche Bau des Neuen Theaters ins duftige Blau. +Dorthin strebte Franconias Senior, denn er wußte zu +dieser Stunde das Korps im Restaurant auf der Theaterterrasse +zum Frühschoppen versammelt. Vor ihm wanderte +noch eine andere grüne Mütze: Pilgram ließ den Frankenpfiff +schallen: da fuhr der Kopf unter der grünen Fuchsmütze +herum:</p> + +<p>»Ah ... Pilgram —«</p> + +<p>Ehrerbietig zog das blonde Füchschen vor dem gestrengen +Ersten den Deckel und sprang heran.</p> + +<p>»Also, Hartwig, geh' zum Frühschoppen und sage dem +Fuchsmajor, er möge sofort die Korpsburschen zum außerordentlichen +Korpskonvent zusammenbitten! Ich erwarte +die Herren im Flügelzimmer des Restaurants — verstanden?«</p> + +<p>»Gewiß, gewiß, Pilgram — ich laufe ...«</p> + +<p>Und vom muntern Frühtrunk weg, von der sonnüberglühten +Terrasse, wo bei rauschender Musik die Korps ihren +offiziellen Frühschoppen hielten inmitten neugierig beobachtender +Fremden, verschwand ein wohllöblicher C. C. +der Franconia unter dem Rundbogen, der zum inneren +Lokal führte, und versammelte sich in einem kühlen, abseitigen +Gastzimmer zum Konvent — gespannt, was diese +unerwartete Ladung zu bedeuten haben möge.</p> + +<p>Die Franken waren's gewohnt, daß ein Ausdruck beklemmender +Feierlichkeit sich über das hagere Gesicht ihres +Ersten legte, wenn er den Korpskonvent eröffnete: aber +so ... so unheimlich offiziell hatten sie ihn doch noch niemals +gesehen.</p> + +<p>»Ich habe dem C. C. von einer persönlichen Angelegenheit +Mitteilung zu machen, die — zu meinem +größten Bedauern — mich in einen Widerspruch mit den +Interessen des Korps bringt. Unser Konkneipant, Seine +Durchlaucht der Erbprinz, und dessen Begleiter Major +v. Gorczynski haben sich einer schweren Beleidigung gegen +eine Dame schuldig gemacht. Diese Dame ... diese Dame +steht unter meinem Schutze ... und deshalb sehe ich mich +genötigt, diesen Herren eine schwere Forderung zu übersenden. +Ich kann natürlich nicht erwarten, daß das Korps +den Erbprinzen zur Verantwortung zieht ... und deshalb +bleibt mir nichts übrig, als den C. C. zu bitten, mir die +Entlassung ohne Farben zu gewähren, damit ich den +Ehrenhandel mit einem Herrn, der offiziell zu den Angehörigen +des Korps zählt, zum Austrag bringen kann. +Wünscht jemand zu meinem Antrage das Wort?«</p> + +<p>In stummer Verblüffung hatten die jungen Herren den +Vortrag ihres Häuptlings angehört — angesteckt von +seiner Erregung, seinem fiebernden Ernst. Nun baten fast +sämtliche Korpsburschen ums Wort und verlangten nähere +Erklärungen. Man fragte, wie es möglich sein könne, +daß der junge Prinz mit einer Dame, welche der nächsten +Verwandtschaft ihres Korpsbruders angehörte — denn +nur um eine solche Dame konnte es sich doch handeln — +überhaupt in Berührung gekommen sein könne?</p> + +<p>»Die Dame, für die ich einzutreten habe, ist keine Verwandte +von mir ... es handelt sich um ein junges Mädchen, +das außer seinem Vater, einem älteren, gebrechlichen +Herrn, keinen männlichen Schutz zur Seite hat — und für +das einzutreten mir deshalb als die Pflicht eines Ehrenmannes +erscheint, zumal diese junge Dame zugleich eine +berühmte und gefeierte Künstlerin ist ... es handelt sich +um die herzoglich meiningische Hofschauspielerin Jucunda +Buchner.«</p> + +<p>Ein unwillkürlicher Laut des Staunens, der tiefsten +Ueberraschung entfuhr jedem der jungen Herren. Keiner +konnte sich den Zusammenhang erklären ... wußte doch +außer Hans Thumser noch nicht ein einziger von ihnen, +daß ihr Erster, der notorische Verächter alles dessen, was +Kunst und Künstler hieß, überhaupt gestern abend bei den +»Meiningern« gewesen war ...</p> + +<p>»Ich bitt' ums Wort!« rief Ivo Volkner, der temperamentvolle +Rheinländer, und als der Erste dem Konvent +Silentium für Volkner anbefohlen: »Ja, lieber Pilgram +— ohne uns in Deine persönlichen Angelegenheiten +hineinmischen zu wollen — aber Deine Erklärungen sind +doch für uns alle dermaßen — überraschend, daß wir doch +wohl um etwas genauere Auskunft bitten müssen ... was +ist der ... jungen Dame ... denn eigentlich passiert ... +und wie kommst Du — gerade Du dazu, Dich zu ihrem +Ritter aufzuwerfen?«</p> + +<p>»Ich will ... zuerst diese letzte Frage beantworten. +Oder vielmehr nicht beantworten. Liebe Korpsbrüder, +Ihr kennt mich und wißt: ich weiß im allgemeinen, was +ich tue ... Und wenn ich Euch sage, das, was ich zu tun +vorhabe, das muß sein — na, dann darf ich vielleicht von +Euch erwarten, daß Ihr mir das glaubt. Hab' ich recht?«</p> + +<p>Allgemeines Gemurmel der Zustimmung.</p> + +<p>»Also noch einmal: ich halte mich für verpflichtet, für +die Dame einzutreten ... und bitte den C. C. ... von einer +näheren Darlegung meiner Motive ... Abstand zu +nehmen.«</p> + +<p>Volkner bat ums Wort und fragte:</p> + +<p>»Ohne weiter in Dich dringen zu wollen, Pilgram: wir +hören doch alle in diesem Augenblick zum ersten Male, +daß Du die Dame überhaupt kennst. Sollten wir dann +nicht wenigstens erfahren, wann und ... unter welchen +Umständen Du ... ihr denn eigentlich dermaßen nähergetreten +bist, daß Du — hm! daß Du nun dermaßen für +sie in die Verlängerung springen willst?«</p> + +<p>»Das kann ich Euch mitteilen ... aber zur Erklärung +meiner ... meines Entschlusses wird's Euch wenig +nützen ... ich muß da schon an ... an Euer korpsbrüderliches +Vertrauen appellieren ... ich kenne Fräulein Buchner +erst seit gestern abend ... sie ist die einzige Tochter +des Kanzleirats Buchner ... bei dem ich zur Miete wohne.«</p> + +<p>»Also sozusagen — <i lang="la">filia hospitalis</i>!« sagte Volkner, +und ein kurzes, verständnisvolles Schmunzeln ging über +die erregten Gesichter der Korpsbrüder.</p> + +<p>»Nun, ich denke, ich habe Euch zu diesem Punkte mitgeteilt, +was ... was sich irgend mitteilen läßt. Und zweitens — was +wolltest Du ferner noch wissen, Volkner?«</p> + +<p>»Ja — was denn der Erbprinz eigentlich gemacht +hat ...«</p> + +<p>»Er hat sie durch seinen Begleiter zum Souper einladen +lassen — na, das möchte ja allenfalls gehen ... aber er +hat dieser Einladung dadurch einen nicht mißzuverstehenden +Charakter gegeben — daß er ... daß er zwei Hundertmarkscheine +beigefügt hat ...«</p> + +<p>Das Lächeln, das bei Erwähnung der Soupereinladung +um die Lippen der jungen Herren aufgezuckt hatte, erlosch +... Rufe wurden laut:</p> + +<p>»Geschmacklosigkeit!«</p> + +<p>»Donnerwetter, der geht aber aufs Ganze!«</p> + +<p>»Na ja — ein Förscht — der denkt eben, er braucht +bloß auf'n Knopp zu drücken ...«</p> + +<p>»Ich denke, liebe Korpsbrüder, Ihr seht ein, daß eine +solche infame Beleidigung — einem anständigen Mädchen +gegenüber — Fräulein Buchner <em class="gesperrt">ist</em> ein anständiges Mädchen, +und wenn sie zehnmal eine Komödiantin ist — was +sagst Du, Thumser? Du kennst sie ja auch?«</p> + +<p>Hans Thumser hatte mit einem wahren Toben der Gefühle +die Verhandlung verfolgt, ohne selbst das Wort zu +nehmen. Mein Gott, wie war aus dem strahlenden Spiel +von gestern so rasch ein grotesker, tragikomisch grinsender +Ernst geworden! Und was war doch dieser offizielle, +banausische Pilgram für ein Prachtkerl, daß er sich für +ein jählings erwachtes Gefühl gleich so ganz und rückhaltlos +in die Schanze warf!</p> + +<p>Ach, und du, Hans Thumser? was soll denn heut nachmittag +werden? Mit was für Träumen, was für Begehrnissen, +Hans Thumser, trägst du dich?!</p> + +<p>»Ein anständiges Mädchen?« rief er zur Antwort auf +die Frage des Ersten. »Eine Königin ist sie ... eine +Göttin ... Pilgram, ich beneide Dich um das Glück, für +sie vom Leder ziehen zu dürfen!«</p> + +<p>»So überschwenglich brauchen wir das gar nicht mal +auszudrücken,« sagte der Erste. »Aber ein anständiges +Mädchen ist sie ... und da ich nun mal zufällig das Pech +oder ... das Glück habe, mit ihr unter einem Dache zu +wohnen ... und der erste honorige Mensch zu sein, dem +sie sich anvertraut hat ... so bleibt ja wohl nichts andres +übrig, als die Konsequenzen zu ziehen ...«</p> + +<p>Bei diesen so nüchtern klingenden Worten schwoll's in all +den jungen Burschenherzen. Es war der romantische Glanz, +der diese Tat ihres Korpsbruders, ihres Führers, umwob, +der ihnen allen Sinne und Urteil blendete. Wenn auch +der Idealismus, den das Gymnasium in ihnen erzogen, +durch die Formen blasierten, kaltschnäuzigen Lebemannstums +verdeckt, ja stellenweise überwuchert sein mochte — +noch lebte in ihnen allen etwas von dem Adelsgeiste, +unter dessen Herrschaft ihre ganze Jugend, die Formung +ihrer Seelen gestanden ... Wohl stieg in manchem von +ihnen das Gefühl auf, als hätte sich doch am Ende ein +Kompromiß finden lassen ... noch bedächtigere Seelen +bedachten gar insgeheim, daß eine solche Katastrophe, auch +wenn Pilgram vorher offiziell aus dem Korps ausschiede, +doch nicht ohne Folgen für die Beziehungen des Korps +zu dem Erbprinzen und damit vielleicht überhaupt zu den +deutschen Fürstensöhnen bleiben könne ... In weiter +Ferne dämmerte gar hie und da etwas wie der Gedanke +an verpfuschte Karriere, verspielte Zukunftsaussichten ... +aber:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Wer die Folgen ängstlich zuvor erwägt,<br /></span> +<span class="i0">Der beugt sich, wo man die Tiefquart schlägt —<br /></span> +<span class="i0">Frei ist der Bursch!«<br /></span> +</div></div> + +<p>— das galt auch heute noch, das galt, das sang man nicht +nur, so handelte man auch — hol's der Teufel!</p> + +<p>Einstimmig ging Pilgrams Antrag durch, ihm die +ehrenvolle Entlassung ohne Band zu erteilen ... Aber +durch jedes Herz ging's wie ein schriller Riß, als nun +Valentin Pilgram stumm das grün-gold-rote Band von +der Brust zog, es stumm auf die Mütze legte, die auf dem +Tische lag, sich mit schweigendem Händedruck von den ... +ehemaligen Korpsbrüdern verabschiedete ... und, mit +einem Handwink im Kreise, an ihnen vorüberschritt ...</p> + +<p>Er ging durch den Schenkraum des Theaterrestaurants, +schritt barhaupt quer über den Augustusplatz, kaufte sich +in der Passage für seinen letzten Taler (Gott sei Dank, +morgen ist der Erste!) einen einigermaßen schäbigen Filzhut +und kehrte dann zur Theaterterrasse zurück. Grüßend +schritt er am Frankentisch vorbei, wo die harrenden Füchse +in stummer Verwunderung ihre Mützen zogen, lüftete +flüchtig den Hut zu den Tischen der übrigen Korps und +trat auf den Neo-Borussentisch zu, an dessen Spitze der +Erste, Herr Borgmann, mit dem gewohnten süffisanten +Lächeln präsidierte.</p> + +<p>»Herr Borgmann — kann ich Sie einen Moment +sprechen?«</p> + +<p>»Mit dem größten Vergnügen, Herr Pilgram ...«</p> + +<p>Die beiden jungen Herren traten abseits an den Rand +der Terrasse, von der der Blick hinschweifte zum +zitternden Spiegel des Schwanenteiches, auf das braune, +rieselnde Laub der Anlagen auf dem alten Umwallungsgebiet.</p> + +<p>»Zunächst gestatte ich mir, Ihnen anzuzeigen, daß ich +aus dem Korps Franconia ausgeschieden bin ...«</p> + +<p>»Herr Pilgram —!«</p> + +<p>»Sie werden den Grund sogleich erraten: Ich bitte +einen wohllöblichen C. C. der Neo-Borussia um Waffenschutz +und zugleich Sie persönlich um die große Liebenswürdigkeit, +Seiner Durchlaucht dem Erbprinzen von Nassau-Dillingen +und Herrn Major von Gorczynski je eine +Forderung auf schwere Säbel ohne Binden und Bandagen +auf fünfundzwanzig Minuten bis zur Abfuhr zu überbringen.«</p> + +<p class="start-chapI space-above">In ratloser Verblüffung waren Mutter und Tochter +zurückgeblieben, als ihr Student sich so unerwartet und +kategorisch zu Jucundas Ritter aufgeworfen. Nun sie +allein waren, wich die erste Rührung und Ergriffenheit +bald einem kaltblütigen Erwägen.</p> + +<p>»Das gibt weeß Knebbchen än richt'gen Schkandal!« +platzte Mutter Doris heraus. »Gucke, das hast Du nu +davon, daß Du Dich so hast vergessen kenn'! Schließlich — +so gefährlich war doch am Ende die ganze Geschichte nu +nich! Man hätte den Herrn ihr Geld einfach sollen wiederschicken +— mit Abzug von's Porto nadierlich — un den +Korb zum Gärtner zurück, un all's war in Ordnung! +Statt dem wird der nun hingehn und wird'n fordern, +den Erbprinz, un der Krach is fertig! Un schließlich, was +wer'n die Leite sagen? Die Buchner hat's mit ä Studenten, +wer'n se sagen!«</p> + +<p>Eine Flut von wirren Gedanken wirbelte durch +Jucundas Hirn. Da war so unendlich Vieles, was beglückte, +erregte, schmeichelte, stachelte, berauschte! Welch eine +Macht ging von ihr aus — trieb den langen Jungen, einen +Sohn aus gutem Hause, den Ersten Chargierten des +ältesten und angesehensten Korps in Leipzig — sie war +ihren Kindheitserinnerungen noch nahe genug, fühlte sich +noch immer als Tochter eines Hauses, das jahraus, jahrein +nur Korpsstudenten beherbergte — wußte das als eine +Ehre zu schätzen ... ihn trieb sie in tolle, aberwitzige +Abenteuer, diese unheimliche Macht, die von ihr ausging +... Achtzehn Jahre, und schon der Mittelpunkt von +Tragödien und Katastrophen ...</p> + +<p>Aber da war noch eine andere Stimme: die Stimme +der kalt rechnenden Vernunft, die Stimme der kleinbürgerlichen +Gerissenheit, die das früh gewitzigte Töchterchen +einer engbegrenzten Spießerwelt auf ihrem Anstieg +in lichte Höhen des Daseins bisher so sicher geleitet hatte: +die warnte vor dem Skandal ... mahnte zur Ruhe, zur +Vorsicht ...</p> + +<p>»Wenn ich nur wüßte, was Hoheit in Meiningen zu +so einer Geschichte sagen würde ...«</p> + +<p>»Nu, ich glaub' nich, daß der gnädigste Herr sähre +entzickt mechte sinn, wenn's Geschichten gibt wegen en +Prinzen aus fürstlichem Hause ...« meinte die Mutter.</p> + +<p>Jucunda sann, an wen sie sich wohl um Rat wenden +könnte. Franz Burg! schoß es ihr durch den Sinn. Der +wackere, selbstlose Freund und Förderer hätte es wohl +verdient, daß sie sich überhaupt zuerst an ihn gewandt +hätte ... Und das hätte sie ja auch sicherlich getan, wenn +nicht ihre Nerven, noch nachzitternd von den gestrigen +Fiebern, ihr den Streich mit dem Weinkrampf gespielt +hätten ... ja, und da war's eben alles so von selbst gekommen, +das Andre, das Unwahrscheinliche, das süß +Berauschende und Erschreckende ...</p> + +<p>Mutter Doris war natürlich sehr einverstanden ... +Und alsbald war Jucunda auf dem Wege zu Franz Burg +... wie sie immer zu Franz Burg gegangen war, wenn +sie nicht mehr aus noch ein wußte ... es gingen sehr viele +Menschen zu Franz Burg, wenn sie nicht mehr aus noch +ein wußten ...</p> + +<p>Ach, wie ging sie gern zu Franz Burg! Erstens war +es ein behagliches Bewußtsein, daß er verheiratet war — +sehr glücklich verheiratet. Zweitens war's ein sehr behagliches +Bewußtsein, daß — nun daß er trotzdem heftig für +sie schwärmte — so was merkt man doch, nicht wahr? — +daß sich hinter seiner trockenen, reservierten Freundschaft +eine Empfindung versteckte, die gewaltsam gebändigt +werden mußte ...</p> + +<p>Gott, ist das entzückend, so zu fühlen, zu wissen, daß +man wie eine allvergötterte Königin durchs Leben +schreitet ... Ihr fiel ein, daß sie einmal von den Indianern +gelesen hatte, sie sammelten die Skalpe ihrer erlegten +Feinde ... O Jucunda — wenn du die Skalpe +deiner zur Strecke gebrachten Verehrer sammeln würdest +... was für ein Museum käme da zusammen!</p> + +<p>So sann Jucunda, während sie hastig die Petersstraße +hinabschritt, den Weg, den man sie gestern im Triumphzug +heimwärtsgeführt ... Unter dem Torweg kaufte sie +sich die Morgenzeitungen, außer dem Tageblatt, das sie +daheim zum Frühstück schon verschlungen, und las die +Kritiken ... eitel Hosianna über den ganzen Abend, und +sie natürlich der Mittelpunkt ... und hier ein Bericht über +ihre Heimkehr, feuilletonistisch zurechtgestutzt — brav so, +brav, na ja, so was macht eine bildschöne Reklame, das +darf öfter passieren!</p> + +<p>Erst während sie die Anlagen am Roßplatz kreuzte, +den Königsplatz überschritt, kam ihr wieder in den Sinn, +weshalb sie sich eigentlich heut morgen zum Theater aufgemacht +hatte, wo sie doch auf Rechnung der gestrigen +Strapaze von der Probe dispensiert war. Nein, dieser +gute Pilgram — so ein Starrschädel! Eigentlich rührend ... +und doch ein bißchen zum Lachen, daß er sich ihretwegen +... des lumpigen Billetts wegen, das doch wahrhaftig +nicht das erste gewesen war und auch nicht das letzte sein +würde ... daß er sich deswegen mit Tod und Teufel +schlagen wollte — sich sein Leben verpfuschen reineweg! +Also solche Männer gab es doch auch ... eigentlich eine +Wohltat, wenn man so inmitten dieses marklosen, +irrlichtelierenden, an großen Worten sich betrinkenden +und vor jeder Tat mit eingekniffenem Schwanz abseits +schleichenden Künstlervolks lebte ... Franz Burg war ja +eine Ausnahme ... aber ob er sich ihretwegen auch nur +einem Schnupfen ausgesetzt hätte statt einer Degenklinge +— das bezweifelte Jucunda denn doch eigentlich ...</p> + +<p>Da war das Carolatheater ... Jucunda schritt durch +den Eingang, überquerte das schmale Höfchen, den Kassenflur, +in dem sich bereits wieder das Publikum um die +Abendplätze prügelte — Gott, wie wird Hoheit sich über die +Kassenrapporte freuen! — schlüpfte durch die knarrende Eisentür +in den Bühnenumgang und horchte am Pförtchen, das +zur Bühne führte. Burg arrangierte eben das »Lager« ...</p> + +<p>»Kinder,« hörte sie seine Stimme, »faßt Eure Kriegsknechte +man recht feste um 'n Hals — Ihr seid jetzt keine +höheren Töchter mehr, Ihr seid Lagerdirnen des Friedländers, +die hatten etwas weniger etepetetige Umgangsformen +als die Leipzigerinnen von 1888! Und wenn's +aus Versehen mal 'nen handfesten Kuß absetzt — na, für +die Kunst muß man eben Opfer bringen können!«</p> + +<p>Ja — das konnte natürlich bis zur Erschlaffung so +weitergehen ... und dabei war doch Eile not ... Es +half nichts, sie mußte unterbrechen ... obschon sie wußte, +daß er das auf den Tod nicht leiden konnte ... Sie trat +in den halbdunklen Bühnenraum, den nur die offenen +Gasflammen der Proberampe matt erhellten. Da stand +Franz Burg neben dem Regietisch, umringt von der andächtig +lauschenden Schar des »Volkes«.</p> + +<p>»Suchen Sie mich, Buchner?«</p> + +<p>»Wenn Sie einen Moment Zeit für mich hätten, +Meister ... es ist dringend ...«</p> + +<p>Jucunda störte nicht ohne Grund — dafür kannte er sie. +Aber allzu gnädig klang es nicht, wie er drinnen im Konversationszimmer +ein kurzes »Also los!« hervorstieß.</p> + +<p>Und Jucunda berichtete. Ausführlich entschuldigte sie +sich, daß sie sich nicht zuerst an ihn gewandt ... ließ deutlich +durchblicken, daß ihr die ganze Geschichte nur so über +den Kopf gekommen ...</p> + +<p>Ein sardonisches Schmunzeln zog über's ausgearbeitete +Gesicht des Oberregisseurs, in seinen dunklen, tiefliegenden +Augen tanzten tausend Teufelchen.</p> + +<p>»Un wat sall ick dorbi dauhn?«</p> + +<p>»Helfen sollen Sie, lieber Freund! Das darf doch nicht +geschehen!«</p> + +<p>»Ganz im Gegenteil, Kindchen — einer von den dreien +muß auf der Strecke bleiben — noch besser alle! Die +Schädel sollen sie sich spalten — einander auffressen wie +die beiden Löwen in dem berühmten Liede:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">Zwei Löwen gingen einst selband<br /></span> +<span class="i0">In einem Wald spazoren,<br /></span> +<span class="i0">Und haben da, von Wut entbrannt,<br /></span> +<span class="i0">Einander aufgezohren!«<br /></span> +</div></div> + +<p>»Das — kann Ihr Ernst nicht sein!«</p> + +<p>»Aber blutiger! Was liegt an einem Rechtskandidaten, +einem Erbprinzen, einem Stabsoffizier! Hin müssen sie +allesamt werden, damit Jucunda Buchner im Triumph +über ihren Leichnamen zum Tempel des Ruhms emporwandelt!«</p> + +<p>»Ach — mir ist wirklich nicht nach Späßen zumut!«</p> + +<p>»Denken Sie, mir?! Merken Sie nicht, Kindchen: alles, +was nicht zum Bau gehört, ist Publikum, das heißt, einzig +und allein dazu da, uns zu bewundern, zu feiern, zu erhöhen +... Gestern abend haben sie Ihnen die Pferde +ausgespannt und Sie im Wagen nach Hause gezogen: +geben Sie mal acht, wenn Ihr Student und Ihr Erbprinz +sich Ihretwegen gegenseitig aufgespießt haben — was die +Leute dann erst mit Ihnen aufstecken! Auf Händen werden +Sie dann nach Hause getragen!«</p> + +<p>»Und ... was wird Hoheit zu der Geschichte sagen?«</p> + +<p>»Hm ... Hoheit ...« Burg sann einen Augenblick nach. +Allerdings, das war zu erwägen ... An Hoheit durfte +so eine kindische Affäre natürlich nicht herankommen ...</p> + +<p>Aber ... würde es denn überhaupt eine Affäre +werden? Franz Burg kannte die Welt und wußte, daß +in ihr nichts so heiß gegessen wird, wie jugendlicher Ueberschwang +es kochen möchte ...</p> + +<p>»Na ... so weit sind wir ja noch lange nicht!« lachte +er. »Vorläufig wollen wir mal ruhig zusehen, wie das +Rummelchen sich historisch entwickelt ... Is ja ganz nett, +auch mal Zuschauer spielen zu dürfen! So, und nun muß +ich wieder Affen dressieren — komm her, Langbeinchen, +gib mir 'n Kuß!«</p> + +<p class="start-chapA space-above">Als Jucunda auf der Straße stand, sah sie ihre Kollegin +Thöny drüben in einem Fenster des ersten Stockes +liegen. Sie winkte ihr zu.</p> + +<p>»Was haben Sie denn da drinnen gemacht, Buchner? +Kommen Sie 'nauf, wir schwatzen ein bissel!«</p> + +<p>Die beiden Rivalinnen kamen rasch ins Gespräch. +Plötzlich fiel's Jucunda ein, daß ihre Mutter daheim mit +dem Mittagessen wartete: Na, dem ließ sich abhelfen — +es war nicht alle Tage so nett — nicht alle Tage vertrug +man sich so gut mit seinen Kolleginnen — das mußte man +auskosten. Sie pfiff sich einen barfüßigen Jungen von +der Straße herauf und schickte ihn mit einem Markstück +und einem Stadttelegramm zum nächsten Postamt.</p> + +<p class="quote">»Muß probieren, nicht zum Essen erwarten. Jucunda.«</p> + +<p>Die Mädchen teilten das frugale Mittagsmahl, das +Mutter Ach ihrer Pensionärin gekocht hatte, und +schwatzten, küßten sich, schworen sich ewige Freundschaft ... +und Asta Thöny hatte ganz vergessen, daß sie noch heut +nacht so heiß geweint hatte, weil man Jucunda Buchner +die Pferde ausgespannt hatte und ihr nicht ...</p> + +<p>Und Jucunda Buchner dachte nicht mit einem Sterbensgedanken +mehr daran, daß um ihretwillen ein junger, +wackerer Gesell im Begriff war, seine Zukunft und sein +Leben auf ein tolles Spiel zu setzen ...</p> + +<p class="start-chapI space-above">Erbprinz Heribert und sein Mentor waren beim +Dessert ... Zwei junge Leutnants vom hundertsiebenten +Regiment, Söhne verarmter Nassau-Dillingenscher +Adelsfamilien, deren alte Herren nur Infanteriezulage +erschwingen konnten, waren zu Tische geladen. Man +trank Pommery und beklatschte Hofskandäler der benachbarten +Fürstenhöfe — da wurde in dringlicher, persönlicher +Angelegenheit Herr Studiosus Borgmann Neo-Borussiae +gemeldet.</p> + +<p>»Hm ... dringliche, persönliche Angelegenheit? Also +bitte ins Empfangszimmer ... Entschuldigen Sie mich +einen Augenblick, meine Herren ...«</p> + +<p>Sporenklirrend ging der Prinz — den militärischen +Gästen zu Ehren war er heut in der Uniform seiner +Sophiendragoner — in den Salon hinüber, dessen +konventionelle Hoteleleganz durch ein paar erlesene Stücke +aus dem erbprinzlichen Schloß Beauregard eine Art persönliche +Note empfangen hatte.</p> + +<p>Herr Borgmann verneigte sich tief. Unter seiner +schwarzen Kompresse waren Stirn und Nase erblaßt vor +feierlicher Erregung.</p> + +<p>»Durchlaucht ... ich bedaure unendlich ... furchtbar +peinliche Mission ...«</p> + +<p>»Darf ich bitten, Platz zu nehmen?«</p> + +<p>Stotternd entledigte sich Herr Borgmann seines Auftrages.</p> + +<p>»Hören Sie mal, mein Verehrtester — das ist ein +Witz ... aber ein fader!« sagte der Erbprinz. »Einen +Augenblick ... ich werde Herrn von Gorczynski rufen +lassen, der ist ebenfalls beteiligt ...«</p> + +<p>Er klingelte und befahl, den Major zu bitten.</p> + +<p>»Nehmen Sie mir die Frage nicht übel, Herr Borgmann +— ist bei Ihrem Herrn Auftraggeber vielleicht eine +Schraube los?«</p> + +<p>»Ich bedaure, als Kartellträger eine Kritik an dem +Inhalt meines Auftrages ... weder selbst ausüben noch ... +entgegennehmen zu dürfen ...«</p> + +<p>»Sehr korrekt!« lobte der Erbprinz. »Sie haben ganz +recht — verzeihen Sie. Aber ich bin einstweilen dermaßen +baff ... So was hab' ich denn doch nicht für möglich +gehalten.«</p> + +<p>Und zu dem eintretenden Major mit einem boshaften +Schmunzeln:</p> + +<p>»Nun sagen Sie mal, mein Verehrtester — was haben +Sie uns da denn eigentlich eingebrockt? Wir werden +gefordert! Wir sollen uns prügeln — weil wir den perversen +Wunsch geäußert haben, mit der Jungfrau von +Orleans zu soupieren!«</p> + +<p>Der Major begriff nicht — mußte erst völlig aufgeklärt +werden — und dann platzte er hell heraus ... Der Prinz +stimmte ein, auch Borgmann glaubte aus schuldiger Höflichkeit +mitlachen zu müssen ...</p> + +<p>»In der Tat, die Sache ist zum Wälzen,« sagte der +Prinz — »aber Teufel auch, wie bringen wir diesen +rabiaten Burschen, den guten Pilgram, zur Ruhe? Wie +die ganze verfahrene Karre wieder ins Gleis? Ich danke +für einen Skandal ... die Sache muß unbedingt in aller +Stille arrangiert werden.«</p> + +<p>»Durchlaucht,« sagte der Major, »ich bin natürlich +schuld. Ich habe unsre ... hm, hm ... unsre vollkommen +harmlose Soupereinladung scheinbar doch ein bißchen zu +herausfordernd stilisiert ... ich übernehme selbstverständlich +jede Verantwortung. Zunächst werde ich zu Fräulein +Buchner hinfahren, mich als den Schreiber des ... verhängnisvollen +Zettels bekennen ... und für mich, als den +allein schuldigen Teil — die Verzeihung dieser ... nun der +jungen Dame erbitten. Damit dürfte dann wohl die Angelegenheit +vollkommen erledigt sein — nicht wahr, Herr +Borgmann?«</p> + +<p>»Hm ... ich will's hoffen,« meinte Herr Borgmann +etwas kleinlaut. »Wenn ich den Fall richtig taxiere, ist +mein Herr Auftraggeber in ... na, in gewissen ... +heiligen ... Gefühlen gekränkt ... die bei etwas +temperamentvollen jungen Leuten leicht eine ... etwas +explosive Form annehmen ...«</p> + +<p>»Ach so — Koller nennt man das ja wohl,« näselte +der Erbprinz. »Ja ... aber wenn ein solcher — hm ... +pathologischer Zustand gemeingefährlich wird, dann muß +eben eine Radikalkur versucht werden. Aeh — die Sache +ödet mich ... Ich wünsche, lieber Herr von Gorczynski, +daß Sie die Angelegenheit völlig ins Reine bringen, verstehen +Sie mich?«</p> + +<p>»Gewiß, gewiß, Durchlaucht, ich werde es an nichts +fehlen lassen ...« hastete der Major beflissen.</p> + +<p>»Und Sie, Herr Borgmann? Ich rechne auf Ihre +Mitwirkung zu einer absolut geräuschlosen Beilegung!«</p> + +<p>»Durchlaucht wollen versichert sein, daß ich mein möglichstes +tun werde!«</p> + +<p>Mit kurzer Verneigung schritt der Prinz an den beiden +Herren vorüber und überließ sie ihrer Ratlosigkeit. Auf +dem Wege zum Speisesalon brach er in ein schallendes +Gelächter aus.</p> + +<p>So eine gerissene Katze — bringt's fertig, einen +Prinzen, einen Prinzenbegleiter und einen langen Laban +von Schlagetot vor ihren Reklamewagen zu spannen ... +und sowas ist achtzehn Jahre alt und spielt weißgewaschene +Tugendengel dermaßen überzeugend, daß einem ganz +kniefällig dabei zumute wird ... Na, warte Du, Dich +zähm' ich mir noch mal, Du süße, weiße Bestie Du — das +lohnt doch noch der Mühe!</p> + +<p>»Sie, lieber Aldringen, geben Sie mal 'n Glas +Pommery — aber etwas lebhaft, bitte!«</p> +</div> + +<div> +<h2>7.</h2> + +<p class="start-chapI">Major von Gorczynski hatte beschlossen, den Stier bei +den Hörnern zu packen. So etwas Blödsinniges war +ihm in seinem ganzen Leben noch nicht passiert! Eine +Soupereinladung an eine Bühnenprinzessin, die mit einer +Säbelforderung seitens eines Korpsstudenten beantwortet +wird! Und noch dazu eines Korpsstudenten, von dem man +mit positiver Bestimmtheit weiß, daß er allem, was Theater +und Theaterweiber heißt, weltenfern steht! Das war zu +abgeschmackt ... Was konnte nur vorgegangen sein, das +diese ausgefallene Konstellation ermöglicht hatte! Das +mußte man herausbekommen ... Und das Einfachste +war, man ging gleich vor die rechte Schmiede ... Mit +dem Mädel war jedenfalls noch am ehesten fertig zu +werden ... Absolut geräuschlose Erledigung hatten Durchlaucht +verlangt? Herr von Gorczynski kannte sich jedenfalls +mit Mädeln noch besser aus als mit dieser rauf- und +trinkfesten Männerjugend in Band und Mütze, deren Begriffe +und Sitten so was mittelalterlich Unkontrollierbares +an sich hatten ... Also auf zu Jucunda!</p> + +<p>Frau Kanzleirätin Buchner öffnete selbst die Tür und war +nicht wenig entsetzt, als ein nicht mehr ganz junger, höchst +eleganter und — hm! — pikfein parfümierter Herr in Gehrock, +Zylinder, hechtgrauen Glacés an der Entreetür stand +und Fräulein Jucunda Buchner zu sprechen wünschte ...</p> + +<p>»Fräul'n Buchner is aus — tut m'r unendl'ch leid ... +Aber wenn ich was kennte bestell'n — ich bin die Mutter.«</p> + +<p>Herr von Gorczynski musterte die stattliche, rundliche +Frau mit Kennerblick. Es war nachmittags um vier, aber +die ... Dame war noch immer in Morgentoilette ... +geblümter Schlafrock und Schleifenhäubchen ... Also aus +so einem ... Milieu entstammte das Dämchen, für das +der Sohn eines hohen sächsischen Justizbeamten Korpsband +und Karriere in den Wind schlug ... Hm ... Das vereinfachte +die Situation allerdings außerordentlich. Herr +von Gorczynski war auf eine feingebildete Familie gefaßt +gewesen ... Vielleicht Justiz, Universität, ein Predigerhaus +... Und nun ... Na, wenn man mit so etwas +nicht geräuschlos fertig werden sollte ...</p> + +<p>»So ... Sie sind die Mutter ... Na da ist es vielleicht +am besten, ich unterhalte mich erst mal ein wenig +mit Ihnen ... Major von Gorczynski ist mein Name.«</p> + +<p>Frau Doris fühlte, wie ihr das Herz in die flanellenen +Unterhosen rutschte. »Ja, aber ... Sie sehen, Herr +Major ... Ich bin Sie ja doch gar nich angezogen ...«</p> + +<p>»Bitte, das macht nichts ... Was ich Ihnen zu eröffnen +habe, das können Sie auch unangezogen hören. +Also wenn ich bitten darf — oder wünschen Sie meine Erklärungen +auf dem Hausflur entgegenzunehmen?«</p> + +<p>»Ach nee ... Aber gewiß nicht, Herr Major ... +Bitte treten Sie ein ... in die gute Stube ...«</p> + +<p>Herr von Gorczynski überflog mit demonstrativer Geringschätzung +die verschlissene Herrlichkeit des Buchnerschen +Salons. Dann setzte er sich mit einer gewissen Vorsicht, +als fürchte er, der Samtfauteuil könne unter ihm zusammenbrechen, +in den grünen Plüsch und sah die vor Erregung +fiebernde Frau mit durchdringendem Blick an.</p> + +<p>»Sie werden sich wohl ungefähr vorstellen können, weswegen +ich komme, Frau — Buchner!« begann er scharf. +»Nicht wahr?«</p> + +<p>Frau Doris' Kinnbacken schlotterten. Da hatte man die +Bescherung! Und ihr Rat war fern ... Und das Kind ... +Und sie mußte den ersten Ansturm des Schicksals ganz +allein aushalten, von Gott und aller Welt verlassen ...</p> + +<p>»Nu ja, nu nee ... denken ... kann ich mersch am +Ende ...«</p> + +<p>»Na also: Um's kurz zu machen: Ihr Fräulein Tochter +hat eine Einladung, wie sie in der ganzen Welt Abend +für Abend an tausend und abertausend Kolleginnen Ihrer +Tochter ergeht — die hat sie damit beantwortet, daß sie +mir und ... meinem jungen Freunde, in dessen Namen +ich mit unterzeichnet hatte, eine Forderung auf schwere +Waffen hat überbringen lassen. Darf ich mich zunächst +erkundigen, in welchen Beziehungen der ... junge Herr, +der sich zum Beschützer Ihrer Familienehre aufgeworfen +hat, zu Ihrer Tochter steht?«</p> + +<p>»Aber ich bitt' Ihn', Herr Major — in gar keener Beziehung. +Er wohnt hier im Haus ... zur Miete ... un +da is er ... ganz zufäll'g is er dazu gekommen, wie meine +Tochter een Weinkrampf hat gekriegt, als das Bukett ist +angekommen ... un der Brief ... un ... un das Geld ...«</p> + +<p>Hm ... das Geld ... und ... ein Weinkrampf ... +verdammt peinliche Vorstellung ... aber was war zu +machen ... man mußte oben bleiben.</p> + +<p>»So ... also in gar keinen Beziehungen ... verehrteste +Dame, Sie haben keinen dummen Jungen vor +sich, dem Sie Lederstrumpfgeschichten aufbinden können. +Ich will also mal annehmen, der junge Herr ist der ... +Bräutigam Ihrer Tochter ...«</p> + +<p>»Ne, ne, wahrhaft'gen Gott nich — aber gar keene +Ahnung ... e junger Student, ne, ne, wie kenn' Se +nur so was denken ... So was hat meine Jucunda +wahrhaft'gen Gott nich neetig!«</p> + +<p>»Hm ... also nicht ... Na dann wollen wir's dahingestellt +sein lassen, welcher Art das ... Verhältnis zwischen +den beiden jungen Leuten ist ...«</p> + +<p>Jetzt hatte Frau Doris sich denn doch gefunden. Die +Ehre ihres Hauses, ihres Mädchens —? Ne, ne, damit +durfte man denn doch nicht spaßen ...</p> + +<p>»Heer'n Se, Herr Major,« rief sie zitternd, doch mit +Entschiedenheit, »das muß ich mir denn doch ganz ergäbenst +verbitt'n! Meine Tochter hat kein ... kein Verhältnis +nich!«</p> + +<p>»In dem Sinne, in dem Sie das Wort verstanden zu +haben scheinen, habe ich es durchaus nicht gebraucht ... +und verbitte mir meinerseits eine derartige Auslegung +meiner Worte! Nun aber zu Ihrem Fräulein Tochter! +Hat sie — und haben Sie als Mutter — oder wenn Ihr +Mann noch unter den Lebenden ist —«</p> + +<p>»Allerdings — mein Mann ist der Kanzleirat Buchner +— ein königlicher Beamter ...« warf Frau Doris ein, +»Ritter des Albrechtkreuzes zweiter Klasse ...« Sie richtete +sich ordentlich auf an all diesen ehrenvollen Tatsachen.</p> + +<p>»Na also! Haben Sie alle zusammen sich denn eigentlich +nicht klar gemacht, was ein so ... rabiates Vorgehen +denn eigentlich für Ihre Tochter ... vielleicht auch für +Ihren Mann ... bedeutet? Ich nehme an, daß Sie bereits +in Erfahrung gebracht haben, wer wir eigentlich sind +— wer sich hinter dem Namen von Dillingen versteckt — +hä? Wissen Sie das, Frau Kanzleirat Buchner?«</p> + +<p>»Ja, ja, ich weeß — ich weeß,« stammelte die geängstigte +Frau und fuhr mit dem Rücken der fleischigen +Hand über die feucht gewordene Stirn.</p> + +<p>»Na also! Bilden Sie sich denn im Ernste ein, ein +solcher Herr werde sich wegen ... wegen einer Lappalie +von einem x-beliebigen jungen Menschen zur Rechenschaft +ziehen lassen? Nee, verehrte Dame, die Sache kommt +anders: Es möchte Ihrer Tochter vielleicht doch peinlich +sein, wenn an ... eine gewisse Stelle ein Bericht über +das ... eigentümliche Interesse erginge, dessen Ihre +Tochter sich in — hm! Studentenkreisen erfreut! Und +wenn Ihre Tochter sich überlegt, daß ihr Kontrakt doch am +Ende noch nicht lebenslänglich und unkündbar ist, und daß +es sich wenig empfiehlt, sich die Gunst eines jungen Fürsten +zu verscherzen, der einmal der Brotherr eines der größeren +deutschen Hoftheater sein wird ... dann wird ihr am +Ende klar werden, daß es ein bißchen übereilt von ihr war, +eine kleine Unbedachtsamkeit — ich gebe ja zu, daß es eine +Unbedachtsamkeit war, Ihre Tochter ohne weiteres in eine +Linie mit der Mehrzahl ihrer Kolleginnen zu setzen ... +Aber deshalb gleich nach Blut — nach Fürstenblut zu +lechzen — das scheint mir doch einigermaßen kindisch!«</p> + +<p>Völlig zerschmettert hatte Frau Buchner die Suada +ihres vornehmen Besuchers über sich ergehen lassen. Vor +ihrem Auge tanzten hundert gräßliche Bilder ... Der +gnädigste Herr in Meiningen hatte Jucunda seine Gunst +entzogen — ihr Vertrag war gekündigt ... Vergebens +klopfte sie an die Pforten aller deutschen Bühnen ... Als +»schwieriges Mitglied« wurde sie überall abgelehnt ... +Das Elend lauerte, der Hunger ...</p> + +<p>»Ne ... ne ... das is ja äne schreckliche Geschichte ...« +stammelte sie.</p> + +<p>»Nun, Sie scheinen ja Vernunft annehmen zu wollen. +Ich empfehle Ihnen also, unverzüglich mit Ihrer Tochter +Rücksprache zu nehmen: Sie soll ihren ... ihren jugendlichen +Beschützer veranlassen, seine höchst törichte und kindische +Herausforderung zurückzuziehen ... Damit dürfte +die Angelegenheit eine für alle Beteiligten befriedigende +Erledigung finden. Sind Sie dazu bereit?«</p> + +<p>»Aber mit dem greeßten Vergniegen — 's wird sich +doch am Ende noch alles lassen ins reine bringen!« ächzte +aufatmend die geängstigte Frau.</p> + +<p>»Na also —« der Major erhob sich — »ich rechne +darauf, daß Sie Ihren mütterlichen Einfluß in diesem +Sinne geltend machen. Meine Empfehlung an Ihr Fräulein +Tochter ... und ... böse ... braucht sie uns nicht zu +sein ... Die ganze Sache war vollkommen harmlos gemeint +... also ... adieu, Frau Kanzleirätin!«</p> + +<p>Frau Buchner knixte ein übers andre Mal, während +sie den Gast zur Entreetür geleitete.</p> + +<p>Auf der Schwelle wandte der Major sich noch einmal +um.</p> + +<p>»Apropos — soweit ich unterrichtet bin, hat man bei +Ihnen besonders daran Anstoß genommen, daß meinem +Briefchen ein ... ein kleines Geschenk ... in barem +Gelde ... beigelegt war. Vermutlich haben Sie diese ... +diese kleine Aufmerksamkeit ... in Verwahrung genommen?«</p> + +<p>»Allerdings ... das hab' ich ... in meine Wirtschaftskasse +hab' ich die Scheine eingeschlossen ... Jucunda wollte +sie zur Post bringen, aber ... sie wollte sich erscht noch +nach Ihrer ... genaueren ... Adresse erkundigen ... +Na un von dem Wege, da is se noch nich zurück ...«</p> + +<p>»Na, dann kann ich ihr ja den Gang ersparen ... +Wenn Sie's mir gleich aushändigen wollten ... und vielleicht +—« ganz harmlos, nachlässig wurde das hingelegt — +»vielleicht händigen Sie mir auch gleich das Briefchen mit +aus, das die Gemüter so sehr erregt hat — und damit wäre +ja dann alles in schönster Ordnung ...«</p> + +<p>»Gewiß, gewiß, Herr Major — das hab' ich ooch ... +alles kenn' Se kriegen — ich bin ja froh, wenn ich's +aus 'm Hause hab ...«</p> + +<p class="start-chapD space-above">Teufel auch ... das war mehr, als ich gehofft habe! +schmunzelte der Major, als er mit seinem Raube die +halbdunkle Stiege hinunterknarrte.</p> + +<p>Unten im Hausflur zog er den Brief hervor, entzündete +ein Streichholz und ließ das <i lang="la">corpus delicti</i> in Flammen +auflodern. Die beiden Scheine aber, die er beim Empfang +nur nachlässig in die Westentasche geschoben, barg er nun +sorgfältig in seinem Portefeuille. Es waren immerhin +zweihundert bare Mark ...</p> + +<p>Und dann ging er zu Aeckerlein hinüber und bestellte +eine Flasche Heidsieck.</p> +</div> + +<div> +<h2>8.</h2> + +<p class="start-chapA">Als Hans Thumser inmitten seiner Korpsbrüder das +Theaterrestaurant verließ und über den sonnenflimmernden +Augustusplatz, die mittäglich durchhastete +Grimmaische Straße nach dem Baarmannschen Lokal am +Markt hinüberspazierte, wo das Korps speiste — da +wirbelte ihm der Kopf dermaßen vom Fieber des Erlebens, +daß die erregten Gespräche der Freunde nur wie +aus weiter Ferne zu ihm herüberklangen. Und doch +disputierte er selber eifrigst mit ... Es war ja kein Ende +zu finden des Ueberlegens und Projektierens — wie alles +kommen würde — ob man sich nicht übereilt, ob Pilgram, +ob das Korps richtig gehandelt, ob sich nicht eine minder +schroffe Lösung des Konflikts hätte finden lassen ... Wie +der Erbprinz sich stellen würde ... und schließlich doch +auch der Hof in Nassau-Dillingen ... was der für Weisungen +erteilen würde ... und was all der welterschütternden +Schicksalsfragen mehr noch waren.</p> + +<p>Und dabei immer der heimlich bohrende, süß erregende, +wonnesam beklemmende Hintergedanke an ... +heut nachmittag ...</p> + +<p>Und so in Wirrnis und Ahnung verrannen die Stunden +... Jetzt ward alles andre verdrängt durch das +Mitgefühl mit Valentin Pilgrams Schicksal, des Korpsbruders, +der so ganz anders geartet war, mit dessen +Wesen das eigene niemals harmonisch hatte zusammenklingen +wollen ... und dessen starkgemute Jungmännlichkeit +dennoch die lebenshungrige Seele fest in ihren +Bann geschlagen hatte — längst eh dies opferstolze Einsetzen +seines ganzen Daseins für ein fremdes Mädchen, +das Kind einer andern Welt ... eh' diese Tat sein Bild +in eine fast heroische Sphäre emporgehoben ...</p> + +<p>Und dann wieder schwirrten mit scheuem Flügelschlage +die Gedanken um das eigene Hoffen und +Bangen ...</p> + +<p>Und seltsam: Astas und Jucundas Bilder, sie rannen +zusammen in der Seele ... Wer war's eigentlich, der +ihn erwartete heut um fünf? War's nicht jener Dämon, +der in seines Korpsbruders Leben so verhängnismächtig +hineingegriffen? Jucunda! Jucunda! Der Name klang +aus allen Gesprächen, die in der Runde hin und wider +flogen ... Daß es überhaupt eine Asta Thöny gab, das +wußte ja nur einer von seinen Freunden, und dieser eine +— der war fern ... war ausgeschieden aus dem Bunde, +dem sein ganzes Herz gehörte, für dessen Farben er in +siebenundzwanzig Waffengängen sein junges Herzblut +vergossen ... ausgeschieden um jener andern willen ... +und selbst dieser eine hatte sie doch nur auf der Bühne +gesehen — ahnte nicht, daß sie mit Hans Thumser unter +einem Dache wohnte ... konnte nicht ahnen, daß sie heimlich +nächtens in ihre Kissen weinen und dann plötzlich +lachen konnte, so girrend, so atemversetzend.</p> + +<p>Nach dem Mittagessen blieb das Korps beim Kaffee +noch lange zusammen. Die Füchse wurden fortgeschickt, +und immer und immer wieder in heftigen Disputen +drehten und wendeten die Korpsburschen das Ereignis +des Tages. Hans aber zog von Zeit zu Zeit heimlich die +Uhr und zählte, wie eine Viertelstunde um die andere +verrann von jenen, die ihn noch von dem größten Erlebnis +seines jungen Daseins trennten ... Und einmal +zog er heimlich auch sein Portemonnaie und stellte fest, +daß er heute, am einunddreißigsten Oktober, noch fünfundachtzig +Pfennige sein eigen nannte ...</p> + +<p>Teufel auch! Wenn man die Farben eines Korps +trägt, kann man unmöglich ohne ein bescheidenes +Blümchen in der Hand bei einer Dame zum Tee antreten +... Und Hans Thumser pumpte sich von Volkner, +der immer Geld hatte, eine Mark ...</p> + +<p>Und endlich war's dreiviertel fünf ... Und wie ein +Träumender strich Hans Thumser die Petersstraße hinunter, +einen Busch rosa Dahlien, in Seidenpapier gewickelt, +in der Hand ... Zu wem ging's? Zu Asta? +Zu Jucunda? Er wußte es nicht ... es ging ... +zu <em class="gesperrt">ihr</em> ...</p> + +<p>Und so war's fast eine Selbstverständlichkeit, daß er sie +nun <em class="gesperrt">beide</em> fand ...</p> + +<p>Die Stube schwamm von Zigarettenrauch ... Und +auf dem Sofa, eng aneinandergelehnt, zwei Mädchen ... +die, die er zu suchen kam — und die andere ...</p> + +<p>»Ach Gott ...« lachte Asta in komischem Entsetzen auf, +»Herr ... na wie heißen Sie noch? Herr ...«</p> + +<p>»Thumser,« stotterte Hans und blieb ganz verdonnert +an der Tür stehen.</p> + +<p>»Richtig, Herr Thumser — mein Zimmernachbar — +nicht wahr, Sie sind's doch? Mein Gott, Sie hatt' ich +wahrhaftig total vergessen —«</p> + +<p>»O bitte, dann will ich nicht stören,« sagte Hans und +griff zur Tür.</p> + +<p>Ein Kübel Eiswasser, einem glutgedörrten Saharawanderer +jählings über den Nacken gegossen ...</p> + +<p>»Aber nein! Stören! Weglaufen! Gibt's nicht!« +Und das weiche Figürchen in der nicht ganz tadellos +frischen Batist-Matinee sprang auf, stand vor dem +schlanken Studenten, eine Hand, zart und warm wie ein +sonnendurchglühtes Rosenblatt, legte sich auf die seine und +zog ihn ins Zimmer.</p> + +<p>»Nicht böse sein! Meine Kollegin ist mich besuchen +gekommen, und da haben wir uns verschwatzt ... Ist's +denn schon fünf Uhr? Himmel — und wie's hier ausschaut! +Frau Wehe! Frau Wehe! Schnell kommen Sie +mal her und räumen S' ab! Gestattest Du, Jucunda? +Mein Zimmernachbar, Herr Studiosus Dummler —«</p> + +<p>»Thumser,« verbesserte Hans etwas pikiert.</p> + +<p>»Pardon — Thumser — meine Kollegin Buchner — +die große Buchner, wissen S'!«</p> + +<p>Jucunda grüßte stumm und königlich. Sie hatte die +grüne Mütze, die drei Farben um die Brust des jungen +Mannes wiedererkannt ...</p> + +<p>»Ich weiß ...« sagte Hans. »Ich war gestern abend +in der 'Jungfrau' ... und ich bin auch unter denen gewesen, +die —«</p> + +<p>»— ihr die Pferde ausgespannt haben — natürlich! +Das nächste Mal, Sie Schlingel, spannen Sie mir die +Pferde aus — verstanden? Sonst ist's aus mit der guten +Nachbarschaft!«</p> + +<p>»Wird gemacht!« sagte Hans, der sich wiederfand. +»Inzwischen darf ich wohl als bescheidene Entschädigung +diese Blümchen ...«</p> + +<p>»Ach — das ist famos! Sehen Sie, Jucunderl, es +wachsen heuer doch nicht alle Blumen bloß für Dich ...« +Und sie drückte den Studenten in einen der verschlissenen, +fettigen Damastfauteuils, welche Mutter Achs beste Bude +verherrlichten.</p> + +<p>Einen raschen Blick warf Hans Thumser in der Bude +umher. Wild sah's aus ... auf dem Tisch noch die Reste +des bescheidenen Mittagsmahls, Aepfelschalen und die +zerknautschten Mundstücke abgerauchter Zigaretten trieben +sich auf dem fleckigen Tischtuch herum ... und drüben +auf dem Bette aufgestapelte Mullröcke und Spitzenhöschen, +auf dem Schreibtisch ein zusammengerolltes +Korsett, dazwischen unsaubere Hefte mit ausgeschriebenen +Rollen und zerflederte Reclambändchen ...</p> + +<p>Asta war diesem Blick gefolgt und sah den Ausdruck +von Mißbehagen, der ununterdrückbar das schmissebedeckte +tadellos rasierte Gesicht des korrekten und gepflegten +Jünglings überzog.</p> + +<p>»Bös schaut's aus da drin, gelt? Aber warten S' +nur, ich schaff' schon eine Ordnung! Faß an, Jucunderl, +Du bist ja schuld, daß ich so einen feschen, jungen Herrn +in so einer Schlamperei muß empfangen! Und Sie, +Frau Wehe« — die noch immer hübsche, kugelrunde +Wittib stand mit nachmittagschlafgeröteten Augen in der +Tür — »hinaus mit dem Abfall da! Und ein' Tee kochen +S' uns, und Kuchen will ich seh'n und Schlagsahn' und +was sich sonst gehört! Da haben S' ein Geld!« Und wie +ein Irrlicht fegte das dunkellockige Mädchen in der Stube +umher, hob den Bettbezug aus gewebter, leidlich defekter +Spitze, das Ueberbett in die Höhe, stopfte die herumliegenden +intimen Kleidungsstücke drunter und deckte mit +einem Spitzbubenlächeln wieder zu, griff in die Nachttischschublade +und warf ein paar Markstücke auf den Tisch, +daß zwei, drei in die Stube kollerten und Hans Thumser +sich bücken mußte, um sie wieder aufzulesen; griff dazwischen +in die Zigarettenschachtel, schob ihren beiden +Besuchern, sich selbst und schließlich auch der verlegen +grinsenden Wittib eine Zigarette zwischen die Lippen:</p> + +<p>»Da, Herr Dummser — haben S' Feuer?«</p> + +<p>Und da flimmerten auch die feuchten Lippen, die +dunklen, flackernden Augen dicht vor Hansens Gesicht, +loderten ihn an, während sie mit ihm zugleich am nämlichen +Zündholz ihre Zigarette anbrannte ...</p> + +<p>Inzwischen saß Jucunda stumm und königlich auf dem +Sofa, ohne eine Hand zu rühren, und ließ ihre runden +blauen Augen von einem zum andern leuchten. Und +auch Hans Thumsers Blicke gingen hin und her, von dem +Schalk zu der jungen Königin, von der jungen Königin +zu dem rastlosen Schelm ...</p> + +<p>Und endlich gab's Ruhe und so etwas wie Ordnung, +und mit einem tiefen Aufseufzen warf Asta Thöny sich +in das Sofa, kuschelte sich an Jucundas kräftige Schulter +... und nun sahen zwei Augenpaare, das blaue, das +schwarze, den braunäugigen Studenten an ...</p> + +<p>»So, Herr Dummser, nu erzählen S' uns was!«</p> + +<p>Hans Thumser war des Umgangs mit weiblichen +Wesen wenig gewohnt. Seine Schwestern waren um +vier und fünf Jahre jünger als er, die zählten, samt ihrer +Freundinnenschar, noch nicht mit, waren Gören, oder wie +man daheim sagte, Blagen ... unfähig, die erhabene +Größe eines Studenten, eines Korpsstudenten, eines +Fuchsmajors richtig einzuschätzen. Und das Korps? Es +lebte außerhalb der Leipziger Gesellschaft, war völlig +durch Mensur und Kneipe absorbiert und kam höchstens +auf dunklen und verschwiegenen Pfaden einmal mit verachteten +Parias der Weiblichkeit in Berührung ...</p> + +<p>Aber ... er war ein werdender Poet ... und der +Zauber der Situation löste ihm die Zunge, gab ihm +Worte, wie sie gesellschaftliche Routine nicht kennt ...</p> + +<p>»Erzählen soll ich Ihnen ... meine Damen? Ach ... +ich hab' nichts erlebt, was des Erzählens wert wär' in +solch einem Augenblick ... aber ... das darf ich ja wohl +sagen, nicht wahr? daß ich sehr glücklich bin ... Ich +denke an gestern abend ... ich habe Sie beide gesehen und +bewundert und beneidet um das Glück Ihres Berufs ... +den Menschen das Schöne zu offenbaren ... und nun sitz' +ich hier ... Ihnen gegenüber ... seien Sie mir nicht +böse, wenn das mir zu Kopf steigt und ... mich dumm +und stumm macht ... Sie nennen mich noch immer +Dummser, gnädiges Fräulein ... und das stimmt, ich +bin auch ein dummer Bub, das fühl' ich, jetzt, wo ich mit +Ihnen zusammensitzen darf ... Nein, ich kann Ihnen nichts +erzählen ... ersparen Sie es mir, mich mit Konversationmachen +abzuquälen ... erlauben Sie mir nur ... da +zu sein ... und Sie anzuschauen ... und zu fühlen, ja +bis ins Tiefste zu fühlen, wie schön das ist ... was für +ein Glück das ist!«</p> + +<p>»Aber warum machen Sie sich selber so schlecht?« sagte +Jucunda und sah ihn groß an — »Sie sprechen gar nicht +übel ... im Gegenteil — ich meine, ich hätte noch niemals +einen Menschen so sprechen gehört ...«</p> + +<p>»Du —?« sagte Asta, »daß Du mir dem Jungen nicht +zuviel Komplimente machst! Das ist <em class="gesperrt">meiner</em>, verstehst +Du mich? Aber Du mußt immer alles für Dich haben ... +die Blumen — die Kränze — die ausgespannten Pferde — +die Verehrer, alles muß sie allein haben! Und so was +redet von Freundschaft und Kollegialität! Schämen +sollten S' Ihnen, mein Fräulein!«</p> + +<p>Hans wurde glühendrot. »Ach, meine Damen, machen +Sie sich nur immer über mich lustig ... ich weiß ganz +genau, wie wenig ich Ihnen sein kann. Nur das eine +muß ich Ihnen sagen: Sie ahnen gar nicht, was dieser +Tag für mich bedeutet ... Sie können sich wohl nicht +vorstellen, wie barbarisch und rauh dies Leben ist, +das wir jungen Dächse so führen auf deutschen Hochschulen +... Und seit gestern ist's auf einmal bunt und licht +und ... groß und ... schön um mich her ... seit ich Sie +beide kenne ...«</p> + +<p>»Gott, wie süß er ist — gelt, Jucunda?« sagte Asta +und streichelte dem Studenten mit einer raschen, zärtlichen +Bewegung ganz leise und flüchtig die glühende, narbenzerrissene +Wange. »Nur mehr so Schönes, nur mehr! +So was kann man gar nicht genug hören!«</p> + +<p>»Ach — Sie scherzen wieder, Gnädigste —« sagte +Hans. »Sie sind weit schönere Worte gewohnt ... Sie +verkehren am Hof — inmitten von Geist und Grazie ... +die Dichter, deren Werke Sie verkörpern, huldigen +Ihnen ...«</p> + +<p>»Der hat Ahnung, gelt?« lachte Asta halb verschmitzt +halb schmerzlich zu ihrer Kollegin hinauf, in deren Arm +sie sich drückte.</p> + +<p>»Nein, Herr Thumser,« sprach Jucunda langsam, »Sie +haben doch wohl eine etwas — na sagen wir mal zu +ideale Vorstellung von unserm Leben ... Glauben Sie +mir nur, es gibt nicht viel Männer, die so zu reden wissen, +daß es einem wohltut ...«</p> + +<p>»Gewiß, ich glaub's — so verwöhnt, so anspruchsvoll +wie Sie sein müssen ... denn so jung wie Sie sind, Sie +sind berühmt, alles liegt Ihnen zu Füßen, Sie kommen +wie das Schicksal ... wehe dem, der Ihnen verfällt ...«</p> + +<p>Ein Schatten war bei diesen Worten über die +enthusiastischen Züge geflogen, die flammenden Augen +hatten sich verdunkelt.</p> + +<p>Jucundas Stirn hatte sich langsam zusammengezogen.</p> + +<p>»Wie das Schicksal?« fragte sie, »wie meinen Sie das?«</p> + +<p>»O ... ich dachte an ... eine gewisse Geschichte ... +eine sonderbare, aufregende Geschichte ... von der Sie +doch wohl auch wissen müssen ...«</p> + +<p>»Sie ... meinen ... die Sache ... mit Herrn Pilgram? +Von der wissen Sie also auch schon?«</p> + +<p>»Ich weiß ... selbstverständlich weiß ich ... wir sind +ja doch Korpsbrüder ...«</p> + +<p>»Eine ... Sache?« fragte Asta ganz erstaunt. »Was +hat's gegeben? Hast mir ja doch gar nichts davon erzählt, +daß es was gegeben hat? Heraus mit der Geschichte!«</p> + +<p>»Ich möchte ... eigentlich überhaupt nicht davon +sprechen ...« meinte Jucunda.</p> + +<p>»Und ich ... ich halte mich ebenfalls nicht für berechtigt +...« setzte Hans befangen hinzu.</p> + +<p>»Schöne Sachen sind mir das!« zürnte Asta. »Ich +bring' Euch zwei zusammen, und schon habt Ihr Geheimnisse +miteinander, und ich werd' ausgesperrt und hab 's +Zuschau'n! Na wartet — jetzt kommt der Tee mit dem +Kuchen, hernach setz' ich Euch vor die Tür und ess' alles +alleinig!«</p> + +<p>Jucunda hatte einen Moment sinnend den Rauchwölkchen +ihrer Zigarette nachgestarrt. Es war dämmrig +im Zimmer geworden. Frau Wehe kam mit dem Tee, +dem Gebäck, zündete die Petroleum-Hängelampe über dem +Tische an, und hell gleißten nun die drei jungen Gesichter +auf dem Hintergrunde der abgenutzten Stube, die rasch +in völliges Dunkel versank.</p> + +<p>Als die Wirtin gegangen, sagte Jucunda langsam: +»Ich verstehe, daß Sie sich über die ... Angelegenheit ... +die bewußte ... nicht gern aussprechen. Aber Sie werden +begreifen: ich bin ziemlich gespannt. Sie wissen schon +drum ... also die Sache kommt doch, scheint's, wirklich an +die große Glocke. Ich bin ja schließlich doch ein bißchen +beteiligt ... Wollen Sie mir nicht sagen, was inzwischen +eigentlich passiert ist?«</p> + +<p>»Hm ... wenn unsre ... gütige Gastgeberin gestattet, +daß wir uns in ihrer Gegenwart über ... eine Sache +unterhalten, die sie nicht ... in die wir sie nicht einweihen +dürfen?« +»Na macht schon, macht schon ...« maulte Asta, »Ihr +brennt ja darauf, Eure Geheimnisse auszutauschen ... +ich ess' Kuchen.« Und wütend bissen ihre blinkenden Zähne +in einen braunlächelnden Mohrenkopf.</p> + +<p>»Also kurz ... Er ... ist aus dem Korps ausgetreten +... und hat die ... die bewußten beiden Herren auf Säbel +ohne ohne gefordert ... Genügt Ihnen diese Andeutung?« +fragte Hans.</p> + +<p>»Hm ... und mehr ... wissen Sie also noch nicht?«</p> + +<p>»Noch nicht.«</p> + +<p>»Immerhin ... also der Skandal ist fertig. Schöne +Bescherung ...«</p> + +<p>»Hol Euch der Satan, Kinder, Ihr macht eins aber +wirklich neugierig wie eine Ziege!« sagte Asta und ließ die +kuchenstopfenden Finger sinken. »Säbelforderung — Skandal +... und dabei habt Ihr Euch vor einer halben Stunde +erst kennen gelernt vor meinen sehenden Augen ...«</p> + +<p>»Gott, warum soll man's ihr schließlich nicht erzählen?« +meinte Jucunda. »Morgen weiß es ganz Leipzig ...«</p> + +<p>»Hast einmal wieder was, womit Du Dich kannst +int'ressant machen, Jucunderl? Gott, das Mädel hat +einen Dusel! Daß es um Dich geht, soviel hab' ich schon +heraus ... Also es werden zwei sich die Köpf' entzweischlagen +Deinetwegen ... hernach schauen die Leut' +unsereins überhaupt nicht mehr an ... und so ist's in +allem! Schon wie's heißt — Jucunda! Wie kommt +bloß ein Vater auf die Idee, so ein Wurm 'Jucunda' zu +taufen? Als ob er damals schon geahnt hätt', daß das +Kind einmal wird unters Theater gehen! Sag' doch, Mädel +— wo kommst an so einen Namen, so ein' ausgefall'nen?«</p> + +<p>»Ach — das ist einfach genug ... da war eine alte +Tante, die eine Beamtenpension zu verzehren hatte und +so schöne uralte Möbel und Bilder gehabt hat aus der +Goethezeit ... um die sind alle Verwandte herum gewesen +erbschleichen ... aber meine Eltern haben den +Vogel abgeschossen und mich nach ihr getauft ... das hat +sie so erschüttert, daß sie mir den ganzen Krempel vermacht +hat ...«</p> + +<p>»Ach — und nun hast Du das ganze schöne Zeugs?«</p> + +<p>»I Gott bewahre — verkauft hat's mein Vater und +für mich in einem Sparkassenbuch angelegt ... und davon +sind mein Studium und meine modernen Kostüme bezahlt +worden — paar Groschen werden wohl auch noch da sein, +denk' ich ...«</p> + +<p>»Ja schaust, was Du für ein Glückskind gewesen +bist ...« Astas Augen irrten in die Ferne, ein ganz +fremder Ausdruck von Bitterkeit und Ekel umschattete +das pfirsichweiche Oval. — »So eine Tante wenn ich +gehabt hätt', meinetwegen hätten s' mich Eulalia mögen +taufen! Ich hab' das alles allein müssen schaffen, so gut +oder — so hundsfött'sch wie's hat gehen mögen ... Dabei +wird man ein armes, gerissenes, mit allen Hunden gehetztes +Wildkatzerl allenfalls ... und wenn man ein +bisserl Talent hat, hernach wurschtelt sich eins am End' +auch noch rechtzeitig in die Höh' ... aber eine Priesterin, +vor der die Menschen sich platt auf den Bauch schmeißen, +eine Jungfrau von Orleans wird man nicht auf die Art!«</p> + +<p>Mit herablassender Zärtlichkeit streichelte Jucunda die +zierliche Kollegin. »Ich sollte meinen, Asta, Du könntest +noch ganz zufrieden sein mit Dir — nicht wahr, Herr ... +Gott, dieser lächerliche Name — schon wieder hab' ich ihn +verschwitzt —«</p> + +<p>»Herr Dummerle!« half Asta ein, und um die schmerzlich +verzogenen Lippen huschte schon wieder der Schalk.</p> + +<p>Hans Thumsers Blicke wanderten rastlos von einer +zur andern. Welches Glück, daß er den goldenen Apfel +des Paris nicht zu vergeben hatte!</p> + +<p>Und Valentin Pilgram? Und die Affäre? Schon längst +wieder versunken ... kaum die Oberfläche des Gesprächs +hatte sie gekräuselt, die Geschichte von dem wackren Gesellen, +der um dieses achtzehnjährigen Weibes willen sein +Blut, sein Schicksal aufs Spiel gesetzt hatte — als Dank +für ein paar freundliche Worte, die sie ihm geschenkt ...</p> + +<p>Dieser Gedanke tauchte dann und wann flüchtig auf +in Hans Thumsers Denken — aber die Gegenwart, die +nie erlebte, der beiden jungen, blutjungen und doch schon +aller Machtmittel ihres Geschlechtes kundigen Geschöpfe +verdrängte das Bild des Korpsbruders, das heut morgen +in so lichtem Heroenglanze gestrahlt hatte.</p> + +<p>»Sagen Sie, Herr Thumser, was studieren Sie eigentlich?« +fragte Jucunda.</p> + +<p>»Gott, was studier' ich? Die Geheimnisse des S. C. +Paukkomments — die Kunst, eine Tiefquart unter der +steilsten Auslage hindurch in die Nasenspitze des Gegners +zu dirigieren ...«</p> + +<p>»Das glaub' ich nicht ... so sehen Sie nicht aus, als +ob das alles wäre, was Sie treiben ...«</p> + +<p>»Na ... meine kümmerlichen Versuche, mich mit der +Juristerei anzufreunden, werden Sie mir doch wohl kaum +am Gesicht ansehen können?«</p> + +<p>»Das nun schon gar nicht! Nein, es steckt noch etwas +andres hinter Ihnen —«</p> + +<p>»Soll ich's verraten?« fiel Asta ein — »ich weiß es +nämlich ...«</p> + +<p>Und mit ihrem Spitzbubenlächeln, das Köpfchen tief +auf die weiche Schulterlinie geneigt, fing sie an zu +rezitieren:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Ich bin ein junger Korpsstudent,<br /></span> +<span class="i0">Die Schuhe Lack, der Rock patent,<br /></span> +<span class="i0">Korrekt und schick an mir ist alles —<br /></span> +<span class="i0">Im Portemonnaie nur —«<br /></span> +</div></div> + +<p>»Halt! Gnade!« rief Hans und legte seine Hand beschwörend +auf Astas runden Unterarm — von dessen +Wärme süße Schauer in seine Fingerspitzen, seine Arme, +sein Blut hinüberströmten.</p> + +<p>»Ach — sieh da — Verse — und von Ihnen?« fragte +Jucunda. »Also ein junger Schiller — oder Goethe? +Sieh da!«</p> + +<p>»Ach Gott — diese elenden Knittelreime — wenn man +nichts Besseres könnte ...«</p> + +<p>»Oh — das ist aber nicht hübsch von Ihnen, daß Sie +sich meinetwegen so wenig angestrengt haben —« sagte +Asta. »Na, was können Sie denn Besseres? Heraus damit!«</p> + +<p>»Jawohl, Herr Poet, eine Probe Ihrer Kunst!«</p> + +<p>Hans Thumser ließ sich nicht lange bitten. Er sann +einen Augenblick nach. Dann richtete er sich unwillkürlich +etwas auf, ein feierlicher, strahlender Ausdruck kam in +seine Züge; und in tiefinnerer Bewegung sprach er:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Abgründe klaffen rechts und links<br /></span> +<span class="i0">Von meinem schwindelschmalen Pfade,<br /></span> +<span class="i0">Und hinter mir schleicht stumm die Sphinx —<br /></span> +<span class="i0">Doch über mir geigt Engelsgnade.<br /></span> +<span class="i0">Ich aber will nachtwandlerkühn<br /></span> +<span class="i0">Den Gratgang bis ans Ende wagen,<br /></span> +<span class="i0">Und hell durchsonnt von Morgenglühn<br /></span> +<span class="i0">Der Harfe gold'ne Saiten schlagen!«<br /></span> +</div></div> + +<p>»Ah ... bravo ... das ist wirklich ein Gedicht ...« +sagte Jucunda. »Sieh da — wer hätte das hinter diesem +wandelnden Modejournal gesucht ...«</p> + +<p>»Oh ... seh' ich aus wie ein wandelndes Modejournal?«</p> + +<p>»Na, so seht Ihr Korpsstudenten doch alle aus ...«</p> + +<p>»Gott ja — es braucht ja nicht jeder Poet auszusehen +wie die Jünglinge aus dem Café Größenwahn — von +denen mir ein Berliner Korpsbruder neulich erzählt hat.«</p> + +<p>»Nein, da haben Sie recht,« sagte Jucunda. »Die Sorte +kenn' ich auch — aus der Zeit unseres Gastspiels am +Viktoriatheater ... ich denke mir, der junge Goethe ist +hier in Leipzig auch so etwa wie ein wandelndes Modejournal +herumgelaufen, während seine Kollegen lange fettige +Haare und schmutzige Hemdkragen trugen ... Sieh da — +also so schaut ein junger Dichter aus ... alte kenn' ich ja +schon diesen oder jenen, aber das waren alles sehr verschlissene, +sehr diplomatische, sehr nüchterne und ... ernüchternde +Herren ... Sie sind nicht nüchtern, Herr Thumser, +Sie laufen wie in einem ewigen Rausch herum — wenn +Sie auch noch so schneiderelegant aufgemacht sind ...«</p> + +<p>»Ja, das ist wahr!« sagte Hans lebhaft. »Ewiger +Rausch! Sie haben recht! Ich bin immer wie betrunken +von ... von all dem Herrlichen um mich her — von +all dem Neuen und Gewaltigen, das jede Stunde bringt! +Ist nicht die Welt ein einziges, ungeheures Wunder? Und +so ein armes Menschenherz viel zu klein und eng, um das +alles zu fassen? Und wenn man's nun so erleben darf, +die Schönheit, die Kunst, die Poesie leibhaftig vor sich zu +sehen ... wie in Ihnen, Jucunda Buchner ...«</p> + +<p>Die braunen Augen hingen an den blauen, die blauen +an den braunen — mit hochaufgerichteten Leibern saßen +die jungen Menschen einander gegenüber, und Ströme +des Lebens rauschten von einem zum andern.</p> + +<p>Jucunda fühlte sich wachsen in dieser naiven Bewunderung +eines Menschen, in dem ihr weiblicher Instinkt +die gärenden, schäumenden Kräfte witterte ... und Hans +Thumsers gläubiges Märchenherz erblickte in dem weißen, +vom Schöpfer in einer Künstlerlaune so edel ausgeformten +Gesicht die fleischgewordene Schönheit, herabgestiegen vom +Himmel, um ihm, dem Werdenden, die Fülle zu offenbaren ...</p> + +<p>Auf einmal fuhren beide herum: ein Ton, ein erstickter, +war in ihre Versunkenheit gedrungen — ein Ton, den +Hans schon einmal vernommen zu haben meinte: der Ton +eines bittren, unbezwinglichen Weinens ...</p> + +<p>Asta Thöny hatte den Kopf in die Finger gedrückt, +die Hände auf die Knie gepreßt ... ganz in sich zusammengekauert +saß sie da, die zierlichen Schultern zuckten, aus +dem Nest der schwarzen Flechten hatten sich ein paar +glänzende Locken gelöst und rollten über den weißen +Nacken ...</p> + +<p>»Aber Kind — was ist Dir nur?« fragte Jucunda und +legte den Arm um die Hüften der Kollegin.</p> + +<p>Aber die schüttelte die Umschlingung ab, sprang auf, +eilte zum Fenster hinüber und lehnte den hochgehobenen +Arm, die tiefgesenkte Stirn an die Scheiben ...</p> + +<p>»Aber ... was ist Ihnen denn nur, gnädiges Fräulein?« +stammelte Hans Thumser.</p> + +<p>»Ach, geht mir doch — laßt mich doch in Ruh, Ihr zwei! +Poussiert doch miteinander, so viel Ihr Lust habt — aber +nicht in meiner Gegenwart!«</p> + +<p>»Aber Kind!« sagte Jucunda, stand auf, sah Hans an +mit einem Blick, der für die Kollegin um wohlwollende +Nachsicht zu bitten schien, wie für ein törichtes, verzogenes +Kind, und trat zu ihr ans Fenster.</p> + +<p>»Ach, gehen Sie doch, Buchner — lassen Sie mich! +Es ist ja immer dieselbe Geschichte! Alles müssen Sie +für sich haben, alles belegen Sie mit Beschlag — alles +muß zu Ihren Füßen liegen, keiner andern gönnen Sie +was! Den Jungen da, den hab' ich nun entdeckt — und +kaum hab' ich ihn eingeladen, schon sind Sie da, als wenn +Sie's gewittert hätten — und gleich geht's los, das alte +Spiel — nur Jucunda Buchner redet, man sieht nur sie, +man hört nur sie, man vergafft sich nur in sie, nichts +existiert auf Gottes weiter Welt, nichts und gar nichts, +als einzig und immer wieder Jucunda Buchner!«</p> + +<p>»Herr Thumser, ich bitte Sie um Ihr unparteiisches +Zeugnis!« sagte Jucunda ruhig, ganz beherrschte Weltdame +— »ist das nun gerecht, wie diese Dame mich behandelt? +Habe ich auch nur den geringsten Versuch gemacht, +Sie — wie hat sie gesagt? — mit Beschlag zu belegen? +Haben wir nicht vollkommen harmlos geplaudert alle +drei? Und auf einmal aus heitrem Himmel diese Explosion? +Habe ich das verdient, Herr Thumser? Bitte, +sprechen Sie.«</p> + +<p>In tödlichster Verlegenheit hatte Hans Thumser diesen +Ausbruch, dieses Zwiegespräch der Kolleginnen über sich +ergehen lassen. Er suchte vergebens nach der rechten +Antwort auf Jucundas Frage.</p> + +<p>»Gnädiges Fräulein ...« stammelte er zuletzt, »verzeihen +Sie, wenn ich auf Ihre Frage nicht antworte. Wir +sind beide Fräulein Thönys Gäste ... Ich bin untröstlich, +daß ich Ihr Mißfallen erregt habe, Fräulein Thöny ... +ich darf Ihnen zwar versichern, daß es keineswegs meine +Absicht war, Sie irgendwie zu ... wie soll ich sagen? +... zu vernachlässigen ... Wenn ich dennoch ... es +an der schuldigen Rücksicht habe fehlen lassen — so bitte +ich tausendmal um Entschuldigung ...«</p> + +<p>Asta Thöny antwortete nicht. Sie stand noch immer +am Fenster ... der Schein der Straßenlaternen von +drunten umrandete ihre dunkle Silhouette mit einem +silbernen Streif — den weißen Batist, den zarten Flaum +des Armes, die Flimmerlöckchen des schwarzen Haars. +Wie das Kabinettstück eines der holländischen Kleinmeister +sah das aus.</p> + +<p>Jucunda und Hans blickten einander an — der Jüngling +in ratloser Befangenheit, das Mädchen gelangweilt, +mit verdrossenem Achselzucken ...</p> + +<p>In diesem Augenblick erklang draußen eine heftige, +erregte Stimme, die Jucunda auffahren machte:</p> + +<p>»Na, Gott sei Dank und Lob — endlich also! G'sucht +hab' ich das Mädchen durch die halbe Stadt ... nee so +was, nee so was!«</p> + +<p>Die Tür sprang auf, und eine massive Frauengestalt +füllte den Rahmen — Frau Wehe verschwand fast ganz +hinter dem roten, schwitzenden Gesicht, das von den Samtschleifen, +den Seidenbändern eines schwarzen Kapothutes +eingesäumt war — hinter den mächtigen Schultern unterm +perlbesetzten Samtcape ...</p> + +<p>»Jucunda — endlich ... Wenn Du wüßtest, was ich +hab' müssen aussteh'n diesen Nachmittag Dir zuliebe ... +Daß mich der Schlag nicht hat gerührt, das is mir ä +blaues Wunder ...«</p> + +<p>»Mutter — Du?« sagte Jucunda langsam und ungnädig. +Sie empfand dunkel, daß diese Erscheinung in +schroffem Widerspruch stand zu dem mystischen Glanz, der, +sie wußte es, von ihr ausging, wenn sie wollte, und wenn +der Glückliche, der in diesem Glanze stand, die nötige +Naivität besaß.</p> + +<p>»Was ist denn passiert? Darf ich zunächst bekannt +machen? Meine Kollegin Fräulein Asta Thöny — Herr +Studiosus — na wie war's doch noch? Dummser, nicht +wahr?«</p> + +<p>»Thumser,« sagte Hans.</p> + +<p>»— meine Mutter, Frau Rat Buchner. Also was +steht Dir zu Diensten, Mama?«</p> + +<p>»Nu nee — ich weeß nich recht, ich mecht wohl mal e +Wertchen mir Dir alleene sprech'n, Jucunda ... Entschuldigen +Se nur, meine Herrschaft'n — aber kannste nich +e bißchen mit mir uff de Straße 'nunter kommen, Kind?«</p> + +<p>»O bitte, gnädige Frau, wenn Sie mit Ihrem Fräulein +Tochter etwas unter vier Augen zu besprechen haben« — +fiel Hans Thumser ein — »meine Stube ist nebenan, die +steht Ihnen mit Vergnügen zur Verfügung — darf ich +Mutter Ach — Frau Wehe, wollt' ich sagen, darf ich ihr +Auftrag geben, daß sie Licht macht?«</p> + +<p>Jucunda dankte mit einem Lächeln, kühl und hoheitsvoll, +wie nie zuvor, als gälte es, den etwas befremdlichen +Eindruck, den das Erscheinen ihrer Mutter gemacht, durch +doppelt königliches Wesen wettzumachen. Und Hans und +Asta blieben allein zurück.</p> + +<p>Stumm war's im Zimmer, während jenseits der Tür, +jenseits der beiden Kleiderschränke, die sie hüben und +drüben verbarrikadierten, ein erregtes Flüstern anhob. +In weißen Schwaden lag der Zigarettenqualm über dem +Tisch, wob um die Hängelampe, ward von Wärmestrudeln +in ihren Schirm hineingesogen und stieg um ihren Zylinder +steil wie aus einem Schlot empor.</p> + +<p>Ein weiches, brüderliches Gefühl zog Hans zu dem +Mädchen hin, das noch immer schweigend am Fenster +stand, vom Laternenlicht umsilbert, von stoßweis zuckendem +Schluchzen den schlanken Leib geschüttelt.</p> + +<p>»Fräulein Asta!« sagte er und trat ein paar Schritte +auf sie zu; das Herz schlug ihm bis in den Hals. Nun +war es da: er war zum erstenmal in seinem Leben mit +einem Mädchen allein.</p> + +<p>Sie antwortete nicht, nur heftiger flossen ihre Tränen +beim Klang der gedämpften Stimme, die so erregt, so +gütig ihren Namen sprach.</p> + +<p>»Fräulein Asta,« sagte Hans noch einmal, »so wahr +ich lebe, ich habe nicht daran gedacht, daß mein Benehmen +Sie kränken könnte. Und Sie müssen mir's glauben, +wenn ich Ihnen sage: es war reiner Zufall, daß ich ... +daß ich mich mehrmals hintereinander mit meinem Gespräch +nur an Fräulein Buchner gewendet habe — ich +weiß wohl, daß ich gesellschaftlich noch nicht sehr gewandt +bin ... aber ... Fräulein Buchner ... Ihnen ... vorziehen +... daran hab' ich ja mit keinem Sterbensgedanken +gedacht ... ich wäre doch auch ein Narr ... Sie ... Sie +sind ja so ein ... so ein wundervolles Geschöpf ... Sie +ahnen ja gar nicht, wie ich ... hingerissen gewesen bin ... +gestern, wie ich Sie auf der Bühne sah ...«</p> + +<p>Er lauschte, ob eine Antwort käme ... aber regungslos +stand das Mädchen, Arm und Stirn an die Scheiben +gepreßt, die von der Wärme ihrer Glieder mit einem +feinen Nebel beschlugen. Und wie Hans sich zage, Schritt +um Schritt, der Fensternische näher schob, fiel sein Blick +auf die Sophienstraße: drüben, vorm Eingang des +Carolatheaters, drängte sich schon wieder, noch weit +über eine Stunde vor Beginn der Vorstellung, ein dichter +Menschenhauf, des Augenblicks wartend, da die Kasse sich +zur ersten Wiederholung der »Jungfrau« öffnen würde. +Noch nicht vierundzwanzig Stunden waren vergangen, +seit er Asta Thöny zum ersten Male gesehen ...</p> + +<p>Aber ihre Tränen waren versiegt: sie harrte, ohne sich +zu rühren ... es war, als lausche sie ... als lechze sie, +mehr zu hören ... mehr ...</p> + +<p>Hans Thumser fühlte, wie alle seine Glieder nur ein +einziges banges, verlangendes Beben wurden ... auch +seine Stimme bebte heftig, als er weitersprach, ohne zu +wissen, was er sagte ...</p> + +<p>»Asta ... ich habe noch nie ... noch nie ein Mädchen +berührt ... ich bin ein ganz dummer, dummer Bub ... +Sie ... Sie müssen Geduld mit mir haben ... Wenn +Sie ahnen könnten, wie mir zumut ist ... wie ich mich +sehne ... ach, wie namenlos ich mich sehne ... ach, und +ich hab' mich ja schon so gesehnt ... seit ich Sie gesehen +hab' da drüben ... in Ihrer Schönheit ... und heut nacht, +o Mädchen, wie haben meine Gedanken, meine Träume +sich an Dich gedrängt ... hast Du das denn nicht gefühlt? +nicht geahnt? Seien Sie doch nicht so stumm, sagen Sie +mir doch, daß Sie mir verziehen haben ... mir ist ja so +bang, so namenlos bang ist mir nach Dir ...«</p> + +<p>Da wandte das junge Weib sich um ... Ihre duftenden +Arme warf sie dem Knaben um den Nacken und überflutete +ihm die Lippen, die Augen, den Hals mit dem +schäumenden Strom ihrer Küsse.</p> + +<p class="start-chapA space-above">Also, Jucunda, Du weeßt nu, was die Glocke geschlagen +hat ...« beendete drüben in Hans Thumsers +Studentenbudchen Mutter Doris ihren Bericht über die +schwerste Stunde ihres Lebens — wie sie den Nachmittagsbesuch +des Herrn vom Nassau-Dillingenschen Hofe genannt +hatte. Sie thronte auf dem Kanapee unter den gekreuzten +durchbohrten Mützen, den staubigen, verblichenen Bändern +in ihrer ganzen schnaubenden, dampfenden Leiblichkeit +... Die Korsettstangen knackten unter den keuchenden +Atemstößen der eingepreßten Lungen, die fleischige Hand +wedelte ohn' Unterlaß mit dem feuchten Taschentuch den +beperlten Hängebacken Erfrischung zu. Jucunda saß +stumm in einem der geblümten Fauteuils, mit zusammengepreßten +Lippen, das stolze Haupt ein wenig zurückgeneigt, +die blauen Augen starr zur Decke gerichtet. Sie +schwieg auch, als die Mutter ihren Bericht geendet und erwartungsvoll +an den Zügen der Tochter hing.</p> + +<p>»Nu rede Du aber gefälligst ooch en Ton!« polterte +Mutter Doris schließlich heraus. »Ich mein', ich hätte +mich nu genügend abgerackert für Dich!«</p> + +<p>»Na, wenn Du meine Meinung denn wirklich hören +willst, Mutter: Du scheinst mir eine märchenhafte Dummheit +begangen zu haben.«</p> + +<p>»I herrjemersch nee ... nu wird mer'sch aber doch zu +tolle! Und was wär' das fier ä Dummheit, wenn's gefällig +wär?«</p> + +<p>»Wie Du den Brief hast herausgeben können, Mutter, +das versteh ich einfach nicht ... das Geld, mag sein, +obgleich mir's schon lieber wäre, ich hätte einen Postquittungsschein +in Händen ... aber den Brief — unglaublich +einfach!«</p> + +<p>Sie sprang heftig auf, stieß den Fauteuil mit einem +Ruck zur Seite, daß er in seinen Grundfesten krachte, und +rannte zum Fenster — starrte hinaus, wie drüben vorher +die zierliche Kollegin ...</p> + +<p>Ach ... da drunten drängten sich die Massen — eben +war der Kassenflur geöffnet worden — stießen sich, +balgten, prügelten sich um den Vorrang ... wem galt +das alles als ihr? Die alle da unten, hatten die einen +anderen Gedanken als — Jucunda Buchner?</p> + +<p>Und nach der Tortur dieser letzten Viertelstunde, nach +all dem Ekel, der Zukunftsbangigkeit, die in ihr aufgequollen +war beim Bericht der Mutter — kam da auf +einmal eine wunderbare Gelassenheit über das Mädchen. +Pah — was konnte ihr geschehen?!</p> + +<p>Inzwischen hatte Mutter Doris sich von ihrem ersten +Schreck erholt.</p> + +<p>»Nee, weeßte, Jucunda, ich versteh Dich nich, wahrhaft'gen +Gott, ich versteh Dich nich. Erscht stellst Du Dich +an wer weeß wie sähre, daß De so än Brief kriegst, un ... +un das andre ... un nu kommt der, der Dir's geschickt +hat, und holt sich's wieder ab — un nu is ooch wieder +nicht recht — — un ich hab' Dir doch bloß die scheißliche +Geschichte woll'n vom Halse halten ... nee, nee, so was! +Das hätt' ich wissen sollen, dann hätt' ich dem dicknäsigen +Herrn ganz einfach gesagt: kommen Se gefälligst wieder, +wenn Fräulein Jucunda Buchner derheeme is — mich +geht's nischt an!«</p> + +<p>»Hättest Du das man getan, Mutter ... Ich hätte +dem Herrn schon beigebracht, wie man mit Jucunda +Buchner spricht — das kannst mir glauben! Ach — aber +es ist ja alles egal ...«</p> + +<p>Sie reckte sich ... ein harter Glanz kam in ihre Augen +... Noch eine knappe Stunde, und die Rampenlichter +flammten auf, und sie tauchte hinein in ihren blendenden +Schimmer — und von jenseits, aus dem dunkel gähnenden +Zuschauerraum, dampfte die Vergötterung der anderthalb +Tausend ihr entgegen ...</p> + +<p>»Was wirscht De denn nu anfangen?« fragte Mutter +Doris ganz halblaut. »Wo der Herr Major doch verlangt +hat, Du sollst machen, daß der ... der Herr Korpsstudent +seine ... seine Aufforderung zum Duell ... daß er die +zurück tut nähm'!«</p> + +<p>Jucunda versank in einen Wirbel der Gedanken. Das +Bild des jungen Gesellen stieg in ihr auf, der so viel für +sie getan ... aus einem ritterlichen Empfinden heraus, +das so einfach, so natürlich war, daß Jucunda es wohl +verstehen mußte, würdigen konnte in seiner schlichten, +starken Mannhaftigkeit ... Und nun sollte sie selber von +ihm verlangen, daß er den kühnen, verhängnisvollen +Schritt, den er zu ihrem Schutze getan — rückwärts tun +sollte ... Sie war in einer Luft groß geworden, in die +immerfort, aus den Stübchen der Mieter ihrer Eltern in +die gute Stube da hinten mit den grünen Plüschmöbeln, +in die Träume ihres eigenen Mädchenkämmerleins +hinein — die romantischen Vorstellungen und Begriffe +von korpsstudentischem Schneid, von Burschenehre hineingeweht +waren ...</p> + +<p>O sie wußte ganz genau, was es für den weiland +Ersten Chargierten der Franconia bedeutete, aus dem +Korps auszutreten, um einen Prinzen, der an offiziellen +Kneipabenden die grüne Mütze anlegte, zum Säbelduell +fordern zu können ... und was es nun erst bedeuten +mußte, wenn sie ihm zumutete, seine Forderung zurückzunehmen, +ohne daß eine Sühne erfolgt war ... ohne +selbst eine formelle Bitte um Entschuldigung ... denn als +eine solche konnte doch der Besuch des Majors, seine unverblümten +Drohungen, die Erlistung des Briefes und +des Geldes aus der Hand der hilf- und ahnungslosen +Mutter unmöglich aufgefaßt werden ...</p> + +<p>Immerhin — hier war der Ansatzpunkt. Die Sache +mußte dem Studenten so dargestellt werden, als habe der +Major den Auftrag gehabt, eine Bitte um Verzeihung im +eigenen Namen und im Namen seines prinzlichen Zöglings +zu überbringen ... als ob er diese Bitte auch tatsächlich +überbracht habe ... und wenn sie, die Beleidigte, sich +mit dieser Genugtuung einverstanden erklärte, dann war +ja doch wohl für ihren Beschützer kein vernünftiger Grund +mehr, seine Forderung aufrecht zu erhalten ... und alles +in schönster Ordnung ...</p> + +<p>Alles in Ordnung? Nein ... Jucunda war ein viel +zu klarer Kopf, als daß sie die Folgen des Geschehenen +nicht zu Ende gedacht hätte ...</p> + +<p>Also er zieht seine Forderung zurück, und dann? Nun +dann ist er, auf gut deutsch gesagt, der unrettbar Blamierte +... Er ist aus dem Korps ausgetreten und hat +ein Mitglied des Korps gefordert — die Forderung ist +zwar nicht zum Austrag gekommen, aber die unsühnbare +Feindschaft zwischen den beiden jungen Männern besteht +— sie können nicht mehr auf der Kneipe zusammensitzen, +nicht mehr die gleichen Farben tragen ... Und da das +Korps seiner ganzen Tradition nach, um seiner Beziehungen +zu Hof, Behörden, Gesellschaft willen den +Prinzen nicht fallen lassen kann, so wird eben Pilgram +dran glauben müssen ... Er hat sein Band verloren, ist +ausgeschieden aus dem Kreise der Freunde seiner Jugend +... All das tapfere Ringen, Mensuren, Chargen, +verbummelte Semester umsonst ...</p> + +<p>Das alles wußte Jucunda und wurde sich im angestrengten +Nachsinnen weniger Minuten über all diese +Folgen klar, mitleidslos gegen sich und ihn ...</p> + +<p>Und wieder meinte sie sein hartes, herrisches Gesicht +zu sehen, wie es weich, selbstlos, opferfreudig aufglühte +um ihrer Ehre willen ...</p> + +<p>»Sie haben weinen müssen — — — das sollen sie mir +bezahlen, die zwei ...«</p> + +<p>Wie gut, wie tapfer, wie ... heldenhaft seine Worte, +seine Tat ... und nun?!</p> + +<p>Hieß das nicht ... ihn schmählich verleugnen ... +wenn sie nun zurückwich, sie ... und dadurch seiner Tat +den ritterlichen Glanz raubte ... sie zu einer Narrensposse, +zu einem Dummenjungenstreich erniedrigte?</p> + +<p>Aber ... ihre eigene Zukunft? Ihre Karriere? War +das nicht alles, alles das, was der Major ihrer Mutter +angedeutet hatte ... waren das nicht alles Wahrheiten?!</p> + +<p>Einen Augenblick lang war sie geneigt, das alles in +den Wind zu schlagen ... Pah ... Engagement in +Frage gestellt ... Bericht gegen sie beim Hof in Meiningen +... War sie nicht Jucunda Buchner? Brauchte +sie die Hoftheater? Oder brauchten die Hoftheater — sie?!</p> + +<p>Ach nein ... So stand es doch nicht ... Man war +nicht immer achtzehn Jahre, nicht immer eine neue Entdeckung, +eine Sensation, eine Mode ... Jucunda wußte +schon viel, viel zu viel von den brutalen Gesetzen der +Macht, der Laune, des Glücks, des Wechsels, welche die +schillernde Welt regierten, in der es ihr bislang so herrlich, +so unverdient und unfaßbar glänzend gegangen ... +sie dachte an ihre alte, verknitterte Garderobiere, die +auch einmal eine vergötterte junge Liebhaberin gewesen +war — freilich nur am Stadttheater in Stallupönen, +aber je höher der Anstieg, um so grimmiger die Gefahr, +um so steiler und zerschmetternder der Sturz ... Nein, +beim Theater konnte sich niemand erlauben, nur auf sein +Talent, seine eigene Kraft und Persönlichkeit zu bauen +und die Gunst der Mächtigen, der Brotgeber leichtsinnig +zu verscherzen ... Niemand konnte sich das erlauben, +auch Jucunda Buchner nicht ...</p> + +<p>Er ... oder ich — — so stellte sich schließlich die +Frage ... und waren da die Chancen nicht doch zu ungleich? +Schließlich ... ersparte sie nicht auch ihm durch +ihren Entschluß, ihn fallen zu lassen, das größere Opfer, +das noch ausstand? Das Risiko eines, nein zweier Zweikämpfe +mit schweren Waffen, unter den schärfsten Bedingungen? +Ersparte sie ihm nicht den definitiven, den +viel größeren, gar nicht wieder gut zu machenden +Skandal?!</p> + +<p>Eine ... Enttäuschung ... eine schmerzliche Wunde +für sein jugendlich enthusiastisches Empfinden bedeutete +es ihm, wenn sie sich zurückzog ... mehr doch nicht ... +Für sie aber stand ihre ganze Zukunft, ihre Zukunft als +Künstlerin wie ihre materielle Existenz auf dem Spiele ...</p> + +<p>Gab es da eine Wahl?</p> + +<p>Und letzten, allerletzten Endes: Hatte er das alles nicht +sich selber zuzuschreiben? Hatte sie ihn um seinen Schutz +— gebeten?! Nein, das hatte sie nicht getan, mit keinem +Wort, keinem Blick ... Er hatte sich zum Verteidiger +ihrer Ehre aufgeworfen ... Hatte sich eigentlich, wenn +man es einmal mit einem etwas scharfen Ausdruck bezeichnen +wollte, aufgedrängt ... Und hatte sie nicht alles +Mögliche versucht, ihn von diesem unerbetenen Opfer abzuhalten?! +Aber er war ja fortgestürmt, als ging's um +seine eigene Ehre, um sein Leben ...</p> + +<p>Jucunda stand am Fenster, noch immer regungslos. +Und hinüber, herüber schossen die Gedanken, anklagend +und entschuldigend ...</p> + +<p>Mutter Doris saß ganz still und gedrückt in ihrem +Kanapee ... Daß sie eine furchtbare Dummheit gemacht, +als sie das verhängnisvolle Briefchen aus der Hand gegeben +... das war ihr nun völlig klar ... Ihre spießbürgerliche +Verschlagenheit sagte ihr ja nun selber, daß +man aus solchen Beweisstücken Kapital hätte schlagen +müssen ... Selbstverständlich nicht im materiellen Sinne +— o nein, so etwas hatte man ja gottlob nicht nötig ... +Aber man kann doch nie wissen, wozu man ein solches +Zettelchen einmal gebrauchen kann ... So etwas läßt +man sich doch nicht ganz umsonst aus den Fingern +drehen ...</p> + +<p>Und dies Bewußtsein: die einzige Waffe, die ihre +Tochter besaß, blöde, gedankenlos aus der Hand gegeben +zu haben — das machte sie klein und stumm ...</p> + +<p>Jucunda schloß unterdessen ab. Ganz kühl, ganz klar +hatte sie alles abgewogen. Nein, es ging nicht ... Sie +konnte sich nicht, wider ihre innersten Lebensinteressen, +von dem Don-Quichotte-Streich des jungen Burschen durch +dick und dünn fortschleppen lassen ... Losketten mußte +sie das Schiff ihres Glücks von der toll und steuerlos +dahinrasenden Fahrt des überheizten Dampfers, der sie so +mir nichts dir nichts ins Schlepptau genommen ...</p> + +<p>Und doch ... und doch ...</p> + +<p>'Sie haben weinen müssen ... Das sollen sie mir bezahlen +... die zwei ...'</p> + +<p>Wenn man — diesen Ton, diesen Blick nur los werden +könnte ...</p> + +<p>Pah ... Es <em class="gesperrt">mußte</em> sein ...</p> + +<p>Und schließlich und endlich — wer war Herr Pilgram?! +Ein gleichgültiger junger Mensch, von dem sie nichts +wußte, als daß er sie einmal sehr grob in ihrer Arbeit +gestört ... sich für diese Grobheit dann freilich sehr +manierlich entschuldigt ... und eine Abendstunde mit ihr +geplaudert hatte ... in der sie, das wußte sie ganz genau, +ihm nicht die leiseste Andeutung einer Sympathie gemacht +hatte, die sie ja auch nie empfunden hatte ... Denn +schließlich, sie machte sich ja doch nicht das mindeste aus +ihm ... Er war ein kreuzbraver, aber doch durchaus +alltäglicher Geselle ... Ja, wenn noch etwas in ihrem +Herzen sich geregt hätte bei dem Gedanken an ihn ... +die Ahnung von etwas Besonderem ... wie sie es eben, +vor einer halben Stunde, so deutlich gefühlt hatte im Gespräch +mit ... jenem andern grünbemützten Studenten, +in dessen Zimmer sie jetzt stand ... der so schöne Verse +machen konnte und so seltsam verhaltene Worte reden... +in dem irgend etwas gärte und brodelte, das ihrem +eigenen Wesen und Wollen auf eine geheimnisvolle Weise +verwandt war ...</p> + +<p>Nein ... Herr Pilgram war ... irgendein Herr +Pilgram ... war nichts und niemand ... Herr Pilgram +hatte sich in ihr Leben eingedrängt ... man würde +ihn mit möglichster Schonung, doch unmißverständlich +wieder hinauskomplimentieren müssen ...</p> + +<p>»Es ist gut, Mutter ...« sagte Jucunda und wandte +sich ruhig um. »Ich will Herrn Pilgram schreiben ... +jetzt gleich ... er soll seine Forderung zurückziehen ... +Den Brief kannst Du ihm hernach — wenn wir aus dem +Theater nach Hause kommen — dann kannst Du ihm den +Brief auf die Stube legen ... Hoffentlich ist er nicht zu +Hause, wenn wir kommen — sonst — na sonst mußt Du +ihm den Brief eben geben.«</p> + +<p>»Na, das is verninft'g von Dir, Mädchen!« seufzte die +stattliche Frau und atmete tief auf, daß die Korsettstangen +knackten. »Hier, mache nur schnell ... Da is ja der +Schreibtisch, und Briefpapier liegt ooch genug herum — +gleich setz' Dich und schreib'! Kannst Dich ja hernach bei +dem Herrn entschuld'gen ...«</p> + +<p>Jucunda ging zum Schreibtisch des Studenten hinüber, +fand Briefbogen, entdeckte aber, daß sie sämtlich +oben in der linken Ecke den Zirkel des Korps Franconia +und darunter das Monogramm des Eigentümers trugen. +Da drehte sie kurz entschlossen einen Bogen herum und +schrieb auf die Rückseite:</p> + +<p class="right" style="margin-right : 1em"> +»Leipzig, den 31. Oktober 1888. +</p> +<p class="center"> +Sehr geehrter Herr!<br /> +</p> + +<blockquote> + +<p>Ihr ritterliches Eintreten für mich hat den gewünschten +Erfolg gehabt: die beiden Herren, die mir +diesen abscheulichen Brief geschickt haben, haben mündlich +bei mir um Entschuldigung gebeten. Ich bin über +diese Lösung hocherfreut und danke Ihnen innigst für +Ihren gütigen Beistand, ich weiß wohl, daß Sie mir +ein großes Opfer gebracht haben. Nun ist der Zweck +Ihres Handelns erreicht. Bitte tun Sie mir nun auch +den Gefallen und nehmen Sie so bald als möglich Ihre +Herausforderung zum Duell zurück, damit nicht noch +weitere Unannehmlichkeiten entstehen.</p> + +<p>Ich bin mit der nochmaligen Versicherung meines +aufrichtigen Dankes</p></blockquote> + +<p class="right" style="margin-right:7em"> +Ihre ganz ergebene +</p> +<p class="right" style="margin-right:1em"> +J. B.« +</p> + +<p>In einem Zuge, ohne Besinnen, hatte Jucunda geschrieben: +Nun überlas sie die Zeilen und wunderte sich, +wie klar und einfach und selbstverständlich das alles klang. +Und darum wunderte sie sich noch viel mehr, weshalb ihr +nur so übel dabei zumute war. Sie hatte ja doch recht, +tausendmal recht ... Es war eine so klare vernünftige +Lösung — es konnte ja doch schlechterdings nicht anders +gemacht werden ...</p> + +<p>'Sie haben weinen müssen ... Das sollen sie mir bezahlen, +die zwei ...'</p> + +<p>Das war ja doch eigentlich ein Unsinn ... Was +gingen ihn, den fremden jungen Mann, ihre Tränen an? +Was berechtigte ihn, für diese Tränen Sühne zu fordern? +Da war irgend etwas, das stimmte nicht ... ein Fehler, +ein Gedankenfehler ... Und aus diesem Fehler war alles +entstanden ...</p> + +<p>Dennoch ... Sie fühlte es ganz deutlich: Um das +törichte, unbesonnene Handeln des Jünglings war etwas +Leuchtendes, etwas, das den Taten des Mädchens von +Orleans verwandt war ... Und es war wie in Talbots +Worten, des eisigen Vernünftlers, dessen hundeschnäuzige +Kriegsmathematik vor dem frommen Wahn der Jungfrau +zusammenbrach:</p> + +<p class="quote"> +»Unsinn, du siegst ... und ich muß untergehn ...«<br /> +</p> + +<p>Und während Jucunda Buchner den Brief kuvertierte +und die Adresse darauf schrieb:</p> + +<p class="center">»Herrn Stud. Pilgram«</p> + +<p>— seinen Vornamen entsann sie sich auf der Visitenkarte +gelesen zu haben, die er an seine Tür genagelt hatte, aber +er wollte ihr nicht einfallen — als sie so schrieb, da +empfand sie es ganz deutlich, ganz unabweisbar, daß sein +Tun gut und groß gewesen war ... und ihres frostig und +häßlich und gemein ...</p> + +<p>»Da, Mutter, steck den Brief in Deinen Pompadour ... +und jetzt« — sie zog die Uhr — »sieben bereits!« Donnerwetter! +Jetzt revidierte der Inspizient drüben schon die +Garderoben! Teufel auch — höchste Zeit ins Theater — +»Vorwärts, Mutter!«</p> + +<p>»Willste nich Deine Kollegin daneben abholen?«</p> + +<p>»Na — die wird wohl schon hinüber sein — aber ich +kann ja mal nachsehen ...«</p> + +<p>Sie klopfte an die Tür des Nachbarstübchens, und da +keine Antwort kam, klinkte sie auf. Die kleine Kammer +lag dunkel und still. Nur durch die Fenster fiel der Schein +der Gaslaternen von der Straße durch die Gardinen, +malte ein paar große Rechtecke an die weißgetünchte Decke. +Also Asta Thöny warf sich drüben bereits wieder in den +steiflinigen Brokat der Agnes Sorel ...</p> + +<p>»Sie ist schon hinüber — und kommt doch erst im +ersten Akt — und ich muß schon zum Prolog 'raus ... +Glücklicherweise nur das Bauernkleid ... Vorwärts, +Mutter ...«</p> + +<p>Das hatte sie freilich nicht sehen können oder wenigstens +nicht gesehen in der Finsternis, daß auf dem Sofa noch +einsam und regungslos der junge Student gesessen hatte, +das Poetlein, um dessen »schwindelschmalen Pfad Abgründe +klafften rechts und links ...«</p> + +<p>Daß er noch immer da saß, seitdem das Mädchen sich +aus seinen Armen gerissen ... Alle Glieder und das +Herz wie mit Blei beschwert vor trunkener Zärtlichkeit, +sein ganzes Wesen durchschauert von Erfüllungsglück ...</p> + +<p>Jucunda schritt über den Hof, der mit Dekorationsstücken +vollgepfropft war, die zum Schutze gegen den +Regen mit Wachsleinwand verhangen waren — stolperte +über die Beine des ausgestopften schwarzen Pferdes, +dessen Leichnam im dritten Akt so überzeugend die Stimmung +des blutgedüngten Schlachtfeldes heraufbeschwor — +nahm dies Stolpern für ein gutes Omen, hastete weiter, +so schnell, daß Mutter Doris in weitem Abstande hinter +ihr drein schnaufte ... Und als sie nun das schmale +Pförtchen aus Eisenblech öffnete, das zum Bühnenraum +führte, als ihr der vertraute Dunst von Schminke, wirbelndem +Staub und Menschenbrodem entgegenschlug, als +sie den schlechterleuchteten Korridor, den halbdunklen +Bühnenraum kreuzte, auf dem die Arbeiter eben den +Prospekt zum Prolog anbohrten ... als sie dann die +hallende Steintreppe hinanflog, in ihr Kämmerchen schoß, +wo die zerknitterte Krausen herzklopfend ihrer harrte — +(»Ach Gottchen nee, gnäd'ges Fräulein, daß Se nu endlich +kommen! Der Inspizient und der Herr Oberregisseur +sind schon sechsmal mind'stens dagewäsen nach Ihn' +fragen!«) als ihr weißes Gewand, als das blanke Eisen +ihrer Rüstung, ihres Helmes aufgleißten im hellen Licht +der Spiegellampen —</p> + +<p>— da fühlte sie, wie alles, alles abfiel, was dieser +Tag ihr Fremdes, Verworrenes, unheimlich Störendes +gebracht. Fühlte, daß sie noch dieselbe war wie gestern +abend um diese Stunde — dieselbe, die sie immer sein +würde, so oft der Rausch des Komödienspiels, des Im-Spiele-Gestaltens +über sie kam.</p> + +<p>Sie riß die Taille ihres Straßenkleides ab, reckte die +herrlichen Arme, schmetterte durch den Raum, daß die +Wände wankten:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Ins Kriegsgewühl hinein will es mich reißen,<br /></span> +<span class="i0">Es treibt mich fort mit Sturmes Ungestüm,<br /></span> +<span class="i0">Den Feldruf hör' ich mächtig zu mir dringen,<br /></span> +<span class="i0">Das Schlachtroß steigt, und die Trompeten klingen!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Ja, es parierte, das erzene Organ ... vor dem sogleich +die anderthalb Tausend da drunten erzittern würden ... +Ja, sie war es noch, um derentwillen die alle da draußen +vor allem doch gekommen waren — die Heldin des Stückes, +die Heldin dieses Abends ...</p> + +<p>Kaum stand sie im Bäuerinnengewand, die braunen +Haare zu schlichtem Flechtenbau um das runde Haupt +gelegt, da trat Franz Burg ein, im ledernen Koller bereits, +doch noch ohne das rasselnde Blech drüber, noch ohne +Maske:</p> + +<p>»Nun, Langbeinchen? Das kennt man ja gar nicht +von Ihnen, daß Sie mal zu spät kommen! Wie ist die +Stimmung?«</p> + +<p>»Prima prima!« lachte sie und leuchtete den Freund an.</p> + +<p>»Nichts Neues in der Affäre?« fragte er leise.</p> + +<p>»Nichts von Belang ... Ich denke, es renkt sich ein.«</p> + +<p>»Oh!« Franz Burg zog die tiefschattenden Augenbrauen +hoch — »das wäre aber jammerschade ... Können +Sie denn nichts dazu tun, daß die Geschichte mit dem +nötigen Theaterdonner zum Klappen kommt?«</p> + +<p>»Ach ... Ich bin froh, wenn sie aus der Welt ist ... +Ich muß freien Kopf haben, freie Arme zum Arbeiten, +zum Schaffen ...«</p> + +<p>»Soll ich Ihnen mal was verraten? — Ihr Erbprinz +ist im Theater — hat noch vor einer halben Stunde einen +<a id="InCorr4">Levkoyen</a> geschickt und eine Loge bestellen lassen ... Da +alles futsch war, hat der Intendant die Direktionsloge zur +Verfügung gestellt ...«</p> + +<p>»Hm ... Das ist ja interessant ... Werde mir den +jungen Herrn doch mal anschaun ...«</p> + +<p>»Sie kennen ihn noch gar nicht?«</p> + +<p>»Keine Ahnung ...«</p> + +<p>»Na — die Hauptsache ist: Er ist da — jedenfalls ein +Beweis, daß man nicht ungnädig ist ... Na, die Reklame +haben Sie verscherzt, nun halten Sie sich wenigstens den +hochgeborenen Verehrer warm ...«</p> + +<p>Der Inspizient steckte den Kopf zur Tür herein:</p> + +<p>»Fräulein Buchner — bitte auf die Szene!«</p> + +<p>»Also, Langbeinchen, wieder mal: Hals- und Beinbruch!«</p> + +<p>»Danke, Meister!«</p> + +<p>Mit Wohlgefallen sah Franz Burg der weißen, stolzen +Gestalt nach. Künstlerblut! dachte er, kennt nichts als +sich und ihre Arbeit ... Alles andre ist Dreck ...</p> + +<p>Und Jucunda schritt die Treppe hinunter. Alles +grüßte mit vertraulicher Höflichkeit, wenn sie vorüberging: +die Friseure, die Bühnenarbeiter, die Statisten, die +Volontäre ...</p> + +<p>Und in ihrer Seele schwoll die unbändige Lust des +Schaffens. Es schwang und klang in ihr von dröhnendem +Jambenstrom und schmelzender Trochäenklage ... »Frommer +Stab, o hätt' ich nimmer mit dem Schwerte dich vertauscht« +... Kaum konnte sie das Maß, die scheue, entrückte +Gebärde für die Stimmung des Anfangs finden, +da sie noch ein schlichtes Hirtenmädchen ist, von geheimen +Stimmen, phantastischen Visionen geängstigt, doch ihrer +Sendung noch ahnungsvoll unbewußt ...</p> + +<p>Und endlich rauschte die Gardine empor, wogte drunten +das Gebraus, das wohlbekannte, von Zettelknistern und +Räuspern und Zurechtrücken, klappten die Sitze der Zuspätkommenden, +tönte das leise Zischen der Gestörten ... +Und all dies wirre Durcheinander verebbte nach und nach, +und die große schaurige Stille ward, in die ihrer Partner +Verse hineinklapperten, wie eine belanglose Ouvertüre, +ein gleichgültiger Auftakt des Augenblicks, da sie die ersten +Worte zu sprechen haben würde ... Ach, aber wie endlos +lang dieser Auftakt! Die kamen ja heut wohl gar nicht +vom Fleck, der alte Thibaut, ihre Schwestern, die Bräutigame +— biedre Chormitglieder, die heute ein paar Verse +zu lallen hatten ...</p> + +<p>Gesenkten Hauptes, stumm stand das Hirtenmädchen +im Hintergrund ... Nur zuweilen hob sie zaghaft und +scheu die großen Augen, ließ sie von einem zum andern +flattern, als verstände sie die Sprache ihrer nächsten +Menschen nicht mehr ... Und aus den verträumten +Augen Johannas d'Arc spähte Jucunda Buchners ganz +wacher, lauernder Sinn in den Zuschauerraum, dorthin, +wo dicht an der Rampe links die Direktionsloge lag ... +Die Lichter blendeten abscheulich — dennoch konnte sie allmählich +ganz vorn, matt angestrahlt vom Widerschein des +hellen Bühnentages, zwei Gesichter erkennen: ein fahles, +junges mit der blinkenden Scherbe im Auge — und daneben +ein verwettertes, tiefgebräuntes mit flatterndem +Schnurrbart ... Also das waren die zwei — »von Dillingen +— von Gorczynski« — das waren die Schreiber +des verhängnisvollen Briefchens — die Spender des +Rosenturms und der ... beiden ... blauen ... Lappen ...</p> + +<p>Achtung jetzt! Bertrand kommt, den blinkenden Helm +in der Hand, den »ein Bohemerweib« ihm aufgedrungen +im Gewühl ... Gleich wird das Stichwort kommen ... +Horch ... Die letzten Verse rannen hin:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Da war das Weib mir aus den Augen schnell —<br /></span> +<span class="i0">Hinweggerissen hatte sie der Strom<br /></span> +<span class="i0">Des Volkes, und der Helm blieb mir in Händen.«<br /></span> +</div></div> + +<p>In diesem Augenblick versank alles, alles ... Jucunda +Buchner versank, und nichts mehr war als Johanna von +Orleans ... Die schoß nun wie ein Meteor aus der +scheuen Zurückgezogenheit vor, riß dem alten Bauern den +Helm aus der Hand:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Gebt mir den Helm!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Erschrocken fragt der Alte:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i22">»Was frommt Euch dies Gerät?<br /></span> +<span class="i0">Das ist kein Schmuck für ein jungfräulich Haupt!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Und wie eine Fanfare jauchzt es aus der endlich entfesselten +Brust der jungen Heldin:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Mein ist der Helm — und mir gehört er zu!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Alles — alles ist versunken — nur eines wirkt und +wogt: der große Rausch des Schaffens ...</p> + +<p>Und Johanna wurde erst wieder Jucunda, als nach +dem ersten großen Monolog die Gardine sank und gleich +darauf, wie hinweggerissen vom Orkan des Beifalls, +wieder emporrauschte ... als tausendstimmiger Jubelruf +sie umbrandete ...</p> + +<p>Da war Jucunda wieder da — ganz wach, ganz klar ... +Und sie neigte sich ... neigte sich zuerst mit tiefem Hofknix +nach der Direktionsloge.</p> +</div> + +<div> +<h2>9.</h2> + +<p class="start-chapA">Als Herr Borgmann Neo-Borussiae das Hotel Hauffe +verließ und verloren, ziellos nach dem Augustusplatz +hinüberschlenderte, kam er sich entsetzlich dumm vor. Was +sollte er nun seinem Auftraggeber und Doppelgegenpaukanten +ausrichten? Man hatte seine Forderung nicht angenommen, +aber auch nicht abgelehnt ... Ein Witz ... +aber ein fader ... Ist bei Ihrem Auftraggeber eine +Schraube los? Rabiater Bursche — ich danke für einen +Skandal ... Koller ... Pathologischer Zustand ... +Verlange absolut geräuschlose Erledigung ... Rechne +dabei auf Ihre Mitwirkung ... Das waren so ungefähr +die Schlagworte, die Herrn Borgmann noch im Gedächtnis +hängen geblieben waren und nun in der korrekten +Chargiertenseele einen tollen Tanz vollführten ... Ja, +was sollte man auch einem Prinzen antworten, der von +korpsstudentischer Direktion und Haltung keinen Schimmer +hatte? Der eine so blutig ernste Sache wie eine Säbelforderung +einfach behandelte ... wie ... na wie einen +Hanswurststreich ... wie einen faulen Kalauer?!</p> + +<p>Und das hatte man sich gefallen lassen? Man hatte +Ja und Amen gesagt zu der ungeheuerlichen Zumutung, +nach solch einem Affront auch noch an einer ... hm, hm! +geräuschlosen Beilegung mitzuwirken?!</p> + +<p>Herr Borgmann nahm die weiße Mütze mit dem weiß-schwarz-weißen +Randstreifen ab und tupfte die von weißblonden, +seltsamerweise schon etwas gelichteten Haaren +umsäumte Stirn. Was konnte man seinem Auftraggeber +nun eigentlich berichten? Hatte der Prinz irgend eine +Erklärung zur Sache selbst abgegeben? Eine Entschuldigung +bei der beleidigten jungen Dame in Aussicht gestellt? +Nicht das mindeste ... Er hatte nichts weiter geäußert +als Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Mandanten +— und das kategorische Verlangen, die Sache müsse aus +der Welt geschafft werden!</p> + +<p>Na, und du, Wilhelm Borgmann, Neo-Borussiae gewesener +Zweiter, Erster?! Was für eine Antwort hast du +gefunden?</p> + +<p>Gar keine! Völlig aus dem Konzept hat man dich gebracht, +verblüfft, verhohnepiepelt ... Schindluder hat +man mit dir getrieben, ganz einfach!</p> + +<p>Und warum? Warum hast du nicht aufgemuckt? +Warum hat deine ganze mühevoll erworbene korpsstudentische +Direktion, deine Haltung, dein Schimmer dich verlassen? +Weil dies junge hagere Herrchen im hellblauen +Dragonerüberrock mit den silberblinkenden Knöpfen ein ... +Prinz von Geblüt war ... Da war von deiner Spießbürgerseele +der dünne Firnis des Kavaliers abgefallen, +den man dir in einer Dressur von fünf Semestern aufgepinselt +— und du warst in Lakaiendevotion submissest +zusammengeknickt!</p> + +<p>Und drüben im Theaterrestaurant sitzt der unglückselige +Pilgram, weiland Franconiae, und wartet auf Antwort ... +Wartet auf das Schicksal ...</p> + +<p>Ja, was sagt man ihm nur? So wie die Geschichte in +Wirklichkeit abgelaufen ist, so kann man sie ja gar nicht +erzählen — der rabiate Bursche schlägt sonst Krach! Das +muß man sich erst ein bißchen zurechtlegen ...</p> + +<p>Herr Borgmann suchte einen Zufluchtsort. Café +Felsche? Viel zu viel Betrieb jetzt da, wahrscheinlich auch +ein Tisch voll Neo-Borussen — —</p> + +<p>Ein Einfall! Das Museum! Das war zu dieser +Stunde vielleicht noch geöffnet ...</p> + +<p>Und Studiosus Borgmann tat etwas, was ihm in +seinen fünf Semestern, die er in Leipzig zugebracht, noch +niemals passiert war: Er ging ins Museum hinein, stieg +die prächtige Marmortreppe hinan, schritt gleichgültig durch +die Säle voll bemalter Lappen in goldenen Rahmen und +versank in einem Plüschsofa des großen Oberlichtsaales ... +Und sann, wie er die Sache deichseln könne, ohne seine +Blamage eingestehen zu müssen.</p> + +<p>Inzwischen saß Valentin Pilgram in regungslosem +Warten in einer dunklen Ecke des Theaterrestaurants. +Was werden würde? Nun das war ja ganz klar: Sowohl +der Major als auch der Erbprinz, der die Charge +eines Rittmeisters bekleidete, würden die militärisch korrekte +Erklärung abgeben, daß sie die Tatsache der erfolgten +Forderung ihrem zuständigen Ehrenrat unterbreiten +würden ... Der würde dann einen formellen Ausgleichsversuch +machen — wenn dieser, wie selbstverständlich, +gescheitert wäre, würde der Erbprinz einen Ersatzmann +stellen, einen möglichst fechtgewandten Offizier eines +Gardekavallerieregiments ... Und dann stiegen eben die +beiden Partien ... Na Himmel, das hatte man ja doch +schon fünfmal durchgemacht — zwar nicht unter ganz +gleich schweren Bedingungen ... Aber — na ja, Eisen +ist Eisen, und fechten haben wir ja gottlob gelernt ...</p> + +<p>Und dann ...</p> + +<p>Valentin Pilgram versank in Träume ... Dann +mußte irgend etwas kommen, etwas Schönes, von dem +man sich keine rechte Vorstellung machen konnte. So ganz +ohne Dank und Lohn würde man ihn doch nicht laufen +lassen ...</p> + +<p>Dank und Lohn? Aber wie?</p> + +<p>Valentin Pilgram hatte bewiesen, daß er bereit war, +sich jeden vors krumme Messer zu langen, der an dies +Mädchen anders dachte denn an eine Heilige ... Und +Heilige ... Wie belohnen sie denn?</p> + +<p>Mit ihrer Gnade ... Mit Fürsprache im Himmel ...</p> + +<p>Sie belohnen von ferne ... Mit Gaben, für die man +sich auf Erden verdammt wenig kaufen kann ...</p> + +<p>Na, und das wird ja auch wohl dein Fall sein, mein +guter Valentin — nicht wahr?!</p> + +<p>Na — und wenn auch! Wir haben eben getan, was +wir mußten ...</p> + +<p>Ein alter Reckenspruch aus den goldenen Tagen des +Rittertums klang ihm durch den Sinn:</p> +<div class="poem"> +<div class="stanza"> +<i lang="fr"> +<span class="i0">A Dieu mon âme,<br /></span> +<span class="i0">Ma vie au roi,<br /></span> +<span class="i0">Mon coeur aux dames,<br /></span> +<span class="i0">L'honneur pour moi.<br /></span> +</i> +</div> +</div> + +<p><i lang="fr">Pour moi</i> ... Na eben, das war's: das Bewußtsein: +So gehört sich's — und so hab' ich's gemacht ...</p> + +<p>Endlich! Da kam sein Kartellträger ...</p> + +<p>»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Borgmann ...«</p> + +<p>»Gewiß, gern ... Herr Ober, eine Schale Schwarz ...«</p> + +<p>»Also ... Angenommen?«</p> + +<p>»Hm ... Die Herren haben Erklärungen abgegeben, +die vielleicht ... als befriedigend gelten könnten ...«</p> + +<p>»Was! sie kneifen?!«</p> + +<p>»Hm ... Doch wohl etwas zu schroffer Ausdruck ... +Der Prinz hat den Major beauftragt, die Angelegenheit +in Güte zu arrangieren ... Ich nehme also an, daß er +Familie Buchner im beiderseitigen Namen um Verzeihung +bitten wird ... Was macht's, Ober? Fünfundzwanzig? +Schön — ziehen Sie fünfunddreißig ab ...«</p> + +<p>Valentin Pilgram war wie vor den Kopf gestoßen.</p> + +<p>In Güte arrangieren ... Fräulein Buchner um Verzeihung +bitten ... Hm ... Verteufelt einfache Lösung ... +Und das hatte man sich nicht mal im Traume vorgestellt, +daß es so kommen würde ... kommen ... müßte ...</p> + +<p>Himmel ja — man war eben Korpsstudent — trat für +alles, was man gesagt und getan — selbst in der Hitze gesagt +und getan — für das trat man eben stramm und rücksichtslos +ein mit Waffe und Blut, mit Schädeldach und +Nase, mit Brustbein und Armknochen — konnte sich gar +nicht vorstellen, daß jemand auswich — revozierte und +deprezierte — den Schwanz einzog und ... na eben kniff.</p> + +<p>Und ... jeden andern Kneifer durfte man einen +Kneifer schimpfen ... Dieser aber stand außerhalb der +Lebensgesetze der akademischen Welt — der er <i lang="la">pro forma</i> +doch angehörte ... Der konnte sich eine Kneiferei leisten, +obwohl er doch auch Student, offiziell sogar Korpsstudent +war ...</p> + +<p>Was für ein Hohn ... Was für eine blöde Farce!</p> + +<p>»Hm ... Und Sie meinen, Herr Borgmann — mit +diesen Erklärungen müsse ich mich begnügen?«</p> + +<p>»Ich ... glaube wenigstens nicht, daß ... nach +diesen Erklärungen ... das Ehrengericht Ihre Forderung +noch genehmigen würde, wenn Sie darauf bestehen +wollten ... Selbst ein S. C. Ehrengericht nicht ... Aber +vor das kommt die Sache ja überhaupt nicht ... Die +kommt vor den Offiziersehrenrat ... Na und der wird +eben selbstverständlich die Sache für erledigt erklären +unter diesen Umständen ...«</p> + +<p>Ach so ... Also alles in schönster Ordnung ... Die +Ehre der angegriffenen jungen Dame <i lang="la">in integrum</i> restituiert +durch die Deprekation ... und nur er selber ... er +selber um sein Korpsband gekommen ... und eigentlich ... +der ... Blamierte ...</p> + +<p>Hm ... es stimmte ... Da war nichts zu machen ... +Aber auch gar nichts ...</p> + +<p>Ja ... Wie war denn das aber möglich? Hatte er +denn irgend einen ... Fehler gemacht?</p> + +<p>Nein ... Er hatte den Geboten der Ehre, der Ritterlichkeit +gefolgt ... Und was sich da wider ihn aufreckte ... +das war etwas, was er bis dahin noch nicht geahnt hatte +— der Unsinn des Daseins ... die Tragikomödie des +Idealismus ... dieses phantastischen romantischen +Idealismus, der den eigenen Adel, die eigene heroisch-naive +Auffassung von Pflicht und Ehre noch für das Gesetz +des Weltganges hält ...</p> + +<p>Valentin Pilgram stand auf ... stumm ... stieren, +korrekten Antlitzes.</p> + +<p>»Ich danke Ihnen verbindlichst für Ihren gütigen +Beistand, Herr Borgmann ... Nun, dann wird sich die +Sache ja wohl in aller Güte und Freundschaft erledigen ... +zwischen den ... <em class="gesperrt">Nächstbeteiligten</em> ... Adieu, +Herr Borgmann ...«</p> + +<p>Donnerwetter — dachte Wilhelm Borgmann — das +hat besser gegangen, als ich mir's träumen ließ ...</p> + +<p>Valentin Pilgram irrte durch die Straßen ... Dies +Menschengewoge, der Spätherbstglanz über der Welt, die +Wagen, die klingelnde Pferdebahn, das alles machte ihn +rasend. Er floh ins Rosental, strich ziellos durch die +Laubgänge ...</p> + +<p>Jucunda! Das war sein einziger Trostgedanke ... +Jucunda würde zu ihm stehen ... ihm danken, ihn belohnen +... irgendwie ... für alles, was er ihr geopfert +...</p> + +<p>Er rannte immer weiter, immer tiefer ins Holz hinein +— über die Elster hinüber, kreuzte die sumpfigen Wiesen +jenseits der Marienbrücke, verlor sich in den braunen +Forsten des Leutzscher Holzes. Es kam die frühe Dämmerung, +es wurde feucht und frostig unter dem Laubdach, +von dem langsam Blatt um Blatt niederrieselte im melancholischen +Schweigen des windstillen Herbstabends — +Valentin Pilgram bemerkte es nicht. Und wie die Fledermäuse, +die lautlos um die schattenhaften Säume der Gebüsche +schwirrten, über den perlmuttfarbenen Spiegeln +der Sumpfteiche huschten, so flatterten durch des wackern +Gesellen Hirn die aberwitzigen Gedanken.</p> + +<p>Er hatte doch recht getan — gehandelt wie ein Mann +und Kavalier ... Und eine lächerliche Blamage war die +Folge ... Das Korpsband, das geliebte, war von seiner +Brust hinweggeweht, wie ein klagender Abendhauch die +ziehenden Nebelstreifen dort auf den Wiesen hinwegstreifte ...</p> + +<p>Das konnte doch das Ende nicht sein — so dummejungenmäßig +beiseite geschoben werden, das war doch kein +Abschluß für Valentin Pilgrams stolze, prangende Burschenherrlichkeit ...</p> + +<p>Nein ... Es mußte noch irgend etwas kommen — +die Ahnung irgend eines süßen oder schrecklichen Ereignisses +düsterte durch die Seele des einsamen Wanderers.</p> + +<p>Es war schon Nacht, sternüberflimmerte Spätherbstnacht, +als er vor sich die dunklen Umrisse des Leutzscher +Bahnhofes auftauchen, die grellfarbigen Lichter des Bahnkörpers +flimmern sah. Eine dumpfe Sehnsucht nach der +Stadt zurück überkam ihn plötzlich, nach wogenden Menschenmassen, +nach Wagenlärm und glitzernden Schaufenstern. +Er erkundigte sich: der nächste Zug fuhr erst +in einer halben Stunde. In dem schmutzigen Bahnhofsrestaurant +schüttete er hastig, gedankenlos ein paar Glas +Bier in die brennende Gurgel. Als der Zug herannahte +und er die Börse zog, bemerkte er, daß er an seiner Uhrkette +noch den Bierzipfel trug, ein Stück des grün-gold-roten +Korpsbandes mit goldenen Beschlägen ... Da +hakte er mit einem bitteren Zucken der Mundwinkel den +blanken Zierat ab und barg ihn in seiner Brieftasche.</p> + +<p>Als er auf dem Thüringer Bahnhof ankam, war es +gegen neun Uhr. Er hastete heimwärts. Jetzt war +Jucunda im Theater — spielte abermals die Jungfrau ... +An allen Anschlagsäulen hing der Theaterzettel, der ihren +Namen trug ... Es trieb ihn nach Hause, dahin, wo sie +geboren und groß geworden war, eine seltene, phantastische +Wunderblume, in einem abgezirkelten, banalen Spießergärtchen +erblüht ...</p> + +<p>Alles war still und finster in dem engen, muffigen +Korridor, als er die Entreetür öffnete. Natürlich, die +Eltern waren ja mit im Theater, ihr Goldkind zu bewundern ...</p> + +<p>Er suchte seine Zündholzschachtel, fand sie, aber sie war +leer. Vergebens tappte er nach Licht. Die Tür zur +Wohnstube war angelehnt, ein matter Lichtreflex von der +Straßenbeleuchtung fiel heraus. Valentin konnte der Versuchung +nicht widerstehen und trat ein. Stumm und +dunkel und dumpfig lag das Zimmer. Dort am Fenster +hatte er mit ihr gestanden — wann doch nur? Vor einer +Ewigkeit?! Pah — es war noch nicht vierundzwanzig +Stunden her ... Und hier auf dem verschlissenen Plüsch +hatte sie gesessen, das weiße Königinnenhaupt zurückgelehnt +... und — wie hatte sie nur gesagt? 'Vielleicht +kann ich doch einmal einen Ritter gebrauchen — dann will +ich an diese Stunde denken und Sie rufen ...' Und jetzt? +Hatte sie ihn nicht gerufen? — Nein — das eigentlich +wohl nicht ... Aber hatte sie nicht geweint?! Sie ... +sie ... und hatte geweint um einer bübischen Kränkung +willen ...</p> + +<p>Und da hatte er getan, was er genau so rasch, so selbstverständlich +und geradezu getan hätte für seine Schwesterchen +daheim in Dresden ... Und morgen würde ganz +Leipzig über ihn lachen ...</p> + +<p>Hastig trat er auf den stockfinstern Korridor zurück und +tappte nach seiner Stube hinüber. Zufällig bekam er die +Klinke zu Jucundas Kammertür in die Hand ... Er +drückte sie nieder, und ein Duft wehte ihm entgegen, der +ihn mit einem Schwall stummer, wirrer Sehnsuchtswünsche +bedrängte. Das Zimmer lag nach einem Seitengäßchen +hinaus und war fast völlig finster. Nur aus +einem gegenüberliegenden Fenster fiel ein ganz matter +Lichtschein hinein. In diesem Schein leuchtete das weiße +Bett, schon aufgeschlagen, für die Nachtruhe der Künstlerin ...</p> + +<p>Ein Grausen des Verlangens schnürte dem reckenhaften +Burschen die Kehle zusammen. Er schloß hastig die +Tür und stand einen Augenblick lang in der Dunkelheit. +Alle Glieder bebten, seine Kinnbacken schlugen im Frost +zusammen. Dann übergoß ihn glühende Scham. Er war +der Mann nicht, sich an dem Dunste der Geliebten verstohlen +schnüffelnd zu erletzen. Er rannte hinaus, fand +endlich die Tür seiner Bude und saß lange mit fiebernden +Gliedern in der Finsternis, auf seinem Sofa. Endlich +fuhr er auf, schwankte zu seinem Nachttischchen hinüber, +machte Licht, zündete die Petroleumlampe an und sah die +aufgeschlagenen Repetitorien liegen, wie er sie morgens +verlassen hatte, als die Kanzleirätin in sein Zimmer gestürzt +war ...</p> + +<p>Und eine stumpfe Ruhe kam über ihn. Arbeiten! +Arbeiten! Er wühlte sich in die schematisch öde Zusammenstellung +der elementaren Grundbegriffe seiner Wissenschaft +hinein. Seiner Wissenschaft — ah bah! Die Quelle +des Wissens, die hell in seiner Nähe sprudelte, hatte er +ängstlich gemieden sieben Semester lang und nur dem +Korps gedient ... Nun galt es hastig und mechanisch +einen Haufen seelenloser Notizen in sich hineinzustopfen, +um den toten Popanz, die pappdeckelne Attrappe einer +fadenscheinigen Examensweisheit aufzurichten ...</p> + +<p>Immerhin ... wenigstens Vergessen wirkte dies +stumpfsinnige Büffeln ...</p> + +<p>Und eine Stunde verrann — zwei Stunden ... Plötzlich +draußen auf dem Flur die Stimmen der heimkehrenden +Familie Buchner. Valentin lauschte angestrengt ... +Ob sie ihn denn nicht noch zu sprechen wünschte? Ihm zu +danken für die ... glückliche Lösung, die sein Eingreifen +doch herbeigeführt?</p> + +<p>Und wirklich — es pochte an seine Tür ...</p> + +<p>»Herein!«</p> + +<p>Mutter Kanzleirätin stand auf der Schwelle. Ein +wenig rot und verlegen ... In der schleifenbesetzten +Kapuze, dem altmodischen Abendmantel, genau wie gestern, +als er sie aus dem Wagen gehoben ...</p> + +<p>»Sie wär'n entschuld'gen, Herr Pilgram — hier is +Sie nämlich ä Briefchen von meiner Tochter ...«</p> + +<p>Ein — Brief? Und warum konnte sie denn nicht +selber —?!</p> + +<p>So deutlich stand diese Frage in des jungen Mannes +starr aufgerissenen Augen, daß Frau Buchner die unausgesprochene +beantwortete:</p> + +<p>»Nämlich, Se dürfen's ihr nich iebel nähm', selber +kann se's Ihn' nich sagen, sie is Ihn' nämlich gar zu sähre +angegriff'n von der Vorstellung ... Gut Nacht, Herr +Pilgram, wünsch' gute Ruh ...«</p> + +<p>Und hastig war die massive Gestalt aus der Tür ... +Nur der Brief blieb zurück, lag weiß und fremd auf dem +fleckigen, grellgemusterten Tischtuch.</p> + +<p>Mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge nahm +Valentin das Kuvert und studierte die großen, fahrigen +Züge der Aufschrift:</p> + +<p class="center">»Herrn Stud. Pilgram ...«</p> + +<p>Weder Fakultät noch Vorname ...</p> + +<p>Was steht darin? Nun, es kann doch nur eins sein: +Dank und abermals Dank, feuriger, inniger Dank ...</p> + +<p>Er riß den Umschlag auf und las:</p> + +<p class="center">»Sehr geehrter Herr ...«</p> + +<p>Er las und las ... »erwünschte Erfolg« — »Herren +haben mündlich bei mir um Entschuldigung gebeten« — +»danke Ihnen innigst« — »großes Opfer« — »Zweck erreicht« +— »nehmen Sie Ihre Herausforderung zurück, +damit nicht noch ... weitere ... Unannehmlichkeiten entstehn +...« — »mit der nochmaligen Versicherung meines +aufrichtigsten Dankes Ihre ganz ergebene ...«</p> + +<p>Na ja ... na also ...</p> + +<p>Völlig korrekt das alles ... Nichts fehlte, was man +so erwarten und verlangen konnte ...</p> + +<p>Nichts fehlte ... gar nichts ...</p> + +<p>Valentin Pilgram sah lange und regungslos in den +hellen Lichtkegel der Petroleumlampe, bis die Augen ihn +zu schmerzen anfingen.</p> + +<p>Na ja ... na also ...</p> + +<p>Und endlich klappte er den Brief zusammen. Wollte +ihn in den Umschlag schieben ... Da auf einmal blieben +seine Augen an etwas hängen, das er nicht begriff. Auf +der letzten Seite des Bogens, am unteren Rande und mit +dem Kopfe nach unten, fand sich ein Monogramm aus den +Buchstaben T und H und darüber der Zirkel eines wohllöblichen +C. C. der Franconia zu Leipzig.</p> + +<p>Was war das?!</p> + +<p>T. H.? Oder ... H. T.? Und darüber der Frankenzirkel?</p> + +<p>Kein Name der verflossenen Korpsbrüder fing mit +einem H an, aber mit einem T? Thumser? Hans ... +Thumser ... Das ... stimmte ...</p> + +<p>Was war das? Wie kam Jucunda Buchner zu einem +Briefbogen von Hans Thumser?! Teufel —</p> + +<p>Hatte der am Ende den Makler gespielt? Und geholfen, +ihm diese ungeheure Blamage einzubrocken?!</p> + +<p>Valentin Pilgram dachte nach. Nun, der kleine +Thumser war ein Faselhans, hatte den Kopf voll konfuser +Ideen, voll unvorschriftsmäßiger, inkorrekter, umstürzlerischer +Gedanken über allerhand heilige, unantastbare +Dinge, Dinge, die immer so gewesen waren und immer so +bleiben sollten ... Sah ein bißchen von oben herab auf +alle Menschen und Zustände — aber eine Gemeinheit, eine +heimtückische Verräterei und Niedertracht — die war ihm +denn doch nicht zuzutrauen ...</p> + +<p>Aber — wie war dies — Unfaßbare da — zu erklären?!</p> + +<p>War denn irgendeine Möglichkeit, daß Jucunda und +der versedrechselnde, kunstsimpelnde Korpsbruder in Berührung +hätten kommen können?</p> + +<p>Gestern abend — so viel stand fest — kannte Thumser +die Künstlerin noch nicht persönlich — hatte zwar die Idee +gehabt mit dem Pferdeausspannen, aber nicht ein Wort +mit dem Mädchen gewechselt ...</p> + +<p>Aber — hatte nicht er selber, Valentin, gestern abend +im Gespräch mit der Familie Buchner den Namen Thumsers +genannt als desjenigen, der den glorreichen Einfall +mit der Pferdeausspannerei ausgeheckt ...</p> + +<p>'Dafür hätten Sie 'nen Kuß gekriegt,' hatte Jucunda +gesagt ... Noch ganz deutlich entsann sich Valentin einer +dunklen Regung von Eifersucht ...</p> + +<p>Wär's möglich — sie hätte sich vielleicht an den gewandt +um ... um einen Ausweg aus der Verlegenheit, +in die Valentin Pilgrams rasche Ritterschaft sie hineingestürzt?!</p> + +<p>Oder?! Hatte er — Hans Thumser — die Bekanntschaft +eingeleitet? Er wußte aus dem C. C., was vorgefallen +war ... Er war sehr schweigsam gewesen im C. C. ... +Sollte er diese ... Gelegenheit ... seine Wissenschaft +um die Situation — sollte er die benutzt haben, um sich +bei Jucunda lieb Kind zu machen?!</p> + +<p>Wie es auch sein mochte — es war etwas geschehen +zwischen den beiden ... Hans Thumser hatte seine Hand +im Spiel — in dem falschen, ränkevollen Spiel, an dessen +Ende seine, Valentins, hilflose Blamage stand ...</p> + +<p>Himmel und Hölle! Da stand ja auf einmal ein neuer +Feind auf — ein Feind, der eine harmlos grinsende +Freundesmaske trug ... und einer, der nicht unangreifbar +war, wie die andern — nicht geschützt wie diese +Jucunda durch ihr Geschlecht — nicht durch Rang, durch +Pflichten der Rücksichtnahme, durch die Ausnahmegesetze +der militärischen Standesordnung — wie das fürstliche +Käsegesicht mit der Scherbe im Auge oder sein schnurrbärtiger +Begleiter ...</p> + +<p>Einer, den man sich langen konnte!</p> + +<p>Ein Korpsbruder?! Pah ... er selber war ja nicht +mehr Korpsstudent ... Konnte ramschen, mit wem es +ihm beliebte ... Seine Rache kühlen an dem ersten +besten, der seinem Grimm in den Weg lief ...</p> + +<p>Ja, seinem Grimm — der besinnungslosen Wut, die +ihm nun auf einmal in die Augen stieg mit blutrotem +Schimmer, ihm Blick und Fassung trübte — daß er aufsprang, +die Halsbinde, den Kragen aufriß, um nicht zu +ersticken ...</p> + +<p>Nebenan raschelten Kleider, klapperten die leisen Tritte +müder Mädchenfüße ...</p> + +<p>Sie — und nur eine dünne Wand zwischen ihm und +seinem Schicksal ...</p> + +<p>Er lauschte ... flüsternde Frauenstimmen klangen: +Mutter Kanzleirätin brachte wohl das Goldkind schlafen ... +Nun knarrte die Tür, nun schlürften die Pantoffeln der +Alten über den Korridor, zum ehelichen Schlafgemach +hinüber ... Und ein herzhaftes, langgezogenes Gähnen ... +Und nun krachte das Bett, rauschten die Kissen ...</p> + +<p>Valentin Pilgram saß noch immer steif und regungslos +an seinem Schreibtisch und starrte in den Lichtkegel der +Petroleumlampe ... Und in der Faust hielt er den halbzerknüllten +Briefbogen, der vorne Jucunda Buchners +Brief und hinten Hans Thumsers Monogramm und den +Frankenzirkel trug ...</p> + +<p>Na ja ... Na also — — —!!</p> +</div> + +<div> +<h2>10.</h2> + +<p class="start-chapD">Die Franken hatten C. C. gehabt und Chargenwahl +vollzogen. Ivo Volkner aus Düsseldorf war Erster +geworden an Pilgrams Statt. Hartwig, der Vertreter +des Marburger Kartellkorps, hatte die zweite Charge bekommen, +und der eben erst rezipierte Jungbursch Feldmann +die dritte. Volkner Senior — das bedeutete einen +Wechsel des Regimes. Statt des zähen, wortkargen, +sparsamen und fechtgewaltigen Sachsen der leichtsinnige, +wohlhabende, lebenslustige Rheinländer — das war ein +wahrer Umschwung für den Geist des Frankenbundes ...</p> + +<p>Hans Thumser säumte nicht, von diesem Umschwung +zu profitieren. Alle paar Tage bat er um Dispens zum +Besuch der Konzerte, des Theaters, schwänzte regelmäßig +Sonnabends das gemeinsame Mittagessen, um der Motette +des Knabenchors in der Thomaskirche zu lauschen ...</p> + +<p>Und eines Morgens erlangte er gar die Erlaubnis, +bei den Meiningern zu statieren ...</p> + +<p>Die Meininger ... sie hielten ihn völlig im Bann. +Er versäumte keine Premiere. Drama auf Drama reckten +sich die genialen Machtschöpfungen der erhabensten +Meisterwerke des germanischen Theaters vor dem +schönheitshungrigen Auge des jungen Studenten auf ...</p> + +<p>Und all die heiße Inbrunst, die solch aufrüttelnde, +seelenentzückende Schau in ihm entflammt hatte, die küßte +er der zierlichen Asta Thöny auf den feuchten, bebenden +Mund ... Es war ein toller Märchenrausch von Begeisterung +und Liebe, in dem die Tage, die Nächte dahinrasten. +Und so ganz versunken war alles, was sich nicht +der Erinnerung aufdrängte, daß er nicht ein einziges Mal +auf den Einfall gekommen war, sich nach dem armen +Valentin Pilgram umzusehen, mit dem er doch drei +Semester lang die gleichen Farben getragen — der aus +dem Korps geschieden war um eines Entschlusses willen, +den er heiß bewunderte wie alle Korpsbrüder ... Er +wußte, die andern pflegten eifrig den Verkehr mit dem +ausgeschiedenen Freunde — er nahm sich täglich vor, +ihn aufzusuchen, und täglich vergaß er's in seinem Taumel +von Sehnsucht und Erfüllung, Erfüllung und Sehnsucht ...</p> + +<p>Ja, Erfüllung ... und Sehnsucht ... Denn wenn +Hans Thumsers flaumige Jugend in Asta Thönys schimmernden +Armen lag, dann am heißesten verlangte seine +Seele nach der andern, die Abend für Abend die ganz +großen, ganz lichten Visionen der Dichter verkörperte, +statt jener kleinen, sündigen, irdischen Geschöpfe, die Asta +Thönys Kunst umspannte ...</p> + +<p>Aber außerhalb der Bühne hatte er sie niemals wieder +zu sehen bekommen — Jucunda, die allvergötterte. Es +war ein förmliches Jucundafieber ausgebrochen unter der +Leipziger Jugend, der männlichen wie der weiblichen, der +akademischen wie der Philisterwelt ... Allabendlich +schritt die Künstlerin durch ein jubeltrunkenes Spalier ihrer +Verehrer zu ihrem Wagen — nach jeder Premiere wiederholte +sich die gleiche Komödie. — Der Kutscher strängte +die Gäule schon vorher ab und stellte sie auf Seite und +sich daneben, damit ihm die Tiere nicht ganz verrückt +wurden und er selber ohne blaue Flecke vom Bock +herunterkäme ...</p> + +<p>Und Liebesbriefe ohne Zahl, voll ungelenker Gedichte, +stammelnder Mädchenverzückung und kecker Jungmännerwerbung +flatterten in das bescheidene Kämmerchen an +der Katharinenstraße ...</p> + +<p>Selbst die Waffenstudenten, deren Gesichtskreis doch +sonst mit ihren Couleurangelegenheiten völlig ausgefüllt +war, wurden in den allgemeinen Theatertaumel mit hineingezogen. +Wenn Jucundas Triumphwagen mit seiner +keuchenden, brüllenden Bespannung durch die Straßen +südlich des Königsplatzes der Altstadt zurollte, dann +blinkten in der Schar der Ziehenden und der Geleitenden +die Mützen der Korps neben denen der Burschenschaften, +der Turner neben denen der Landsmannschaften — Arion +und Paulus wetteiferten mit dem heiligen Wingolf im +Dienste der Jucundabegeisterung ... Es war wie im +Paradiese, da das Lämmlein bei dem Tiger weidete ...</p> + +<p>Und der regelmäßigste Besucher war der Gast der fest +abonnierten Proszeniumsloge vorn links vom Schauspieler, +neben der Direktionsloge ... war der Erbprinz +von Nassau-Dillingen. Zu jeder Premiere schleppten die +herzoglichen Leibdiener ein kostbares Blumenarrangement +von schier unermeßlichen Dimensionen auf die Bühne, +daran ein Kuvert mit geprägtem Wappen hing ... Es +enthielt des Erbprinzen Visitenkarte, darauf immer nur +die Worte: »In Verehrung« ... geschrieben in einer unausgeschriebenen +Knabenschrift. Niemals aber hatte sich +Jucunda künftighin über den leisesten Versuch einer Annäherung +zu beklagen gehabt.</p> + +<p>Und Jucundas Dank beschränkte sich stets auf den +Hofknix vor der ersten Parkettloge links ...</p> + +<p>»So ist's recht, Langbeinchen,« sagte Franz Burg mehr +als einmal zu der jungen Freundin — »so muß man's +machen: hübsch in Distanz halten die hochgeborenen +Verehrer — aber keinesfalls wegöden ... das hat keinen +Sinn — immer warm halten — man kann nie wissen, +wozu man so etwas einmal brauchen kann ...«</p> + +<p>Und Jucunda begriff. Es blieb doch nicht nur bei dem +Hofknix. Wie jeder andre Spender einer Blumengabe +bekam auch Erbprinz Heribert ein paar Dankesworte auf +goldgerändertem Kärtchen ... Anfangs waren's nur +drei konventionelle, schematische Zeilen ... Bei der +dritten Spende aber stellte sich ein Zusatz ein:</p> + +<blockquote> + +<p>»Sie beschämen mich, Durchlaucht, — ich weiß +nicht, wodurch ich soviel gnädige Anteilnahme verdient +habe.«</p></blockquote> + +<p>Das nächste Mal enthielt das wappengeprägte Kuvert +an der riesigen Seidenschleife, die in den Nassau-Dillingenschen +Landesfarben von einem riesigen Lorbeerrade +niederrauschte — enthielt das Kuvert ein Briefchen +von zwanzig Zeilen:</p> + +<blockquote> + +<p>»... Sie sind mir böse gewesen, und ich muß leider +zugeben, nicht ganz ohne Grund, obwohl ich für die +geschmacklose Form der Huldigung, die Ihnen in +meinem Namen überreicht wurde, nichts kann. Sind +Sie wieder gut? Ich bitte Sie um ein Zeichen ...«</p></blockquote> + +<p>In der Premiere des »Wintermärchens«, die kurz auf +dies Briefchen folgte, lockte der tumultuarische Applaus +nach der Gerichtsszene die eben hinter den Kulissen gestorbene +Hermione-Jucunda auf die Bühne ... Und wieder +schleppten livrierte Diener eine weißleuchtende Kaskade +von rieselnden Chrysanthemen heran ... Da zog Hermione +aus dem Blütenschwall eine ganze Handvoll der märchenhaften, +hundertstrahligen Blumensterne und steckte sie an +ihre Brust, um sich dann erst mit feierlichem Lächeln im +tiefen Hofknix zu neigen gegen die Proszeniumsloge vorn +links vom Schauspieler ...</p> + +<p class="start-chapA space-above">Also Hans Thumser durfte statieren — mit hoher Genehmigung +des Herrn Ersten Chargierten. Er ging +sonach eines Morgens um zehn nach dem Fechtboden zum +Bureau des Carolatheaters und meldete sich als Statist +für »Wallensteins Tod«. Er wurde sofort und freundlich +angenommen. Denn es war hier wie immer und überall: +Nach den ersten Tagen der Begeisterung waren von den +angeworbenen und mühsam eingedrillten Komparsen +viele Dutzende abgefallen, hatten sich schriftlich entschuldigt +oder waren einfach weggeblieben. Er mußte gleich in die +Probe. Es handelte sich nur um zwei Szenen: die große +Kürassierszene am Schluß des dritten Aktes und die Mordszene +am Ende des fünften.</p> + +<p>Vom Bureau aus schickte man Hans Thumser auf die +Bühne. Aber den Weg mußte er sich selber suchen und +erfragen. Er wurde durch sechs bis acht verschiedene +Türen gewiesen, kam sechs- bis achtmal an das weglose +Ende dunkler, verschlossener Korridore, stieß sich die +Schienbeine wund an allerhand unbeschreiblichen, geheimnisvollen +Gegenständen, welche in der Finsternis +herumstanden ... Endlich fand er ein eisernes Pförtchen, +an dem in Weiß die Aufschrift stand: Zur Bühne ... und +voll Ehrfurcht trat er in einen hohen, frostigen Raum, +in dem im halben Tageslicht ein Gewirr von hölzernen +Lattenrahmen, mit grauer Leinwand überspannt, erkennbar +war. An diesen Wänden war vielfach die aufgepinselte +Inschrift zu erkennen: »W. T. III. Saal.«</p> + +<p>Man wies ihn an, eine hohe bretterne Treppe hinanzuklimmen, +auf deren oberem Podest er plötzlich ein seltsames +Schauspiel sah: eine Wand wie ein riesiges, aus +zahllosen kleinen Scheiben bestehendes Fenster, hinter dem +der Treppenpodest wie eine lange Galerie sich hinzog. +Das Glasfenster lief jenseits der Treppe in eine eichene +Tür aus, von der aus dann eine andere Treppe zum +Bühnenpodium hinunterführte ... Diese Treppe aber +war im Bogen geschweift und aus massivem, dunkelgebeiztem +Eichenholz mit schwerem Renaissancegeländer +— wenigstens sah sie so aus. Unten ein dunkler, wuchtiger +Saal mit Kamin, Gobelins, gepolsterten Bänken an den +Wänden, und da standen an siebenzig jüngere Männer +und lauschten andächtig der Instruktion des Oberregisseurs +Burg.</p> + +<p>»Aha — noch 'n Kürassier?« unterbrach dieser seinen +Vortrag. »Kennen Sie 'n Wallenstein?«</p> + +<p>»Auswendig ...«</p> + +<p>»Um so besser ...</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Geselle Dich zu uns — komm hier!<br /></span> +<span class="i0">Es ist ein pudelnärrisch Tier ...«<br /></span> +</div></div> + +<p>Also bitte weiter zu hören, meine Herren. Ihr wollt +Euren geliebten Oberst Max — hier steht er, Barthel ist +sein Name, Alexander Barthel, na, Ihr werdet doch unsern +großen, schönen Alexander kennen?«</p> + +<p>»Ja! ja!« murmelten die Kürassiere mit Begeisterung.</p> + +<p>»Also den wollt Ihr dem Friedländer — das heißt +mir! — entreißen ... Ihr bildet Euch nämlich ein, ich +hielte ihn in Gefangenschaft. Einzeln, truppweise strömt +Ihr herein, und wie Ihr in den Saal kommt, seht Ihr +etwas ganz Unerwartetes: Euer Kommandeur ist nicht +gefesselt, sondern frei: nicht ich halte ihn, sondern etwas +anderes, der stärkste Magnet, den es gibt, natürlich ein +Frauenzimmer: die da, meine Tochter Jucunda, ich wollte +sagen Thekla ...«</p> + +<p>Ein weißer Schatten im halbdunklen Raum: sie, die +Erträumte, von tausend Sehnsuchtsgedanken Umschwärmte, +die Verkörperung des Mädchenideals deutscher +Jugend im neunten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts +... da stand sie im fußfreien grauen Rock, eine +schlichte graue Bluse um den festen Oberkörper ...</p> + +<p>»Nun stutzt natürlich jede Gruppe,« fuhr der Oberregisseur +in seiner Instruktion fort, »und es verstummen +die Rufe, mit denen Ihr einander angefeuert ... Die +erstaunten Blicke gehen von ihm zu mir, von mir zu ihr +— befangen flüstert einer dem andern zu, was er sich bei +der Sache denken mag ... und so steht Ihr schweigend, +mit gesenkten Schwertern ... nichts ist vernehmbar, als +das leise Rascheln der eisernen Rüstungen — bis Euer +Führer sich an Euch wendet und Euch warnt, ihm zu +folgen. — Schlagen Sie an, Barthel!«</p> + +<p>Und der schöne Alexander trat einen halben Schritt +vor, sprach lächelnd, mit halber Stimme:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Bedenket, was ihr tut! Es ist nicht wohlgetan,<br /></span> +<span class="i0">Zum Führer den Verzweifelten zu wählen —<br /></span> +<span class="i0">Ihr reißt mich weg von meinem Glück — wohlan,<br /></span> +<span class="i0">Der Rachegöttin weih' ich Eure Seelen ...«<br /></span> +</div></div> + +<p>»Bitte halt!« unterbrach Burg. »In diesem Augenblick +richtet sich jeder auf, die Augen blitzen mutig den +Führer an: Herr befiehl! Wir sind Dein — führ' uns in +die Schlacht, führ' uns in den Tod, wir folgen Dir ... +Das geht wie ein Ruck durch die ganze eisenstarrende Gesellschaft +durch, versteht Ihr? Und nun weiter, Barthel!«</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Ihr habt gewählt zu eigenem Verderben —<br /></span> +<span class="i0">wer mit mir geht, der sei bereit zu sterben!«<br /></span> +</div></div> + +<p>so schmetterte der schöne Barthel heraus, berauscht von +der klingenden Herrlichkeit seines erzenen Organs.</p> + +<p>»So — und auf dies Wort wirft er sich herum und +stürzt sich in Eure Mitte — mit einem einzigen Aufschrei +des Jubels, des wilden, todbereiten Jubels umringt Ihr +ihn, so daß die Eisenmasse ihn gewissermaßen einschluckt, +die Schwerter schießen in die Höhe wie eine schäumende +Flut, die über seinem Helmbusch zusammenschlägt ... +Noch einmal taucht er auf, als er in Eurer Schar die +Treppe hinaufstürzt, Ihr hinter ihm drein; der Schwall +wälzt sich durch die Galerie, im Gedränge werden ein +paar Glasscheiben eingestoßen und klirren schneidend in +das Getös des Sterbejauchzens, der Hörner hinein, die +von drunten zum letzten Kampfe werben — und denn +Vorhang und aus!«</p> + +<p>Mit sprühenden Augen, mit langhin malenden Gesten +seiner hageren Arme hatte der Oberregisseur die ganze +ungeheure Szene aufgebaut vor den Augen der +lauschenden Statistenlehrlinge ... die brachen nun in +lauten Beifall aus, als ihr Meister aus der hinreißenden +Beredsamkeit in einen trockenen Ulkton am Schluß fiel ...</p> + +<p>»So, Herrschaften, nun zählt mal von vorne nach +hinten ab, und jeder merke sich genau seine Zahl!«</p> + +<p>Dann wurden die zweiundsiebenzig in sieben Gruppen +eingeteilt nach der Nummer, und jede bekam ihr Stichwort +zugeteilt ... »Scheidet — Gott!« hieß dasjenige für +die erste Gruppe — »Dein ewig teures und verehrtes +Antlitz« das für die zweite — und so fort. Und dann +mußten sie alle über die breite Renaissancetreppe zurück — +»damit Ihr Euch an die Stufen gewöhnt,« — und draußen +in der Dunkelheit wurden sie vom Inspizienten zu einzelnen +Klumpen zusammengeballt und aufgestellt ...</p> + +<p>»Sind Sie fertig, Ruperti?« klang dann Burgs +Stimme von drinnen. »Ja? Na dann bitte — ich fange +an: Dreiundzwanzigster Auftritt, ich komme mit Illo und +Buttler die Treppe hinunter —«</p> + +<p>Und nun herrenhaft, mit grollendem Erzklang in der +Stimme. »Terzky!«</p> + +<p>»Mein Fürst!« antwortete drinnen eine andere +Stimme, erregt, geschmeidig —</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i28">»Laß unsre Regimenter<br /></span> +<span class="i0">Sich fertig halten, heut noch aufzubrechen,<br /></span> +<span class="i0">Denn wir verlassen Pilsen noch vor Abend ...«<br /></span> +</div></div> + +<p>Und auf einmal war alles im Fluß. Der Zauber +wirkte, der ungeheure, dem einst der zitternde Knabe erlegen +war, im Barmer Stadttheater, auf dem Eckplatz des +zweiten Ranges ... nur daß der Jüngling nun hineinschaute +in das Innere des komplizierten Mechanismus, +der das Wunder wirkte ... und eine dumpfe Sehnsucht +sprang auf — diesen geheimnisvollen Apparat einmal +aus eigener Machtvollkommenheit heraus zum Funktionieren +zu bringen ...</p> + +<p>Gott ... welch ein Gedanke ... selbst einmal etwas +zu schaffen aus der Magie des eigenen Innern heraus ... +etwas, das die hundert Geister dieses dunklen Heerbannes +zur Tat, zur Heeresfolge zwingen könnte ...</p> + +<p>Scheuer Knabentraum, bist du mehr als nur ein +Traum — bist du die mystische Vorahnung kommender +Kraft, der Vorklang künftigen Schicksals?!</p> + +<p>Und Gruppe auf Gruppe der jungen Männer wurde +vom Inspizienten losgelassen, tobte die Treppe hinauf, +erstarrte droben in staunender Verständnislosigkeit, schob +sich dann scheu und verhalten drüben die breite Treppe +hinunter in den Saal, wo Max Piccolominis todgeweihte +Liebe ihren letzten Verzweiflungskampf mit dem Dämon +der Eidespflicht ausfocht ...</p> + +<p>Freilich, manchesmal empfing sie drunten ein Hohngelächter +des Spielleiters.</p> + +<p>»Ne, Kinder, so geht das nicht — Ihr seid ja keine +Verbrecherbande ... Ihr macht ja auf einmal Gesichter, +als hättet Ihr alle einen Sack silberne Löffel gestohlen! +Ihr seid Soldaten, wüste Kerle, schlichte Burschen, die +nicht recht verstehen, weshalb man eines Mädels wegen +soviel Umstände macht ... dazu ein Rest von Scheu vor +dem geliebten, gefürchteten Auge Eures Feldherrn, 'das +Eure Sonne war in heißer Schlacht' — aber vor allem +doch Trotz, Empörertrotz, verhalten, verbissen, gedämpft, +aber Entsetzen einflößend, Schauer aushauchend, kalt wie +das blanke Eisen in Eurer Faust — so will ich's haben, +so hat der Schiller sich's gedacht!«</p> + +<p>Das alles klang nur durch die bemalten Lappen hindurch +an Hans Thumsers Ohr. Denn er gehörte ja zur +allerletzten Gruppe ... er würde nicht viel mehr zu sehen +bekommen ... und er ahnte nur die Gegenwart des +Mädchens, um dessen Bild all seine Gedanken kreisten, +ihr Bild, das ihm die Seele dieser wundersamen Kunst +erschien, die aus Schein und Flitter das ungeheure Widerspiel +des Lebens webt, wahrer als alle Wirklichkeit, tiefer +als alles reale Erdengeschehen ...</p> + +<p>Als er so in stummem Lauschen den Gang der +gigantischen Maschine verfolgte, die das werdende Werk +schuf — da sah er plötzlich aus der Gruppe sechs ein +Augenpaar mit hartem, feindlichem Ausdruck zu sich +herüberblitzen. Es waren Valentin Pilgrams Augen ...</p> + +<p>Im Nu war er an der Seite des einstigen Korpsbruders.</p> + +<p>»Pilgram, Du? Also endlich ... endlich seh' ich Dich +mal wieder ...«</p> + +<p>»Hm ... hat Dir wohl wenig dran gelegen — sonst +hättest Du das Vergnügen früher haben können ...«</p> + +<p>»Hast ganz recht, es ist meine Schuld ... es ist ein +Skandal, daß ich mich so gar nicht um Dich gekümmert +habe ... Aber wenn Du wüßtest ... ich will mich auch +bessern, sei mir nicht bös ... Und nun sag' nur, wie +kommst Du hierher?«</p> + +<p>»Das könnte ich Dich fragen,« sagte Pilgram hart.</p> + +<p>»Nu — ich ... Du weißt doch, daß ich Dich selber +seinerzeit schon um Erlaubnis gebeten hatte — Du wolltest +nicht ... Na, nun haben wir den Volkner, der ... denkt +ein bißchen anders über solche Sachen ...«</p> + +<p>»Jawohl ... und seid mich glücklich los ... gratuliere.«</p> + +<p>»Aber Pilgram! Du weißt doch, wie furchtbar leid +es uns allen getan hat ...«</p> + +<p>»Dir auch?!« fragte Pilgram finster.</p> + +<p>»Ich versteh Dich nicht, Pilgram ... so wie Du und +ich doch immer miteinander gestanden haben ...«</p> + +<p>»Hm ... wenn Deine korpsbrüderlichen Gefühle für +mich ... echt gewesen wären ... dann hätten sie sich wohl +ein bißchen besser gehalten ...«</p> + +<p>»Aber Pilgram —!«</p> + +<p>»Ruhe, meine Herren!« fuhr der Inspizient dazwischen. +»Sie da, Sie gehören doch überhaupt zur Gruppe sieben +— nu bleiben Sie gefälligst aber auch bei Ihrem Haufen! +Ausquatschen können Sie sich ja genügend, wenn's hier +aus geworden ist!«</p> + +<p>»Wir sprechen uns noch!« sagte Thumser und trat zu +seiner Gruppe zurück.</p> + +<p>Himmel — was hatte der Pilgram nur? Und wie +schrecklich er sich verändert hatte in den wenigen Tagen +seit seinem Austritt aus dem Korps ... Die Augen, tiefumrändert, +waren in ihre Höhlen gesunken ... der sonst +so peinlich korrekte Anzug vernachlässigt ... die früher +straffen und sicheren Bewegungen unruhig und zerfahren +...</p> + +<p>Und Valentin Pilgram fragte sich: Wie ist es möglich, +daß ich es bis heute ausgehalten habe, diesen falschen +Hund nicht zu stellen? — Es kann ja nur sein böses Gewissen +sein, das ihn von mir ferngehalten hat ... alle +die Tage, die zwei Wochen seit ... damals ...</p> + +<p>Ha, warum hatte er's nicht getan? Aus Furcht vor ... +einer neuen Uebereilung ... einer neuen Blamage ...</p> + +<p>Daß Thumser seine Hand in dem schändlichen Spiele +gehabt haben müsse, das man ihm gespielt, das war ja +klar. Der Briefbogen mit dem Frankenzirkel und dem +H. T. auf der Rückseite und mit Jucundas Absagebrief +auf der Vorderseite — das war ja doch ein untrüglicher +Beweis. Mit Jucundas Absagebrief! Ja, ein Absagebrief, +das war's, und nichts andres! Die glatten, +gleißnerischen Dankesworte, ihn, den Desillusionierten, +blendeten sie nicht mehr. Er verstand, sie hatte ihn verleugnet, +er hatte sie verloren. Aber wie kam der andere +dazu? Welche Rolle hatte er gespielt in dem Gewirr von +Ränken und Tücken, von denen Valentin Pilgram sich +umstrickt sah? Das war nicht zu erraten und nicht zu +erfahren ... Und aufs Geratewohl abermals unbedacht +zufahren mit einem züchtigenden Wort, einem rächenden +Schlag — Valentin Pilgram besaß nicht mehr die frühere +Sicherheit des Handelns, seit sein Instinkt ihn so schmählich +in die Irre, in die Wirrnis, in die lächerliche Don-Quichottiade +hineingestoßen hatte. So hatte er von einem +zum andern Tage gewartet und gewartet in der dumpfen +Hoffnung, daß irgend etwas sich ereignen würde, das +ihm Klarheit gäbe ... Er hatte auf ein Wiedersehen mit +Jucunda, auf einen Besuch Thumsers gehofft, auf eine +Aussprache mit ihr und mit ihm, in deren Verlauf er +brüsk und kategorisch die Frage hätte stellen können: Wie +war das möglich? Wie ist dieser Brief auf dieses Blatt +geraten? Erklärt mir den Zusammenhang, zerstreut +meinen grausamen Verdacht und bekennt, bekennt und +empfangt den Lohn, den Euer Verrat verdient!</p> + +<p>Aber nichts von alledem war geschehen. So häufig er +den teilnahmsvollen Besuch seiner ehemaligen Korpsbrüder +erhielt, so oft er mit ihnen am dritten Orte zusammentraf +— der schlanke Fuchsmajor blieb aus. Und Jucunda? +Sie war wie aus der Welt verschwunden. Wohl hörte er +abends ihr Heimkommen aus dem Theater, ihr herzhaftes +Gähnen, den energischen Plumps, mit dem sie sich arbeitsmüde +auf ihr krachendes Bettchen warf, und nachts, wenn +er sich schlaflos auf seinem Lager wälzte, ihr geruhsames, +selbstzufriedenes Schnarchen ... denn bei Gott, sie +schnarchte wie ein Mann ... Und morgens vernahm +er wohl, wie sie leise ihre Rollen repetierte. Ach, wie +gern hätte er noch einmal den sonoren Alt in seinem +vollen Glanze von da drüben schmettern gehört! Aber +sie hatte einen Flor über ihr Organ gebreitet, und er +fühlte, das war die Scheu vor ihm. Und die gleiche Scheu +mußte es sein, unter deren Druck sie es darauf anlegte, +ihm um jeden Preis aus dem Wege zu gehen. Es war, +als überwache sie sein Gehen und Kommen und richte +ihre eigenen Ausgänge, ihre Rückkunft danach ein. Oft +legte er es geradezu darauf an, mit ihr im Korridor, auf +der Treppe zusammenzutreffen, aber wie ein Geist war +sie dann von hinnen gehuscht, hinter irgend einer Tür +verschwunden, die Treppe hinuntergeschnurrt ...</p> + +<p>Der tolle Wirrwarr von Wut und Sehnsucht, von +Ekel und Hingebung, in dem seine Tage, seine Nächte +dahinrannen, trieb ihn immer und immer wieder ins +Theater. Und dann sah und hörte er nichts von dem +Stück — er sah, er fühlte, er träumte nur Jucunda. In +welcher Gestalt, welcher Maske, welchem Gewande sie auf +der Bühne stand, ihm galt es gleich. Er sah nicht die +Künstlerin, er sah nur das Mädchen, dem seine Seele wie +sein Leben verfallen war. Fiebernd, stumpfsinnig harrend +ließ er die Auftritte an sich vorübergehen, bis sie erschien. +Von folternden Schmerzen zermartert und doch an ihr +Bild gebannt, weit vorgebeugten Oberkörpers, verfolgte +er jeden Schritt, jede Bewegung, bis sie wieder die Bühne +verließ oder der Vorhang fiel — er hätte seinen Nachbarn +an die Kehle fahren können, wenn sie fanatisch Beifall +trampelten, wenn sie wie toll ihr »Buchner! Buchner!« +riefen ... Und wenn's zu Ende war, dann stand er +draußen unter der harrenden Rotte der Verehrer, den +Kragen seines Paletots hoch aufgeklappt, den Hut tief in +die Stirn geschoben, sah sie vorüberschweben und mit +königlicher Gnade ein Lächeln rechts, ein Lächeln links +verteilen, atmete tief und stöhnend auf, wenn der Wagenschlag +klappte, die Pferde anzogen ... Wenn aber nach +der Premiere die schäumende Begeisterung der Jugend +abermals den gewohnten Triumphzug entfesselte, dann +stellte sich Valentin Pilgram inmitten derer auf, die von +hinten Jucundas Wagen schoben, und arbeitete im +Schweiße seines Angesichts. Dann war ihm am wohlsten, +dann fühlte er sich ihr am nächsten ...</p> + +<p>Und als er eines Tages auf den Anschlagsäulen ersah, +daß der »Wallenstein« in Vorbereitung sei, da fiel ihm +Thumsers Bitte ein, in diesem Stücke mit statieren zu +dürfen. Damals hatte er als Senior diese Bitte abgeschlagen, +nun nickte er sich selbst ein bitter lächelndes Ja, +als eine Stimme in ihm befahl, er solle sich in die Schar +der Pappenheimer Kürassiere mischen, um den Geliebten +aus Theklas Armen und in den Schwertertod hineinzureißen +... Und so war er nun hier, in dieser pappdeckelnen, +bretternen Trödelwand. Nie hätte er sich's +träumen lassen ... Nun war er, der weiland Erste Franconias, +ein Statist in Gruppe sechs ...</p> + +<p>Die Probe ging ihren Gang.</p> + +<p>Wie eines Meisters Hände den bildsamen Ton, so +knetete Franz Burgs zielsichere Regie die Schar der zweiundsiebenzig +jungen und älteren Männer in eine Horde +entfesselter Pappenheimscher Soldateska um. Immer +und immer wieder wurde eine Gruppe nach der andern +die Treppe hinauf- und hinuntergejagt, jedes Knurren der +Wut, jedes Aufheulen der Begeisterung wurde einstudiert, +jede Bewegung, jeder Blick festgelegt und in das tausendmaschige +Gewebe des farbenleuchtenden Teppichs eingefügt, +den der Szenenmeister vor dem lauschenden Publikum +zu entrollen gedachte. Und immer klarer, immer +überzeugender modellierte sich das Bild des kurzen, erschütternden +Vorganges heraus, wie die todestrunkene +Schar der Kürassiere sich ihren Führer aus den Verstrickungen +der Liebespflicht herausholt und ihn auf schäumender +Woge hinwegreißt in Tod und Vernichtung. +Keiner spürte Ermüdung, keiner nahm Anstoß am derbsten +Poltern, am spitzigsten Spotte des eisernen Mannes, der +diese Zweiundsiebzig am Drahte seines Willens zappeln +ließ wie ebensoviel Marionetten.</p> + +<p>Und endlich schien's getan: tief aufatmend lachte Franz +Burg: »So, Herrschaften, ich denk', nun könnt Ihr's, jetzt +kommt der Tragödie zweiter Teil: Rüstungen verpassen! +Also Pause zum Verschnaufen und dann gefälligst gruppenweise +hinauf zur Rüstkammer, dort laßt Ihr Euch die klapprigen +Konservenbüchsen um den Leib hängen, holt Euch +Euren Eisentopf und Eure Bratspieße — und denn geht's +wieder von vorne los!«</p> + +<p>Da leuchteten die ermüdeten Augen der abgejagten +Schar wieder hell auf. Das hatte ja nur noch gefehlt, das +Kostüm, das vollendete die Verwandlung, das brachte das +Letzte an Stimmung, was noch fehlte ... Und während +die Gruppen zwei bis sieben sich plaudernd und lärmend in +dem dunklen Hintergrunde des schwarzgähnenden Bühnenraumes +verloren, kletterte Gruppe eins unter Führung des +Inspizienten lachend und prustend die hallenden Steintreppen +hinauf, um droben das Eisengewand der Pappenheimer +anzulegen.</p> + +<p>Hans Thumser hatte sich vergebens den Kopf zerbrochen, +weshalb wohl der Korpsbruder so maßlos gereizt +auf ihn sein könne. Himmel ja, er hatte ihn ja unverantwortlich +vernachlässigt in der letzten Zeit — aber schließlich +war das doch kein Grund, ihn dermaßen hundemiserabel +zu behandeln. Na, man würde nochmals um Entschuldigung +bitten, und dann müßte der arme Kerl doch +schließlich Vernunft annehmen. Also, wo steckt er denn +bloß?</p> + +<p>Gruppe sechs — wo ist Gruppe sechs? jawohl — alles +durcheinander gewürfelt, alles wie verschluckt von der +schwarzen Finsternis dahinten jenseits des Prospekts.</p> + +<p>Hans Thumser drängte sich durch die Gruppen der +»Kürassiere«, rief hin und wieder halblaut Pilgrams +Namen, aber umsonst, der Freund ließ sich nicht sehen — +schließlich postierte er sich unten an der Treppe, die zur +Rüstkammer hinaufführte. Aber selbst als Gruppe sechs, +der er angehörte, vom Inspizienten zum Empfang der +Rüstungen geführt wurde, war Valentin Pilgram nicht +darunter. Es schien, er wolle sich nicht sehen lassen ... +und schließlich konnte Hans das am Ende begreifen: er +war eben böse, weil Hans ihn so schnöde vernachlässigt +hatte. Nun, das ließ sich am Ende nachholen ...</p> + +<p>Und mit ganz wunderlichen Empfindungen ließ sich +auch Hans Thumser den rasselnden Eisenharnisch der +Pappenheimer Kürassiere um die geschmeidigen Glieder +schnallen. Es war ja nur Spiel, nur Mummenschanz — +und doch, welch sonderbare Macht lag in diesem starren +Eisengewand, lag überhaupt im Kostüm! Hans meinte +ordentlich zu fühlen, wie er ein anderer wurde, wie +schlichte, rohe und starke Gefühle aus jahrhundertfernen +Tiefen sich an die Oberfläche seiner Seele drängten, wie +er verschmolz mit der gepanzerten Schar seiner Gefährten +...</p> + +<p>Und nun hinunter! Die matt erhellten Korridore, der +stockfinstere Raum hinter dem Prospekt war nun von geheimnisvollem +Rascheln und Klirren erfüllt. Es war, als +sei der Geist der Wallensteinschen Soldateska über die</p> + +<p>ganze junge Schar gekommen: rauher und härter klangen +die Stimmen, derber und knapper die Scherze, das Gelächter.</p> + +<p>Und von neuem begann die Probe. Teufel! war das +schwer, sich in diesem niederwuchtenden Gewand, in den +kolossal steifen Stulpenstiefeln zu bewegen, den mächtigen +Pallasch mit dem breit ausladenden Stahlkorb nicht +zwischen die Beine zu bekommen! Und nun gar die +Treppen hinauf, hinunter! Da verhedderte sich mancher +in den handlangen stählernen Sporen, stolperte, krachte zu +Boden und mußte schwerfällig, wie eine Schildkröte, von +den Kameraden aufgerichtet werden.</p> + +<p>Und unten auf dem Podium inmitten des Schloßsaales +stand Franz Burg und hielt sich beide Seiten vor Lachen ... +und neben ihm im Halbkreis gruppiert: Thekla, Terzky, +Illo, Buttler, Max Piccolomini — und alle lachten sie sich +schier zu Tode über die stolpernde, prustende, schwitzende +Kürassiergarde.</p> + +<p>Und doch, allmählich klärte sich auch dies neue Chaos. +Und endlich sagte Franz Burg:</p> + +<p>»So, meine Herrschaften, nun fangen wir richtig zu +probieren an! Also bitte, Kürassiere von der Bühne, die +Soloherrschaften an ihre Plätze!«</p> + +<p>Und abermals stand die harrende Schar der Eisenreiter +im Hintergrunde zu Füßen der schmalen Holztreppe versammelt +— und abermals klang's von drinnen herrenhaft +in grollendem Erzklang:</p> + +<p> +»Terzky!«<br /> +<span style="margin-left: 4em;">»Mein Fürst!«</span><br /> +<span style="margin-left: 10em;">»Laß unsre Regimenter</span><br /> +Sich fertig halten, heut noch aufzubrechen,<br /> +Denn wir verlassen Pilsen noch vor Abend.«<br /> +</p> + +<p>Und Gruppe auf Gruppe erhielt ihr Stichwort, Gruppe +auf Gruppe klirrte die Treppe hinauf, strudelte die Galerie +entlang, ergoß sich in den Saal hinab ...</p> + +<p>Als aber Gruppe sechs aus dem Finster der Bühnentiefe +die Treppe hinanstieg, sah Hans Thumser, daß Pilgram +doch noch vorhanden war. Seine riesige Gestalt, +sein hartes Herrengesicht standen vortrefflich zu der blanken +Wehr — aber kein Blick für den einstigen Korpsbruder ...</p> + +<p>Was er nur haben mochte? — Das war doch Kinderei, +so offiziell zu tun.</p> + +<p>»Also Gruppe sieben!« zischte der Inspizient. »Los! +Los!«</p> + +<p>Und Hans Thumser keucht die schmalen Stufen empor, +stößt wie die Kameraden rauhe gurgelnde Töne aus, +stutzt droben am Treppenrande, stutzt und verstummt ...</p> + +<p>Aber nicht nur, weil es so probiert ist ... Im gelben +Lichte der Proberampe sieht er drunten Jucunda Buchners +schmales Prinzessinnengesicht ... aber jetzt nicht mehr wie +vorhin, von Lachen und Schelmerei gerötet — nein, nun +ist sie plötzlich Thekla, das verzweifelnde Kind, das Liebe, +Glück, Leben versinken sieht in den eisenschäumenden +Wogen des Schicksals. So abgrundtief, so herzdurchbohrend +der Ausdruck des Schmerzes auf ihren tränengefurchten +Wangen — Hans Thumser kann den Blick nicht +lassen von diesem Bild adligen Grams ...</p> + +<p>Aber die Masse der Kameraden schiebt ihn vorwärts +— und plötzlich fühlt er keinen Boden mehr unter seinen +Füßen, er strauchelt, schlägt krachend nach vorn, alle +Glieder knacken — tausend Feuerräder kreiseln in seinem +Hirn — ein lauter Aufschrei übertönt das Knacken und +Klirren der hundert Eisenringel, die seine Glieder umschlossen +halten und im Sturz in Schulter und Schienbein +sich hineinzwängen — und dann nichts mehr.</p> + +<p>Eine hilflose Masse, so war des Studenten Körper die +fünfundzwanzig Stufen der Freitreppe hinuntergekollert, +anfangs noch ein wenig aufgehalten durch die Schienbeine +seiner Vordermänner, dann aber, als alles instinktiv zur +Seite sprang, ganz hemmungslos. Nun lag er bleich, mit +geschlossenen Augen am Fuß der Treppe. Die Sturmhaube +war ihm vom Kopf gefallen und in weiten Sprüngen +ihm voran in den Saal hineingehüpft. Einen Augenblick +hatte alles vor Schrecken erstarrt gestanden, nun sprangen +fünf, sechs der nächststehenden Kürassiere zu und richteten +den schwerfälligen Körper auf.</p> + +<p>Durch den Wall der Geharnischten aber drängte sich +Jucunda Buchner hindurch. Sie hatte den Jüngling +straucheln und vornüber stürzen gesehen und in dem +Augenblick sein Gesicht erkannt, ohne daß sie gleich +wußte, woher. Nun kniete sie neben dem aufgerichteten +Oberkörper des Studenten nieder, umfaßte seine Schultern +und legte seinen zerschundenen Kopf behutsam auf ihr +Knie. Und da schlug Hans Thumser die Augen auf — +und in diesem Augenblick wußte Jucunda, wo sie +diesen leuchtenden Blick schon einmal gesehen hatte — +der junge Poet ... er, neben dessen »schwindelschmalem +Pfade Abgründe klafften rechts und links« — nun, in einen +dieser Abgründe war er nun glücklich hineingeplumpst ... +freilich, es schien ihm ganz gut bekommen zu sein, denn +mit einem zufriedenen Lächeln schloß er die erstaunten +Augen, reckte sich ganz behaglich und machte sich's ordentlich +bequem auf dem weichen Kissen, auf das er sich gebettet +fühlte.</p> + +<p>Und nun löste sich der allgemeine Schreck in ein befreites +Aufatmen. Da schlug der Student die Augen abermals +auf, und nun schien ihm das Komische seiner Situation +bewußt geworden zu sein: mit einem Ruck richtete +er den Oberkörper auf, sprang auch sofort auf die Beine +und reckte die Knochen.</p> + +<p>»Na? Kein edlerer Teil entzwei?« fragte der dröhnende +Baß des Szenenleiters. Hans Thumser versuchte +sich diejenige Stelle seines Körpers zu reiben, welche bei +dem Fall am meisten in Mitleidenschaft gezogen war, +aber das gelang ihm nicht — sie war zu gut gepanzert ...</p> + +<p>Nun brach ein endlos dröhnendes Gelächter aus, dazu +rasselten die Rüstungen der Pappenheimer, die sich die +eisenbewehrten Bäuche hielten. Am hellsten aber lachte +Jucunda. In einer raschen Wallung trat sie auf den +jungen Burschen zu und klopfte ihm mit beiden Händen +die glühenden Backen.</p> + +<p>»Dunnerwetter!« tönte da aus den Reihen der Kürassiere +eine neiderfüllte Stimme. »Ich wär' nächstens ooch +mal de Treppe 'nunner purzeln!«</p> + +<p>»Na, ich dächte, nach diesem kleinen Zwischenfall probieren +wir weiter!« rief Burg, »also alles zurück, meine +Herrschaften, und noch einmal von vorne!«</p> + +<p>Hans Thumser war's nun aber doch zumut, als +klapperten alle seine Knochen einzeln und lose in dem +großen Blechtopfe durcheinander, der sie einschloß — und +er bat um die Erlaubnis, sie wieder zusammenzusuchen.</p> + +<p>Als dies gewährt worden war, trat er vorn an die +Proberampe und kam neben Jucunda zu stehen. Die lachte +ihn an und flüsterte ihm zu:</p> + +<p>»Ich habe ja so lange nichts mehr von Ihnen gehört — +warten Sie nach der Probe auf mich — ich möchte wissen, +wie es Ihnen inzwischen ergangen ist!«</p> + +<p>Da wurde es Hans Thumser klar, daß er wieder mal +mehr Glück als Verstand gehabt hatte ...</p> + +<p>Noch eine weitere halbe Stunde voll schwitzenden Bemühens +— dann war's geschafft. Und nun harrte der +Student am Bühnenpförtchen seiner Göttin. Er drückte +sich in den dunklen Schatten der Donnermaschine und ließ +den Schwall der Geharnischten an sich vorüber strudeln. +Und endlich kam sie — kam nicht allein, sondern am Arm +der majestätischen Kollegin Frau Anna Cederlund, welche +die Gräfin Terzky spielte. Im ersten Augenblick verließ +den Studenten der Mut ... Als aber die beiden ragenden +Frauengestalten an ihm vorüberschritten, ohne ihn zu bemerken, +da sprach's in ihm: Sei kein Narr! Und er schoß +aus seiner Finsternis hervor, daß die Frauen ordentlich +zusammenschraken.</p> + +<p>»Gnädigste haben mich zu sprechen befohlen!«</p> + +<p>»Ah, sieh da, Herr Dummerle! Nun? Was macht die +Poesie? Gestatten Sie, Annerl — Herr Studiosus Dummerle, +dichtet — hat immer die Nase in der Luft und +purzelt deswegen mit Vorliebe die Treppen hinunter — +meine Kollegin, Frau Cederlund. Ja, also was fang' ich +nun mit Ihnen an? Wissen Sie was? Sie könnten ja +auch mal zu mir zum Tee kommen — wollen Sie?«</p> + +<p>»Darf es heute sein?« antwortete Hans Thumser.</p> + +<p>»Aber warum denn nicht? Also um fünf — soll's +gelten?«</p> + +<p>Hans Thumser konnte sich nur stumm verneigen — +tief, tief auf die schlanke Hand, die sich ihm entgegenstreckte +— und dann war's vorbei ...</p> + +<p>Und wie ein Begnadeter stolperte Hans Thumser die +hallenden Steintreppen zur Rüstkammer hinauf, um sich +aus einem Pappenheimer wieder in einen Fuchsmajor +zu verwandeln. Zwei Minuten aber, nachdem das Eisenpförtchen, +das vom Bühnenraum zum Garderobenumgang +führte, hinter ihm zugeklappt war, löste sich aus dem +Dunkel der Kulissen noch eine zweite Kürassiergestalt los. +Die einsame Glühbirne, die am Inspizientenpulte brannte, +beleuchtete ein finstres, verzerrtes Jungmännergesicht +unter dem tiefschattenden Doppelschirm der Sturmhaube: +es war das Gesicht des weiland Ersten der Franconia.</p> +</div> + +<div> +<h2>11.</h2> + +<p class="start-chapA">Asta Thöny war ein wenig eingenickt nach dem bescheidenen +Mittagsmahl, das Frau Wehe ihr aufgetischt. +Nun fuhr sie empor, flog ans Fenster, steckte den +glühenden Kopf hinaus und klatschte jubelnd in die Hände, +als sie die ersten Schneeflocken durch das mürrische Grau +der Sophienstraße wirbeln sah ...</p> + +<p>Köstlich! köstlich! Würde das ein fröhliches Streifen +werden mit dem geliebten Jungen durch dies wattige Weiß +hindurch an der graulich gurgelnden Pleiße entlang! Sie +wußte, wie gut ihr die prachtvolle Sealskingarnitur stand, +das splendide Andenken ihres Rittmeisters in Gera ... +Und nun schmückte sie sich nach Herzenslust für den Leipziger +Freund. Ob er wohl schon daheim war? Sie klopfte +an die Wand — keine Antwort. Na, er würde schon nicht +auf sich warten lassen, um vier Uhr hatte er ja versprochen +sie zum Spaziergang abzuholen. — Aber es wurde vier — und +kein Hans Thumser! Na, vielleicht war er schon längst +zu Hause und lag drüben auf seinem Kanapee in den geliebten +Nachmittagsschlaf versunken. Sie hatte eine Tüte +Pralinees für ihn gekauft, sie kannte seine schwache Stelle. +Die steckte sie in die Jackettasche, hüpfte zur Tür hinaus und +pochte an die seine; da keine Antwort kam, klinkte sie auf +— und richtig — da lag er auf dem Sofa, lang hingestreckt, +in Hemdsärmeln, das blinkende Korpsband über der +Weste. Auf Zehen schlich sie heran und hielt ihm die +duftende Tüte unter die Nase. Da schlug er blinzelnd die +Augen auf, lachte sie fröhlich an und breitete die Arme +aus — mit einem leisen Jauchzen warf sie sich hinein.</p> + +<p>Nachdem sie sich satt geküßt, richtete sie sich stramm +auf und befahl:</p> + +<p>»So, nun antreten zum Spaziergang!« (Die militärischen +Allüren ihrer jüngsten Vergangenheit saßen ihr +noch in den Gliedern.)</p> + +<p>Aber statt des erwarteten Entzückens trat in Hans +Thumsers Züge plötzlich eine peinliche Befangenheit, und +ein Erröten stieg ihm langsam in die Augen.</p> + +<p>»Nun, was ist Dir?«</p> + +<p>»Liebes Kind, ich bin trostlos ... Spaziergang ist +nicht.«</p> + +<p>»Was ist das? Was fällt Dir ein!«</p> + +<p>»Ja ... ich ... ja ... ich ... es tut mir entsetzlich +leid ... aber ... wir haben heute nachmittag C. C. ...«</p> + +<p>»Das ist abscheulich, Hans! Wie kommt denn das, was +ist denn los?! Und ich hatte mich doch so gefreut, habe +mich so hübsch für Dich gemacht, das hast Du Ungeheuer +überhaupt noch gar nicht bemerkt!«</p> + +<p>»Ob ich das bemerkt habe! ... aber — es tut mir riesig +leid, Du weißt, das Korps spaßt nicht.«</p> + +<p>Asta sah, daß er ihren Blick vermied — lügen hatte er +noch nicht gelernt.</p> + +<p>»Du, das mit dem C. C. das ist geschwindelt, da steckt +was andres dahinter! Beichte!«</p> + +<p>»Aber nein ... ganz wahrhaftig, Kind, wir haben +C. C., Du kannst Dich drauf verlassen.«</p> + +<p>»Sieh mich an, Hans —! Siehst Du, Du kannst es +nicht —«</p> + +<p>»Aber ja ... ich kann's.«</p> + +<p>Nein wahrhaftig, er konnte es nicht.</p> + +<p>»Also heraus damit! Was ist los?«</p> + +<p>Sie stampfte mit den zierlichen Füßen auf, die in mächtigen +pelzbesetzten Boots steckten.</p> + +<p>Hans kämpfte einen Augenblick, dann sah er ihr gerade +ins Gesicht mit dem Ausdruck eines trotzigen Buben, der +sich auf einer Schandtat ertappt sieht:</p> + +<p>»Die Buchner hat mich zum Tee geladen.«</p> + +<p>»Das ist nicht wahr! Das darf nicht wahr sein!«</p> + +<p>»Aber warum soll ich denn nicht auch mal zur Buchner +zum Tee gehen?«</p> + +<p>»Weil Du mir gehörst. Das gibt's nicht. Da wird +nichts draus.«</p> + +<p>»Ich hab's versprochen.«</p> + +<p>»Dann bleibst Du eben einfach weg. Die Buchner +weiß ganz genau, daß Du mein bist. Es ist eine Niedertracht +von ihr — ich laß mir's nicht von Dir gefallen!«</p> + +<p>»Und ich laß mir's nicht von Dir gefallen, daß Du +über mich verfügst, wie über ein Spielzeug.«</p> + +<p>»Hans, so darfst Du nicht zu mir sprechen, das weißt +Du auch, daß Du das nicht darfst! Du hast auch ein böses +Gewissen dabei!«</p> + +<p>Hans Thumser ging mit drei raschen Schritten ans +Fenster und trommelte an die Scheiben. Wahrhaftig, sie +hatte recht — es war ihm hundeelend zumute — nichts +als Liebes hatte sie ihm getan, weit über Hoffen und +Träumen hinaus hatte sie ihn glücklich gemacht ... und +er — er hatte immer über sie hinweg geträumt von der +andern.</p> + +<p>»Nun, hast Du Dich besonnen — kommst Du mit mir?«</p> + +<p>»Ich kann's nicht ... ich hab's versprochen.«</p> + +<p>»Und mir? — Wem hast Du's zuerst versprochen, mir +oder ihr?«</p> + +<p>»Aber Kindchen, das mußt Du doch einsehen ... daß +das für mich — wie soll ich sagen — daß das für mich +eine große Sache ist ... schließlich ist sie doch ... die +Buchner.«</p> + +<p>»Ach so — und ich, ich bin nur die Thöny, die kleine +Thöny, und sie die große Jucunda! Hansel, das wird Dir +noch mal leid tun!«</p> + +<p>Laut aufweinend stürzte sie hinaus ... die Schleppe +ihres Pelzjacketts fegte die Pralineetüte vom Tisch, und +alles kollerte in die Stube. Hans Thumser mußte aufsammeln. +Dabei glühten seine Backen vor Scham. Es +war wirklich hundsgemein von ihm, das herzliebe Mädel +so ruppig zu versetzen — er fühlte, er hatte sie bis ins +Tiefste gekränkt. Mit hundert Gewalten zog's ihn hinüber, +die Tränen von den schönen Augen wegzuküssen, die ihm +so manche Stunde durchsonnt hatten ... und dann fiel +sein Blick auf Jucundas Bild, auf das bronzene Heroinenprofil, +das unterm Helm der Jungfrau so sieghaft leuchtete. +— Und er wußte, daß zehn Astas diese Stunde nicht aufwiegen +würden, die ihm bevorstand.</p> + +<p>Er lauschte — wieder wie in jener ersten Nacht klang +da drüben jenseits der Doppeltür und der beiden Kleiderschränke, +die sie verbarrikadierten, das herzerschütternde +Weinen ... aber diesmal nicht verhalten wie damals — +nein — in wilder leidenschaftlicher Empörung. — Und +diese, diese Tränen hatte er auf dem Gewissen ...</p> + +<p>Und das war so niederträchtig, so infam: daß man im +tiefsten Grunde seiner Seele sogar noch etwas wie eine +Genugtuung empfand über diese Tränen, die man selbst +verschuldet hatte. War es nicht eigentlich ein verdammt +stolzes Gefühl, daß man ein Kerl war, um den so heiße +Mädchentränen fließen konnten?</p> + +<p>Hans Thumser warf einen Blick in den Spiegel: also +so sieht so ein verfluchter Gesell aus, um den ein Mädchen +wie Asta Thöny — Tausende würden ihn beneiden um +so einen süßen Kameraden! — um den so ein himmelsüßes +Geschöpf sich quält?</p> + +<p>Und mit einem verwegenen Ruck stülpte er die grüne +Franken-Mütze auf den braunen Schädel und ging zu +Jucunda Buchner.</p> + +<p class="start-chapW space-above">War's nicht eigentlich toll? Hans Thumser war in +einer ganz niederträchtig vergnügten Stimmung, als +er durch das wirbelnde Flockengestiebe den Peterssteinweg, +die Petersstraße hinanschlenderte. Jedem Mädel +guckte er verwegen, wie er's nie getan, unters Pelzbarett: +Ja, wenn ihr wüßtet, ihr Leipziger Gänschen —! Eben +hab' ich die Asta Thöny geküßt ... die von den Meiningern, +ihr wißt doch! Und nun — nun gehe ich zur +Buchner ... und wer weiß — wer weiß! So ein Kerl +bin ich, verflucht nich noch mal!</p> + +<p>Als er den schneebepuderten Marktplatz überquerte +und in die Katharinenstraße einbog, fiel ihm plötzlich ein, +daß er ja nun endlich den Weg zu Valentin Pilgrams +Wohnung gefunden habe. Der arme Junge! Ob der wohl +auch schon mal von Jucunda Buchner zum Tee geladen +worden war? Wohl schwerlich — und doch, was alles +hatte der an dies Mädchen gesetzt ... und er —? Er hatte +nichts getan, und alles fiel ihm in den Schoß. Teufel auch +— man war eben ein Poet, ein Götterliebling —! nischt +wie verdammte Pflicht und Schuldigkeit vom Schicksal!</p> + +<p>Ob er den armen Burschen wohl mal aufsuchte? +Eigentlich hätte sich's gehört ... daß er gekränkt war, +lag ja auf der Hand nach seinem Benehmen von heut +morgen ... aber freilich ... erst zu Pilgram gehen und +dann sich von ihm verabschieden mit der Erklärung, man +sei zu Jucunda Buchner zum Tee geladen — das war +doch wahrhaftig mehr eine Kränkung, wie die Dinge nun +einmal lagen, als die Erfüllung der längst geschuldeten +Freundschaftspflicht. Also lassen wir's doch lieber ...</p> + +<p>Glücklicherweise, im letzten Augenblick, fiel's ihm ein, +daß er ja noch ohne Blumen war. Er fand eine Gärtnerei, +wählte die herrlichsten Rosen, die es gab, und erschrak +nicht im mindesten, als die Verkäuferin ihm fünf Mark +abverlangte. Denn diesmal war's ja in der ersten Hälfte +des Monats und nicht Ultimo, wie damals, als er mit dem +gepumpten Markstück ein Dahliensträußchen für Asta erstand +... Und so bewaffnet bis an die Zähne kletterte +er die wohlbekannten Stufen im dunklen Treppenhause +empor und zog die gellende Klingel an der Korridortür +des Kanzleirats Buchner.</p> + +<p>Eine stattliche Frau öffnete ihm. Er erkannte in ihr +sofort Jucundas Begleiterin von jenem ersten Triumphzuge +wieder. Alle Wetter ja, seine Idee von damals hatte +Schule gemacht ... das blitzte ihm so durch den Kopf, als +er seiner Führerin durch den dunklen Korridor folgte, bis +sie haltmachte und anklopfte.</p> + +<p>»Bist Du es, Mutter?« tönte von drinnen die wohlbekannte +Stimme ... die Stimme, die durch sein Wachen +und seine Träume klang. So hatte sein junges Herz noch +niemals an die Rippen gehämmert ... auch nicht bei +Beginn des Abiturienten-Examens ... auch nicht vor der +ersten Mensur.</p> + +<p>»Hier ist der Herr, wo Du zum Tee hast eingeladen!«</p> + +<p>»Herein — nur herein!«</p> + +<p>Die Tür sprang auf, und als dunkle Silhouette gegen +die schimmernd weißen Vorhänge abgehoben, stand +Jucunda. Mit ausgestreckten Händen kam sie ihm entgegen:</p> + +<p>»Wie freue ich mich! — Die Poesie bei mir zu Gast ... +das ist das erstemal. Laß uns allein, Mutter.«</p> + +<p>Hans warf einen Blick in der Stube umher. Tausend +ja, hier sah's anders aus als damals bei Asta. Jucunda, +das sah er sofort, hatte nicht vergessen, daß sie sein Kommen +gewünscht — alles war sorgfältig für seinen Empfang vorbereitet, +der Tisch zierlich gedeckt und mit Rosen bestreut, +die Teemaschine dampfte, Zigaretten, Zigarren standen +bereit, eine gehäufte Schüssel Gebäcks. Und ringsum +herrschte Ordnung, Sauberkeit, noch mehr: Schönheit ... +oder doch wenigstens die deutliche Absicht sie hervorzuzaubern +... überall Blumenarrangements und Körbe +lebender Pflanzen, an den Wänden die welkenden Lorbeerkränze +mit riesigen langflutenden goldbedruckten, goldbefransten +Atlasschleifen. Uebers Bett aber war ein hermelinbesetzter +Mantel von Purpursamt königlich hingebreitet, +und ein frischer Strauß tiefdunkelroter Rosen +lag oben drauf. Alles war abgetönt mit einem naiven +Sinn für Eleganz und Repräsentation.</p> + +<p>Hans Thumser sah nicht, daß die Möbel abgeschabt, die +Bezüge verschlissen waren, fühlte nicht, daß der Stuhl +wackelte, auf den er sich setzte, der Tisch, auf dem das Teegeschirr +brannte ... auch nicht, daß die Tassen gesprungen +waren, und hier und da gar ein Henkel fehlte ... ihm war +zumut, als sei er in einem Königsschloß, in einem +Märchenpalast. Und wie eine Königin erschien ihm auch +Jucunda. Sie trug ein lang hinschleppendes Spitzenkleid, +das ihm vorkam wie eine märchenhafte Kostbarkeit — er +konnte ja nicht beurteilen, daß es maschinengewebte +Spitzen waren, nur bestimmt auf die Entfernung zu +wirken — er war im Bann, im Traum. Und nur die +eine Empfindung durchdrang ihn mit wohligen Schauern: +hier war er erwartet, hier hatte man Staat für ihn gemacht, +hier wollte man ihn ehren, ihn entzücken.</p> + +<p>Er saß ganz still, als Jucundas große, schlanke Hände +den Tee bereiteten, und sah nichts als das anmutige Spiel +der elfenbeinfarbenen Arme, die aus den Spitzenärmeln +hervorlugten:</p> + +<p>»Erinnern Sie sich noch, daß wir schon einmal beim +Tee zusammengesessen haben?«</p> + +<p>»Wie können Sie fragen, gnädigstes Fräulein! Ich +habe seitdem von nichts geträumt, als daß dies einmal +kommen könnte ... dies, was jetzt ist.«</p> + +<p>Jucunda stellte den dampfenden Tee vor ihn hin, sah +ihn von oben her mit ironischem Lächeln an und fragte:</p> + +<p>»Und Asta?! Haben Sie die Courage gehabt, ihr zu +verraten, daß Sie heute bei mir sind?«</p> + +<p>»Warum sollte ich nicht? Das ist doch nicht verboten!«</p> + +<p>»Nun, und was sagte sie?«</p> + +<p>Hans wurde rot. Ob Asta geschwatzt hatte? Ob +Jucunda wußte, wie er mit ihr stand?</p> + +<p>»Sehen Sie wohl,« lachte das Mädchen, »Sie können +nicht antworten — Sie haben Schelte bekommen —! +Dacht' ich mir's doch.«</p> + +<p>»Ich wüßte nicht, daß irgend jemand das Recht hätte +mich zu schelten,« sagte der Student etwas kleinlaut und +trotzig.</p> + +<p>»Sagen Sie das nicht!« sagte Jucunda. »Wohltun +verpflichtet — oder ist die ... Episode schon zu Ende?«</p> + +<p>»Welche Episode?«</p> + +<p>»Fragen Sie nicht so dumm!«</p> + +<p>Hans Thumser sah sich durchschaut. Aber wenn +Jucunda doch wußte, daß Asta immerhin doch gewisse ... +Ansprüche geltend machen konnte ... warum hatte sie ihn +geladen, was wollte sie von ihm? Er richtete sich auf:</p> + +<p>»Gnädiges Fräulein, ich glaube nicht, daß Sie mich zu +sich gebeten haben, um mir klar zu machen, daß ich eigentlich +wo anders hingehörte.«</p> + +<p>»Da haben Sie recht,« lachte die Schauspielerin, »Sie +sind nun einmal hier, nun seien Sie's auch ganz. Asta +ist tot, es lebe Jucunda, nicht wahr?«</p> + +<p>Sie streckte ihm die Fingerspitzen hin, er neigte sich +darüber.</p> + +<p>»Nun, blaue Flecke von heute morgen?«</p> + +<p>»An allen Gliedern!« gestand Hans. »Na, irgend +etwas muß der Mensch doch schließlich tun, um eine solche +Stunde zu verdienen.«</p> + +<p>»O, seien Sie nur ruhig, man wird von Ihnen vielleicht +noch mehr verlangen!«</p> + +<p>»Verlangen Sie.«</p> + +<p>»Was macht Ihr Korpsbruder Pilgram?«</p> + +<p>»Mein ... früherer Korpsbruder, wollten Sie sagen.«</p> + +<p>»Hm ... er tut mir so leid, aber ich habe ihm nicht +helfen können, er hatte es gar zu eilig, sich in die Bredouille +zu stürzen — also, was treibt er? Erzählen Sie!«</p> + +<p>»Ja, haben Sie ihn denn heute morgen nicht bemerkt?«</p> + +<p>»Wo? doch nicht etwa auch unter den Kürassieren?«</p> + +<p>»Gewiß! der Längste und Schönste unter den Pappenheimern.«</p> + +<p>»Nein wahrhaftig — er ist mir nicht aufgefallen! Er +hat sich ja auch nicht so bemerkbar gemacht wie Sie!«</p> + +<p>»Ja, es hat eben nicht jeder den Dusel, über fünfundzwanzig +Treppenstufen Ihnen geradewegs vor die Füße +zu kollern.«</p> + +<p>»Wie denkt er denn über mich und — über die ganze +Affäre?«</p> + +<p>»Das weiß ich nicht. Ich schäme mich es zu gestehen, +aber ich sah ihn seitdem nicht mehr — meine Schuld — +doch was will ich machen? Wenn ich nicht Franke bin, so +bin ich Meininger, in jeder Stunde, Tag und Nacht. Ach, +gnädigstes Fräulein, ich habe nie gedacht, daß es so etwas +gäbe, daß man sich so ganz verlieren, so ganz vergessen +kann! Ich lebe wie im Fieber — mir ist, als hätte ich +Flügel — ich möchte tausend Augen, tausendfache Sinne +haben, um all das festzuhalten, was in mir strudelt und +braust. Was für Hexenmeister seid Ihr: alles, was ich +ahnte, wenn ich in meinem Knabenstübchen die großen +Dichter las, ist Leben geworden, Wirklichkeit, Erfüllung ... +Und damit nicht genug, ich selber, ich schaue nicht nur, ich +selber stehe mitten drin, in all dem Schwall — ein Strom +von Glück und Sehnsucht braust unter mir und wirbelt +mich auf und nieder. Wo soll ich hin mit all dem Drang +— wo soll ich hin?!«</p> + +<p>Lächelnd hob Jucunda die Hand und streichelte die +glühenden Wangen des Jünglings, wie sie es heut morgen +im Theater getan.</p> + +<p>»Sie Dichter!« sagte sie, »Sie Dichter —! Lassen Sie +es doch brodeln und gären, lassen Sie's doch! Machen Sie +Gedichte daraus, schön wie das, welches Sie mir damals +sprachen ... so schön und schöner noch!«</p> + +<p>»Ja,« sagte er, »das will ich tun ... später einmal, +später, wenn alles das vorüber ist ... denn ich weiß ja, +es währt nicht ewig ... acht Tage noch, dann zieht Ihr +fort ... und ich bin wieder, was ich war — ein armes +Studentlein, Franconiae Fuchsmajor, einer von Tausenden +— und um mich ist wieder nichts als Bier und klirrende +Speere und Drogenwelt und die Dutzendgesichter +meiner Kommilitonen — o Gott! wie soll ich das ertragen! +Ich weiß, ich werde irgendeine Dummheit machen — ich +laufe fort, in die weite Welt, dahin, wo Ihr seid — wo +Sie sind, Sie wunderbarer Mensch — Sie Zauberin!«</p> + +<p>»Das werden Sie nicht tun!« sagte Jucunda. »Ich +weiß, daß Sie das nicht tun werden — ich weiß, Sie werden +dann stille Stunden der Besinnung haben ... es wird +Ihnen werden, wie es denen gewesen ist, deren Verse, +deren Szenen wir abends sagen und gestalten. Sie werden +dichten — glauben Sie's mir.«</p> + +<p>»Ach, wenn das wahr wäre — wenn das möglich sein +könnte!«</p> + +<p>»Es wird so sein,« sagte Jucunda. Ihre Stimme war +weich, ihre blauen Augen hingen an den braunen des +Knaben. Soviel lebendige Dichter hatte sie nun schon gesehen +in ihrem Leben: was waren das alles für reservierte, +verbrauchte, zermürbte, grauköpfige Herren gewesen +— wie hatten sie gezittert hinter den Kulissen, wenn +ihre Stücke vom Stapel gingen, da draußen — wie hatten +sie ängstlich auf den Applaus gelauert, wenn der Vorhang +sank, wie hilflos sich hinausziehen lassen ins blendende +Rampenlicht, um sich linkisch und schweratmend nach dem +schwarz gähnenden Zuschauerraum hin zu verneigen, wo +das Publikum über das Schicksal ihrer Schöpfungen entschied! +— Dieser hier war noch ganz Poet, er wußte noch +nichts von all dem Gräßlichen, das auf ihn wartete hinter +den grauen Schleiern, die seine Zukunft verhüllten, ihn +trennten von diesem schauderhaften Leben des angstvollen +Ringens um Erfolg, um Gold und Lorbeer, in das sie +selbst, die Achtzehnjährige, schon so tiefe Blicke hineingetan. +In ihm sprudelten noch ganz ungetrübt die heiligen +Quellen der Phantasie, darinnen Sonn' und alle +Sterne sich spiegelten ...</p> + +<p>Einen Augenblick war's ganz still im Zimmer — der +Tee wurde kalt in den Tassen, und sein Duft mengte sich +mit dem Rosenhauch, mit den blauen Wölkchen der Zigaretten, +die durch die Stube kräuselten. Von der Straße +her fiel der erste Laternenschein in die umdunkelte Stube +und ließ die goldigen Schriften der Kranzschleifen matt +aufglimmern. — Mit langsamen Bewegungen stand +Jucunda auf, um Licht zu machen.</p> + +<p>»Nicht doch,« wehrte Hans — »nicht Licht machen ... +es ist so schön so.«</p> + +<p>»Aber anders ist es besser!« sagte Jucunda mit leisem +Lächeln und entzündete die Lampe. Und wieder ließ sie +sich in das Sofa fallen und neigte den flechtenbeschwerten +Kopf auf die Lehne zurück.</p> + +<p>Wie seltsam das doch war —! Sie kannte so viel +Männer von Geist und Rang ... wie kam's, daß ihr heut +zumut war wie nie zuvor —? War's die Kraft, die ungebrochene, +die ihrer selbst noch unbewußte, die sie ahnte +in den Tiefen dieser empor sich ringenden Seele? War's +die edlere Rasse, die sie witterte, sie, das Kind einer enggebundenen +Welt, einer Welt ohne Schwung und Größe? +Sie war Künstlerin genug, dies alles zu ahnen, was in +dem jungen Menschen da vor ihr wirkte und wallte ...</p> + +<p>Und Hans fragte sich immer wieder im stillen, ob das +denn wahr, ob das denn möglich sei ... ob das Leben +wirklich so schön sein könne, so maßlos reiche Gaben +spende ...</p> + +<p>Still war's. Von der Katharinenstraße heraus klapperten +behäbig trottende Pferdehufe, der Schritt der Fußgänger, +die von ihrer Arbeit heimwärts steuerten.</p> + +<p>»Wie gut,« sagte Jucunda, »daß ich heut abend mal +ausnahmsweise nicht spiele, so gehört uns diese Stunde +wenigstens ganz!«</p> + +<p>»Und wehe dem, der kommen wollte sie uns zu stören +— Sie wissen das alles ja gar nicht — Sie wissen nicht, +was das alles mir bedeutet, was Sie mir bedeuten — ich +weiß es selber erst seit wenig Augenblicken. Ich denke +zurück an zwei Abende meiner Jugend, die der Wendepunkt +waren, ich fühle es nun. Ihr spieltet daheim, in +dem alten engen Stadttheater an der Rathausbrücke — +Sie waren eben entdeckt worden, ein märchenhaft aufleuchtender +Stern — und ich, ein sehnsüchtiger Primaner +droben auf dem zweiten Rang im »Wallenstein« — Sie +drunten als Thekla mit der Laute in den rotsamtnen +Vorhang geschmiegt, weißleuchtend abgehoben von dem +riesigen Glasfenster, durch das die sternlose Nacht hineingähnte. +Sie sangen Ihr Lied, Sie wissen's ja — Sie +singen's übermorgen wieder — Und wissen Sie, wie ich +Sie empfand? Sie waren die leuchtende Seele des gigantischen +Gedichts, Sie waren die Schönheit, die versinken +muß unterm erbarmungslosen Schritte des Schicksals — +Sie waren die Tugend, die zermalmt wird von den geifernden +Kinnbacken des Verbrechens, Sie waren ... das +Ideal, das waren Sie ... ach! und Sie sind's mir geblieben. +Jetzt fühl' ich's, daß Sie immer mit mir gegangen +sind in den zwei Jahren — und nun, ist's möglich! +Nun sitze ich Ihnen gegenüber, könnte Ihre Hand erreichen, +wenn ich's wagte, darf in Ihre Augen sehen und +fühlen: das Geschick meines Lebens ist über meinem +Haupt.«</p> + +<p>Seine Stimme zitterte — die braunen Augen leuchteten, +der Atem flog.</p> + +<p>»Und dennoch —« sagte Jucunda langsam, großäugig +— »und dennoch haben Sie Asta Thöny geküßt.«</p> + +<p>»Ja, Jucunda, ich habe Asta Thöny geküßt. — — Wie +soll ich Ihnen das erklären — sie war die erste, die kam, +damit ist alles gesagt. Sie hat mich genommen, weil alles +in mir nach der Erfüllung lechzte, die nur Jucunda heißen +durfte. Ach! so ist's wohl stets im Leben, daß man sich +bescheiden muß und dankbar sein, wenn man Kupfer bekommt +für Gold. Das andere, das ganz große Glück, das +gibt's ja nicht, das darf's ja gar nicht geben — denn gäb' +es das, wir wären Götter und nicht Menschen ... und +Götterschicksal erträgt sie ja wohl nicht, diese arme, irdische +Seele, dieser schwache, tönerne Leib. — Und doch, ich +fühl's: daß ich das habe tun können, daß ich, Ihr Bild im +Herzen, die andere umarmt habe, das hat mich Ihrer unwert +gemacht und unwert auch all dessen, was ich mir an +eigenem Wert und Werden erträumt habe. Ja, Jucunda, +ich habe Asta Thöny geküßt — und nun muß ich ja wohl +auch gehen, nicht wahr?«</p> + +<p>Er war aufgestanden, gesenkten Auges stand er neben +ihr. Da griff sie nach seiner Hand:</p> + +<p>»Du lieber, süßer, dummer Junge, Du ... Hans +Thumser, kleiner dummer Bub, komm, sei vernünftig, setz' +Dich mal her zu mir aufs Sofa. Ja, es ist schade, lieber +Freund, daß Sie so zu mir kommen — aus den Armen +der andern. Aber vielleicht bin ich selber dran schuld ... +warum habe ich Sie nicht erkannt beim erstenmal, da +wir uns sahen? Ich, ich bin in Ihrer Schuld, ich war in +Wirklichkeit die Dumme ... die Blinde ... Doch was +tut's, das alles? Ich will, daß es nicht gewesen sein soll +— und es ist fort — ich wisch' es aus, ich streiche den +Namen Asta Thöny von der Tafel Deines Lebens ... +Und nun ist nichts mehr da als ich, nicht, mein Hans?!«</p> + +<p>»O nichts, nichts als Du —!« stammelte er und sank +neben dem Sofa in die Knie. Seine glühende Stirn sank +in ihren Schoß, ihre weißen Hände glitten über seine +braunen Locken. — Da richtete er sich auf, irren Auges, +die Wangen feucht, und sah sie an, so ganz Inbrunst, Ergebung +und Verlangen, daß es sie niederzog zu ihm. Sie +umschlang seinen Nacken, ihre Lippen hingen über den +seinen.</p> + +<p>In diesem Augenblick wurde heftig an die Tür geklopft. +Die beiden jungen Menschen fuhren empor — +das war nicht wahr, das durfte nicht sein ... aus solchem +Traume gibt's kein Erwachen, eh er zu Ende geträumt +ist. Und doch — es klopfte abermals.</p> + +<p>»Jucunda, darf' ich 'rein kommen?« klang Frau +Buchners fette Stimme.</p> + +<p>Die beiden Kinder richteten sich auf. Die mühevoll +eindressierte Haltung, sie versagte nicht in diesem trauervollsten +Augenblick. Im Nu saß Hans Thumser auf +seinem Stuhl, ganz Korpsstudent, ganz korrekter junger +Gentleman — und sie, ihm gegenüber, auf dem Sofa, +ganz Dame, ganz Komödiantin:</p> + +<p>»Bitte, Mama ...«</p> + +<p>Frau Buchner trat ein, mit einem Lächeln des +Triumphs auf den Lippen. Ein wenig stutzig sah sie von +einem zum andern, doch ihr prüfender Mutterblick fand +keine Spur, die Besorgnis erregt hätte.</p> + +<p>»Nu, Jucunda, was sagste nu?« Mit spitzen Fingern +hielt sie eine Visitenkarte in den Bereich der Lampe, eine +vielzackige Krone darauf und darunter die Worte:</p> + +<p> +Heribert Hans Herwig, Erbprinz von Nassau-Dillingen<br /> +</p> + +<p>»Was?« rief Jucunda, »er ist draußen?«</p> + +<p>»Ei, herrjemerschnee! Ne so was — ne so was ... +Natierlich ist er draußen — in höchsteigener Person! Soll +ich 'n 'rinlassen?«</p> + +<p>Mit einem Blick hatte auch Hans Thumser die Schrift +auf der Karte entziffert, der zweite flog mit schreckhafter +Spannung zu Jucunda hinüber.</p> + +<p>Und — sie? Das Gesicht, das ihm eben geleuchtet +hatte wie der Genius seines Lebens selbst, es hatte den +Ausdruck völlig gewandelt: ein dünnes Lächeln befriedigter +Eitelkeit spielte um die schmalen, herrischen +Lippen, die Augen flackerten einen Augenblick in unstetem +Sinnen, die Stirn hatte sich gekraust. Aber schon war der +kurze Kampf zu Ende:</p> + +<p>»Selbstverständlich, Mama. Sie haben ja wohl nichts +dagegen, Herr Thumser, wie? Der Herr ist ja doch ein +Korpsbruder von Ihnen.«</p> + +<p>Mit einem Ruck war Hans Thumser emporgeschnellt:</p> + +<p>»Dann verzeihen Sie wohl, wenn ich mich empfehle, +mein gnädigstes Fräulein — ich wünsche nicht zu stören.«</p> + +<p>»Aber ich bitte Sie, was heißt stören? Wir könnten +ja so nett zu dreien ...«</p> + +<p>Starr und förmlich verneigte sich der Student:</p> + +<p>»Adieu, meine Damen.«</p> + +<p>Er griff nach seiner grünen Mütze, die auf einem +Stuhl an der Tür lag, dem spanischen Rohr mit Silberbeschlag, +das daneben lehnte, und schritt hinaus.</p> + +<p>Im engen Korridor stand der Erbprinz, in Ueberrock +und spiegelnden Lackschuhen, den Zylinder in der Hand, +die Scherbe im Auge. Sein Gesicht wies den Ausdruck +blöder Verblüffung. Mit einer kurzen Verneigung stürmte +Hans Thumser an ihm vorüber und ließ die Korridortür +ins Schloß fallen.</p> +</div> + +<div> +<h2>12.</h2> + +<p class="start-chapW">Vor ihrem Bett war Asta Thöny in die Knie gesunken +und hatte geweint, wie nie zuvor in ihrem Leben — +und doch, wieviel Tränen waren schon über ihre vergangenen +Tage geflossen ... Wie teuer hatte sie die +flüchtigen Augenblicke des Glücks erkaufen müssen, zwischen +denen nichts gewesen war als Kampf — Kampf mit zusammengebissenen +Zähnen — Hunger und Verzicht — +Abschied und Sehnsucht ... Und nun war's wieder +einmal tief, tief dunkel geworden um sie her ...</p> + +<p>Sie sprang in die Höhe. Die eingeschlossene Luft in +dem engen Stübchen preßte ihr die Brust zusammen — +sie riß das Fenster auf: da draußen auf der Sophienstraße +noch immer das Flockentreiben und all die Fenstersimse +der schwarzen Häuserzeilen schon weiß überlagert, +die Straßen drunten wie versunken unter der weißen +Last — die aufgespannten Regenschirme bestäubt, die Hutkrempen, +die Mäntel schneebepudert. Da hinein, in dies +wehmütig tolle Treiben hatte sie mit dem Liebsten +schwärmen wollen — da hinein zog's sie nun, die glühenden +Augen zu kühlen, die schneidende Luft in tiefen Atemzügen +in die schmerzende Brust zu saugen.</p> + +<p>Einen kurzen Blick warf sie in den Spiegel und sah +ihre Lider, ihr ganzes Gesicht fieberisch gerötet. Sie +suchte den dichtesten Schleier, den sie hatte, und knüpfte +ihn fest ums Gesicht. Dabei fiel ihr Auge auf die schönen +neuen pelzgefütterten Glacéhandschuhe. Sie waren ganz +verdorben vom Strom ihrer Tränen ... ach, wie gleichgültig +das war.</p> + +<p>Nun war sie drunten auf der Straße — wie dunkel es +schon war um diese frühe Nachmittagsstunde — wie sie +emporblickte, lag's über den Dächern wie eine graue +Decke, aus der es unablässig niederrieselte. Im Nu trug +auch sie die Livree des Winters.</p> + +<p>Den wirbelnden Flockenschauern entgegen stapfte sie +gen Westen, kreuzte die Zeitzer Straße und überschritt +auf schmalem Brückchen den Mühlgraben ... In den +Wald hinaus, nur fort von den Menschen, fort aus der +Stadt — in die Einsamkeit, dahin, wo sie hatte einsam +sein wollen mit ihm. Nun dehnte sich zur Rechten die +endlose Schneefläche der Rennbahn, und vor ihr stand der +Wald, ein schwarzer Saum, weiß überzackt. Unter der +Schleußiger Brücke gurgelten gelb und angeschwollen die +trägen Pleißefluten — ohn' Unterlaß sanken die leuchtenden +Flocken in die schmutzigen Gewässer und wurden +eingeschluckt — wie der Schwall des Lebens Wesen um +Wesen verschluckt. Den schmalen Pfad schlug sie ein, der +hart am Ufer drüben aufwärts führte zu den graulich aufragenden +Eichenschäften, dem Gewirr des Ufergestrüpps, +dran jedes Zweiglein schon seine feuchte weiße Last +trug ... Und wirr durcheinander, wie die stäubenden +Flocken, jagten ihre Gedanken. Gott, wie grenzenlos +allein sie doch war auf der Welt: Tochter eines kleinen +Gerichtsbeamten in München, war sie von der strengen +katholischen Rechtgläubigkeit und engen Spießbürgersittsamkeit +ihrer Eltern um jener ersten Liebschaft willen, +die sie einem schmucken Leutnant von den Chevauxlegers +in die Arme geweht hatte, aus Haus und Heimat verstoßen +worden. Das Gräflein hatte brav an ihr gehandelt. Ihre +berufliche Ausbildung, ihren ersten Schatz an Kostümen +verdankte sie seiner Freigebigkeit. Und dennoch hatten am +Ende der Abschied, die Tränen, die Verlassenheit gestanden ...</p> + +<p>Und nun: die kleinen Engagements in Nürnberg, in +Regensburg, in Augsburg. Immer umringt von einer +Verehrerrotte, die nichts von ihr wollte als immer das +gleiche — das eine — für die sie niemals eine Seele, ein +Mensch, eine Künstlerin gewesen war, sondern immer nur +eine hübsche Schale, ein Spielzeug, ein Zeitvertreib, eine +Sklavin ... Und endlich das große Glück: ein einziges Mal +ein Mensch, der sie ernsthaft nahm, Franz Burg, der +Meininger Oberregisseur, der sie entdeckte ganz hinten +im Ensemble eines Mittelstadtbühnchens. Und nun: +Engagement, kleine Rollen, mittlere Rollen, Erfolg — +Karriere. Karriere? Ach, du lieber Gott! Bis zu den +Sternen war man nicht gekommen — immerhin, man +war geborgen, man konnte sich ausruhen, konnte arbeiten +— stand inmitten eines großen, künstlerischen Treibens, +brauchte sich nicht mehr wegzuwerfen, zu verkaufen.</p> + +<p>Aber ach, verdorben war man nun doch einmal, konnte +nicht mehr leben ohne Küsse, ohne Rosen, ohne Liebesbriefe, +ohne Zärtlichkeiten ... Und so flog man doch +auch jetzt immer noch aus einem Arm in den andern, +blieb ein Spielzeug — blieb der rasch vergessene Kamerad +flüchtiger Taumelstunden ...</p> + +<p>Da war der eine gekommen, dies grasgrüne Studentlein, +das so ganz, ganz anders war als alle die frühern ... +Was war's eigentlich gewesen, was ihn von ihnen unterschied? +Er hatte sie genommen, sie hatte sich ihm gegeben, +genau wie's immer gewesen war — nur eines +war anders gewesen — ach, sie wußte es wohl, der Klang +seiner Rede war's, die schäumende Flut von klingenden, +schwingenden Worten, in denen seine Zärtlichkeit, sein +Rausch sich ausströmte über sie hin — ach nein — auch +noch ein andres. All die andern, die sie gekannt hatte, +waren erfahrene, abgebrühte, blasierte Burschen gewesen +— diesem einen, sie wußte es, hatte sie das erste Glück +des Lebens gebracht. Sie hatte träumen dürfen, ihm +etwas zu sein, etwas, das nicht verfliegen könnte mit +dem Rausch der flüchtigen Erfüllungsstunden ... Und +nun, nun war auch das ein Trug, ein Wahn gewesen ...</p> + +<p>Tief gesenkten Hauptes schritt das einsame Mädchen +fürbaß. Und wie ein fernes Brausen klang weit, weit +hinten das Treiben der großen Stadt, gedämpft durch die +rastlos niedersinkenden Flockenmassen. Und in der Nähe +schien jeder Schall des Lebens erstorben — nur der eigne +Schritt knirschte leise im lockren Teppich, der die Welt +überzog. Und zur Linken glucksten die gelben Wasser. +Unter der nassen Last lösten sich die letzten gelben Blätter +von den Wipfeln und sanken schwer und matt wie dunkle +Schattengebilde inmitten des weißen Geriesels nieder, +lagen ein paar Sekunden als schwarze Flecken auf dem +leuchtenden Grund und wurden dann schnell verschüttet +und begraben ... Und Asta sann in die Zukunft — was +hatte sie noch zu hoffen? Zu den höchsten Höhen der +Kunst, dorthin, wo die strahlende Rivalin stand, ach, +dorthin würde sie sich niemals emporschwingen. Nur die +Niederungen waren ihr bestimmt, die wenigen Jahre, bis +Jugend und Anmut verweht sein würden — und was +dann? — Und was inzwischen? — Immer nur Neid und +Enttäuschungen ... Ab und an, wenn einmal eine neue +Rolle neue Hoffnung brachte, ein verzweifeltes Emporraffen, +ein neues zähneknirschendes Einsetzen der ganzen +Kraft — dem, ach, doch immer wieder das Versagen, das +Ermatten, die Erkenntnis der Begrenztheit des eigenen +Wesens und Könnens folgen müßten, wie noch stets +bisher.</p> + +<p>Und wo war dann Trost als in neuen Umarmungen, +in neuen Tändeleien, ohne Glauben, ohne Hoffnung, ohne +Sinn?</p> + +<p>Nein, wenn sie nicht einmal diesen einen dauernd +hatte fesseln können, wenn selbst dieser eine, in dessen +Leben sie am Anfang der Liebe gestanden, wenn sie nicht +einmal ihn länger hatte binden können denn auf ein paar +Wochen, dann war sie doch wohl gar nichts wert. Nicht +einmal als Liebchen, nicht einmal als Weibchen! Und +das nun immer und immer wieder erleben müssen, hatte +das einen Zweck? — Ließ sich das ertragen?</p> + +<p>Und doch, etwas in ihr bäumte sich auf gegen diese +Verneinung ihres ganzen Daseins. War sie denn wirklich +so ein Nichts, so ein Püppchen ohne Existenzberechtigung, +ohne Lebenswert? Ach nein ... nur den falschen Weg +war sie gegangen — nein — nicht gegangen: gestoßen +war sie worden von dem aberwitzigen Schicksal. Damals, +als sie sich von dem blinkenden Rock, der gleißenden +Grafenkrone ihres ersten Galans hatte blenden lassen, als +sie ihren einzigen Besitz, ihr Mädchentum, einem eitlen, +egoistischen Jungen hingeworfen hatte, ohne zu denken, +ohne zu fragen wohin, wozu — damals war sie aus dem +Gleise geworfen worden ... Irgendwo in der Welt +lebte doch gewiß ein braver, schlichter Mensch ihres eigenen +Standes, des Standes, in dem alle ihre Instinkte wurzelten, +dem hätte sie in Bescheidenheit und Treue Gesellin +und Helferin werden müssen. Das wäre dann ein Leben +gewesen, für das ihre Kräfte gereicht hätten, in das sie +Sonne, Glücksgenügen hätte zaubern können für ein +ganzes Erdendasein. — Nun hieß sie eine Künstlerin, ohne +ein Künstlermensch zu sein ... Nun sollte sie gestalten, +ohne in sich die Fülle der Gesichte zu tragen ... Sollte +die Schöpfungen von Dichtern verkörpern, ohne selbst ein +Stück Dichterin zu sein ...</p> + +<p>Die Dämmerung kam. Immer schauriger ängstete +die Stille um sie her, und lichtlos wie die nebelverhangene +Waldeinsamkeit ringsum lagen Zukunft und Leben. Eine +grenzenlose Müdigkeit kam über das verlassene Kind — +eine Sehnsucht nach Schlaf ohn' Erwachen. Und in der +lastenden Stille, in die sie sich hineingesogen fühlte, war +nun ein Laut nur noch: das einlullende Rieseln und +Rauschen der gelben Gewässer neben ihrem Pfad, die so +erbarmungslos die weißen Flocken einschluckten in ihren +gurgelnden Schwall. Ach! wer auch so eine weiße Flocke +wäre, so rasch und völlig versinken, zergehen könnte ...</p> + +<p>Aber schreckhafte Gesichte drängen sich vor — wie +schauervoll müßte das Ende sein, wären diese Flocken nicht +fühllos, wären sie nicht der Flut wesensgleich, die sie verschlang? +Du aber, Asta, du bist ein junges, heißes +Menschenkind, du wirst nicht leicht und sanft dich auflösen +und verschmelzen mit den Gewässern, die meerwärts +rollen da unten. Du wirst dich quälen müssen, alles +in dir wird im letzten verzweifelten Ansturm noch einmal +nach dem Leben in Glanz und Licht verlangen, dem du +verwandt bist, in dem du dich umgetrieben, zwar oft in +Tränen und Verzweiflung, doch bisweilen auch in +Schauern von Seligkeit ...</p> + +<p>Und dennoch, eine Stille wird kommen nach der kurzen +Qual — eine lange, tiefe, wunschlose Stille.</p> + +<p>Und noch ein Gedanke kam, der Furcht und Grauen +schuf: Asta war in römischer Frömmigkeit erzogen, der +Kinderglaube war nie ganz versiegt in ihrer unbewehrten +Seele. Wenn's nun wahr wäre, was man sie gelehrt +hatte von ewiger Verdammnis, von einem Wiedererwachen +zu unnennbarer, unendlicher Qual? Ach nein, das war +doch wohl nur Märchen und Kinderschreck — ach nein — +wenn erst die Glut hier drinnen verloschen war, wenn die +Glieder, die so heiß gefiebert hatten im Ueberschwang der +Daseinswonne — wenn sie erst so kalt und leblos geworden +waren wie drunten die strömende Flut, dann +war's aus und vorbei, dann kam nichts mehr — kein +Glück mehr und kein Schrecknis.</p> + +<p>Da stieg aus den falben Nebeln, die mählich den Fluß +überlagerten, ein niedres Gebäude empor, eine hölzerne +Wirtschaftsbaracke, grau gestrichen, hart bis an die +Strömung des Flüßchens herangeschoben, mit einer +Galerie, die über das Ufer vorsprang. »Zum Wassergott« +lautete die Inschrift auf dem getünchten Wirtshausschild. +Im Sommer mochte hier zur Abendstunde muntres +Treiben herrschen, friedliche Philisterbehaglichkeit — nun +lag das kleine Anwesen kläglich verödet, ganz versunken +in trostloses Schweigen.</p> + +<p>Asta trat ans Geländer und sah, wie die gelbe +Flut in quirlenden Strudeln um die schneeverwehte +Treppe rauschte, an der sonst das Fährboot anlegen +mochte. Und nun zu denken, daß man morgen so +gefunden würde, weit, weit unten irgendwo, entstellt, +zerzaust, aufgedunsen — — Aber ... das ging einen ja +dann nichts mehr an, das fühlte man ja doch nimmer. +Dann mochte die Welt laufen, wie sie wollte. Dann mochte +der kleine Hans Thumser vor Jucunda Buchner auf den +Knien rutschen und um die Gunst betteln, die Asta ihm, +ach, allzu wohlfeil, allzu willfährig gewährt. Dann +mochten sie Komödie spielen, solange es ihnen noch Spaß +machte, sich abzuquälen für die undankbare Bande im +dunkeln Parkett — ach! und wie dankbar war man doch +gewesen, wenn die mal ein bißchen mitgegangen waren, +wenn man ab und an sich hatte vorlügen dürfen, man +sei auch wer, man habe auch die Kraft in sich, die da hinten +zu packen und durch und durch zu rütteln, wie die paar es +konnten, die paar Echten, die paar Großen ... Ja, spielt +nur, spielt nur Komödie — auf den Brettern und im +Leben. Lügt Euch Gefühle vor und laßt Euch welche +vorlügen, glaubt daran oder tut doch wenigstens so, als +glaubtet Ihr. Denn auch Du hast ja gelogen, kleiner Hans +Thumser, als Du unter Küssen und Tränen mir schwurst, +ich habe Dir das Glück geschenkt. Ich weiß es ja nun, +Du hast in meinen Armen immer nur an die andre gedacht. +Ob Du's bei ihr finden wirst, das Glück, das sogenannte +Glück? Ob Du es überhaupt jemals finden +wirst im Leben? Ich will Dir's gönnen, kleiner Hans, +denn ich habe Dich sehr lieb gehabt — ich will Dir's +gönnen, kleiner Hans — ich aber — ich tu nicht mehr +mit, ich habe genug ...</p> + +<p>Einen spähenden Blick noch warf Asta in die Runde. +Es war nun fast ganz dunkel geworden und nichts +ringsum, als das sachte Sinken der weißen Kristalle, +hinter denen die schwarzen Stämme ragten, finster und +stumm. — Ob es wohl lange dauern würde? Ob es sie +noch einmal emportragen würde an die Oberfläche? +Hoffentlich würden die nassen Kleider sie rasch in die Tiefe +ziehen. Es war nicht schade drum, sie hatte sich für einen +Fußmarsch im Schnee zurecht gemacht. Das bissel Flitter, +was daheim herumlag, dafür würde sich schon irgendeine +Verwendung finden: nur das schöne Sealskinjackett und +das Barett und der Muff dazu, das war doch zu schade +für die Pleiße! Irgendein Armes mochte das hier +finden und es verkaufen und sich einen guten Tag dafür +machen ... Sie zog die kostbaren Hüllen ab und legte +sie sorgfältig zusammengefaltet unter das weitvorspringende +Holzdach der Wirtschaftsveranda, wo sie einigermaßen +vor dem Schnee geschützt waren. Nun schauerte +sie fröstelnd zusammen im Nebelhauch der Waldtiefe. +Gott — und daß nun niemand, niemand morgen weinen +wird, wenn sie's hören, wenn's in der Zeitung steht, wenn +zum letzten Mal von Asta Thöny was in der Zeitung steht +— ach, allzu viel Schönes hat nie dringestanden über Asta +Thöny — und keiner wird weinen, nicht ein einziger von +all den vielen, vielen, die mich geküßt und mir von Liebe +geschwatzt haben, nicht einer. Auch Du nicht, Hans +Thumser, ach, auch Du nicht ...</p> + +<p>Und sachte wie die weißen Flocken in die träge ziehenden +Fluten niederglitten, so sachte ließ Asta Thöny sich +niedergleiten von der schneeverwehten Treppe an der +Holzveranda des Restaurants »Zum Wassergott« ...</p> + +<p class="start-chapW space-above">Valentin Pilgram war nachmittags gegen halb vier +von dem Repetitor nach Hause gekommen, um sich in +das gewohnte, besinnungslose Arbeiten hineinzustürzen, +mit dem er nun schon seit Wochen sich zu betäuben gewohnt +war.</p> + +<p>Als er durch den dunklen Korridor schritt, kam die +Frau Kanzleirätin aus der Küche mit einem Brett +voll Teegeschirr und ging zu Jucundas Stube hinüber. +Verlegen erwiderte sie seinen Gruß; wie die Tochter, so +wich auch die Mutter dem Zimmerherrn aus, wo irgend +möglich, seit jenem verhängnisvollen Morgen ...</p> + +<p>Als sich die Tür zu der Stube der Schauspielerin +öffnete, sah Valentin Pilgram mit einem Blick, daß dort +Vorbereitungen für den Empfang eines Besuches getroffen +wurden: festlich gedeckt glänzte der Tisch, sorgfältig waren +die Blumenspenden der letzten Abende arrangiert, kurz, +alles verriet ein nahes Fest.</p> + +<p>Wer mochte erwartet werden? Ein paar Kolleginnen +oder Kollegen ... oder? — Valentin wußte, daß der Erbprinz +keine Vorstellung versäumte, in der Jucunda auftrat, +er hatte bei jeder Premiere unter den Riesenschleifen +der Lorbeerkränze die Farben von Nassau-Dillingen erkannt. +Also zum mindesten war Seine Durchlaucht nicht +mehr in der Ungnade ...</p> + +<p>Merkwürdig: der gewohnte Arbeitsfriede wollte +heute nicht kommen. Immer lauschte der Kandidat auf +Stimmen da drüben, in der ingrimmigen, quälenden Hoffnung, +sie möchten recht behalten, jene ekelhaften Vermutungen, +die sich immer deutlicher in ihm emporreckten: +der Erwartete möchte der Erbprinz sein ...</p> + +<p>Und endlich schlug die Glocke im Hausflur an. Valentin +Pilgram fuhr in die Höhe, schlich zur Tür und lauschte. +Dabei überkam ihn brennende Scham: was war aus ihm +geworden, daß er das Tun und Treiben anderer Menschen +zu beschnüffeln und zu bespitzeln gelernt hatte? Das +war doch früher nie gewesen ...</p> + +<p>Und horch — die Stimme eines jungen Mannes ... +aber das näselnde, gequetschte Organ des Prinzen war's +nicht, es war eine frische, klangvolle Stimme ... es war ... +Hans Thumsers Stimme ... Ach — also der!</p> + +<p>Er hörte ganz genau, wie Mutter Kanzleirätin den +Besuch zur Stube der Tochter führte, wie sie anklopfte, +wie des Mädchens volltöniger Alt das Herein ertönen +ließ, wie sie lebhaft und freudig den Besucher begrüßte, +wie jener verbindlich und bewegt erwiderte.</p> + +<p>Das Blut stieg dem Lauscher ins Hirn, in die Augen +— die Gedanken quirlten einander überstürzend empor +und machten ihn schwindeln. Also er —! Wundervoll! +wundervoll! Wie das alles sich zusammenfand, wie die +vagen Vermutungen, die greulichen Phantasien der letzten +Wochen sich nun zu festen, zweifelsbaren Schlüssen zusammenfügten! +Nun freilich — nun war's ja klar, wie +der Frankenzirkel und Hans Thumsers Initialen auf +jenen Bogen geraten waren, der Jucundas Absagebrief +trug! Man hatte es verstanden, ihn beiseite zu schieben — +hatte seine schnelle Ritterschaft lächerlich zu machen gewußt, +um seine eigenen Chancen zu verbessern! Freilich, +daß man mit einer solchen Gemeinheit auf dem Gewissen +den Mut nicht gefunden hatte, den Hintergangenen, den +an die Wand Gedrückten in seiner Einsamkeit zu besuchen +— kein Wunder schließlich! Und auch heute hatte man +den Weg zur Tür des einstigen Korpsbruders nicht gefunden, +obwohl man unter einem Dache mit ihm war! +Also so etwas gab's — so viel Infamie barg sich hinter +der zur Schau getragenen Besonderheit, der phantastischen +Eigenart des Reimedrechslers! — — Na warte, Bursche!</p> + +<p>Valentin Pilgram hatte kein Talent zum Lauscher an +der Wand. Er schlich an seinen Schreibtisch zurück, vergrub +den Kopf in den Händen und wühlte sich in das +krause System des römischen Erbrechts hinein. Aber die +Buchstaben hüpften vor seinen Augen, die Sätze verwirrten +sich, führten sinnlose Tänze auf, und etwas Unwiderstehliches +zog ihm immer wieder die geballten Fäuste von +den Ohren ... Da drüben klapperten die Tassen, plätscherte +munteres Gespräch ... kein Satz zu verstehen, +höchstens einmal ein einzelnes Wort. Nun ein erregtes +Lachen, nun Schritte durchs Zimmer, nun in raschem +Wechsel Geplauder, ein Hinüber und Herüber von Scherz +und Neckerei jetzt und nun von Rede, deren Sinn man +nicht verstand, deren Klang aber deutlich genug von +wachsender Vertraulichkeit, von innigem Austausch redete +... Ja freilich, der wußte besser, wie man mit Frauen, +mit Künstlerinnen reden muß, um Eindruck zu machen!</p> + +<p>Valentins Gedanken verwirrten sich. Es war ihm +nun, als müsse Hans Thumser das alles mit diabolischem +Raffinement ausgeheckt haben, was sich vollzogen hatte. +Gewiß war er schon längst hinter Jucunda her — war +er's nicht gewesen, der die Idee mit dem Pferdeausspannen +ausgeheckt — und war er nicht an jenem Abend als des +Erbprinzen Gast an seiner Seite im Theater gewesen? +Gewiß hatte er auch in Erfahrung gebracht, mit welch +geschmackloser Zudringlichkeit der Erbprinz und der Major +sich bei Jucunda einführen wollten, und hatte schon damals +sein Plänchen geschmiedet ... Alle Wut und Qual der +letzten Wochen knäuelte sich zusammen zu einem einzigen, +alles verdrängenden Gefühle der Empörung, des Ingrimms, +der Rachelust ... ihn, diesen glatten Lächler, +diesen geschmeidigen Buben, stellen ... züchtigen!</p> + +<p>Aber nein — das war nicht länger zu ertragen, dieser +Zusammenklang der zwei Stimmen da drüben, der gehaßten +und der ach ... in tausend Schmerzen geliebten! +War er denn verdammt, all jenes Glückes Ohrenzeuge +zu sein, das er für sich selbst nur in fernen Träumen zu +ersehnen gewagt hatte? Und das dem Buben da drüben +in den Schoß fiel. Nein, das nicht, das doch nicht! Fort, +hinaus, in das Schneegetriebe da draußen, weg aus +diesem dumpfen Zimmer, dessen Luft bis zum Ersticken +angefüllt war mit vergangener und gegenwärtiger Gedankenqual!</p> + +<p>Valentin Pilgram stand auf. Er warf seinen Winterpaletot +um, stülpte den weichen, zerknüllten Filzhut auf +den unfrisierten Kopf, nicht achtend, daß beide Kleidungsstücke +seit Tagen nicht gebürstet, von dickem Staub umlagert +waren. Er, der sonst so peinlich gestriegelte Korpsstudent, +hatte seit Wochen sein Aeußeres schlimmer vernachlässigt +als der armseligste Prolet unter den Kommilitonen +... Er griff nach dem wüsten Knotenstock, den er +sich für fünfzig Pfennig in irgend einem Kram gekauft, +seit er das silberbeschlagene spanische Rohr mit der +Dedikation seines Leibburschen nicht mehr führen durfte +... und nun hinaus — nur hinaus!</p> + +<p>In der kurzen Stunde, seit der Jungschnee sich eingestellt, +waren Bürgersteig und Straße mit fußhohen +Schneemassen überschüttet. Mühsam bahnten sich die Fußgänger +ihren Weg, trübselig stapften die Droschkengäule +daher, wie schwarze Silhouetten schoben Menschen, Tiere, +Gefährte einander vorüber, die ersten Laternen äugelten +mit trübem Blinzeln durch den Flockennebel, der ohn' +Unterlaß herniederwogte. Von weißen Kanten eingesäumt, +reckten sich die finstern Fronten der alten Barockpaläste +zu beiden Seiten der engen Straße. Jedes Geräusch +war eingesogen von den weichen Polstern des +Grundes, den stiebenden Flockenmassen, welche die Luft +verhängten.</p> + +<p>Der junge Gesell, der mit aufgeschlagenem Rockkragen, +die Hände in den Manteltaschen vergraben, verloren und +ziellos durch die Straßen pendelte, hielt es nicht aus inmitten +des lautlosen Lebens, das sich schattenhaft an ihm +vorbeidrängte. An der Thomaskirche vorüber, deren +schwarzer Giebel sich droben in dem weißen Dunst verlor, +pendelte er auf den Ring hinaus, wo die Zweige der +Baumreihen, des Gebüschs unter der Wucht ihrer weißen +Last sich bogen und knackten. Zur Linken stieg das finster +dräuende Massiv der Pleißenburg in die silbernen +Schwaden, das Rund des Turmes hob sich als riesiger +Schattenriß von den Lichtfluten um den Roßplatz und +Königsplatz ab. Und nun der winterstille, menschenleere +Johannispark! Hier ließ sich aufatmen, hier wurde die +Brust freier. Hier klärte sich das Gedankenchaos ...</p> + +<p>Ja, es mußte gehandelt werden. Die ganze Fülle +der verhängnisvollen Ereignisse, die Valentin Pilgram +aus seines Lebens sicher vorgezeichneter Bahn so jählings +hinausgeschleudert in ein uferloses Nichts, das alles +drängte zu einer entladenden, entlastenden Tat. Und +diesmal würde seinem Vorsatz Erfüllung werden — diesmal +würde er nicht wie Don Quichotte gegen die Windmühlenflügel +anrennen, um alsbald entsattelt an der Erde +zu zappeln, ein Spott der Welt ... Diesmal würde er den +waffengeübten Arm zum sicher treffenden Schlag zu +brauchen wissen, mitten in des Feindes Fratze!</p> + +<p>Des Feindes! — es gab ja nur den einen! In ihm +schien dies aberwitzige Schicksal der letzten Wochen Gestalt +angenommen zu haben — in jenem jungen Burschen, +der sich jetzt gewiß von Jucundas Lippen den Dank holte +für eine ganze Kette von Niederträchtigkeiten und +Bübereien. Ihn züchtigen — ja das war's! Das forderte +die Stunde!</p> + +<p>Und dann? Was kam dann?! Dann würde man +sich gegenüberstehen, Aug' in Auge, den Lauf der Waffe +auf des Feindes Herz gerichtet ... das war dann das +Gottesgericht ... Dann würde sich's zeigen, wer von +ihnen beiden weichen müsse von dieser Welt, die nicht +Raum mehr hatte für sie beide ...</p> + +<p>Und ... dann?!</p> + +<p>Hans Thumser sollte fallen. Er wollte es. All die +eiserne Willenskraft, die bis zu dieser Stunde sein junges +Leben vorwärts getrieben, er würde sie in das kleine +Stückchen Blei hineinlegen, das des Feindes Herz finden +sollte. Das war dann die Sühne, das war die Wiederherstellung +der heiligen Weltordnung, welche von den +Gesetzen der Ehre regiert wird, der Ehre, deren Ritter +er gewesen war, und die jener andere mit Füßen getreten +hatte ... jener andere, der heut noch das dreifarbene +Band um die Brust trug, das er, der Getreue, eingebüßt +hatte dank jenem sinnlosen Schicksal, dem er unterlegen +war bis heut. Aber dies stumpfsinnige, brutale Schicksal, +es sollte nicht Meister bleiben in der Welt, solange er +noch Kraft hatte, den Hahn einer Pistole abzudrücken ...</p> + +<p>Und dann?! Er wußte den Gesetzesparagraphen zu +nennen, dem er dann verfallen war; die Höhe der Strafe, +welche seiner wartete. Das war ja wiederum der groteske +Unsinn dieser Zeit, daß die Gesetze des Staates das Recht +der Selbsthilfe dem Manne versagten, der am Heiligsten +seines Lebens gekränkt war: an seiner Ehre ... Dieselben +Gesetze, die den Beleidiger der Ehre mit Strafen von +kindischer Winzigkeit bedrohten ...</p> + +<p>Immerhin — lieber zwei Jahre lang als Gefangener +auf dem Königstein, lieber das, was liberale Zeitungsschmierer +einen Duellmord nannten, lieber das alles, als +dieses zermürbende Gefühl der Ohnmacht, der Wehrlosigkeit +gegen menschliche Infamie und den Aberwitz des +Fatums!</p> + +<p>Schon war des einsamen Wanderers Hutkrempe von +einem dichten Schneekranz umlagert. Nasse Schauer +sprühten ihm um die glühenden Wangen, eisige Tropfen +rieselten ihm über Hals und Nacken. Er achtete es nicht. +Den Kopf tief in den Schultern vergraben, stolperte er +fürbaß. Schon lag der Park hinter ihm, mechanisch verfolgte +er den nächsten Pfad, der hart am Saume des +rechten Pleißeufers zwischen den reckenhaften Schäften +der hochstämmigen Eichen und dem dürren Gestrüpp der +Erlen entlang führte. Als sein Blick zufällig die gelben +Fluten der gurgelnden Pleiße streifte, stieg mitten in sein +finsteres Brüten hinein ein lachendes Bild heiterer +Jugendlust:</p> + +<p>Die S. C.-Kahnfahrt nach Connewitz, welche die +Leipziger Korps in jedem Sommersemester gemeinsam +unternommen hatten ...</p> + +<p>Wann war doch das gewesen? Vor einer Ewigkeit ... +in einem andern, versunkenen Leben ... Damals hatte +die Welt in tausend Farben geleuchtet, hatten bunte +Mützen und grellfarbige Bänder geblinkt, heiter abgehoben +vom dunklen Grün der Ufersäume, vom Blau des klaren +Himmels, das sich in den freundlichen Wellen des Flusses +spiegelte ... Flüchtig, wie es herangeweht, zerstob das +Bild, und wieder war nichts als der schneestarrende Wald +und drunten die blaugraue Flut und ringsum Dämmerung +und lastende Einsamkeit. Nur drüben, am jenseitigen +Ufer, wohl zwanzig Schritte vor Pilgram, ging noch ein +anderer einsamer Mensch, ein schwarzer, formloser +Schatten, vorüberhuschend vor dem silbernen Reif, der +den ganzen Wald, der alle Welt überflitterte.</p> + +<p>Und wieder tauchte Valentin Pilgram tief in den +schaurigen Abgrund seiner Grübeleien.</p> + +<p>Wie, wenn es nun anders kam? Wenn das Gottesgericht +gegen ihn entschied? Nun dann war eben alles +aus — und er brauchte doch wenigstens nicht mehr zu +leben auf einer Welt ohne Sinn ...</p> + +<p>Aber — die daheim —?! Die Eltern, deren Stolz er +war, er wußte das ... Der eifrige Vater, der in rastloser +Arbeit zu einer der obersten Stellungen in der +Königlich sächsischen Rechtspflege emporgestiegen war +und in den zwanzig Jahren rüstiger Arbeit, die noch vor +ihm liegen sollten, noch höher zu steigen hoffte? Er, in +seiner starren Rechtlichkeit, seiner tadellosen Korrektheit +der Art des Sohnes so innig verwandt? Nie hatten Vater +und Sohn voreinander Worte zu machen gebraucht von +dem, was sie beide längst wußten: daß sie Menschen einer +Rasse, eines Wesens waren, würdige Glieder einer uralten +Familie hochangesehener Gelehrten, Geistlichen, Beamten, +die stets eine Zierde der Stadt, des Staates gewesen +waren ... und die gute Mutter, ein Mensch, so recht +zur Ergänzung dieses Schlages geschaffen, ohne starke Persönlichkeit, +voll tiefsten Respekts gegenüber dem Gatten +und dem Sohne, denen sie sich allzeit als freudige und nützliche +Dienerin untergeordnet hatte, entsprechend den Traditionen +der ehrbaren Geschlechter, aus denen auch sie +entsprossen war, und die allzeit aufrechte Säulen der Ordnung +und Tüchtigkeit gewesen waren. Die Schwestern, +von der Mutter nach ihrem Vorbilde erzogen zu braven +Gattinnen für diese ehrenfeste Art Männer, wie das +Vaterland sie immer gebraucht hatte und, will's Gott, +immer brauchen würde ... und nun — ein Sohn im +Duell gefallen ... in einem Duell, in dem eine Rolle, +eine wenn auch noch so entfernte Rolle immerhin ... +eine Schauspielerin ... gespielt hatte? War das nicht +wider den Stil der Familie? wider alle Gewohnheit ihrer +Daseinsführung?</p> + +<p>Nein, das war es nicht. Untadelig war, was immer +er getan, seit Jucunda Buchners Bild emporgetaucht war +in seinem jungen Leben, das nichts als Ehre gewesen war. +Untadelig ... Und so würde er's vor jenem ernsten +Gange für die Lieben daheim aufzeichnen, würde für +jeden seiner Schritte die Motive, die Handlungen angeben, +die Zeugen benennen. Und so würden die Seinen des +Gefallenen mit tiefer und reiner Trauer ohne Groll und +ohne Scham gedenken können, ja mit Stolz als eines +Menschen, der auch diesem absurden Spiel dämonischer +Mächte gegenüber geblieben, was er stets gewesen: ein +Mensch ihrer Art ...</p> + +<p>In diesem Augenblick trieb ein Windstoß dem einsamen +Wanderer einen heftigeren Guß prickelnden Schnees ins +Gesicht und scheuchte ihn aus seiner Versunkenheit auf. +Es war fast völlig finster geworden, und Valentin Pilgram +entschloß sich zur Stadt zurückzukehren. Seine Entschlüsse +waren gefaßt, klar vor ihm lag der Weg, den seine +Pflicht ihn gehen hieß. Zu was noch länger ziellos durch +die Einsamkeit streifen? Daheim waren die Bücher ... +und in wenig Tagen würde das Examen beginnen ... +und Ruhe würde ja nun auch geworden sein daheim. +Heut abend waren wieder die »Piccolomini« — Jucunda +würde schon im Theater sein ...</p> + +<p>Schon war Valentin Pilgram im Begriff kehrtzumachen, +da fiel sein Blick zum jenseitigen Ufer, und er sah +im letzten Dämmerschein etwas Unbegreifliches:</p> + +<p>Kaum noch in matten Umrissen erkennbar, lag drüben +die Sommerwirtschaft »Zum Wassergott«. Dort hatte er +nach manchem Spaziergange mit Korpsbrüdern die Hitze +des Marsches an einer Gose gekühlt und dem munteren +Treiben der sonntäglichen Kähne auf dem Flusse zugeschaut. +Und seitlich, an der Treppe, wo die Fähre anzulegen +pflegte, stand ein Mensch, eine Frau. Auch sie +nur ein grauer Schatten vor dem Dunkel, das unter der +Galerie lastete. Und dieser Mensch tat nun etwas ganz +Sonderbares: dieses Weib legte seine Kopfbedeckung ab +— es schien eine Pelzmütze zu sein — und zog das Jackett +aus, schob beides zusammengefaltet nach hinten in das +Dunkel und stieg nun die Treppe hinunter bis dicht ans +Wasser. Und nun — — in jähem Schrei entlud sich Valentins +Entsetzen!</p> + +<p>Schon in der nächsten Sekunde aber reagierte ganz +automatisch sein Instinkt auf das grauenhafte Schauspiel, +das sich bot. Mit einem Ruck riß er die Knöpfe seines +Paletots und seines Rockes auf, schleuderte beide Kleidungsstücke +mit einer jähen Bewegung in den Schnee und +war mit einem Satz am Ufersaum, mit einem zweiten +schoß er in die gelbe Flut hinaus. — Die markerschütternde +Kälte des Wassers lähmte eine Sekunde lang seine +Glieder wie sein Hirn, im nächsten Augenblick aber durchschoß +ihn ein siedender Feuerstrom. Jeder Nerv, jeder +Muskel spannte sich an wider das eisige Grauen — Arme +und Beine strafften sich, mit heftigen, ruckartigen Stößen +setzte er sich zur Wehr gegen die zähe Umklammerung des +kalten Elements, in dem er trieb. Er schwamm, er wußte +sein Ziel. Ueber der fernen Stadt lag ein roter Schwaden, +dessen Widerschein sich in den träge hingleitenden +Fluten spiegelte. In diesem matten Perlmutterglast glitt +eine dunkle Masse, auf die schwamm er zu. Wenig Stöße, +dann war's getan. Er griff in ein nasses Bündel Kleider +hinein, fühlte warme Menschenglieder, umspannte eine +schlanke Gestalt. Kaum spürte der wehrlose Körper die +fremde Berührung, da zuckte er in aufbäumendem Entsetzen +zusammen, krümmte sich, warf sich hin und her in +den Eisstrudeln, welche die hintreibenden Leiber umquirlten. +Doch nicht umsonst hatte der Student seine +Muskeln in der harten Zucht des Fechtbodens gestählt und +ihre Kraft in mehr denn zwanzig Waffengängen erprobt. +Mit eisernem Griff umschlang er das zarte Figürchen, rang +die strampelnden Arme nieder und lenkte mit heftigen +Beinstößen dem nahen Ufer zu. Die nassen Kleider legten +sich wie stählerne Klammern um seine Beine, der Druck der +Schuhe machte die Füße schwer und hilflos, doch mit +wildem Ungestüm zwang der Wille jedes Hemmnis nieder, +den Frost, den Verzweiflungskampf der zuckenden Glieder, +die er mit seinen Armen umschloß. Nach wenigen Sekunden +fühlten die Füße Grund, Schlammgrund, doch er +hielt. Nun packten beide Arme mit unwiderstehlichem +Griff das leichte Körperchen um Hüften und Knie — noch +ein kurzes, heftiges Ringen, dann griff die Linke einen +tiefniederhängenden Weidenast, die Rechte schleifte die +zappelnde Last durch die gurgelnden Wellen. Nun +spannten beide Arme noch einmal sich an und hoben mit +hartem Ruck den gefangenen Leib in die knackenden Büsche +der Uferböschung hinein. Nun klang ein wimmerndes +Stöhnen, nun keuchten klagende Laute wie eines kranken +Kindes Stimme:</p> + +<p>»Lassen Sie mich doch ... o bitte ... bitte, lassen Sie +mich doch los!«</p> + +<p>»Ne — gibt's nich!« keuchte der Student. Mit letzter +versagender Kraft würgte er sich selber durch die schneeüberstäubten +Zweige des Ufergestrüpps hindurch, zog den +Körper der Geretteten vollends hinauf und ließ ihn in den +lockeren Schnee gleiten, weil die ausgepumpten Muskeln +nichts mehr hergaben. Schwarze Finsternis ringsum — +nichts hörte Valentin, als das raschelnde Keuchen der +eigenen Lungen, das ratternde Hämmern des eigenen +Herzschlages und dazu aus der geheimnisvollen Dunkelheit +zu seinen Füßen das wimmernde Schluchzen einer +Mädchenstimme — immer nur dies wimmernde Schluchzen, +dies hilflose Greinen.</p> + +<p>»Lassen Sie mich doch los ... o bitte, bitte ... lassen +Sie mich doch!«</p> + +<p>»Ne,« keuchte Valentin Pilgram, »das können Sie nun +wirklich nich ... von mir ... verlangen, Verehrteste ... +ich hab' mich dermaßen für Sie ... abgeschunden ... jetzt +lass' ich Sie nich wieder ... in die nasse Sauce da!«</p> + +<p>Mit der Ueberwindung der Gefahr war ein grimmiger +Humor über ihn gekommen. Er richtete sich auf, reckte +die stählernen Glieder, schlug ein paar mal die Arme über +der Brust mit kräftigem Ruck zusammen, um sich gegen +die Frostschauer zu wehren, die sich in seine Haut einfraßen. +Dann bückte er sich zu der Geretteten, bekam das +schlanke Figürchen um die Taille zu fassen und setzte es +mit einem energischen Hub auf die Beine.</p> + +<p>»So, nun bleiben Sie gefälligst stehen ... aber nein, +kommen Sie mit mir, wir rennen zum »Wassergott« +zurück ... das macht warm ... Sie haben ja da meines +Wissens Ihre Oberkleider gelassen, die holen wir ...«</p> + +<p>Dabei versuchte er die Dunkelheit zu durchdringen, um +etwas von den Zügen der Gesellin dieser seltsamen Begebenheit +zu erkennen. Umsonst — nur etwas Nasses, +Zitterndes hielt er in seinen Armen, dessen Wärme langsam +die eisige Nässe der Hüllen durchdrang, die um ihre +Glieder schlotterten. Die zarte Gestalt wollte wieder in +die Knie sinken, aber er raffte sie empor, zog sie herzhaft +an seine Seite und zwang sie, in raschem Schritt durch +den lockeren Schnee mit ihm den Fußpfad pleißeaufwärts +zu verfolgen.</p> + +<p>Dabei redete er ohn' Unterlaß auf das junge Menschenkind +ein, das wankend und noch immer leise wimmernd +an seiner Seite schritt.</p> + +<p>»Nun sagen Sie bloß, meine Gnädigste, wie sind Sie +auf die verrückte Idee gekommen, bei so schauderhaftem +Wetter Schwimmversuche in der Pleiße zu machen? — +Dabei können Sie sich ja einen Schnupfen holen, den Sie +in diesem Leben nicht mehr los werden. Denken Sie bloß, +wenn ich nicht zufällig des Weges gekommen wäre ... +Und noch dazu in Kleidern, das bringt ja nicht einmal ein +Mann fertig, geschweige denn so ein kleines zartes Mädel +wie Sie. — Oder sind Sie gar eine junge Frau? Dann +sagen Sie's mir, damit ich Sie richtig anrede ... kommen +Sie, wir müssen schneller laufen ... damit wir warm +werden, Sie zittern ja gottserbärmlich. Schade, daß der +»Wassergott« zugemacht hat, ich wäre kolossal für einen +Grog oder auch deren mehrere, Sie nicht auch?«</p> + +<p>So schwatzte er drauf los, allerhand banales Zeug, was +ihm gerade in den Kopf kam, und nahm mit Befriedigung +wahr, daß das Wimmern schwächer und schwächer ward +und schließlich ganz verstummte.</p> + +<p>Und dann kam eine wilde Lust an dem unerwarteten +Abenteuer über ihn, das in seine verzweifelte Stimmung +hineingeplatzt war wie ein Weckruf zu neuem Leben ... +Und immer brennender wurde in ihm die Neugierde, die +Züge der Unbekannten zu sehen, in deren Schicksal er +hatte eingreifen dürfen wie vom Himmel gefallen.</p> + +<p>Als die beiden einen Augenblick verpusteten, griff er +in seine Hosentasche und zog die Zündholzschachtel hervor, +sie war ganz trocken. Die wenigen Sekunden, die er in +dem nassen Element zugebracht, hatten nicht genügt, um +seine Kleidung gänzlich zu durchfeuchten. Da ließ er ein +Hölzchen aufflammen und sah mit jähem Entzücken, +welchen holdseligen Fang er gemacht. Dabei weckte ihm +das triefende, glühende Gesicht, von langen dunklen +Haarsträhnen überhangen, unbestimmte Erinnerungen ...</p> + +<p>Aber eine Scheu verbot ihm zu fragen ...</p> + +<p>Und das Flämmchen verlosch, das angstvolle Gesicht, +die hilflos blickenden Augen versanken wieder in der +Finsternis. Nein, jetzt nicht fragen — wie wund mußte +diese arme flüchtige Seele sein ...</p> + +<p>Da war der »Wassergott«. Valentin stapfte in die +schneeverwehte Galerie hinein, aber die Gerettete ließ er +dabei nicht los.</p> + +<p>»Ne, ne, kommen Sie ruhig mit, Gnädigste, ich habe +Angst, Sie möchten zu viel Geschmack an Ihren Schwimmkünsten +gefunden haben ... und ob ich Sie zum zweiten +Male da herausbrächte? Ich weiß wirklich nicht.«</p> + +<p>In der Finsternis fand er die weichen, duftigen Pelzhüllen, +ahnte voll Respekt, daß es sich um Kostbarkeiten +handeln müsse, und hüllte seine Gefangene sorglich hinein. +Sie wehrte sich nicht ...</p> + +<p>Und nun der Heimweg. Durch das schneebepuderte +Gitterwerk des dürren Waldes am jenseitigen Ufer +leuchtete der Widerschein der fernen Stadt, der einen gelblichen +Lichtbogen wie eine matte Aureole in die niederwallenden +Schneenebel hineinzeichnete. Perlmutterfarben +widerleuchtete sein Schein auf den friedlich meerwärts +gleitenden Pleißefluten.</p> + +<p>Das junge Blut, vom raschen Gang, von der fiebernden +Erregung der Herzen aufgepeitscht, besiegte mählich +die Frostschauer, die von den nassen Kleidern her die +Glieder überrieselten. Und mit einem geheimnisvollen +Gefühl brüderlichen Stolzes hielt der Student das zarte +Figürchen umschlungen, preßte es an sich, wie um ihm +abzugeben von der Siedeglut, die ihn durchpulste.</p> + +<p>Noch immer schwieg sie, und wie ein Wasserfall redete +Valentin auf sie ein:</p> + +<p>»Das hätt' ich mir weiß Gott auch nicht träumen +lassen, daß ich meinen Spaziergang in so angenehmer Gesellschaft +beenden würde. — Und Sie? Finden Sie es +nicht doch viel netter, zu zweit hier im Schnee zu waten, +als einsam da unten in der dreckigen Pleiße zu paddeln? +— Sehen Sie mal, wie hübsch sich drüben das Gezweige +von dem roten Himmel abhebt! Da kann man's wahrhaftig +sehen, wie helle die Leipziger sind — sogar der +ganze Himmel ist hell über dem guten alten Biernest ... +Aber nu sagen Sie doch auch mal was, Fräulein! oder +haben Sie Ihre Stimme da unten im Wasser gelassen? +Das wäre doch schade. Ich denke mir, Sie müssen sehr +niedlich plaudern können ... Soll ich Sie vielleicht noch +einmal erleuchten und mich auch, damit Sie sehen, daß +Sie es mit einem ganz ordentlichen Kerl zu tun haben? +Sie haben doch am Ende nicht gar Angst vor mir?«</p> + +<p>Und horch!</p> + +<p>Da klang's auf einmal aus der Dunkelheit neben seiner +Schulter, leise wie ein Taubengirren:</p> + +<p>»Angst ... ach nein — wie könnte ich Angst vor Ihnen +haben, Sie sind ja so gut zu mir —«</p> + +<p>»Hurra! sie kann wieder reden!« jauchzte der Bursch. +»Herrlich! herrlich! Und nun — nun sagen Sie mir's mal +gleich, wohin ich Sie bringen darf? Denn nach so einer +Strapaze gehören kleine Mädchen ins Bett ... Auch ein +Glühwein könnte nicht schaden. Also — wohin soll's +gehen? Heraus damit!«</p> + +<p>Leise nannte das Mädchen seine Adresse. Unwillkürlich +schmiegte sie sich fester in den führenden, schützenden +Arm. Ihr war, als sei ihr noch nie so wohl gewesen, so +geborgen wie in diesem Augenblick. Das Dasein, das +ihr vor einer Viertelstunde noch schal und wertlos erschienen +war, nun glomm es wieder auf in ihr voll Sehnsucht +nach neuem Erleben, voll Dankbarkeit, noch da zu +sein, die eigene Wärme siegen zu fühlen über die eisige +Nässe, der sie sich anvertraut — das ferne Leuchten zu +sehen über der Stadt, wo die Menschen hausten, wo das +Leben brandete, wo man Komödie spielte — aß und trank, +lachte und küßte ... Gott, welch ein Wahn, welch eine +Raserei war doch nur über sie gekommen und hatte sie +da hinuntergetrieben —?</p> + +<p>Ach leben — nur leben. Besser, sich prügeln lassen +vom Schicksal, besser, sich auf und ab wirbeln lassen zwischen +Glückseligkeit und Tränen, Tränen und Glückseligkeit, als +dies kalte Nichts da unten.</p> + +<p>»Ich danke Ihnen,« stammelte sie. »Ich danke Ihnen!«</p> + +<p>Und lustig schwatzend von den gleichgültigsten, törichtsten +Dingen, als seien sie zwei alte Bekannte, die sich beim +Spaziergang begegnet, stapften die zwei Menschen fürbaß +durch den knietiefen Schnee.</p> + +<p>»Haben Sie warme Backen?« fragte der Student. +»Au! Teufel ja, die brennen ja wie ein Oefchen — und +die Hände? Ziehen Sie doch die nassen Handschuhe aus, +das gibt ja Rheumatismus — richtig, die sind wie zwei +Eiszapfen. Da weiß ich Rat, wir werden uns schneeballen. +Los! Greifen Sie zu, ich laufe voraus. Daß Sie +mir aber nicht wieder auskneifen und in die Pleiße spazieren!«</p> + +<p>Nein — Asta hatte keine Sehnsucht mehr nach der +Pleiße. Sie bückte sich, griff mit den erstarrten Händen +in die lockere Masse, die alles überlagerte — und klatsch, +da flog ein raschgeformter Ball dem riesigen Begleiter vor +die Brust, daß es nur so knallte ... Und lachend, rennend, +prustend, wie zwei Kinder, tollten die zwei den Weg +entlang.</p> + +<p>Schon schatteten die dunklen Fronten der Vorstadthäuser +in das silberne Flockengeflitter hinein. Nun galt's +sittsam und verständig nebeneinander durch die Straßen +zu schreiten, in denen nur wenige schneebepuderte Gestalten +unter weißbezuckerten Regenschirmen hastig und +lautlos ihren Behausungen zustrebten.</p> + +<p>Als aber der erste Laternenschein dem wandelnden +Paar die Gestalt des Partners zeigte, schrie das Mädchen +plötzlich auf:</p> + +<p>»Um Gottes willen, Sie sind ja in Hemdärmeln! Sie +werden sich den Tod holen!«</p> + +<p>»Ach! keine Spur!« lachte der Student. »Ich glühe +nur so! vorwärts, nur vorwärts!«</p> + +<p>Jeder Vorüberwandelnde stutzte, als er das seltsame +Schauspiel sah, daß ein junger Mann barhäuptig und +hemdärmelig neben einer elegant bepelzten Dame herschritt.</p> + +<p>Rasch war Valentin des Anstarrens, des Stehenbleibens +satt. Auf der Zeitzer Straße rief er eine Droschke +an, deren schneebepackter Gaul mühselig und dampfend +dahin keuchte. Und nun war nach wenigen Minuten die +Sophienstraße erreicht, die Hausnummer, die das Mädchen +angegeben.</p> + +<p>Es kostete Mühe, in den nassen Kleidern die Treppe +hinan zu kommen, den Korridorschlüssel zu finden.</p> + +<p>Mit Ueberraschung bemerkte der Student, daß es die +wohlbekannte Wohnung war, in der Mutter Ach schaltete, +sie, die ganze Generationen von Franken beherbergt hatte. +Sie, bei der jetzt jener andere wohnte, dem Valentin Pilgram +in ingrimmiger Einsamkeit eine fürchterliche Vergeltung +geschworen ...</p> + +<p>Starr vor Entsetzen stand die behäbige Witwe, als im +matten Schein des Flurlämpchens ihre Mieterin vor ihr +stand:</p> + +<p>»Ei, herrjemerschnee! ne so was — ne so was ... +Was hab'ns denn nur gemacht, Freilein? ... Und wer +is denn das? — Weeß Knebbchen, das is Sie ja der Herr +Pilgram! Herr Pilgram, is es meeglich?! Nu komm' +Se doch bloß mal in die Stube 'nein — ich wer' gleich +Feier machen — und Tee wer' ich 'n kochen, i nee so was, +nee so was.«</p> + +<p>Bei dem Namen Pilgram hatte das Mädchen gestutzt. +Höher noch flammte ihr glühendes Gesicht. Stumm klinkte +sie ihre Stubentür auf und huschte hinein. Die Tür ließ +sie offen in dem dunklen Gefühl, daß ihr Retter einen Anspruch +auf die behagliche Wärme habe, die ihr von drinnen +entgegenschlug.</p> + +<p>Doch der folgte ihr nicht — starr hingen seine Augen +an dem weißen Kärtchen, das an der Stubentür befestigt +war.</p> + +<p>»<em class="gesperrt">Das</em> — sind Sie?« fragte er mit zusammengebissenen +Zähnen.</p> + +<p>»Ja, das bin ich — kommen Sie doch herein — +wärmen Sie sich.«</p> + +<p>Zögernden Schrittes trat der Student näher. In +scheuem Staunen musterten sich die beiden jungen Menschen, +das Hirn von wirren Gedanken durchkreuzt ...</p> + +<p>Frau Wehe hastete herein, rannte geschäftig zum +Feuer, um frische Kohlen aufzuschütten.</p> + +<p>»Nu sagen Se bloß, Herr Pilgram, was haben Se +denn angefangen alle zwei? Wer looft denn bloß in so en' +Wetter hemdärmlig 'rum und mit bloßem Koppe?! Und +naß wie de Katzen seid 'r alle zwee! Da soll wer anders +draus klug wer'n!«</p> + +<p>»Das Fräulein ist spazierengegangen an der Pleiße, +hat im Dunkeln den Weg verfehlt, ist ins Wasser gefallen, +ich habe sie herausgezogen,« erklärte Pilgram hastig.</p> + +<p>»Gott soll mich bewahr'n!« schrie Frau Wehe. »Nu +aber mal schnell ins Bett mit dem Kind! — Und Sie, Herr +Pilgram, Sie gehen nebenan zum Herrn Thumser und +nehm' sich Wäsche und Kleider, versteh'n Se mich?! Am +besten wär's schon, Sie legten sich einfach da nebenan ins +Bette! Herr Thumser wird schon nich beese sinn! Und +dann koch' ich Euch Tee oder Grog, 'ne paar Wärmepullen +unter de Decke, ich wer' schon machen!«</p> + +<p>»Nein!« schrie da Asta Thöny. »Herr Thumser, nein +— das geht nicht — der darf nichts davon wissen ... der +auf keinen Fall!«</p> + +<p>»Ach Quatsch!« rief die stämmige Wirtin. »Ihr holt +Euch ja den Tod alle zwee, da gibt's nischt zu reden — +machen Se fort, Herr Pilgram, in's Bette mit Ihn' —!«</p> + +<p>Mit angstvollen, flehenden Blicken hingen des Mädchens +Augen an den erstarrten Zügen ihres Retters, seiner +finster zusammengekrausten Stirn. — Sie schwieg, sie +wußte, daß sie nicht länger bitten durfte, wo es um seine +Gesundheit ging, vielleicht um sein Leben ...</p> + +<p>Heiser fragte da Valentin Pilgram:</p> + +<p>»Thumser? Warum darf der nicht wissen —? Kennen +Sie Thumser?«</p> + +<p>Tief senkte das Mädchen den Kopf, stand regungslos, +schauerte plötzlich in Frösten zusammen. Auch der Student +schwieg. In wirrem Grübeln, in finstrem Forschen +gingen seine dunklen Blicke zwischen dem zitternden +Mädchen, der hilflos, verständnislos dreinglotzenden Frau +hin und wider.</p> + +<p>»Kennen Sie Hans Thumser, gnädiges Fräulein?« +fragte er noch einmal, hart und befehlend. Ein Verdacht +reckte sich dräuend in ihm auf. So phantastisch, so aberwitzig, +daß der Verstand sich sträubte, ihn zu formulieren ...</p> + +<p>Asta antwortete nicht. Sie sank immer tiefer in sich +zusammen. Und plötzlich knickte sie in die Knie, ihre +Arme fielen auf einen Stuhlsitz, das Köpfchen mit den +triefenden, zerzausten Flechten glitt in die silbernen Falten +des Pelzwerks, das sich um ihre Glieder schmiegte, und +ein jähes Schluchzen durchrüttelte die hingeworfene Gestalt.</p> + +<p>Valentin Pilgram begriff ... Das fehlte noch, das +war das letzte ... Und die ganze, kochende sinnverwirrende +Wut, die den Nachmittag über sein Inneres +verwüstet, schlug in roter Lohe aus den Tiefen seines +Wesens empor, stieg ihm in die Augen, in die Stirn, in die +Fäuste. —</p> + +<p>»Der Hund —! Ah, der Hund!« knirschte er. »Sorgen +Sie mir gut für das Fräulein, Frau Wehe! Adieu!«</p> + +<p>Er stürzte hinaus. Die Stubentür, die Korridortür +krachten hinter ihm ins Schloß.</p> + +<p>Asta Thöny war emporgefahren. Blitzschnell schloß sich +die Gedankenkette: Also der da, ihr Retter, das war Valentin +Pilgram — er, den sie kannte aus Hansens Erzählungen, +von dem sie wußte, wie er in jähem Zorn sich +zur Sühne für eine Schmach gedrängt, die ihrer großen +Kollegin widerfahren ... Und nun, nun stürmte er von +hinnen, unvollkommen bekleidet wie er war, schäumend +vor Wut, wie sie ihn mit einem letzten Blick gesehen. Und +sein letztes Wort war eine gräßliche Drohung für Hans +Thumser gewesen. Für ihn, von dem er nicht einmal in +dieser Not trockene Kleider hatte annehmen wollen.</p> + +<p>Das bedeutete Gefahr — Todesgefahr für den geliebten, +den treulosen Jungen —!</p> + +<p>Todesgefahr —! Noch meinte sie den stählernen Druck +des Armes zu fühlen, der sie aus dem kalten Flutengraus +gerissen, der sie so sicher und brüderlich heimgeleitet.</p> + +<p>Wehe dem, der diesem Arm verfiel.</p> + +<p>Nein, nein ... das nicht, das nicht! Um diesen Preis +gerettet zu sein, nein, das nicht ... o Gott, das nicht —!</p> + +<p>»I herrjemerschnee, Fräulein Thöny, was hat er denn +nur, der Herr Pilgram, was hat er nur?« stammelte +Frau Wehe.</p> + +<p>»Still, still!« winkte Asta ab. »Lassen Sie mich einen +Augenblick.« Und hastig sann sie, wo Hans Thumser nur +stecken könne in diesem Augenblick ...</p> + +<p>Ach so — Mittwoch — offizielle Kneipe ... Ach, sie +kannte den Wochenkalender des Korps in- und auswendig. +Also im Cafébaum, auf der Frankenkneipe ... Und da ... +da würde ja auch der Rächer ihn suchen ... nein — das +nicht ... o Gott, das nicht —</p> + +<p>Und mit einem Ruck stülpte sie das Barett wieder auf, +klappte den Kragen des Pelzjacketts in die Höhe, und +triefend und schlotternd, wie sie war, rannte sie an der +verblüfften Wirtin vorüber, flog die halbdunkle Stiege +hinunter, stand auf der Sophienstraße ...</p> + +<p>Drüben fluteten dichte Menschenströme, vom Glast +der Laternen des Carolatheaters überstrahlt, vom Flockengestiebe +silbern umflittert, in die dunkel gähnenden Pforten +des Kassenflurs hinein.</p> + +<p>Gott sei Dank, »Piccolomini« —! Asta war dienstfrei. +In die erste Droschke, die drinnen ihre Fracht abgeladen +hatte und aus der dunklen Ausfahrt herausrumpelte, +sprang Asta hinein, rief im Einsteigen dem +Kutscher zu:</p> + +<p>»Kleine Fleischergasse, Cafébaum, so schnell das Pferd +laufen kann — einen Taler Trinkgeld sollen Sie haben, +wenn's rasch geht!«</p> + +<p>Der Wagenschlag klappte, der Kutscher schlug die +Peitsche dem Gaul um die dampfenden Flanken, und +durch die dunklen, schneeverwehten Straßen schwerfällig +von dannen rollte das Gefährt.</p> +</div> + +<div> +<h2>13.</h2> + +<p class="start-chapA">Auf der Sophienstraße geriet Valentin Pilgram in den +Schwall der Theaterbesucher hinein, der zum Carolatheater +drängte.</p> + +<p>Ach so — ha, ha! natürlich, da spielte man ja Komödie, +heut' wie alle Abende!</p> + +<p>Und Jucunda Buchner natürlich wieder der Stern des +Abends, der Zielpunkt aller Blicke, die Sehnsucht aller +Herzen! Ja gewiß: wie er sich durch die Menge schob, auf +allen Lippen das leise, andächtig hingesprochene: Die +Buchner ... die Buchner ...</p> + +<p>Der lange Gesell, der im tollen Schneetreiben hemdärmelig +und barhaupt sich durch die Menge zwängte, +machte alles stutzen, alle Hälse sich wenden.</p> + +<p>»Nanu, was hat denn der? Das is wohl ä Verrickter +am Ende! Schutzmann! he, Schutzmann! Nähmen Se'n +doch feste, den Langen da!«</p> + +<p>Nein — so ging's nicht weiter. Er erwischte eine +Droschke, warf sich hinein, befahl Katharinenstraße zweiundzwanzig. +Er konnte ja auch unmöglich so auf Korpskneipe +erscheinen, sie hätten ihn da wohl auch für wahnsinnig +gehalten — hätten sein Rächeramt, seine heilige +Mission, die beleidigte Ehre des grün-gold-roten Bandes +wiederherzustellen, für einen Ausfluß des Aberwitzes genommen. +Und dann: es schüttelte ihn. Fieberglut und +Frostschauer tobten abwechselnd durch seine Reckenglieder.</p> + +<p>Herrgott! Dieser alte Klepper wollte gar nicht vom +Fleck.</p> + +<p>Und doch — es wurde geschafft. Er flog die Treppe +hinauf, langte keuchend oben an. Als er den Schlüssel +suchte, taumelte er — das Fieber verwirrte sein Hirn. +Kaum gelang es ihm, den Schlüssel einzustecken — so leise +er konnte, drehte er um, schlich sich auf Zehenspitzen durch +den dunklen Flur, machte drinnen Licht — erschrak, als er +sein fahles Gesicht im Spiegel sah mit den stieren Augen, +den rotfleckigen Wangen.</p> + +<p>Einerlei — nur fort, nur es zu Ende bringen!</p> + +<p>Er riß die triefenden, dunstigen Kleider vom Leibe, +die schweißnasse Wäsche, zog sich vom Kopf bis zu Füßen +frisch an, schauerte zusammen in der Siedeglut, die ihn +durchrann. Er fühlte sich plötzlich müde zum Sterben — +das aufgeschlagene Bett zog ihn magnetisch an. War's +nicht das beste, da hineinzukriechen, die Decke über die +Ohren zu ziehen und unterzusinken in bleiernes Vergessen +...?</p> + +<p>Aber nein — das ging ja nicht. Die Mission! die +Mission ... Abrechnung mußte gehalten werden. — +Sauber mußte die Welt wieder werden ... Der Schandfleck +mußte weg ... Und mit fliegenden Händen kleidete +er sich an. Taumelte abermals, als er die Stiefel anziehen +wollte, biß die Zähne zusammen, bezwang die todgleiche +Erschlaffung.</p> + +<p>Als er vor dem Spiegel die Halsbinde zu schlingen +versuchte, versagten die Hände. Da knüpfte er nur die +Enden in einen wüsten Knoten, stülpte statt des Hutes, der +draußen an der Pleiße geblieben, eine schwarzseidene +Mensurmütze auf, hing statt des Winterpaletots, den er +ebenfalls im Schnee gelassen, einen dünnen Sommerhavelock +um ... und nun fort — fort ...</p> + +<p>Er warf einen Blick auf die Uhr — dreiviertel neun, +gerade recht. Die offizielle Kneipe mußte eben begonnen +haben, und bis zur Kleinen Fleischergasse waren's ja nur +zwei Minuten.</p> + +<p>Halt! Einen Stock brauchte man noch, man konnte +nicht wissen ...</p> + +<p>Nun, so mochte es schon das silbern beschlagene spanische +Rohr sein, die Dedikation seines Leibburschen. Daß +er kein Recht mehr hatte, dieses Stück zu führen, das +mit dem Zirkel Franconias geschmückt war, was verschlug's +in dieser Stunde —?! Es war eben doch ... +ein Stock ...</p> + +<p class="start-chapI space-above">Noch einer war an diesem Nachmittage bis tief in den +endlosen Novemberabend hinein draußen im Schnee +umhergeirrt: Hans Thumser.</p> + +<p>Als er aus Jucundas Zimmer gestürzt, an dem verblüfften +Erbprinzen vorüber, da war es auch ihm unmöglich +gewesen, es auszuhalten zwischen den hastenden +Menschen, den keuchenden, dampfenden Droschkengäulen, +in den engen, finstern Straßen, unter den blinzelnden +Laternen.</p> + +<p>Er war ins Rosental geraten und stundenlang durch +die schweigende Einsamkeit des schneeverwehten Parks +geirrt.</p> + +<p>Ha! ha! Also so lief die Karre! Freilich, freilich! +Wenn Fürstengnade winkte, was galten da ein paar armselige +Studentlein ...? Denen spielte man eine nette +kleine Komödie vor: Hilflose, beleidigte, schutzbedürftige +Unschuld dem einen, glühendes Verständnis, tiefinnige +Seelenharmonie dem andern ... Und dann — dann +ließ man einfach im rechten Augenblick den Vorhang +fallen, und ein neues Stück fing an.</p> + +<p>Komödie — Komödie — jedes Wort, jeder Blick, nichts +als Reminiszenzen aus abgespielten Stücken, nichts als +der Nachhall erlogenen, erheuchelten Gefühls ... Komödie +... Komödie ... Komödie —!</p> + +<p>War das nicht Strafe? War dieser Abfall, diese +Blamage, die fressende Scham — da drinnen — war das +alles nicht verdient?! Hatte nicht auch er selber leichtherzig +den Vorhang fallen lassen über einem lieblichen +Spiel voll erster Seligkeit, voll flammender Glut und +reizender Tändelei, das die vergangenen Wochen seinem +jungen Leben beschert hatten?</p> + +<p>War er besser als jene Jucunda? Er, der danklos +und roh die Gesellin so köstlicher Entzückungen beiseite geschoben, +um diesem gleißenden Phantom nachzujagen, das +heute vor seinen entsetzen Augen die Larve hatte fallen +lassen?</p> + +<p>Asta! Asta! Dich hatte ich. Du hast dich mir geschenkt +... und ich ließ dich los und rannte einem Irrwisch +nach ...</p> + +<p>Ja, Hans Thumser ging streng mit sich ins Gericht. +Er kam sich so klein vor, so dummejungenhaft, so unwert +alles dessen, was die vergangenen Wochen ihm in den +Schoß geworfen. Eine jähe Sehnsucht kam über ihn, sich +in Astas Arme zu flüchten, die Stirn an ihre Knie zu +drücken und um Verzeihung zu betteln.</p> + +<p>Und doch — Knabentrotz und Knabenscham jagten ihn +immer tiefer in die Schneewildnis hinein. Jetzt vor Asta +hintreten und bitten: vergiß —?!</p> + +<p>Sie würde sogleich begreifen, daß er — nun, daß er +eben ... abgefallen war bei Jucunda. Und würde sie +dann nicht triumphieren, sich bedanken für das Vergnügen, +ihn über seinen Abfall trösten zu sollen?</p> + +<p>Nein — das ging nicht. Das mußte man allein hinunterwürgen. +Ha ha! Gab's nicht ein Mittel, die Qual +dieser Beschämung, dieser fürchterlichen Blamage abzukürzen? +Wozu war man denn Student — Korpsstudent +— Fuchsmajor?! Und wozu heut abend offizielle +Kneipe?</p> + +<p>Ganz recht: besaufen werden wir uns! einen Eimer +Bier in uns hineinpumpen, bis wir mitsamt der ganzen +Corona der Füchse unterm Tisch liegen und den Himmel +für 'nen Dudelsack ansehen. Hol' der Teufel die Weiber —!</p> + +<p>Und morgen früh auf dem Fechtboden — Filzmaske +aufgesetzt, drauflos gedroschen, solange Arm und Schädel +halten wollen —!</p> + +<p>Kaum konnte Hans die Stunde der offiziellen Kneipe +erwarten. Als er zum Cafébaum schlenderte, grinsten +ihm von allen Anschlagsäulen die riesigen Lettern entgegen:</p> + +<p class="center"> +»Wallensteins Lager«<br /> +»Die Piccolomini«<br /> +</p> + +<p>Pah! was für Hieroglyphen waren das eigentlich?! +Was ging das alles ihn an? Pah, die Meininger! Pah! +Schiller —!</p> + +<p>Komödie ... Komödie!</p> + +<p>Damit war man fertig, das mußte versunken sein und +vergessen. — Und was stand ganz unten am Rande des +Zettels?</p> + +<p class="center"> +»Freitag: Wallensteins Tod« —?!<br /> +</p> + +<p>Ja, hatte man gestern nicht selbst probiert, sollte +morgen früh wiederum probieren für die Komödie von +übermorgen? Hatte man nicht im Eisenwams der Pappenheimer +Kürassiere gesteckt und sich als Friedländischer +Reitersknecht gefühlt, eine Stunde lang?</p> + +<p>Lüge, alles Lüge ... äffisches Spiel mit längst verpulster +Glut, längst verschütteter Leidenschaft — Komödie +das alles! Unwürdig des jungen sehnenden Menschentums, +das man in allen Knochen fühlte, das leidend sich +aufkrampfte gegen die Not der Stunde — das nach +wildem Rausch, nach taumelnder Betäubung sich sehnte, +das sich selbst vergessen wollte und vergessen alles um +sich her —!</p> + +<p>Nein — Hans Thumser wird niemals wieder Komödie +spielen ...</p> + +<p>Hans Thumser wird mehr nicht sein wollen, als er ist: +ein ungarer, unfertiger Mensch, dessen verdammte Pflicht +und Schuldigkeit das eine nur ist: zu lernen, zu arbeiten, +sich zu stählen für die kommenden Kämpfe des wahren, +des wachen Lebens. Morgen, morgen soll's beginnen — +heut aber: Bier her! Saufen bis zum Umsinken! Vergessen +... vergessen ... vergessen ...</p> + +<p>Da war der »Cafébaum«. Da winkte vom Sims des +ersten Stockwerks das dreifarbene Schild, schneeüberlagert. +Und der steingemeißelte riesige Türke, der sich von +dem feisten kleinen Putten die Mokkaschale kredenzen +läßt, trug über seinem steinernen Turban einen doppelt +so hohen aus Schnee ...</p> + +<p>Nun die enge, muffige Stiege hinauf, nun die Klingel +gezogen. Drinnen lärmten schon die Korpsbrüder, die +sich zum gewohnten Zechgelage versammelten. Als der +Korpsdiener öffnete, empfing den Ankömmling schon auf +dem Korridor, wo rings die grünen Kneipjacken mit den +rot und goldenen Schnüren an den Wänden hingen, +lautes Hallo.</p> + +<p>Volkner, der Senior, hatte geschwatzt: er war Hans +Thumser begegnet, als dieser mit einem mächtigen, seidenpapierumhüllten +Rosenstrauß in das Haus Katharinenstraße +zweiundzwanzig hineingegangen war. Daß dieser +Besuch nicht etwa dem früheren Korpsbruder Pilgram gegolten +habe, das hatte der Blumenstrauß verraten. Wo +also konnte Thumser gewesen sein als bei Jucunda +Buchner? Halb mit Ulk und halb mit Neid empfing man +den Glücklichen. Der Name Jucundas war ein bißchen +verdächtig von dem Fall Pilgram her. Obwohl der +weiland Senior sich bei den Besuchen der früheren Korpsbrüder +hartnäckig über seine Beziehungen zu der Diva +ausschwieg, hatten die Korpsbrüder doch allmählich herausbekommen, +daß jenem sein ritterliches Eintreten für +das gekränkte Mädchen wenig Dank eingetragen hatte ...</p> + +<p>Sich mit Jucunda Buchner einzulassen, das hatte also +beinahe schon einen Beigeschmack von Komik und drohendem +Hereinfall ...</p> + +<p>Und dennoch ... der Duft des Lorbeers, der eine ganze +Stadt berauschte, zog wie lichter Weihrauchdunst auch +durch die Hirne, welche die grünen Mützen bedeckten ...</p> + +<p>Der Schwall der Neckereien, die sich über Hans Thumser +ergossen, ging ihm heiß in das siedende Blut — immer +wilder schwoll die sinnlose Saufstimmung in ihm empor.</p> + +<p>»Füchse, <i lang="la">ad loca</i>!« brüllte er und nahm am unteren +Ende der Kneiptafel Platz, auf dem hochlehnigen Stuhl, +der in Eichenschnitzerei die Märchengestalt eines aufrechtstehenden +Fuchses zeigte, in Cerevis, Couleurband und +Kanonenstiefeln, den Vorderlauf mit einem Schläger bewehrt. +Und um ihren jungen Herrn und Meister zur +Rechten und zur Linken scharte sich die Fuchscorona, sieben +junge Bürschlein, darunter vier Krasse, die erst seit ein +paar Wochen der Zucht ihres Schulmeisters entronnen +waren, um der noch viel gestrengeren des Fuchsmajors +zu verfallen — und drei Brander, Wangen und Nasen +schon mit den ersten Dokumenten bewährten Mensurschneids +verziert.</p> + +<p>»Füchse, ich komm Euch den ersten und den zweiten +Halben!« rief Hans Thumser und schüttete das volle Glas +hinunter, das der Korpsdiener vor ihn hingesetzt.</p> + +<p>Gleichzeitig beschied auch der Senior Volkner alles, +was der Fuchtel des Fuchsmajors bereits entwachsen war, +an das obere Ende der Kneiptafel: die Korpsburschen, +die Inaktiven der Kartell- und befreundeten Korps, die +sich in Leipzig studienhalber aufhielten und beim Korps +verkehrten, und einzelne Alte Herren aus der Stadt, die +sich dann und wann zu den Zusammenkünften des Korps +einfanden.</p> + +<p>Und nun entwickelte sich das altvertraute Bild: von +allen Wänden schauten die Wappenschilder, die gekreuzten +Fahnen und Schläger, die Ehrenhumpen und silberbeschlagenen +Trinkhörner, die zahllosen jahrzehntealten +Gruppenbilder, Silhouetten, <a id="InCorr5">Porträte</a> der einstigen Mitglieder +des Bundes auf die zechende und lärmende Schar +herunter.</p> + +<p>Mit zeremoniellem Anstand erhob sich der Erste:</p> + +<p>»<i lang="la">Silentium!</i> Wir trinken zur Eröffnung einer +fidelen, offiziellen Kneipe unser Glas in Gestalt eines +Schoppens Salamander! <i lang="la">Ad exercitium salamandri</i> +— eins, zwei, drei!«</p> + +<p>In langen Güssen kollerte der erste Ganze in die zechbereiten +Mägen, rasselnd wirbelte der Salamander und +endete mit einem krachenden Aufklappen aller Gläser auf +die massive Eichenplatte der Kneiptische.</p> + +<p>»<i lang="la">Silentium!</i>« klang da wieder die Stimme des Präsidenten: +»Wir singen als erstes offizielles Lied auf +Seite 159: Brüder, zu den festlichen Gelagen ...«</p> + +<p>In rauhem, taktfestem Unisono schwoll das Lied durch +den niedern Raum, in dem das Brandopfer der Pfeifen +und Zigarren sich mystisch über der Sängerschar emporkreiselte:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Brüder, zu den festlichen Gelagen<br /></span> +<span class="i0">Hat ein guter Gott uns hier vereint,<br /></span> +<span class="i0">Allen Sorgen laßt uns jetzt entsagen,<br /></span> +<span class="i0">Trinken mit dem Freund, der's redlich meint.<br /></span> +<span class="i4">Da, wo Nektar glüht,<br /></span> +<span class="i4">Holde Lust erblüht,<br /></span> +<span class="i0">Wie den Blumen, wenn der Frühling scheint.«<br /></span> +</div></div> + +<p>Und Hans Thumser fühlte beglückt, wie die dumpflastende +Beklemmung der einsamen Spätnachmittagstunden +von ihm abfiel, und in grimmigem Behagen stürzte +er sich hinein in den schäumenden Strudel des Gelages, +spürte, wie alles, was ihn so im Tiefsten erschüttert, verschwamm, +versank, verflog — und nichts mehr war, als +der tolle Rausch der Stunde.</p> + +<p>»Füchse! Ich komme Euch den elften und zwölften +Halben!«</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Lasset nicht die Jugendkraft verrauchen,<br /></span> +<span class="i0">In dem Becher winkt der goldne Stern!<br /></span> +<span class="i0">Honig laßt uns von den Lippen saugen,<br /></span> +<span class="i0">Lieben ist des Lebens süßer Kern!<br /></span> +<span class="i4">Ist die Kraft versaust,<br /></span> +<span class="i4">Ist der Wein verbraust,<br /></span> +<span class="i0">Folgen, alter Charon, wir Dir gern!«<br /></span> +</div></div> + +<p>— so verscholl das hellaufrauschende Lied ...</p> + +<p>»<i lang="la">Silentium</i> — schönes Lied <i lang="la">ex</i>! Ein Schmollis den +Sängern!«</p> + +<p>Da trat der Korpsdiener ein. Das glänzende Bemmchengesicht +verstört, fassungslos. Er schlich sich zu dem +ragenden Stuhl des Ersten heran, flüsterte mit vorgehaltener +Flosse seinem jungen Herrn etwas ins Ohr, das +diesen stutzen und auffahren machte. Einen Augenblick +sann Volkner nach — dann flüsterte er dem Korpsdiener +zu:</p> + +<p>»Es ist gut — sagen Sie's Herrn Thumser — er mag +hinausgehen.«</p> + +<p>Mit scharfen Blicken verfolgte Volkner den Gang des +Korpsdieners, der sich nun mit so lächerlicher Behutsamkeit, +als tripple er auf Eiern, hinter den Stühlen seiner +Herren entlang zum Fuchsmajor schob und auch diesem +seine Botschaft zuraunte:</p> + +<p>»Entschuld'gen Se, Herr Thumser — da draußen is +Sie nämlich der Herr Pilgram — der läßt Ihn' bitten, ob +Se nich mächten so freindlich sinn und gomm'n een Augenblickchen +auf'n Flur — er hat 'n ä wicht'ge Mitteilung zu +machen!«</p> + +<p>Ganz deutlich sah Volkner, wie Thumser zusammenschrak, +hastig aufsprang, einen Augenblick nachsann, dann +mit einem fragenden Blick die Erlaubnis erbat, die Kneiptafel +zu verlassen. Nachdem Volkner Gewährung genickt, +bat Thumser den ihm zunächst sitzenden Korpsburschen, +ihn in seinem Amt als Vorsitzender der Fuchsentafel eine +Weile zu vertreten. Dann raffte er sich zusammen und +schritt aufrecht, doch blaß, mit zusammengezogenen Brauen +zur Tür hinaus.</p> + +<p>Als er mit dem Korpsdiener durch das anstoßende +Konventszimmer schritt, flüsterte der Alte ihm zu:</p> + +<p>»Se missen nämlich wissen, Herr Thumser, es is Sie +schon vor eener Viertelstunde eene sähre hiebsche, junge +Dame dagewesen und hat mich gefragt, ob der Herr Pilgram +mächte uff der Kneipe sinn. Nu, da hab'ch ihr +natierlich nur kennen sagen, daß der Herr Pilgram ieberhaupt +nich mehr wirde uff Kneipe komm' — und da is se +denn wieder abgemacht. Ich kann Ihn' nur sagen, Herr +Thumser, sähr ä hiebsche Dame is es gewesen! Nobel, +püh, ich kann Ihn' sagen, Herr Thumser —!«</p> + +<p>Hans Thumser war einen Augenblick stehengeblieben. +Wirre Vermutungen schossen hin und wider. Pilgram —? +Und eine Dame, die nach Pilgram fragte? Was für unwahrscheinliche +Begebenheiten — auch nicht den Schimmer +eines Verständnisses fand Hans.</p> + +<p>Wer konnte die Dame sein, die Pilgram auf der +Frankenkneipe vermutete —? Was wollte Pilgram von +ihm selber —?!</p> + +<p>Nun — man würde ja hören ... Und abermals +straffte Hans den Nacken und öffnete die Tür zum Korridor.</p> + +<p class="start-chapI space-above">Herzklopfend, von Glut und Frost hin und wider geschüttelt, +war Asta Thöny vor dem Cafébaum aus der +Droschke in den weichen Schnee gesprungen, der nun schon +fußtief Bürgersteig und Fahrdamm der schmalen Gasse +überzog. Ob ihr Retter wohl schon drüben sein mochte?</p> + +<p>Hell erleuchtet glänzten die Fenster des ersten Stocks in +das schummerige Dunkel der Straße hinaus, während die +ragenden Fronten der geschwärzten Gebäude ringsum +nur noch wenige matte Lichtspuren zeigten. Auf der +Kleinen Fleischergasse wohnte nur bescheidenes Bürgertum, +da ging man früh zur Rast.</p> + +<p>Asta trat auf das jenseitige Trottoir und spähte hinauf. +Ab und an huschte droben schattenhaft der Umriß +einer jungen bemützten Männergestalt vorüber. Durch +die verschlossenen Doppelfenster drang Lachen, vielstimmiges +Gespräch, Tabakwolken kräuselten zur Decke, Wappenschilder, +Schläger blinkten an den Wänden — sonst +war nichts zu erkennen.</p> + +<p>Es blieb nichts übrig: Asta mußte sich in das dunkle +jahrhundertalte Gebäude hineinwagen, mußte fragen, ob +droben Herr Pilgram schon eingetroffen. Mit versagendem +Herzschlag kletterte sie die winklige, dunstige Stiege +hinan, hielt einen Augenblick vor der Tür still, an der ein +grün-gold-rotes Farbenschild angebracht war und ein +längliches Porzellanschildchen mit der Aufschrift:</p> + +<p class="center" style="font-size:0.9em"> +»Corps Franconia.«<br /> +</p> + +<p>Drinnen klang lauter nun Lärm und Gelächter. Was +half's — sie mußte es wagen ...</p> + +<p>Eine schrille Klingel schlug an, Schritte tappten heran, +ein ältliches, gerötetes, glattrasiertes Männergesicht lugte +durch den Spalt und blinzelte befremdet, als es des ungewohnten +Besuches ansichtig ward.</p> + +<p>Mit stammelnden Lippen fragte Asta, ob Herr Pilgram +schon angekommen. Verblüfft grinste der Türhüter +und erklärte: Herr Pilgram gehöre nicht mehr zum Korps, +er komme überhaupt nicht mehr.</p> + +<p>Gottlob — also jedenfalls noch nicht zu spät gekommen +...</p> + +<p>Und Asta huschte wieder die Treppe hinunter, stapfte +in den Schnee hinaus und patrouillierte auf dem jenseitigen +Bürgersteig, frostgeschüttelt, erwartungfiebernd.</p> + +<p>Ab und zu kam noch eine grünbemützte Jünglingsgestalt +und bog in den schlechterleuchteten Flur des Cafébaums +ein. Von Pilgram keine Spur! — Ob er seinen +Vorsatz aufgegeben hatte? Sie wußte ja nicht, was er +eigentlich geplant hatte, aber etwas Grausames, etwas +Wildes, etwas Schauerliches mußte es gewesen sein! Davon +hatten seine Züge deutlich genug gesprochen. Und +geduldig trippelte das Mädchen auf und ab, ohne einen +Blick von dem schmalen Lichtspalt zu wenden, der durch +die angelehnte Tür des Restaurants auf die Straße lugte.</p> + +<p>Der Schneefall hatte aufgehört. In winterlicher +Schwermut gähnte die menschenleere Straße. Und in die +lautlose Stille, welche die abendliche Stadt überlagerte, +klang nun von drüben ein munterer Burschensang, gedämpft +durch die Doppelfenster, doch deutlich vernehmbar. +Die Weise meinte Asta zu kennen, aber Worte dazu wußte +sie nicht. Ach, da oben war er, der liebe, böse Junge ...</p> + +<p>Schau! zur Rechten, vom Marktplatz her glitt lautlos +ein riesiger Schatten heran, scharf abgezeichnet von dem +weißen Grunde der Straße, vom gelben Lichthof, den die +Laternen in die Nebel der Nacht zeichneten.</p> + +<p>Er war's! Mit raschen Schritten steuerte er dem +»Cafébaum« zu. Da schoß Asta über den schmalen +Straßendamm, traf hart an der Tür auf Pilgram:</p> + +<p>»Herr Pilgram — ach, Herr Pilgram!«</p> + +<p>Gesenkten Blickes war jener geschritten, nun schrak er +zusammen bei der unerwarteten Begegnung.</p> + +<p>»Ah — Sie, mein gnädiges Fräulein? — Ja, um +Gottes willen, sind Sie denn toll? Warum nicht im Bett +— warum hier — was soll das heißen?!«</p> + +<p>»Ich hatte solch entsetzliche Angst, Herr Pilgram!«</p> + +<p>»Angst? Was fällt Ihnen ein! Angst? Um wen?«</p> + +<p>»Um Sie, Herr Pilgram, um Sie und ... ach! Sie +wissen's ja ... um wen — um wen noch. Herr Pilgram, +ich bitte Sie — ich flehe Sie an, was haben Sie vor gegen +Herrn Thumser?«</p> + +<p>Flehend hatte sie mit beiden Händen den linken Arm +des Studenten umklammert.</p> + +<p>»Aber Verehrteste ... ich begreife faktisch nicht ... +wie kommen Sie auf derartige Vermutungen?«</p> + +<p>»Ach, ich weiß ... ich weiß ... Sie wollen sich +rächen an Herrn Thumser! Ich weiß alles — alles weiß +ich ... Fräulein Buchner, meine Kollegin — Sie sind +für sie eingetreten damals ... und dann ... dann hat sie +sich schlecht gegen Sie benommen ... und Sie, Sie hatten +doch so viel für sie dahingegeben, nicht wahr, so war's +doch? Und heut — heut ist Herr Thumser bei Fräulein +Buchner zum Tee gewesen, nicht wahr? ... Und Sie, +Sie haben das gehört und sind wütend auf ihn — weil +Sie denken, er hat mehr Glück bei Fräulein Buchner als +Sie nicht wahr? O, gestehen Sie's nur, es ist ja keine +Schande — und dann, dann haben Sie mich gefunden +da draußen und denken, er hat mich auf dem Gewissen ... +Sie sehen, ich weiß, ich weiß alles. Und nun, nun wollen +Sie ihn — ich weiß nicht, was Sie mit ihm machen +wollen, aber etwas Schreckliches ist's gewiß. Sehen Sie +— Sie schweigen — sehen Sie, ich habe alles begriffen, +alles! Ist's nicht so?«</p> + +<p>Mit zusammengekniffenen Lippen, die Augen fast geschlossen, +regungslos hatte Valentin Pilgram den Schwall +dieser bebenden Fragen über sich dahinschauern lassen. +Mit grimmiger Scham fühlte er sich durchschaut, fühlte +den geheimsten Trieb seines Wollens bloßgelegt, den er +vergeblich mit dem lügnerischen Pomp eines Rächers verratener +Ehre verhüllt hatte, und der doch nichts anderes +war im letzten Grunde als der Neid des Verschmähten +gegen den Glücklichen, als Eifersucht — ganz ordinäre, +banale Eifersucht ...</p> + +<p>Doch nein, das war ja nicht wahr — das durfte ja +nicht wahr sein! Da oben klang der muntere Burschensang +— da oben tafelte die Runde derer, die sich Mitglieder +des ältesten Korps der Hochschule nennen durften, +die das grün-gold-rote Band tragen durften, das nur den +Makellosen schmücken soll. Und in ihrer Mitte saß einer, +der doppelten Verrats schuldig war: an dem Gefährten +dreier Semester und an der Gesellin glückseliger Liebesstunden.</p> + +<p>Und er —? Er hatte auf all das verzichtet, verzichten +müssen um der Ehre willen. Hatte das einen Sinn? +Durfte das so bleiben? Nein, beim Himmel, das sollte es +nicht, solange es einen Valentin Pilgram gab. Wenn er +denn schon selber die geliebten Farben nicht mehr tragen +durfte, deren er doch wahrhaft würdig war wie einer, +sollte dann der andere sich mit ihnen brüsten dürfen, der +das Recht auf sie schmählich verscherzt hatte ...?!</p> + +<p>»Herr Pilgram,« klang's da in schmelzendem Flehen +neben ihm, »so sprechen Sie doch! Bitte, bitte, so sprechen +Sie doch, habe ich nicht recht?«</p> + +<p>»Mein verehrtes Fräulein,« sagte der Student, indem +er seinen linken Arm der flehenden Umschlingung entzog, +»ich bedaure, Ihnen über mein Tun und Lassen keine +Rechenschaft ablegen zu können. Es mag sein, daß ich +etwas Aehnliches, wie Sie denken — nun, daß ich ... das +gewollt habe ... und noch will. Wenn es so ist, so dürfen +Sie überzeugt sein: ich weiß genau, was meine Pflicht +ist ... Und darum muß ich Sie schon bitten, mich gewähren +zu lassen.«</p> + +<p>Da trat ihm das Mädchen in den Weg, legte beide +Hände auf seine Schultern, brennende Augen starrten zu +ihm empor, aus denen Tränen rannen, hell aufblitzend +im matten Lichtstreifen, der aus der Flurtür in den Schnee +der Gasse fiel:</p> + +<p>»Nein — nein, das dürfen Sie nicht! Mir zuliebe +dürfen Sie's nicht ... Ja, es ist wahr, wegen dem da +oben hab' ich heute das Leben wegwerfen wollen — nun +haben Sie mich gerettet — aber wenn Sie ihm etwas +zuleide tun, dann ist alles aus, dann hätten Sie mich nur +lieber gleich da unten in der Pleiße lassen sollen ... Ich +will nicht, daß ihm ein Leids geschieht um meinetwillen — +ich will's nicht — und Sie, Sie dürfen's nicht — Sie +dürfen mich nicht wieder dahin zurückstoßen, woher Sie +mich heut abend geholt haben — nein! Herr Pilgram, +das dürfen Sie nun und nimmermehr.«</p> + +<p>»Gnädiges Fräulein,« sagte Valentin, »wenn es Sie +beruhigen kann, so will ich Ihnen versichern: das, was +jetzt gleich geschehen wird, war beschlossene Sache schon +ehe ich Sie ... da draußen ... fand. Ich kann mich nicht +darauf einlassen, Ihnen das alles so auseinanderzusetzen. +Was Sie von mir denken mögen oder nicht denken mögen +— ich kann's bedauern, aber ich kann's nicht ändern. Das +alles muß nun seinen Lauf gehen. Versuchen Sie nicht +mich aufzuhalten, es hat keinen Zweck.«</p> + +<p>Es sollte wohl nur ein sanfter Druck sein, mit dem die +hageren Hände des weiland Frankenseniors die runden +Gelenke der Schauspielerin von seinen Schultern lösten, +doch er war unwiderstehlich, wie das Zupacken stählerner +Zangen. Mit der gleichen unerbittlichen Gewalt, mit der +er vor wenig Stunden des Mädchens Glieder der Flutenumschlingung +entrissen, schob er sie nun zur Seite, wie +ein willenloses Püppchen, und war mit zwei raschen +Schritten im gähnenden Toreingang verschwunden.</p> + +<p>Asta taumelte, als der Druck der gewaltigen Hände +plötzlich nachließ. Dabei trat sie unversehens einen halben +Schritt rückwärts, geriet mit dem Fuß in den lockeren +Schneeaufwurf über dem Rinnstein, sank tief ein, +strauchelte, fiel in die Knie, stieß einen Schmerzenslaut +aus: sie mußte sich den Fuß verstaucht haben. Aber die +heiße Angst um das, was werden mochte, jagte sie wieder +empor. Sie humpelte mit schmerzverzogenem Gesicht zur +Tür, stieß sie auf, lauschte hinein. Droben auf der Treppe +waren Pilgrams Schritte schon verhallt. Nur das Burschenlied +brauste noch immer weiter, klang und schwang +durch das ganze altersmüde Gebäude. In dem kleinen +Restaurant des Erdgeschosses zur Linken das schläfrige +Stammtischgeschwätz, das Auftrumpfen der Karten, das +Klappern der Biergläser. Asta schlich durch den Hausflur, +hinkte mühsam die Treppe hinauf, stand wieder an +der Tür mit dem Porzellanschildchen: Corps Franconia, +legte das Ohr an die dünne Holzwand und lauschte.</p> + +<p>Ganz deutlich dröhnte nun ein neuer Vers des feierlichen +Liedes da drinnen, dazwischen halblaute Stimmen, +es schien Pilgram zu sein, welcher im Flur mit dem alten +Mann verhandelte, der sie vorhin an der Pforte beschieden. +Aber dies leise Gespräch blieb unverständlich, +dagegen war der Text des Liedes Wort für Wort zu verstehen. +In frohem Trotz scholl die alte Jugendweise +daher:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Lasset nicht die Jugendkraft verrauchen,<br /></span> +<span class="i0">In dem Becher winkt der gold'ne Stern!<br /></span> +<span class="i0">Honig laßt uns von den Lippen saugen,<br /></span> +<span class="i0">Lieben ist des Lebens süßer Kern!<br /></span> +<span class="i4">Ist die Kraft versaust,<br /></span> +<span class="i4">Ist der Wein verbraust,<br /></span> +<span class="i0">Folgen, alter Charon, wir Dir gern!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Und nun plötzlich war das Lied zu Ende, ein paar unverständliche, +kommandoartige Worte klangen von drinnen, +ein lustiger Aufschrei von vielen Stimmen, dann munter +durcheinander schwirrendes Stimmengewirr. Einige +Sekunden verflossen so: dann hörte Asta ganz deutlich, +wie drinnen eine Tür heftig aufgerissen wurde und jemand +in den Flur trat — und jetzt klang drinnen gedämpft, doch +klaren, festen Klanges des geliebten Jungen Stimme:</p> + +<p>»Guten Abend, Pilgram — Du hast mich zu sprechen +gewünscht? Bitte, was steht zu Deinen Diensten?«</p> + +<p>Da fühlte Asta, wie der Puls ihres Herzens aussetzte. +Ganz fest preßte sie ihr Ohr an das glatte, ölgestrichene +Holz, ihre froststarren Hände umklammerten +krampfhaft den messingenen Türgriff, und in schlotterndem +Lauschen vernahm sie jedes Wort, das drinnen gesprochen +wurde, vernahm sie alles, was drinnen geschah ...</p> + +<p class="start-chapI space-above">Hochaufgerichtet standen die zwei schlanken Jünglingsgestalten +einander drinnen gegenüber in dem schmalen +Flur, den nur eine schwelende Petroleumlampe erleuchtete. +Rechts und links hingen Kneipjacken und Garderobenstücke +an den Regalen, welche die Wände umzogen — ein +fader Dunst von altem Tabak und Bierneigen füllte den +dumpfen Raum. Hinter der mittleren Tür, die zum Kneipzimmer +führte, klang heftiges Stimmengewirr, das stiller +und stiller ward. Offenbar war man drinnen aufmerksam +geworden, daß hier draußen sich Ungewöhnliches vollziehe, +wartete man gespannt, wie das wohl werden möchte.</p> + +<p>Hans Thumser hatte Pilgram die Hand hingestreckt. +Der übersah sie, griff stumm in die Brusttasche seines +Rockes und reichte Hans Thumser einen Brief hin.</p> + +<p>»Lies!« sagte er.</p> + +<p>Hans ließ die erstaunten Blicke hin und wider gleiten +zwischen dem Schreiben und dem, der es ihm gereicht, +dann trat er in den Lichtbereich des mattglänzenden Flurlämpchens +und erkannte, daß der Brief mit fahrigen, +steilen Schriftzügen einer Frauenhand bedeckt war:</p> + +<blockquote> + +<p>»Sehr geehrter Herr! Ihr dankenswertes Eintreten +für meine Ehre hat schnell den gewünschten Erfolg gehabt. +Die beiden Herren, welche mir zu nahe getreten +waren, haben mündlich bei mir um Entschuldigung gebeten. +Ich danke Ihnen innigst für das große Opfer, +das Sie mir gebracht haben ...«</p></blockquote> + +<p>Verblüfft ließ Hans den Brief sinken:</p> + +<p>»Was soll ich damit?« fragte er, »was geht das +mich an?!«</p> + +<p>»Dreh doch gefälligst einmal den Bogen um!« befahl +Pilgram in ingrimmiger Ruhe.</p> + +<p>Hans wandte den Bogen um und entdeckte mit grenzenlosem +Staunen rechts an der unteren Ecke der vierten +Seite, auf dem Kopfe stehend, seine Initialen und darüber +den Frankenzirkel. Er drehte den Bogen um, und richtig: +es war kein Zweifel, das war einer von seinen eigenen +Briefbogen. Völlig verdutzt sah er den einstigen Korpsbruder +an, um dessen festgeschlossene Lippen ein mattes +Lächeln des Triumphes irrte.</p> + +<p>»Von wem ist der Brief?« fragte Hans Thumser mit +unsicherer Stimme.</p> + +<p>»Spiel' mir gefälligst keine Komödie vor!« brauste Pilgram +auf.</p> + +<p>»Aber ich versichere Dir, ich habe nicht den leisesten +Schimmer.«</p> + +<p>»Pfui Deubel — nicht mal den Mut hast Du ... Gib +her den Brief! Und nun weiter! Warst Du heut' nachmittag +bei Fräulein Buchner?«</p> + +<p>»Aber ich verstehe faktisch nicht,« stammelte Hans. +»Wenn ich Dir sage, daß ich auch nicht die entfernteste +Ahnung habe —!«</p> + +<p>»Ich frage Dich, ob Du heut nachmittag bei Fräulein +Buchner warst? Gib Antwort — oder ich mache kurzen +Prozeß mit Dir!«</p> + +<p>Nun richtete sich Hans denn doch aus der unsicheren +Haltung verlegenen Staunens zu seiner ganzen Größe +auf. Zwar reichte er nicht an die riesige Länge des +einstigen Freundes, aber gleich straff emporgereckt stand +er ihm gegenüber, sah ihm von unten frei und trotzig ins +Gesicht, und funkelnd, wie zwei Säbelklingen in der Auslage, +so blitzten das braune, das blaue Augenpaar einander +an.</p> + +<p>»Ich frage Dich,« sprach er kalt gemessen, »was Dich +berechtigt, mich in einem derartigen Ton zur Rede zu +stellen?«</p> + +<p>»Das weißt Du.«</p> + +<p>»Nein, ich weiß es nicht. Ich wünsche es von Dir zu +hören.«</p> + +<p>»Ich verzichte darauf, Dir Aufklärung zu geben. Ich +wiederhole Dir meine Frage — willst Du antworten?!«</p> + +<p>»Wer mich in diesem Tone fragt, bekommt keine +Antwort!«</p> + +<p>»Schön! Was wirst Du nun aber sagen, wenn ich +Dir mitteile, daß in derselben Stunde, in der Du bei +Jucunda Buchner warst, Fräulein Asta Thöny am +'Wassergott' in die Pleiße gesprungen ist —?!«</p> + +<p>Da wurde Hans Thumsers fester Blick plötzlich stier +und starr. Die Kinnbacken klappten herunter, langsam +schob sich seine Rechte an der Brust empor, glitt tastend +nach dem Achtzentimeterkragen.</p> + +<p>»Das ist ... das ist nicht wahr!«</p> + +<p>»Mein Ehrenwort, daß es wahr ist ... und Du weißt, +scheint's, auch, wer sie hineingetrieben hat?!«</p> + +<p>Da umklammerte Hans Thumser plötzlich mit beiden +Händen des ehemaligen Korpsbruders Arm und stammelte, +schlotternd vor Entsetzen:</p> + +<p>»Sie ist tot?!«</p> + +<p>Valentin Pilgram machte sich frei, trat einen halben +Schritt zurück.</p> + +<p>»Ich hatte das Glück sie zu retten ... bedank' Dich also +bei mir, daß Du nicht als Mörder vor mir stehst.«</p> + +<p>Ein stöhnender Laut, ein Jauchzen halb und halb ein +Schluchzen brach aus Hans Thumsers Brust zwischen den +zusammengebissenen Zähnen hervor:</p> + +<p>»Erzähl' doch — so erzähl' mir doch.«</p> + +<p>»Nein,« sagte Valentin Pilgram hart, »Du hast Fräulein +Thöny von Dir gestoßen — es mag Dir genügen, daß +sie lebt — alles weitere geht Dich nichts mehr an.«</p> + +<p>»Also was willst Du von mir?« schrie Hans Thumser, +»sag' mir endlich, was Du von mir willst?!«</p> + +<p>»Du sollst bekennen, daß Du ein elender, wortbrüchiger +Bube bist ... Du sollst das Korpsband da abziehen ... +Du verdienst nicht mehr, es zu tragen. Willst Du? Oder +soll ich Dich dazu zwingen?«</p> + +<p>Da straffte sich Hansens Gestalt aufs neue. Seine +Fäuste ballten sich, als erwarteten sie den Angriff des +Feindes — ja, des Feindes, denn was in den blauen +Augen drüben düster flammte, war Feindschaft — Todfeindschaft +...</p> + +<p>»Versuch's!« sagte er nur.</p> + +<p>In diesem Augenblick ward die Tür zum Kneipzimmer +hastig von drinnen aufgerissen, blendender Lichtglanz quoll +hervor, und hinter der Tür, Kopf an Kopf, drängte sich das +Korps: ein zu Tode erschrockenes Jungmännergesicht +hinter dem andern, ganz hinten stand man auf Stühlen +und Tischen, um das entsetzenerregende Schauspiel zu erreichen, +wie da zwei Jünglinge, die einst die gleichen +Farben getragen, auf Leben und Tod einander gegenüberstanden.</p> + +<p>»Pilgram! Thumser!« schrie alles durcheinander, »um +Gottes willen, was habt Ihr nur?!«</p> + +<p>Gleichzeitig schlug mit gellendem Schrillen die Etagenklingel +an, und gegen das Holz der Flurtür hämmerten +matte Schläge, wie von einem zarten Kinderhändchen. +Und wie ein Schrei klang draußen das wimmernde Flehen +einer Frauenstimme:</p> + +<p>»Herr Pilgram — tun Sie's nicht, Herr Pilgram!«</p> + +<p>Mit halbem Blick nur überflog Valentin Pilgram die +hervordrängende Schar der einstigen Korpsbrüder ... +dann, als sei er noch allein mit dem Gegner Aug' in Auge, +wandte er sich wieder zu ihm und wiederholte:</p> + +<p>»Also noch einmal: Gibst Du es zu, daß Du ein elender +Schelm bist? unwürdig des Bandes, das Du trägst?«</p> + +<p>Mit eisiger Festigkeit hielt Hans Thumser des Feindes +haßsprühenden Blick aus.</p> + +<p>»Geh!« sagte er, »das weitere findet sich morgen.«</p> + +<p>In derselben Sekunde hatte Valentin Pilgram dem +Gegner das Korpsband von der Brust gerissen und es zu +Boden geschleudert. Nun holte seine Rechte weit aus, um +ihm die Mütze vom Kopf zu schlagen. Im selben Augenblick +aber warfen sich die Korpsburschen mit lauten Entsetzensschreien +auf beide Gegner von hüben und drüben, +trennten sie, alles schrie wie toll durcheinander:</p> + +<p>»Pilgram, Du bist wohl wahnsinnig!«</p> + +<p>»Zurück, haltet Ruhe, zum Teufel!«</p> + +<p>»Was fällt Euch ein?!«</p> + +<p>»Wir sind auf Korpskneipe!«</p> + +<p>»Schmeißt ihn hinaus, er hat hier nichts mehr zu +suchen!«</p> + +<p>»Laß gut sein, Thumser, er wird Dir Satisfaktion +geben, morgen findet sich alles — morgen!«</p> + +<p>Volkner, der Senior, brach sich Bahn durch die dicht +zusammengekeilte Schar der jungen Männer.</p> + +<p>»<i lang="la">Silentium!</i>« schrie er. »Ich bin hier der Herr im +Haus. Tritt vor, Pilgram, was soll das, was fällt Dir +ein? Dich hier einzudrängen und Dich an einem von uns +zu vergreifen? Du weißt, Du hast kein Recht mehr, hier +zu sein!«</p> + +<p>Die Zucht vieler Semester, die eiserne Disziplin des +Korps rief Pilgram zur Besinnung zurück.</p> + +<p>»Du hast recht, Volkner,« sagte er. »Habt die Freundlichkeit +mich loszulassen ... es wird nichts weiter passieren, +verlaßt Euch drauf.«</p> + +<p>Und ruhig und gemessen trat er vor den Senior:</p> + +<p>»Verzeih mir — ich hatte mich vergessen. Ich denke, +Ihr verzichtet wohl alle auf eine weitere Aufklärung ... +dafür ist ja das Ehrengericht da.«</p> + +<p>»Allerdings,« sagte Volkner, »dafür ist ja wohl das +Ehrengericht da.«</p> + +<p>»Gut,« sagte Pilgram. »Ich bitte das Korps also nochmals +feierlichst um Entschuldigung — ich bin morgen vormittag +bis ein Uhr in meiner Wohnung. Guten Abend.«</p> + +<p>Alles wich zur Seite. Noch einmal maß Valentin Pilgram +mit kurzem Blick der Todfeindschaft seinen Gegner, +der schwer atmend, mit rotunterlaufenen Augen, doch völlig +gefaßt inmitten seiner Korpsbrüder stand ... schritt zur +Tür, riß sie auf.</p> + +<p>Da bot sich ein unerwartetes Schauspiel: Auf der +Schwelle kniete, tränenüberströmt, zusammengekauert, ein +Mädchen im grauen Pelzjackett. Nun sprang sie auf die +Füße, starrte mit angstverzerrten Zügen, blöden Blicks in +den Korridor hinein, in dem Kopf an Kopf Grünbemützte +sich drängten, warf sich dann jählings herum und floh wie +gejagt die Treppe hinunter.</p> + +<p>Und langsam, schwerfälligen Schritts ging Valentin +Pilgram von dannen und ließ die Tür ins Schloß fallen.</p> +</div> + +<div> +<h2>14.</h2> + +<p class="start-chapA">Asta hatte nicht schlafen können. Das Fieber hatte in +dem zierlichen, doch kerngesunden Körperchen rumort +— doch der Gedankensturm, der ihr Hirn durchbrauste, +der Drang zu leben, zu helfen, ihr armes bißchen Sein +dafür einzusetzen, daß nicht unsagbar Entsetzliches geschähe +— dies inbrünstige Wollen hatte die heraufbrauende +Krankheit niedergeworfen. Und früh um neun schon +klopfte sie an Jucunda Buchners Tür.</p> + +<p>Frau Kanzleirätin, noch in Nachtjacke und Unterrock, +hatte hoch und teuer geschworen, Jucunda sei noch nicht +zu sprechen. Asta Thöny hatte sich nicht abweisen lassen.</p> + +<p>»Sie wird mir's danken, gnädige Frau!«</p> + +<p>Aber Jucunda Buchner dankte nicht.</p> + +<p>Aus unruhigen Morgenträumen voll ehrgeiziger Hoffnungen +und ahnungsvoller Beklemmungen hatte das +Pochen der Kollegin sie aufgeschreckt. Nun saß sie aufrecht +im Bett, sehr ungnädiger Laune, kaum, daß sie der +Besucherin einen Stuhl anbot. Sie liebte es nicht, sich +unvorbereitet überraschen zu lassen.</p> + +<p>Mit fliegenden Worten berichtete Asta: ihren Spaziergang +an der Pleiße verschwieg sie allerdings, um so genauer +aber erzählte sie von dem Renkontre zwischen Pilgram +und Thumser auf der Frankenkneipe und sparte nicht +an grellen Farben. Sie war überzeugt gewesen, Jucunda +würde alsbald um Hans Thumsers willen mit allen Anzeichen +des Entsetzens aus dem Bette springen und Hals +über Kopf zu dem Geliebten wollen, um ihm nicht von +seiner Seite zu weichen, bis die Gefahr an ihm vorübergegangen +war ...</p> + +<p>Statt dessen sah Jucunda sie stillschweigend mit spöttisch +zusammengebissenen Lippen an, als sie hocherglühend +ihren Bericht geendet.</p> + +<p>»Nun?« fragte Asta ganz erstaunt.</p> + +<p>»Mir fällt etwas auf an Deiner Erzählung, liebes +Kind,« sagte Jucunda. »Du erzählst mir da von einem +Auftritt, der sich auf der Frankenkneipe zugetragen hat ... +und zwar wenn ich recht verstanden habe, hast Du nicht +nur vom Hörensagen berichtet, sondern Du warst selber +dabei gewesen — stimmt's oder stimmt's nicht?!«</p> + +<p>Astas Wangen, vom heftigen Gang durch den Schnee +gerötet, glühten noch höher auf.</p> + +<p>»Ja ... ich habe alles ... selbst mit angehört ...« +gestand sie.</p> + +<p>»Hm — dann darf ich mir wohl die Frage gestatten: +wie kommst denn Du auf die Frankenkneipe?«</p> + +<p>Astas Hände zupften unstet an den Falten ihres +Rockes.</p> + +<p>»Ja, wie soll ich Dir das ... erklären? Es ist ja +auch ... eigentlich gleichgültig ... wie ich hingekommen +bin — ich war eben ... da.«</p> + +<p>»Nun, so gleichgültig kann ich das eigentlich nicht +finden,« meinte Jucunda. Sie lehnte sich zurück in die +Kissen, stützte sich auf die Ellbogen und fixierte die niedliche +Kollegin mit überlegen spöttischem Blick. »Na, also lassen +wir das einstweilen mal dahingestellt. Aber: zu welchem +Zweck teilst Du mir denn das alles mit?«</p> + +<p>»Ja, aber um Gottes willen, Jucunda, das geht doch +nicht, das darf doch nicht sein, daß die zwei guten Jungens +sich totschießen Deinethalb!«</p> + +<p>»Meinethalb?« Jucunda hatte sich hochaufgerichtet. +»Wieso meinethalb? Erkläre mir das!«</p> + +<p>»Ja, aber Jucunda — das ist doch ganz klar! Uebrigens, +um Gottes willen, der eine, der Pilgram, der wohnt +doch hier nebenan, gelt, kann der uns auch nicht etwa +hören?«</p> + +<p>»Beruhige Dich, liebes Kind, meine Mutter hat mir +schon mitgeteilt, daß er heut nacht nicht nach Hause gekommen +ist. Also bitte, wie kommst Du auf diesen Einfall?«</p> + +<p>»Aber begreifst Du denn das noch immer nicht?! Der +Pilgram ist doch nur eifersüchtig auf den Thumser, weil +Du ihn hast abfallen lassen und den andern — —«</p> + +<p>»Und den andern?!« fragte Jucunda scharf. »Na, was +denn! Bitte, was denn?!«</p> + +<p>»Nun, der andere ... ist denn der andere nicht gestern +nachmittag bei Dir ... bei Dir gewesen —?«</p> + +<p>»Er war gestern nachmittag zum Tee bei mir, nu! Und +was weiter?«</p> + +<p>»Zum — Tee —?!« fragte Asta mit einem halb wehmütigen, +halb verschmitzten Lächeln. »Nur zum Tee —?«</p> + +<p>»Na! zu was denn sonst, bitte?!« fragte Jucunda +heftig.</p> + +<p>»Na, wir wollen nicht streiten,« meinte Asta. »Also: +ob die zwei braven Kerle sich Löcher in den Leib schießen +Deinethalb, Dir ist's rund herum egal, scheint's?!«</p> + +<p>»Meinethalb? Ich weiß nicht, ob sie's meinethalb tun, +mir haben sie's nicht gesagt. Und übrigens — ich möchte +wissen, was ich daran ändern kann, wenn die zwei sich's +in den Kopf gesetzt haben, aufeinander loszuknallen. Ich +habe sie nicht geheißen, ich kann sie nicht hindern!«</p> + +<p>Asta Thöny spielte mit den Zipfeln ihres Pelzjacketts +und sann angestrengt nach mit zusammengekniffenen +Brauen. Dabei stieg eine helle Freude, ja ein lustiger +Uebermut langsam, aber immer mächtiger in ihr empor. +Das war ja eigentlich wunderschön, was sie da erfuhr. +Sieh da, Hanschen! Viel Glück scheinst du mit deinem +Teebesuch bei der großen Jucunda ja nicht gehabt zu +haben! Und für das bißchen Ehre auch noch totgeschossen +zu werden — nein, das wollen wir doch mal sehen, ob +wir das nicht hintertreiben können. Aber dazu brauchen +wir ja wohl nicht die große Jucunda — das können wir +uns schließlich auch allein verdienen ...</p> + +<p>»Verzeih, liebe Jucunda,« sagte sie. »Ich habe mir +eingebildet, Du hättest was übrig für Hans Thumser, +da habe ich mich also anscheinend geirrt. Nun dann +freilich —«</p> + +<p>»Allerdings, mein Kind, da hast Du Dich geirrt. Vielleicht +erinnerst Du Dich daran, daß Herr Thumser zwanzig +Jahr und ein Student ist. Es mag ja Kolleginnen geben, +die sich aus derartig — ungaren jungen Herren was +machen. Ich für meine Person — ich lege auf derartige +Bekanntschaften keinen Wert.«</p> + +<p>Ach so, die Großartige willst du spielen! Na warte —!</p> + +<p>»Wenigstens nicht, wenn's ein x-beliebiger Bürgerlicher +ist, willst Du sagen, nicht wahr? Wenn's freilich ein Prinz +wäre — das ist was andres, gelt, Jucunderl, denn kann +er so ungar sein wie er will, hab' ich recht?«</p> + +<p>Da fuhr Jucunda Buchner so heftig in die Höhe, daß +Asta Thöny unwillkürlich aufstand und einen halben +Schritt zurückwich. Die schönen Hände krallten sich, das +majestätische Gesicht verzerrte sich zum Ausdruck einer +Medusa, die stahlblauen Augen funkelten Wut gleich den +Lichtern einer gereizten Katze:</p> + +<p>»Was fällt Dir ein, was erlaubst Du Dir?!« Doch +rasch glätteten sich ihre Züge zum Ausdruck eiskalter Verachtung, +sanken die schönen Schultern nachlässig in die +Kissen zurück, und mit einer Handbewegung, gleich jener, +mit der eine Königin eine unbotmäßige Kammerfrau entläßt, +befahl sie:</p> + +<p>»Verlassen Sie mein Zimmer, mein Fräulein!«</p> + +<p>Asta Thöny lächelte ihr boshaftes Spitzbubenlächeln. +Sie sank in einem tiefen Hofknix zusammen:</p> + +<p>»Zu Befehl, Frau Marquise, wünsche gute Karriere.« +Und schon war sie hinaus.</p> + +<p>Während sie die Katharinenstraße hinunterschritt und +den Marktplatz überquerte, dessen Schneedecke grell im +duftumschleierten Lichte des frühen Wintermorgens +gleißte, fühlte sie sich fast erstickt von der Seligkeit, die +verhaßte Rivalin einmal bis aufs Blut geärgert zu haben.</p> + +<p>So eine Hundeschnauze! so eine eiskalte! Tut, als hätte +sie keine Ahnung, daß sie es doch allein ist, die all den +Unfug angestiftet hat in den Brauseköpfen hüben und +drüben — Gott! und wer weiß, was für Dummheiten sie +sonst noch alles auf dem Gewissen hat! Ist nicht dies +ganze Nest wie verrückt nach ihr? Aber das ist das Blödsinnige +an dem Ruhm: hat unsereins sich erst mal durchgesetzt, +dann liegt die Welt vor ihr auf dem Bauch, und +das verrückte Mannsvolk bringt sich um für das Glück, +von ihr mit Füßen getreten zu werden ...</p> + +<p>Aber jetzt — jetzt ist sie wild. Jetzt faucht sie zu +Hause, jetzt hat sie einmal gespürt, daß auch noch andere +Katzen Krallen haben —!</p> + +<p>Aber schau — wer war denn das? Da kamen aus der +Kleinen Fleischergasse zwei grüne Mützen heraus, zwei +Franken-Korpsburschen, sehr feierlich. Der eine, der +ältere, trug den Paletot nachlässig geöffnet, und man sah +darunter den bis hoch hinauf zugeknöpften Bratenrock ... +Handschuhe trugen sie, gestreifte Hosen und Gummigaloschen. +Der ältere, den kannte sie, den hatte ihr Hans +einmal von ihrem Fenster aus gezeigt, es war Volkner, +der jetzige Häuptling des Frankenbundes. Ingrimmigen +Ernst auf den jungen Gesichtern, steuerten die zwei über +den Marktplatz, bogen in die Katharinenstraße und verschwanden +in der Tür, die sie selber soeben verlassen.</p> + +<p>O Gott — sie wußte, was die zwei zu suchen hatten +bei Valentin Pilgram da droben ... sie wußte: die sollten +ihm Hans Thumsers Forderung überbringen ... das +waren die Kartellträger ...</p> + +<p>Daß Hans Thumser kein Glück gehabt bei Jucunda ... +und daß sie selber es der verhaßten Rivalin einmal gründlich +gegeben — über dieses doppelte Glück hatte Asta völlig +den blutigen Ernst der Situation vergessen ... Sie +wußte: Kavaliere — und waren sie auch erst seit ein paar +Semestern flügge geworden, wie die Herren Korpsstudenten +— die fackeln nicht lange mit dem Austrag +solcher Händel. Und wenn erst die Pistolen geladen sind, +dann kommt guter Rat zu spät ... und dabei mußte sie +ja doch in die Probe. Morgen abend war ja Abschiedsvorstellung +— »Wallensteins Tod« — und wenn sie auch +nur ein winziges Röllchen hatte, das Fräulein von Neubrunn, +Theklas Gesellschafterin und Vertraute — die +Probe versäumen, das hätte sie sich doch nicht getraut. +Der stramme Pflichtgeist, der das Meininger Ensemble beseelte, +ließ einen solchen Gedanken selbst in höchster Not +niemals aufkommen. Schon dreiviertel zehn, also höchste +Zeit! Asta sprang in eine Droschke, befahl »Zum Carolatheater!« +und drückte sich fröstelnd in den verschlissenen +Plüsch. All ihr Uebermut war verweht. Was auf den +starren, korrekten Amtsgesichtern der zwei jungen Gesellen +da gestanden hatte, das legte sich wie eisig umklammernde +Knochenfinger um ihr Herz.</p> + +<p>Die zwei suchten Pilgram ... und wenn er jetzt noch +nicht daheim war, er würde kommen, sie würden ihn +finden, würden ihre Botschaft ausrichten ... Und dahinter +lauerte ein Schreckensbild: das Bild einer tiefverschneiten +Waldblöße, die in unberührter, weiter Fläche +daliegt im ersten Morgenschein ... Nun rollen von hüben +und drüben zwei Wagen heran, lautlos ... ein paar junge +Männer entsteigen ihnen, rüsten sich zu geheimnisvoll +grausigem Tun — nun treten sie alle rechts und links zur +Seite, und zweie nur bleiben inmitten stehen, wenige +Schritte nur voneinander, sie heben blitzende Läufe — +einer zielt nach des andern Herzen ... und der eine von +ihnen heißt Hans Thumser ...</p> + +<p>Was tun? o Gott, was tun?!</p> + +<p>Da, ein rettender Gedanke: Franz Burg ... der war +doch einmal akademischer Bürger ... Wenn einer der +Meininger nicht mehr ein noch aus wußte, ging er ja +immer zu Franz Burg ...</p> + +<p>Ja, das war's! Franz Burg mußte Rat schaffen. +Aber wie den Gestrengen erreichen? Wenn sie auf die +Bühne kam, würde die Generalprobe bereits begonnen +haben — und bis die beendigt war, durfte man dem +Szenenleiter mit nichts anderm kommen, aber auch mit +gar nichts. Solange gehörte er nur seinem Werk. Und +jeder Versuch, ihn mit andern Dingen zu befassen, würde +höchstens eine erstaunliche Grobheit eingetragen haben.</p> + +<p>Und darüber würde es drei Uhr werden ... Gott, +was konnte inzwischen alles geschehen! So lange war man +machtlos, war man im Dienst ... war man »Fräulein +von Neubrunn, Hofdame der Prinzessin«.</p> + +<p>Und die Prinzessin? — Selbstverständlich Jucunda +Buchner ... die große Jucunda ...</p> + +<p class="start-chapD space-above">Drei Uhr nachmittags.<br /> +Auf der Kneipe des Korps Misnia tagte das S. C. +Ehrengericht zur Entscheidung über die hängende Pistolenforderung +des Korpsburschen eines wohllöblichen C. C. +der Franconia Thumser wider den früheren C. B. +Pilgram.</p> + +<p>Der Kneipsaal, sonst nur »zu den festlichen Gelagen« +bestimmt, war nun zu verhängnisschwerer Tagung eingerichtet. +An den hufeisenförmigen Tischen saßen die +Ehrenrichter, je zwei von jedem der fünf Leipziger Korps, +und von dem präsidierenden Korps Misnia noch ein dritter +Korpsbursch als Protokollführer.</p> + +<p>Wie um das feierlich Eindrucksvolle des Femgerichts +zu unterstreichen, waren die Schlagläden heruntergelassen, +und die gelben Flammen der Gaslichtkrone warfen +zuckende Reflexe auf die bunten Mützen, die dreifarbenen +Bänder, die blinkenden Scheiben der Klemmer und +Monokels, die schmißdurchsetzten Jugendwangen, die in +feierlich offizielle Falten gelegt waren.</p> + +<p>Hans Thumser, als der Beleidigte, wurde zuerst gehört.</p> + +<p>Mit knappen Worten berichtete er den Vorfall, der sich +am gestrigen Abend auf der Kneipe seines Korps zugetragen. +Als er geendet, fragte der Vorsitzende, Graf +Schmettow, der Erste der Meißner, ein über die Maßen +patenter, hagerer Gesell, dessen linke Wange eine furchtbare +Säbelnarbe von der Schläfe über den Mundwinkel +bis ins Kinn hinein durchzog:</p> + +<p>»Danke, Herr Thumser. Ihre Erzählung ist natürlich +so, wie sie da vorgetragen worden ist ... äh ... nicht +so recht verständlich ... offenbar ist doch zwischen Ihnen +beiden ... äh ... noch irgend etwas andres vorgekommen +...? Wollen Sie uns auch darüber Auskunft geben, +oder wünschen Sie, daß zunächst sich Ihr Herr Gegner ... +äh ... über den von Ihnen vorgetragenen Tatbestand +erklärt?«</p> + +<p>Hans Thumser sann einen Augenblick nach. Astas +Bild, Jucundas tauchte einen Augenblick vor seinem Geiste +auf. Hatte es einen Zweck, diese Erlebnisse in die Verhandlung +mit hineinzuziehen? — Es war ja schließlich +ganz gleichgültig, wie das alles geworden war ... wie +es hatte kommen können, daß der einstige Korpsbruder +ihm das Band von der Brust gerissen ... das war nun +einmal geschehen. Die Tat lag vor, nackt und unerbittlich +... Für sie hatte er Sühne zu fordern — sie zu erklären +war allenfalls des andern Sache, nicht die seine ...</p> + +<p>»Ich habe vorläufig nichts weiter mitzuteilen, Herr +Vorsitzender.«</p> + +<p>Damit war er entlassen.</p> + +<p>Und mit angespannter Neugier hingen nun die Blicke +der jugendlichen Ehrenrichter an der Reckengestalt des +Jünglings, der so lange als der Besten einer in ihrer Mitte +gestanden hatte, dessen scharfe Klinge nicht nur, dessen +scharfes Wort, dessen ganzes vorbildliches Wesen einem +jeden stets den vollkommensten Respekt abgezwungen. +Da war keiner im Leipziger S. C., der nicht den Fall Pilgram +mit brennendem Interesse, mit aufrichtiger Sympathie +verfolgt hätte. Und jeder hatte Gelegenheit gehabt +zu beobachten, wie Franconias einstiger Senior schon gar +bald nach seinem Ausscheiden aus dem Korps wie unter +der Last eines grundstürzenden Erlebnisses förmlich in +sich zusammengesunken war, verändert, verwildert, tiefster +Verbitterung anheimgefallen.</p> + +<p>Nun schien er wieder der Alte, zum mindesten in seiner +äußeren Erscheinung. Korrekt gescheitelt und gekleidet, +in tadellosem Gehrock und Lackschuhen stand er vor dem +Ehrengericht, nur um seine Brust fehlte das Band und +auf seinem Gesicht das alte trotzig-heitere Selbstbewußtsein ...</p> + +<p>»Herr Pilgram,« begann der Vorsitzende, »ich brauche +Ihnen nicht zu sagen, worum es sich handelt. Herr +Thumser Franconiae hat Ihnen eine Pistolenforderung +auf fünfzehn Schritt Barriere und Kugelwechsel bis zur +Kampfunfähigkeit übersandt wegen eines Renkontres, +das Sie mit ihm gestern abend gegen neun Uhr auf der +Frankenkneipe gehabt haben. Entsinnen Sie sich der +Ausdrücke, die Sie gebraucht haben, und ist es Ihnen +auch bewußt, daß Sie ihm das Korpsband von der Brust +gerissen, dann zum Schlage ausgeholt haben, und nur +durch das Dazwischentreten der Herren Korpsbrüder des +Herrn Thumser verhindert worden sind, Herrn Thumser +noch weiter tätlich anzugreifen?«</p> + +<p>»Allerdings,« erklärte Pilgram ruhig. »Ich entsinne +mich des Vorfalls genau. Ich war vollständig Herr +meiner Sinne und übernehme für meine Handlungsweise +die volle Verantwortung.«</p> + +<p>»Sie sind also bereit, Herrn Thumser die standesübliche +Genugtuung mit der Waffe zu geben? Und haben +andrerseits nicht die Absicht, irgendwelche andere Formen +der Sühne in Vorschlag zu bringen?«</p> + +<p>»Nein!« sagte Valentin Pilgram.</p> + +<p>Einer der Ehrenrichter bat ums Wort. Herr ten +Brink, der Erste Chargierte der Guestphalia, ein langer, +semmelblonder, sommersprossiger Sohn der roten Erde.</p> + +<p>»Es ist mir was aufgefallen in der Erzählung des +Herrn Thumser,« sagte er. »Herr Thumser hat erzählt, +Sie hätten ihm einen Brief zu lesen gegeben, dessen Inhalt +ihm vollständig unbekannt gewesen sei. Wollen Sie sich +über diesen Punkt vielleicht auslassen?«</p> + +<p>»Darf ich mir die Frage gestatten, Herr Vorsitzender,« +erwiderte Pilgram, »ob Herr Thumser über diesen Punkt +bereits nähere Erklärungen gegeben hat?«</p> + +<p>»Nein!« sagte Graf Schmettow. »Wir haben vorläufig +darauf verzichtet, uns überhaupt mit der Frage +zu beschäftigen, was für ... äh ... Motive hinter dem ... +Renkontre vorhanden gewesen sein mögen.«</p> + +<p>»Dann —« sagte Valentin Pilgram, »dann würde ich +für meine Person vorziehen, diese Seite der Sache ebenfalls +unerörtert zu lassen, vorausgesetzt, daß ein hohes +Ehrengericht nicht seinerseits darauf besteht.«</p> + +<p>»Ich verstehe,« sagte der Vorsitzende. »Die Herren +scheinen also einig darüber zu sein, daß der Tatbestand +der Beleidigungen lediglich an und für sich hier zum +Gegenstand der Verhandlung gemacht werden soll, ohne +daß auf ihre Veranlassung weiter einzugehen sein würde +— aus Gründen der Diskretion vermutlich, nicht wahr?«</p> + +<p>Pilgram nickte stumm.</p> + +<p>»Wenn ich recht verstehe,« fuhr der Vorsitzende fort, +»so stellen die beiden Herren Gegner sonach den Sachverhalt +übereinstimmend dar. Danach würde wohl eine +Vernehmung von Zeugen und jede weitere Aufklärung +des Sachverhalts erübrigen, nicht wahr, meine Herren?!«</p> + +<p>Zustimmend nickten die Ehrenrichter, und der Vorsitzende +entließ den Beleidiger.</p> + +<p>Die Beratung war nur kurz. Der Fall lag ganz klar: +es handelte sich um eine tätliche Beleidigung, die zur +Ausführung gekommen war, und um eine solche, deren +Ausführung nur durch das Eingreifen Dritter verhindert +worden war. Die erstere, das Abreißen des Korpsbandes, +kam an Schwere der zweiten, vereitelten mindestens gleich. +Neben diesen Realinjurien spielen die vorgefallenen wörtlichen +Beleidigungen nur eine nebensächliche Rolle. Der +Beleidiger hatte zugegeben, bei klarem Verstande und +wohlüberlegt vorgegangen zu sein. Unter diesen Umständen +war es vollkommen klar, daß die Forderung genehmigt +werden mußte, und zwar ohne daß ein Anlaß +vorlag, die sehr scharfen Bedingungen zu ermäßigen.</p> + +<p>Schon neigte sich die Verhandlung ihrem Ende, da +erbat Herr ten Brink Guestphaliae Erster noch einmal +das Wort:</p> + +<p>»Ich weiß nicht, meine Herren, die Sache kommt mir +eigentlich ein bißchen merkwürdig vor. Die Geschichte +mit dem Brief will mir nicht aus dem Kopf, ich habe das +Gefühl, da steckt ein Mißverständnis hinter. Ich meine, +das Ehrengericht ist doch schließlich nicht bloß dazu da, +über eine Forderung zu entscheiden — ich meine, unter +Umständen wäre es doch unsere verdammte Pflicht und +Schuldigkeit, Mißverständnisse aufzuklären ... kurz, +zwischen den Parteien zu vermitteln. Ich meine, wir +sollten in diesem Fall doch ein wenig genauer auf die +Vorgeschichte des Renkontres eingehen. Um so mehr, als +meines Erinnerns Herr Thumser geäußert hat, der fragliche +Brief sei von einer Dame geschrieben gewesen. Na, +meine Herren, wir wissen doch alle, wenn die Weiber in +so 'ne Affäre hineinspielen, dann ist es meistens halb +so schlimm.«</p> + +<p>Ein kurzes, verständnisinniges Schmunzeln auf allen +Gesichtern, das aber schnell der gewohnten, feierlichen +Korrektheit wich. Der Vorsitzende meinte:</p> + +<p>»Ich halte uns nicht für befugt, in die persönlichen +Angelegenheiten der Kontrahenten einzudringen, wenn +diese nicht selbst Wert darauf legen. Ich glaube — der +Versuch einer Vermittlung zwischen den Herren würde ... +äh ... eine Ueberschreitung unserer Kompetenz sein ... +und zugleich ein Eingriff in die Verfügungsfreiheit der +Herren, den sie sich nicht gefallen zu lassen brauchten. +Aber ich weiß nicht, wie die anderen Herren darüber +denken? Bitte sich zu äußern!«</p> + +<p>Es stellte sich heraus, daß ten Brink mit seiner Auffassung +ganz allein stand. So wurde denn die Forderung +mit den Stimmen aller Ehrenrichter gegen die seinige +genehmigt und dies den beiden Parteien mitgeteilt.</p> + +<p>Das Schicksal war gefallen.</p> + +<p>Gleich nach dem Ehrengericht traten die Sekundanten +der beiden Parteien zusammen. Volkner für Thumser +und Herr Borgmann Neo-Borussiae Erster für Pilgram. +Sie verabredeten als Platz für das Duell die Heiderwiese, +eine Waldlichtung im Ratsholz, südwestlich von Connewitz, +unfern des linken Pleißeufers, am Reitwege nach +Gautzsch, und als Zeit für die Austragung punkt sechs +Uhr am folgenden Morgen.</p> + +<p>Hiervon benachrichtigten sie ausschließlich den Grafen +Schmettow und ersuchten ihn, als Senior des derzeit +präsidierenden Korps das Amt eines Unparteiischen zu +übernehmen.</p> + +<p>Dann wurden die Korpsdiener unter Hinweis +auf ihre Pflicht zu absoluter Verschwiegenheit ins +Vertrauen gezogen und angewiesen, den Pistolenkasten +instandzusetzen, Wagen zu bestellen. Den Vertrauensarzt +des S. C. in derartigen Fällen, den Sanitätsrat +Dr. Collwitz, einen Alten Herrn der Neo-Borussia, übernahm +Herr Borgmann zu bestellen.</p> + +<p>Diese Vereinbarungen hatten im Konventszimmer der +Misnia stattgefunden, welches den Herren für diesen +Zweck zur Verfügung gestellt war. Nun verabschiedete +man sich voneinander mit dem üblichen Händedruck bei +hochgehobenen, eingewinkelten Ellenbogen und zeremonieller +Verbeugung.</p> + +<p>Volkner begab sich in eine gegenüberliegende Konditorei, +in der Hans Thumser seine Mitteilungen abwartete, +und benachrichtigte ihn vom Geschehenen.</p> + +<p>Das alles geschah in kurzen, formelhaften Wendungen. +Kein Wort wurde gesprochen zwischen den beiden jungen +Leuten, das über das sachlich absolut Notwendige hinausging. +Jeder mußte die letzte Kraft aufwenden, Haltung +zu bewahren angesichts des Grauens, das von diesem +Unabwendbaren ausging, von diesem Unabwendbaren, +das nun herankroch mit dem schleichenden Schritt der +Sekunden und Minuten; das sich vollenden mußte, bevor +es abermals Tag geworden.</p> + +<p class="start-chapI space-above">Nach Schluß der Probe mußte Asta lange warten, +bevor sie den Oberregisseur für sich allein bekam. +Tausend Geschäfte, tausend Bitten drängten sich noch an +ihn heran. Schließlich wurde es ihm zu toll:</p> + +<p>»Kinder, ich bin auch nur ein Mensch und muß heut +abend den Wallenstein spielen. Jetzt schert Euch gefälligst +alle zum Teufel! Ich will schlafen.«</p> + +<p>Asta schoß hinter ihm drein.</p> + +<p>»Meister, eine Bitte, Sie müssen mich anhören, es +geht um Tod und Leben!«</p> + +<p>»Und wenn's um sechsundzwanzig Paar Regensburger +Würschte geht, ich kann nicht mehr.«</p> + +<p>»Helfen Sie mir, Meister, oder soll ich hier auf dem +Korridor einen Kniefall tun?«</p> + +<p>»Nützt Ihnen auch nichts, kommt alle Tage vor. Lassen +Sie mich in Frieden!«</p> + +<p>Asta brach in Tränen aus und hängte sich an des +Davonhastenden Arm.</p> + +<p>»Pah!« brummte der, »auch noch flennen! nützt Dir +auch nichts, kommt auch alle Tage vor!«</p> + +<p>Aber er schüttelte sie doch nicht ab, als sie sich an seinen +Arm hing und das feuchte Gesichtchen an seiner Schulter +barg — als sie sich hinter ihm in seine Garderobe drängte.</p> + +<p>»Also in drei Teufels Namen, was gibt's? Aber kurz, +bitte!«</p> + +<p>Er ließ seine lange Gestalt mit einem Grunzen halb +des Grimms, halb des Behagens auf das schminkfleckige +Sofa fallen. Wies der Besucherin mit Handwink den +Frisierstuhl als Sitzgelegenheit. Asta drehte den Stuhl +herum, hockte auf seiner vordersten Kante, erzählte stockend, +befangen, verwirrt ...</p> + +<p>Als sie schwieg, tippte Franz Burg mit dem Mittelfinger +der Rechten auf seine Brust und zuckte ein paarmal +langsam die Schultern. Seine Brauen waren hochgezogen, +um die schmalen Lippen spielte in tausend Fältchen ein +Mephistoschmunzeln.</p> + +<p>»Sie sollen mir raten, was ich tun soll, Meister!«</p> + +<p>»Ja, Kindchen, soweit ich aus der Geschichte klug geworden +bin, handelt es sich also um zwei Studenten, und +einer von ihnen ist momentan Quartiergast in dem Kämmerchen +da drüben unter Ihrem Pelzjackett, das freilich, +soviel mir bekannt ist, häufig seinen Mieter wechselt. +Aber, wat sall ick dorbi dauhn?«</p> + +<p>»Einen Rat — einen Rat will ich, lieber Herr Burg. +Sie sind doch Student gewesen — was fängt man nur +an, um die zwei wieder auseinanderzukriegen? Was soll +ich tun, sagen Sie mir, was soll ich tun?!«</p> + +<p>»Die Karre laufen lassen, wie sie laufen will! Ich +bitt' Sie — die jungen Leute müssen doch was erleben ... +Sehen Sie sich doch um in der Welt! da geht ja heute +alles so verflucht ehrbar, korrekt und vorschriftsmäßig zu, +es passiert nichts — und passieren muß doch was in der +Welt ... wovon sollen wir denn sonst leben, wir armen +Komödianten, und die Poeten, die für uns Komödie +schreiben! Ist ja 'n wahrer Segen, daß wenigstens auf +deutschen Hochschulen noch manchmal 'n bißchen gerauft +und geknallt wird. Ich freue mich immer, wenn ich sehe, +daß noch Leidenschaft in der Jugend drin steckt ... daß +noch Tragödien passieren. Das wäre ja doch ein wahrer +Jammer, wenn man so was hintertreiben wollte.«</p> + +<p>»Aber wenn nun ein Menschenleben dabei zugrunde +ginge, bedenken Sie doch, Meister! So ein blühendes, +herziges, junges Studentenleben!«</p> + +<p>»Na — wenn schon!« knurrte Burg, »Studenten gibt's +doch weiß Gott genug auf der Welt. Eine große Sensation +... eine — na, einen Stoff — das ist wahrhaftig +so'n Allerweltsstudentenleben wert!«</p> + +<p>»Herr Burg, Sie sagen Allerweltsstudentenleben ... +das stimmt hier aber nicht; der eine, das ist kein Allerweltsstudent, +das ist was ganz Besonderes —«</p> + +<p>»Der eine? Also <em class="gesperrt">Ihrer</em> selbstverständlich, nicht +wahr?«</p> + +<p>»Gott ja, meiner, wenn Sie wollen.«</p> + +<p>»Nun, was ist denn so Besonderes an ihm?!«</p> + +<p>»Er ist ein Dichter! Ach, so wundervolle Gedichte +macht er. Wenn ich doch nur eins bei mir hätt'!«</p> + +<p>»Sieh, sieh!« schmunzelte der Oberregisseur. »Also +ein zukünftiger Bühnenlieferant. Na, dann soll er sich +erst recht schießen!«</p> + +<p>»Aber Herr Burg ... um Gottes willen!«</p> + +<p>»Ja gewiß soll er. Entweder er geht drauf — na, in +Gottes Namen: er ist der erste nicht. Wie mancher Homer +ist blind geworden, <em class="gesperrt">ehe</em> er Zeit gehabt hat, die Welt, +das Leben so tief in sich hineinzusaugen wie der alte +Griechenbarde ... Wie mancher Aeschylos mag in der +Seeschlacht gefallen sein, wie mancher Schiller auf der +Karlsschule in Verzweiflung und Verblödung hineingeknutet +... Das ist Kismet ... Wenn er aber übrig +bleibt, glauben Sie nicht, daß er dann ein ganz andrer +Kerl ist wie vorher, wenn er mal dem Tode ganz nahe +ins Gesicht gesehen hat? Glauben Sie nicht, daß er Ihnen +nachher noch viel schönere Verse machen wird; daß er noch +'ne ganz andere Nummer von Tragödie zustandebringt, +wenn er erst mal erlebt hat, wie einem zumute ist, der die +Nase hinhalten muß, wenn's drüben blitzt und knallt?«</p> + +<p>Asta sprang auf, rannte schluchzend zum Fenster.</p> + +<p>»Das ist entsetzlich, Herr Burg, das ist grausam!«</p> + +<p>»Ne, das ist klug, das ist weise, Kindchen!«</p> + +<p>»Also gut!« schrie die Kleine, warf sich herum, stand +mit geballten Fäusten vor dem Oberregisseur, das reizende +Gesicht von Grimm und Haß verzehrt. »Also gut! Sie +sollen sich schießen ... einer soll auf dem Platze bleiben, +alle beide — was kommt dabei heraus?! Nur eine neue +Reklame für sie, für die große Jucunda! Was wird's +heißen? Zwei Studenten haben sich geschossen ... wegen +ihr, wegen Jucunda Buchner! Das ist's ja auch, was +sie will, darauf hat sie's ja auch angelegt mit allem +Raffinement, die Katze, die verdammte! Der ist's recht, +wenn ein paar so fesche junge Kerle zum Teufel gehen +ihretwegen — das paßt ihr grad in ihren Kram, dem +hundeschnauzenkalten Weibsbild, das an nichts denkt — +nur an sich, nur an sich!«</p> + +<p>»Ach so!« lächelte Franz Burg. »Da zielt's hinaus! +Mag sein, Sie haben recht, Kindchen ... Vielleicht ist +unsere große Jucunda wirklich eine ganz haarsträubende +Egoistin — aber ich wollte zu Ihrem Besten, Kleine, Sie +selber wären's auch. Wenn Sie das erfreuliche +Temperament, das Sie anscheinend im Leben besitzen, +ein bißchen mehr zusammenhielten und auf Ihre Kunst +losließen, statt auf Ihre ... auf die Mieter Ihres Herzenskämmerleins +— glauben Sie mir, Sie wären eine größere +Künstlerin, als Sie's leider sind. Sagen Sie mir nichts +gegen die Jucunda, die ist ganz gut so wie sie ist. Die +ist, was Sie nicht sind: eine Komödiantin. Die fühlt +und weiß, wozu sie auf der Welt ist: nämlich zum +Komödienspielen! Lieben und sich lieben lassen — schöne +Sache, o ja, für die andern, für die Alltagsweiber — aber +nicht für Euch. Zusammenhalten sollt Ihr Eure +Glut, kalt wie Hundeschnauzen sollt Ihr meinetwegen sein +im Leben, wenn Ihr nur abends, sobald der Lappen in +die Höhe fliegt, Vulkane seid, wie die Jucunda einer ist! — +Na, haben Sie noch weiter Schmerzen, Kleine?«</p> + +<p>Gesenkten Blickes, mit zuckendem Kinn hatte Asta die +Standrede des Meisters über sich ergehen lassen. Nun +warf sie den Kopf trotzig in den Nacken, stampfte mit +dem Fuß auf:</p> + +<p>»Ich will aber nicht, ich will nicht, daß der lange +Pilgram mir meinen süßen Jungen totschießt! Wollen +Sie mir helfen, wollen Sie mir einen vernünftigen Rat +geben?! Oder soll ich meiner Wege gehen?«</p> + +<p>»Hm ... also das sage ich Ihnen, Astachen, gehen +Sie weg vom Theater, aus Ihnen wird niemals was. — +Also, wenn's denn absolut sein muß, die Sache ist doch +entsetzlich einfach: Wenn Studenten Dummheiten machen, +dann steckt man sich hinter ihre Eltern. Leben die +respektiven Herren Väter noch?«</p> + +<p>»Beide, soviel ich weiß.«</p> + +<p>»Na also, und wo wohnen sie denn, die würdigen +Erzeuger der beiden Hitzschädel?«</p> + +<p>»Der eine wohnt da hinten im Rheinland irgendwo, +soviel ich weiß.«</p> + +<p>»Welcher? Ihr moralischer Schwiegerpapa oder der +andere?«</p> + +<p>»Nein, der <em class="gesperrt">eine</em>,« sagte Asta, und das alte Schelmenlächeln +blitzte durch Grimm und Tränchen wieder hindurch.</p> + +<p>»Also an den wird bis morgen nicht dranzukommen +sein — und der andere?«</p> + +<p>»Der andere, der ist, soviel ich weiß, irgendein hohes +Tier in Dresden!«</p> + +<p>»Teufel, das trifft sich ja glänzend! Also, setzen Sie +sich auf die Bahn, Kindchen, und rücken Sie dem Alten — +wie heißt er? — dem alten —?«</p> + +<p>»Pilgram,« half Asta ein.</p> + +<p>»Also, rücken Sie dem alten Pilgram auf die Bude +und petzen Sie ihm, daß sein wackerer Sprößling seinen +Monatswechsel dazu mißbraucht, statt hinter seinen +Büchern zu hocken, andern jungen Leuten Löcher in den +Bauch zu schießen. Ich wette, dann entwickelt sich alles +weitere historisch.«</p> + +<p>Asta sprang auf den Oberregisseur zu, der noch immer +langhingestreckt auf dem schminkfleckigen Sofa lag, fiel +ihm um den Hals und küßte ihn stürmisch.</p> + +<p>»Ach, Franzel, Sie sind doch der Allerbeste! Das +wird gemacht, das ist die Rettung!«</p> + +<p>»Aber bitte, erst nach dem 'Lager' — die kleine Oerzen +ist krank geworden. Sie spielen heut abend die Gustel +von Blasewitz. Nachher reisen Sie meinetwegen, wohin +Sie wollen.«</p> + +<p>»Ich danke Ihnen, oh, ich danke Ihnen tausendmal, +Sie Goldiger!«</p> + +<p>»Es ist ein Skandal,« knurrte Franz Burg. »Da hat +unser Herrgott endlich mal wieder eine richtiggehende +Tragödie angelegt, und so ein dummes, kleines Gör +zerreißt ihm das Konzept und macht eine Posse draus!«</p> +</div> + +<div> +<h2>15.</h2> + +<p class="start-chapW">Wenige Minuten nach halb zwölf stieg Asta Thöny am +Böhmischen Bahnhof in Dresden aus dem Leipziger +Schnellzuge. Sie hatte schon in Leipzig das Dresdener +Adreßbuch eingesehen und festgestellt, daß der Senatspräsident +am Oberlandesgericht Heinrich Pilgram in der +Marschallstraße Nummer zweiundzwanzig wohnte.</p> + +<p>In dem milderen Klima der Residenzstadt war der +Neuschnee des gestrigen Tages schon geschmolzen und hatte +das Pflaster mit einer zähen Schlammkruste überzogen. +In den Straßen war schon alles Leben erstorben. Trübselig +spiegelte sich der Schein der Straßenlaternen in den +Kotlachen der überschwemmten Rinnsteine. Trübselig +klapperte der Gaul durch die physiognomielosen Straßen +der Vorstadt und durch die kaum angebauten Alleen an +der Grenze der Altstadt.</p> + +<p>Eigentlich doch ein wahnsinniger Plan: um Mitternacht +einer wildfremden Familie auf die Bude zu rücken! +Aber schließlich, man hatte doch wohl alle Veranlassung, +ihr dankbar zu sein. — Endlich: da stand sie vor der Pforte +einer vierstöckigen Mietskaserne, und während der Wagen +von dannen rollte, riß sie sich schier die Hände ab in dem +Bemühen, den Portier zu alarmieren.</p> + +<p>Ein Tattergreis, der hastig Hose und Rock über sein +Nachtgewand gezogen, mit wirrem Graukopf und schlampigen +Pantoffeln empfing sie, bösartig knurrend, und war +nur durch etliche Markstücke so weit zu bezähmen, daß er +sie bei der schwankenden Beleuchtung einer schwelenden +Handlaterne bis zum dritten Stock hinaufbegleitete, wo +ein Porzellanschild mit der Aufschrift »Pilgram« an einer +breiten, mit Vorhängen abgeblendeten Glastür den Eingang +wies.</p> + +<p>Drinnen alles finster.</p> + +<p>Wahnsinnige Situation! Aber was half's! Die Klingel +schrillte, und zu Astas freudiger Ueberraschung erschien +schon nach wenigen Minuten ein verschlafenes Dienstmädchen, +das entsetzt zurückprallte, als es der fremden, +eleganten Dame ansichtig wurde.</p> + +<p>Die Herrschaften seien in Gesellschaft, würden aber +wohl bis ein Uhr wieder zurück sein ...</p> + +<p>Den unbekannten Besuch in die Wohnung einzulassen, +dazu war das Mädchen nicht zu bewegen, und so mußte +Asta unter Führung des Tattergreises abermals die drei +Stiegen hinunter, um draußen auf der ganz verlassenen +Straße in Schlamm und Tauwind auf und ab zu patrouillieren, +wie sie abends vorher im Schnee auf der +Kleinen Fleischergasse auf- und abpatrouilliert war ...</p> + +<p>Endlich nach einer Stunde Wartens nahten von der +Altstadt her vier vermummte Gestalten: ein Herr im +Zylinder, den Rockkragen hochgeschlagen, und drei Damen, +eine kugelrunde und zwei schlanke, hochgewachsene, in +Abendmänteln und Kapuzen.</p> + +<p>Im Augenblick, als der alte Herr den Schlüssel einschob, +um zu öffnen, trat Asta auf ihn zu:</p> + +<p>»Um Verzeihung! Ich habe wohl die Ehre, Herrn +Präsidenten Pilgram ...«</p> + +<p>Der alte Herr richtete sich aus seiner gebückten Stellung +auf, stand völlig verblüfft, musterte die Fragerin.</p> + +<p>Im selben Augenblick sah Asta durch goldgefaßte +Brillengläser hindurch zwei scharfe, klare Augen mit durchdringendem +Blick auf sich gerichtet.</p> + +<p>»Allerdings! Ich heiße Pilgram — Sie wünschen?!«</p> + +<p>Inzwischen waren die Damen herangekommen, starrten +völlig verblüfft und verständnislos auf die zierliche Gestalt +im silbergrauen Jackett, deren Züge ein grauer Schleier +fast ganz verbarg.</p> + +<p>»Entschuldigen Sie gütigst, Herr Präsident, könnte ich +Sie wohl einen Moment allein sprechen?«</p> + +<p>»Was für eine Angelegenheit, bitte, meine Dame? Es +ist ein Uhr!«</p> + +<p>»Eine sehr dringende Angelegenheit,« stammelte Asta, +»ich komme aus Leipzig, es handelt sich um Ihren Sohn.«</p> + +<p>Ein noch schärferer Augenblitz traf das Mädchen.</p> + +<p>»Hm ...« sagte er nur, dann bückte er sich aufs neue, +schloß auf und sagte zu seinen Damen:</p> + +<p>»Ihr seid wohl so freundlich und geht schon hinauf +solange.«</p> + +<p>Mit angstvoller Neugier musterten die drei Damen +die Fremde, aber ein scharfes: »Also bitte!« veranlaßte +sie, dem Wunsche des Familienoberhauptes Folge zu +leisten. Die Tür fiel ins Schloß.</p> + +<p>»Also zuvörderst, wer sind Sie?« fragte der alte Herr.</p> + +<p>»Ich bin die Herzoglich Meiningische Hofschauspielerin +Asta Thöny.«</p> + +<p>»Hm ... und Sie wünschen?«</p> + +<p>»Ihr Sohn Valentin wird sich morgen früh mit einem +andern Studenten schießen.«</p> + +<p>Die buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen, der +graue Fransenschnurrbart zuckte.</p> + +<p>»Und dieser andere Student ist wer?«</p> + +<p>»Ein Herr Hans Thumser.«</p> + +<p>»Hans Thumser?! Das ist ja ein Korpsbruder meines +Sohnes!«</p> + +<p>»Ihr Herr Sohn ist schon vor Wochen aus dem Korps +ausgetreten ...«</p> + +<p>»Was ist das?!«</p> + +<p>Der Präsident richtete sich straff auf:</p> + +<p>»Das müßte ich denn doch wohl wissen, mein +Fräulein!«</p> + +<p>»Es ist aber so, Herr Präsident.«</p> + +<p>»Hm ... lassen wir's zunächst einmal dahingestellt, ob +Sie recht haben. Was veranlaßt Sie, mir diese Mitteilung +zu machen?«</p> + +<p>Asta war auf diese Frage vorbereitet und hatte sich +ihre Antwort zurechtgelegt.</p> + +<p>»Ich bin ... mit Herrn Thumser ... nahe befreundet.«</p> + +<p>»Hm — mit Herrn Thumser? Sie machen mir also +Ihre Mitteilungen weniger im Interesse meines Sohnes +als vielmehr in dem des Herrn Thumser, wenn ich recht +verstanden habe?«</p> + +<p>»Nein, das doch nicht, Herr Präsident. Allerdings ... +vor allem doch wohl Herrn Thumser zuliebe ... Aber +Ihren Herrn Sohn kenne ich auch, zwar nur sehr flüchtig, +aber ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet, er hat +mich ... er hat mir gestern ... das Leben gerettet.«</p> + +<p>Der alte Herr sah das erregte Mädchen mit einem +Blick an, in dem ganz deutlich zu lesen war, er zweifle +an ihrem Verstand.</p> + +<p>»Darf ich Sie bitten, meine Gnädigste, Ihren Schleier +zu heben, damit ich sehe, wen ich eigentlich vor mir habe?!«</p> + +<p>Mit zwei raschen Bewegungen streifte Asta Thöny den +Schleier in die Höhe. Sie fühlte sich mit scharfer Prüfung +gemustert. Aber das Ergebnis mußte wohl nicht ungünstig +sein, denn erheblich liebenswürdiger als zuvor fuhr der +alte Herr fort:</p> + +<p>»Darf ich Sie bitten, mein gnädiges Fräulein, sich mit +mir hinauf in meine Wohnung zu bemühen: Sie werden +mir erzählen.«</p> + +<p>Er entzündete ein Wachsstreichholz und leuchtete dem +seltsamen Gast die Treppe hinauf. Der Hausflur war nun +hell erleuchtet. An einer halboffenen Tür drängten sich +drei weibliche Köpfe, die hastig verschwanden, als der +Präsident mit seinem Besuch eintrat. Sehr höflich nahm +er dem Gaste den Regenschirm ab und geleitete ihn in ein +dunkles Zimmer zur Rechten, entzündete zwei Gasflammen, +bat, ihn einen Moment zu entschuldigen.</p> + +<p>Einen raschen Blick warf Asta in dem Zimmer umher. +Die übliche, gutbürgerliche Einrichtung der sechziger +Jahre: Mahagonimöbel, grüner Plüschbezug, an den +Wänden ehrwürdige Familienbilder in Oel mit Darstellungen +von Priestern und Gelehrten aus den beiden +letzten Jahrhunderten. Am Fenster ein Mahagonisekretär +mit Rolljalousie, darauf zahlreiche Photographien in +Ständerrahmen, unter denen Asta sofort die eines schlanken +Studenten in Mütze und Band herauserkannte.</p> + +<p>Der Präsident kam zurück, bat, auf dem Sofa Platz +zu nehmen, und setzte sich ihr gegenüber in einen Plüschsessel. +Er hatte abgelegt. Auf der linken Brust seines +Fracks schimmerte eine blinkende Ordenreihe.</p> + +<p>Und abermals mußte Asta die Geschichte des gestrigen +Abends erzählen. Der Präsident lauschte gespannt, ohne +sie mit einem Wort, mit einer Frage zu unterbrechen. +Als sie geendet, trat er auf sie zu, streckte ihr die Hand hin:</p> + +<p>»Ich danke Ihnen, meine Gnädigste. Das war sehr +gescheit von Ihnen, daß Sie gekommen sind. Ich fahre +mit Ihnen nach Leipzig. Ich habe schon nachgesehen, um +drei Uhr vierzig fährt der Zug, um halb sechs sind wir +drüben. Darf ich Sie inzwischen meinen Damen zuführen?«</p> + +<p>»Sehr gütig, Herr Präsident. Und was wird werden, +was wollen Sie tun?«</p> + +<p>»Den beiden jungen Herren klar machen, daß ihre +Eltern sie nicht deshalb großgezogen haben, damit sie sich +untereinander als Zielscheibe benutzen.«</p> + +<p>»Aber werden wir auch nicht zu spät kommen? Wollen +Sie nicht vielleicht vorher noch ein dringliches Telegramm +an Ihren Sohn ablassen?«</p> + +<p>»Liebes Fräulein, ich war selbst einmal Student — +bin sogar Alter Herr des Korps Franconia —, wie ich die +Buben kenne, scheren sie sich in solchen Fällen den Teufel +um ein väterliches Telegramm. Im Gegenteil: wenn +sie erst wittern, daß wir ihnen auf der Spur sind, dann +kriegen wir sie morgen früh überhaupt nicht mehr zu +fassen. Um halb sechs Uhr sind wir dort, vor sechs Uhr +wird's ja überhaupt nicht hell um diese Jahreszeit; inzwischen +werden wir überlegen, was zu tun ist. Darf +ich Sie jetzt bitten, zu meiner Frau und zu meinen +Töchtern hinüberzukommen?«</p> + +<p>»Verzeihung, Herr Präsident, würden Sie es nicht für +besser halten, wenn Sie zunächst Ihre werten Damen +über den Zweck meines Besuchs aufklärten?«</p> + +<p>»Da haben Sie recht, liebes Fräulein. Wenn Sie mich +also einen Augenblick beurlauben wollen ...?«</p> + +<p>Nur wenige Minuten blieb Asta allein. Dann flogen +zwei schlanke Mädels herein, in Balltoilette, mit glühenden +Backen, glänzenden Augen, in denen die Angst um den +Bruder und dabei doch auch brennende Neugier und gespannte +Erregung standen, und stellten sich mit befangenen +Knixen vor. Achtzehn und zwanzig mochten sie sein, die +ältere dem Vater und Bruder wie aus den Augen geschnitten; +die jüngere, ein munteres, molliges Ding, das +Ebenbild der Mutter, wie sich alsbald herausstellte, als +nun auch die rundliche Frau Präsidentin auf der Bildfläche +erschien. Und alsbald saß Asta mit Valentin Pilgrams +Mutter und Schwestern unter der Hängelampe +eines altmodisch-behaglichen Speisezimmers. Man stopfte +sie mit Butterbrot und Süßigkeiten, man fragte sie aus +nach tausend Dingen, von denen sie keine Ahnung hatte.</p> + +<p>Während dessen hatte sich der Präsident entfernt, kam +nach ein paar Minuten zurück.</p> + +<p>»So, mein gnädiges Fräulein, ich habe mir die Sache +überlegt. Ich werde jetzt gleich zum nächsten Telegraphenamt +gehen und eine dringliche Depesche an die Leipziger +Polizei aufgeben. Hören Sie, was ich aufgesetzt habe:</p> + +<blockquote> + +<p>'Königl. Kreishauptmannschaft Leipzig! Morgen +früh soll dort Pistolenduell zwischen meinem Sohn +Valentin und Stud. Hans Thumser stattfinden. Ort +und Zeit unbekannt. Abreise sofort, um selbes zu verhindern. +Ankomme 5.29 dort Dresdener. Erbitte +Unterstützung, womöglich berittenen Gendarmen, am +Bahnhof. +</p> +<p class="right"> +<span style="margin-right:7em">Pilgram,</span><br /> +<span style="margin-right:1em">Senatspräsident am Oberlandesgericht.'</span> +</p> +</blockquote> + +<p>So, ich nehme an, daß man einem königlichen Beamten +meines Ranges in angemessener Weise entgegenkommen +wird. Wenn die Polizei einigermaßen ihre Pflicht und +Schuldigkeit tut, so kommen die jungen Herren morgen +früh überhaupt nicht aus ihrer Bude heraus, sondern +werden gleich mit Beschlag belegt. Sollte aber wider alles +Erwarten die Sache nicht klappen, so sind wir ja da!«</p> + +<p>»Ja, aber um Gottes willen, Herr Präsident,« meinte +Asta, »wir haben doch keine Ahnung, wo die schreckliche +Geschichte eigentlich vom Stapel gehen soll — wie wollen +Sie das denn herauskriegen?«</p> + +<p>»Ja, Papachen, wie willst Du das nur herauskriegen?« +echoten die Töchter.</p> + +<p>»Liebe Kinder, ich war doch selbst mal in dem Geschäft. +Gebt acht: Wenn man sich schlagen will, geht man +nicht zu Fuß heraus, sondern bestellt sich einen Wagen. +Wenn man aber Korpsstudent ist, so hat man für diesen +Wagen eine ganz bestimmte Bezugsquelle: das Korps +nimmt nämlich seinen Wagen immer bei ein und demselben +Fuhrwerksbesitzer, der ihm Vorzugspreise gewährt. +Den Namen aber des Wagenlieferanten der Franconia, +den kenne ich leider nur zu genau. Oder soll ich jetzt sagen: +glücklicherweise? Ich habe nämlich am Schluß des vorigen +Semesters für unseren guten Valentin noch eine ganz +erkleckliche Wagenrechnung berappen müssen ... Der +gute Mann wohnt in der Nähe des Bayrischen Bahnhofs, +an ihn also wenden wir uns zunächst und versuchen +herauszubekommen, wohin die Fahrt gehen soll.«</p> + +<p>»Aber wird er's auch verraten?« meinte Asta, »das +könnte das Korps ihn doch teuer entgelten lassen?«</p> + +<p>»Ich glaube, wenn ich mit der Polizei drohe und +darauf aufmerksam mache, daß man ihn wegen Beihilfe +zum Zweikampf mit tödlichen Waffen am Schlafittchen +kriegen könnte, dann wird er wohl mit sich reden lassen!«</p> + +<p>»Ach, Papachen, wie klug Du bist!« riefen die Töchter, +strahlend vor Entzücken über das unerwartete Abenteuer. +Himmel, wie interessant endete der Abend, der so langweilig, +ganz nach dem Schema F verlaufen war.</p> + +<p>»Nun aber müssen Sie schlafen, liebes Fräulein,« +meinte die Präsidentin, nachdem ihr Gatte sich entfernt +hatte, um das Telegramm aufzugeben. »In einer Stunde +müssen Sie schon wieder zum Bahnhof, die sollen Sie +wenigstens zur Ruhe benutzen.«</p> + +<p>Aber Asta dankte. Sie könne nachher in der Eisenbahn +noch genug schlafen, sie würde jetzt doch kein Auge +zutun. Nur Hunger habe sie noch, wenn sie's denn schon +sagen solle, und Durst auch.</p> + +<p>Und die vier Frauen schwatzten und lachten zusammen +wie alte Freundinnen ... und nur selten einmal ging's +einer von ihnen durch den Kopf, was für morgen auf dem +Spiele stand.</p> + +<p>Papachen würde schon alles machen. Wenn Papachen +eine Sache in die Hand genommen hatte, dann konnte es +ja nicht schief gehen!</p> + +<p class="start-chapA space-above">Als Asta und der Präsident fast als einzige Passagiere +dem Frühzuge entstiegen, trat ein behäbiger Herr in +einem undefinierbaren Räuberzivil auf den alten Herrn zu.</p> + +<p>»Verzeihen Sie gütigst, ich habe wohl die Ehre, Herrn +Senatspräsidenten Pilgram ... Mein Name ist Gensel, +Königlicher Kriminalkommissar. Stelle mich im Auftrage +der Kreishauptmannschaft zu Ihrer Verfügung.«</p> + +<p>»Ah, charmant, Verehrtester. Haben Sie auch einen +Gendarmen zur Hand?«</p> + +<p>»Der wartet draußen mit seinem Gaul.«</p> + +<p>»Nun, und was ist sonst geschehen?«</p> + +<p>»Ja, Herr Präsident, wir haben unser Möglichstes +getan. Wir haben sofort zwei Kriminalschutzleute zu den +Wohnungen der beiden jungen Leute geschickt und feststellen +lassen, ob sie zu Hause wären. Ihr Herr Sohn hat +seine bisherige Wohnung bei dem Kanzleirat Buchner seit +gestern ganz aufgegeben und ist ins Hotel übergesiedelt, +in welches, das wußten die Leute nicht. Und der andere, +Herr Thumser heißt er ja wohl, der ist heut nacht nicht +nach Hause gekommen.«</p> + +<p>»Teufel! Das ist scheußlich — was nun?!«</p> + +<p>»Ja, was nun, Herr Präsident? Ich weiß auch nicht, +was ich machen soll!«</p> + +<p>Der Jurist sann eine Weile nach, dann erklärte er dem +Polizeibeamten seinen Plan, durch den Fuhrwerksbesitzer +den Duellanten auf die Spur zu kommen.</p> + +<p>Der Kommissar war völlig einverstanden. Man stieg +in eine Droschke und rollte durch die hier noch immer mit +kotigem Schnee bedeckten Straßen zum Bayrischen +Bahnhof.</p> + +<p>Im trüben Laternenschein huschten hastige Fußgänger +vorüber, das Leben der großen Stadt erwachte — die +Arbeit begann.</p> + +<p>Die Herren berieten eifrig während der kurzen Fahrt. +Der Präsident im Rücksitz, der Kriminalkommissar ihm +gegenüber. Asta lehnte in ihrer Ecke, fröstelnd, übernächtig, +von Angst geschüttelt, und lauschte der halblauten +Unterhaltung der Herren.</p> + +<p>Der Gendarm war vorausgetrabt. Als man vor dem +Fuhrhof ankam, hielt er bereits an dem Portal mit dem +Geschäftsinhaber, einem grobknochigen Mann in Flausrock +und Holzpantoffeln.</p> + +<p>Schnell kletterte der Kommissar aus dem Wagen und +inquirierte sofort den Fuhrherrn:</p> + +<p>»Ist der Wagen für das Korps Franconia schon fort?«</p> + +<p>»Weeß Knebbchen, ja, Herr Kommissar, schon seit zehn +Minuten is er weg ... tut mir sähre leid.«</p> + +<p>»Und wohin geht die Fahrt?«</p> + +<p>»Das kann ich Sie nich sagen, uff mei Ehrenwort nich. +Der Wagen is bestellt für um den Herrn Volkner abzuholen, +Kleine Fleischergasse fünfe ... aber da wird er +nu ja woll ooch schon nich mehr sinn.«</p> + +<p>Der Präsident war ebenfalls ausgestiegen und fragte: +»Na, lieber Herr, Sie werden ja doch wohl eine Ahnung +haben, wohin es geht?! Wo fahren denn die jungen +Herren gewöhnlich hin, wenn sie was Besonderes vorhaben, +he?!«</p> + +<p>»Nu, mei gutester Herr, wenn ich's ehrlich sagen soll, +gewehnlich machen se doch so was im Ratsholz ab, un +da gibt's eigentlich nur een' Weg: Kaiser-Wilhelm-Straße +'runter, dann Kaiserin-Augusta-Straße, am alten Wasserwerk +vorbei und ins Streitholz hinein. Freilich, was für +ä Plätzchen se sich dasmal haben ausgesucht, davon habe +ich Sie natierlich de leiseste Ahnung nich, mei gutester +Herr.«</p> + +<p>»Also, Herr Robolski,« sagte der Kriminalkommissar, +»ich mache Sie darauf aufmerksam: Wenn sich's herausstellt, +daß Sie uns nicht die reine Wahrheit gesagt haben, +dann krieg' ich Sie bei die Hammelbeene, verstehen Sie +mich?!«</p> + +<p>»Mein Ehrenwort,« sagte der Fuhrherr, »mein +heiligstes Ehrenwort, Herr Kommissar, das, was ich gesagt +habe, ist alles, was ich weeß.«</p> + +<p>»Schön! Also, Gendarm Mehlhorn, Sie haben gehört: +sitzen Sie auf, traben Sie was haste was kannste nach +dem Streitholz. Wir kommen nach. Sie reiten bis zum +Schnittpunkt der 'Neuen Linie' und der 'Linie', meinetwegen +auch die 'Linie' hinauf, bis zum Flußgraben, dann +zurück bis zum Wegekreuz, dort warten! Merken Sie +inzwischen was von den Duellanten, so greifen Sie selbständig +ein, verstanden?!«</p> + +<p>»Zu Befehl, Herr Kommissar!« sagte Mehlhorn dienstlich, +schwang sich auf seinen Braunen und klapperte die +Bayrische Straße hinunter.</p> + +<p>Die beiden anderen Herren verabschiedeten sich mit +flüchtigem Gruß und Dank von dem Fuhrwerksbesitzer, +wiesen den Kutscher an, hinter dem Gendarmen drein zu +fahren, stiegen ein, und die Gäule zogen an.</p> + +<p>Die drei im Wagen schwiegen und sannen.</p> + +<p>Vom Bayrischen Bahnhof blinkten grelle Signallichter, +schrillten Lokomotivenpfiffe, ratterten mit dumpfen +Stößen ausfahrende Züge über die Schienen. Drüber +stand schon heller Tagesglast. Auf der matt erleuchteten +Kreisscheibe der Bahnhofsuhr standen die beiden Zeiger +in einer geraden, senkrechten Linie ...</p> + +<p>O Gott, wenn man zu spät kam! Es konnte sich ja +nur um Minuten handeln.</p> +</div> + +<div> +<h2>16.</h2> + +<p class="start-chapI">Hans Thumser erwachte. Oben an der Decke war irgend +etwas, das blendete ihn. Mit verschlafenen Augen +blinzelte er hinauf und sah, daß es Laternenschein war, +der, von drunten herauffallend, das Lichtbild eines +Fensters auf die weiße Tünche zeichnete. Teufel ja, wo +kam das denn her? Das war sonst doch nicht so?!</p> + +<p>Mit einem Mal fiel's ihm ein: er war ja gar nicht in +seinem eigenen Zimmer, lag nicht in seinem Bett ... +aber wo nur? Richtig, er war ja doch auf Volkners Bude +— aber warum nur, was war denn eigentlich los?</p> + +<p>Mit einemmal krampfte sich sein Herz zusammen in +siedendem Schreck: o Gott, morgen früh —!</p> + +<p>Eigentlich doch eine sehr vernünftige Idee von Volkner, +ihn nicht allein zu lassen in dieser Nacht, in dieser vielleicht +... letzten Nacht. Und auch sonst war alles sehr vernünftig +gewesen, was der Senior gesagt und geraten:</p> + +<p>»Weißt Du, Thumser, vor einer solchen Affäre ist das +einzig Richtige, sich so zu betragen, als sei gar nichts Besonderes +los. Um Gottes willen, bloß sich nicht hinsetzen +und ein halbes Dutzend Abschiedsbriefe schreiben: an die +Eltern, an den Schatz, an die Erbtante, und wer weiß +an wen sonst noch. Das hat ja gar keinen Zweck. — +Mein Gott, so'n bißchen Knallerei! Ja, wenn Du jedesmal +Dein Testament machen wolltest, wenn Du Dich in +Lebensgefahr begibst, dann müßtest Du es von Rechts +wegen machen, so oft Du vor die Tür gehst! Ueberall kann +Dir ein Dachziegel auf den Schädel fallen. Und wenn +Du in Deiner Bude und im Bette bleibst, kann schließlich +die Decke einstürzen ...«</p> + +<p>Des Korpsbruders rheinischer Leichtsinn hatte Hans +Thumser über die Abendstunden hinweggeholfen. Man +war auf der Kneipe gewesen, hatte Quodlibet gespielt und +den blödesten Bierulk betrieben. Dann hatte Volkner ihn +mit auf seine Bude geschleift, ihm großmütig sein Bett +abgetreten und sich dann selber auf dem Kanapee einlogiert. +Von dort herüber drang jetzt sein melodisches +Schnarchen. Na ja, der hatte gut schnarchen!</p> + +<p>Vorher aber, vor dem Einschlafen, hatten die zwei +noch einen besonderen Trall ausgeheckt: Volkner hatte +seine Geige genommen, und beide waren sie vor die +Kammertür von Volkners bejahrter Hauswirtin gezogen +und hatten ihr ein Ständchen gebracht, indem sie zu sanft +hinschmelzender Violinbegleitung das schöne Lied gesungen +hatten:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">Seh ich ein Haus von weitem,<br /></span> +<span class="i0">Wo ein lieb Mädel träumt,<br /></span> +<span class="i0">Sing ich zu allen Zeiten<br /></span> +<span class="i0">Ein Lied ihr ungesäumt.<br /></span> +<span class="i0">Und wird's im Fenster helle,<br /></span> +<span class="i0">Sei es auch noch so spat:<br /></span> +<span class="i0">So weiß ich auf der Stelle<br /></span> +<span class="i0">Wieviel's geschlagen hat.<br /></span> +</div></div> + +<p>Erst als die Pantoffeln der Alten von drinnen gegen +die Tür knallten, hatten sie Ruhe gegeben und waren +dann beide auch sofort eingeschlafen.</p> + +<p>Volkners Bude befand sich im ersten Stock des Hauses, +das an der Kleinen Fleischergasse dem Cafébaum direkt +gegenüber lag. Und der Lichtschein der Laterne, die neben +dem Eingang des Restaurants stand, war es, der Hans +Thumser geweckt hatte. Er tastete nach seiner Taschenuhr +und stellte im matten Reflex des Deckenlichts fest, daß es +zwei Uhr war.</p> + +<p>Auf halb fünf war der Korpsdiener zum Wecken, auf +viertel sechs der Wagen bestellt. Um viertel sieben sollte +der erste Schuß fallen ... also noch zwei und eine halbe +Stunde Schlaf und vielleicht noch vier und eine viertel +Stunde zu leben ...</p> + +<p>Die ganze vorige Nacht hindurch hatte Hans Thumser +wie ein Sack geschlafen. Die nötige Bettschwere hatte er +sich ja schon vor dem Zusammenstoß mit Pilgram angezecht. +Der gestrige Tag war in beständiger Unrast +hingegangen, und so kam jetzt in nächtlicher Stille zum +erstenmal Ordnung in den Wirrwarr der Gedanken, +die um das Schicksal der kommenden Morgenstunde +flatterten.</p> + +<p>Also sterben vielleicht ... und warum denn eigentlich? +Nun, die Antwort war sehr einfach: Ein anderer war +Hansens Ehre zu nahe getreten, hatte ihn tätlich aufs +schwerste beleidigt, dafür galt es eben die standesübliche +Sühne zu fordern.</p> + +<p>Schön! Das klang ja ganz vernünftig. Aber schließlich +... eine Beleidigung hatte doch irgendeinen Grund, +ein Motiv. Was hatte er Pilgram denn eigentlich +zuleide getan? Was hatte er begangen, daß Pilgram ihn +wie einen ehrlosen Buben behandelt hatte? Nun, das eine +war ja klar: Pilgram war eifersüchtig, er bildete sich ein, +er selber, Hans Thumser, sei sein Nebenbuhler bei Jucunda, +und zwar ein begünstigter. Ein begünstigter? Ach, du +lieber Gott ...!</p> + +<p>Freilich, an ihm selber hatte es ja nicht gefehlt ... +Und wer weiß, was geschehen wäre, wenn nicht im +Augenblick, als Jucunda anfing, gnädig zu werden, sehr +gnädig — — wenn nicht der andere dazu gekommen wäre, +dieser fade Laffe, über dessen blasiertem Geckenschädel der +Nimbus einer Fürstenkrone schwebte?</p> + +<p>Aber schließlich, es war doch ein Irrtum, wenn Pilgram +sich einbildete, Thumser sei glücklicher gewesen als er selber.</p> + +<p>Also ein Mißverständnis! Ein Wahn!</p> + +<p>Aber da war noch etwas andres, das nicht stimmte: +Was das nur mit dem Brief gewesen war, den Pilgram +ihm vorgehalten? Offenbar ein Brief von Jucunda, ein +Brief, in dem sie sein Eintreten für ihre Ehre mehr oder +weniger verblümt abgelehnt hatte. Und dieser Brief +hatte auf einem Briefbogen gestanden, der seine, Hans +Thumsers, Initialen trug. Wie kam der Brief auf dieses +Papier? Erst jetzt in der Stille der Nacht fand Hans +Zeit, um über dies Phänomen nachzugrübeln ...</p> + +<p>Und plötzlich stand ihm der Augenblick vor der Seele, +wie er Jucunda und ihrer Mutter sein Zimmer zur Verfügung +gestellt hatte, um sich auszusprechen. Natürlich, +das war's ja! Da hatten die Frauen das Uriasbrieflein +ausgeheckt und das liebliche Plänchen gleich realisiert. Sie +hatten genommen, was gerade zu erreichen war, das +Briefpapier des Mannes, der ihnen vertrauensvoll seine +Behausung zur Verfügung gestellt ...</p> + +<p>Pilgram aber, der hatte natürlich für die sonderbare +Erscheinung sich eine ganz andere Erklärung in den Kopf +gesetzt. Er mußte sich eingebildet haben, der Korpsbruder +sei mitschuldig an der Abfassung des Briefes, habe ihn +vielleicht sogar redigiert ...</p> + +<p>Also Mißverständnis Numero zwei.</p> + +<p>Schön! Zwei grobe Irrtümer in der Rechnung. Wenn +man sich aber einmal in Pilgrams vermutliche Auffassung +hineinzudenken versuchte, so konnte man ihm schließlich +nicht so unrecht geben, wenn er bis aufs Blut gereizt war, +wenn er den einstigen Korpsbruder infamer Gesinnung +und Handlungsweise verdächtigte.</p> + +<p>Und darum Mord und Totschlag! Darum zwei junge +Leben vor die Mündung geladener Pistolen gestellt! War +das nicht Wahnsinn? War es nicht noch in diesem Augenblick +Pflicht, eine offene Aussprache herbeizuführen, den +Irrtum aufzuklären?!</p> + +<p>Aber bei dem Irrtum war es nicht geblieben. Er hatte +eine schreckliche Folge gehabt: die rasche Tat, eine Tat, die +nicht milder war denn ein Schlag mitten ins Angesicht +des Feindes. Und auch zu diesem Schlag wär's ja gekommen, +wenn nicht die Korpsbrüder dazwischen getreten +wären.</p> + +<p>Mißverständnisse und Irrtümer ließen sich aufklären — +die Tat war nicht ungeschehen zu machen. Der Kavalier, +der von einem Kavalier einen Schlag erhält, muß blutige +Sühne fordern. Das war das eiserne Gebot des Ehrenkodex, +daran war nicht zu deuteln noch zu rütteln.</p> + +<p>Und dann — wer mochte den ersten Schritt tun? +Machte der sich nicht verdächtig, als sei es nur die Angst +vor der blauen Bohne, die ihn zur Aussöhnung geneigt +machte? Würde man ihn nicht der Kneiferei zeihen?</p> + +<p>Der Kneiferei? Nun, wer vierzehn Schlägermensuren +mit Ehren bestanden hatte, brauchte der sich vor dem Verdacht +der Kneiferei zu fürchten?</p> + +<p>Halt! So eine Knipserei, das war doch was andres +als das bissel Bestimmungsmensur mit Binden und +Bandagen.</p> + +<p>Nein, da war nichts zu wollen, dafür war man Korpsstudent! +Der andere, der war an allem schuld. Der hätte +die Aussprache herbeiführen müssen vor der Tat. Daß er +dem Freund, dem Korpsbruder aus drei Semestern eine +ehrlose Gesinnung überhaupt zugetraut, das war die +eigentliche Beleidigung, das war die Schmach, die nur +mit Blut abgewaschen werden konnte. Die Worte, die +Handlungen, die aus dieser abscheulichen Unterstellung +erwachsen waren, die waren schließlich nichts anderes als +der zufällige Ausdruck für einen Verdacht, der auch ohne +Wort und Schlag ins Herz der Ehre traf.</p> + +<p>Nein, es gab keinen anderen Ausweg — und so würde +man morgen früh aufeinander losknallen »bis zur Kampfunfähigkeit«.</p> + +<p>Und nun kamen die Gedanken an daheim. An Eltern +und Geschwister — nein, das ging ja doch nicht, einen +solchen Gang zu tun, ohne sich vorher von den liebsten +Menschen verabschiedet zu haben. Wenn er nun fiel — +wie sollten sie diese wirre, dunkle Geschichte verstehen? +Sie würden doch nachforschen, würden wissen wollen, was +denn eigentlich geschehen war, wie es hatte so weit kommen +können — und dann war's zu spät. Dann war sein +Mund, der allein Licht in die Wirrnis hätte bringen +können, verstummt. Sein Tod würde den Lieben ein +düsteres, grauenhaftes Rätsel bleiben.</p> + +<p>Also das geht nicht. Hans wird aufstehen und einen +langen, langen Brief an die Geliebten daheim schreiben. +Ihnen alles erzählen, ohne Verschweigen, auch das Glück +— die landläufige Moral nannte es ja wohl ein sündiges +Glück —, das er in Asta Thönys Armen genossen, auch +die verworrenen Dränge, die ihn zu Jucunda getrieben. +Alles, alles wird er berichten, und so wird wenigstens +Klarheit liegen über seinem schauerlichen Ende ...</p> + +<p>Ob sie ihn verstehen werden daheim? Mein Himmel, +der Vater ist doch auch einmal jung gewesen ...</p> + +<p>Und in Gedanken entwarf Hans Thumser den Wortlaut +seiner Beichte. Immer eindringlicher, immer inbrünstiger +vertiefte er die Schilderung seines Seelenzustandes, +immer heißer und drängender formte er seine +Bitte um Verständnis, um Vergebung, um ein Gedenken +ohne Groll. Und über all dem Sinnen und Grübeln war +er plötzlich versunken und verschwunden und wachte erst +wieder auf, als Volkner ihn wach rüttelte, und die schlampige +Alte, die sie beide gestern abend angeserenadet, in +Nachthaube und Nachtjacke, grimmigen Gesichts und +knurrenden Mundes den Kaffee auf den Tisch setzte.</p> + +<p>Nun war's zu spät, nach Hause zu schreiben. Nun +blieb's doch bei Volkners Theorie.</p> + +<p>Die trockenen Semmeln von gestern wollten nicht in +die Kehle, der glühheiße Bliemchenkaffee blieb fast unberührt. +Ein Glück, daß Volkner mit ein paar Tafeln +Schokolade und einem besseren Schnaps versehen war.</p> + +<p>Geschäftig bediente er den Korpsbruder, wie man um +einen Kranken, um einen Sterbenden sich müht. Und +dabei fühlte Hans Thumser ganz deutlich, daß der andere +sich im tiefsten Innern höchst mollig fühlte bei dem Gedanken: +Gott sei Dank, daß ich selber nicht derjenige +welcher bin!</p> + +<p>Um Punkt halb sechs knallte drunten die Peitsche des +Kutschers. Die jungen Männer machten sich bereit.</p> + +<p>Im Schauer des dämmrigen Morgens fuhr Hans +Thumser fröstelnd zusammen, als sie vor die Tür traten, +als sein Blick auf die eingeschnurrte Gestalt des Korpsdieners +fiel, der übernächtig auf dem Bock neben dem +Kutscher hockte und auf den Knien einen schmalen, schwarzpolierten +Kasten trug ...</p> + +<p>Nebeldurchdunstet lagen die Straßen. Das Weiß des +frischen Schnees war längst in ein kotiges Braun verwandelt, +das der Frost der jüngsten Nacht mit tausend +Rauhreifkristallen überzogen hatte. Ringsum erwachte das +Leben der großen, fleißigen Stadt der Arbeit.</p> + +<p>Den Rockkragen hochgeschlagen, dampfenden Atems +schritten die Männer, huschten die Frauen einher, jeder +an sein Geschäft. Schwarz und finster reckten sich die +Fronten der alten Straßen, deren Häuser sich im Laufe +der Jahrhunderte aus eleganten Wohnpalästen in dumpfe, +mit Affichen überladene Geschäftshäuser verwandelt +hatten.</p> + +<p>Aber die Nebel sanken, von Osten wuchs die junge +Tageshelle. Erste, schüchterne Sonnenstrahlen spielten +droben um die Giebeldächer, ein Tag voll winterlicher +Herrlichkeit flammte herauf.</p> + +<p>Nun wurden die Anlagen durchquert. Weißleuchtend +zackte sich das Gewirr der umreiften Aeste ins junge Blau.</p> + +<p>Ivo Volkner aber und Hans Thumser studierten eifrig +den S. C.-Pistolen-Komment, der in einem handschriftlichen +Exemplar auf ihren Knien lag, und zündeten eine +Zigarette an der anderen an.</p> + +<p>Ganz kühl und geschäftsmäßig sprachen sie immer und +immer wieder den vorgeschriebenen Gang der Mensur durch, +um später auch nicht den leisesten Schnitzer zu begehen.</p> + +<p>Endlich aber hielt es Hans Thumser nicht mehr aus. +Er schob das schwarzgebundene Heft zurück, riß das frostbeschlagene +Wagenfenster auf, atmete in tiefen Zügen die +Morgenfrische und sog mit brennenden Augen das Bild +der Morgenwelt in sich hinein.</p> + +<p>Und eine wilde Sehnsucht kam über ihn — Sehnsucht +nach all dem Unsagbaren, das von da draußen in seine +Seele hineinflutete, nach all dem unendlich Schönen des +Lebens, das er doch kaum mit erstem Erwachen des Begreifens +gegrüßt ... und das doch schon tausend Vorahnungen +künftiger Glücksmöglichkeiten in ihm geweckt +hatte. Ach, Glücks­<em class="gesperrt-in">möglich­keiten</em>?! Nein, er <em class="gesperrt">war</em> +ja schon glücklich gewesen!</p> + +<p>Asta Thöny! klagte es in seiner Seele. Gott! so undankbar +konnte man sein? An sie hatte er noch gar nicht +gedacht ... Daß er von ihr sich verabschieden mußte, das +war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen ... Und +doch — wieviel hatte sie ihm geschenkt! Wie unsäglich +gut war sie zu ihm gewesen, und er ... er hatte sie achtlos +beiseite geschoben. Und das letzte, das er von ihr gesehen, +waren bittere Tränen gewesen.</p> + +<p>Zu spät ... Nun mußte das Schicksal seinen Gang +gehen. Nun blieb nur noch eins: der Feindeskugel die +Brust zu bieten und die Stirn dem wahllosen Walten des +Geschicks.</p> + +<p>Und doch, wie schön die Welt! Wie reich, was sich +barg hinter den weißen Nebelschwaden, die das Kommende +verhüllten. Wie selig selbst dieser Augenblick ahnungsvollen +Grauens ...</p> + +<p>Und Hans Thumsers Seele fühlte sich leben in diesem +Augenblick. Leben, wie sie nie zuvor gelebt ... In +langen, schmerzvollen Zügen trank sie das Glück des +Augenblicks hinein. Das Glück, noch da zu sein, noch ein +paar schmerzvoll süße Minuten lang die tiefe Wonne des +Daseins atmen zu dürfen.</p> + +<p class="start-chapI space-above">In einem billigen Zimmer des Hotel de Russie — +dritter Stock nach hinten hinaus — hatte Valentin +Pilgram sich einquartiert und die halbe Nacht mit Briefeschreiben +zugebracht. Erst nach Mitternacht hatte er sich +aufs Bett gestreckt und ein paar Stunden hingedämmert ...</p> + +<p>Nun marschierte er auf dem Reitweg, der erst rechts, +dann links der »Neuen Linie« durch das Streitholz führte, +dem Kampfplatz entgegen, ein einsamer Wanderer ...</p> + +<p>Er hatte sich nicht entschließen können, die letzten +Augenblicke in Gesellschaft seines ihm tief unsympathischen +Sekundanten Borgmann zuzubringen, mit dem er zweimal +die Klinge und noch viel öfter in hitzigen Debatten des +S. C. das Schwert des Wortes gekreuzt.</p> + +<p>Um nicht mit dem Wagen zusammenzutreffen, war er +vom Fahrdamm abgebogen, auf den Reitweg hinüber, +auf dem um diese Morgenstunde noch keine Begegnung +zu befürchten war. Er sah nicht die Pracht des jungen +Tages, fühlte nicht die Schönheit des Daseins, die ringsum +tausend Wunder winterlicher Herrlichkeit erblühen ließ. +Er fühlte nichts als seinen Haß — sah nichts als die Gestalt +des Gegners, wie sie nun gleich vor ihm stehen würde, +ein sicheres Ziel dem stählernen Druck seiner Hand, dem +unbeirrbaren Blick seines Auges.</p> + +<p>Da ließ ein Geräusch ihn aufschauen, ein Geräusch, +das rasch sich näherte. Pferdegetrappel war's, gedämpft +durch den Schnee — nur wenn die Hufe ab und an gegen +die harte Eiskruste stießen, die den Boden überzog, dann +gab's einen klirrenden Ton. Der hatte ihn geweckt.</p> + +<p>Da vorne, in den silbernen Nebeln, die noch über der +Pleißeniederung lagerten, tauchten, schattenhaft abgehoben +vom umgoldeten Himmel, zwei Reitersilhouetten auf: ein +Herr und eine Dame. In raschem Trabe näherten sich +die schnaubenden Gäule.</p> + +<p>Valentin Pilgram konnte keines Menschen Blick ertragen +in diesem Augenblick. Er trat rasch hinter den +mächtigen Schaft einer Eiche und ließ die Reiter vorüberflitzen. +Im letzten Augenblick erkannte er sie: es waren +Jucunda und der Erbprinz.</p> + +<p>Es war ihm, als hätte er einen Stoß vor die Brust +erhalten. Er taumelte, starrte ein paar Sekunden wie ein +Blödsinniger hinter den enteilenden Schatten her. Noch +klang Jucundas übermütiges Lachen, des Prinzen +näselnde Stimme in sein Ohr:</p> + +<p>»... mal sehen, ob der Generalintendant meines +alten Herrn für ein Gastspiel in diesem Winter ...«</p> + +<p>Das waren die Worte, die er aufgefangen ...</p> + +<p>Ha ha! — ha ha ha ha ha —!! Das also war das +Ende! Darauf lief es hinaus!</p> + +<p>Während er zum Todesgange schritt mit jenem andern, +der ihm der Glückliche gewesen war bis zu diesem Augenblick +... In derselben Stunde ... pfui Deubel! pfui Deubel!</p> + +<p>In dumpfer Betäubung trottete er weiter.</p> + +<p>Wo war der blindwütende Haß, der ihm den Nacken +gestählt, die Sehnen gestrafft? Verweht — verflattert, +wie die weißen Nebelschwaden um die rauhreifumsilberten +Kronen der Bäume zerwehten.</p> + +<p>Und plötzlich ward er sich des grausamen Wahnsinns +bewußt, der in all den Geschehnissen lag, die er selbst ins +Rollen gebracht, und die nun abschwirrten, wie ein gräßlich +zermalmender Mechanismus, unhemmbar, unwiderstehlich.</p> + +<p>Da blinkte schon der Lauf der Pleiße ... da vorn +tauchte aus den Morgendünsten der Umriß eines Wagens +auf, der sich im Schritt gen Süden bewegte, und hinter +ihm klang das Rollen eines zweiten Wagens.</p> + +<p>Er beschleunigte den Gang, er mochte sich nicht überholen +lassen, weder von seinem Sekundanten noch von +der ... andern Partei.</p> + +<p>Nun hatte er die »Linie« erreicht, verfolgte sie einige +hundert Schritte weit gen Osten ... und sieh, da öffnete +sich rechts eine weite Lichtung: die Heiderwiese ...</p> + +<p>Am Wegekreuz hielt der Wagen, der vor ihm gefahren +war. Er sah, wie drei männliche Gestalten ihm entstiegen +und durch den Schnee ins Innere der Lichtung hinein +wateten. Das waren die andern: Hans Thumser, Volkner, +der Korpsdiener.</p> + +<p>Valentin Pilgram blieb am Chausseerand stehen und +wartete auf seinen Sekundanten. Nach wenigen Minuten +war der Wagen heran. Ihm entstiegen Herr Borgmann +im grellkarierten Winterpaletot, sehr zeremoniös, platzend +vor Feierlichkeit, und Graf Schmettow, der Meißner-Senior, +der als Unparteiischer zu fungieren hatte, verkatert, +die Scherbe im Auge. Und ferner der alte Sanitätsrat +Dr. Collwitz, der sich als zweiten Paukarzt einen +seiner Assistenten mitgebracht hatte. Einen jüngeren, bebrillten +Herrn mit langflutendem blonden Vollbart. +Dieser wurde als Doktor Köllicker vorgestellt.</p> + +<p>Pilgram dankte den Aerzten für ihr Erscheinen, die +üblichen Redensarten wurden getauscht in gezwungen +nachlässigem Tone, den der Ernst der Stunde mit frostigem +Schauer durchzitterte. Dann stapften die Herren der +Gegenpartei nach gen Süden.</p> + +<p>Hinter ihnen schritt der Korpsdiener der Neo-Borussia, +er trug einen mit gelben Messingknöpfen benagelten +Koffer, der Instrumente und Materialien für die Aerzte +enthalten mochte.</p> + +<p>Valentin Pilgrams Blicke suchten den Gegner und +erkannten die schlanke, geschmeidige Gestalt. Aber wohin +war der Haß geschwunden, der ihn durch Wochen gemartert, +wenn er Hans Thumsers bloß gedachte?! Er +sah nur noch den Freund, den Korpsbruder aus drei +Semestern.</p> + +<p>Thumser hatte seinen Paletot abgelegt und stand mit +offenem Jackett, über der Weste blitzte das grün-gold-rote +Band.</p> + +<p>Und dahin sollte man nun zielen, dahin das Todesblei +entsenden?!</p> + +<p>Und doch, es gab kein Zurück ... Und ob er wollte +oder nicht, die grausame Farce mußte nun mit Anstand +zu Ende gespielt werden ...</p> + +<p>Und rasch und vorschriftsmäßig wickelte sich nun der +Gang der Dinge ab. In genauestem Anschluß an den +Wortlaut des Komments wurden nun die Plätze bestimmt, +so daß das Licht gleichmäßig verteilt war; wurden die +Waffen geladen, die Duellanten instruiert. Der Unparteiische +schritt selber mit Riesensätzen seiner langen +Storchbeine die Barriere ab und bezeichnete sie durch zwei +niedergelegte Spazierstöcke, hüben und drüben. Noch zehn +Schritt weiter jenseits wurden durch Kreuze, die in den +Schnee geritzt wurden, die Plätze für die Duellanten festgelegt, +die sonach durch fünfunddreißig reichlich bemessene +Schritte voneinander getrennt waren.</p> + +<p>Zuletzt nahmen die Sekundanten ihren Fechtern noch +Brieftasche, Uhr und Geldbörse ab und geleiteten sie dann +zu ihrem Platze. Dort übergaben sie ihnen die Waffen +und traten dann jeder zwanzig Schritt zur Seite.</p> + +<p>Der Unparteiische nahm seinen Stand zwanzig Schritte +seitwärts von der Mitte der Schußlinie.</p> + +<p>»Meine Herren!« sprach er mit schallender Stimme, +»ich wiederhole noch einmal: ich zähle bis vier. Wenn +ich eins! gezählt habe, dürfen Sie avancieren bis an die +Barriere, bis vier müssen Sie abgeschossen haben. Herr +Thumser, als der Beleidigte, hat den ersten Schuß. — +Bin ich verstanden?«</p> + +<p>Mit stummem Nicken antworteten die Gegner.</p> + +<p>Hochaufgerichtet stand Hans Thumser und sah übers +schneeblinkende Feld. Endlos schien ihm die Entfernung, +die ihn von dem Feinde trennte. Aber er wußte, daß sie +sich rasch verringern würde, zusammenschrumpfen zu +einem schrecklichen Aug' in Auge ...</p> + +<p>Ein jähes Frösteln rann durch seine Gestalt, kaum +konnte er das Klappern seiner Zähne bemeistern, kaum +den Hahn der Pistole spannen ... Und nun noch ein Blick +in die goldige Morgenwelt hinaus. Ein Blick in die +Zukunft, die vor ihm versinken wollte wie der Tau einer +Nacht. Und da überfiel ihn eine jähe, ingrimmige Wut +auf den, der ihm das alles rauben wollte. Nein, sich +wehren ... sich wehren bis zum letzten Atemzug! Ins +Herz den Gegner treffen — ins Herz! Wenn einer fallen +soll, gut, so sei's der andere!!</p> + +<p>»Eins!« scholl da schneidend scharf das Kommando des +Unparteiischen.</p> + +<p>Und nun war alles versunken, alles bis auf die hagere, +starr emporgereckte Gestalt da drüben, die einst geliebte, +nun bis in den Tod gehaßte ...</p> + +<p>Wie fern sie war, wie klein ... und nun, nun kam sie +heran, nun wuchs sie ... wuchs und wuchs ... und nun +blieb sie stehen ... bot sich zum Ziel ...</p> + +<p>Da raffte auch Hans Thumser sich zusammen. Mit +hastigen Schritten schoß er vorwärts, bis seine Fußspitzen +den Spazierstock berührten, der die Barriere bezeichnete.</p> + +<p>»Zwei!« klang des Unparteiischen Stimme.</p> + +<p>Hans Thumser hob die Waffe bis in die Augenhöhe, +zielte auf des Gegners Brust, sah ganz deutlich, wie über +dem Visier die breiten Schultern standen, das fahle Gesicht.</p> + +<p>»Drei!«</p> + +<p>Da drückte er los ...</p> + +<p>Er sah den Gegner wanken, sah, wie die Rechte, +welche bisher die Waffe gesenkt gehalten, eine rasche, +zuckende Bewegung nach der linken Schulter machte. Dann +aber fand der Taumelnde Halt, hob nun ebenfalls den +Lauf, aber hoch bis über die Stirn, und schoß — schoß hoch +in die Luft ...</p> + +<p>»Vier!« klang das Kommando des Unparteiischen.</p> + +<p>In diesem Augenblick ließ Valentin Pilgram die +Pistole fallen und griff mit der Rechten krampfhaft in das +linke Schultergelenk hinein.</p> + +<p>Doktor Köllicker sprang zu, riß Pilgrams Rock auf, +das weiße Hemd wies Blutflecken, er zertrennte es mit +raschem Zerren, untersuchte das verletzte Gelenk. Dann +winkte er dem Sanitätsrat, der hinzutrat.</p> + +<p>Auch Borgmann, der Sekundant, und Graf Schmettow +eilten zu dem Verwundeten heran.</p> + +<p>Der lächelte mit schmerzverzerrtem Munde. »Viel +scheint's nicht zu sein, meine Herren. Von mir aus kann's +weiter gehen!«</p> + +<p>Aber der linke Arm hing kraftlos herunter, ein Versuch, +ihn zu bewegen, mißlang.</p> + +<p>Die Herren steckten in flüsternder Beratung die Köpfe +zusammen. Die Forderung lautete bis zur Kampfunfähigkeit +... und die lag wohl nicht vor, obwohl das Schultergelenk +schwer verletzt schien.</p> + +<p>Hans Thumser trug's nicht länger. Der andere hatte, +obwohl getroffen, seinen Schuß verloren gegeben. Was +konnte das bedeuten? Doch nur dies eine: die Erkenntnis +begangenen Unrechts.</p> + +<p>Hans winkte seinen Sekundanten heran.</p> + +<p>»Ich kann nicht mehr, Volkner — geh und biete Satisfaktion +an ...«</p> + +<p>In derselben Sekunde scholl auf der Chaussee ein +hastiges Hufegeklacker, und eine atemlose Männerstimme +keuchte:</p> + +<p>»Halt! Im Namen des Gesetzes: halt, meine Herren!«</p> + +<p>Zwischen den Büschen des Wiesenrandes tauchte ein +goldblinkender Helm auf, ein grüner Waffenrock, der +braune Bug eines Pferdes, in rasendem Galopp gestreckt. +Fünf Minuten später preschte der Reiter an der Gruppe +der Herren vorüber, die sich um den Verwundeten zusammengeballt +hatten, warf den Gaul herum, versuchte den +Flankenzitternden, Schäumenden zum Stehen zu bringen.</p> + +<p>Hans Thumser hielt sich nicht länger. In langen +Sätzen übersprang er die fünfzehn Schritt, die ihn von +dem Verwundeten trennten, streckte ihm die Hand hin:</p> + +<p>»Komm, Pilgram — das geht ja doch nicht mehr!«</p> + +<p>Die Herren, die den Verwundeten umdrängten, hatten +ihm Platz gemacht.</p> + +<p>Aug' in Aug' standen die einstigen Freunde einander +gegenüber, tauschten einen Blick, in dem mehr als Versöhnung +lag ... Genesungsglück schimmerte darin, neue +Hoffnung, neues Leben ...</p> + +<p>Mit der heilen Rechten schlug Valentin Pilgram in +Hans Thumsers Hand ein ... und auf einmal lagen die +Jünglinge sich in den Armen.</p> + +<p>Da klangen wiederum Hufschläge auf der Chaussee. +Und sieh, ein Wagen hielt am Wiesenrand, ihm entstiegen +zwei Herren und eine Dame, die mit hastigen Schritten +über den schneebedeckten Wiesengrund herankamen.</p> + +<p>Nun löste sich aus der Gruppe der drei die hagere +Gestalt eines alten Herrn in Gehpelz und Zylinder los, +der mit langen Sätzen über die klirrenden Schollen voranstelzte. +Immer hastiger ward sein Gang ... ward zum +Lauf ...</p> + +<p>»Donnerwetter!« schrie da Volkner plötzlich, »sieh doch +nur, Pilgram — Dein alter Herr!«</p> + +<p>Die Aerzte hatten sich ins Mittel gelegt und die Umarmung +der wiedergefundenen Freunde getrennt, um sich +ihres Patienten zu bemächtigen und die verletzte Schulter +genauer zu untersuchen.</p> + +<p>Nun hob Valentin Pilgram den Kopf, alles wich zurück, +so daß die Gruppe der Herankommenden frei wurde — +und Pilgram erkannte seinen Vater ...</p> + +<p>Schon war der Präsident heran, ergriff mit beiden +Händen die Rechte des Sohnes, die sich ihm entgegenstreckte. +Mit zuckenden Augen, mit zuckenden Lippen +standen Vater und Sohn einander gegenüber.</p> + +<p>»Ihr verfluchten Bengels!« sagte der alte Herr, »was +macht Ihr für Geschichten?«</p> + +<p>»Etwas zu spät bist Du doch gekommen, lieber Papa — +Du siehst, der Fall ist bereits erledigt!«</p> + +<p>»Ich wollt's Euch auch geraten haben! Schlimm genug, +daß es so weit gekommen ist! Na, was hat's denn abgesetzt?«</p> + +<p>»Ach, nicht der Rede wert,« lachte der Junge und zwang +den grimmigen Schmerz nieder, der von dem verletzten +Gelenk aus durch den ganzen Oberkörper fraß.</p> + +<p>»Nun, und Du wunderst Dich gar nicht, daß ich hier +bin?!«</p> + +<p>Valentins Blicke hatten die Gestalt des jungen Weibes +erkannt, das nun herankam in Begleitung eines dicken +Herrn. An diesen ritt der Gendarm heran und machte +ihm in dienstlicher Haltung eine Meldung, während das +Mädchen mit glühenden Backen und strahlenden Augen +nähertrat, um dann ein paar Schritt vor den Herren plötzlich +tiefbefangen stehen zu bleiben.</p> + +<p>»Die da, nicht wahr?« fragte Valentin den Vater.</p> + +<p>»Jawohl, die da ... zum Dank für ... vorgestern!«</p> + +<p>»Ach, ich glaube, es war ihr weniger um mich zu +tun ...« sagte Valentin Pilgram und suchte das Auge +des wiedergefundenen Freundes.</p> + +<p>Aber der hatte keinen Blick für ihn. In tiefer Erschütterung, +regungslos starrte er zu der hellen Gestalt +hinüber, die über die weißen Schollen herangeschwebt +kam wie ein Frühlingshauch. Als sie nun aber stehen +blieb, da sprang er ihr entgegen, die Hände weit ausgestreckt. +Da hob auch sie ihm die Hände entgegen, und +er ergriff sie und drückte sein glühendes Gesicht hinein.</p> + +<p class="start-chapI space-above">Erbprinz Heribert hatte nach seiner Rückkehr vom +Morgenritt wie gewöhnlich von neun bis zwölf das +Kolleg besucht und war dann in seine Wohnung im Hotel +Hauffe zurückgekehrt, um mit Major von Gorczynski zu +frühstücken.</p> + +<p>»Nun, Durchlaucht, wie war's?« Der Major hob das +Portweinglas.</p> + +<p>»Danke, ganz nett.«</p> + +<p>»Nur ganz nett?!«</p> + +<p>»Ach, wissen Sie, lieber Gorczynski, ich glaube, das ist +eine von den ganz Gerissenen ... die sichert sich <em class="gesperrt">vorher</em> +— verstehen Sie?«</p> + +<p>Der aufwartende Lakai brachte auf silbernem Brett +eine Besuchskarte. Der Prinz las:</p> + +<p class="center"> +<em class="gesperrt">Pilgram</em><br /> +Senatspräsident am Königlichen Oberlandesgericht<br /> +<span style="margin-left: 12em;">Dresden.</span><br /> +</p> + +<p>»Haben Sie gesagt, daß wir beim Frühstück sind?«</p> + +<p>»Zu Befehl, Durchlaucht, aber der Herr bittet dringend +um eine Unterredung.«</p> + +<p>»Schön — ins Empfangszimmer.«</p> + +<p>Als der Bediente verschwunden war, reichte der Erbprinz +seinem Erzieher die Karte hinüber.</p> + +<p>»Vermutlich der Vater meines ... äh ... meines +Kollegen!«</p> + +<p>»Kollegen?! Wieso?«</p> + +<p>»Na, weil der auch auf die Buchner reingefallen ist. +Kommen Sie mit, lieber Gorczynski — für alle Fälle.«</p> + +<p>Hoch aufgerichtet, die Ordensrosette im Knopfloch +seines Ueberrocks, erwartete der alte Herr den jungen +Fürsten. Des Umgangs mit hochgestellten Persönlichkeiten +gewohnt und seiner guten Sache sicher, neigte er sich mit +gemessenem Selbstbewußtsein.</p> + +<p>»Sehr erfreut — Herr Präsident, was verschafft mir +die Ehre? Darf ich bekannt machen? Herr Major +von Gorczynski — Herr Präsident Pilgram. — Stört Sie +die Gegenwart meines Begleiters, Herr Präsident?«</p> + +<p>»Ich bitte, Durchlaucht.«</p> + +<p>»Bitte Platz zu nehmen, meine Herren.«</p> + +<p>»Durchlaucht, ich komme im Interesse meines Sohnes +Valentin, den Sie kennen!«</p> + +<p>»Ich habe die Freude.«</p> + +<p>»Durchlaucht wissen, daß mein Sohn aus dem Korps +Franconia ausgetreten ist, um Ihnen gegenüber für eine +Dame eintreten zu können, von der er annahm, daß Sie, +Durchlaucht, ihr — —«</p> + +<p>»Hm ...« machte der Erbprinz, »ich weiß.«</p> + +<p>»Durchlaucht haben die Güte gehabt, diese Angelegenheit +in ritterlicher Weise beizulegen. Trotzdem hat das +Korps Franconia aus Rücksicht auf Durchlaucht davon +Abstand genommen, meinen Sohn in die Reihen seiner +Mitglieder wieder aufzunehmen.«</p> + +<p>»Allerdings ...« sagte der Erbprinz. »Das habe ich +mir wohl so gedacht — aber wenn ich mir eine Zwischenbemerkung +erlauben darf, Herr Präsident: die Geschichte +war mir höchst fatal ... und ich habe mich seitdem vom +Verkehr bei dem Korps fast völlig zurückgezogen ... Es +war mir kolossal peinlich ... verstehen Sie, Herr +Präsident?«</p> + +<p>»Ich begreife sehr wohl,« sagte der Präsident ruhig. +»Die jungen Herren haben wohl eine zu geringe Meinung +von Euer Durchlaucht wohlwollendem Verständnis für die +korpsstudentische Auffassung gehabt, sonst hätte sich doch +wohl ein Ausweg finden lassen, um meinem Sohn die +wohlverdiente Ehre der Zugehörigkeit zu dem Korps — +zu dessen Alten Herren ich, beiläufig bemerkt, auch selber +zähle — wiederum zu verschaffen. Oder täusche ich mich, +Durchlaucht?«</p> + +<p>»Ne, ne, mein verehrter Herr Präsident. Sie haben +in der Tat vollkommen recht ... Wenn's nach mir gegangen +wäre ... aber man hat mich ja gar nicht gefragt. +Mir für meine Person wär's ja doch zehnmal angenehmer +gewesen, wäre die ganze Geschichte diskret behandelt +worden. Aber man hatte ja die Sache dermaßen übers +Knie gebrochen ... ich stand vor einem <i lang="fr">fait accompli</i> ... +und da hielt ich's für das beste, mich um gar nichts mehr +zu bekümmern. Das werden Sie begreifen, nicht wahr, +Herr Präsident?«</p> + +<p>»Ich begreife vollkommen, Durchlaucht. Ich sehe aber +auch, daß ich mich in meinen Vermutungen über Eurer +Durchlaucht Ansichten von der Sache in keiner Weise getäuscht +habe: und darum komme ich jetzt mit der formellen +Bitte, die der Zweck meines Besuches ist: wollen Durchlaucht +die große Güte haben, durch meinen Mund dem Korps +Franconia mitteilen zu lassen, daß einer Rückgabe des Bandes +an meinen Sohn Ihrerseits nichts im Wege steht?«</p> + +<p>»Aber mit dem größten Vergnügen, Herr Präsident! +Ich bin ja höchst erfreut, daß die fatale Geschichte endgültig +aus der Welt kommt ...«</p> + +<p>»Ich danke ehrerbietigst für diese Gnade, Durchlaucht. +Ich glaube, sie ist an keinen Unwürdigen verschwendet! +Da Sie nun aber in so überaus verständnisvoller Weise +meinem Vorschlage entgegengekommen sind, so darf ich +wohl auch noch eine andere Begebenheit erzählen, die mit +der besprochenen nicht ganz ohne Zusammenhang ist, und +die glücklicherweise ebenfalls eine Wendung zum Besseren +genommen hat?«</p> + +<p>Und nun erzählte der Präsident in knappen Worten +von dem Renkontre der beiden einstigen Korpsbrüder +und seinem blutigen Austrag. Die Motive des Zusammenstoßes +ließ er unberührt. Er konnte sich wohl +vorstellen, daß der Erbprinz den Zusammenhang auch so +durchschauen würde ... und darin hatte er sich nicht getäuscht. +Als er geschlossen hatte, erhob sich der Erbprinz +und streckte seinem Besucher die hagere Hand hin:</p> + +<p>»Ich danke Ihnen, Herr Präsident, Ihre Geschichte soll +mir eine Lehre sein ... gewisse Leute sind anscheinend ... +äh ... mit Vorsicht zu genießen. Was meinen Sie, lieber +Gorczynski? Na, ich werde mir's merken!«</p> + +<p>»Gestatten Durchlaucht nochmals meinen ehrerbietigsten +Dank.«</p> + +<p>»Aber ich bitte, mein verehrter Herr Präsident — nur +ich habe zu danken, nur ich ... Sie haben mir einen +größeren Dienst geleistet, als Sie vielleicht ahnen. Grüßen +Sie Ihren Sohn, oder noch besser: sagen Sie ihm, ich +hoffe heute abend auf der Frankenkneipe mit ihm auf gute +Freundschaft anzustoßen ... Doch halt! Vorher müssen +wir noch einmal ins Theater ... Nicht wahr, lieber +Major? Heut ist ja die Abschiedsvorstellung der Meininger, +das dürfen wir uns doch nicht entgehen lassen ... +Aber nachher, nicht wahr, Herr Präsident, dann treffen +wir uns im Cafébaum!«</p> + +<p>»Ich hatte gleichfalls vor, das Theater zu besuchen, +Durchlaucht, wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf +— und zwar mit meinem Sohn und unserm Korpsbruder +Thumser. Die Verletzung meines Sohnes ist ja freilich +nicht ganz unbedeutend: das linke Oberarmbein ist in +Höhe des unteren Ansatzes des Oberarmkopfes getroffen, +die Kugel ist im Knochen stecken geblieben, konnte aber +mit Leichtigkeit entfernt werden.«</p> + +<p>»Sehr erfreulich zu hören, Herr Präsident. Also auf +Wiedersehen heut abend, nicht wahr?«</p> + +<p class="start-chapI space-above">Um zwölfeinhalb Uhr fuhr der alte Pilgram am Cafébaum +vor, stieg die Stufen zur Frankenkneipe hinan +und wurde vom Korpsdiener in das Konventszimmer geführt, +wo Franconias Korpsburschen bereits zum C. C. +versammelt waren.</p> + +<p>Ehrerbietig begrüßte die Schar der Studiosen den +Alten Herrn, der sofort beim Eintreten eine grüne Mütze, +die der Korpsdiener ihm dargereicht, auf seinen grauen +Schädel gestülpt hatte.</p> + +<p>Volkner bat Platz zu nehmen und eröffnete den C. C. +Er erteilte dem Alten Herrn Pilgram das Wort. Dieser +berichtete über seinen Besuch bei dem Prinzen und entledigte +sich seiner Mission.</p> + +<p>Mit strahlenden Gesichtern vernahmen die Korpsburschen +die frohe Botschaft.</p> + +<p>Unmittelbar, nachdem der Alte Herr geendigt, sprach +der Senior:</p> + +<p>»Ich stelle den Antrag, dem früheren C. B. Pilgram, +gewesenen Zweiten, Ersten, Ersten das Band zurückzugeben. +Wünscht jemand zu dem Antrage das Wort?«</p> + +<p>Alles schüttelte den Kopf, aus jedem Auge strahlte +helles Glück. Hans Thumser aber schämte sich nicht, daß +ihm zwei Tränen über die frischen Wangen rollten. Unfähig +jeden Wortes, reichte er dem Präsidenten über den +Tisch hinüber die Hand.</p> + +<p class="start-chapI space-above">Und nun saßen sie im Carolatheater, auf einer der vordersten +Parkettreihen. Präsident Pilgram inmitten +der beiden jungen Gesellen, zur Rechten sein Sohn: er +trug den linken Arm in der schwarzen Binde, fest im Gipsverband +verschient, den Rock nur lose über die linke Achsel +gehängt, den Aermel leer. Ueber die rechte Schulter aber, +über die Weste und die schwarze Binde zog sich das grün-gold-rote +Band.</p> + +<p>Hans Thumser saß zur Linken. Ueber den alten Herrn +hinweg aber schauten die Freunde sich immer und immer +wieder in die Augen. Sie fühlten: so hatten sie sich noch +nie gehört, so sich noch nie geliebt. Und diese Liebe, die +würde nun bleiben fürs ganze Leben ...</p> + +<p>Oft aber flogen ihre Blicke auch nach der zweiten +Proszeniumsloge des Parketts vorn rechts hinüber. Da +saß der Erbprinz, die Scherbe im fahlen Gesicht, und +hinter ihm verschwanden die groben Züge, der wehende +Schnurrbart des Majors im Dämmer des Logenhintergrundes.</p> + +<p>Aber auf den blasierten Zügen des jungen Fürsten lag +heute ein seltsames Leuchten, das noch niemand an ihm +gekannt hatte. Und wenn sein Blick den Augen des alten +und der beiden jungen Franken da unten im Parkett +begegnete, dann lachte sein ganzes Gesicht so knabenhaft +fröhlich, so jung und gut, als sei auch er ein x-beliebiges +junges Studentlein und nicht der Erbe eines deutschen +Fürstenthrones.</p> + +<p>Ringsum aber drängte sich ganz Leipzig und füllte das +Haus bis zum letzten Stehplatz droben auf der Galerie. +Eine festlich dankbare Stimmung lag über der erregten +Versammlung.</p> + +<p>Fünf Wochen lang war dies Haus ein Tempelhaus gewesen. +Fünf Wochen lang hatte man hier den höchsten +Offenbarungen gelauscht, welche die edelste Blüte der zeitgenössischen +Bühnenkunst geschaffen hatte im Bunde mit +den erhabensten Genietaten der großen Szenenbeherrscher +des Dramas der Weltliteratur. Und nun wollte man am +letzten Tage noch einmal mit voller Seele, mit allen +Sinnen genießen, wollte in sich aufnehmen die gigantischste +Schöpfung der deutschen Tragödie: »Wallensteins +Tod«.</p> + +<p>Das Spiel begann.</p> + +<p>Inmitten der Bilder seiner Gestirne stand der einsam-stolze +Mann, über dessen Haupte schon die schwarzen +Fledermausschwingen des Verbrechens, die Rabenfittiche +des Todes rauschen. Am nächtlichen Himmel suchte er den +Stern seines Lebens, der sich nun so bald verfinstern +sollte ... Und in raschen, unfehlbaren Schlägen vollzog +sich sein Geschick.</p> + +<p>Der alte Herr aber da vorn im Parkett und seine +beiden jungen Gefährten harrten ungeduldig des Augenblicks, +da der Vorhang sich zum dritten Akt heben und die +beiden Mädchengestalten auftauchen würden, die so tiefe +Furchen in die Herzen, in die Geschicke der jungen Männer +gezogen.</p> + +<p>Und sieh — nun erfüllte sich's.</p> + +<p>Die Gardine rauschte empor; und es erschloß sich ein +dunkler wuchtiger Saal mit Kamin, Gobelins, gepolsterten +Bänken an den Wänden. Nach hinten stieg eine Treppe +empor, im Bogen geschweift aus massivem, dunkelgebeiztem +Eichenholz mit schwerem Renaissance-Geländer. +Sie führte zu einer langen Galerie, die gegen die Bühne +zu von einem riesigen, aus zahllosen kleinen Scheiben bestehenden +Glasfenster abgeschlossen war.</p> + +<p>Und wie verloren in dem weiten, angstdurchschauerten +Raum saßen vorn rechts auf der Bank zwei Frauengestalten +mit weiblichen Arbeiten beschäftigt, während eine +dritte oben auf der Galerie stand und aus den Fenstern +nach drunten spähte — Wallensteins Schwägerin, die +Schwester seiner Seele ...</p> + +<p>Die zwei da unten aber — die beiden jungen Franken, +die kannten sie.</p> + +<p>Scheu und wesenlos wie ein gutes, dienstbares Geistlein +hockte Asta Thöny als Fräulein von Neubrunn neben +der jungen, schönheitsstrahlenden Herrin.</p> + +<p>Die aber saß weiß und blaß, den adligen Kopf in +schmerzvoller Starrheit zurückgelehnt an die braune +Täfelung.</p> + +<p>Sie war die Schönheit, die versinken muß unterm +erbarmungslosen Schritt des Schicksals, sie war die +Tugend, die zermalmt wird von den geifernden Kinnbacken +des Verbrechens, sie war die leuchtende Seele des gigantischen +Gedichts, sie war ... das Ideal ...</p> + +<p>Und alles vollendete sich nun.</p> + +<p>Mit unerhörter Wucht stampfte das Fatum daher und +ließ den Lügenbau der friedländischen Größe zusammenkrachen. +Blatt um Blatt sank hernieder von dem ragenden +Baum, bis er einsam stand, entlaubt, doch herrlich in +seinem starren Trotz.</p> + +<p>Und nun kam jene gewaltigste aller Szenen, die Valentin +Pilgram und Hans Thumser als Pappenheimer +Kürassiere mitprobiert hatten, und der sie nun als Zuschauer +nur lauschen durften, wie damals, als Hans, ein +scheuer Primaner, sie zum erstenmal erschaut, dahinten, +weit in der Heimat — im Barmer Stadttheater, auf dem +Eckplatz des zweiten Ranges.</p> + +<p>Zwischen den zwei eisengeharnischten Männern, dem +fürstlichen Vater rechts, dem ritterlich prangenden Geliebten +links stand das unglückselige, geopferte Mädchen. +Vor die grausame Pflicht gestellt, zu wählen zwischen Gehorsam +und Liebe.</p> + +<p>Und sie wählte den Gehorsam ... Mit den unschuldig +reinen Händen riß sie die Liebe aus ihrem Herzen +und stieß sie von hinnen ... in den unerbittlichen +Schlachtentod ...</p> + +<p>War das Jucunda Buchner? War's das junge Ding +von achtzehn Jahren, mit dem die zwei schlanken Burschen +da unten an einem Tisch gesessen, in einer Stube? Um +derentwillen sie heut morgen in der Frühe des leuchtenden +Wintertages einander mit der Pistole in der Hand +gegenüber gestanden hatten, während sie mit einem gefürsteten +Knaben über Feld ritt, nur von dem einen Gedanken +erfüllt, ein Gastspiel am Hoftheater in Nassau-Dillingen +für den nächsten Winter herauszuschlagen?</p> + +<p>Nein, sie war es nicht. Ihre sterbliche Hülle war's! +Und doch auch die nicht mehr. Auch die verwandelt, erhöht, +durchleuchtet, durchseelt von der geheimnisvollen +Flamme, die tief drinnen in ihr loderte, unerklärlich, unbegreifbar +... der heiligen Flamme, die, solange sie loderte, +alles überstrahlte, alles verzehrte, alles verklärte, was +irdisch, was menschlich, was gewöhnlich, was häßlich war +an ihr ...</p> + +<p>Horch, schon brandete von draußen der Schwall der +Pappenheimer heran ... Schon klang die wilde Feuerweise +des Reitermarsches, der zu Kampf und Tode lud ...</p> + +<p>Und nun — nun tobte der rasselnde Schwall die +Stiegen hinauf, stapfte in die Galerie hinein, daß die +Scheiben klirrend barsten, strudelte die Treppe hinunter, +überschwemmte in immer erneuten Güssen blinkender +Wogen die ganze Bühne ... entblößte Schwerter, haßflammende +Blicke ...</p> + +<p>Und inmitten die zwei jungen Menschen, — neben dem +todgeweihten Manne das todgeweihte Weib, die weiße, +unschuldig leuchtende Gestalt, das tief gesenkte, sterbensmatte +Haupt.</p> + +<p>Und nun, nun ist der grausame Kampf zu Ende gekämpft. +Aus dem Arm der Geliebten reißt Oberst Max +sich los.</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Bedenket, was Ihr tut. Es ist nicht wohlgetan,<br /></span> +<span class="i0">Zum Führer den Verzweifelten zu wählen.<br /></span> +<span class="i0">Ihr reißt mich weg von meinem Glück, wohlan,<br /></span> +<span class="i0">Der Rachegöttin weih' ich Eure Seelen!<br /></span> +<span class="i0">Ihr habt gewählt zum eigenen Verderben,<br /></span> +<span class="i0">Wer mit mir geht, der sei bereit, zu sterben!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Und mit hochgereckten Armen stürzt er sich hinein in +die eisenschäumende Woge. Die brüllt hell auf, schäumt +gischtend empor, schlingt ihn hinunter, reißt ihn von +hinnen. Die Treppe hinauf strudelt der gärende Schwall +— noch einmal taucht der wehende Helmbusch, der silberne +Harnisch auf ... versinkt aufs neue in den gleißenden +Fluten. In den wütenden Jubel der todestrunkenen +Schar gellen die wirbelnden, erzenen Rhythmen des +Reitermarsches ...</p> + +<p>Da unten, da vorn, bricht das verlassene Kind vor des +starren Vaters eisenumschienten Knien zusammen ... es +erfüllt sich das tragische Los des Schönen auf der Erde ... +Das Edle sinkt ... Das Ideal verweht ...</p> + +<p>Vorbei ... vorbei ...</p> + +<p>Während die Gardine niederrauschte, legte der alte +Präsident seine beiden Hände um die Schultern der +jungen Männer zu seiner Rechten und seiner Linken:</p> + +<p>»Kinder ... <em class="gesperrt">jetzt</em> versteh' ich Euch ...!«</p> + +<p class="start-chapA space-above">Am andern Morgen begleitete Hans Thumser seine +Asta im Wagen zum Bayrischen Bahnhof. Das Leipziger +Gastspiel der Meininger war zu Ende — weiter +rollte der Thespiskarren ... Schon übermorgen abend +würde man im Gärtnerplatz-Theater in München mit +»Jungfrau« eröffnen ...</p> + +<p>Auf dem Bock thronte ein riesiger Reisekoffer. Vier +Kisten mit Kostümen waren schon als Eilgut vorausgegangen.</p> + +<p>Drinnen aber im Wagen lachten die zwei und machten +die tollsten Witze. Das Herz war ihnen gar zu voll und +gar zu schwer.</p> + +<p>»Asta ...« sagte Hans mit einem Male im tiefsten +Ernst, »— ich bin ein dummer, grüner Junge ... und ein +Habenichts dazu ... sonst sagte ich zu Dir: Laß uns zusammenbleiben ...«</p> + +<p>»Du Dummerle!« schalt Asta heftig und gab ihm einen +derben Klaps auf die Backe — »Du bist doch wirklich +ein riesengroßes Dummerle! So etwas darf man nicht +einmal denken ... so ein feiner, nobler Junge wie Du ... +und eine ... eine Landstreicherin wie ich ...«</p> + +<p>Aber ihre Lippen zuckten bitter und sehnsüchtig dabei, +und in den Augen schimmerte es verdächtig ...</p> + +<p>»Pfui, Asta! Abscheulich, so von Dir zu sprechen! Von +meiner ... meiner süßen Asta —!«</p> + +<p>»Sag's noch einmal!« bat Asta. »Es klingt so schön ... +und ich werd's ja doch niemals wieder hören ...«</p> + +<p>»Niemals wieder?! So oft Du willst, Süße, so oft Du +willst ... und so oft ... ich ... kann ...«</p> + +<p>»Da hast Du's ja ... Du wirst nicht können, mein +armes Dummerle ... und ich ... ich werde auch nicht +wollen ... Es war so schön ... nun ist's zu Ende ... +und das ist gut so. Für uns beide ... für mich auch ... +Denn wenn's noch länger gedauert hätte ... dann ... +dann wär ich am Ende doch nicht mehr von Dir los gekommen ...«</p> + +<p>»Asta ... Asta ... So viel hast Du für mich +getan ...«</p> + +<p>»Ja siehst Du — da hast Du wieder so recht mein +ganzes Pech: alles, was ich für Dich hab' tun wollen, ist +beim guten Willen geblieben ... Ich hab' Dich glücklich +machen wollen ... und Du bist zur Jucunda gelaufen ... +Ich hab' Dir das Leben retten wollen ... und bin zu spät +gekommen ... Eh wir dazwischen kamen, hattet Ihr +Euch schon vertragen ... So geht mir's immer — —«</p> + +<p>»Asta ... mein Mädchen ... ich ... ich hab' Dich ja +so lieb ... so unsagbar lieb ... ich laß Dich nicht fort ... +ich ... ich brenne durch ... Ich geh' mit nach München ... +Ich frage Euren Herrn Burg, ob er einen Volontär +brauchen kann ... Ich sollte meinen, zu einem Komödianten +müßt' es doch auch bei mir reichen ...«</p> + +<p>Asta tupfte die Augen mit ihrem Spitzentüchelchen, +und die zuckenden Mundwinkel lachten schon wieder ihr +lieblichstes Spitzbubenlachen.</p> + +<p>»Ne, Hanserl — das glückt Dir nicht ... Das können +wir vor Deinen Herren Eltern nicht verantworten! Bleib +Du, was Du bist ... ein Jurist ... oder ... werd' einmal +ein Dichter, wenn Du kannst ... ich glaube, Du +kannst — — und dann, in zehn oder zwanzig Jahren +schreibst Du einmal ein Stück, das über alle Bühnen geht +— mit einer wunderhübschen Rolle für die komische Alte +darin ... Und wenn Du dann auf Reisen zufällig einmal +nach Krotoschin oder nach Stallupönen kommst und siehst +an irgendeiner Bauernkneipe oder Scheune den Theaterzettel +einer Schmiere kleben, die Dein Stück spielt, und +hinter der Rolle der komischen Alten findest Du den Namen +Asta Thöny ... dann setz Dich irgendwo unter das 'verehrliche +Publikum' ... aber ganz, ganz weit hinten ... +daß ich Dich nicht etwa erkenne ... und denk' daran, daß +das alte, häßliche Weiblein da oben einmal in Deinen +Armen gelegen hat ... vor langer, langer Zeit ... als Du +noch jung warst und unberühmt und nichts weiter als ein +Korpsstudent in Leipzig ... Gelt, Hans, Das tust Du —?«</p> + +<p>Hans Thumser konnte nicht sprechen. Er küßte nur +immer wieder die rosige, weiche Hand, die er zwischen +seinen harten, waffengestählten Tatzen eingepreßt hielt, +als wollte er sie zerdrücken.</p> + +<p>Der Wagen hielt vor dem Abfahrtportal des Bayrischen +Bahnhofs. Es war zehn Uhr morgens. In grellem +Weiß standen die beschneiten Dächer gegen das satte Himmelsblau, +das gleißende Sonnenlicht.</p> + +<p>Auf dem Bahnsteig hielt bereits der Münchener +Schnellzug. Für das Ensemble der Meininger waren auf +Bestellung ein paar Extrawagen angehängt worden. Im +Kassenflur, unter der Halle, wimmelte es von glattrasierten +Männergesichtern, von lebhaften mit betonter Eleganz +gekleideten Frauen. Riesige Koffermassen wurden in die +Gepäckwagen verstaut ...</p> + +<p>Daß Asta Thöny sich auf dem Bahnhof in Begleitung +eines grünbemützten Studenten einfand, erregte keinerlei +besondere Sensation unter ihren Kollegen und Kolleginnen. +Derartiges war man von ihr gewohnt. Sonst +war's meist eine Uniform ...</p> + +<p>Die große Jucunda schritt mit spöttischem Naserümpfen +an dem Paare vorüber, einen ungeheuren Strauß der +wunderbarsten Rosen in der Hand, den ihr soeben ein +prinzlicher Lakai überbracht hatte. Ja ... den Rosenstrauß +hatte sie wohl ... aber keinen herzlieben Jungen +zur Seite, der bei ihr hatte bleiben wollen bis zum letzten +Augenblick ... Nur ihre Eltern gaben ihr das Geleit, +Mutter Doris aufgedonnert im unglaublichsten Staat — +Vater Kanzleirat im abgeschabten Winterpaletot und zerbürsteten +Zylinder, ein armseliger, hüstelnder Schatten +neben den beiden mächtigen Frauengestalten.</p> + +<p>Die übrigen Kollegen gingen mit diskret abgewandten +Gesichtern an Asta und ihrem schmucken Begleiter vorüber.</p> + +<p>Nur Franz Burg trat grüßend heran:</p> + +<p>»Guten Morgen, Kleine ... Na — ist das Ihr +Dichter?«</p> + +<p>»Ja, liebster Freund — das ist er ...«</p> + +<p>Burg lüftete lächelnd seinen Hut, nannte seinen +Namen, streckte dem Studenten die Hand hin:</p> + +<p>»Nun, ich sehe, Sie sind noch sehr lebendig ... Höchst +erfreulich das.«</p> + +<p>Mit korrekt eingewinkeltem Arm schlug Hans Thumser +ein in Franz Burgs Händedruck und zog höchst offiziell +die Mütze.</p> + +<p>»Hm,« machte der Oberregisseur und musterte ungeniert +das feierlich zurechtgefaltete Jugendgesicht — »vorläufig +ist noch nicht viel zu lesen auf der Physiognomie +da ... aber wer weiß ... vielleicht stehen wir uns noch +einmal an anderer Stelle gegenüber, und Sie legen mir +ehrfurchtdurchfröstelt das Manuskript Ihres ersten Dramas +in die Hand ... wer weiß! Dann wollen wir uns dieses +Augenblicks erinnern ...«</p> + +<p>»Und ich werde mich Ihres 'Wallenstein' erinnern, +Meister — — einstweilen lassen Sie mich Ihnen dafür +danken ...« sagte der Student ... und Franz Burg sah +auf einmal mit Staunen, wie auf dem jungen Gesicht die +feierlich korrekten Falten sich auflösten, wie aus den dunklen +Augen eine heiße Flamme sehnsüchtiger Leidenschaft schlug. +Da leuchtete auch sein Blick dem jungen Gesellen freundlich +und ermunternd ins Gesicht.</p> + +<p>»Also — auf dereinstiges Wiedersehen, junger +Freund —! Jetzt aber sollt Ihr zwei die paar letzten +Augenblicke noch füreinander haben, Kinder ...«</p> + +<p>Die paar letzten Augenblicke — —</p> + +<p>Hans Thumser und Asta Thöny senkten die Häupter +und die Blicke ... Hoben sie dann und ließen die Augen +lange, lange ineinander ruhen ... Dabei schwiegen die +Lippen, Unsagbares quoll auf in ihren Herzen.</p> + +<p>»Bitte Platz nehmen!« schnarrten da die Stimmen der +Schaffner.</p> + +<p>Da warf Asta die Arme um Hans Thumsers Nacken. +Es kümmerte sie nicht, daß die Kollegen vom Fenster aus +mit Grinsen und halblautem Scherz den Abschied beobachteten +...</p> + +<p>»Leb wohl ... mein Hanserl ... auf ewig ... leb +wohl ...«</p> + +<p>»Nein ... nicht auf ewig ... das ist ja unmöglich ... +das ertrag ich ja nicht —«</p> + +<p>»Ach, Hanserl — wie gut Du das ertragen wirst ... +aber Du ... von Zeit zu Zeit einmal an mich denken ... +gelt? an ... Dein ... erstes Glück ... gelt, Hanserl?!«</p> + +<p>Aus der finstern Halle polterte der Zug in die sonnige +Morgenhelle hinaus. Grell im Sonnenlichte leuchtete der +weiße Rauchschwaden, den der enteilende Schlot der Maschine +hinter sich herzog. Und ein großes Abschiedwinken +ging aus den Fenstern des Zuges, ging auf dem Bahnsteig, +wo in ganzen Rudeln die Freunde und Verehrer +standen, welche die scheidende Künstlerschar bis zum letzten +Augenblick begleitet hatten ...</p> + +<p>Ein Tüchlein aber wehte länger als alle andern ... +und Hans Thumser blickte ihm nach, winkte ihm nach, bis +alles vorbei war.</p> + +<p>Dann wandte er sich rasch und schritt gesenkten Hauptes +aus der Halle. Einen Korpsstudenten in Couleur sollte +niemand weinen sehen.</p> +</div> + +<div class="reference"> +<p class="center">Von <em class="gesperrt">Walter Bloem</em> sind früher +erschienen:</p> + +<p class="tit2">Sonnenland</p> + +<p>Eine Fahrt in die Schönheitswelt Griechenlands, +in die Märchenstädte des Orients an +Bord eines schmucken Lloyd-Schiffes, auf dem +der Zufall eine bunte Reisegesellschaft zusammenwürfelt. +Ein munterer Kreis meist +humoristisch gesehener Gestalten und im +Hintergrund ein leuchtender Reigen von +Kultur- und Landschaftsbildern aus den gesegneten +Zonen des sonnigen Südens.</p> + +<p class="center">Preis 1 Mark</p> + +<p class="tb">*</p> + +<p class="tit2">Das lockende Spiel</p> + +<p>Ein Buch vom Theater, von seiner berauschenden +Magie, die keinen aus ihrem Zauberkreis +entläßt, der ihr einmal verfiel. Wer es +einmal gespielt hat das »lockende Spiel«, er +kann es nimmer lassen. Eine neue Theatergründung +in Berlin wird zum Mittelpunkt +für ein fröhliches Ringen um die Palme +des Bühnendichters, Schauspielers, Regisseurs. +In diesen Kampf verkettet sich ein zweites +»lockendes Spiel«, das Spiel und Gegenspiel +der Liebe bei zwei jungen Menschenpaaren.</p> + +<p class="center">Preis 1 Mark</p> + +<p class="center">Verlag Ullstein & Co / Berlin-Wien</p> +</div> + +<div class="figcenter" style="width: 100px;"> +<img src="images/signet.png" width="100" height="200" title="Ullstein & Co Berlin SW 68" alt="Ullstein & Co Berlin SW 68" /> +</div> +<div class="transnote covernote"> +<p> +The cover image was created by the transcriber and is placed in the public domain. +</p> +</div> + +<div class="transnote"> +<p class="tn-header">Anmerkungen zur Transkription</p> +<p> +Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originaltextes wurden übernommen, +nur offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. +</p> +<p> + Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt, fremdsprachliche Passagen, + die im Original in Antiqua gesetzt sind, sind <i>kursiv</i> dargestellt, + für Abkürzungen, wie C. C. und Regentenzahlen wie XIV wurde dies + nicht gemacht. +</p> +</div> + +<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44647 ***</div> +</body> +</html> diff --git a/44647-h/images/cover.jpg b/44647-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..6087a3f --- /dev/null +++ b/44647-h/images/cover.jpg diff --git a/44647-h/images/owl.png b/44647-h/images/owl.png Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..dd33d8b --- /dev/null +++ b/44647-h/images/owl.png diff --git a/44647-h/images/signet.png b/44647-h/images/signet.png Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..995ca69 --- /dev/null +++ b/44647-h/images/signet.png diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..6312041 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This eBook, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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Teufel auch! das nenn' ich dachsen! Und diese Pestbeule von einem +Korpsdiener hatte mich doch wecken wollen? Wieviel mag's denn sein? Uhr +steht natürlich -- Skandal! schon wieder mal das Aufziehen verbummelt! +Und schon ganz hell! Jeden Augenblick muß der Wagen kommen mit Pilgram, +dem gestrengen Senior, der so verdammt ungemütlich werden kann ... und +mit Durchlaucht, dem fürstlichen Konkneipanten eines wohllöblichen +C. C. der Franconia ... und dann warten lassen?! Herrgottsakra -- rin' +in die Buchsen --! + +Durchs offene Fenster schwamm herbstlicher Frühnebel in das schummrige +Studentenbudchen. Matt flimmerten an den Wänden die dreifarbenen +Wappenschilde, die gekreuzten Schläger, die langsam einstaubenden Mützen +und Bänder -- weit matter noch vom Schreibtisch her die Goldtitel des +_corpus iuris_, der spärlichen Lehrbücher der Rechtswissenschaft ... +Und weiß blinkte nun der gertengeschmeidige Körper des jungen Studenten: +Hals und Nacken wurden mit raschen, scharfen Güssen erfrischt, und dann +wusch der Jüngling sorgsam das dichte braune Haar mit schäumendem +Bay-Rum durch, um alle septischen Stoffe zu entfernen und der +Säuberungsarbeit des Paukarztes vorzuarbeiten ... Denn heute bekam Hans +Thumser Prügel, das stand in den Sternen geschrieben. Herr Borgmann, +Neo-Borussiae gewesener Zweiter, Erster _ad interim_ war der S. C. +Fechter ... gegen den konnte der schlanke Fuchsmajor der Franken nicht +an. Da galt es nur, sich gegen die unvermeidliche Abfuhr zu wehren, +solange Faust und Klinge hielten ... Schade, daß es gerade der Borgmann +sein mußte, der einen unterkriegte -- dieser üble Geselle, den man nicht +riechen konnte, mit seinem suffisanten Gesicht, seinem fatzkigen +Lächeln, den frostigen Froschaugen -- dem mal einen Streicher über die +Ohrfeigenvisage ziehen, von der Temporalis bis ins Kinn -- aber nee, +nich dran zu denken, er konnte zu viel, der Affe, der miserablichte! + +So -- die Toilette wäre beendigt! Noch einen Blick in den Spiegel -- +ade, du große schmale Nase, vielleicht auf Nimmerwiedersehen -- na, und +auf Stirn und Wange ist ja auch noch eine ganze Menge Platz, zwischen +den alten Abfuhren aus Heidelberg und denen vom Sommer, und nun statt +der grünen Mütze für heute den weichen Knockabout auf die Stirn gestülpt +-- denn in jener Stadt, in der das Reichsgericht saß, die erleuchtete +Körperschaft, welche die Schlägermensur für einen Zweikampf mit +tödlichen Waffen im Sinne des Strafgesetzbuches erklärt hatte -- im +guten biedern Leipzig waren Staatsanwaltschaft und Polizei nach der +Mahnung jenes schönen Würzburger Studentenverses tätig: + + »Darum auf, ihr Wächter des Gesetzes, + Hüter des Studentenpaukgehetzes -- + Lauscht überall + Auf Waffenschall + Und seid stets der Mensur + Auf der Spur!« + +Auch das dreifarbene Band wanderte zusammengerollt in die Tasche -- erst +draußen im braunen Herbstwalde bei Knauthain würde es sich um die junge +Brust schlingen dürfen ... und nun hinaus ... das Frühstück mußte man +sich für heut verkneifen, denn Frau Marie Wehe, genannt Mutter Ach, +stand um fünf Uhr noch nicht auf aus ihrem keuschen Witwenbette ... + +Als Hans Thumser im dunklen Korridor an der Tür zu der Nachbarbude +vorüberschritt -- der Nachbarbude, die dies Semester zu Mutter Achs +bittrem Schmerz unvermietet geblieben war -- da stolperte er plötzlich +über etwas Zierliches, Weiches ... was Teufel -- also doch noch +Nachbarschaft gekommen --?! + +Hans Thumser bückte sich und hob ein Etwas auf, das nur ... ein +Lackschuh sein konnte ... und zwar ein winziger ... mit knisternder +Seidenschleife besetzter ... ein feiner, geheimnisvoll irritierender +Duft entstieg ihm ... Hans Thumser trat mit seinem seltsamen Fund an +die Mattscheibe der Korridortür, die ein falbes Licht einfallen ließ, +und betrachtete mit der naiven Andacht seiner unverwöhnten zwanzig Jahre +das zierliche Wunder. Gott, welch eine Wirrnis von Träumen stieg empor +aus diesem schmalen Kahn der Sehnsucht ... Mit einem tiefen Seufzer, +von fröstelnden Schauern überrieselt setzte der Jüngling seine Beute +sacht und herzklopfend wieder vor die Tür, die nun auf einmal ein Eden +barg. Ein weißes Viereck schimmerte matt vor dem des Dämmers nun +gewöhnten Blick, als der Student sich wieder zu seiner ganzen Länge +aufgerichtet ... in unzähmbarer Neugierde tastete er nach seiner +Zündholzschachtel und las im zuckenden Flackerlichte die +lithographischen Schriftzüge: + + Asta Thöny + Herzoglich Meiningische Hofschauspielerin + +Was ... war das?! + +Hans Thumser hatte auf eines jener Dämchen geraten, die sich wohl +bisweilen im _Quartier latin_ einnisteten, um Jugendglut und +Monatswechsel der akademischen Bürger zu brandschatzen ... und nun --?! + +Eine Künstlerin ... ein Mitglied jener erlauchten Komödiantengilde, +deren Siegeszug dem staunenden Deutschland, nein der Kulturwelt erst +erschlossen die ganze Herrlichkeit des klassischen deutschen, des +klassischen germanischen Dramas --?! + +Hans Thumser sah sich in der Heimatstadt, auf einem Platze des zweiten +Ranges, den er vom Taschengeld abgeknausert, abgebettelt dem gütigen +Vater, der so schlecht nein sagen konnte -- sah sich sitzen als +ahnungsvollen Primaner und lauschen -- lauschen in Verzückung und +Tränen ... schauen voll seliger Gier und ungläubig-gläubigen +Ueberschwangs in eine Wunderwelt hinein, da alle seine Träume die +Erfüllung fanden ... und sah sich am andern Tage auf der Schulbank, +stumm und stumpf bei jeder Frage der Lehrer, gleichgültig gegen ihren +Zorn und den Spott der Mitschüler, die nicht ahnen konnten, was mit dem +Primus vorgegangen ... was ihm die flinke Zunge, das unfehlbare +Gedächtnis lähmte ... + +Und nun --?! Eine Meiningerin -- und seine Zimmernachbarin? + +Was konnte das bedeuten --? + +Etwa dies: daß die Meininger in Leipzig wären -- gastierten drüben im +Carolatheater --? + +Und davon -- davon hatte man nichts erfahren? + +Freilich -- unmöglich wär's nicht -- wie man so dahinlebte, das +Gladiatorendasein des aktiven Korpsstudenten ... + +Asta Thöny? Nein -- den Namen Asta Thöny verzeichnete seine Erinnerung +nicht -- das mußte wohl ein neues Mitglied sein, schlank und ... duftig +wie die Schuhchen, von denen nun, im wachsenden Tageslicht, ein paar +Lichtpünktchen aufgleißten aus dem Dämmer des Korridors ... + +Aber ein anderer Name stieg nun auf, ein weißleuchtendes Mädchenbild +tauchte glorienumstrahlt aus der Tiefe seiner Visionen: Jucunda Buchner, +die kaum Sechzehnjährige, die Thekla der Meininger ... + +Sie sah er, im dritten Akt der »Piccolomini«, einsam im finstern +Schloßgemach, mit der Laute hineingeschmiegt in einen faltenstarren +rotsamtenen Vorhang, scharf abgehoben die weiße Gestalt vom riesigen +Fenster, durch dessen hundert kreisrunde Scheiben die sternlose Nacht +hineinglotzte ... und wie ein Kind im Finstern singt, die +Herzensbangigkeit zu betäuben, so verloren, so verlassen, so +angstumschauert hatte das junge Weib seine schmachtende Weise vor sich +hingelallt: + + Der Eichwald brauset, die Wolken ziehn -- + Das Mägdlein wandelt an Ufers Grün -- + Das Auge von Weinen getrübet ... + + Du Heilige, rufe Dein Kind zurück -- + Ich habe genossen das irdische Glück -- + Ich habe gelebt und geliebet ... + +O Erinnerung ... o Ahnung ... o Kunst, du mächtige Weckerin, Vorschule +des Lebens, Tummelplatz der werdenden, in Werdeschauern erzitternden +Seele --! + +Gelebt und geliebet ... und du, junges Studentlein im finstern Korridor +-- aus dessen Dunkel die weißen Lichtpünktchen glitzern von Asta Thönys +Lackschuhchen -- --?! + +Hans Thumser schrak zusammen. Ihm war's, als hätte er aus weiter Ferne, +ungeduldig, seinen Namen rufen gehört ... + +Und richtig: + +»Thumser! Thumser! Zum Donnerwetter, wenn Du jetzt nicht kommst, fahren +wir ohne Dich!« + +Ach so ... ach ja ... die Stunde, die heischende ... die Stunde des +Burschenkampfes ... + +Hans Thumser fuhr auf, reckte sich -- kein Abschiedsblick mehr zurück zu +den Lichtpünktchen drunten, dem weißen Kärtchen an der Pforte des +Geheimnisses -- fort -- hinaus --! + +Er flog die krachenden Stiegen hinunter, der mächtige Haustürschlüssel +knarrte im Schloß -- und draußen auf der morgenstillen, morgenleeren +Sophienstraße empfing ihn ein Durcheinander von Begrüßung und Vorwurf -- + +»Na, Du Schlafratze -- endlich ausgepennt?« zürnte der Senior vom +Rücksitz aus. Und: + +»Hatten schon alle Hoffnung aufgegeben, Sie noch unter den Lebenden +begrüßen zu dürfen!« schnarrte der Major von Gorczynski, dessen kantige +Reiterfigur sich noch immer nicht in das elegante Zivil des +Prinzenbegleiters eingewöhnen mochte. + +Erbprinz Heribert aber, der durchlauchtigste Konkneipant der Franken, +zog nur stumm und mit indignierter Miene den steifen grauen Filzhut. +Also man ließ warten! na ja, an einer deutschen Hochschule funktioniert +der Betrieb nun einmal nicht wie am herzoglichen Hofe zu +Nassau-Dillingen ... man mußte Nachsicht üben ... + +Mit einem Ruck saß Hans Thumser neben seinem Korpsbruder auf dem +Rücksitz, dem Prinzen gegenüber, der ihn durch sein Monokel mit +kühl-durchdringendem Blick niederzuschmettern suchte, was ihm freilich +nicht gelang. + +»Also wenn Durchlaucht gestatten, fahren wir ab!« sagte Valentin Pilgram +mit korrektem Gesicht. Er war auch nicht sehr erbaut von der Ehre, einen +prinzlichen Mitkneipanten im Korps durch das Semester schleppen zu +müssen, zumal einen solchen faden Burschen, der nicht warm wurde unter +den Kommilitonen, deren Mütze er wie zum Maskenscherz die wenigen Male +aufsetzte, wenn er gelangweilt und verständnislos an den offiziellen +Veranstaltungen des Korps teilnahm ... indessen das gehörte nun einmal +dazu ... + +»Also los, Kutscher und lassen Sie gefälligst die Gäule loofen, sonst +fällt der erschte Hieb, ehe wir draußen sind!« + +»I herrjemerschnee, Herr Pilgram, das kann Sie ja gar nich passier'n -- +de Allererschten wär'n mer sein am Platze, da genn' Se sich drauf +verlass'n!« ... + +Als der Wagen anzog, fiel der Blick der Abfahrenden auf eine lange +Kolonne riesiger Möbeltransportwagen -- drüben waren sie aufgefahren vor +der nüchternen Häuserfront, deren Erdgeschoß die Einfahrt zum +Carolatheater durchstieß. Das Theater selber lag verborgen und +schmucklos dahinter im Hofe. Um die Wagen aber sammelte sich eine Rotte +herkulischer Blusenmänner und begann sie zu entladen. Was kam da alles +zum Vorschein! + +Das erste, was das Auge der Wageninsassen entdeckte, war der riesige +Körper eines schwarzen Pferdes, in liegender Stellung, in der Stellung +des Todes ausgestopft ... Unter derben Späßen hoben die untersetzten +Arbeiter die Bestie aus dem Finstern des Wagens und trugen sie in die +Dämmerung des Flurs. Und im schnellen Davonfliegen des Wagens erfaßte +der Blick der Enteilenden noch ein Chaos von Gegenständen, die bereits +ausgepackt an den Hauswänden lehnten: ein ganzes Arsenal eiserner +Rüstungen, Schwerter, Hellebarden, Federhelme ... und noch allerhand +Dinge, seltsam durch ihre Lage und Zusammenstellung: einen prunkvollen +gotischen Altar, einen mächtigen Eichbaumstumpf, dessen papierene +Blätter im Herbstmorgenhauche gespenstisch raschelten -- und endlich ein +kolossales Renaissance-Büfett, das Hans Thumser auf den ersten Blick +wiedererkannte: es hatte im Bankettsaal des Grafen Terzky gestanden, der +Zecherrausch der Friedländischen Generale hatte es umbrandet -- damals, +im Barmer Stadttheater, als Hans Thumser in Fieberschauern den +»Wallenstein« erlebte ... + +»Die reine Trödelbude --« sagte Valentin Pilgram, der Senior, und zog +die Winkel des schmalen Mundes verächtlich herab. »Ooch 'n Geschäft, +sich Abend für Abend die Visage zu beschmieren, sich vor so'ne Lappen +hinzustellen und mit Armen und Beinen zu fuchteln ...« + +Die blassen, matten Züge des Erbprinzen hatten sich plötzlich belebt. +»Sie vergessen, lieber Pilgram, daß diese Fuchtelei mit Armen und Beinen +doch manchmal ganz niedlich anzusehen ist ... namentlich wenn diese Arme +und Beine -- halten Sie sich mal die Ohren zu, Herr Major! -- na also, +wenn sie schlank, jung und ... _feminini generi_ sind ...« + +»-- _gener=is=_, Durchlaucht!« erlaubte sich der Erzieher zu bemerken. + +»Echauffieren Sie sich nicht, lieber Major -- als Sprachlehrer sind Sie +nicht engagiert -- Sie haben nur für meine Moral zu sorgen -- wenn's +auch schwer fällt ... aber nun sagen Sie mal, Sie Alleswisser -- was +bedeutet denn dieser Apparat da vor dem ollen muffigen Carolatheater?« + +»Die Meininger, Durchlaucht, beginnen in fünf Tagen ein vierwöchiges +Gastspiel in Leipzig,« sagte der Major. + +»Und das haben Sie mir bis jetzt unterschlagen, Sie Cerberus?« + +»Ich habe nicht gewußt, daß Durchlaucht sich auch für =ernste= Kunst +interessieren ...« + +»Ah bah -- Theater ist Theater ... und wo kann der Thronfolger eines -- +na sagen wir mal eines Staates von mäßigem Umfang -- wo kann ich mich +besser auf meinen künftigen Beruf vorbereiten als im Theater? Mein +Hoftheater, das ist doch der einzige Platz, wo ich später ... +gewissermaßen ... wirklich mal was zu sagen haben werde ...« + +»Durchlaucht ... ich darf wohl bitten ...« warf der Major ein. + +»Na, jedenfalls ist das meine Auffassung!« lachte der Erbprinz, »-- +können Sie meinetwillen nach Dillingen berichten! Und das bitte ich mir +aus, Herr Major: bei den Meiningern belegen Sie heut abend sofort die +vorderste Proszeniumloge! Ich sehe mir die ... Kunst ... gern aus der +nächsten Nähe an! Lieber Pilgram -- zur Eröffnungsvorstellung sind Sie +mein Gast, nicht wahr?« + +»Sehr gütig, Durchlaucht ...« sagte Valentin Pilgram und sann nach. +»Das wäre, soviel ich weiß, am nächsten Mittwoch ... da haben wir +allerdings offizielle Kneipe, und ich als Erster Chargierter dürfte +eigentlich nicht ... und dann ... habe ich auch nicht allzuviel fürs +Theater übrig ...« + +»Philister Sie! Na und Sie, Herr Thumser -- wie wär's mit Ihnen?« + +Hans Thumser wurde glühendrot ... halb in Glück, halb in Befangenheit +... er hatte sich bereits schmerzlich bewegt ausgerechnet, daß es gegen +Ende des Monats gehe, und sein Wechsel ihm einen Besuch der Meininger +wohl schwerlich vor dem ersten November gestatten würde ... also das +fiel ja geradezu vom Himmel ... andererseits ... mit diesem blasierten, +schwunglosen Menschen zusammen -- wie würde er's ertragen, in seine +Andacht hinein solche Reden vernehmen, gar ihnen ehrerbietig lauschen zu +müssen? + +Dennoch ... besser als gar nichts ... + +»Ich nehme mit Freuden an, Durchlaucht ...« + +»Also abgemacht! Was gibt's denn, Herr Major?« + +»Jungfrau von Orleans ...« + +»Ausgerechnet --!« schnarrte der Prinz -- »Schiller --! Gymnasium in +Wiesbaden -- verfluchten Angedenkens! Schiller! Was ist Schiller? Eine +Serie von Aufsatzthemen --!!« + +»Stimmt!« rief Pilgram. »Keine zehn Pferde ziehen mich ins Theater, wenn +Schiller gespielt wird! 'Die tragische Schuld der Maria Stuart' -- +'Wallenstein, ein tragischer Charakter' -- 'Die poetische Gerechtigkeit +in der Braut von Messina' -- pfui Deuwel! um junge Hunde zu kriegen --!« + +Wie bin ich unter diese Menschen geraten? dachte Hans Thumser. Warum +trage ich die gleiche Mütze und die gleichen Farben wie sie? Kein Takt +des Herzschlags, kein Gefühl, kein Wort ist mir mit ihnen gemeinsam ... + +Und derweil rollte der Wagen seitwärts durch die nüchternen, +morgenleeren, hallenden Straßen der Südstadt, dem fernen Kampfplatz +entgegen, wo Hans wieder einmal seine Zusammengehörigkeit mit seinen +Korpsbrüdern, seine Zugehörigkeit zum Frankenbunde mit seinem Herzblut +besiegeln sollte ... + +»Vergessen Sie nicht, Durchlaucht, daß Jucunda Buchner die Jungfrau +spielt ...« + +»Jucunda Buchner? Ist -- wer?« + +»Nun, der jugendliche Stern der Meininger -- einfach Sehenswürdigkeit -- +gewissermaßen das deutsche Mädchen in Reinkultur --« + +»Schön -- also abgemacht!« sagte der Erbprinz. »Aber halten Sie mich +fest, lieber Major, sonst mach' ich Dummheiten...« + +»Buchner?« sagte der Senior, »hm -- da fällt mir was ein. Mein Hauswirt, +der Kanzleirat Buchner, der hat ja, soviel ich weiß, irgendwo 'ne +Tochter beim Theater ... das wäre doch ulkig ... soviel ich weiß, wurde +ihre Ankunft erwartet ... und ich mein' auch, daß sie in Leipzig spielen +sollte, hätte die Alte erzählt -- ich hab' aber nicht recht hingehört -- +was geht mich das Theater an ...« + +»Herrgott, Mensch -- das Theater!« platzte Thumser heraus. -- »Hier +handelt sich's doch um die Meininger! Hast Du davon überhaupt eine +Ahnung, was dieses -- dieses Theater bedeutet? Die Entdeckung der +Klassiker, ihre Eroberung für die Bühne unserer Zeit, die Entbindung all +der tausend köstlichen Sinnlichkeiten, die im Drama unserer Großen +schlummern -- bist Du denn solch ein Barbar, solch ein Banause, daß Du +von all dem nichts weißt -- daß all das für Dich nicht existiert?« + +»Na, entschuldige schon, daß ich existiere!« schnarrte der Erste. »Ne +wirklich, teures Thumserherz, das alles ist mir schnuppe, schnupper, am +schnuppesten! Ich halt's mit meinem Vater, der nie in seinem Leben ins +Theater gegangen ist und doch Senatspräsident am Oberlandesgericht in +Dresden geworden ist, und jedenfalls noch ein Endchen weiter kommen wird +im Leben, eh er Schluß macht! Kunst ist Spielzeug für charakterlose +Müßiggänger -- unsere Zeit aber braucht Arbeiter, Charaktere -- Männer, +verstehste?!« + +»Bumm, bumm, bumm! Tusch!« sagte der Prinz. »Sie sind zum +Landtagsabgeordneten qualifiziert, lieber Pilgram ...« + +»Verzeihung, Durchlaucht, es muß auch -- Landtagsabgeordnete geben! Ne, +lieber Thumser, lauf Du nur immer ins Theater und laß Dir -- wie hast Du +so schön gesagt? -- laß Dir Deine tausend köstlichen Sinnlichkeiten +entbinden -- mein Bedarf ist mit Fechtboden, Kneipe und Windscheids +Drogenweltkolleg vollkommen gedeckt!« + +»Und so was hat nun das Glück, mit Jucunda Buchner unter einem Dache zu +wohnen ...« seufzte Erbprinz Heribert. + +»Das weiß ich noch nicht, das ist nur eine Vermutung von mir, +Durchlaucht ... Uebrigens ist die Sache wirklich ohne Interesse für +mich. Mit einer Komödiantin möcht' ich noch nicht mal eine Poussage +haben ... man kann ja doch nie wissen, ob sie einem nicht was vormimt +und einen innerlich auslacht ...« + +»Na, teurer Pilgram, nu sei'n Se aber friedlich!« schmunzelte der +Erbprinz. »Davon versteh'n Sie nu wirklich nischt -- det haben Sie noch +nich gehabt!« + +»Sie doch auch nicht, wie ich hoffe, Durchlaucht!« sagte der Major +und blinzelte seinem jungen Herrn unter grimmig zusammengezogenen +Brauen verschmitzt zu. Und Erzieher und Zögling wechselten ein +Augurnlächeln ... + +Der Wagen rollte. Niederer wurden die Häuser, die beiderseits die +Connewitzer Landstraße umsäumten. Und bald wurde die Bebauung offener, +ländlicher. Dann bog die Fahrt nach rechts, und in die braunen +Schattenhaine des Streitholzes ging's hinein, die Pleiße wurde +überschritten auf knarrender Holzbrücke, unter der sich die gelben +Fluten träge hinwälzten, noch angeschwollen von den ersten Herbstregen, +welche die vergangene Woche gebracht. Aber heut rang sich aus +Nebelbrodem die verschlafene Morgensonne mühsam durch, umgoldete das +rötliche Buchenlaub zu Häupten der Dahinrollenden, verhieß einen lustig +blanken Fechtertag, den letzten unter freiem Himmel für dies Jahr: der +nächste würde schon im benachbarten Halle, richtiger im Vorort +Cröllwitz, steigen müssen, an der murmelnden Saale, gegenüber den +reckenhaften Trümmern des Giebichenstein. + +Allmählich wandte sich das Gespräch von dem strittigen Thema des +Theaters zum minder kontroversenreichen des nahen Bestimmtages hinüber. +Daß der Fuchsmajor der Franken heute seine todsichern Senge bekommen +würde, galt als ausgemachte Sache, über die niemand Worte zu verlieren +brauchte. Es fragte sich bloß, ob Hans Thumser auf seine notorische +vielgeprüfte Quartblöße oder auf Borgmanns allgefürchteten Durchzieher +abgestochen werden würde -- von dem Valentin Pilgrim, der Senior, im +Gesicht bereits ein stattliches Exemplar trug, welches Ohrläppchen und +Mundwinkel mit einem linealgraden breiten Strich verband ... + +Aber während man also über Hans Thumsers nächste Zukunft verhandelte, +das Schicksal seiner linken Gesichtshälfte sachverständig abtaxierte +-- -- war Hans Thumsers Inneres auf geheimnisvolle Weise in +Gleichgültigkeit und Fernsein untergetaucht. + +Jungfrau von Orleans ... sang es in seinem Herzen ... Jucunda Buchner +... das war wie eine leuchtende, gnadenvolle Nähe, wie ein offener +Himmel, aus dem eine lichte Madonna sich neigt, gegenwärtig und doch +unnahbar, bekannt und doch undurchdringlich ... + +Und zwischen die Choralmelodien, die Harfenarpeggien, welche das +Heiligenbild umschauerten, kicherte und schwirrte es hinein wie +Flötentriller, wie kecke Geigenpizzicati: + +Asta Thöny ... Asta Thöny ... + +Und ein paar neckische, blinkende Lackschuhchen tanzten auf und nieder, +aus denen zwei schlanke, seidenbestrumpfte Knöchel guckten -- was +darüber war, verschwand in rosigen Schleiern, aus denen es lachte und +girrte wie Taubengurren: + +Asta Thöny ... Asta Thöny ... + +Ernsthaft und aufrecht saß Valentin Pilgram, der gestrenge Senior des +Korps Franconia. Als läge die Regierungslast eines Millionenstaates auf +seinen Schultern, so pflichtdurchdrungen, so würdeumbauscht saß er und +übersann das Programm des Tages ... Ob Heinz Hartwig, das muntre, +taprige, ewig korkende Füchslein, wohl heute endlich eine einwandfreie +Mensur liefern würde und daraufhin ins engere Korps rezipiert werden +könnte? Und Ivo Volkner, der leichtblütige Rheinländer aus Düsseldorf, +dessen letzte Mensur auch keineswegs tadelsfrei gewesen war -- ob er +wohl sein unstätes Musikantentemperament heute so weit im Zaume halten +würde, um sich herausreißen zu können? + +Und was sollte der C. C. auf den merkwürdig schnoddrigen Brief unseres +lieben Kartellkorps Pomerania zu Göttingen antworten? Ob es nicht doch +besser war, das alte Kartellverhältnis zu lösen und ein +frisch-fröhliches P. P. zu fechten?! Aber was würden die gemeinsamen +Alten Herren sagen? + +Und ob man den Rektor zur C. C.-Antrittskneipe einladen mußte -- +anläßlich der hohen Ehre, daß ein richtiggehender Prinz und Thronfolger +zu den Konkneipanten des Korps zählte? + +Ja, man hatte schon seine Sorgen ... Der Reichskanzler war am Ende auch +nicht viel schlimmer dran als der Erste Franconiae-Leipzig ... + +Der Erbprinz aber träumte von einer fernen Zukunft ... noch war der alte +Herr ja ... hm, hm! -- erheblich rüstig ... und seine Altersgenossen, +die Leutnants des Sophien-Regiments, hatten ihm gelegentlich in später +Stunde, wenn der Sekt die Zungen gelöst, das Gefühl der Distanz ein +wenig gemildert hatte -- na ja, dann hatten sie ihm gelegentlich etwas +gesteckt von all dem Gemunkel, das in der Residenzstadt umlief über die +zarten Beziehungen des hohen Herrn zu der weiblichen Elite des +Hoftheaters ... + +Er, Heribert Hans Herwig, würde sich das erlauchte Vorbild seines +gnädigsten Vaters zum Muster nehmen, wenn er einmal als Heribert XIV. +das Thrönchen seiner Väter bestiegen haben würde. + +Inzwischen hielt man sich studienhalber in Leipzig auf und würde auch da +auf seine Rechnung zu kommen wissen ... + +Jucunda Buchner ... das klang recht verheißungsvoll ... und Jungfrau von +Orleans ... Himmel, es gibt allerhand Arten von Jungfrauen ... + +Nun war man »draußen«. Mitten im tiefschattigen Buchenwald ein +wuchtender Eichbaum, sonst von tiefem Dämmerfrieden umwirkt, heut +umbraust von einem bunten, farbentollen Leben. Die wilden +Völkerschaften, die inmitten moderner Gesittung ein mittelalterliches +Reckendasein führten bei Waffenklirren, rauhem Sang und schäumenden +Kannen, die Franken und die Neo-Borussen, die Westfalen und Meißner und +Thüringer, hier hatten sie sich Stelldichein gegeben zur +allwöchentlichen feierlichen Rauferei. Und diesmal, als am ersten +Bestimmtage des Semesters, war alles in besonders gehobener Stimmung. +Die alten Bekannten in den verschiedenen Korps begrüßten sich hinüber +und herüber, mit besonderer Herzlichkeit jene, die bereits einmal oder +gar mehrmals die Klinge gekreuzt hatten -- wesentlich zeremonieller +schon jene, denen heute der blutige Gang bevorstand. Alles war in Wagen +gekommen, die nun als langer Park auf der Chaussee aufgefahren waren, +stets bereit, mit den Paukanten in Windesschnelle davonzusausen, wenn +die weithin aufgestellten Schnarrposten die Annäherung von Pickelhauben +und grünen Waffenröcken melden sollten. Alles war im »Bummel« gekommen, +das heißt im Hut, die Couleur in der Tasche; nun wurden schleunigst +Mützen und Bänder angelegt: gar lustig flimmerten auf dem bunten Tuch, +der dreifarben-gestreiften Seide, die Sonnentupfen, die durchs braune +Laubdach sich niederringelten. Und bald stand das erste Paar bereit: +Pilgram, Franconiae Erster, gegen den stämmigen Zweitchargierten der +Meißner. + +Und nun -- heiho! Gellende Kommandorufe hinein in die lauschende Stille, +widerhallend an den schlanken, weißleuchtenden Buchenstämmen ... und +nun: klirr, klirr der helle Klang, wenn Eisen scharf auf Eisen traf, im +Wechsel mit dem dumpfen Knall der flachen Hiebe, die über Stulp und +Schädel krachten -- heiho! uralte Reckenlust am tollen Raufen, am harten +Widereinander der jugendlichen Kräfte ... + +Jähes Halt der Sekundanten, Pause, Blut rinnend hüben über die schmalen, +herrischen Züge des Frankenseniors, drüben über die feisten Speckbacken +des Fechtchargierten der Meißner ... und wiederum Kommandos, hageldichte +Hiebe, Stahl auf Stahl ... + +Und dann war's plötzlich aus: der Meißner hatte seine Abfuhr weg, eine +lange Quart, fast unpariert, überm linken Ohr. Und in die +blutbeschmierte Bandage mußte nun Hans Thumser hinein. + +Schon stand er dem verhaßten Borgmann gegenüber, schon faßten die Gegner +einander fest ins Auge, schon flogen die Klingen in die Auslage, +kauerten die Sekundanten wie sprungbereite Katzen zu ihrer Kämpfer +Seiten -- da entstand eine Bewegung unter der lauschenden Korona. Auf +dem weichen Waldboden scholl ein dumpfes Klackern wie von Huftritten, +und auf dem schmalen Pfade, der am Wiesensaum entlang sich zog, flitzten +zwei Reiter heran -- aber nicht die Grünröcke der Gendarmen -- +Zivilisten waren's, ein Herr und eine Dame. Hans Thumser sah, wie alle +Köpfe sich wandten -- doch ihm blieb nicht Zeit -- nur einen grauen +Schleier sah er wehen von einem hohen, schwarzglänzenden Seidenhut; sah +etwas Lichtes, Klares darunter, hell abgehoben vom dämmernden Waldgrund +-- und dann -- + +»Auf die Mensur -- bindet die Klingen!« + +»Gebunden sind --!« + +»Los!« + +Und nun alles Leben in Aug und Handgelenk hinein sich krampfend -- und +ein Wille nur -- sich wehren -- und treffen! treffen --!! + +»Halt!« + +»Halt --!!« + +Und auch hier schon nach dem ersten Gange helle rote Bäche rinnend über +weiße Stirnen, zernarbte Wangen ... + +Und während der Paukarzt mit dem Wattebausch in Hansens klaffende +Stirnwunde tupft, vernimmt des Fechters Ohr ganz deutlich aus der Mitte +der Umstehenden die Worte: + +»Das ist die Buchner!« + +Und eine andere Stimme fragt: + +»Und der Herr -- wer ist das?« + +»Das ist Franz Burg -- der Heldenspieler ...« + +Inzwischen hat der Paukarzt seine Untersuchung beendigt; er lächelt: + +»Weiter!« + +»Herr Unparteiischer -- von unserer Seite kann's weitergehen ...« + +Aber drüben bei den Neo-Borussen scheint man noch nicht so recht im +Klaren ... na, wenn Hans Thumser auch schließlich wird dran glauben +müssen: auch Herr Borgmann hat sein Teil bekommen, scheint's! + +Er lugt umher: dort halten sie, die Reiter, unterm Eichbaum und spähen +neugierig hinüber ... Ja, das glaub' ich, ihr Komödianten -- so etwas +bekommt ihr nicht alle Tage zu sehen -- hier schwingt man die Waffe +nicht nur zum Spiel -- und was hier Stirn und Wange färbt, ist +wirkliches Blut, nicht Schminke ... + +Und dies schmale, feine junge Gesichtchen -- das ist ... Thekla -- das +ist Johanna von Arc?! + +Nun werden auch die Neo-Borussen wieder munter: + +»Herr Unparteiischer, von unserer Seite kann's weitergehen!« + +»_Silentium_ -- Pause _ex_!« + +»Auf die Mensur -- bindet die Klingen!« + +Jucunda! betet irgend etwas in Hans Thumsers Seele. Er fühlt, wie alle +Sehnen sich straffen. + +»Gebunden sind!« + +»Los!« + +Und zweimal, dreimal schmettert Hieb auf Hieb -- und: + +»Halt!« + +»Halt!« + +»Herr Unparteiischer, bitte drüben nachzusehen und einen Blutigen zu +konstatieren!« ruft Valentin Pilgram, Hansens Sekundant, wilden Triumph +in der Stimme -- sich aufrichtend, zischt er seinem Paukanten ins Ohr: + +»Du -- das ist Rest!!« + +»Rest? Bei wem? Bei mir?« fragt Hans Thumser ganz verdutzt. + +»Ne -- da drüben -- bei Borgmann! Teufel auch, Thumser -- der +Durchzieher -- so was darfste öfters schlagen!« + +Was? Er -- Hans Thumser -- er hätte den S. C. Fechter -- --? +Donnerwetter! + +An des Gegners Stirn klaffte ein breiter roter Spalt, aus dem zwei feine +warme Strahlen spritzten -- + +»'raus!« sagt drüben der Paukarzt. + +»Herr Unparteiischer, wir erklären die Abfuhr!« + +Borgmann stampfte vor Wut mit dem Fuß, als der Paukarzt von hinten mit +kräftigem Griff seine Stirn zusammenpreßte und ihn herumdrehte. Was +half's? + +»_Silentium_ -- Neo-Borussia erklärt Abfuhr nach anderthalb Minuten!« + +Als Hans Thumser sich aus dem Schwall der Glückwünsche seiner +Korpsbrüder losmachte und Ausschau hielt -- war das Reiterpaar +verschwunden. + +»Gratuliere!« sagte Erbprinz Heribert. »Fabelhaft, lieber Thumser, meine +vollste Bewunderung! Haben Sie übrigens die Buchner gesehen?! Vollkommen +tadelloses Mädchen ...« + + + + + 2. + + +Wenn Hans Thumser auf ein Glück wartete, so machte die Ungeduld ihn +krank, verdarb ihm jede Minute mit zehrender Sehnsucht. So war es schon +immer gewesen, solange er sich seiner erinnern konnte. Die letzten +Wochen vor dem Weihnachtsfest, vor dem Beginn der Sommerfrische waren +ihm stets eine endlose Tortur gewesen ... Und als er später begonnen +hatte zu empfinden, daß nur die Stunden wahrhaft lebenswert seien, in +denen er mit einem gewissen braunbezopften Menschenkind unter einem +Dache weilen durfte ... da war alles, was zwischen diesen Stunden lag, +nur wie ein unermeßlich langer, böser, dumpfer Traum und Alpdruck +gewesen ... + +Und so bedrückend, so angstumschnürt wälzten sich auch die Tage dahin, +die Hansens Mensurtriumph noch von der Eröffnungsvorstellung des +Meininger Gastspiels schieden. Er saß inmitten seiner Korpsbrüder, +schwatzte und trank mit ihnen wie immer, ließ ihre Lobesbezeigungen mit +der gleichen Gelassenheit über sich ergehen wie den boshaften Spott der +Neider, es sei nur ein »Schweinedusel« gewesen, daß er den S. C. +Fechter hinabgetan habe ... Er ließ auf offizieller Kneipe seine Füchse +in die Kanne steigen, daß sie quietschten, und schrieb morgens bei +Windscheid und Binding im Kolleg mit einem ganz ungewohnten, +krampfhaften Eifer nach, als steure er auf ein Prädikatexamen los -- -- +und all dies Tun blieb seiner Seele so fern, so fern ... + +Manchmal fragte er sich, ob er wohl bei ganz gesundem Verstande sei -- +ob es nicht eine fixe Idee, ein krampfhaftes Wahngebilde sei, das ihn so +grenzenlos hungern ließ nach -- nach einem Nichts, einem Spiel, dem +flüchtigen Schattenbilde eines Dichtertraums ... Und dann wieder genoß +er mit einer phantastischen Seligkeit sein Wesen, das ihn vom wachen +Leben hinweg so unwiderstehlich in luftige Spukwelten drängte ... + +Nur die Stunden zählten wenigstens halb, die er am Fenster seiner Bude +verbrachte, hinüberstarrend zur nüchternen Front jener Gebäude an der +langweiligen Sophienstraße, hinter denen der kahle Bau des +Carolatheaters sich barg. Dort war um die Vormittagsstunden ein +lebhaftes Kommen und Gehen. Früh um neun begannen die Proben, natürlich +nur für die neuangeworbene Statisterie, denn für die Solo-Rollen +»standen« selbstverständlich alle Stücke des Repertoires. Aber die +stattliche Schar des »Volkes«, die in jeder Stadt aufs neue +zusammengebracht und gedrillt werden mußte, die wimmelte heran, füllte +die sonst stille Straße mit Lachen und Geschwätz ... braunäugige Töchter +kleiner Bürgersleute, stellungslose Ladenfräulein und Kommis, +Stadtreisende und Konservatoristen -- vor allem aber Studenten, +Studenten von jener Sorte, die der Waffenstudent eigentlich nicht +mitrechnete, und die trotzdem die weitaus überwiegende Mehrzahl der +akademischen Bürgerschaft bildete: die »Finken«, auch »Bummler« genannt, +obwohl sie natürlich weit weniger bummelten als die jungen Herren in +Mützen und Bändern ... gar zu gerne hätte Hans Thumser sich mit ins +Gewühl der Statisten gemengt, um als »Volk« oder »Friedländischer +Soldat« oder als römischer Quirite sich an den großen, festlichen +Unternehmungen zu beteiligen, die da drüben vorbereitet wurden ... Und +eines Tages hatte er sich's getraut, vor den Ersten hinzutreten mit der +Bitte: + +»Sag' mal, Pilgram, wie ich höre, wirken eine ganze Menge Studenten in +den Vorstellungen der Meininger als Statisten mit -- hättest Du was +dagegen, wenn ich da ebenfalls mittäte?« + +Der Erste sah den Fuchsmajor mit einem Blick an, als bäte dieser um +Erlaubnis, silberne Löffel zu stehlen. + +»Hör mal, Du, Dein Kopfschmiß von Sonnabend eitert wohl nach innen, +he?!« + +Also damit war es nichts ... und so mußte man sich denn begnügen, von +weitem zuzuschauen, wie die glücklicheren Kommilitonen, frei des +korpsstudentischen Zwanges, nach Schluß der Probe froh erregt, mit +glühenden Köpfen, lebhaft diskutierend dem Eingangstor des Theaters +entströmten, um die namenlosen Kneipen aufzusuchen, in denen sie nach +eigener Wahl und entsprechend der Rücksicht auf die Dimensionen ihres +Monatswechsels verkehrten. Und inmitten dieser Beneidenswerten kamen +auch die Helden und Heldinnen aus der Probe -- natürlich mußten ja auch +sie wenigstens die Massenszenen immer wieder aufs neue mit probieren ... + +Und noch ein andres heimliches Fest blühte für Hans Thumser innerhalb +seiner bescheidenen vier Wände, die glücklicherweise so dünn waren, daß +sie manch ein Geräusch durchließen von jener geheimnisvoll lockenden +Welt, die hinter ihnen sich barg: das Klappern zierlicher Pantöffelchen, +das Rascheln seidener Röcke, keckes Mädchenlachen und halblautes +Geschwätz, wenn Kolleginnen drüben zum Besuch kamen ... Aber noch immer +war's ihm nicht geglückt, seine Nachbarin von Angesicht zu Angesicht zu +sehen. + +Inzwischen baute Hans in seinem Herzen ein seltsam Kirchlein auf: droben +war ein feierliches gotisches Heiligtum, in dem Jucunda Buchners weiße +Gestalt auf ernstem Altare stand, von Weihrauch und Kerzengeflacker +umspielt ... darunter aber, tief unter der Erde, barg sich eine dämmrige +romanische Krypta, in der tolle Orgien verbotener, heidnischer Kulte +nächtens gefeiert wurden vor einem üppig lächelnden Götzenbild -- seine +Züge waren nicht genau erkennbar -- verschwammen im hüpfenden +Fackellicht, das durch den Raum dunstete ... + +Aber Hänschen Thumser war nicht der Mann des tatenlosen Zuwartens. Es +mußte etwas geschehen, die dumpfe Qual dieser sehnsüchtigen Tage zu +verkürzen. Aber was? Immer wieder mündeten seine Pläne in die +Erkenntnis, daß man einem jungen verwöhnten Mädchen -- und eine +Schauspielerin konnte man sich ja doch nicht anders vorstellen als jung +und verwöhnt, nicht wahr? -- daß man solch einem Liebling der Götter und +Menschen nur nahen könne mit gebenden Händen ... und seine Hände waren +leer ... der Monatswechsel heidt -- knapp noch das Nötigste für die +letzten Tage vorhanden ... + +Auf einmal -- welch glorreicher Gedanke! Hänschen Thumser konnte ja +etwas, das am Ende doch nur die wenigsten unter Asta Thönys Verehrern -- +gewiß hatte sie unzählige -- reiche Bankiersöhne und Gardeleutnants und +-- na und solche Leute mit unerschöpflichen Portemonnaies -- aber gewiß +konnten solche Leute meistens eines nicht, oder wenigstens nicht so gut +wie Hänschen Thumser -- nämlich =dichten=! + +Juchhe! Hänschen hat kein Geld, um kunstvolle Blumenarrangements zu +kaufen -- aber wunderschöne Verse kann er machen! -- Also los! ein Blatt +aus dem Kollegheft gerissen und gereimt auf Deuwel komm heraus! + + »Ich bin ein junger Korpsstudent, + Die Schuhe Lack, der Rock patent -- + Korrekt und schick an mir ist alles --« + +lauter unbestreitbare Wahrheiten! aber nun kommt der Haken. + + »-- im Portemonnaie nur haust der Dalles --« + +So -- immer frisch heraus mit dem sauren Bekenntnis, dann weiß Asta auch +gleich, wie sie mit mir dran ist -- was sie von mir zu erwarten hat -- +und was nicht ... + + »Doch da das Schicksal über Nacht + Zu Budennachbarn uns gemacht --« + +(Ach du liebes, gnädiges Schicksal du!) + + »-- müßt' ich Dich eigentlich begrüßen, + Und Rosen legen Dir zu Füßen -- + Wie gerne würd' ich mich erdreisten -- + Doch leider --« + +Alle Wetter: das wird ja ein prachtvoller Reim: + + »-- kann ich mir's nicht leisten ...« + +Nun ein zweites offenes Bekenntnis: + + »Noch kenn' ich Dich, Du Schelmin, nicht, + Sah nicht einmal Dein Angesicht -- + Nur --« + +Gott, bleiben wir doch schon bei der Wahrheit: + + »-- hab' ich morgens früh gesehn + Vor Deiner Tür zwei Schuhchen stehn -- + So winzig, duftig, elegant --« + +Hans! du imponierst mir! So viel edle Dreistigkeit hätt' ich dir gar +nicht zugetraut -- aber freilich: auf dem Papier, und mit einer +schützenden Scheidewand dazwischen -- -- Aug' in Auge würde das Debüt +wohl etwas kümmerlicher ausfallen, wie? -- Aber weiter, weiter -- einen +Reim auf »elegant« -- pah, Spielerei! + + »-- daß gleich mein Herz in Flammen stand --« + +-- nein, das ist doch zu billig, zu abgeschabt: + + »Da gab es Funken -- Flammen -- Brand!« + +Ja, es ist eine alte Sache: Verse werden immer am besten, wenn man ganz +geradezu ausspricht, was wirklich passiert ist: + + »Und seitdem träum' ich wahnbetört, + Von dem, was da hineingehört --« + +Ist das nicht ... doch ... gar zu unverschämt?! Ach was, mehr wie hauen +kann sie schließlich nicht! + + »Willst Du mir's auf den Nacken setzen, + Mir wär's ein sklavisches Ergetzen --« + +-- ne, das ist ein falscher Ton -- von der Sorte sind wir doch nicht! -- + + »Ach, dürft' ich's einmal -- einmal küssen -- + Wirst mir's schon noch -- erlauben müssen -- + O welche süße Phantasie -- + Und ach -- probiert hab ich's noch nie -- --« + +Hans überlas das Geschriebene. Himmel, ist das schnurrig, wenn's auf +einmal so in einem zu dichten anfängt! Ein ganz andrer Mensch kommt da +plötzlich zum Vorschein als der, den man so im Leben darstellt ... + +Hatte er das wirklich geschrieben, er, der wohlerzogene Beamtensohn, der +geschniegelte, korrekte Korpsstudent, der künftige Richter des Volkes?! + +Ach, und es gefiel ihm so gut -- daß er's ganz hastig und mit fliegenden +Fingern ins Reine schrieb und kuvertierte ... dann stülpte er die grüne +Mütze auf, lauschte, ob seine Nachbarin daheim sei ... und da er +keinerlei Geräusch hörte, klinkte er im Vorbeigehen sachte die Tür zum +Nebenstübchen auf und sah -- + +Sah durch den Spalt eine zierliche Mädchengestalt in weißem Unterrock +und weißem Frisiermantel schlafend aufs Sofa hingestreckt ... ein +schwarzes Wuschelköpfchen ... und über den Rand des Sofas guckten ein +paar schwarzbestrumpfte Füße, an denen zierliche rote Halbpantöffelchen +baumelten ... + +Und schon hatte er mit einem Ruck den Briefumschlag mit seinen +unverschämten Versen mitten in die Stube geschleudert, die Tür mit +hartem Knall zugeklinkt -- und flog nun die Stufen hinunter -- die grüne +Mütze war ihm in den Nacken gerutscht, seine Wangen brannten, und +draußen zog er mit seinem spanischen Rohr einen Durchzieher durch die +Luft, daß es nur so pfiff. + + +Wie in Hans Thumsers unoffiziellem Herzen, so war auch in Valentin +Pilgrams korrekter Chargiertenseele Revolution ausgebrochen, und auch +die um einer Zimmernachbarschaft willen. Aber diese Revolution war doch +von einer ganz anderen Sorte und gipfelte in der Erklärung, die der +Senior in energischem Tone an die Frau Kanzleirat Buchner abgab: er +kündige hiermit seine Bude und werde sofort ein andres Quartier suchen, +wenn man den ruhestörenden Lärm und groben Unfug da nebenan nicht +abzustellen die Mittel finden würde ... + +Und das war so gekommen: + +Valentin Pilgram stand im sechsten Semester. Er war bereits zwei +Semester in Berlin inaktiv gewesen und nur nach Leipzig zurückgekehrt, +weil er als Königlich sächsischer Untertan sein Referendarexamen in +Sachsen ablegen mußte. Er war auf dringendes Bitten des C. C. zu Anfang +des Semesters noch einmal wieder aktiv geworden und hatte die erste +Charge interimistisch übernommen, weil kein anderer geeigneter +Korpsbursch für diesen Posten da war, und der Vertreter des Marburger +Kartellkorps, der die erste Charge später definitiv bekommen sollte, +doch erst einmal in Leipzig und im Korps warm werden mußte. +Interimistisch bekleidete dieser junge Herr die zweite Charge. Und so +teilte Pilgram mit seiner ganzen feierlichen Gewissenhaftigkeit seine +Zeit zwischen dem Korps und der Vorbereitung fürs Examen. Und in der +letzteren war er nun plötzlich und gründlich unterbrochen worden durch +ein grollendes Getöse, das aus der Nachbarkammer in seinen +Studienfrieden hinüberklang, aus der Nachbarkammer, in der, wie er +gelegentlich mit halbem Ohr vernommen hatte, die Tochter seiner +Hauswirte, die herzoglich meiningische Hofschauspielerin Jucunda +Buchner, für die Dauer des Gastspiels ihres Ensemble einquartiert +worden war. Mitten in die Lektüre der Windscheidschen Drogenweltweisheit +war da plötzlich eine sonore Altstimme hineingeklungen, zunächst in +sachtem, murmelndem Repetieren, dann aber in selbstvergessen wildem +Ausbruch: + + »Und =einer= Freude Hochgefühl entbrennet, + Und =ein= Gedanke schlägt in jeder Brust --« + +Da war der reckenhafte _candidatus iuris_ mit einem Wutknurren +aufgefahren ... aber umsonst: die sonore Stimme drinnen grollte weiter +-- sänftigte sich nun zu herzbeklommener Klage: + + »Doch mich, die all dies Herrliche vollendet, + Mich rührt es nicht, das allgemeine Glück, + Mir ist das Herz verwandelt und gewendet, + Es flieht von dieser Festlichkeit zurück ...« + +Aber bald schrillte sie wieder auf mit jähem Wehlaut, daß sich vor Wut +und Entsetzen dem Rechtskandidaten die Gedärme umkehrten. + + »Sollt' ich ihn tö--öten? Konnt' ich's, da ich ihm + Ins Auge sah? I--h--n tö--ö--öten? Eher hätt' ich + Den Mordstahl auf die eig'ne Brust gezückt!« + +Das war zuviel! Der Student riß einen seiner Lederpantoffeln von den +Füßen und pfefferte ihn krachend gegen die Nachbartür. + +Einen Augenblick verblüffte Stille -- doch o weh -- sein Warnsignal war +offenbar nicht verstanden worden -- schon nach wenigen Sekunden setzte +das Gegroll und Gewimmer drüben wieder ein: + + »Und bin ich strafbar, weil ich menschlich war? + Ist Mitleid Sünde?« + +»Nee!« brüllte Valentin Pilgram. »Mitleid is keene Sinde nich! Haben Sie +ruhig Mitleid mit mir und halten Sie den Mund -- ich muß lernen!!« + +Einen Augenblick war drüben alles stumm -- todesstarres Schweigen. Und +plötzlich fauchte ... ja fauchte, anders war's nicht zu nennen -- keifte +-- ja man muß schon sagen, keifte die sonore Stimme von nebenan: + +»So? Lernen müssen Sie? Na -- ich auch ... stopfen Sie sich Watte in die +Ohren!« Und noch dreimal mächtiger und markerschütternder grollte nun +der majestätische Alt: + + »Ist Mitleid Sünde? Mitleid! Hörtest Du + Des Mitleids Stimme und der Menschlichkeit + Auch bei den andern, die Dein Schwert geopfert?!« + +Da sprang Valentin Pilgram wütend auf, riß den Klingelzug, daß es +schrill durch den Flur gellte, und als die stattliche runde Frau +Kanzleirätin ganz entsetzt ins Zimmer schoß, schnauzte er sie an: + +»Was ist das für ein gottverfluchter Spektakel daneben? Wenn das nicht +in fünf Sekunden aufhört, zieh' ich!« + +»Erlooben Se mal, mei gutester Herr Pilgram!« entrüstete sich die +behäbige Dame im geblümten Morgenrock sehr energisch. »Se wissen, +scheint's, nich so recht, mit wäm Se's zu tun ha'm! Das is Se nämlich +meine Tochter, die große Jucunda Buchner von die Meininger -- die +Jungfrau von Orleans!« + +»Und wenn je die Jungfrau Maria selber wär' -- hier verlang' ich meine +Ruhe, versteh'n Se mich, Frau Kanzleirat?! Ich hab' diese Bude +gefälligst zum Studieren gemietet -- versteh'n Se? Wir sind Se hier nich +im Theater!!« + +»Se sollten Ihn' was schämen, Herr Pilgram, daß Se nich mal kenn'n +bißchen Ricksicht nähm' auf Studium von eener gottbegnadeten Ginstlerin, +wo ganz Leipz'g stolz drauf is!« + +»Wenn eener ä Vierteljahr vor'm Examen steht, dann hört die +Rücksichtnahme ergebenst auf!« brüllte Pilgram. »Ich muß ooch studieren, +aber mei Studium is wenigstens geräuschlos! Wenn Se e gottbegnadetes +Mädchen zur Tochter haben, die beim Studieren einen Schkandal macht, wo +die Mauern von Jericho von könnten einstürzen, dann vermieten Se +gefälligst keene Buden an Studenten nich!« + +»Herr Pilgram -- wenn ich gewußt hätte, was für e ungeschliffener Mensch +Sie sein kenn' -- nie wär'n Se mir ieber de Schwell gekomm', weeß +Knebbchen!« + +»Mamaa!« tönte da plötzlich der sonore Alt aus dem Nebenzimmer, »rege +Dich doch bitte ja nicht auf, Mamaaa! Der Herr mag ruhig ziehen -- ich +komme Deiner Haushaltungskasse für den Schaden auf!« + +Frau Kanzleirat musterte den Studenten von oben bis unten mit einem +Blick tiefster Verachtung. »Da heer'n Se's, Herr Pilgram! So benimmt +sich e wahrhaft vornähmer Mensch! -- Also wenn Se zieh'n woll'n, ich hab +Sie nich das mindeste dagegen -- lieber heut als morgen! Adieu, Herr +Pilgram -- ziehen Se glicklich!« + +Und die stattliche Dame rauschte hinaus mit der Würde einer Königin. Die +Schleppe des geblümten, nicht mehr ganz saubern Morgenrockes waberte +hinter ihr drein. + +Valentin Pilgram aber blieb etwas benommen an seinem einsamen +Studiertisch. Es war doch höchst fatal, nun so mitten in den +Examensvorbereitungen das lieb gewordene Quartier gegen ein noch +unbekanntes eintauschen zu müssen ... am Ende hätte er auch ein bißchen +weniger hitzig sein können ... vielleicht mit einem guten Wort hätte +sich die Sache viel besser einrenken lassen ... Aber das machte diese +verfluchte Kandidatenstimmung, das Bangen vor diesem fahlen Gespenst, +das am Ende der Studentenzeit hockte mit stieren Augen und sich ganz, +ganz unmerklich immer näher heranschob ... da sollte der Teufel nicht +nervös werden ... Was keine sausende Säbelklinge fertiggebracht hatte: +das Schreckbild der drei Männer hinterm grünen Tisch hatte es erreicht: +Valentin Pilgram hatte Angst ... und dieser Zustand, so ungewohnt, so +unmöglich, der hatte ihn toll gemacht ... Eigentlich hatte er sich ja +doch wirklich unqualifizierbar benommen ... es waren doch weibliche +Wesen, beinahe Damen, mit denen er so gröblich umgesprungen ... zwar ein +Kanzleirat war ein Subalternbeamter, und seine Frau gehörte nicht zur +Gesellschaft ... und vollends eine Komödiantin ... aber wenn auch ... +wenn auch ... Valentin Pilgram, ich glaube, dein Benehmen war durchaus +nicht auf der Höhe der berühmten korpsstudentischen Direktion ... deren +eifriger Hüter du selber so lange im C. C. gewesen ... + +Valentin wartete mit Spannung, ob nicht alsbald da drinnen wieder der +dunkeltönige Alt mit dröhnendem Jambenschwall einsetzen würde ... er +wartete mit Spannung und Verlangen ... das Fortdauern der Störung wäre +wie eine nachträgliche halbe Entschuldigung seiner Hitze gewesen ... +aber er wartete umsonst. Alles blieb still darinnen. Er hätt' also +triumphieren, den ertrotzten Arbeitsfrieden eifrig büffelnd genießen +können ... aber seltsam ... die richtige Streberstimmung wollte nicht +wiederkommen ... + +Teufel auch, Valentin Pilgram, du hast doch nicht etwa einen +»Moralischen«? + +Franconias Senior stand langsam auf und räumte Drogenweltlehrbuch und +Repetitorien zusammen. Er stülpte die grüne Mütze auf den strohblonden +Schädel und stieg sinnend die altehrwürdigen Holzstiegen hinab auf die +»Kleine Fleischergaß«. Drüben im ersten Stockwerk des »Cafébaums« winkte +über dem in Sandstein gemeißelten Amor, der schon seit Jahrhunderten +einem gleichfalls sandsteinernen Türken »e Schälchen Heeßen« kredenzte, +winkte Franconias Wappenschild, lockte, unter den morgendlich geöffneten +Fenstern des Kneipzimmers, im Morgengolde sich bauschend, das +grün-gold-rote Banner ... aber der Erste stieg nicht hinauf. Er ging +auch nicht auf Wohnungsuche: er tat etwas, was er im Leben noch nicht +getan hatte: er ging zur Universität und kämpfte inmitten eines +Massenandranges von Kommilitonen, ganz gewöhnlichen Nichtinkorporierten, +um ein Studentenbillett zur morgigen Eröffnungsvorstellung der Meininger +-- zur »Jungfrau von Orleans« ... + + +Ecke Roßplatz, und Roßstraße, vor dem Hotel Hauffe, in dessen erstem +Stockwerk der _studiosus iuris et cameralium_ Heribert Hans Herwig +Erbprinz von Nassau-Dillingen mit seinem militärischen Begleiter und +seiner Dienerschaft die ganze Zimmerflucht an der Straßenfront inne +hatte, harrten frühmorgens um sechse zwei Reitknechte in Livree mit drei +prächtigen Gäulen. Sie plauderten mit dem galonierten Portier. + +»Nanu?« meinte der Hotelgestrenge, »schon wieder? Ihr seid ja +Frühuffsteher geworden uff eemal?« + +»Was will mer mache?« meinte der ältere der herzoglich nassauischen +Pferdepfleger. »Unser junger Herr hat widder mal e funkelnagelneies +Veegelche g'fange ...« + +»Ei herrjemerschnee!« machte der Portier. »Was das nur zu bedeiten hat? +Das is doch ganz unnatierlich fier so 'n jungen Herrn -- Morgen fier +Morgen drei Stunden durch den Wald zu flitzen un sich den Schlaf um die +Ohr'n zu schlagen ...« + +»Ich glaub, ich weeß, was da derhinner steckt!« meinte der jüngere +Bursche. »Ich hab' neilich so ebb's uffg'schnappt, wie se beim Reite +g'sproche habe. Er und der Major!« + +»Da wär' ich Ihn' aber doch wahrhaft'g neigierig!« kicherte der Portier +und schob sich von seiner Treppe hinunter auf den Bürgersteig. + +»Nu -- e Weibsbild steckt da derhinner!« triumphierte der Reitknecht. +»Ich hann's neilich ganz g'nau geheert: Lasse mer heemreite, hat der +Major g'sagt -- heit morge finne mer se doch nit -- hat er g'sagt!« + +»I nee so was!« staunte der Portier. »Un dann sind se wärklich alle zwee +heemgeritten?« + +»Ja -- ganz wahrhaftig sinn se heemg'ridde!« + +»Wer das bloß sinn mag?« meinte der Portier. »Gewiß ganz was Vornähmes +-- sonst tät der gnädige Herr doch gewiß nich so viel Umstände dann +machen um so e Weibsbild!« + +»Pscht -- die Herre komme!« + +Der Erbprinz federte mit dem natürlichen Schwung seiner einundzwanzig +Jahre in den Sattel -- der Major mit der wohlkonservierten, doch +immerhin etwas gewollteren Elastizität seiner zweiundvierzig. Und im +Schritt ging's die gutgepflasterten Straßen der erwachenden Großstadt +hinab, am massiven Bau und klobigen Rundturm der Pleißenburg vorüber bis +zu den Anlagen jenseits des Flüßchens, wo man antraben konnte. + +»Wenn Sie ahnten, Durchlaucht, wie komisch Ihnen die Maske eines +schmachtenden Toggenburg steht -- Sie würden sich selber erheblich +auslachen!« meinte Herr von Gorczynski. + +»Gott, wenn mir's doch Vergnügen macht, lieber Major -- lassen Sie mir +schon den kindlichen Spaß!« + +»Ich versteh' Sie nicht, Durchlaucht -- Sie benehmen sich wie ein +Sekundaner von einem Kleinstadtpennal und nicht wie ein Fürst ... So'n +Theatermädel ... der schickt man doch einfach ein Rosenarrangement und +seine Visitenkarte -- und das Weitere findet sich!« + +Ueber das blasierte Knabenantlitz des Erbprinzen flog ein flüchtiges +Rot. »Wenn ich glaubte, bei der Buchner ginge das auch so, dann pfiff' +ich auf das ganze Abenteuer. Die Nummer kenn' ich nun allmählich! Die +Weiber, die sich kommandieren lassen, die hab' ich satt! Ich möchte +einmal ein Erlebnis haben -- ein richtiggehendes Erlebnis!« + +»Na, auf Ihre Manier werden Sie's höchstens bis zu einem richtiggehenden +Korbe bringen!« meinte der Major. »Ein Mann, der schmachtet, hat von +vornherein alle Chancen verloren! Selbst wenn er der Erbprinz von +Nassau-Dillingen wäre!« + +»Ich will aber diesmal überhaupt nicht der Erbprinz von Nassau-Dillingen +sein! Versteh'n Sie mich, Herr Major?! Es paßt mir nicht, immer nur auf +das Prinzenkonto geliebt zu werden! Schließlich bin ich doch ganz +simplement als junger Mann nicht zu verachten, wie? Sehen Sie -- und das +möcht' ich mal ausprobieren! Ich hab' mir's nun mal in den Kopf gesetzt! +Und gestern hab' ich der Buchner ein Rosenarrangement geschickt mit +einem Kärtchen, auf das ich nichts weiter geschrieben habe als: Herbert +von Dillingen, _studiosus iuris et cameralium_!« + +»Na, ich sag's ja, Durchlaucht! Sie sind auf dem besten Wege, einen +hahnebüchenen Unsinn aufzustecken! Aber was ich Ihnen sage: Ich habe +Ihnen viel durch die Finger gesehen -- aus unerschütterlicher Liebe zu +Ihnen --« + +»Na ja, aus unerschütterlicher Liebe zu mir. Und weil Ihnen Ihr gesunder +Menschenverstand sagt, daß Sie aller Voraussicht nach unter Bernhard dem +Sechzehnten noch zehn Jahre, unter Heribert dem Vierzehnten aber, will's +Gott, den ganzen Rest Ihrer Erdenlaufbahn abzuleisten haben werden!« + +»Oh -- aber Durchlaucht!« sagte der Major und legte mit pathetischer +Bewegung seine Hand auf jene Stelle seines Busens, unter der man den +Sitz seiner unerschütterlichen Liebe zu seinem jungen Herrn und Zögling +annehmen mußte. + +»Bitte, lieber Gorczynski -- stürzen Sie sich nicht in Unkosten -- ich +denke, wir beide kennen uns!« lachte Erbprinz Heribert. + +»Ernsthaft gesprochen, Durchlaucht!« sagte der Major etwas verärgert, +indem er seinen Gaul in Schritt fallen ließ, »ich lasse Ihnen jede +harmlose Affäre durchgehen -- wenn sich aber etwas Ernsthaftes anspinnt, +berichte ich _a tempo_ nach Dillingen! Ihr erlauchter Herr Vater hat +mich kategorisch dahin instruiert: keine Weibergeschichten! Und ich +glaube diese Instruktion ganz im Sinne meines gnädigen Herrn +aufzufassen, wenn ich --« + +»Wie kann man sich nur so sinnlos aufregen, mein Teuerster! Also weil es +mir Vergnügen macht, mal ein paar Vormittage im Leipziger Ratsholz +spazieren zu reiten, und weil ich dabei gelegentlich die Hoffnung +ausgesprochen habe, einen gewissen grauen Schleier noch einmal wehen zu +sehen, wittern Sie bereits allerlei Tragödien!« + +»Ich gestatte mir, Durchlaucht, mich auf meine Menschenkenntnis zu +berufen. Es ist wider die Natur, wenn ein von seinem gnädigen Herrn +Vater mit überaus auskömmlicher Apanage ausgestatteter und dank meiner +überaus riskierten Nachsicht bereits einigermaßen erfahrener junger +Prinz einer Theatermamsell wegen, die er ein einziges Mal von weitem +gesehen hat, an drei nacheinanderfolgenden Tagen um fünf statt um neun +Uhr aufsteht. Wenn ich das nach Dillingen berichte, gibt's eine +Katastrophe! Hab' ich nicht recht?« + +»Von weitem gesehen?« schmunzelte der Prinz. »Ich habe mir bereits +eingehenderes Material verschafft!« Und er holte einen großen Umschlag +aus seiner Rocktasche, reichte ihn von Schimmel zu Rappen zum Major +hinüber. Dem fielen beim Oeffnen drei Bilder in die Hand: es waren +Darstellungen eines jungen Mädchens; zunächst im Straßenkleide -- +Pelzjäckchen, Barett, Muff -- und dann im Eisenharnisch mit bloßem +Haupt, aufgelösten Haaren, ein Schwert und eine Fahne in Händen -- +und endlich im Samt, mit riesigen Puffenärmeln, das Gesicht von +langen Ringellocken umwallt und von einem starren weißen Rundkragen +eingesäumt ... + +»Kreuzmillionen --!« entfuhr es dem Major. »Das ist --?!« + +»Das ist -- =sie=,« sagte der Erbprinz, und über seinem fahlen +Lebemannsangesicht lag eine Sekundanerröte, die dem Major völlig fremd +war an seinem Zögling. Er starrte den jungen Mann an, als sehe er ihn +zum erstenmal. + +Verdammt -- also so stand die Sache?! Nun hieß es aber wahrhaftig +aufpassen ... + +Der Major reichte die Bilder zurück. »Na ja,« sagte er im Tone völliger +Wurstigkeit, »die Buchner ... Gott, warum nicht? Wenn Sie sich auf die +nun mal kaprizieren, Durchlaucht -- von meiner Seite aus steht nichts im +Wege! Nur fangen Sie's vernünftig an und halten Sie sich nicht zu lange +bei der Vorrede auf! Also wir werden sie auf -- na sagen wir auf morgen +abend, heut nach der Premiere wird sie schwerlich abkömmlich sein -- wir +werden sie auf morgen abend zum Souper einladen -- sie mag noch eine +Kollegin mitbringen -- und dann entwickelt sich alles weitere glatt und +prompt historisch!« + +Der Erbprinz antwortete nicht. Er gab dem Gaul die Schenkel, und zwar so +heftig, daß das rassige Tier ganz erschrocken zusammenfuhr und dann in +tollen Sätzen von dannen raste. Der Major flitzte hinterdrein und +überlegte im Hinsausen, ob er das als eine Zustimmung zu seinem +Vorschlage aufzufassen habe. + +Auf jeden Fall -- geschehen mußte es. Und wenn sein Schützling, ein +wenig verspätet allerdings -- na, wie nannte man das noch -- hm, hm! +sein -- sagen wir also: Herz entdeckt hätte -- dann möglichst schnell +diese kleine Entgleisung auf den Normalweg zu dem üblichen, gefahr- und +schmerzlosen Ausgang leiten ... So befahl es Pflicht und Instruktion ... + +Und in Gedanken redigierte er folgendes Billett, das er heut abend bei +der Premiere mit einer aufmunternd luxuriösen Blumenspende auf die Bühne +lancieren wollte -- heut abend? Nein -- da würde die Aktion vermutlich +ihren Effekt verfehlen -- würde untergehen in einem Wust und +Ueberschwall ... nein, morgen früh zum Frühstück -- das wird das +richtige sein! Also ungefähr folgendermaßen würde er schreiben: + + + »Mein sehr verehrtes _etcaetera_! Zwei aufrichtige und hingerissene + (gerissen ist sehr gut!) Verehrer Ihrer Kunst würden es sich zur + höchsten Ehre und Freude rechnen, Ihre nähere Bekanntschaft _etcaetera + etcaetera_. Wir wagen deshalb die dreiste Bitte, daß es Ihnen, + Verehrungswürdige, gefallen möge, morgen, Donnerstag abend, nach der + ersten Wiederholung der »Jungfrau« mit uns im Hotel Hauffe zwanglos zu + soupieren ... Sollten Sie unter Ihren liebenswürdigen Kolleginnen eine + nähere Freundin haben, die es nicht verschmähen würde, eine Stunde in + harmlos vergnügter Gesellschaft _etcaetera_, so würde uns das eine + ganz besondere _etcaetera_ ... In Voraussetzung Ihrer Zustimmung + werden wir uns erlauben, nach Schluß der Vorstellung ein Coupé zur + Verfügung der Damen am Bühneneingange _etcaetera_. Mit der + Versicherung unserer vollkommensten Bewunderung Ihre aufrichtigen + Verehrer + + v. Dillingen. v. Gorczynski.« + +Na ja -- das übliche Schema -- das nie versagende ... pöh ... eine +Komödiantin ... wenn's weiter nichts ist ... + +Und schließlich die Hauptsache: zwei blaue Lappen hinein -- für jede +einen -- damit die guten Kinder auch gleich merken, daß man ernsthafte +Absichten hat -- nicht wahr? + + + + + 3. + + +Am Mittwoch nachmittag um fünf war der allwöchentliche Seniorenkonvent: +die Zusammenkunft der Korpsburschen sämtlicher Leipziger Korps. Sie fand +auf der Kneipe des präsidierenden Korps statt: zurzeit war's +Neo-Borussia, die ihr Heim in nächster Nähe der Franken aufgeschlagen +hatte, im ersten Stock eines gleich uralten, verräucherten, +verwahrlosten Kneiphauses, wie der altberühmte Cafébaum eins war, in dem +Franconia residierte. Es stand irgendeine der welterschütternden Fragen +auf der Tagesordnung, um welche sich ein hoher S. C. an jedem Mittwoch +Nachmittag die Köpfe zu zerbrechen pflegte. Diesmal lag vor -- na was +noch? -- lag vor ein Antrag von Misnia und Thuringia, ein wohllöblicher +S. C. wolle beschließen, daß die Klingen der Mensurspeere an der Spitze +in Zukunft nicht mehr rechtwinklig und scharfkantig abgeschliffen +würden, wie es bisher üblich war, sondern abgerundet ... Infolge des +eckigen Schliffs waren nämlich an den letzten Bestimmtagen ein paar so +hahnebüchene Knochensplitter herausgekommen, daß die Paukärzte +kategorisch Wandel verlangten: die Klingen sollten in Zukunft an der +Spitze halbkreisförmig geschliffen werden ... Das war natürlich ein +Problem von fundamentaler Bedeutung, und so erhitzten sich die Gemüter +immer mehr und mehr, immer stärker wurde der Bierkonsum, immer massiver +der Zigarren- und Zigarettenqualm ... und immer hastiger rückte der +Zeiger jener Stunde zu, da im Carolatheater das Gastspiel der Meininger +beginnen sollte ... Theater -- pah! Wer hat Zeit, ans Theater zu denken, +wenn der bittre Ernst des Lebens einen im Bann hält? + +Einer hatte Zeit: der schlanke Fuchsmajor der Franken natürlich -- er +saß auf Kohlen und hätte sich mit Vergnügen bereit erklärt, sich am +Sonnabend auf Mensur mit einem kantig geschliffenen Speer ein halbes +Dutzend Knochensplitter aus dem Schädel hauen zu lassen, wenn er dadurch +diese entsetzliche Debatte hätte abkürzen und den Anschluß an den Beginn +der Vorstellung hätte erreichen können ... + +Endlich wagte er ein Aeußerstes. Er ging leise zum Ersten hinüber, +neigte sich und flüsterte ihm -- der mit aller Nervenanspannung der +hitzigen Rede seines Gegenpaukanten vom vergangenen Sonnabend, des +Meißner Zweiten, folgte -- flüsterte ihm ins Ohr: + +»Pilgram, ich darf Dich vielleicht daran erinnern, daß Durchlaucht mich +auf heut abend in seine Loge eingeladen hat -- da darf ich doch +keinesfalls zu spät kommen ... würdest Du wohl gestatten, daß ich den +S. C. verlasse?« + +»Du bist verrückt!« knurrte Pilgram halblaut. »S. C. geht doch vor allem +andern vor! Du siehst, ich muß ja auch aushalten!« + +»Du --?! Ja, wie soll ich das verstehen, Pilgram? Gehst Du ... denn auch +... ins ...« + +Der Erste errötete tief. Es war ihm herausgefahren, das Geheimnis, +dessen er sich vor allen Korpsbrüdern schämte: daß der traditionelle +Feind aller neun Musen sich ein Theaterbillett erstanden hatte -- und +noch dazu eine Studentenkarte zu einer Mark und zwanzig Pfennigen, um +gänzlich unstandesgemäß -- selbstverständlich im Bummel, also im +tiefsten Inkognito -- zwischen allerhand proletigen Kommilitonen, das +Parterre, ganz hinten, zu bevölkern -- sintemalen und alldieweilen es +auch bei ihm am Monatsschluß nicht mehr zu dem für das Korps +vorgeschriebenen Platz im ersten Rang hatte reichen wollen ... + +»Allerdings -- ich geh' auch!« zischte Pilgram. »Wir gehen nachher +zusammen -- aber im S. C. wird ausgehalten, und wenn uns die ganze +Affenkomödie durch die Lappen gehen sollte!« + +Vor solchem Pflichteifer verstummte Hans Thumser -- völlig erschüttert +... Freilich, was galt diesem Banausen die Versäumnis eines, zweier, +dreier Akte Schiller! Wie mochte der bloß auf die Idee gekommen sein, +ins ... Hallo -- sollte da am Ende ein ... trotz allem ... erwachtes +Interesse für seine berühmte _filia hospitalis_?! Alle Wetter -- das war +am Ende doch wohl die einzige Erklärung! + +Und während ein wohllöblicher S. C. sich weiterhin über krummen oder +geraden Schliff der Klingenspitzen aufregte, griff Hans Thumser alle +fünf Minuten heimlich nach seiner Taschenuhr ... halb sieben -- -- +sieben Uhr jetzt -- verflucht! War denn diese verdammte Zwiebel rasend +geworden? Und nun -- nun war es auf einmal halb acht -- in diesem +Augenblick hob sich da unten fern in der Südstadt, in der Sophienstraße, +der Vorhang zum Prolog, und der biedere Thibaut d'Arc verlobte seine +zwei ältesten Töchter ... Nun stand sie auf der Bühne -- sie, die +Madonna aus der oberen Kirche seines Herzens ... noch im schlichten +Kleide der Bäuerin, doch schon überlagert vom tragischen Schatten ihrer +göttlichen Sendung ... + +»Meine Herren,« sagte der Vorsitzende, Herr Borgmann, Neo-Borussiae, die +linke Stirnseite noch immer von mächtigem Wattebausch unter schwarzer +Kompresse bedeckt, da, wo Hans Thumsers kecker Durchzieher ihm wider +alle Vorsicht Schwarte, Knochenhaut und alle Aeste der Temporalis +durchgesäbelt -- »meine Herren, meiner Ueberzeugung nach würden wir uns +vor sämtlichen Glocke schlagenden S. C. eines hohen Kösener unsterblich +blamieren, wenn wir als einziger S. C. den allgemein üblichen +scharfkantigen Schliff abschaffen wollten -- und zwar aus einer +Anwandlung von Humanitätsdusel heraus, der für mein Empfinden einen +bedenklichen Beigeschmack von Kneiferei hat --« + +»Ich bitt' ums Wort!« + +»Ich auch! Ich auch!« so scholl's heftig aus der Korona. + +»Silentium für Herrn von Schubart, Misniae!« sagte Borgmann gelassen. + +»Ich muß mir aufs entschiedenste verbitten,« schrie Herr von Schubart, +der Zweite der Meißner, in den Zigarrenbrodem hinein, »daß der Herr +Erste Chargierte des präsidierenden Korps von einer Maßregel, die mein +C. C. befürwortet, erklärt, sie habe einen Beigeschmack von Kneiferei! +Ich verlange, daß der Herr Vorsitzende diese Aeußerung mit dem Ausdruck +des Bedauerns zurücknimmt -- andernfalls behält sich mein C. C. weitere +Schritte vor, sowohl gegen einen wohllöblichen C. C. des präsidierenden +Korps als auch gegen Herrn Borgmann persönlich!« + +Dreiviertel acht --! wimmerte Hans Thumsers sehnsüchtige Seele -- und in +seinem Herzen klang's: + + »Nichts von Verträgen! nichts von Uebergabe! + Der Retter naht, es rüstet sich zum Kampf -- + Vor Orleans soll das Glück des Feindes scheitern, + Sein Maß ist voll, er ist zur Ernte reif!« + +Thuringia schloß sich den Erklärungen Misnias an; Guestphalia schwankte, +während Franconia und Neo-Borussia gemeinschaftlich gegen den Antrag auf +Abänderung des Klingenschliffs auftraten. Unter allgemeiner Erregung +schritt der Vorsitzende endlich um zehn Minuten vor acht zur Abstimmung, +und nun fiel Guestphalia definitiv zur Partei des runden Schliffs. +Franconia und Neo-Borussia waren überstimmt: die holde Menschlichkeit +oder, wie Herr Borgmann Neo-Borussiae es nannte, der Geist der Kneiferei +hatte gesiegt ... Und mit dem Zigarrenrauch hingen unzählige P. P. +Suiten und Säbelforderungen in der Luft ... Morgen früh zum Frühschoppen +würden sie explodieren ... + +»Nu aber raus!« zischte Pilgram seinem Korpsbruder zu. »Weh Dir, wenn Du +den andern was davon sagst, daß ich ins Theater geh -- offiziell büffle +ich heut abend!« + +Drunten wartete des Ersten Chargierten der Korpsdiener mit Hut und +Regenschirm. Pilgram riß ihm beides aus der Hand, zog Mütze und Band ab +und übergab sie dem Getreuen. Thumser, der vornehm in der +Proszeniumsloge sitzen würde mit dem Erbprinzen, blieb natürlich in +Couleur. Und in rasendem Tempo hasteten nun die beiden Studenten die +kleine Fischergasse hinab. + +Auf dem Alten Markt standen Droschken aufgefahren. Die Wanderer warfen +einen wehmütigen Blick hinüber: + +»Wenn's doch schon der Erste wäre!« knirschte Hans Thumser. + +»Beine in die Hand!« knurrte Pilgram. + + +Als Hans Thumser sich auf Zehenspitzen in die Proszeniumsloge schob, +hatte der erste Akt bereits begonnen. Der Erbprinz und der Major wandten +kaum zu flüchtiger Begrüßung die Köpfe -- schon waren sie im Bann. Und +hinter den schwarzen Silhouetten der Vordermänner sah Hans nur mit einem +flüchtigen Blick die von der Bühne her matt erleuchteten vordersten +Reihen des Publikums im Parkett -- lauter Gesichter, im Lauschen und +Schauen erstarrt. Und schon schlugen auch über ihm die Wogen zusammen. + +Ein hoher gotischer Saal am Hoflager König Karls von Frankreich. Düstere +pfeilergetragene Holzdecke, die Wände eichengetäfelt, darüber Gobelins +mit steifen Reihen buntgewandeter Ritter und Edeldamen. Und ganz +tief hinten ein buntes Fenster, durch das sich ein paar verirrte +Sonnenstrahlen stehlen. Und mit zweien Getreuen der unglückliche +weichherzige König, dessen Knabenhand wohl seine Agnes Sorel zu kosen +vermag, nicht aber die Zeit, die aus den Fugen gegangen, wieder +einzurenken ... drei Ratsherren knien vor ihm, seine vielgetreuen Bürger +von Orleans, und flehen um Hilfe, um Entsatz ihrer hartbedrängten Stadt +... Verzweiflungsvoll ringt der König die kraftlosen Arme: + + »Kann ich Armeen aus der Erde stampfen? + Wächst mir ein Kornfeld in der flachen Hand?« + +Doch sieh: ein Lichtstrahl zittert in das Dunkel der Szene: Die Geliebte +kommt: Sie bringt opfermutig all den blinkenden kostbaren Tand, den ihr +König in süßen Stunden ihr um den Nacken gewunden ... Ein +schwarzlockiges, schmiegsames, kätzchenweiches Geschöpfchen ... Ihre +Augen schimmern in koketten Tränen, ihre Hände, weich und rosig wie +Frühlingswolken, umschmeicheln den Freund, noch in der Angst der +Verzweiflung liebeheischend, sehnsuchtsweckend ... + + »Agnes Sorel ... Asta Thöny« + +sagt der Theaterzettel. Herrgott ... das ist sie ... + +Und einen Moment ist Hans Thumser wieder Hans Thumser ... Er tastet nach +seiner Brusttasche, wo ein etwas zu stark parfümiertes rosa Billetchen +steckt: Die Worte, die es enthält, ach, die kann er auswendig, im +Träumen, von vorn und von hinten: + + »Nach zierlichen Schuhchen und dem, was drin steckt, + Liegt mancher Fuchs auf der Lauer -- + Eintritt verboten! Hier wird nicht geschleckt! + Füchschen, die Trauben sind sauer!« + +Also -- das ist sie ... das ... Füßchen werden nicht vorgezeigt, nur +zwei zierliche Goldspitzen lugen im Schreiten ab und an für einen +winzigen Moment unterm schweren Brokat des gotisch starren Gewandes +vor ... dafür aber läßt dies neidische Gewand einen Hals frei ... einen +Hals ... o Gott, o Gott ... + +Einen Augenblick ist Hans Thumser Hans Thumser -- der sehnsüchtige Knabe +an der Schwelle des Lebens ... nur einen Augenblick ... und schon wieder +ist er ... niemand und alles ... nur Auge, nur weitgeöffnet schauendes +Gottesauge -- nur Seele, alliebende, alldurchdringende Weltseele ... + +Höher schwillt die Flut des Entsetzens um den verlorenen Königsknaben +und sein zitterndes Lieb ... Eine Hiobspost jagt die andere, das Maß des +Ertragens ist voll, sein Land und seine Ehre gibt der Schwache preis, +und empört fallen die letzten seiner Getreuen von ihm ab ... Verlassen +steh'n die beiden Kinder ... + +Da auf einmal ... kommt einer der Entwichenen zurück ... auf seinem +zuckenden Gesicht, seinen stammelnden Lippen glüht ein Wort ... ein +Wort, das längst ins Fabelland entschwunden schien ... das Wort: +=Sieg= ... + +Und sieh -- da führen die edlen Herren aus des Königs Gefolge einen +riesigen Krieger heran: einen Ritter im zerhauenen, blutbekrusteten +Harnisch: ein blutiger Fetzen windet sich um seine kampfglühende Stirn, +aus seinem blutunterlaufenen Auge lodert das gleiche Zauberwort: das +unfaßbare: Sieg ... Sieg ... + +Und atemlos, stockend oft und nun in wahnwitzigen Jubel ausbrechend, +kündet er die phantastische Mär: + +Das Wunder ist herabgestiegen vom Himmel ... Ein weißes Mädchen ist in +die Mitte der umzingelten Franzosen getreten -- hat dem Fahnenträger das +Banner entrissen und an der Reisigen Spitze sich in den Feind gestürzt! + + »Ein Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen!« + +Und daß fassungsloser Unglaube kniebeugender Glaube werde -- -- wird sie +selber kommen! wird kommen -- hierher, an diese Stelle, auf der wir +stehen, harrend, bis ins Mark erschüttert und dennoch zweifelnd ... + +Und horch! Schon kündet sich's an: Da draußen, in den fernen Gassen der +Stadt, hören wir den Lärm eines jäh triumphierenden Empfangs ... Näher +und näher kommt das festliche Getös ... + +Und da -- da fangen ja die Glocken von allen Türmen plötzlich an zu +schwingen ... und heller tönt draußen das tolle Jauchzen der +Begeisterung ... und nun stürzen sie alle, die in der dumpfen, ragenden +Kammer weilen, in kindischer Hast ans Fenster da hinten und beugen sich +hinaus, und sieh, sie sehen's schon, das Wunder, das Unmögliche -- sie +schreien und winken und schreien -- + +Und horch, nun stürmt's da draußen die Stufen hinauf, nun stürzt, nun +strömt es herein. Ratsherren und Rittersleute und Bürger und Weiber und +Soldknappen und Kindervolk und ... eben Menschen, schreiende, tobende, +vor Erlösungstaumel sinnlose Menschen ... Vor dem König, der mit der +Geliebten, zitternd, schwindelnd, da vorn geblieben, werfen sie sich auf +die Knie, in den Staub, heulen und jauchzen: Sieg! Sieg! Sieg! + +Und nun -- nun öffnet sich auf einmal, wie die Flut des Roten Meeres vor +dem Durchzug der Kinder Israel, so klaffend öffnet sich durch die +Menschenflut eine Gasse ... und durch die Gasse ... schwebenden +Schrittes ... kommt ... sie ... + +Kommt ein weißes Mädchen, nein, kein Mädchen, kein Mensch ... ein +Gedanke, ein Gottgedanke, der Gedanke der Erlösung, der Gerechtigkeit, +der Freiheit, des Vaterlandes ... + +Und steht so vor dem König ... das Ewige, das Heilige, das Unendliche +selbst ... + +Und doch ... nur ein Mädchen ... ein junges, weißes Weib ... + + +In der winzigen Garderobe, rechts vom Schauspieler, auf der Frauenseite, +wartete Mutter Buchner ihrer berühmten Tochter. Sie hatte es sich zwar +nicht versagen können, sich von einem Eckplatz des Parketts aus an +Jucundas Spiel, den neidisch-ehrfurchtsvollen Blicken der Bekannten, dem +Jubelsturm des Publikums zu weiden; aber am Anfang des zweiten Aktes, +das wußte sie, trat Jucunda nicht auf, und da drängte es sie in die +Garderobe ihres Kindes, um ihr Zofendienste zu leisten. Ach, am liebsten +wäre sie ja von Ort zu Ort mitgereist ... Wenn ein Mädchen so ungeheuer +viel Talent hatte ... und so gut gewachsen war -- na, man wußte ja, von +wem sie das hatte! -- und so heißblütig -- ach Himmel, man war ja selber +auch mal jung gewesen! -- Das war ja ganz selbstverständlich, daß die +Mannsbilder hinter so einer her waren wie verrückt -- da hätte man ja +doch als Mutter eigentlich auf Schritt und Tritt aufpassen müssen ... +Aber da war ihr Alter, der Herr Rat ... der konnte ja nicht leben ohne +seine Doris ... Na, solange das Kind in Leipzig war, sollte es +wenigstens fühlen, was man an einer Mutter hat ... Und kaum war der +Vorhang nach dem ersten Akt gefallen, da flog -- während das Publikum +noch immer tobte, die Gardine auf und nieder tanzte, die Darsteller sich +immer und immer wieder süß lächelnd verneigten -- flog Mutter Doris aus +dem Zuschauerraum zu dem bekannten Pförtchen, das nur denen vom Bau sich +öffnet, hastete die steinerne Treppe hinauf in das winzige, von +Schminke, Puder und Menschendunst geschwängerte Kämmerchen und wendete +das gewärmte Hemd, das auf der Heizung bereit hing ... Denn wie ihre +Jucunda schwitzte bei so'ner großen Szene, das war schon nicht mehr +schön ... Von Kopf bis zu Füßen mußte sie die Unterwäsche wechseln +jedesmal, wenn irgend Zeit blieb ... Freilich, wie das Mädchen sich auch +ins Zeug legte ... + +Und nun kam sie -- kochend, dampfend, wie aus dem Backofen ... fiel in +den Frisierstuhl und streckte alle Viere von sich ... Frau Doris umarmte +sie zärtlich und drückte ihr einen begeisterten Mutterkuß auf die +triefende Stirn ... + +»Schinderei, verfluchte!« pustete Jucunda. »Wie aus dem Wasser gezogen +ist man -- und das schon nach dem ersten Akt! Schnell, Muttel, die +Lappen runter und frische Wäsche! Ich komm' ja um!« + +In der Tür der Garderobe drängten ein paar Kollegen nach, der Heldin des +Abends die Hand zu drücken. Alle mochten sie das stramme junge Ding +leiden, das mit seinen achtzehn Jahren so resolut durch diese +schminkestarrende Welt stapfte, als sei sie darinnen geboren und nicht +in einem engbrüstigen Leipziger Spießermilieu ... + +»'raus!« befahl Mutter Doris. »Alles 'raus! Meine Tochter wünscht +alleene zu sein!« + +Und rasch vollzog sich die Verwandlung. In kräftiger Frische, +schweißgebadet, stieg der derbe Mädchenleib aus den klatschnaß +zusammensinkenden Hüllen, wurde von sorglicher Mutterhand mit lauen +Güssen überspült und in die frischen gewärmten Unterkleider gesteckt. +Die Garderobiere, ein verknittertes, verhutzeltes Weiblein, stand müßig +daneben und träumte von der goldenen Zeit, als auch sie einmal am +Stadttheater zu Stallupönen erste Naive gewesen und von den Leutnants +der Garnison mit billigen Buketts und falschen Schmucksachen +überschüttet worden war ... Dann aber mußte sie eingreifen, denn über +das weiße Gewand des Bauernmädchens wurde nun die wuchtige Rüstung +geschnallt und mit einem Dutzend Riemen und Oesen befestigt -- darauf +verstand Mutter Doris sich denn doch nicht. Inzwischen aber schwatzten +die Frauen ohn' Unterlaß: + +»Gott, war das ein Spektakel zum Aktschluß! Namentlich da hinten im +Parterre!« sagte Jucunda und warf das langflutende braune Gelock über +die Rüstung zurück. + +»Natierlich -- das gloob' ich ooch!« erwiderte die Mutter und strich mit +glättendem Kamme bedächtig durch die krause Mähne der Tochter. »Da +sitzen doch die Herren Studenten! Was die trampeln kenn'! Gott soll mich +bewahren! 's ganze Parkett war Dir doch eene Staubwolke! Und =unserer= +is ooch dabei -- wirscht mer's glauben?« + +»Wer? Der unverschämte Mensch aus dem Eckzimmer?« + +»Freilich, der! Un gezogen is er noch lange nich!« + +»I nee so was!« lachte Jucunda. + +»Eegentlich is mer'sch ganz lieb, daß er noch nich weg is,« sagte Mutter +Doris. »Immerhin er is der Erste Scharschierte vons älteste und +angesehenste Korps in Leipz'g ... Un so lang als ich denken kann, hab' +ich immer Korpsstudenten bei mir wohnen gehabt -- 's wär doch sehr +unangenehm für mich gewäsen, wenn er wär' mit'n großen Krach von mir +fortgegangen -- leicht hätt's kenn' passieren, daß die ganzen Korps mich +hätt'n in'n Verruf getan -- damit sin se immer sehr fix bei der Hand, +wenn ma een' von ihn' mal schief angekuckt hat ... Unser Nachbar +Wunderlich, der Mützenmacher, der kann e Wertchen davon erzählen ... Der +hat mal een' von die Korpsstudenten, der absolut nich wollt' zahl'n, nu, +dem hat er en groben Brief geschrieben -- und iebermorgen war er schon +im S. C. Verruf -- das kost'n an sechshundert Mark jährlich!« + +»I herrjemerschnee!« lachte Jucunda, »das hätt' ich wissen sollen, daß +unser Student so ein großes Tier ist! Da hätt' ich durch meine Grobheit +ja beinahe Deinen Geschäftsbetrieb ganz bösartig geschädigt! Na, +hoffentlich kommst Du noch mal mit 'nem blauen Auge davon! Uebrigens, +Muttel, wenn ich mich recht erinnere, so hast Du den einflußreichen +Jüngling auch nicht gerade mit Glacéhandschuhen angefaßt ...« + +»Nu, ich hab' mich eben lassen hinreißen,« sagte Frau Doris. »Weeßte, +wenn eener mir mit mein' Goldkinde tut anbinden -- hernach weeß'ch mich +nich zu beherrschen -- reinweg wie ene Furie werd' ich Dir dann!« + +»Muttel!« sagte Jucunda zärtlich und legte einen Augenblick lang das +lockenumflutete Haupt an den mächtig wallenden Mutterbusen. + +In diesem Augenblick trat Franz Burg herein, der Oberregisseur, in der +klirrenden Rüstung des englischen Oberfeldherrn, in einer Maske so voll +schrecklichen Ingrimms, daß Jucunda hell auflachte: + +»Donnerwetter, lieber Freund -- mit Ihrem Konterfei kann man ja die +Pferde scheu machen!« + +»Himmel -- für die guten Leipziger muß man eben ein bißchen dick +auftragen ...« + +»Schön,« sagte Jucunda, »werd' ich mir merken. Passen Sie mal auf, +Meister, wie ich jetzt loslegen werde!« + +»Aber gefälligst mit einem vernünftigen Stimmansatz, und nicht wieder so +aufs Organ loswüsten wie im ersten Akt! Ihnen geht's zu gut, Kindchen, +Sie werden mir zu üppig ... In einem Alter, wo andre Kolleginnen froh +sind, wenn sie einmal ein Servierbrett mit Kaffeegeschirr hereinbringen +dürfen, toben Sie schon abendfüllend durch ganz Deutschland -- da muß ja +so ein achtzehnjähriger Verstand aus dem Leim gehen ...« + +»Ach, lassen Sie mich doch ...« Jucunda reckte den herrlichen Körper, +daß alle Niete und Scharniere der Rüstung knackten ... »Lassen Sie mich +doch, lieber Freund ... Es ist ja so schön ...« + +Franz Burgs Augen schimmerten hinter den grimmigen, rotgrauen Brauen in +einem ganz seltsam weichen Licht ... Sie glitten über die schlanke, +waffenblanke Gestalt, wie ein Streicheln. + +»Schön ist's, das glaube ich -- Sie sind eben ein Sonnenkind, +Langbeinchen!« So nannte er sie noch immer, aus jener Zeit, wo sie als +blutige Novize wegen ihres knabenhaften Wuchses immer die Pagen hatte +spielen müssen ... Jetzt freilich wäre das nicht mehr zu machen gewesen +-- sie war ein Weib geworden ... + +»Na also -- Sie sind fertig ... Nun halten Sie aber Ruhe, bis Sie geholt +werden ... Und nicht zu toll mit dem Organ aasen, verstanden? Adieu, +Langbeinchen!« + +»Adieu, Sie Bester!« + +Ein Blick so voll dankbarer Zärtlichkeit, daß der grimme Talbot rasch +das Visier herunterklappte ... Und durch die Augenlöcher klang sein +Knurren: + +»Also fang'n mer an!« + +Er rasselte von dannen. Jucunda warf ihm ein halbes Dutzend Kußhände +nach. + +»Aber Jucunda!« rief die Mutter ganz entsetzt. + +»Ach laß doch, Muttel! Einmal ein Mensch beim Theater, ein einziger, +der selbstlos gütig ist -- einen lehrt, einem vorwärts hilft, ohne +gleich -- --« + + +Der zweite, der dritte Akt waren vorübergebraust, mit Schlachtgetöse und +Siegesjubel und Sterbegrauen ... und hatten geendet mit der +naiv-gewaltigen Szene, in der Johannas tragisches Geschick sich wendet: +der Fluch ihrer übernatürlichen Sendung sich wider sie kehrt. Das Herz +der Jungfrau hat mit Entsetzen sein Mädchentum empfunden ... + +Große Pause nun -- alles strömte hinaus in die schmalen, +schlechtbeleuchteten Gänge, das dürftige Foyer des dumpfen winkligen +Hauses ... + +Und da oben fanden sich die beiden Franken, ihr fürstlicher Konkneipant +und sein Erzieher. Die Herren begrüßten einander mit dem gewohnten starr +offiziellen Gesicht, dem korrekten Händeschütteln der hoch gewinkelten +Arme ... Keiner mochte verraten, wie sehr er gepackt war. + +»Ganz nett -- wie?« näselte der Erbprinz. + +»Na ja ... Aber immer dies ewige eintönige Pathos, das hält kein Pferd +auf die Dauer aus!« schnarrte Pilgram. + +»Wie fanden Sie die Buchner?« fragte nachlässigen Tones der Prinz. + +»Na -- mein Himmel -- spielt eben Schiller!« erwiderte der +Rechtskandidat. + +Hans Thumser blieb stumm. Ihm standen Erregung und Entzücken bis an den +Hals -- die Tränen, die er mühsam hatte unterdrücken müssen, preßten ihm +die glühenden Augen. O Gott -- so Erhabenes, so Ungeheures erlebt zu +haben ... Und dann den gelassenen Weltmann mimen zu müssen mit zwanzig +Jahren ... Was war das für eine Jugend? Sie schämte sich aller +jugendlichen Empfindungen ... der Begeisterung, des Glaubens an das +Große, das Weltbezwingende ... + + +Und schnell vollendete sich's nun. Wie ward es Valentin Pilgram zumut, +als er nun im festlich geputzten Saale zu Reims die Verse erklingen +hörte, die er neulich so schmählich unterbrochen? + + »Sollt' ich ihn töten? Konnt' ich's, da ich ihm + Ins Auge sah? Ist Mitleid Sünde?!« + +Was war denn das, was so heiß und fremd unter der linken Westentasche +zuckte und hüpfte? Was war dieser geheimnisvolle Schmerz, dieser +brennende, der durch Hirn und Glieder rumorte, wenn dieses Mädchen +seine stählernen blauen Augen verloren in den dunklen Raum +hinausschweifen ließ, in dem er saß, inmitten der proletigen Finken +ringsum, die er verachtete, wie er alles verachtete, was nicht zu den +Angehörigen eines hohen Kösener S. C. Verbandes zählte?! War es die +Scham, daß er dies Mädchen, diese weiße, stolze Weibesgestalt da hinten, +gekränkt, gestört in ihrem Studium -- sich benommen gegen sie wie ein +Rauhbein, ein Knote ohne Kinderstube und Direktion! + +Ja, das mußte es sein, das und nichts andres ... Er wird morgen früh +seinen Bratenrock anziehen und seine beste Mütze aufsetzen -- wird sich +feierlich durch die Frau Kanzleirätin anmelden lassen und förmlich und +devotest um Verzeihung bitten ... Es ist männlich, begangenes Unrecht +einzusehen und zu sühnen, und durch Revokation und Deprekation einer +Dame gegenüber vergibt auch Franconiae gewesener Erster, Erster, Erster +_ad interim_ sich nichts -- nein, ganz gewiß nicht! + +Also das mach' ich! Gesegnet meine wüste Laune, gesegnet meine +Examensnervosität ... So hab' ich doch wenigstens einen anständigen +Grund, mich ihr vorzustellen, sie zu sehen, mit ihr zu sprechen ... Und +ich werde mich dermaßen kavaliermäßig benehmen ... Ich werde ... +Ueberhaupt ... Ich werde -- hol' mich der Teufel -- Eindruck werd' ich +machen, so wahr ich Valentin Pilgram bin, Franconiae gewesener Erster, +Erster, Erster _ad interim_! + + +Hans Thumsers Seele war aber zwiegeteilt, wie fast immer -- fast immer +... Noch einmal, in der zweiten Szene des vierten Aktes, kam die andere +-- nach der er ein geheimes, lästerliches und süßes Schmachten verspürt +hatte, nun sie so lange verschwunden war ... kam Agnes Sorel, stand +neben der herrischen Gestalt Jucundas in ihrer kätzchenhaften +Holdseligkeit ... schmiegte an Jucundas gepanzerten Busen die +unverhüllte, die rosige lockende Brust ... O Hans Thumser, und denken zu +müssen, daß diese Himmelswonne Nacht für Nacht neben deinem +Knabenstübchen schläft, nur durch eine dünne Ziegelmauer von dir +getrennt, in der es gar noch eine Tür gibt, die freilich verschlossen +ist und mit einem Kleiderschrank verstellt ... O Hans Thumser, wie wirst +du dies Bewußtsein ertragen, nun du sie kennst, sie gesehen hast mit +deinen scheuen, brennenden Augen, ihr Bild hineingesogen in deine +lechzende, lebenshungrige Seele ... Wie wirst du's ertragen? + +Füchschen, die Trauben sind sauer ... So hat sie geschrieben. Ach, du +Schelm, du böser, neckender Traumspuk du -- du warmes, weiches, nahes, +fernes, weltenfernes Menschenkind -- --! + +Still -- es erfüllt sich Johannas Geschick ... Vor dem Bannspruch des +Vaters, der sie höllischer Blendekünste zeiht, verstummt sie ... +verstummt vor dem Donner des Himmels ... flieht in Einsamkeit und +Verzweiflung -- fällt stumm und wehrlos in die Hand der Feinde ... + +Doch dann, in letzter, höchster Not, kommt noch einmal über sie die +alte, magische Kraft: Sie zerreißt ihre Ketten, entrafft sich den +entsetzten Feinden, trägt noch einmal das Banner der Jungfrau zum +Kampf ... und dann, die Todeswunde in der Brust, von Siegesbannern +überbauscht, läßt sie ihre reine Seele ins All hinüberströmen ... + +O Dichter! Dichter! betet Hans Thumser -- großer, herrlicher mit Deiner +wunderbaren Cherubseele -- einen Tropfen von Deinem Geist in mein +junges Herz -- einen Flammenfunken von Deinem Himmelsfeuer! + + »Wie wird mir? -- leichte Wolken heben mich -- + Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide -- + Hinauf -- hinauf -- die Erde flieht zurück -- + Kurz ist der Schmerz, und ewig ist die Freude!« + + +Ein heftig gestammelter Dank an den Prinzen, ein feierliches Schütteln +der korrekt eingewinkelten Hände mit ihm und dem Major, und dann hinaus +-- hinaus in die herbstliche Abendluft ... O glühende Stirn, o glühendes +Herz ... + +Und nun -- warten -- sie noch einmal sehen, sie, »die alles Herrliche +vollendet« ... nicht jene andre, das Kätzchen, den Spukgeist ... Nein, +die eine, die weiße, die königliche ... + +Warten auf sie -- sie warten ja alle ... Eine dichtgedrängte Schar, +lauter blutjunges Volk. Konservatoristinnen und Ladenmamsellchen +untermischt mit Primanern und Studenten ... Sie warten vor dem Portal, +vor dem ein einziger Wagen noch hält, ein einziger, während all die +andern mit ihrer Fracht schleierumhangener, kapuzenverhüllter +Weiblichkeit von dannen donnern -- ein einziger Wagen, in dem, hüstelnd +und frierend, ein bebrilltes Männlein hockt mit grauem Kragenbart: der +Kanzleirat Buchner ... + +Es dauert lange, dies Warten ... Aber Hans Thumser wartet nicht allein: +An seiner Seite, geduldig fröstelnd, harrt der gestrenge Senior, ganz +gegen jede Wahrscheinlichkeit und Psychologie ... + +»Ne, Pilgram, wie =Du= mir heute vorkommst!« + +»Na, was denn? Wieso denn?« knurrt der Erste. »Denkste vielleicht, Du +hast die Kunstbegeisterung alleene gepachtet?!« + +Und endlich -- endlich -- -- am Bühneneingang fliegen die Hüte, die +Mützen von den Köpfen -- + +»Jucunda Buchner -- hoch! hoch!« + +Voran schiebt sich eine derbe Matrone in uraltmodischer +schleifenbesetzter Kapuze -- und dann kommt -- sie -- so mädchenhaft auf +einmal, so spießbürgerlich schlicht ... Wie ein Backfisch schaut sie +aus, so menschlich, so nahe ... + +»Hoch! hoch!« brüllen die Studenten, juchzen die Mädels -- sie huscht +vorüber, kopfnickend, so lieb, so einfach, so -- so fabelhaft nett -- +sie schlüpft in die Wagentür, nickt noch einmal vom Fensterrand -- neuer +Jubel -- + +Ach was -- längst nicht genug! + +Eine neue, eine würdige Huldigung dem wundervollen Menschenkind! + +»Kommilitonen!« ruft Hans Thumser und schwenkt die grüne Mütze, +»Kommilitonen! Wir spannen ihr die Pferde aus, wir fahren sie im Triumph +nach Hause!« + +Ein Beifallsgeheul ist die Antwort. Und auf die Gäule stürzt sich +der Schwall -- im Nu sind die Scheuenden, Schäumenden abgesträngt, +der fluchende, peitschenschwingende Kutscher entwaffnet und vom Bock +gezerrt ... + +»Verrickt seid 'r! Alle mitenander seid 'r übergeschnappt! Der Deifel +soll Euch hol'n!« + +Und hundert Hände packen zu, langen nach der Deichsel, den Zugscheiten, +den Strängen -- hundert Hände greifen in die Speichen -- hurra! Der +Wagen rollt, rollt mit seiner vielgeliebten Fracht ... Und allen voran +als Führer, den Hut auf dem Stock balancierend, den Stock im Takt +schwingend wie ein Tambourmajor schreitet einer, der den Weg kennen +muß: Franconiae gewesener Erster, Erster, Erster _ad interim_! + +Und der Wagen rollt die Sophienstraße entlang, umdröhnt vom Jauchzen +schönheitstrunkener, größeberauschter Jugend ... Rollt die Zeitzer +Straße, den Peterssteinweg hinab, der Altstadt zu ... Und immer +zahlreicher wird das Huldigungsgefolge hinter dem Triumphzug, den Jugend +der Jugend, der Schönheit, der Kunst bereitet, immer betäubender +schwillt der allgemeine Jubel: + +»Jucunda Buchner -- hoch -- hoch Jucunda -- unsre Jucunda!« + + + + + 4. + + +Als der Triumphwagen endlich in der Katharinenstraße hielt, zog der alte +Buchner den riesigen Hausschlüssel aus der Tasche und stieg als erster +aus. Ein hundertstimmiger Jubel empfing ihn ... + +»Das ist der Vater -- Jucundas Alter ist das -- Papa Buchner hoch! +hoch!« + +Ein Dutzend Hände waren ihm behilflich, hoben ihn über die Bordschwelle, +ganz betäubt humpelte er durch die Gasse, die sich vor seinen Schritten +öffnete, fand die Tür seines Hauses zu seiner Verwunderung bereits +geöffnet und schlüpfte hinein, wie erlöst, daß er dem Getös entronnen +... + +Und nun schob sich Mama Buchners massives Gestell aus der Droschke. + +»Achtung, jetzt kommt Mamachen!« schrien kecke Stimmen. »Platz für +Mamachen!« Geblendet vom grellen Licht der Gaslaterne, dicht neben dem +finstern Hauseingang, verwirrt vom Stimmengewirr, dem Glanz blitzender +Augen, dem Durcheinander winkender Hände, flatternder Tücher verfehlte +Mutter Doris mit unbehilflich suchendem Fuß den Wagentritt und wäre +gestürzt, hätte nicht ein sehniger Arm sie gefaßt und ihre schwerfällige +Gestalt mit sicherem Griff aufs Trottoir, auf die Beine gestellt. Und +gleich darauf fühlte sie ihre Hand in diesen sehnigen Arm hineingezogen, +fühlte sich sicher und ritterlich der Haustür zugeführt -- sah dankbar +zu ihrem Beschützer empor und -- sah in das verlegenheitglühende Gesicht +ihres Mieters ... + +»Gnädige Frau --« stammelte Pilgram. + +Gnädige Frau --?! Es war das erstemal, daß ihr Student diese Anrede für +die Frau Kanzleirätin fand ... sie war direkt erschüttert ... + +»Herr Pilgram -- nee heer'n Se, das is aber hibsch von Ihn' ...« + +»Darf ich Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch zu dem Riesenerfolge +Ihres Fräulein Tochter -- gnädige Frau? und zugleich auch meine Bitte um +Entschuldigung wegen meines unqualifizierbaren Benehmens von vorgestern +morgen --« + +»Ach sei'n Se still, Herr Pilgram -- scheen war's ja grade nich ... Aber +Sie haben's ja gut gemacht ... Also woll'n mer uns wieder vertragen! +Aber wo bleibt denn 's Kind?« + +'s Kind war noch nicht abkömmlich. Sie mußte draußen die Dutzende von +Händen schütteln, die sich ihr entgegenstreckten ... Und dabei liefen +ihr die hellen Tränen nervöser Seligkeit über die Backen ... + +»Dank ... tausend, tausend Dank!« Das war das einzige, was sie nur immer +wieder stammeln konnte ... + +Und endlich fiel die Pforte denn doch ins Schloß, während die +begeisterte Jugend draußen weiter jubelte und tobte. Kanzleirat Buchner +wollte abschließen, aber Valentin Pilgram kam ihm zuvor. Und dann +entzündete er ein Wachsstreichholz und geleitete Mama Doris mit der +Galanterie eines Oberhofmarschalls die knackenden Treppen des +altehrwürdigen Baues hinan, der einstmals ein feierlich elegantes +Patrizierhaus gewesen war ... Der Kanzleirat und die Heldin des Abends +folgten. + +Oben wollte sich Valentin verabschieden, um in seinem Zimmer zu +verschwinden, aber Jucunda rief: + +»Was? Sie wollen schon schlafen? Nee, gibt's nich! Muttel, mach' Licht +in der guten Stube! Wir schwatzen noch eins! Und Du, Alter, rück' mal +ein paar Pullen Gose heraus! Ich hab' einen Pferd'sdurst!« + +Und sieh -- nach wenigen Minuten war's hell und mollig in der +behaglichen Wohnstube, und während Mutter Buchner drinnen Bemmchen +schmierte und Papa Kanzleirat Zigarren und Aschenbecher bereit stellte, +sorglich aus den dickbauchigen Goseflaschen das bernsteingelbe +bitterliche Naß in die hohen Stangengläser plätschern ließ, stand +Valentin Pilgram voll nie gefühlter Empfindungen am Fenster, hinter +Jucundas hoher Gestalt, die noch immer hinaus auf die Straße winkte und +Kußhände warf, während von drunten, vom Straßendamm empor ohn' Ermatten +das Begeisterungsgebrüll der Burschen tönte, die Taschentücher der +Mädels flatterten ... + +»So, Kind,« sagte Mutter Doris endlich, »nu mache schon Schluß, daß Du +was zu essen und zu trinken kriegst ... Bitte, Herr Pilgram, nehmen Sie +Platz!« + +Valentin und Jucunda traten vom Fenster zurück. Jetzt erst fand das +Mädchen Zeit, den jungen Gesellen zu mustern. + +»Sie sind wohl einen halben Kopf größer als ich,« sagte sie anerkennend. + +»Aber Sie -- Sie sind ... etwas ganz Besonderes ... eine ganz andre +Sorte von Mensch als ... nu als wir gewöhnlichen Leute, wir simplen +Rechtskandidaten ... und so was.« + +»Erlauben Sie mal -- Sie sind doch auch was Besonderes ... Erster +Chargierter des ältesten und angesehensten Korps in Leipzig ...« Sie +wies auf einen Stuhl. + +»Gott -- gnädiges Fräulein ... Wie können Sie so was überhaupt ... das +sind doch Kindereien, wenn man's mit ... mit Ihrer Kunst vergleicht ...« + +O Valentin Pilgram -- wer dir das gestern prophezeit hätte ... daß du so +zu einer Komödiantin sprechen würdest ... daß die Heiligtümer deiner +Seele so schnell verbleichen würden ... + +»Na, nu nähmt mal gefälligst ä bißchen Platz, Kinder!« rief der +Kanzleirat ... + +Kinder --?! Es durchfuhr die beiden jungen Menschen ... ein seltsames, +ahnungsvolles Gefühl ... Mit einem Male war Jucunda Buchner nicht die +glückverwöhnte, reichbegnadete Künstlerin, sondern ein Backfisch von +achtzehn Jahren ... und Valentin Pilgram nicht der Sohn des +Senatspräsidenten am Dresdener Oberlandesgericht, nicht der Erste +Chargierte eines wohllöblichen C. C. der Franconia, sondern ein Knabe +von vierundzwanzig, in all seiner senioralen Würde doch noch immer ein +junger, lebensunkundiger Novize des Daseins ... + +Zwei blutjunge Menschen ... zwei Kinder ... beide gewachsen wie ein paar +Tannen, beide jung, stark und heiß ... + +»Kinder!« hatte der alte Mann gesagt ... Wie seltsam das die Seele traf +... + +Beider Augen waren gesenkt, beider Stirnen glühten, als sie sich setzten +... + +Man stieß mit den langschäftigen Gosengläsern an, Jucunda tat einen +tiefen, herzhaften Schluck und biß dann nicht minder herzhaft in ihre +Butterbemme. + +»Donnerkiel!« sagte sie, »das tut aasig gut ...« + +»Nu sagen Se, Herr Pilgram, wie sind Sie denn bloß in's Theater +gekommen? Ich hab' gedacht, Sie haben gar nischt iebrig für die Kunst?« +erkundigte sich Mama Buchner. + +»Ja ... Frau Rätin,« sagte Valentin, »wie soll ich Ihnen das erklären? +Sie haben nämlich recht ... Ich hab' wirklich nicht viel Sinn für die +Kunst ... Ich -- nu ich war eben ... neugierig war ich -- auf meine +Budennachbarin ...« + +»Sehr schmeichelhaft!« lachte Jucunda und zündete sich eine Zigarette +an. »Na und -- und was sagen Sie nu?« + +»Gar nischt sag' ich --« bekannte der Student. »Wissen Sie ... zum +Komplimente machen ... bin ich nicht maulgewandt genug ... ich kann nur +sagen: dies war der schönste Tag meines Lebens.« + +»Hehe -- da siehst es, Jucunda, was fier ä Kerle Du bist!« schmunzelte +der Kanzleirat. + +»Ach -- das geht doch nicht auf mich!« wehrte Jucunda ab. »Herr Pilgram +ist eben von Schillers großer Dichtung so ergriffen gewesen ...« + +»Ne, gnädiges Fräulein, das könnt' ich nu gerade nich sagen,« erklärte +Valentin. »Ich bin eben doch, wie mein Korpsbruder Thumser sagt, ich bin +doch ein Banause. Schiller? Ich weeß nich ... es ist mir doch zu viel +Schmalz an der Brühe ... Wenn Sie nicht gewesen wären, gnädiges +Fräulein, ich glaube nicht, daß ich wäre bis zum Ende dageblieben ...« + +»Schämen Sie sich!« zürnte das Mädchen. + +»Ja -- 's tut mir selber leid, daß ich so wenig Verständnis habe für die +sogenannte Kunst ... Sehen Sie ... ich stamme aus einer alten Juristen- +und Beamtenfamilie ... bei uns zu Hause ist nie von was anderm die Rede +gewesen wie von Dienst und Vorgesetzten und Karriere machen und Orden +kriegen und Gesetzesnovellen ... und das Theaterspielen und Musikemachen +und Bilderklexen und Verseschmieren -- nee, davon hat man bei uns nie +was wissen wollen. Aber was Arbeit und Pflicht und Gehorsam ist und +Gewissenhaftigkeit und Treue ... das ist mir eingepaukt worden von +Kindesbeinen an ... und nicht nur mit der Moralpredigt, sondern mit dem +guten Beispiel, dem nachahmungswürdigen Vorbild ...« + +»Das is sähr scheen, wenn man das von sein' Elternhause kann sagen --« +meinte der Kanzleirat. »Prost, Herr Pilgram -- Ihre Herren Eltern sollen +leben.« + +Andächtig tat Pilgram Bescheid. Aber Jucunda war des trockenen Tones +satt: + +»Erzählen Sie mir lieber von heut abend -- erzählen Sie mir, wie ich +Ihnen gefallen habe! Sie können's ruhig ein bißchen dicke machen ... Sie +haben ja gar keine Ahnung, wieviel Honig und Weihrauch unsereins +vertragen kann nach so einer gewonnenen Schlacht ...« + +»Aber Jucunda -- so schäme Dich doch! Was soll denn Herr Pilgram von Dir +denken?« + +»Na -- nichts als was wahr ist! Daß ich eine ganz eitle, verwöhnte +Komödiantin bin! Nicht wahr, Herr Pilgram, so denken Sie doch! Nur +heraus damit ...« + +»Gnädiges Fräulein, ich denke an nichts andres als an den Augenblick, wo +Sie zuerst herauskamen ... Wir waren zu spät gekommen, aus dem S. C., +wissen Sie? da muß man aushalten -- und als wir kamen, hatte der erste +Akt schon angefangen ... und ich langweilte mich und dachte: na ja, +Schiller ... und überlegte, was für ein Aufsatzthema mein alter +vermickerter Professor auf Prima in Dresden wohl aus diesem ersten Akt +herausgeschlagen hätte: Würde Johanna d'Arc ihr Vaterland auch errettet +haben, wenn Karl der Siebente anstatt mit den Engländern mit den +Deutschen Krieg geführt hätte? oder so ähnlich ... Und da -- da kamen +Sie -- und auf einmal wurde alles wahr und richtig und interessant und +... na ja eben schön ... mit einem Wort ...« + +»Ich seh's kommen, daß se Dich noch ganz närr'sch werden machen, Jucunda +--« kicherte der Kanzleirat. + +»Ach ja ... macht mich nur ruhig närrisch, Kinder -- es ist ja so schön, +gefeiert zu werden ... und begraben zu werden unter Lorbeer und Rosen -- +und die Pferde ausgespannt zu kriegen ... hören Sie, Herr Pilgram -- die +Idee, die war wohl von Ihnen?« + +»Ehrlich gestanden, nein -- so leid mir's tut -- aber den glorreichen +Einfall, den hat mein Korpsbruder Thumser gehabt ...« + +»Schade -- sonst hätten Sie wahrhaft'gen Gott 'nen Kuß gekriegt dafür +--« + +Der Kanzleirat drohte der Tochter lächelnd mit dem Finger. + +»Säh'n Se, Herr Pilgram, wie se Ihn' schon überschnappt?« + +Und er ließ frische Gosefluten in die Gläser kluckern. + +Aber allmählich fielen dem alten, hageren Männchen, das sein ganzes +Leben in der muffigen, überhitzten Luft der Königlichen Justizbureaus +zugebracht hatte, die geröteten Aeugelchen zu. Er verabschiedete sich +und humpelte ins Schlafzimmer. + +Auch Mutter Doris fiel allmählich ab. + +»Nu, Herr Pilgram, wie denken Sie über's Schlafengehen?« + +»Gibt's nich!« erklärte Jucunda. »Wenn Du müde bist, Mamachen, kriech in +Gottes Namen in die Posen ... Ich bin noch nicht fällig, und Herr +Pilgram wird mir Gesellschaft leisten, bis meine Nerven ausgezappelt +haben ...« + +Und die jungen Menschen waren allein. Es wurde still, ganz still +ringsum. Von der Katharinenstraße klang ab und an noch das schläfrige +Geklapper eines heimwärts trottenden Droschkengauls ... Vom nahen +Rathausturme meldeten die Glocken mit hallenden Schlägen Viertelstunde +um Viertelstunde ... sonst nichts mehr. Leipzig schlief. + +»Erzählen Sie mir mehr von sich!« sagte Jucunda und legte sich mit +behaglichem Gähnen in die gestickten Schoner des grünen Plüschsofas +zurück. »Aber nicht so was Langweiliges vom Korps und von Ihren +Fechtereien und vom Examen und so! Was Schönes ... was Interessantes!« + +»Ach, gnädiges Fräulein -- ich bin ein schrecklich uninteressanter +Mensch ... ich schäme mich ordentlich, ich werde ganz klein, wenn ich +mein Leben mit Ihrem vergleiche.« + +»Na, aber Sie müssen doch irgend was Besonderes erlebt haben ... Waren +Sie denn nie verliebt? Haben Sie nie ein Mädchen geküßt?« Sie zündete an +dem Rest ihrer Zigarette eine frische an, pustete eine dicke Rauchwolke +zu Valentin hinüber und schielte durch den Qualm hindurch neckisch +blinzelnd zu ihm hin. + +Valentin Pilgram wurde verlegen. »Hm ... ich weiß nicht recht, was ich +da antworten soll ... als Künstlerin wissen Sie doch jedenfalls schon +manches vom Leben ... und wissen, was wir jungen Männer, Studenten und +so -- wie soll ich mich nur ausdrücken?« + +»Na, daß Ihr gerade keine Tugendspiegel seid ... Euch mit Kellnerinnen +und ... so 'ner Sorte von Weibsbildern herumtreibt ... Herr Pilgram, ich +bin ein Leipziger Kind, das alles ist mir nichts Neues. Aber -- sowas +zählt doch hoffentlich nicht?« + +»Nein -- Sie haben ganz recht ... es zählt nicht ... Sehen Sie, man +betrinkt sich ja auch zuweilen mal ganz stumpfsinnig ... so ähnlich ist +das ...« + +»Und -- sonst? Sonst haben Sie noch gar nichts ... erlebt? Niemals eine +richtige ... eine Leidenschaft ... ein Gefühl, daß Sie so richtig die +Zügel aus der Hand verloren haben? Daß es mit Ihnen durchgegangen ist +wie ein wildes Pferd, so zuck, zuck, hoppla, hopp, über Stock und Stein, +nur vorwärts, ins Weglose, ins Nichts -- nur vorwärts ... komme was +wolle?!« + +Hingerissen hing Valentins Blick an den flackernden Augen, dem zuckenden +Munde des Mädchens. »Ach nein ... gnädiges Fräulein ... so was hab' ich +nie erlebt ... ich glaube auch, so was kann mir nie passieren ... dazu +sind wir Pilgrams viel zu korrekt ... viel zu gewissenhaft ...« + +»Schade --« sagte Jucunda. »Ich denke mir, das müßte schön sein ...« + +»Das ... glaube ich auch ...« sagte Valentin langsam. »Schön ... und +schrecklich ...« + +»Wie wär's, wenn wir nun schlafen gingen? Ich fange doch allmählich an, +abzufallen ...« + +»Schade!« sagte nun der Student. Seine Augen überflogen noch einmal die +weiße Gestalt, die sich in so fester, straffer Leiblichkeit abhob von +dem verschlissenen Samt, auf dem sie ruhte, beide Ellbogen nach vorn +emporgewinkelt, die Hände nach rücklings um die Lehne des Sofas +geklammert. + +»Gott, war das ein Tag!« sagte das Mädchen. »Ein Schlachten war's, nicht +eine Schlacht zu nennen! Aber das Hübscheste daran war doch, daß ich Sie +nun kenne, Nachbar ... daß ich Sie Grobian doch ein bißchen gebändigt +habe ... nicht wahr? Und daß wir zwei nun allein noch übrig sind von all +dem Trubel und Trara ... was? Ist das nicht nett? Aber Sie sagen ja gar +nichts?« + +»Was ... soll ich sagen?« stotterte der Student. »Ich ... sehe Sie +an ... und denke, daß morgen ... morgen das alles vorbei ist ... daß Sie +morgen wieder die allgefeierte Jucunda Buchner sind ... und ich ... +irgendein simpler, gleichgültiger Rechtskandidat ... der Ihnen nichts +sein kann ... nichts für Sie tun ... Ihnen nichts bedeutet als eben ein +Stück Publikum ... einer von den Tausenden, die Ihnen allabendlich +zujubeln, ohne daß Sie sie kennen, mehr für sie übrig haben als ein +geschäftsmäßiges Lächeln, wenn der Vorhang sich noch einmal hebt ...« + +»Wer weiß!« sagte Jucunda mit einem gnädigen Blick. »Vielleicht, daß ich +doch einmal einen ... einen Ritter brauchen kann ... dann will ich mich +an diese Stunde erinnern ... und Sie rufen ... Soll ich?« + +»Gnädiges Fräulein ...« sprach Valentin Pilgram heiser ... »Das wäre +mehr Gunst vom Schicksal, als ich Mut habe zu hoffen ...« + +Sie reichte ihm die feste, warme Hand. Er küßte sie ... ehrfurchtsvoll, +als sei es einer Fürstin Hand ... und ging. + +Als er die Tür zu seinem Kämmerchen hinter sich geschlossen, stand er +einen Augenblick im tiefen Dunkel, regungslos. Ihm war's, als drehe sich +alles um ihn im Wirbel. Und der reckenhafte Gesell, der +zweiundzwanzigmal dem Schläger und fünfmal dem Säbel Stirn und Brust +geboten, fühlte ein rätselhaftes Grauen vor etwas Kommendem, dem er +keine Deutung wußte ... das im Dunkel hockte und ihn ansah mit den +blauen, hellen, befehlenden Augen, von denen er fühlte, daß er ihnen +gehorsam sein müßte, was immer sie ihm gebieten würden. + + + + + 5. + + +Die zwölf halben Liter Tucher, die Hans Thumser nach dem Jucunda-Rummel +auf der Kneipe noch in seine ausgepichte Fuchsmajorskehle gepumpt, +hatten die Erregung der zappelnden Nerven untergekriegt und für die +nötige Bettschwere gesorgt -- zum Anfang wenigstens. Aber dennoch -- als +der Student plötzlich aus dumpfen, wirbelnden Träumen in die Höhe fuhr, +so daß der kaum verheilte Schädel krachend gegen die Rückwand seines +Bettes bumste -- da war es noch stockfinster, und wie er ein Streichholz +entzündete, wies die Uhr halb vier ... + +Und wieder Dunkelheit und Schweigen, und im Herzen schwirrend und +rumorend viel hundert Bilder, viel tausend Farben und Klänge ... + +Wo soll es hin, das alles?! Was will's von dir, dies tolle, glühende +Leben?! + +Da horch ... ein seltsamer Laut ... ein zager, verzitternder ... von +irgendwoher aus dem Dunkel ... und wieder ... und wieder ... derselbe +bang verschwebende Klageton ... + +Weinen ... Weinen einer Frauenstimme -- ganz leise, mühsam unterdrückt +... von Tränen umschleiert ... erschütternd ... + +Nun scheint's zu verstummen ... horch -- kein Laut mehr ... doch nein -- +nur heftiger jetzt die wimmernde Klage ... + +Um Gott -- das ist -- da nebenan -- das ist ... Asta Thöny ... + +Tränen ... Tränen in Frauenaugen -- entsetzlicher Gedanke für einen +Jüngling, einen tatensehnsüchtigen, weltgläubigen -- wer konnte +glücklich sein, ach nur ruhig sein, nur schlafen -- wenn ein Mensch, ein +Mädchen weinen mußte?! + +Himmel -- vielleicht ist sie krank geworden -- Agnes Sorel, die +kätzchenweiche, mit dem süßen, rosigen Hals, den dunklen, flirrenden +Augensternen ... windet sich in Schmerzen ... und niemand hört sie, +niemand steht ihr bei, denn sie ist nicht ein gehegtes, umsorgtes +Haustöchterlein wie Hansens Schwestern daheim -- sie ist ganz allein auf +der Welt -- einsam, schutzlos, hilflos ... + +Gott, wenn das doch enden wollte! Das ist ja nicht zu ertragen, diese +hilflose Klage ... Aber was kann man tun? + +Sich melden -- seinen Beistand anbieten ... + +Aber -- könnte das nicht -- mißverstanden werden? Nachdem er nun einmal +die dummen, zudringlichen Verse hinübergeschickt? Und einen so +wohlverdienten, ach, eigentlich noch viel zu schmuck bebänderten Korb +gekriegt? + +Aber -- wenn sie nun wirklich leidend wäre -- Hilfe brauchte -- gewiß, +sie würde nicht böse werden ... + +Oder -- wenn man Mutter Ach weckte -- und ihr mitteilte, das Fräulein +scheine nicht wohl zu sein? + +Aber -- wenn's nun gar nichts Ernstes wäre -- vielleicht nur eine Laune, +eine kindische Gereiztheit -- was weiß ich -- dann hätte man um nichts +und wieder nichts den schnarchenden Schlummer der ehrsamen Wittib +gestört ... und es gäbe gar noch eine Szene, nachts um halb vier ... + +_Enfin_ -- was geht's mich an? Decke über die Ohren und weiter dachsen! + +Ja, wenn das so ginge! Die Phantasie hebt an zu spielen -- dringt durch +die Finsternis, die Tapetenwand und malt in rosigen Farben das Bild des +einsam weinenden Kindes da drinnen ... und ach, das bange Schluchzen +dringt auch zum verbarrikadierten Ohr ... + +Mut! Es muß! + +»Gnädiges Fräulein --?« ganz leise, kaum geflüstert ... + +Das Weinen geht weiter, still und bitter ... + +»Gnädiges Fräulein --?« + +Auf einmal ist's still da drüben -- Finsternis und lastende Stille +ringsum ... + +»Verzeihen Sie, mein gnädiges ... Fräulein ... ich ... hörte ... ich +ängstige mich ... Sie möchten nicht wohl sein ... Hilfe brauchen ... +darum hab' ich mir die Freiheit genommen ...« + +Noch immer alles still ... offenbar ist man böse ... + +»Gnädiges Fräulein ... ich ... ich will nicht weiter beschwerlich fallen +... Sie wissen nun, daß jemand zur Hand ist, wenn's not sein sollte ... +Wenn Sie also nichts weiter von sich hören lassen -- dann -- na dann +darf ich ja wohl annehmen, daß ... daß alles in Ordnung ist ... und dann +werd' ich also in Gottes Namen weiterschlafen!« + +Auf einmal ein Laut ... kein Weinen ... auch kein Wort ... etwas +andres ... etwas Silbern-Zwitscherndes -- ein ganz feines, ersticktes +Kichern ... + +»Ach so --!« sagte der Student völlig beruhigt. »Na, denn gut' Nacht, +mein gnädiges Fräulein, und sei'n Sie nicht böse!« + +Und krachend warf er sich auf die rechte Seite, fest entschlossen, nun +aber auch _a tempo_ -- + +Da horch! Noch einmal ein Lachen, nun aber hell, übermütig -- und dann +die Stimme, die girrende, die streichelnde der Agnes Sorel: + +»Aber bitte ... ich muß ja doch danken für die gute Meinung! Aber sei'n +Sie ganz ruhig -- mir fehlt wirklich nix -- ich hab' nur so ein bissel +für mich geweint -- das kann doch vorkommen -- gelt?« + +»Na -- wenn's weiter nichts ist ... ich hab' ja solch einen Schrecken +bekommen ...« + +»O -- das tut mir leid -- ich hab' Sie so friedlich -- na ja, so +friedlich schnarchen gehört -- da hab' ich gedacht: den störst du +nicht ... und da hab' ich halt ein bissel geweint ... Nehmen Sie's nicht +übel, es soll nicht wieder passieren ...« + +»Aber bitte -- von meinetwegen -- ich weiß ja jetzt, daß es nichts +weiter zu bedeuten hat, wenn Sie einmal nachts weinen -- da werd' ich +mich also künftig auch nicht mehr drum aufregen ...« + +»Ach du lieber Gott -- zu bedeuten hat's schon was ...« + +»Hm ... also doch?! -- -- Können Sie mir's nicht sagen?« + +»Ach ... so durch die Tür hindurch ...« + +Jetzt fingen Hans Thumsers Hände denn doch ein bißchen an zu zittern. Er +suchte nach einer Antwort ... fand keine ... Himmel! Meine unsterbliche +Seele für einen Einfall ... + +»Ja ... so durch die Tür ... das geht natürlich nicht recht ...« + +Endlich ... das erlösende Wort: da ist's: + +»Aber ... wenn ich Ihnen ... morgen früh ... einmal ... meine +nachbarliche ... Aufwartung machen dürfte ...« + +»Hm ... morgen früh?!« Es klang so gedehnt ... so ... nach einem leisen +Bedauern ... ach nein ... das war ja doch ... da mußte Hans Thumser sich +doch wohl ... verhört haben ... + +»Morgen früh? Da hab ich ja Probe von zehn bis zwei ... Da müssen Sie +schon morgen nachmittag kommen ... zum Tee um fünf, wenn Sie mögen -- +gelt?« + +O Gott ... solch eine Einladung ... zum erstenmal in diesem jungen Leben +einem so schönen ... so ... verlockenden ... Mädchen gegenüber ... mit +ihr allein ... Gibt's denn so etwas?! Ist das denn möglich?! + +»Nu -- Sie antworten ja gar nicht?« klang's ganz leise. »Sind Sie am +Ende gar -- schon wieder eingeschlafen?« + +»Aber mein gnädiges Fräulein -- wie können Sie nur denken ...« + +»Also Sie kommen? Das ist schön. -- Na, nu wollen wir aber auch ... gut +Nacht, Sie -- Sie Füchschen Sie!« + +»Bitte -- Fuchsmajor!« rief Hans Thumser fast laut vor Selbstbewußtsein. +»Also ... wenn's denn sein muß -- gut Nacht, Agnes Sorel! + + Auch jenseits der Loire liegt noch ein Frankreich, + Wir gehen in ein glücklicheres Land, + Da lacht ein milder, nie bewölkter Himmel, + Und schöner blüht das Leben und die Liebe!« + +Ja! Wenn man so ein phänomenales Versgedächtnis hat! Und seinen Schiller +_intus_! + +»Donnerwetter -- allerhand Achtung!« kicherte es von drinnen. »Da möchte +man ja wahrhaftig -- aber nein -- jetzt wird geschlafen -- gut Nacht, +Herr Fuchs=major=!« + +Tiefe Stille ... Dunkelheit ... und zitternde Sehnsucht ... zitternde +Hoffnung ... + +Hans Thumser fand keinen Schlaf. Zu toll rumorte die Jugendbangigkeit in +seinen Gliedern ... + +Er lauschte, ob er wohl noch einen Laut vernähme von da drüben ... aus +der Märchenwelt der Träume ... aber alles blieb stumm ... und endlich +vernahm er durch den lastenden Frieden der Nacht geruhig schwellende, +leise Atemzüge ... + +Sie schlief ... + +Da streckte sich auch Hans Thumser mit einem langen Seufzer ... und +versank. + + + + + 6. + + +Valentin Pilgram war erst spät aufgestanden. In wüstem Halbschlaf, von +tollen Träumen gequält, hatte er die Nacht verbracht. Nun saß er über +seinem Drogenwelt-Geruch und knuffte die vier Klassen der +Gradualerbfolge der Novelle 118 in den schmerzenden Schädel hinein. + +Da klopfte es heftig an die Tür seiner Bude, und im selben Augenblick, +noch eh er: herein! hatte rufen können, schoß auch schon die Frau +Kanzleirätin herein, im geblümten Morgenrock, dessen Schleppe hinter ihr +drein waberte, in schleifenbesetztem Häubchen, unter dem die grauen +Strähnen des ungeordneten Haares hervorlugten: + +»Ach herrjeses, Herr Pilgram, Herr Pilgram, kommen Se doch nur mal +schnell -- 's Kind hat ja en Weinkrampf -- ach es is gräßlich! Kennten +Se nich gehn und en Doktor holen? Ich hab ja keen' Menschen nich im +Hause ...« + +Valentin schoß in die Höhe. »Einen Weinkrampf? Um Gottes willen, was ist +denn passiert?« + +»Ä Rosenbukett is gekommen, groß wie ä Turm ... un dabei ä Brief, ne, so +was von einer Unverschämtheit is überhaupt noch gar nich dagewäsen ...« + +»Ist sie denn ohnmächtig? Kann ich vielleicht helfen? Darf ich zu ihr +hinein?« + +»I du mein Himmel, Herr Pilgram, se is noch im Neglischee ... na aber, ä +Kinstlerin -- ä Kinstlerin sieht ja schließlich ooch im Neglischee ganz +anständ'g aus ... kommen Se nur, Herr Pilgram, helfen Se!« + +Aus der geöffneten Tür kam ein warmer Strom von Rosenduft ... und Rosen +überall, ein Rosenschwall, ein Rosenwald ... betäubend duftende, schon +leise welkende Rosen ... dazwischen die eigentlichen Blumen der Saison: +Dahlien, Astern, Erika ... und inmitten, auf eine Chaiselongue +hingeworfen, in leidenschaftlichem Schluchzen -- sie ... + +Ein riesiges Arrangement von Rosen und Chrysanthemen, in Manneshöhe, +lag umgestürzt auf dem Boden -- daneben ein aufgerissenes Kuvert +mit aufgeprägtem Wappen, ein zerknitterter Bogen schweren +Elfenbeinbriefpapieres, und -- -- zwei Hundertmarkscheine ... + +Auf dem Tisch aufgereiht die Karten der Spender der übrigen +Blumenherrlichkeiten -- Jucunda war offenbar eben beschäftigt gewesen, +den Gebern zu danken, prompt und akkurat, wie es zu den geschäftlichen +Pflichten einer vielgefeierten Künstlerin gehört ... da war =das da= +gekommen ... + +Frau Buchner hob das Briefchen auf, glättete es und hielt es Pilgram +hin. »Da läsen Se's -- und sagen Se, ob so was meeglich is -- so eene +Gemeinheit --!« + +Jucunda hatte sich beim Klang der Stimme ihrer Mutter aufgerichtet ... +nun tupfte sie rasch mit dem nassen Tüchlein die Tränen von den +glühenden Augen, ordnete das wirre Haar und verfolgte mit gierigen +Blicken Valentins Gesichtsausdruck, während er das Briefchen durchflog +... + +Valentin Pilgram las ... und eine dunkle Zornesflamme schlug über sein +feierliches Gesicht. + +»Halunken!« knurrte er. + +Er las weiter -- nun wendete er das Blatt und sah nach der Unterschrift +... und plötzlich wurden seine Züge ganz starr, und seine Hände ballten +sich zur Faust. Dann las er zu Ende ... ließ das Blatt sinken und +starrte die Schauspielerin an mit Augen, in denen Schreck, fassungs- und +ratlose Bestürzung stand. + +»Sie ... kennen, scheint's, die Herren --?« fragte die Kanzleirätin. + +»Es scheint, fast -- ja ... entsetzlich fatal ...« + +»Am Ende gar -- Korpsbrüder von Ihnen --?« + +»Hm -- wenn's richtige Korpsbrüder von mir wären -- denen wollt ich die +Flötentöne schon beibringen!! -- aber so ...« + +»Aber -- Sie kennen die Absender?« + +»Ich ... fürchte ... ich kenn' sie ... von Dillingen ... von Gorczynski +...« Und mit heftig stammelnden Worten erklärte er den Damen, wer es +sei, den er hinter diesen Namen vermuten müsse ... und in wie naher +Beziehung diese Herren zu seinem Korps, zu ihm selbst standen ... + +»Da sehen Sie's!« sagte Jucunda. »Ein Erbprinz! Ein Fürst! das muß man +eben einstecken ... nicht mal verklagen kann man so 'n großes Tier -- +sonst engagiert einen kein Hoftheater mehr ... ganz wehrlos und +schutzlos ist man ...« + +Und wiederum flossen die Tränen über das weiße, herrische Gesicht ... +und auch die Mutter, vom herzbrechenden Weinen der Tochter angesteckt, +schluchzte nun los. Um die Wette weinten die Frauen. + +Es arbeitete heftig in Valentin Pilgrams festem, offenem Gesicht. + +»Nein,« sagte er plötzlich hart und stand mit einem Ruck auf. +»Schutzlos? Das sind Sie nicht. Guten Morgen, meine Damen.« + +»Wohin, Herr Pilgram? Was haben Sie denn? Was ist Ihnen?« rief Jucunda +und hielt den Studenten am Aermel seines Bratenrockes fest. + +»Ich werde Ihnen Genugtuung verschaffen!« + +»Sie -- mir? Nein, Herr Pilgram, das ... das geht nicht ... Sie werden +ja die entsetzlichsten Unannehmlichkeiten haben ... werden sich +womöglich gar um meinetwillen -- nein, das will ich nicht -- das sollen +Sie nicht, Herr Pilgram!« + +»Nee, nee, Herr Pilgram!« sprudelte auch die Frau Kanzleirätin, »das +dürfen Se nich machen! Das kenn' wir ja gar nich von Ihn' verlangen! Das +dürfen wir ja gar nich von Ihn' annähm'!« + +»Seien Sie ohne Sorge meinetwegen!« sagte Valentin und reckte sich zu +seiner ganzen Länge. »Ich bin Manns genug, so eine Affäre standesgemäß +zu erledigen.« + +»Nein, Herr Pilgram, das dulde ich unter keinen Umständen! Wie kämen Sie +denn dazu, sich für mich ... ich bitte Sie, was gehe ich Sie denn +überhaupt an?« + +Da sah der Student das schöne Mädchen mit einem Blick an, vor dem sie +die Augen niederschlagen mußte in Schreck und stolzem Machtgefühl +zugleich. Gott, war das entsetzlich ... war das berauschend schön ... +was sie da so jäh, so unerwartet erlebte ... + +»Erinnern sie sich noch an ... gestern abend?« sagte der Jüngling. »Was +Sie mir da versprochen haben?« + +»Ach ... das war so leichtsinnig daher geredet ...« + +»Von =mir= nicht!« + +Ach ... wie süß das war ... dies Bewußtsein, daß ein Starker, ein Kühner +sich einsetzt für dich ... + +Aber nein ... das durfte nicht sein ... mit Blitzesschnelle flogen die +Bilder von hundert schrecklichen Möglichkeiten an ihrem Geiste vorbei. +Er war doch wohl Jurist -- seine Karriere würde er sich ruinieren -- +sein Examen zunächst ... und wer weiß -- zwar Prinzen -- die schlugen +sich ja wohl nicht -- aber der Major ... ein Offizier ... ein Duell ... +Himmel, und der junge Mensch hatte ja doch Eltern daheim ... und +schließlich -- auch sie selber konnte eigentlich keinen Skandal +gebrauchen ... was wohl Franz Burg dazu sagen würde ... und ihr +gnädiger, gütiger Herr daheim in Meiningen ... + +»Herr Pilgram -- das darf nicht sein! Ich bitte Sie, wenn Sie wüßten, +wie oft unsereine so etwas erleben muß -- wenn man da jedesmal Krach +machen wollte! Die Herren haben's ja wahrscheinlich gar nicht so schlimm +gemeint -- haben sich wohl gar nichts dabei gedacht --« + +»Sie haben ... weinen müssen ...« sagte Valentin Pilgram durch die Zähne +... »das sollen sie mir bezahlen ... die zwei.« + +Und mit sanftem Druck machte er die große, schlanke Hand los, die seinen +Rockärmel noch immer gefaßt hielt, küßte sie ehrerbietig und ging zur +Tür. + +»Ach -- die dummen Tränen --« rief Jucunda -- »das macht nichts, die +sitzen einem Mädchen ja so lose ... sehen Sie, ich lache ja schon wieder +... ich lache ja doch --« + +Und sieh: da liefen ihr wirklich aufs neue die heißen, hellen Tropfen +über die glühenden Backen ... sie schluchzte wie ein Kind: + +»Ich will aber doch nicht -- Sie sollen nicht, Herr Pilgram --!« + +Der war schon aus der Tür, schritt in seine Bude hinüber, riß die neuste +grüne Mütze vom Nagel und stülpte sie auf den Schädel. Nahm sein +silberbeschlagenes spanisches Rohr und ging zum Flur ... klinkte mit +hartem Ruck die Pforte auf und stieg mit hallenden Tritten die Treppen +hinab. Aus der steinumschnörkelten Pforte des altersgeschwärzten +Barockhauses trat er auf die belebte Katharinenstraße, ging den Markt +hinunter am Ladengewimmel des Rathausparterres vorbei und stolzierte +grimmigen Schrittes die Grimm'sche hinab. + +Und dabei sann er, was zu tun. Also jetzt werde ich die beiden Burschen +ankontrahieren müssen -- nicht auf Pistolen, bah! Vor die Klinge sollen +sie mir, vor die krumme! Freilich, der Prinz wird sich wohl hinter seine +Hausgesetze verkriechen und mir einen Ersatzmann präsentieren ... aber +der Major, dieser aalglatte Streber -- der muß 'ran! Hat ja auch wohl +jedenfalls den saubern Wisch verfaßt -- denn des Prinzen kindliche Pfote +war das nicht, die kenn' ich doch! Na, und dann wollen wir dem mal +zeigen, was 'ne Prim ist! + +Hm ... aber ... wie stellt sich das Korps dazu? Der Prinz ist +Konkneipant unseres Bundes, trägt offiziell seine Farben ... also ... +ich werde austreten müssen ... und nicht nur _pro forma_, denn sie +können mir ... nach dem Skandal können sie mir niemals das Band +zurückgeben ... + +Teufel auch, da hab' ich mir ja eine schöne Suppe eingerührt ... + +Aber was kann das helfen ... Ritterpflicht ist Ritterpflicht ... kein +Mädchen, und wär's zehnmal eine Komödiantin -- keine soll klagen, daß +ihre Ehre schutzlos sei, solange Valentin Pilgram noch eine Klinge +führen kann ... Hatte er sich nicht ihrem Dienste gelobt -- gestern +abend? Und wie rasch war das nun gekommen, daß dies Gelöbnis ihn zu +Taten rief! + +Geld hatte man ihr zu bieten gewagt ... ihr, die ganz Deutschland +vergötterte ... ihr, die vor seinen Augen dastand in so stolzer +Reinheit, wie eine Heilige ... die hatte man kaufen wollen wie eine ... +wie eine aus den dunklen Gäßchen der Stadt, durch die am hellsten Tage +niemand gehen mochte --?! Das forderte Blut -- nur mit Blut war das zu +sühnen --! + +Aber ... du selber, Valentin Pilgram --? + +Hm ... ist das nun nicht eigentlich doch ein Narrenstreich? Hat sie +nicht doch recht gehabt, als sie sagte: was geh' ich Sie an --?! + +O Valentin Pilgram, Rechtskandidat im achten Semester -- greif' in deine +Brust und frage dich: geht sie dich an -- diese -- diese da?! + +Ja -- wenn eine in der Welt, dann geht diese da dich an ... denn, +Valentin Pilgram, so närrisch das auch klingen mag ... Du bist ... +diesem Mädchen bist du verfallen seit dem Augenblick, als sie durch die +Gasse des jauchzenden Volkes vor Karl den Siebenten trat ... und +zugleich in dein Leben, Valentin Pilgram, schicksalsgewaltig ... für +immer -- für alle deine Tage --! + +Nun lag vor dem Schreitenden, herbstsonnenübergoldet, der Augustusplatz: +zur Rechten flimmerten die Wasser des Mendebrunnens, reckte sich die +finsterblinkende Front des Museums; zur Linken stieg in heiterer Anmut +der köstliche Bau des Neuen Theaters ins duftige Blau. Dorthin strebte +Franconias Senior, denn er wußte zu dieser Stunde das Korps im +Restaurant auf der Theaterterrasse zum Frühschoppen versammelt. Vor ihm +wanderte noch eine andere grüne Mütze: Pilgram ließ den Frankenpfiff +schallen: da fuhr der Kopf unter der grünen Fuchsmütze herum: + +»Ah ... Pilgram --« + +Ehrerbietig zog das blonde Füchschen vor dem gestrengen Ersten den +Deckel und sprang heran. + +»Also, Hartwig, geh' zum Frühschoppen und sage dem Fuchsmajor, er möge +sofort die Korpsburschen zum außerordentlichen Korpskonvent +zusammenbitten! Ich erwarte die Herren im Flügelzimmer des Restaurants +-- verstanden?« + +»Gewiß, gewiß, Pilgram -- ich laufe ...« + +Und vom muntern Frühtrunk weg, von der sonnüberglühten Terrasse, wo bei +rauschender Musik die Korps ihren offiziellen Frühschoppen hielten +inmitten neugierig beobachtender Fremden, verschwand ein wohllöblicher +C. C. der Franconia unter dem Rundbogen, der zum inneren Lokal führte, +und versammelte sich in einem kühlen, abseitigen Gastzimmer zum Konvent +-- gespannt, was diese unerwartete Ladung zu bedeuten haben möge. + +Die Franken waren's gewohnt, daß ein Ausdruck beklemmender Feierlichkeit +sich über das hagere Gesicht ihres Ersten legte, wenn er den +Korpskonvent eröffnete: aber so ... so unheimlich offiziell hatten sie +ihn doch noch niemals gesehen. + +»Ich habe dem C. C. von einer persönlichen Angelegenheit Mitteilung zu +machen, die -- zu meinem größten Bedauern -- mich in einen Widerspruch +mit den Interessen des Korps bringt. Unser Konkneipant, Seine +Durchlaucht der Erbprinz, und dessen Begleiter Major v. Gorczynski haben +sich einer schweren Beleidigung gegen eine Dame schuldig gemacht. Diese +Dame ... diese Dame steht unter meinem Schutze ... und deshalb sehe ich +mich genötigt, diesen Herren eine schwere Forderung zu übersenden. Ich +kann natürlich nicht erwarten, daß das Korps den Erbprinzen zur +Verantwortung zieht ... und deshalb bleibt mir nichts übrig, als den +C. C. zu bitten, mir die Entlassung ohne Farben zu gewähren, damit ich +den Ehrenhandel mit einem Herrn, der offiziell zu den Angehörigen des +Korps zählt, zum Austrag bringen kann. Wünscht jemand zu meinem Antrage +das Wort?« + +In stummer Verblüffung hatten die jungen Herren den Vortrag ihres +Häuptlings angehört -- angesteckt von seiner Erregung, seinem fiebernden +Ernst. Nun baten fast sämtliche Korpsburschen ums Wort und verlangten +nähere Erklärungen. Man fragte, wie es möglich sein könne, daß der junge +Prinz mit einer Dame, welche der nächsten Verwandtschaft ihres +Korpsbruders angehörte -- denn nur um eine solche Dame konnte es sich +doch handeln -- überhaupt in Berührung gekommen sein könne? + +»Die Dame, für die ich einzutreten habe, ist keine Verwandte von mir ... +es handelt sich um ein junges Mädchen, das außer seinem Vater, einem +älteren, gebrechlichen Herrn, keinen männlichen Schutz zur Seite hat -- +und für das einzutreten mir deshalb als die Pflicht eines Ehrenmannes +erscheint, zumal diese junge Dame zugleich eine berühmte und gefeierte +Künstlerin ist ... es handelt sich um die herzoglich meiningische +Hofschauspielerin Jucunda Buchner.« + +Ein unwillkürlicher Laut des Staunens, der tiefsten Ueberraschung +entfuhr jedem der jungen Herren. Keiner konnte sich den Zusammenhang +erklären ... wußte doch außer Hans Thumser noch nicht ein einziger von +ihnen, daß ihr Erster, der notorische Verächter alles dessen, was Kunst +und Künstler hieß, überhaupt gestern abend bei den »Meiningern« gewesen +war ... + +»Ich bitt' ums Wort!« rief Ivo Volkner, der temperamentvolle +Rheinländer, und als der Erste dem Konvent Silentium für Volkner +anbefohlen: »Ja, lieber Pilgram -- ohne uns in Deine persönlichen +Angelegenheiten hineinmischen zu wollen -- aber Deine Erklärungen sind +doch für uns alle dermaßen -- überraschend, daß wir doch wohl um etwas +genauere Auskunft bitten müssen ... was ist der ... jungen Dame ... denn +eigentlich passiert ... und wie kommst Du -- gerade Du dazu, Dich zu +ihrem Ritter aufzuwerfen?« + +»Ich will ... zuerst diese letzte Frage beantworten. Oder vielmehr nicht +beantworten. Liebe Korpsbrüder, Ihr kennt mich und wißt: ich weiß im +allgemeinen, was ich tue ... Und wenn ich Euch sage, das, was ich zu tun +vorhabe, das muß sein -- na, dann darf ich vielleicht von Euch erwarten, +daß Ihr mir das glaubt. Hab' ich recht?« + +Allgemeines Gemurmel der Zustimmung. + +»Also noch einmal: ich halte mich für verpflichtet, für die Dame +einzutreten ... und bitte den C. C. ... von einer näheren Darlegung +meiner Motive ... Abstand zu nehmen.« + +Volkner bat ums Wort und fragte: + +»Ohne weiter in Dich dringen zu wollen, Pilgram: wir hören doch alle in +diesem Augenblick zum ersten Male, daß Du die Dame überhaupt kennst. +Sollten wir dann nicht wenigstens erfahren, wann und ... unter welchen +Umständen Du ... ihr denn eigentlich dermaßen nähergetreten bist, daß Du +-- hm! daß Du nun dermaßen für sie in die Verlängerung springen willst?« + +»Das kann ich Euch mitteilen ... aber zur Erklärung meiner ... meines +Entschlusses wird's Euch wenig nützen ... ich muß da schon an ... an +Euer korpsbrüderliches Vertrauen appellieren ... ich kenne Fräulein +Buchner erst seit gestern abend ... sie ist die einzige Tochter des +Kanzleirats Buchner ... bei dem ich zur Miete wohne.« + +»Also sozusagen -- _filia hospitalis_!« sagte Volkner, und ein kurzes, +verständnisvolles Schmunzeln ging über die erregten Gesichter der +Korpsbrüder. + +»Nun, ich denke, ich habe Euch zu diesem Punkte mitgeteilt, was ... was +sich irgend mitteilen läßt. Und zweitens -- was wolltest Du ferner noch +wissen, Volkner?« + +»Ja -- was denn der Erbprinz eigentlich gemacht hat ...« + +»Er hat sie durch seinen Begleiter zum Souper einladen lassen -- na, das +möchte ja allenfalls gehen ... aber er hat dieser Einladung dadurch +einen nicht mißzuverstehenden Charakter gegeben -- daß er ... daß er +zwei Hundertmarkscheine beigefügt hat ...« + +Das Lächeln, das bei Erwähnung der Soupereinladung um die Lippen der +jungen Herren aufgezuckt hatte, erlosch ... Rufe wurden laut: + +»Geschmacklosigkeit!« + +»Donnerwetter, der geht aber aufs Ganze!« + +»Na ja -- ein Förscht -- der denkt eben, er braucht bloß auf'n Knopp zu +drücken ...« + +»Ich denke, liebe Korpsbrüder, Ihr seht ein, daß eine solche infame +Beleidigung -- einem anständigen Mädchen gegenüber -- Fräulein Buchner +=ist= ein anständiges Mädchen, und wenn sie zehnmal eine Komödiantin ist +-- was sagst Du, Thumser? Du kennst sie ja auch?« + +Hans Thumser hatte mit einem wahren Toben der Gefühle die Verhandlung +verfolgt, ohne selbst das Wort zu nehmen. Mein Gott, wie war aus dem +strahlenden Spiel von gestern so rasch ein grotesker, tragikomisch +grinsender Ernst geworden! Und was war doch dieser offizielle, +banausische Pilgram für ein Prachtkerl, daß er sich für ein jählings +erwachtes Gefühl gleich so ganz und rückhaltlos in die Schanze warf! + +Ach, und du, Hans Thumser? was soll denn heut nachmittag werden? Mit was +für Träumen, was für Begehrnissen, Hans Thumser, trägst du dich?! + +»Ein anständiges Mädchen?« rief er zur Antwort auf die Frage des Ersten. +»Eine Königin ist sie ... eine Göttin ... Pilgram, ich beneide Dich um +das Glück, für sie vom Leder ziehen zu dürfen!« + +»So überschwenglich brauchen wir das gar nicht mal auszudrücken,« sagte +der Erste. »Aber ein anständiges Mädchen ist sie ... und da ich nun mal +zufällig das Pech oder ... das Glück habe, mit ihr unter einem Dache zu +wohnen ... und der erste honorige Mensch zu sein, dem sie sich +anvertraut hat ... so bleibt ja wohl nichts andres übrig, als die +Konsequenzen zu ziehen ...« + +Bei diesen so nüchtern klingenden Worten schwoll's in all den jungen +Burschenherzen. Es war der romantische Glanz, der diese Tat ihres +Korpsbruders, ihres Führers, umwob, der ihnen allen Sinne und Urteil +blendete. Wenn auch der Idealismus, den das Gymnasium in ihnen erzogen, +durch die Formen blasierten, kaltschnäuzigen Lebemannstums verdeckt, ja +stellenweise überwuchert sein mochte -- noch lebte in ihnen allen etwas +von dem Adelsgeiste, unter dessen Herrschaft ihre ganze Jugend, die +Formung ihrer Seelen gestanden ... Wohl stieg in manchem von ihnen das +Gefühl auf, als hätte sich doch am Ende ein Kompromiß finden lassen ... +noch bedächtigere Seelen bedachten gar insgeheim, daß eine solche +Katastrophe, auch wenn Pilgram vorher offiziell aus dem Korps +ausschiede, doch nicht ohne Folgen für die Beziehungen des Korps zu dem +Erbprinzen und damit vielleicht überhaupt zu den deutschen Fürstensöhnen +bleiben könne ... In weiter Ferne dämmerte gar hie und da etwas wie der +Gedanke an verpfuschte Karriere, verspielte Zukunftsaussichten ... aber: + + »Wer die Folgen ängstlich zuvor erwägt, + Der beugt sich, wo man die Tiefquart schlägt -- + Frei ist der Bursch!« + +-- das galt auch heute noch, das galt, das sang man nicht nur, so +handelte man auch -- hol's der Teufel! + +Einstimmig ging Pilgrams Antrag durch, ihm die ehrenvolle Entlassung +ohne Band zu erteilen ... Aber durch jedes Herz ging's wie ein schriller +Riß, als nun Valentin Pilgram stumm das grün-gold-rote Band von der +Brust zog, es stumm auf die Mütze legte, die auf dem Tische lag, sich +mit schweigendem Händedruck von den ... ehemaligen Korpsbrüdern +verabschiedete ... und, mit einem Handwink im Kreise, an ihnen +vorüberschritt ... + +Er ging durch den Schenkraum des Theaterrestaurants, schritt barhaupt +quer über den Augustusplatz, kaufte sich in der Passage für seinen +letzten Taler (Gott sei Dank, morgen ist der Erste!) einen einigermaßen +schäbigen Filzhut und kehrte dann zur Theaterterrasse zurück. Grüßend +schritt er am Frankentisch vorbei, wo die harrenden Füchse in stummer +Verwunderung ihre Mützen zogen, lüftete flüchtig den Hut zu den Tischen +der übrigen Korps und trat auf den Neo-Borussentisch zu, an dessen +Spitze der Erste, Herr Borgmann, mit dem gewohnten süffisanten Lächeln +präsidierte. + +»Herr Borgmann -- kann ich Sie einen Moment sprechen?« + +»Mit dem größten Vergnügen, Herr Pilgram ...« + +Die beiden jungen Herren traten abseits an den Rand der Terrasse, von +der der Blick hinschweifte zum zitternden Spiegel des Schwanenteiches, +auf das braune, rieselnde Laub der Anlagen auf dem alten +Umwallungsgebiet. + +»Zunächst gestatte ich mir, Ihnen anzuzeigen, daß ich aus dem Korps +Franconia ausgeschieden bin ...« + +»Herr Pilgram --!« + +»Sie werden den Grund sogleich erraten: Ich bitte einen wohllöblichen +C. C. der Neo-Borussia um Waffenschutz und zugleich Sie persönlich um +die große Liebenswürdigkeit, Seiner Durchlaucht dem Erbprinzen von +Nassau-Dillingen und Herrn Major von Gorczynski je eine Forderung auf +schwere Säbel ohne Binden und Bandagen auf fünfundzwanzig Minuten bis +zur Abfuhr zu überbringen.« + + +In ratloser Verblüffung waren Mutter und Tochter zurückgeblieben, als +ihr Student sich so unerwartet und kategorisch zu Jucundas Ritter +aufgeworfen. Nun sie allein waren, wich die erste Rührung und +Ergriffenheit bald einem kaltblütigen Erwägen. + +»Das gibt weeß Knebbchen än richt'gen Schkandal!« platzte Mutter Doris +heraus. »Gucke, das hast Du nu davon, daß Du Dich so hast vergessen +kenn'! Schließlich -- so gefährlich war doch am Ende die ganze +Geschichte nu nich! Man hätte den Herrn ihr Geld einfach sollen +wiederschicken -- mit Abzug von's Porto nadierlich -- un den Korb zum +Gärtner zurück, un all's war in Ordnung! Statt dem wird der nun hingehn +und wird'n fordern, den Erbprinz, un der Krach is fertig! Un +schließlich, was wer'n die Leite sagen? Die Buchner hat's mit ä +Studenten, wer'n se sagen!« + +Eine Flut von wirren Gedanken wirbelte durch Jucundas Hirn. Da +war so unendlich Vieles, was beglückte, erregte, schmeichelte, +stachelte, berauschte! Welch eine Macht ging von ihr aus -- trieb den +langen Jungen, einen Sohn aus gutem Hause, den Ersten Chargierten +des ältesten und angesehensten Korps in Leipzig -- sie war ihren +Kindheitserinnerungen noch nahe genug, fühlte sich noch immer als +Tochter eines Hauses, das jahraus, jahrein nur Korpsstudenten +beherbergte -- wußte das als eine Ehre zu schätzen ... ihn trieb sie in +tolle, aberwitzige Abenteuer, diese unheimliche Macht, die von ihr +ausging ... Achtzehn Jahre, und schon der Mittelpunkt von Tragödien und +Katastrophen ... + +Aber da war noch eine andere Stimme: die Stimme der kalt rechnenden +Vernunft, die Stimme der kleinbürgerlichen Gerissenheit, die das früh +gewitzigte Töchterchen einer engbegrenzten Spießerwelt auf ihrem Anstieg +in lichte Höhen des Daseins bisher so sicher geleitet hatte: die warnte +vor dem Skandal ... mahnte zur Ruhe, zur Vorsicht ... + +»Wenn ich nur wüßte, was Hoheit in Meiningen zu so einer Geschichte +sagen würde ...« + +»Nu, ich glaub' nich, daß der gnädigste Herr sähre entzickt mechte sinn, +wenn's Geschichten gibt wegen en Prinzen aus fürstlichem Hause ...« +meinte die Mutter. + +Jucunda sann, an wen sie sich wohl um Rat wenden könnte. Franz Burg! +schoß es ihr durch den Sinn. Der wackere, selbstlose Freund und Förderer +hätte es wohl verdient, daß sie sich überhaupt zuerst an ihn gewandt +hätte ... Und das hätte sie ja auch sicherlich getan, wenn nicht ihre +Nerven, noch nachzitternd von den gestrigen Fiebern, ihr den Streich mit +dem Weinkrampf gespielt hätten ... ja, und da war's eben alles so von +selbst gekommen, das Andre, das Unwahrscheinliche, das süß Berauschende +und Erschreckende ... + +Mutter Doris war natürlich sehr einverstanden ... Und alsbald war +Jucunda auf dem Wege zu Franz Burg ... wie sie immer zu Franz Burg +gegangen war, wenn sie nicht mehr aus noch ein wußte ... es gingen +sehr viele Menschen zu Franz Burg, wenn sie nicht mehr aus noch ein +wußten ... + +Ach, wie ging sie gern zu Franz Burg! Erstens war es ein behagliches +Bewußtsein, daß er verheiratet war -- sehr glücklich verheiratet. +Zweitens war's ein sehr behagliches Bewußtsein, daß -- nun daß er +trotzdem heftig für sie schwärmte -- so was merkt man doch, nicht wahr? +-- daß sich hinter seiner trockenen, reservierten Freundschaft eine +Empfindung versteckte, die gewaltsam gebändigt werden mußte ... + +Gott, ist das entzückend, so zu fühlen, zu wissen, daß man wie eine +allvergötterte Königin durchs Leben schreitet ... Ihr fiel ein, daß sie +einmal von den Indianern gelesen hatte, sie sammelten die Skalpe ihrer +erlegten Feinde ... O Jucunda -- wenn du die Skalpe deiner zur Strecke +gebrachten Verehrer sammeln würdest ... was für ein Museum käme da +zusammen! + +So sann Jucunda, während sie hastig die Petersstraße hinabschritt, den +Weg, den man sie gestern im Triumphzug heimwärtsgeführt ... Unter dem +Torweg kaufte sie sich die Morgenzeitungen, außer dem Tageblatt, das +sie daheim zum Frühstück schon verschlungen, und las die Kritiken ... +eitel Hosianna über den ganzen Abend, und sie natürlich der Mittelpunkt +... und hier ein Bericht über ihre Heimkehr, feuilletonistisch +zurechtgestutzt -- brav so, brav, na ja, so was macht eine bildschöne +Reklame, das darf öfter passieren! + +Erst während sie die Anlagen am Roßplatz kreuzte, den Königsplatz +überschritt, kam ihr wieder in den Sinn, weshalb sie sich eigentlich +heut morgen zum Theater aufgemacht hatte, wo sie doch auf Rechnung +der gestrigen Strapaze von der Probe dispensiert war. Nein, dieser +gute Pilgram -- so ein Starrschädel! Eigentlich rührend ... und doch +ein bißchen zum Lachen, daß er sich ihretwegen ... des lumpigen Billetts +wegen, das doch wahrhaftig nicht das erste gewesen war und auch nicht +das letzte sein würde ... daß er sich deswegen mit Tod und Teufel +schlagen wollte -- sich sein Leben verpfuschen reineweg! Also solche +Männer gab es doch auch ... eigentlich eine Wohltat, wenn man so +inmitten dieses marklosen, irrlichtelierenden, an großen Worten sich +betrinkenden und vor jeder Tat mit eingekniffenem Schwanz abseits +schleichenden Künstlervolks lebte ... Franz Burg war ja eine Ausnahme +... aber ob er sich ihretwegen auch nur einem Schnupfen ausgesetzt +hätte statt einer Degenklinge -- das bezweifelte Jucunda denn doch +eigentlich ... + +Da war das Carolatheater ... Jucunda schritt durch den Eingang, +überquerte das schmale Höfchen, den Kassenflur, in dem sich bereits +wieder das Publikum um die Abendplätze prügelte -- Gott, wie wird Hoheit +sich über die Kassenrapporte freuen! -- schlüpfte durch die knarrende +Eisentür in den Bühnenumgang und horchte am Pförtchen, das zur Bühne +führte. Burg arrangierte eben das »Lager« ... + +»Kinder,« hörte sie seine Stimme, »faßt Eure Kriegsknechte man recht +feste um 'n Hals -- Ihr seid jetzt keine höheren Töchter mehr, Ihr seid +Lagerdirnen des Friedländers, die hatten etwas weniger etepetetige +Umgangsformen als die Leipzigerinnen von 1888! Und wenn's aus Versehen +mal 'nen handfesten Kuß absetzt -- na, für die Kunst muß man eben Opfer +bringen können!« + +Ja -- das konnte natürlich bis zur Erschlaffung so weitergehen ... und +dabei war doch Eile not ... Es half nichts, sie mußte unterbrechen ... +obschon sie wußte, daß er das auf den Tod nicht leiden konnte ... Sie +trat in den halbdunklen Bühnenraum, den nur die offenen Gasflammen der +Proberampe matt erhellten. Da stand Franz Burg neben dem Regietisch, +umringt von der andächtig lauschenden Schar des »Volkes«. + +»Suchen Sie mich, Buchner?« + +»Wenn Sie einen Moment Zeit für mich hätten, Meister ... es ist dringend +...« + +Jucunda störte nicht ohne Grund -- dafür kannte er sie. Aber allzu +gnädig klang es nicht, wie er drinnen im Konversationszimmer ein kurzes +»Also los!« hervorstieß. + +Und Jucunda berichtete. Ausführlich entschuldigte sie sich, daß sie sich +nicht zuerst an ihn gewandt ... ließ deutlich durchblicken, daß ihr die +ganze Geschichte nur so über den Kopf gekommen ... + +Ein sardonisches Schmunzeln zog über's ausgearbeitete Gesicht des +Oberregisseurs, in seinen dunklen, tiefliegenden Augen tanzten tausend +Teufelchen. + +»Un wat sall ick dorbi dauhn?« + +»Helfen sollen Sie, lieber Freund! Das darf doch nicht geschehen!« + +»Ganz im Gegenteil, Kindchen -- einer von den dreien muß auf der Strecke +bleiben -- noch besser alle! Die Schädel sollen sie sich spalten -- +einander auffressen wie die beiden Löwen in dem berühmten Liede: + + Zwei Löwen gingen einst selband + In einem Wald spazoren, + Und haben da, von Wut entbrannt, + Einander aufgezohren!« + +»Das -- kann Ihr Ernst nicht sein!« + +»Aber blutiger! Was liegt an einem Rechtskandidaten, einem Erbprinzen, +einem Stabsoffizier! Hin müssen sie allesamt werden, damit Jucunda +Buchner im Triumph über ihren Leichnamen zum Tempel des Ruhms +emporwandelt!« + +»Ach -- mir ist wirklich nicht nach Späßen zumut!« + +»Denken Sie, mir?! Merken Sie nicht, Kindchen: alles, was nicht zum Bau +gehört, ist Publikum, das heißt, einzig und allein dazu da, uns zu +bewundern, zu feiern, zu erhöhen ... Gestern abend haben sie Ihnen die +Pferde ausgespannt und Sie im Wagen nach Hause gezogen: geben Sie mal +acht, wenn Ihr Student und Ihr Erbprinz sich Ihretwegen gegenseitig +aufgespießt haben -- was die Leute dann erst mit Ihnen aufstecken! Auf +Händen werden Sie dann nach Hause getragen!« + +»Und ... was wird Hoheit zu der Geschichte sagen?« + +»Hm ... Hoheit ...« Burg sann einen Augenblick nach. Allerdings, das war +zu erwägen ... An Hoheit durfte so eine kindische Affäre natürlich nicht +herankommen ... + +Aber ... würde es denn überhaupt eine Affäre werden? Franz Burg kannte +die Welt und wußte, daß in ihr nichts so heiß gegessen wird, wie +jugendlicher Ueberschwang es kochen möchte ... + +»Na ... so weit sind wir ja noch lange nicht!« lachte er. »Vorläufig +wollen wir mal ruhig zusehen, wie das Rummelchen sich historisch +entwickelt ... Is ja ganz nett, auch mal Zuschauer spielen zu dürfen! +So, und nun muß ich wieder Affen dressieren -- komm her, Langbeinchen, +gib mir 'n Kuß!« + + +Als Jucunda auf der Straße stand, sah sie ihre Kollegin Thöny drüben in +einem Fenster des ersten Stockes liegen. Sie winkte ihr zu. + +»Was haben Sie denn da drinnen gemacht, Buchner? Kommen Sie 'nauf, wir +schwatzen ein bissel!« + +Die beiden Rivalinnen kamen rasch ins Gespräch. Plötzlich fiel's Jucunda +ein, daß ihre Mutter daheim mit dem Mittagessen wartete: Na, dem ließ +sich abhelfen -- es war nicht alle Tage so nett -- nicht alle Tage +vertrug man sich so gut mit seinen Kolleginnen -- das mußte man +auskosten. Sie pfiff sich einen barfüßigen Jungen von der Straße herauf +und schickte ihn mit einem Markstück und einem Stadttelegramm zum +nächsten Postamt. + + »Muß probieren, nicht zum Essen erwarten. Jucunda.« + +Die Mädchen teilten das frugale Mittagsmahl, das Mutter Ach ihrer +Pensionärin gekocht hatte, und schwatzten, küßten sich, schworen sich +ewige Freundschaft ... und Asta Thöny hatte ganz vergessen, daß sie noch +heut nacht so heiß geweint hatte, weil man Jucunda Buchner die Pferde +ausgespannt hatte und ihr nicht ... + +Und Jucunda Buchner dachte nicht mit einem Sterbensgedanken mehr daran, +daß um ihretwillen ein junger, wackerer Gesell im Begriff war, seine +Zukunft und sein Leben auf ein tolles Spiel zu setzen ... + + +Erbprinz Heribert und sein Mentor waren beim Dessert ... Zwei junge +Leutnants vom hundertsiebenten Regiment, Söhne verarmter +Nassau-Dillingenscher Adelsfamilien, deren alte Herren nur +Infanteriezulage erschwingen konnten, waren zu Tische geladen. Man trank +Pommery und beklatschte Hofskandäler der benachbarten Fürstenhöfe -- da +wurde in dringlicher, persönlicher Angelegenheit Herr Studiosus Borgmann +Neo-Borussiae gemeldet. + +»Hm ... dringliche, persönliche Angelegenheit? Also bitte ins +Empfangszimmer ... Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, meine +Herren ...« + +Sporenklirrend ging der Prinz -- den militärischen Gästen zu Ehren war +er heut in der Uniform seiner Sophiendragoner -- in den Salon hinüber, +dessen konventionelle Hoteleleganz durch ein paar erlesene Stücke aus +dem erbprinzlichen Schloß Beauregard eine Art persönliche Note empfangen +hatte. + +Herr Borgmann verneigte sich tief. Unter seiner schwarzen Kompresse +waren Stirn und Nase erblaßt vor feierlicher Erregung. + +»Durchlaucht ... ich bedaure unendlich ... furchtbar peinliche Mission +...« + +»Darf ich bitten, Platz zu nehmen?« + +Stotternd entledigte sich Herr Borgmann seines Auftrages. + +»Hören Sie mal, mein Verehrtester -- das ist ein Witz ... aber ein +fader!« sagte der Erbprinz. »Einen Augenblick ... ich werde Herrn von +Gorczynski rufen lassen, der ist ebenfalls beteiligt ...« + +Er klingelte und befahl, den Major zu bitten. + +»Nehmen Sie mir die Frage nicht übel, Herr Borgmann -- ist bei Ihrem +Herrn Auftraggeber vielleicht eine Schraube los?« + +»Ich bedaure, als Kartellträger eine Kritik an dem Inhalt meines +Auftrages ... weder selbst ausüben noch ... entgegennehmen zu dürfen +...« + +»Sehr korrekt!« lobte der Erbprinz. »Sie haben ganz recht -- verzeihen +Sie. Aber ich bin einstweilen dermaßen baff ... So was hab' ich denn +doch nicht für möglich gehalten.« + +Und zu dem eintretenden Major mit einem boshaften Schmunzeln: + +»Nun sagen Sie mal, mein Verehrtester -- was haben Sie uns da denn +eigentlich eingebrockt? Wir werden gefordert! Wir sollen uns prügeln -- +weil wir den perversen Wunsch geäußert haben, mit der Jungfrau von +Orleans zu soupieren!« + +Der Major begriff nicht -- mußte erst völlig aufgeklärt werden -- und +dann platzte er hell heraus ... Der Prinz stimmte ein, auch Borgmann +glaubte aus schuldiger Höflichkeit mitlachen zu müssen ... + +»In der Tat, die Sache ist zum Wälzen,« sagte der Prinz -- »aber Teufel +auch, wie bringen wir diesen rabiaten Burschen, den guten Pilgram, zur +Ruhe? Wie die ganze verfahrene Karre wieder ins Gleis? Ich danke für +einen Skandal ... die Sache muß unbedingt in aller Stille arrangiert +werden.« + +»Durchlaucht,« sagte der Major, »ich bin natürlich schuld. Ich habe +unsre ... hm, hm ... unsre vollkommen harmlose Soupereinladung scheinbar +doch ein bißchen zu herausfordernd stilisiert ... ich übernehme +selbstverständlich jede Verantwortung. Zunächst werde ich zu Fräulein +Buchner hinfahren, mich als den Schreiber des ... verhängnisvollen +Zettels bekennen ... und für mich, als den allein schuldigen Teil -- die +Verzeihung dieser ... nun der jungen Dame erbitten. Damit dürfte dann +wohl die Angelegenheit vollkommen erledigt sein -- nicht wahr, Herr +Borgmann?« + +»Hm ... ich will's hoffen,« meinte Herr Borgmann etwas kleinlaut. »Wenn +ich den Fall richtig taxiere, ist mein Herr Auftraggeber in ... na, in +gewissen ... heiligen ... Gefühlen gekränkt ... die bei etwas +temperamentvollen jungen Leuten leicht eine ... etwas explosive Form +annehmen ...« + +»Ach so -- Koller nennt man das ja wohl,« näselte der Erbprinz. »Ja ... +aber wenn ein solcher -- hm ... pathologischer Zustand gemeingefährlich +wird, dann muß eben eine Radikalkur versucht werden. Aeh -- die Sache +ödet mich ... Ich wünsche, lieber Herr von Gorczynski, daß Sie die +Angelegenheit völlig ins Reine bringen, verstehen Sie mich?« + +»Gewiß, gewiß, Durchlaucht, ich werde es an nichts fehlen lassen ...« +hastete der Major beflissen. + +»Und Sie, Herr Borgmann? Ich rechne auf Ihre Mitwirkung zu einer absolut +geräuschlosen Beilegung!« + +»Durchlaucht wollen versichert sein, daß ich mein möglichstes tun +werde!« + +Mit kurzer Verneigung schritt der Prinz an den beiden Herren vorüber und +überließ sie ihrer Ratlosigkeit. Auf dem Wege zum Speisesalon brach er +in ein schallendes Gelächter aus. + +So eine gerissene Katze -- bringt's fertig, einen Prinzen, einen +Prinzenbegleiter und einen langen Laban von Schlagetot vor ihren +Reklamewagen zu spannen ... und sowas ist achtzehn Jahre alt und spielt +weißgewaschene Tugendengel dermaßen überzeugend, daß einem ganz +kniefällig dabei zumute wird ... Na, warte Du, Dich zähm' ich mir noch +mal, Du süße, weiße Bestie Du -- das lohnt doch noch der Mühe! + +»Sie, lieber Aldringen, geben Sie mal 'n Glas Pommery -- aber etwas +lebhaft, bitte!« + + + + + 7. + + +Major von Gorczynski hatte beschlossen, den Stier bei den Hörnern zu +packen. So etwas Blödsinniges war ihm in seinem ganzen Leben noch nicht +passiert! Eine Soupereinladung an eine Bühnenprinzessin, die mit einer +Säbelforderung seitens eines Korpsstudenten beantwortet wird! Und noch +dazu eines Korpsstudenten, von dem man mit positiver Bestimmtheit weiß, +daß er allem, was Theater und Theaterweiber heißt, weltenfern steht! Das +war zu abgeschmackt ... Was konnte nur vorgegangen sein, das diese +ausgefallene Konstellation ermöglicht hatte! Das mußte man +herausbekommen ... Und das Einfachste war, man ging gleich vor die +rechte Schmiede ... Mit dem Mädel war jedenfalls noch am ehesten fertig +zu werden ... Absolut geräuschlose Erledigung hatten Durchlaucht +verlangt? Herr von Gorczynski kannte sich jedenfalls mit Mädeln noch +besser aus als mit dieser rauf- und trinkfesten Männerjugend in Band und +Mütze, deren Begriffe und Sitten so was mittelalterlich +Unkontrollierbares an sich hatten ... Also auf zu Jucunda! + +Frau Kanzleirätin Buchner öffnete selbst die Tür und war nicht wenig +entsetzt, als ein nicht mehr ganz junger, höchst eleganter und -- +hm! -- pikfein parfümierter Herr in Gehrock, Zylinder, hechtgrauen +Glacés an der Entreetür stand und Fräulein Jucunda Buchner zu sprechen +wünschte ... + +»Fräul'n Buchner is aus -- tut m'r unendl'ch leid ... Aber wenn ich was +kennte bestell'n -- ich bin die Mutter.« + +Herr von Gorczynski musterte die stattliche, rundliche Frau mit +Kennerblick. Es war nachmittags um vier, aber die ... Dame war noch +immer in Morgentoilette ... geblümter Schlafrock und Schleifenhäubchen +... Also aus so einem ... Milieu entstammte das Dämchen, für das der +Sohn eines hohen sächsischen Justizbeamten Korpsband und Karriere in den +Wind schlug ... Hm ... Das vereinfachte die Situation allerdings +außerordentlich. Herr von Gorczynski war auf eine feingebildete Familie +gefaßt gewesen ... Vielleicht Justiz, Universität, ein Predigerhaus ... +Und nun ... Na, wenn man mit so etwas nicht geräuschlos fertig werden +sollte ... + +»So ... Sie sind die Mutter ... Na da ist es vielleicht am besten, ich +unterhalte mich erst mal ein wenig mit Ihnen ... Major von Gorczynski +ist mein Name.« + +Frau Doris fühlte, wie ihr das Herz in die flanellenen Unterhosen +rutschte. »Ja, aber ... Sie sehen, Herr Major ... Ich bin Sie ja doch +gar nich angezogen ...« + +»Bitte, das macht nichts ... Was ich Ihnen zu eröffnen habe, das können +Sie auch unangezogen hören. Also wenn ich bitten darf -- oder wünschen +Sie meine Erklärungen auf dem Hausflur entgegenzunehmen?« + +»Ach nee ... Aber gewiß nicht, Herr Major ... Bitte treten Sie ein ... +in die gute Stube ...« + +Herr von Gorczynski überflog mit demonstrativer Geringschätzung die +verschlissene Herrlichkeit des Buchnerschen Salons. Dann setzte er sich +mit einer gewissen Vorsicht, als fürchte er, der Samtfauteuil könne +unter ihm zusammenbrechen, in den grünen Plüsch und sah die vor Erregung +fiebernde Frau mit durchdringendem Blick an. + +»Sie werden sich wohl ungefähr vorstellen können, weswegen ich komme, +Frau -- Buchner!« begann er scharf. »Nicht wahr?« + +Frau Doris' Kinnbacken schlotterten. Da hatte man die Bescherung! +Und ihr Rat war fern ... Und das Kind ... Und sie mußte den ersten +Ansturm des Schicksals ganz allein aushalten, von Gott und aller Welt +verlassen ... + +»Nu ja, nu nee ... denken ... kann ich mersch am Ende ...« + +»Na also: Um's kurz zu machen: Ihr Fräulein Tochter hat eine Einladung, +wie sie in der ganzen Welt Abend für Abend an tausend und abertausend +Kolleginnen Ihrer Tochter ergeht -- die hat sie damit beantwortet, daß +sie mir und ... meinem jungen Freunde, in dessen Namen ich mit +unterzeichnet hatte, eine Forderung auf schwere Waffen hat überbringen +lassen. Darf ich mich zunächst erkundigen, in welchen Beziehungen der +... junge Herr, der sich zum Beschützer Ihrer Familienehre aufgeworfen +hat, zu Ihrer Tochter steht?« + +»Aber ich bitt' Ihn', Herr Major -- in gar keener Beziehung. Er wohnt +hier im Haus ... zur Miete ... un da is er ... ganz zufäll'g is er dazu +gekommen, wie meine Tochter een Weinkrampf hat gekriegt, als das Bukett +ist angekommen ... un der Brief ... un ... un das Geld ...« + +Hm ... das Geld ... und ... ein Weinkrampf ... verdammt peinliche +Vorstellung ... aber was war zu machen ... man mußte oben bleiben. + +»So ... also in gar keinen Beziehungen ... verehrteste Dame, Sie haben +keinen dummen Jungen vor sich, dem Sie Lederstrumpfgeschichten +aufbinden können. Ich will also mal annehmen, der junge Herr ist der ... +Bräutigam Ihrer Tochter ...« + +»Ne, ne, wahrhaft'gen Gott nich -- aber gar keene Ahnung ... e junger +Student, ne, ne, wie kenn' Se nur so was denken ... So was hat meine +Jucunda wahrhaft'gen Gott nich neetig!« + +»Hm ... also nicht ... Na dann wollen wir's dahingestellt sein lassen, +welcher Art das ... Verhältnis zwischen den beiden jungen Leuten ist +...« + +Jetzt hatte Frau Doris sich denn doch gefunden. Die Ehre ihres Hauses, +ihres Mädchens --? Ne, ne, damit durfte man denn doch nicht spaßen ... + +»Heer'n Se, Herr Major,« rief sie zitternd, doch mit Entschiedenheit, +»das muß ich mir denn doch ganz ergäbenst verbitt'n! Meine Tochter hat +kein ... kein Verhältnis nich!« + +»In dem Sinne, in dem Sie das Wort verstanden zu haben scheinen, habe +ich es durchaus nicht gebraucht ... und verbitte mir meinerseits eine +derartige Auslegung meiner Worte! Nun aber zu Ihrem Fräulein Tochter! +Hat sie -- und haben Sie als Mutter -- oder wenn Ihr Mann noch unter den +Lebenden ist --« + +»Allerdings -- mein Mann ist der Kanzleirat Buchner -- ein königlicher +Beamter ...« warf Frau Doris ein, »Ritter des Albrechtkreuzes zweiter +Klasse ...« Sie richtete sich ordentlich auf an all diesen ehrenvollen +Tatsachen. + +»Na also! Haben Sie alle zusammen sich denn eigentlich nicht klar +gemacht, was ein so ... rabiates Vorgehen denn eigentlich für Ihre +Tochter ... vielleicht auch für Ihren Mann ... bedeutet? Ich nehme an, +daß Sie bereits in Erfahrung gebracht haben, wer wir eigentlich sind -- +wer sich hinter dem Namen von Dillingen versteckt -- hä? Wissen Sie das, +Frau Kanzleirat Buchner?« + +»Ja, ja, ich weeß -- ich weeß,« stammelte die geängstigte Frau und fuhr +mit dem Rücken der fleischigen Hand über die feucht gewordene Stirn. + +»Na also! Bilden Sie sich denn im Ernste ein, ein solcher Herr werde +sich wegen ... wegen einer Lappalie von einem x-beliebigen jungen +Menschen zur Rechenschaft ziehen lassen? Nee, verehrte Dame, die Sache +kommt anders: Es möchte Ihrer Tochter vielleicht doch peinlich sein, +wenn an ... eine gewisse Stelle ein Bericht über das ... eigentümliche +Interesse erginge, dessen Ihre Tochter sich in -- hm! Studentenkreisen +erfreut! Und wenn Ihre Tochter sich überlegt, daß ihr Kontrakt doch +am Ende noch nicht lebenslänglich und unkündbar ist, und daß es sich +wenig empfiehlt, sich die Gunst eines jungen Fürsten zu verscherzen, +der einmal der Brotherr eines der größeren deutschen Hoftheater sein +wird ... dann wird ihr am Ende klar werden, daß es ein bißchen übereilt +von ihr war, eine kleine Unbedachtsamkeit -- ich gebe ja zu, daß es +eine Unbedachtsamkeit war, Ihre Tochter ohne weiteres in eine Linie mit +der Mehrzahl ihrer Kolleginnen zu setzen ... Aber deshalb gleich nach +Blut -- nach Fürstenblut zu lechzen -- das scheint mir doch einigermaßen +kindisch!« + +Völlig zerschmettert hatte Frau Buchner die Suada ihres vornehmen +Besuchers über sich ergehen lassen. Vor ihrem Auge tanzten hundert +gräßliche Bilder ... Der gnädigste Herr in Meiningen hatte Jucunda seine +Gunst entzogen -- ihr Vertrag war gekündigt ... Vergebens klopfte sie an +die Pforten aller deutschen Bühnen ... Als »schwieriges Mitglied« wurde +sie überall abgelehnt ... Das Elend lauerte, der Hunger ... + +»Ne ... ne ... das is ja äne schreckliche Geschichte ...« stammelte sie. + +»Nun, Sie scheinen ja Vernunft annehmen zu wollen. Ich empfehle Ihnen +also, unverzüglich mit Ihrer Tochter Rücksprache zu nehmen: Sie soll +ihren ... ihren jugendlichen Beschützer veranlassen, seine höchst +törichte und kindische Herausforderung zurückzuziehen ... Damit dürfte +die Angelegenheit eine für alle Beteiligten befriedigende Erledigung +finden. Sind Sie dazu bereit?« + +»Aber mit dem greeßten Vergniegen -- 's wird sich doch am Ende noch +alles lassen ins reine bringen!« ächzte aufatmend die geängstigte Frau. + +»Na also --« der Major erhob sich -- »ich rechne darauf, daß Sie Ihren +mütterlichen Einfluß in diesem Sinne geltend machen. Meine Empfehlung +an Ihr Fräulein Tochter ... und ... böse ... braucht sie uns nicht zu +sein ... Die ganze Sache war vollkommen harmlos gemeint ... also ... +adieu, Frau Kanzleirätin!« + +Frau Buchner knixte ein übers andre Mal, während sie den Gast zur +Entreetür geleitete. + +Auf der Schwelle wandte der Major sich noch einmal um. + +»Apropos -- soweit ich unterrichtet bin, hat man bei Ihnen besonders +daran Anstoß genommen, daß meinem Briefchen ein ... ein kleines Geschenk +... in barem Gelde ... beigelegt war. Vermutlich haben Sie diese ... +diese kleine Aufmerksamkeit ... in Verwahrung genommen?« + +»Allerdings ... das hab' ich ... in meine Wirtschaftskasse hab' ich die +Scheine eingeschlossen ... Jucunda wollte sie zur Post bringen, aber ... +sie wollte sich erscht noch nach Ihrer ... genaueren ... Adresse +erkundigen ... Na un von dem Wege, da is se noch nich zurück ...« + +»Na, dann kann ich ihr ja den Gang ersparen ... Wenn Sie's mir gleich +aushändigen wollten ... und vielleicht --« ganz harmlos, nachlässig +wurde das hingelegt -- »vielleicht händigen Sie mir auch gleich das +Briefchen mit aus, das die Gemüter so sehr erregt hat -- und damit wäre +ja dann alles in schönster Ordnung ...« + +»Gewiß, gewiß, Herr Major -- das hab' ich ooch ... alles kenn' Se +kriegen -- ich bin ja froh, wenn ich's aus 'm Hause hab ...« + + +Teufel auch ... das war mehr, als ich gehofft habe! schmunzelte der +Major, als er mit seinem Raube die halbdunkle Stiege hinunterknarrte. + +Unten im Hausflur zog er den Brief hervor, entzündete ein Streichholz +und ließ das _corpus delicti_ in Flammen auflodern. Die beiden Scheine +aber, die er beim Empfang nur nachlässig in die Westentasche geschoben, +barg er nun sorgfältig in seinem Portefeuille. Es waren immerhin +zweihundert bare Mark ... + +Und dann ging er zu Aeckerlein hinüber und bestellte eine Flasche +Heidsieck. + + + + + 8. + + +Als Hans Thumser inmitten seiner Korpsbrüder das Theaterrestaurant +verließ und über den sonnenflimmernden Augustusplatz, die mittäglich +durchhastete Grimmaische Straße nach dem Baarmannschen Lokal am Markt +hinüberspazierte, wo das Korps speiste -- da wirbelte ihm der Kopf +dermaßen vom Fieber des Erlebens, daß die erregten Gespräche der Freunde +nur wie aus weiter Ferne zu ihm herüberklangen. Und doch disputierte er +selber eifrigst mit ... Es war ja kein Ende zu finden des Ueberlegens +und Projektierens -- wie alles kommen würde -- ob man sich nicht +übereilt, ob Pilgram, ob das Korps richtig gehandelt, ob sich nicht eine +minder schroffe Lösung des Konflikts hätte finden lassen ... Wie der +Erbprinz sich stellen würde ... und schließlich doch auch der Hof in +Nassau-Dillingen ... was der für Weisungen erteilen würde ... und was +all der welterschütternden Schicksalsfragen mehr noch waren. + +Und dabei immer der heimlich bohrende, süß erregende, wonnesam +beklemmende Hintergedanke an ... heut nachmittag ... + +Und so in Wirrnis und Ahnung verrannen die Stunden ... Jetzt ward alles +andre verdrängt durch das Mitgefühl mit Valentin Pilgrams Schicksal, des +Korpsbruders, der so ganz anders geartet war, mit dessen Wesen das +eigene niemals harmonisch hatte zusammenklingen wollen ... und dessen +starkgemute Jungmännlichkeit dennoch die lebenshungrige Seele fest in +ihren Bann geschlagen hatte -- längst eh dies opferstolze Einsetzen +seines ganzen Daseins für ein fremdes Mädchen, das Kind einer andern +Welt ... eh' diese Tat sein Bild in eine fast heroische Sphäre +emporgehoben ... + +Und dann wieder schwirrten mit scheuem Flügelschlage die Gedanken um das +eigene Hoffen und Bangen ... + +Und seltsam: Astas und Jucundas Bilder, sie rannen zusammen in der Seele +... Wer war's eigentlich, der ihn erwartete heut um fünf? War's nicht +jener Dämon, der in seines Korpsbruders Leben so verhängnismächtig +hineingegriffen? Jucunda! Jucunda! Der Name klang aus allen Gesprächen, +die in der Runde hin und wider flogen ... Daß es überhaupt eine Asta +Thöny gab, das wußte ja nur einer von seinen Freunden, und dieser eine +-- der war fern ... war ausgeschieden aus dem Bunde, dem sein ganzes +Herz gehörte, für dessen Farben er in siebenundzwanzig Waffengängen sein +junges Herzblut vergossen ... ausgeschieden um jener andern willen ... +und selbst dieser eine hatte sie doch nur auf der Bühne gesehen -- ahnte +nicht, daß sie mit Hans Thumser unter einem Dache wohnte ... konnte +nicht ahnen, daß sie heimlich nächtens in ihre Kissen weinen und dann +plötzlich lachen konnte, so girrend, so atemversetzend. + +Nach dem Mittagessen blieb das Korps beim Kaffee noch lange zusammen. +Die Füchse wurden fortgeschickt, und immer und immer wieder in heftigen +Disputen drehten und wendeten die Korpsburschen das Ereignis des Tages. +Hans aber zog von Zeit zu Zeit heimlich die Uhr und zählte, wie eine +Viertelstunde um die andere verrann von jenen, die ihn noch von dem +größten Erlebnis seines jungen Daseins trennten ... Und einmal zog er +heimlich auch sein Portemonnaie und stellte fest, daß er heute, am +einunddreißigsten Oktober, noch fünfundachtzig Pfennige sein eigen +nannte ... + +Teufel auch! Wenn man die Farben eines Korps trägt, kann man unmöglich +ohne ein bescheidenes Blümchen in der Hand bei einer Dame zum Tee +antreten ... Und Hans Thumser pumpte sich von Volkner, der immer Geld +hatte, eine Mark ... + +Und endlich war's dreiviertel fünf ... Und wie ein Träumender strich +Hans Thumser die Petersstraße hinunter, einen Busch rosa Dahlien, in +Seidenpapier gewickelt, in der Hand ... Zu wem ging's? Zu Asta? Zu +Jucunda? Er wußte es nicht ... es ging ... zu =ihr= ... + +Und so war's fast eine Selbstverständlichkeit, daß er sie nun =beide= +fand ... + +Die Stube schwamm von Zigarettenrauch ... Und auf dem Sofa, eng +aneinandergelehnt, zwei Mädchen ... die, die er zu suchen kam -- und die +andere ... + +»Ach Gott ...« lachte Asta in komischem Entsetzen auf, »Herr ... na wie +heißen Sie noch? Herr ...« + +»Thumser,« stotterte Hans und blieb ganz verdonnert an der Tür stehen. + +»Richtig, Herr Thumser -- mein Zimmernachbar -- nicht wahr, Sie sind's +doch? Mein Gott, Sie hatt' ich wahrhaftig total vergessen --« + +»O bitte, dann will ich nicht stören,« sagte Hans und griff zur Tür. + +Ein Kübel Eiswasser, einem glutgedörrten Saharawanderer jählings über +den Nacken gegossen ... + +»Aber nein! Stören! Weglaufen! Gibt's nicht!« Und das weiche Figürchen +in der nicht ganz tadellos frischen Batist-Matinee sprang auf, stand vor +dem schlanken Studenten, eine Hand, zart und warm wie ein +sonnendurchglühtes Rosenblatt, legte sich auf die seine und zog ihn ins +Zimmer. + +»Nicht böse sein! Meine Kollegin ist mich besuchen gekommen, und da +haben wir uns verschwatzt ... Ist's denn schon fünf Uhr? Himmel -- und +wie's hier ausschaut! Frau Wehe! Frau Wehe! Schnell kommen Sie mal her +und räumen S' ab! Gestattest Du, Jucunda? Mein Zimmernachbar, Herr +Studiosus Dummler --« + +»Thumser,« verbesserte Hans etwas pikiert. + +»Pardon -- Thumser -- meine Kollegin Buchner -- die große Buchner, +wissen S'!« + +Jucunda grüßte stumm und königlich. Sie hatte die grüne Mütze, die drei +Farben um die Brust des jungen Mannes wiedererkannt ... + +»Ich weiß ...« sagte Hans. »Ich war gestern abend in der 'Jungfrau' ... +und ich bin auch unter denen gewesen, die --« + +»-- ihr die Pferde ausgespannt haben -- natürlich! Das nächste Mal, Sie +Schlingel, spannen Sie mir die Pferde aus -- verstanden? Sonst ist's aus +mit der guten Nachbarschaft!« + +»Wird gemacht!« sagte Hans, der sich wiederfand. »Inzwischen darf ich +wohl als bescheidene Entschädigung diese Blümchen ...« + +»Ach -- das ist famos! Sehen Sie, Jucunderl, es wachsen heuer doch nicht +alle Blumen bloß für Dich ...« Und sie drückte den Studenten in einen +der verschlissenen, fettigen Damastfauteuils, welche Mutter Achs beste +Bude verherrlichten. + +Einen raschen Blick warf Hans Thumser in der Bude umher. Wild sah's +aus ... auf dem Tisch noch die Reste des bescheidenen Mittagsmahls, +Aepfelschalen und die zerknautschten Mundstücke abgerauchter Zigaretten +trieben sich auf dem fleckigen Tischtuch herum ... und drüben auf dem +Bette aufgestapelte Mullröcke und Spitzenhöschen, auf dem Schreibtisch +ein zusammengerolltes Korsett, dazwischen unsaubere Hefte mit +ausgeschriebenen Rollen und zerflederte Reclambändchen ... + +Asta war diesem Blick gefolgt und sah den Ausdruck von Mißbehagen, der +ununterdrückbar das schmissebedeckte tadellos rasierte Gesicht des +korrekten und gepflegten Jünglings überzog. + +»Bös schaut's aus da drin, gelt? Aber warten S' nur, ich schaff' schon +eine Ordnung! Faß an, Jucunderl, Du bist ja schuld, daß ich so einen +feschen, jungen Herrn in so einer Schlamperei muß empfangen! Und Sie, +Frau Wehe« -- die noch immer hübsche, kugelrunde Wittib stand mit +nachmittagschlafgeröteten Augen in der Tür -- »hinaus mit dem Abfall da! +Und ein' Tee kochen S' uns, und Kuchen will ich seh'n und Schlagsahn' +und was sich sonst gehört! Da haben S' ein Geld!« Und wie ein Irrlicht +fegte das dunkellockige Mädchen in der Stube umher, hob den Bettbezug +aus gewebter, leidlich defekter Spitze, das Ueberbett in die Höhe, +stopfte die herumliegenden intimen Kleidungsstücke drunter und deckte +mit einem Spitzbubenlächeln wieder zu, griff in die Nachttischschublade +und warf ein paar Markstücke auf den Tisch, daß zwei, drei in die Stube +kollerten und Hans Thumser sich bücken mußte, um sie wieder aufzulesen; +griff dazwischen in die Zigarettenschachtel, schob ihren beiden +Besuchern, sich selbst und schließlich auch der verlegen grinsenden +Wittib eine Zigarette zwischen die Lippen: + +»Da, Herr Dummser -- haben S' Feuer?« + +Und da flimmerten auch die feuchten Lippen, die dunklen, flackernden +Augen dicht vor Hansens Gesicht, loderten ihn an, während sie mit ihm +zugleich am nämlichen Zündholz ihre Zigarette anbrannte ... + +Inzwischen saß Jucunda stumm und königlich auf dem Sofa, ohne eine Hand +zu rühren, und ließ ihre runden blauen Augen von einem zum andern +leuchten. Und auch Hans Thumsers Blicke gingen hin und her, von dem +Schalk zu der jungen Königin, von der jungen Königin zu dem rastlosen +Schelm ... + +Und endlich gab's Ruhe und so etwas wie Ordnung, und mit einem tiefen +Aufseufzen warf Asta Thöny sich in das Sofa, kuschelte sich an Jucundas +kräftige Schulter ... und nun sahen zwei Augenpaare, das blaue, das +schwarze, den braunäugigen Studenten an ... + +»So, Herr Dummser, nu erzählen S' uns was!« + +Hans Thumser war des Umgangs mit weiblichen Wesen wenig gewohnt. Seine +Schwestern waren um vier und fünf Jahre jünger als er, die zählten, samt +ihrer Freundinnenschar, noch nicht mit, waren Gören, oder wie man daheim +sagte, Blagen ... unfähig, die erhabene Größe eines Studenten, eines +Korpsstudenten, eines Fuchsmajors richtig einzuschätzen. Und das Korps? +Es lebte außerhalb der Leipziger Gesellschaft, war völlig durch Mensur +und Kneipe absorbiert und kam höchstens auf dunklen und verschwiegenen +Pfaden einmal mit verachteten Parias der Weiblichkeit in Berührung ... + +Aber ... er war ein werdender Poet ... und der Zauber der Situation +löste ihm die Zunge, gab ihm Worte, wie sie gesellschaftliche Routine +nicht kennt ... + +»Erzählen soll ich Ihnen ... meine Damen? Ach ... ich hab' nichts +erlebt, was des Erzählens wert wär' in solch einem Augenblick ... +aber ... das darf ich ja wohl sagen, nicht wahr? daß ich sehr glücklich +bin ... Ich denke an gestern abend ... ich habe Sie beide gesehen und +bewundert und beneidet um das Glück Ihres Berufs ... den Menschen das +Schöne zu offenbaren ... und nun sitz' ich hier ... Ihnen gegenüber ... +seien Sie mir nicht böse, wenn das mir zu Kopf steigt und ... mich dumm +und stumm macht ... Sie nennen mich noch immer Dummser, gnädiges +Fräulein ... und das stimmt, ich bin auch ein dummer Bub, das fühl' ich, +jetzt, wo ich mit Ihnen zusammensitzen darf ... Nein, ich kann Ihnen +nichts erzählen ... ersparen Sie es mir, mich mit Konversationmachen +abzuquälen ... erlauben Sie mir nur ... da zu sein ... und Sie +anzuschauen ... und zu fühlen, ja bis ins Tiefste zu fühlen, wie schön +das ist ... was für ein Glück das ist!« + +»Aber warum machen Sie sich selber so schlecht?« sagte Jucunda und sah +ihn groß an -- »Sie sprechen gar nicht übel ... im Gegenteil -- ich +meine, ich hätte noch niemals einen Menschen so sprechen gehört ...« + +»Du --?« sagte Asta, »daß Du mir dem Jungen nicht zuviel Komplimente +machst! Das ist =meiner=, verstehst Du mich? Aber Du mußt immer alles +für Dich haben ... die Blumen -- die Kränze -- die ausgespannten Pferde +-- die Verehrer, alles muß sie allein haben! Und so was redet von +Freundschaft und Kollegialität! Schämen sollten S' Ihnen, mein +Fräulein!« + +Hans wurde glühendrot. »Ach, meine Damen, machen Sie sich nur immer über +mich lustig ... ich weiß ganz genau, wie wenig ich Ihnen sein kann. Nur +das eine muß ich Ihnen sagen: Sie ahnen gar nicht, was dieser Tag für +mich bedeutet ... Sie können sich wohl nicht vorstellen, wie barbarisch +und rauh dies Leben ist, das wir jungen Dächse so führen auf deutschen +Hochschulen ... Und seit gestern ist's auf einmal bunt und licht und ... +groß und ... schön um mich her ... seit ich Sie beide kenne ...« + +»Gott, wie süß er ist -- gelt, Jucunda?« sagte Asta und streichelte dem +Studenten mit einer raschen, zärtlichen Bewegung ganz leise und flüchtig +die glühende, narbenzerrissene Wange. »Nur mehr so Schönes, nur mehr! So +was kann man gar nicht genug hören!« + +»Ach -- Sie scherzen wieder, Gnädigste --« sagte Hans. »Sie sind weit +schönere Worte gewohnt ... Sie verkehren am Hof -- inmitten von Geist +und Grazie ... die Dichter, deren Werke Sie verkörpern, huldigen Ihnen +...« + +»Der hat Ahnung, gelt?« lachte Asta halb verschmitzt halb schmerzlich zu +ihrer Kollegin hinauf, in deren Arm sie sich drückte. + +»Nein, Herr Thumser,« sprach Jucunda langsam, »Sie haben doch wohl eine +etwas -- na sagen wir mal zu ideale Vorstellung von unserm Leben ... +Glauben Sie mir nur, es gibt nicht viel Männer, die so zu reden wissen, +daß es einem wohltut ...« + +»Gewiß, ich glaub's -- so verwöhnt, so anspruchsvoll wie Sie sein müssen +... denn so jung wie Sie sind, Sie sind berühmt, alles liegt Ihnen zu +Füßen, Sie kommen wie das Schicksal ... wehe dem, der Ihnen verfällt +...« + +Ein Schatten war bei diesen Worten über die enthusiastischen Züge +geflogen, die flammenden Augen hatten sich verdunkelt. + +Jucundas Stirn hatte sich langsam zusammengezogen. + +»Wie das Schicksal?« fragte sie, »wie meinen Sie das?« + +»O ... ich dachte an ... eine gewisse Geschichte ... eine sonderbare, +aufregende Geschichte ... von der Sie doch wohl auch wissen müssen ...« + +»Sie ... meinen ... die Sache ... mit Herrn Pilgram? Von der wissen Sie +also auch schon?« + +»Ich weiß ... selbstverständlich weiß ich ... wir sind ja doch +Korpsbrüder ...« + +»Eine ... Sache?« fragte Asta ganz erstaunt. »Was hat's gegeben? Hast +mir ja doch gar nichts davon erzählt, daß es was gegeben hat? Heraus mit +der Geschichte!« + +»Ich möchte ... eigentlich überhaupt nicht davon sprechen ...« meinte +Jucunda. + +»Und ich ... ich halte mich ebenfalls nicht für berechtigt ...« setzte +Hans befangen hinzu. + +»Schöne Sachen sind mir das!« zürnte Asta. »Ich bring' Euch zwei +zusammen, und schon habt Ihr Geheimnisse miteinander, und ich werd' +ausgesperrt und hab 's Zuschau'n! Na wartet -- jetzt kommt der Tee mit +dem Kuchen, hernach setz' ich Euch vor die Tür und ess' alles alleinig!« + +Jucunda hatte einen Moment sinnend den Rauchwölkchen ihrer Zigarette +nachgestarrt. Es war dämmrig im Zimmer geworden. Frau Wehe kam mit dem +Tee, dem Gebäck, zündete die Petroleum-Hängelampe über dem Tische an, +und hell gleißten nun die drei jungen Gesichter auf dem Hintergrunde der +abgenutzten Stube, die rasch in völliges Dunkel versank. + +Als die Wirtin gegangen, sagte Jucunda langsam: »Ich verstehe, daß Sie +sich über die ... Angelegenheit ... die bewußte ... nicht gern +aussprechen. Aber Sie werden begreifen: ich bin ziemlich gespannt. Sie +wissen schon drum ... also die Sache kommt doch, scheint's, wirklich an +die große Glocke. Ich bin ja schließlich doch ein bißchen beteiligt ... +Wollen Sie mir nicht sagen, was inzwischen eigentlich passiert ist?« + +»Hm ... wenn unsre ... gütige Gastgeberin gestattet, daß wir uns in +ihrer Gegenwart über ... eine Sache unterhalten, die sie nicht ... in +die wir sie nicht einweihen dürfen?« »Na macht schon, macht schon ...« +maulte Asta, »Ihr brennt ja darauf, Eure Geheimnisse auszutauschen ... +ich ess' Kuchen.« Und wütend bissen ihre blinkenden Zähne in einen +braunlächelnden Mohrenkopf. + +»Also kurz ... Er ... ist aus dem Korps ausgetreten ... und hat die ... +die bewußten beiden Herren auf Säbel ohne ohne gefordert ... Genügt +Ihnen diese Andeutung?« fragte Hans. + +»Hm ... und mehr ... wissen Sie also noch nicht?« + +»Noch nicht.« + +»Immerhin ... also der Skandal ist fertig. Schöne Bescherung ...« + +»Hol Euch der Satan, Kinder, Ihr macht eins aber wirklich neugierig wie +eine Ziege!« sagte Asta und ließ die kuchenstopfenden Finger sinken. +»Säbelforderung -- Skandal ... und dabei habt Ihr Euch vor einer halben +Stunde erst kennen gelernt vor meinen sehenden Augen ...« + +»Gott, warum soll man's ihr schließlich nicht erzählen?« meinte Jucunda. +»Morgen weiß es ganz Leipzig ...« + +»Hast einmal wieder was, womit Du Dich kannst int'ressant machen, +Jucunderl? Gott, das Mädel hat einen Dusel! Daß es um Dich geht, soviel +hab' ich schon heraus ... Also es werden zwei sich die Köpf' +entzweischlagen Deinetwegen ... hernach schauen die Leut' unsereins +überhaupt nicht mehr an ... und so ist's in allem! Schon wie's heißt -- +Jucunda! Wie kommt bloß ein Vater auf die Idee, so ein Wurm 'Jucunda' zu +taufen? Als ob er damals schon geahnt hätt', daß das Kind einmal wird +unters Theater gehen! Sag' doch, Mädel -- wo kommst an so einen Namen, +so ein' ausgefall'nen?« + +»Ach -- das ist einfach genug ... da war eine alte Tante, die eine +Beamtenpension zu verzehren hatte und so schöne uralte Möbel und Bilder +gehabt hat aus der Goethezeit ... um die sind alle Verwandte herum +gewesen erbschleichen ... aber meine Eltern haben den Vogel abgeschossen +und mich nach ihr getauft ... das hat sie so erschüttert, daß sie mir +den ganzen Krempel vermacht hat ...« + +»Ach -- und nun hast Du das ganze schöne Zeugs?« + +»I Gott bewahre -- verkauft hat's mein Vater und für mich in einem +Sparkassenbuch angelegt ... und davon sind mein Studium und meine +modernen Kostüme bezahlt worden -- paar Groschen werden wohl auch noch +da sein, denk' ich ...« + +»Ja schaust, was Du für ein Glückskind gewesen bist ...« Astas Augen +irrten in die Ferne, ein ganz fremder Ausdruck von Bitterkeit und Ekel +umschattete das pfirsichweiche Oval. -- »So eine Tante wenn ich gehabt +hätt', meinetwegen hätten s' mich Eulalia mögen taufen! Ich hab' das +alles allein müssen schaffen, so gut oder -- so hundsfött'sch wie's hat +gehen mögen ... Dabei wird man ein armes, gerissenes, mit allen Hunden +gehetztes Wildkatzerl allenfalls ... und wenn man ein bisserl Talent +hat, hernach wurschtelt sich eins am End' auch noch rechtzeitig in die +Höh' ... aber eine Priesterin, vor der die Menschen sich platt auf den +Bauch schmeißen, eine Jungfrau von Orleans wird man nicht auf die Art!« + +Mit herablassender Zärtlichkeit streichelte Jucunda die zierliche +Kollegin. »Ich sollte meinen, Asta, Du könntest noch ganz zufrieden sein +mit Dir -- nicht wahr, Herr ... Gott, dieser lächerliche Name -- schon +wieder hab' ich ihn verschwitzt --« + +»Herr Dummerle!« half Asta ein, und um die schmerzlich verzogenen Lippen +huschte schon wieder der Schalk. + +Hans Thumsers Blicke wanderten rastlos von einer zur andern. Welches +Glück, daß er den goldenen Apfel des Paris nicht zu vergeben hatte! + +Und Valentin Pilgram? Und die Affäre? Schon längst wieder versunken ... +kaum die Oberfläche des Gesprächs hatte sie gekräuselt, die Geschichte +von dem wackren Gesellen, der um dieses achtzehnjährigen Weibes willen +sein Blut, sein Schicksal aufs Spiel gesetzt hatte -- als Dank für ein +paar freundliche Worte, die sie ihm geschenkt ... + +Dieser Gedanke tauchte dann und wann flüchtig auf in Hans Thumsers +Denken -- aber die Gegenwart, die nie erlebte, der beiden jungen, +blutjungen und doch schon aller Machtmittel ihres Geschlechtes kundigen +Geschöpfe verdrängte das Bild des Korpsbruders, das heut morgen in so +lichtem Heroenglanze gestrahlt hatte. + +»Sagen Sie, Herr Thumser, was studieren Sie eigentlich?« fragte Jucunda. + +»Gott, was studier' ich? Die Geheimnisse des S. C. Paukkomments -- die +Kunst, eine Tiefquart unter der steilsten Auslage hindurch in die +Nasenspitze des Gegners zu dirigieren ...« + +»Das glaub' ich nicht ... so sehen Sie nicht aus, als ob das alles wäre, +was Sie treiben ...« + +»Na ... meine kümmerlichen Versuche, mich mit der Juristerei +anzufreunden, werden Sie mir doch wohl kaum am Gesicht ansehen können?« + +»Das nun schon gar nicht! Nein, es steckt noch etwas andres hinter Ihnen +--« + +»Soll ich's verraten?« fiel Asta ein -- »ich weiß es nämlich ...« + +Und mit ihrem Spitzbubenlächeln, das Köpfchen tief auf die weiche +Schulterlinie geneigt, fing sie an zu rezitieren: + + »Ich bin ein junger Korpsstudent, + Die Schuhe Lack, der Rock patent, + Korrekt und schick an mir ist alles -- + Im Portemonnaie nur --« + +»Halt! Gnade!« rief Hans und legte seine Hand beschwörend auf Astas +runden Unterarm -- von dessen Wärme süße Schauer in seine Fingerspitzen, +seine Arme, sein Blut hinüberströmten. + +»Ach -- sieh da -- Verse -- und von Ihnen?« fragte Jucunda. »Also ein +junger Schiller -- oder Goethe? Sieh da!« + +»Ach Gott -- diese elenden Knittelreime -- wenn man nichts Besseres +könnte ...« + +»Oh -- das ist aber nicht hübsch von Ihnen, daß Sie sich meinetwegen so +wenig angestrengt haben --« sagte Asta. »Na, was können Sie denn +Besseres? Heraus damit!« + +»Jawohl, Herr Poet, eine Probe Ihrer Kunst!« + +Hans Thumser ließ sich nicht lange bitten. Er sann einen Augenblick +nach. Dann richtete er sich unwillkürlich etwas auf, ein feierlicher, +strahlender Ausdruck kam in seine Züge; und in tiefinnerer Bewegung +sprach er: + + »Abgründe klaffen rechts und links + Von meinem schwindelschmalen Pfade, + Und hinter mir schleicht stumm die Sphinx -- + Doch über mir geigt Engelsgnade. + Ich aber will nachtwandlerkühn + Den Gratgang bis ans Ende wagen, + Und hell durchsonnt von Morgenglühn + Der Harfe gold'ne Saiten schlagen!« + +»Ah ... bravo ... das ist wirklich ein Gedicht ...« sagte Jucunda. »Sieh +da -- wer hätte das hinter diesem wandelnden Modejournal gesucht ...« + +»Oh ... seh' ich aus wie ein wandelndes Modejournal?« + +»Na, so seht Ihr Korpsstudenten doch alle aus ...« + +»Gott ja -- es braucht ja nicht jeder Poet auszusehen wie die Jünglinge +aus dem Café Größenwahn -- von denen mir ein Berliner Korpsbruder +neulich erzählt hat.« + +»Nein, da haben Sie recht,« sagte Jucunda. »Die Sorte kenn' ich auch -- +aus der Zeit unseres Gastspiels am Viktoriatheater ... ich denke mir, +der junge Goethe ist hier in Leipzig auch so etwa wie ein wandelndes +Modejournal herumgelaufen, während seine Kollegen lange fettige Haare +und schmutzige Hemdkragen trugen ... Sieh da -- also so schaut ein +junger Dichter aus ... alte kenn' ich ja schon diesen oder jenen, aber +das waren alles sehr verschlissene, sehr diplomatische, sehr nüchterne +und ... ernüchternde Herren ... Sie sind nicht nüchtern, Herr Thumser, +Sie laufen wie in einem ewigen Rausch herum -- wenn Sie auch noch so +schneiderelegant aufgemacht sind ...« + +»Ja, das ist wahr!« sagte Hans lebhaft. »Ewiger Rausch! Sie haben recht! +Ich bin immer wie betrunken von ... von all dem Herrlichen um mich her +-- von all dem Neuen und Gewaltigen, das jede Stunde bringt! Ist nicht +die Welt ein einziges, ungeheures Wunder? Und so ein armes Menschenherz +viel zu klein und eng, um das alles zu fassen? Und wenn man's nun so +erleben darf, die Schönheit, die Kunst, die Poesie leibhaftig vor sich +zu sehen ... wie in Ihnen, Jucunda Buchner ...« + +Die braunen Augen hingen an den blauen, die blauen an den braunen -- mit +hochaufgerichteten Leibern saßen die jungen Menschen einander gegenüber, +und Ströme des Lebens rauschten von einem zum andern. + +Jucunda fühlte sich wachsen in dieser naiven Bewunderung eines Menschen, +in dem ihr weiblicher Instinkt die gärenden, schäumenden Kräfte witterte +... und Hans Thumsers gläubiges Märchenherz erblickte in dem weißen, vom +Schöpfer in einer Künstlerlaune so edel ausgeformten Gesicht die +fleischgewordene Schönheit, herabgestiegen vom Himmel, um ihm, dem +Werdenden, die Fülle zu offenbaren ... + +Auf einmal fuhren beide herum: ein Ton, ein erstickter, war in ihre +Versunkenheit gedrungen -- ein Ton, den Hans schon einmal vernommen zu +haben meinte: der Ton eines bittren, unbezwinglichen Weinens ... + +Asta Thöny hatte den Kopf in die Finger gedrückt, die Hände auf die Knie +gepreßt ... ganz in sich zusammengekauert saß sie da, die zierlichen +Schultern zuckten, aus dem Nest der schwarzen Flechten hatten sich ein +paar glänzende Locken gelöst und rollten über den weißen Nacken ... + +»Aber Kind -- was ist Dir nur?« fragte Jucunda und legte den Arm um die +Hüften der Kollegin. + +Aber die schüttelte die Umschlingung ab, sprang auf, eilte zum Fenster +hinüber und lehnte den hochgehobenen Arm, die tiefgesenkte Stirn an die +Scheiben ... + +»Aber ... was ist Ihnen denn nur, gnädiges Fräulein?« stammelte Hans +Thumser. + +»Ach, geht mir doch -- laßt mich doch in Ruh, Ihr zwei! Poussiert doch +miteinander, so viel Ihr Lust habt -- aber nicht in meiner Gegenwart!« + +»Aber Kind!« sagte Jucunda, stand auf, sah Hans an mit einem Blick, der +für die Kollegin um wohlwollende Nachsicht zu bitten schien, wie für ein +törichtes, verzogenes Kind, und trat zu ihr ans Fenster. + +»Ach, gehen Sie doch, Buchner -- lassen Sie mich! Es ist ja immer +dieselbe Geschichte! Alles müssen Sie für sich haben, alles belegen Sie +mit Beschlag -- alles muß zu Ihren Füßen liegen, keiner andern gönnen +Sie was! Den Jungen da, den hab' ich nun entdeckt -- und kaum hab' ich +ihn eingeladen, schon sind Sie da, als wenn Sie's gewittert hätten -- +und gleich geht's los, das alte Spiel -- nur Jucunda Buchner redet, man +sieht nur sie, man hört nur sie, man vergafft sich nur in sie, nichts +existiert auf Gottes weiter Welt, nichts und gar nichts, als einzig und +immer wieder Jucunda Buchner!« + +»Herr Thumser, ich bitte Sie um Ihr unparteiisches Zeugnis!« sagte +Jucunda ruhig, ganz beherrschte Weltdame -- »ist das nun gerecht, wie +diese Dame mich behandelt? Habe ich auch nur den geringsten Versuch +gemacht, Sie -- wie hat sie gesagt? -- mit Beschlag zu belegen? Haben +wir nicht vollkommen harmlos geplaudert alle drei? Und auf einmal aus +heitrem Himmel diese Explosion? Habe ich das verdient, Herr Thumser? +Bitte, sprechen Sie.« + +In tödlichster Verlegenheit hatte Hans Thumser diesen Ausbruch, dieses +Zwiegespräch der Kolleginnen über sich ergehen lassen. Er suchte +vergebens nach der rechten Antwort auf Jucundas Frage. + +»Gnädiges Fräulein ...« stammelte er zuletzt, »verzeihen Sie, wenn ich +auf Ihre Frage nicht antworte. Wir sind beide Fräulein Thönys Gäste ... +Ich bin untröstlich, daß ich Ihr Mißfallen erregt habe, Fräulein Thöny +... ich darf Ihnen zwar versichern, daß es keineswegs meine Absicht war, +Sie irgendwie zu ... wie soll ich sagen? ... zu vernachlässigen ... Wenn +ich dennoch ... es an der schuldigen Rücksicht habe fehlen lassen -- so +bitte ich tausendmal um Entschuldigung ...« + +Asta Thöny antwortete nicht. Sie stand noch immer am Fenster ... der +Schein der Straßenlaternen von drunten umrandete ihre dunkle Silhouette +mit einem silbernen Streif -- den weißen Batist, den zarten Flaum des +Armes, die Flimmerlöckchen des schwarzen Haars. Wie das Kabinettstück +eines der holländischen Kleinmeister sah das aus. + +Jucunda und Hans blickten einander an -- der Jüngling in ratloser +Befangenheit, das Mädchen gelangweilt, mit verdrossenem Achselzucken ... + +In diesem Augenblick erklang draußen eine heftige, erregte Stimme, die +Jucunda auffahren machte: + +»Na, Gott sei Dank und Lob -- endlich also! G'sucht hab' ich das Mädchen +durch die halbe Stadt ... nee so was, nee so was!« + +Die Tür sprang auf, und eine massive Frauengestalt füllte den Rahmen -- +Frau Wehe verschwand fast ganz hinter dem roten, schwitzenden Gesicht, +das von den Samtschleifen, den Seidenbändern eines schwarzen Kapothutes +eingesäumt war -- hinter den mächtigen Schultern unterm perlbesetzten +Samtcape ... + +»Jucunda -- endlich ... Wenn Du wüßtest, was ich hab' müssen aussteh'n +diesen Nachmittag Dir zuliebe ... Daß mich der Schlag nicht hat +gerührt, das is mir ä blaues Wunder ...« + +»Mutter -- Du?« sagte Jucunda langsam und ungnädig. Sie empfand dunkel, +daß diese Erscheinung in schroffem Widerspruch stand zu dem mystischen +Glanz, der, sie wußte es, von ihr ausging, wenn sie wollte, und wenn der +Glückliche, der in diesem Glanze stand, die nötige Naivität besaß. + +»Was ist denn passiert? Darf ich zunächst bekannt machen? Meine Kollegin +Fräulein Asta Thöny -- Herr Studiosus -- na wie war's doch noch? +Dummser, nicht wahr?« + +»Thumser,« sagte Hans. + +»-- meine Mutter, Frau Rat Buchner. Also was steht Dir zu Diensten, +Mama?« + +»Nu nee -- ich weeß nich recht, ich mecht wohl mal e Wertchen mir Dir +alleene sprech'n, Jucunda ... Entschuldigen Se nur, meine Herrschaft'n +-- aber kannste nich e bißchen mit mir uff de Straße 'nunter kommen, +Kind?« + +»O bitte, gnädige Frau, wenn Sie mit Ihrem Fräulein Tochter etwas unter +vier Augen zu besprechen haben« -- fiel Hans Thumser ein -- »meine Stube +ist nebenan, die steht Ihnen mit Vergnügen zur Verfügung -- darf ich +Mutter Ach -- Frau Wehe, wollt' ich sagen, darf ich ihr Auftrag geben, +daß sie Licht macht?« + +Jucunda dankte mit einem Lächeln, kühl und hoheitsvoll, wie nie zuvor, +als gälte es, den etwas befremdlichen Eindruck, den das Erscheinen ihrer +Mutter gemacht, durch doppelt königliches Wesen wettzumachen. Und Hans +und Asta blieben allein zurück. + +Stumm war's im Zimmer, während jenseits der Tür, jenseits der beiden +Kleiderschränke, die sie hüben und drüben verbarrikadierten, ein +erregtes Flüstern anhob. In weißen Schwaden lag der Zigarettenqualm über +dem Tisch, wob um die Hängelampe, ward von Wärmestrudeln in ihren Schirm +hineingesogen und stieg um ihren Zylinder steil wie aus einem Schlot +empor. + +Ein weiches, brüderliches Gefühl zog Hans zu dem Mädchen hin, das noch +immer schweigend am Fenster stand, vom Laternenlicht umsilbert, von +stoßweis zuckendem Schluchzen den schlanken Leib geschüttelt. + +»Fräulein Asta!« sagte er und trat ein paar Schritte auf sie zu; das +Herz schlug ihm bis in den Hals. Nun war es da: er war zum erstenmal in +seinem Leben mit einem Mädchen allein. + +Sie antwortete nicht, nur heftiger flossen ihre Tränen beim Klang der +gedämpften Stimme, die so erregt, so gütig ihren Namen sprach. + +»Fräulein Asta,« sagte Hans noch einmal, »so wahr ich lebe, ich habe +nicht daran gedacht, daß mein Benehmen Sie kränken könnte. Und Sie +müssen mir's glauben, wenn ich Ihnen sage: es war reiner Zufall, daß +ich ... daß ich mich mehrmals hintereinander mit meinem Gespräch +nur an Fräulein Buchner gewendet habe -- ich weiß wohl, daß ich +gesellschaftlich noch nicht sehr gewandt bin ... aber ... Fräulein +Buchner ... Ihnen ... vorziehen ... daran hab' ich ja mit keinem +Sterbensgedanken gedacht ... ich wäre doch auch ein Narr ... Sie ... +Sie sind ja so ein ... so ein wundervolles Geschöpf ... Sie ahnen ja gar +nicht, wie ich ... hingerissen gewesen bin ... gestern, wie ich Sie auf +der Bühne sah ...« + +Er lauschte, ob eine Antwort käme ... aber regungslos stand das Mädchen, +Arm und Stirn an die Scheiben gepreßt, die von der Wärme ihrer Glieder +mit einem feinen Nebel beschlugen. Und wie Hans sich zage, Schritt um +Schritt, der Fensternische näher schob, fiel sein Blick auf die +Sophienstraße: drüben, vorm Eingang des Carolatheaters, drängte sich +schon wieder, noch weit über eine Stunde vor Beginn der Vorstellung, ein +dichter Menschenhauf, des Augenblicks wartend, da die Kasse sich zur +ersten Wiederholung der »Jungfrau« öffnen würde. Noch nicht +vierundzwanzig Stunden waren vergangen, seit er Asta Thöny zum ersten +Male gesehen ... + +Aber ihre Tränen waren versiegt: sie harrte, ohne sich zu rühren ... es +war, als lausche sie ... als lechze sie, mehr zu hören ... mehr ... + +Hans Thumser fühlte, wie alle seine Glieder nur ein einziges banges, +verlangendes Beben wurden ... auch seine Stimme bebte heftig, als er +weitersprach, ohne zu wissen, was er sagte ... + +»Asta ... ich habe noch nie ... noch nie ein Mädchen berührt ... ich bin +ein ganz dummer, dummer Bub ... Sie ... Sie müssen Geduld mit mir haben +... Wenn Sie ahnen könnten, wie mir zumut ist ... wie ich mich sehne ... +ach, wie namenlos ich mich sehne ... ach, und ich hab' mich ja schon so +gesehnt ... seit ich Sie gesehen hab' da drüben ... in Ihrer Schönheit +... und heut nacht, o Mädchen, wie haben meine Gedanken, meine Träume +sich an Dich gedrängt ... hast Du das denn nicht gefühlt? nicht geahnt? +Seien Sie doch nicht so stumm, sagen Sie mir doch, daß Sie mir verziehen +haben ... mir ist ja so bang, so namenlos bang ist mir nach Dir ...« + +Da wandte das junge Weib sich um ... Ihre duftenden Arme warf sie dem +Knaben um den Nacken und überflutete ihm die Lippen, die Augen, den Hals +mit dem schäumenden Strom ihrer Küsse. + + +»Also, Jucunda, Du weeßt nu, was die Glocke geschlagen hat ...« beendete +drüben in Hans Thumsers Studentenbudchen Mutter Doris ihren Bericht über +die schwerste Stunde ihres Lebens -- wie sie den Nachmittagsbesuch des +Herrn vom Nassau-Dillingenschen Hofe genannt hatte. Sie thronte auf dem +Kanapee unter den gekreuzten durchbohrten Mützen, den staubigen, +verblichenen Bändern in ihrer ganzen schnaubenden, dampfenden +Leiblichkeit ... Die Korsettstangen knackten unter den keuchenden +Atemstößen der eingepreßten Lungen, die fleischige Hand wedelte ohn' +Unterlaß mit dem feuchten Taschentuch den beperlten Hängebacken +Erfrischung zu. Jucunda saß stumm in einem der geblümten Fauteuils, mit +zusammengepreßten Lippen, das stolze Haupt ein wenig zurückgeneigt, die +blauen Augen starr zur Decke gerichtet. Sie schwieg auch, als die Mutter +ihren Bericht geendet und erwartungsvoll an den Zügen der Tochter hing. + +»Nu rede Du aber gefälligst ooch en Ton!« polterte Mutter Doris +schließlich heraus. »Ich mein', ich hätte mich nu genügend abgerackert +für Dich!« + +»Na, wenn Du meine Meinung denn wirklich hören willst, Mutter: Du +scheinst mir eine märchenhafte Dummheit begangen zu haben.« + +»I herrjemersch nee ... nu wird mer'sch aber doch zu tolle! Und was wär' +das fier ä Dummheit, wenn's gefällig wär?« + +»Wie Du den Brief hast herausgeben können, Mutter, das versteh ich +einfach nicht ... das Geld, mag sein, obgleich mir's schon lieber wäre, +ich hätte einen Postquittungsschein in Händen ... aber den Brief -- +unglaublich einfach!« + +Sie sprang heftig auf, stieß den Fauteuil mit einem Ruck zur Seite, daß +er in seinen Grundfesten krachte, und rannte zum Fenster -- starrte +hinaus, wie drüben vorher die zierliche Kollegin ... + +Ach ... da drunten drängten sich die Massen -- eben war der Kassenflur +geöffnet worden -- stießen sich, balgten, prügelten sich um den Vorrang +... wem galt das alles als ihr? Die alle da unten, hatten die einen +anderen Gedanken als -- Jucunda Buchner? + +Und nach der Tortur dieser letzten Viertelstunde, nach all dem Ekel, der +Zukunftsbangigkeit, die in ihr aufgequollen war beim Bericht der Mutter +-- kam da auf einmal eine wunderbare Gelassenheit über das Mädchen. Pah +-- was konnte ihr geschehen?! + +Inzwischen hatte Mutter Doris sich von ihrem ersten Schreck erholt. + +»Nee, weeßte, Jucunda, ich versteh Dich nich, wahrhaft'gen Gott, ich +versteh Dich nich. Erscht stellst Du Dich an wer weeß wie sähre, daß De +so än Brief kriegst, un ... un das andre ... un nu kommt der, der Dir's +geschickt hat, und holt sich's wieder ab -- un nu is ooch wieder nicht +recht -- -- un ich hab' Dir doch bloß die scheißliche Geschichte woll'n +vom Halse halten ... nee, nee, so was! Das hätt' ich wissen sollen, dann +hätt' ich dem dicknäsigen Herrn ganz einfach gesagt: kommen Se +gefälligst wieder, wenn Fräulein Jucunda Buchner derheeme is -- mich +geht's nischt an!« + +»Hättest Du das man getan, Mutter ... Ich hätte dem Herrn schon +beigebracht, wie man mit Jucunda Buchner spricht -- das kannst mir +glauben! Ach -- aber es ist ja alles egal ...« + +Sie reckte sich ... ein harter Glanz kam in ihre Augen ... Noch eine +knappe Stunde, und die Rampenlichter flammten auf, und sie tauchte +hinein in ihren blendenden Schimmer -- und von jenseits, aus dem dunkel +gähnenden Zuschauerraum, dampfte die Vergötterung der anderthalb Tausend +ihr entgegen ... + +»Was wirscht De denn nu anfangen?« fragte Mutter Doris ganz halblaut. +»Wo der Herr Major doch verlangt hat, Du sollst machen, daß der ... der +Herr Korpsstudent seine ... seine Aufforderung zum Duell ... daß er die +zurück tut nähm'!« + +Jucunda versank in einen Wirbel der Gedanken. Das Bild des jungen +Gesellen stieg in ihr auf, der so viel für sie getan ... aus einem +ritterlichen Empfinden heraus, das so einfach, so natürlich war, daß +Jucunda es wohl verstehen mußte, würdigen konnte in seiner schlichten, +starken Mannhaftigkeit ... Und nun sollte sie selber von ihm verlangen, +daß er den kühnen, verhängnisvollen Schritt, den er zu ihrem Schutze +getan -- rückwärts tun sollte ... Sie war in einer Luft groß geworden, +in die immerfort, aus den Stübchen der Mieter ihrer Eltern in die gute +Stube da hinten mit den grünen Plüschmöbeln, in die Träume ihres eigenen +Mädchenkämmerleins hinein -- die romantischen Vorstellungen und Begriffe +von korpsstudentischem Schneid, von Burschenehre hineingeweht waren ... + +O sie wußte ganz genau, was es für den weiland Ersten Chargierten der +Franconia bedeutete, aus dem Korps auszutreten, um einen Prinzen, der an +offiziellen Kneipabenden die grüne Mütze anlegte, zum Säbelduell fordern +zu können ... und was es nun erst bedeuten mußte, wenn sie ihm +zumutete, seine Forderung zurückzunehmen, ohne daß eine Sühne erfolgt +war ... ohne selbst eine formelle Bitte um Entschuldigung ... denn als +eine solche konnte doch der Besuch des Majors, seine unverblümten +Drohungen, die Erlistung des Briefes und des Geldes aus der Hand der +hilf- und ahnungslosen Mutter unmöglich aufgefaßt werden ... + +Immerhin -- hier war der Ansatzpunkt. Die Sache mußte dem Studenten so +dargestellt werden, als habe der Major den Auftrag gehabt, eine Bitte um +Verzeihung im eigenen Namen und im Namen seines prinzlichen Zöglings +zu überbringen ... als ob er diese Bitte auch tatsächlich überbracht +habe ... und wenn sie, die Beleidigte, sich mit dieser Genugtuung +einverstanden erklärte, dann war ja doch wohl für ihren Beschützer kein +vernünftiger Grund mehr, seine Forderung aufrecht zu erhalten ... und +alles in schönster Ordnung ... + +Alles in Ordnung? Nein ... Jucunda war ein viel zu klarer Kopf, als daß +sie die Folgen des Geschehenen nicht zu Ende gedacht hätte ... + +Also er zieht seine Forderung zurück, und dann? Nun dann ist er, auf gut +deutsch gesagt, der unrettbar Blamierte ... Er ist aus dem Korps +ausgetreten und hat ein Mitglied des Korps gefordert -- die Forderung +ist zwar nicht zum Austrag gekommen, aber die unsühnbare Feindschaft +zwischen den beiden jungen Männern besteht -- sie können nicht mehr auf +der Kneipe zusammensitzen, nicht mehr die gleichen Farben tragen ... Und +da das Korps seiner ganzen Tradition nach, um seiner Beziehungen zu Hof, +Behörden, Gesellschaft willen den Prinzen nicht fallen lassen kann, so +wird eben Pilgram dran glauben müssen ... Er hat sein Band verloren, +ist ausgeschieden aus dem Kreise der Freunde seiner Jugend ... All das +tapfere Ringen, Mensuren, Chargen, verbummelte Semester umsonst ... + +Das alles wußte Jucunda und wurde sich im angestrengten Nachsinnen +weniger Minuten über all diese Folgen klar, mitleidslos gegen sich und +ihn ... + +Und wieder meinte sie sein hartes, herrisches Gesicht zu sehen, wie es +weich, selbstlos, opferfreudig aufglühte um ihrer Ehre willen ... + +»Sie haben weinen müssen -- -- -- das sollen sie mir bezahlen, die zwei +...« + +Wie gut, wie tapfer, wie ... heldenhaft seine Worte, seine Tat ... und +nun?! + +Hieß das nicht ... ihn schmählich verleugnen ... wenn sie nun +zurückwich, sie ... und dadurch seiner Tat den ritterlichen Glanz +raubte ... sie zu einer Narrensposse, zu einem Dummenjungenstreich +erniedrigte? + +Aber ... ihre eigene Zukunft? Ihre Karriere? War das nicht alles, alles +das, was der Major ihrer Mutter angedeutet hatte ... waren das nicht +alles Wahrheiten?! + +Einen Augenblick lang war sie geneigt, das alles in den Wind zu schlagen +... Pah ... Engagement in Frage gestellt ... Bericht gegen sie beim Hof +in Meiningen ... War sie nicht Jucunda Buchner? Brauchte sie die +Hoftheater? Oder brauchten die Hoftheater -- sie?! + +Ach nein ... So stand es doch nicht ... Man war nicht immer achtzehn +Jahre, nicht immer eine neue Entdeckung, eine Sensation, eine Mode ... +Jucunda wußte schon viel, viel zu viel von den brutalen Gesetzen der +Macht, der Laune, des Glücks, des Wechsels, welche die schillernde Welt +regierten, in der es ihr bislang so herrlich, so unverdient und +unfaßbar glänzend gegangen ... sie dachte an ihre alte, verknitterte +Garderobiere, die auch einmal eine vergötterte junge Liebhaberin gewesen +war -- freilich nur am Stadttheater in Stallupönen, aber je höher der +Anstieg, um so grimmiger die Gefahr, um so steiler und zerschmetternder +der Sturz ... Nein, beim Theater konnte sich niemand erlauben, nur auf +sein Talent, seine eigene Kraft und Persönlichkeit zu bauen und die +Gunst der Mächtigen, der Brotgeber leichtsinnig zu verscherzen ... +Niemand konnte sich das erlauben, auch Jucunda Buchner nicht ... + +Er ... oder ich -- -- so stellte sich schließlich die Frage ... und +waren da die Chancen nicht doch zu ungleich? Schließlich ... ersparte +sie nicht auch ihm durch ihren Entschluß, ihn fallen zu lassen, das +größere Opfer, das noch ausstand? Das Risiko eines, nein zweier +Zweikämpfe mit schweren Waffen, unter den schärfsten Bedingungen? +Ersparte sie ihm nicht den definitiven, den viel größeren, gar nicht +wieder gut zu machenden Skandal?! + +Eine ... Enttäuschung ... eine schmerzliche Wunde für sein jugendlich +enthusiastisches Empfinden bedeutete es ihm, wenn sie sich zurückzog ... +mehr doch nicht ... Für sie aber stand ihre ganze Zukunft, ihre Zukunft +als Künstlerin wie ihre materielle Existenz auf dem Spiele ... + +Gab es da eine Wahl? + +Und letzten, allerletzten Endes: Hatte er das alles nicht sich selber +zuzuschreiben? Hatte sie ihn um seinen Schutz -- gebeten?! Nein, das +hatte sie nicht getan, mit keinem Wort, keinem Blick ... Er hatte sich +zum Verteidiger ihrer Ehre aufgeworfen ... Hatte sich eigentlich, wenn +man es einmal mit einem etwas scharfen Ausdruck bezeichnen wollte, +aufgedrängt ... Und hatte sie nicht alles Mögliche versucht, ihn von +diesem unerbetenen Opfer abzuhalten?! Aber er war ja fortgestürmt, als +ging's um seine eigene Ehre, um sein Leben ... + +Jucunda stand am Fenster, noch immer regungslos. Und hinüber, herüber +schossen die Gedanken, anklagend und entschuldigend ... + +Mutter Doris saß ganz still und gedrückt in ihrem Kanapee ... Daß sie +eine furchtbare Dummheit gemacht, als sie das verhängnisvolle Briefchen +aus der Hand gegeben ... das war ihr nun völlig klar ... Ihre +spießbürgerliche Verschlagenheit sagte ihr ja nun selber, daß man aus +solchen Beweisstücken Kapital hätte schlagen müssen ... +Selbstverständlich nicht im materiellen Sinne -- o nein, so etwas hatte +man ja gottlob nicht nötig ... Aber man kann doch nie wissen, wozu man +ein solches Zettelchen einmal gebrauchen kann ... So etwas läßt man sich +doch nicht ganz umsonst aus den Fingern drehen ... + +Und dies Bewußtsein: die einzige Waffe, die ihre Tochter besaß, blöde, +gedankenlos aus der Hand gegeben zu haben -- das machte sie klein und +stumm ... + +Jucunda schloß unterdessen ab. Ganz kühl, ganz klar hatte sie alles +abgewogen. Nein, es ging nicht ... Sie konnte sich nicht, wider ihre +innersten Lebensinteressen, von dem Don-Quichotte-Streich des jungen +Burschen durch dick und dünn fortschleppen lassen ... Losketten mußte +sie das Schiff ihres Glücks von der toll und steuerlos dahinrasenden +Fahrt des überheizten Dampfers, der sie so mir nichts dir nichts ins +Schlepptau genommen ... + +Und doch ... und doch ... + +'Sie haben weinen müssen ... Das sollen sie mir bezahlen ... die +zwei ...' + +Wenn man -- diesen Ton, diesen Blick nur los werden könnte ... + +Pah ... Es =mußte= sein ... + +Und schließlich und endlich -- wer war Herr Pilgram?! Ein gleichgültiger +junger Mensch, von dem sie nichts wußte, als daß er sie einmal sehr grob +in ihrer Arbeit gestört ... sich für diese Grobheit dann freilich sehr +manierlich entschuldigt ... und eine Abendstunde mit ihr geplaudert +hatte ... in der sie, das wußte sie ganz genau, ihm nicht die leiseste +Andeutung einer Sympathie gemacht hatte, die sie ja auch nie empfunden +hatte ... Denn schließlich, sie machte sich ja doch nicht das mindeste +aus ihm ... Er war ein kreuzbraver, aber doch durchaus alltäglicher +Geselle ... Ja, wenn noch etwas in ihrem Herzen sich geregt hätte bei +dem Gedanken an ihn ... die Ahnung von etwas Besonderem ... wie sie es +eben, vor einer halben Stunde, so deutlich gefühlt hatte im Gespräch +mit ... jenem andern grünbemützten Studenten, in dessen Zimmer sie jetzt +stand ... der so schöne Verse machen konnte und so seltsam verhaltene +Worte reden... in dem irgend etwas gärte und brodelte, das ihrem eigenen +Wesen und Wollen auf eine geheimnisvolle Weise verwandt war ... + +Nein ... Herr Pilgram war ... irgendein Herr Pilgram ... war nichts und +niemand ... Herr Pilgram hatte sich in ihr Leben eingedrängt ... man +würde ihn mit möglichster Schonung, doch unmißverständlich wieder +hinauskomplimentieren müssen ... + +»Es ist gut, Mutter ...« sagte Jucunda und wandte sich ruhig um. »Ich +will Herrn Pilgram schreiben ... jetzt gleich ... er soll seine +Forderung zurückziehen ... Den Brief kannst Du ihm hernach -- wenn wir +aus dem Theater nach Hause kommen -- dann kannst Du ihm den Brief auf +die Stube legen ... Hoffentlich ist er nicht zu Hause, wenn wir kommen +-- sonst -- na sonst mußt Du ihm den Brief eben geben.« + +»Na, das is verninft'g von Dir, Mädchen!« seufzte die stattliche Frau +und atmete tief auf, daß die Korsettstangen knackten. »Hier, mache nur +schnell ... Da is ja der Schreibtisch, und Briefpapier liegt ooch genug +herum -- gleich setz' Dich und schreib'! Kannst Dich ja hernach bei dem +Herrn entschuld'gen ...« + +Jucunda ging zum Schreibtisch des Studenten hinüber, fand Briefbogen, +entdeckte aber, daß sie sämtlich oben in der linken Ecke den Zirkel des +Korps Franconia und darunter das Monogramm des Eigentümers trugen. Da +drehte sie kurz entschlossen einen Bogen herum und schrieb auf die +Rückseite: + + »Leipzig, den 31. Oktober 1888. + + Sehr geehrter Herr! + + Ihr ritterliches Eintreten für mich hat den gewünschten Erfolg gehabt: + die beiden Herren, die mir diesen abscheulichen Brief geschickt haben, + haben mündlich bei mir um Entschuldigung gebeten. Ich bin über diese + Lösung hocherfreut und danke Ihnen innigst für Ihren gütigen Beistand, + ich weiß wohl, daß Sie mir ein großes Opfer gebracht haben. Nun ist + der Zweck Ihres Handelns erreicht. Bitte tun Sie mir nun auch den + Gefallen und nehmen Sie so bald als möglich Ihre Herausforderung zum + Duell zurück, damit nicht noch weitere Unannehmlichkeiten entstehen. + + Ich bin mit der nochmaligen Versicherung meines aufrichtigen Dankes + + Ihre ganz ergebene + J. B.« + +In einem Zuge, ohne Besinnen, hatte Jucunda geschrieben: Nun überlas +sie die Zeilen und wunderte sich, wie klar und einfach und +selbstverständlich das alles klang. Und darum wunderte sie sich noch +viel mehr, weshalb ihr nur so übel dabei zumute war. Sie hatte ja doch +recht, tausendmal recht ... Es war eine so klare vernünftige Lösung -- +es konnte ja doch schlechterdings nicht anders gemacht werden ... + +'Sie haben weinen müssen ... Das sollen sie mir bezahlen, die zwei ...' + +Das war ja doch eigentlich ein Unsinn ... Was gingen ihn, den fremden +jungen Mann, ihre Tränen an? Was berechtigte ihn, für diese Tränen Sühne +zu fordern? Da war irgend etwas, das stimmte nicht ... ein Fehler, ein +Gedankenfehler ... Und aus diesem Fehler war alles entstanden ... + +Dennoch ... Sie fühlte es ganz deutlich: Um das törichte, unbesonnene +Handeln des Jünglings war etwas Leuchtendes, etwas, das den Taten des +Mädchens von Orleans verwandt war ... Und es war wie in Talbots Worten, +des eisigen Vernünftlers, dessen hundeschnäuzige Kriegsmathematik vor +dem frommen Wahn der Jungfrau zusammenbrach: + + »Unsinn, du siegst ... und ich muß untergehn ...« + +Und während Jucunda Buchner den Brief kuvertierte und die Adresse darauf +schrieb: + + »Herrn Stud. Pilgram« + +-- seinen Vornamen entsann sie sich auf der Visitenkarte gelesen zu +haben, die er an seine Tür genagelt hatte, aber er wollte ihr nicht +einfallen -- als sie so schrieb, da empfand sie es ganz deutlich, ganz +unabweisbar, daß sein Tun gut und groß gewesen war ... und ihres frostig +und häßlich und gemein ... + +»Da, Mutter, steck den Brief in Deinen Pompadour ... und jetzt« -- sie +zog die Uhr -- »sieben bereits!« Donnerwetter! Jetzt revidierte der +Inspizient drüben schon die Garderoben! Teufel auch -- höchste Zeit ins +Theater -- »Vorwärts, Mutter!« + +»Willste nich Deine Kollegin daneben abholen?« + +»Na -- die wird wohl schon hinüber sein -- aber ich kann ja mal +nachsehen ...« + +Sie klopfte an die Tür des Nachbarstübchens, und da keine Antwort kam, +klinkte sie auf. Die kleine Kammer lag dunkel und still. Nur durch die +Fenster fiel der Schein der Gaslaternen von der Straße durch die +Gardinen, malte ein paar große Rechtecke an die weißgetünchte Decke. +Also Asta Thöny warf sich drüben bereits wieder in den steiflinigen +Brokat der Agnes Sorel ... + +»Sie ist schon hinüber -- und kommt doch erst im ersten Akt -- und ich +muß schon zum Prolog 'raus ... Glücklicherweise nur das Bauernkleid ... +Vorwärts, Mutter ...« + +Das hatte sie freilich nicht sehen können oder wenigstens nicht gesehen +in der Finsternis, daß auf dem Sofa noch einsam und regungslos der +junge Student gesessen hatte, das Poetlein, um dessen »schwindelschmalen +Pfad Abgründe klafften rechts und links ...« + +Daß er noch immer da saß, seitdem das Mädchen sich aus seinen Armen +gerissen ... Alle Glieder und das Herz wie mit Blei beschwert vor +trunkener Zärtlichkeit, sein ganzes Wesen durchschauert von +Erfüllungsglück ... + +Jucunda schritt über den Hof, der mit Dekorationsstücken vollgepfropft +war, die zum Schutze gegen den Regen mit Wachsleinwand verhangen waren +-- stolperte über die Beine des ausgestopften schwarzen Pferdes, dessen +Leichnam im dritten Akt so überzeugend die Stimmung des blutgedüngten +Schlachtfeldes heraufbeschwor -- nahm dies Stolpern für ein gutes Omen, +hastete weiter, so schnell, daß Mutter Doris in weitem Abstande hinter +ihr drein schnaufte ... Und als sie nun das schmale Pförtchen aus +Eisenblech öffnete, das zum Bühnenraum führte, als ihr der vertraute +Dunst von Schminke, wirbelndem Staub und Menschenbrodem entgegenschlug, +als sie den schlechterleuchteten Korridor, den halbdunklen Bühnenraum +kreuzte, auf dem die Arbeiter eben den Prospekt zum Prolog anbohrten ... +als sie dann die hallende Steintreppe hinanflog, in ihr Kämmerchen +schoß, wo die zerknitterte Krausen herzklopfend ihrer harrte -- (»Ach +Gottchen nee, gnäd'ges Fräulein, daß Se nu endlich kommen! Der +Inspizient und der Herr Oberregisseur sind schon sechsmal mind'stens +dagewäsen nach Ihn' fragen!«) als ihr weißes Gewand, als das blanke +Eisen ihrer Rüstung, ihres Helmes aufgleißten im hellen Licht der +Spiegellampen -- + +-- da fühlte sie, wie alles, alles abfiel, was dieser Tag ihr Fremdes, +Verworrenes, unheimlich Störendes gebracht. Fühlte, daß sie noch +dieselbe war wie gestern abend um diese Stunde -- dieselbe, die sie +immer sein würde, so oft der Rausch des Komödienspiels, des +Im-Spiele-Gestaltens über sie kam. + +Sie riß die Taille ihres Straßenkleides ab, reckte die herrlichen Arme, +schmetterte durch den Raum, daß die Wände wankten: + + »Ins Kriegsgewühl hinein will es mich reißen, + Es treibt mich fort mit Sturmes Ungestüm, + Den Feldruf hör' ich mächtig zu mir dringen, + Das Schlachtroß steigt, und die Trompeten klingen!« + +Ja, es parierte, das erzene Organ ... vor dem sogleich die anderthalb +Tausend da drunten erzittern würden ... Ja, sie war es noch, um +derentwillen die alle da draußen vor allem doch gekommen waren -- die +Heldin des Stückes, die Heldin dieses Abends ... + +Kaum stand sie im Bäuerinnengewand, die braunen Haare zu schlichtem +Flechtenbau um das runde Haupt gelegt, da trat Franz Burg ein, im +ledernen Koller bereits, doch noch ohne das rasselnde Blech drüber, noch +ohne Maske: + +»Nun, Langbeinchen? Das kennt man ja gar nicht von Ihnen, daß Sie mal zu +spät kommen! Wie ist die Stimmung?« + +»Prima prima!« lachte sie und leuchtete den Freund an. + +»Nichts Neues in der Affäre?« fragte er leise. + +»Nichts von Belang ... Ich denke, es renkt sich ein.« + +»Oh!« Franz Burg zog die tiefschattenden Augenbrauen hoch -- »das wäre +aber jammerschade ... Können Sie denn nichts dazu tun, daß die +Geschichte mit dem nötigen Theaterdonner zum Klappen kommt?« + +»Ach ... Ich bin froh, wenn sie aus der Welt ist ... Ich muß freien Kopf +haben, freie Arme zum Arbeiten, zum Schaffen ...« + +»Soll ich Ihnen mal was verraten? -- Ihr Erbprinz ist im Theater -- hat +noch vor einer halben Stunde einen Levkoyen geschickt und eine Loge +bestellen lassen ... Da alles futsch war, hat der Intendant die +Direktionsloge zur Verfügung gestellt ...« + +»Hm ... Das ist ja interessant ... Werde mir den jungen Herrn doch mal +anschaun ...« + +»Sie kennen ihn noch gar nicht?« + +»Keine Ahnung ...« + +»Na -- die Hauptsache ist: Er ist da -- jedenfalls ein Beweis, daß man +nicht ungnädig ist ... Na, die Reklame haben Sie verscherzt, nun halten +Sie sich wenigstens den hochgeborenen Verehrer warm ...« + +Der Inspizient steckte den Kopf zur Tür herein: + +»Fräulein Buchner -- bitte auf die Szene!« + +»Also, Langbeinchen, wieder mal: Hals- und Beinbruch!« + +»Danke, Meister!« + +Mit Wohlgefallen sah Franz Burg der weißen, stolzen Gestalt nach. +Künstlerblut! dachte er, kennt nichts als sich und ihre Arbeit ... Alles +andre ist Dreck ... + +Und Jucunda schritt die Treppe hinunter. Alles grüßte mit vertraulicher +Höflichkeit, wenn sie vorüberging: die Friseure, die Bühnenarbeiter, die +Statisten, die Volontäre ... + +Und in ihrer Seele schwoll die unbändige Lust des Schaffens. Es schwang +und klang in ihr von dröhnendem Jambenstrom und schmelzender +Trochäenklage ... »Frommer Stab, o hätt' ich nimmer mit dem Schwerte +dich vertauscht« ... Kaum konnte sie das Maß, die scheue, entrückte +Gebärde für die Stimmung des Anfangs finden, da sie noch ein schlichtes +Hirtenmädchen ist, von geheimen Stimmen, phantastischen Visionen +geängstigt, doch ihrer Sendung noch ahnungsvoll unbewußt ... + +Und endlich rauschte die Gardine empor, wogte drunten das Gebraus, das +wohlbekannte, von Zettelknistern und Räuspern und Zurechtrücken, +klappten die Sitze der Zuspätkommenden, tönte das leise Zischen der +Gestörten ... Und all dies wirre Durcheinander verebbte nach und nach, +und die große schaurige Stille ward, in die ihrer Partner Verse +hineinklapperten, wie eine belanglose Ouvertüre, ein gleichgültiger +Auftakt des Augenblicks, da sie die ersten Worte zu sprechen haben würde +... Ach, aber wie endlos lang dieser Auftakt! Die kamen ja heut wohl gar +nicht vom Fleck, der alte Thibaut, ihre Schwestern, die Bräutigame -- +biedre Chormitglieder, die heute ein paar Verse zu lallen hatten ... + +Gesenkten Hauptes, stumm stand das Hirtenmädchen im Hintergrund ... Nur +zuweilen hob sie zaghaft und scheu die großen Augen, ließ sie von einem +zum andern flattern, als verstände sie die Sprache ihrer nächsten +Menschen nicht mehr ... Und aus den verträumten Augen Johannas d'Arc +spähte Jucunda Buchners ganz wacher, lauernder Sinn in den +Zuschauerraum, dorthin, wo dicht an der Rampe links die Direktionsloge +lag ... Die Lichter blendeten abscheulich -- dennoch konnte sie +allmählich ganz vorn, matt angestrahlt vom Widerschein des hellen +Bühnentages, zwei Gesichter erkennen: ein fahles, junges mit der +blinkenden Scherbe im Auge -- und daneben ein verwettertes, +tiefgebräuntes mit flatterndem Schnurrbart ... Also das waren die zwei +-- »von Dillingen -- von Gorczynski« -- das waren die Schreiber des +verhängnisvollen Briefchens -- die Spender des Rosenturms und der ... +beiden ... blauen ... Lappen ... + +Achtung jetzt! Bertrand kommt, den blinkenden Helm in der Hand, den »ein +Bohemerweib« ihm aufgedrungen im Gewühl ... Gleich wird das Stichwort +kommen ... Horch ... Die letzten Verse rannen hin: + + »Da war das Weib mir aus den Augen schnell -- + Hinweggerissen hatte sie der Strom + Des Volkes, und der Helm blieb mir in Händen.« + +In diesem Augenblick versank alles, alles ... Jucunda Buchner versank, +und nichts mehr war als Johanna von Orleans ... Die schoß nun wie ein +Meteor aus der scheuen Zurückgezogenheit vor, riß dem alten Bauern den +Helm aus der Hand: + + »Gebt mir den Helm!« + +Erschrocken fragt der Alte: + + »Was frommt Euch dies Gerät? + Das ist kein Schmuck für ein jungfräulich Haupt!« + +Und wie eine Fanfare jauchzt es aus der endlich entfesselten Brust der +jungen Heldin: + + »Mein ist der Helm -- und mir gehört er zu!« + +Alles -- alles ist versunken -- nur eines wirkt und wogt: der große +Rausch des Schaffens ... + +Und Johanna wurde erst wieder Jucunda, als nach dem ersten großen +Monolog die Gardine sank und gleich darauf, wie hinweggerissen vom Orkan +des Beifalls, wieder emporrauschte ... als tausendstimmiger Jubelruf sie +umbrandete ... + +Da war Jucunda wieder da -- ganz wach, ganz klar ... Und sie neigte sich +... neigte sich zuerst mit tiefem Hofknix nach der Direktionsloge. + + + + + 9. + + +Als Herr Borgmann Neo-Borussiae das Hotel Hauffe verließ und verloren, +ziellos nach dem Augustusplatz hinüberschlenderte, kam er sich +entsetzlich dumm vor. Was sollte er nun seinem Auftraggeber und +Doppelgegenpaukanten ausrichten? Man hatte seine Forderung nicht +angenommen, aber auch nicht abgelehnt ... Ein Witz ... aber ein fader +... Ist bei Ihrem Auftraggeber eine Schraube los? Rabiater Bursche -- +ich danke für einen Skandal ... Koller ... Pathologischer Zustand ... +Verlange absolut geräuschlose Erledigung ... Rechne dabei auf Ihre +Mitwirkung ... Das waren so ungefähr die Schlagworte, die Herrn Borgmann +noch im Gedächtnis hängen geblieben waren und nun in der korrekten +Chargiertenseele einen tollen Tanz vollführten ... Ja, was sollte man +auch einem Prinzen antworten, der von korpsstudentischer Direktion und +Haltung keinen Schimmer hatte? Der eine so blutig ernste Sache wie eine +Säbelforderung einfach behandelte ... wie ... na wie einen +Hanswurststreich ... wie einen faulen Kalauer?! + +Und das hatte man sich gefallen lassen? Man hatte Ja und Amen gesagt zu +der ungeheuerlichen Zumutung, nach solch einem Affront auch noch an +einer ... hm, hm! geräuschlosen Beilegung mitzuwirken?! + +Herr Borgmann nahm die weiße Mütze mit dem weiß-schwarz-weißen +Randstreifen ab und tupfte die von weißblonden, seltsamerweise schon +etwas gelichteten Haaren umsäumte Stirn. Was konnte man seinem +Auftraggeber nun eigentlich berichten? Hatte der Prinz irgend eine +Erklärung zur Sache selbst abgegeben? Eine Entschuldigung bei der +beleidigten jungen Dame in Aussicht gestellt? Nicht das mindeste ... Er +hatte nichts weiter geäußert als Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des +Mandanten -- und das kategorische Verlangen, die Sache müsse aus der +Welt geschafft werden! + +Na, und du, Wilhelm Borgmann, Neo-Borussiae gewesener Zweiter, Erster?! +Was für eine Antwort hast du gefunden? + +Gar keine! Völlig aus dem Konzept hat man dich gebracht, verblüfft, +verhohnepiepelt ... Schindluder hat man mit dir getrieben, ganz einfach! + +Und warum? Warum hast du nicht aufgemuckt? Warum hat deine ganze +mühevoll erworbene korpsstudentische Direktion, deine Haltung, dein +Schimmer dich verlassen? Weil dies junge hagere Herrchen im hellblauen +Dragonerüberrock mit den silberblinkenden Knöpfen ein ... Prinz von +Geblüt war ... Da war von deiner Spießbürgerseele der dünne Firnis des +Kavaliers abgefallen, den man dir in einer Dressur von fünf Semestern +aufgepinselt -- und du warst in Lakaiendevotion submissest +zusammengeknickt! + +Und drüben im Theaterrestaurant sitzt der unglückselige Pilgram, weiland +Franconiae, und wartet auf Antwort ... Wartet auf das Schicksal ... + +Ja, was sagt man ihm nur? So wie die Geschichte in Wirklichkeit +abgelaufen ist, so kann man sie ja gar nicht erzählen -- der rabiate +Bursche schlägt sonst Krach! Das muß man sich erst ein bißchen +zurechtlegen ... + +Herr Borgmann suchte einen Zufluchtsort. Café Felsche? Viel zu viel +Betrieb jetzt da, wahrscheinlich auch ein Tisch voll Neo-Borussen -- -- + +Ein Einfall! Das Museum! Das war zu dieser Stunde vielleicht noch +geöffnet ... + +Und Studiosus Borgmann tat etwas, was ihm in seinen fünf Semestern, die +er in Leipzig zugebracht, noch niemals passiert war: Er ging ins Museum +hinein, stieg die prächtige Marmortreppe hinan, schritt gleichgültig +durch die Säle voll bemalter Lappen in goldenen Rahmen und versank in +einem Plüschsofa des großen Oberlichtsaales ... Und sann, wie er die +Sache deichseln könne, ohne seine Blamage eingestehen zu müssen. + +Inzwischen saß Valentin Pilgram in regungslosem Warten in einer dunklen +Ecke des Theaterrestaurants. Was werden würde? Nun das war ja ganz klar: +Sowohl der Major als auch der Erbprinz, der die Charge eines +Rittmeisters bekleidete, würden die militärisch korrekte Erklärung +abgeben, daß sie die Tatsache der erfolgten Forderung ihrem zuständigen +Ehrenrat unterbreiten würden ... Der würde dann einen formellen +Ausgleichsversuch machen -- wenn dieser, wie selbstverständlich, +gescheitert wäre, würde der Erbprinz einen Ersatzmann stellen, einen +möglichst fechtgewandten Offizier eines Gardekavallerieregiments ... Und +dann stiegen eben die beiden Partien ... Na Himmel, das hatte man ja +doch schon fünfmal durchgemacht -- zwar nicht unter ganz gleich schweren +Bedingungen ... Aber -- na ja, Eisen ist Eisen, und fechten haben wir ja +gottlob gelernt ... + +Und dann ... + +Valentin Pilgram versank in Träume ... Dann mußte irgend etwas kommen, +etwas Schönes, von dem man sich keine rechte Vorstellung machen konnte. +So ganz ohne Dank und Lohn würde man ihn doch nicht laufen lassen ... + +Dank und Lohn? Aber wie? + +Valentin Pilgram hatte bewiesen, daß er bereit war, sich jeden vors +krumme Messer zu langen, der an dies Mädchen anders dachte denn an eine +Heilige ... Und Heilige ... Wie belohnen sie denn? + +Mit ihrer Gnade ... Mit Fürsprache im Himmel ... + +Sie belohnen von ferne ... Mit Gaben, für die man sich auf Erden +verdammt wenig kaufen kann ... + +Na, und das wird ja auch wohl dein Fall sein, mein guter Valentin -- +nicht wahr?! + +Na -- und wenn auch! Wir haben eben getan, was wir mußten ... + +Ein alter Reckenspruch aus den goldenen Tagen des Rittertums klang ihm +durch den Sinn: + + _A Dieu mon âme, + Ma vie au roi, + Mon coeur aux dames, + L'honneur pour moi._ + +_Pour moi_ ... Na eben, das war's: das Bewußtsein: So gehört sich's -- +und so hab' ich's gemacht ... + +Endlich! Da kam sein Kartellträger ... + +»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Borgmann ...« + +»Gewiß, gern ... Herr Ober, eine Schale Schwarz ...« + +»Also ... Angenommen?« + +»Hm ... Die Herren haben Erklärungen abgegeben, die vielleicht ... als +befriedigend gelten könnten ...« + +»Was! sie kneifen?!« + +»Hm ... Doch wohl etwas zu schroffer Ausdruck ... Der Prinz hat den +Major beauftragt, die Angelegenheit in Güte zu arrangieren ... Ich nehme +also an, daß er Familie Buchner im beiderseitigen Namen um Verzeihung +bitten wird ... Was macht's, Ober? Fünfundzwanzig? Schön -- ziehen Sie +fünfunddreißig ab ...« + +Valentin Pilgram war wie vor den Kopf gestoßen. + +In Güte arrangieren ... Fräulein Buchner um Verzeihung bitten ... Hm ... +Verteufelt einfache Lösung ... Und das hatte man sich nicht mal im +Traume vorgestellt, daß es so kommen würde ... kommen ... müßte ... + +Himmel ja -- man war eben Korpsstudent -- trat für alles, was man gesagt +und getan -- selbst in der Hitze gesagt und getan -- für das trat man +eben stramm und rücksichtslos ein mit Waffe und Blut, mit Schädeldach +und Nase, mit Brustbein und Armknochen -- konnte sich gar nicht +vorstellen, daß jemand auswich -- revozierte und deprezierte -- den +Schwanz einzog und ... na eben kniff. + +Und ... jeden andern Kneifer durfte man einen Kneifer schimpfen ... +Dieser aber stand außerhalb der Lebensgesetze der akademischen Welt -- +der er _pro forma_ doch angehörte ... Der konnte sich eine Kneiferei +leisten, obwohl er doch auch Student, offiziell sogar Korpsstudent war +... + +Was für ein Hohn ... Was für eine blöde Farce! + +»Hm ... Und Sie meinen, Herr Borgmann -- mit diesen Erklärungen müsse +ich mich begnügen?« + +»Ich ... glaube wenigstens nicht, daß ... nach diesen Erklärungen ... +das Ehrengericht Ihre Forderung noch genehmigen würde, wenn Sie darauf +bestehen wollten ... Selbst ein S. C. Ehrengericht nicht ... Aber vor +das kommt die Sache ja überhaupt nicht ... Die kommt vor den +Offiziersehrenrat ... Na und der wird eben selbstverständlich die Sache +für erledigt erklären unter diesen Umständen ...« + +Ach so ... Also alles in schönster Ordnung ... Die Ehre der +angegriffenen jungen Dame _in integrum_ restituiert durch die +Deprekation ... und nur er selber ... er selber um sein Korpsband +gekommen ... und eigentlich ... der ... Blamierte ... + +Hm ... es stimmte ... Da war nichts zu machen ... Aber auch gar nichts +... + +Ja ... Wie war denn das aber möglich? Hatte er denn irgend einen ... +Fehler gemacht? + +Nein ... Er hatte den Geboten der Ehre, der Ritterlichkeit gefolgt ... +Und was sich da wider ihn aufreckte ... das war etwas, was er bis dahin +noch nicht geahnt hatte -- der Unsinn des Daseins ... die Tragikomödie +des Idealismus ... dieses phantastischen romantischen Idealismus, der +den eigenen Adel, die eigene heroisch-naive Auffassung von Pflicht und +Ehre noch für das Gesetz des Weltganges hält ... + +Valentin Pilgram stand auf ... stumm ... stieren, korrekten Antlitzes. + +»Ich danke Ihnen verbindlichst für Ihren gütigen Beistand, Herr Borgmann +... Nun, dann wird sich die Sache ja wohl in aller Güte und Freundschaft +erledigen ... zwischen den ... =Nächstbeteiligten= ... Adieu, Herr +Borgmann ...« + +Donnerwetter -- dachte Wilhelm Borgmann -- das hat besser gegangen, als +ich mir's träumen ließ ... + +Valentin Pilgram irrte durch die Straßen ... Dies Menschengewoge, der +Spätherbstglanz über der Welt, die Wagen, die klingelnde Pferdebahn, das +alles machte ihn rasend. Er floh ins Rosental, strich ziellos durch die +Laubgänge ... + +Jucunda! Das war sein einziger Trostgedanke ... Jucunda würde zu ihm +stehen ... ihm danken, ihn belohnen ... irgendwie ... für alles, was er +ihr geopfert ... + +Er rannte immer weiter, immer tiefer ins Holz hinein -- über die Elster +hinüber, kreuzte die sumpfigen Wiesen jenseits der Marienbrücke, verlor +sich in den braunen Forsten des Leutzscher Holzes. Es kam die frühe +Dämmerung, es wurde feucht und frostig unter dem Laubdach, von dem +langsam Blatt um Blatt niederrieselte im melancholischen Schweigen des +windstillen Herbstabends -- Valentin Pilgram bemerkte es nicht. Und wie +die Fledermäuse, die lautlos um die schattenhaften Säume der Gebüsche +schwirrten, über den perlmuttfarbenen Spiegeln der Sumpfteiche huschten, +so flatterten durch des wackern Gesellen Hirn die aberwitzigen +Gedanken. + +Er hatte doch recht getan -- gehandelt wie ein Mann und Kavalier ... Und +eine lächerliche Blamage war die Folge ... Das Korpsband, das geliebte, +war von seiner Brust hinweggeweht, wie ein klagender Abendhauch die +ziehenden Nebelstreifen dort auf den Wiesen hinwegstreifte ... + +Das konnte doch das Ende nicht sein -- so dummejungenmäßig beiseite +geschoben werden, das war doch kein Abschluß für Valentin Pilgrams +stolze, prangende Burschenherrlichkeit ... + +Nein ... Es mußte noch irgend etwas kommen -- die Ahnung irgend eines +süßen oder schrecklichen Ereignisses düsterte durch die Seele des +einsamen Wanderers. + +Es war schon Nacht, sternüberflimmerte Spätherbstnacht, als er vor sich +die dunklen Umrisse des Leutzscher Bahnhofes auftauchen, die +grellfarbigen Lichter des Bahnkörpers flimmern sah. Eine dumpfe +Sehnsucht nach der Stadt zurück überkam ihn plötzlich, nach wogenden +Menschenmassen, nach Wagenlärm und glitzernden Schaufenstern. Er +erkundigte sich: der nächste Zug fuhr erst in einer halben Stunde. In +dem schmutzigen Bahnhofsrestaurant schüttete er hastig, gedankenlos ein +paar Glas Bier in die brennende Gurgel. Als der Zug herannahte und er +die Börse zog, bemerkte er, daß er an seiner Uhrkette noch den +Bierzipfel trug, ein Stück des grün-gold-roten Korpsbandes mit goldenen +Beschlägen ... Da hakte er mit einem bitteren Zucken der Mundwinkel den +blanken Zierat ab und barg ihn in seiner Brieftasche. + +Als er auf dem Thüringer Bahnhof ankam, war es gegen neun Uhr. Er +hastete heimwärts. Jetzt war Jucunda im Theater -- spielte abermals die +Jungfrau ... An allen Anschlagsäulen hing der Theaterzettel, der ihren +Namen trug ... Es trieb ihn nach Hause, dahin, wo sie geboren und groß +geworden war, eine seltene, phantastische Wunderblume, in einem +abgezirkelten, banalen Spießergärtchen erblüht ... + +Alles war still und finster in dem engen, muffigen Korridor, als er die +Entreetür öffnete. Natürlich, die Eltern waren ja mit im Theater, ihr +Goldkind zu bewundern ... + +Er suchte seine Zündholzschachtel, fand sie, aber sie war leer. +Vergebens tappte er nach Licht. Die Tür zur Wohnstube war angelehnt, ein +matter Lichtreflex von der Straßenbeleuchtung fiel heraus. Valentin +konnte der Versuchung nicht widerstehen und trat ein. Stumm und dunkel +und dumpfig lag das Zimmer. Dort am Fenster hatte er mit ihr gestanden +-- wann doch nur? Vor einer Ewigkeit?! Pah -- es war noch nicht +vierundzwanzig Stunden her ... Und hier auf dem verschlissenen Plüsch +hatte sie gesessen, das weiße Königinnenhaupt zurückgelehnt ... und -- +wie hatte sie nur gesagt? 'Vielleicht kann ich doch einmal einen Ritter +gebrauchen -- dann will ich an diese Stunde denken und Sie rufen ...' +Und jetzt? Hatte sie ihn nicht gerufen? -- Nein -- das eigentlich wohl +nicht ... Aber hatte sie nicht geweint?! Sie ... sie ... und hatte +geweint um einer bübischen Kränkung willen ... + +Und da hatte er getan, was er genau so rasch, so selbstverständlich und +geradezu getan hätte für seine Schwesterchen daheim in Dresden ... Und +morgen würde ganz Leipzig über ihn lachen ... + +Hastig trat er auf den stockfinstern Korridor zurück und tappte nach +seiner Stube hinüber. Zufällig bekam er die Klinke zu Jucundas +Kammertür in die Hand ... Er drückte sie nieder, und ein Duft wehte ihm +entgegen, der ihn mit einem Schwall stummer, wirrer Sehnsuchtswünsche +bedrängte. Das Zimmer lag nach einem Seitengäßchen hinaus und war fast +völlig finster. Nur aus einem gegenüberliegenden Fenster fiel ein ganz +matter Lichtschein hinein. In diesem Schein leuchtete das weiße Bett, +schon aufgeschlagen, für die Nachtruhe der Künstlerin ... + +Ein Grausen des Verlangens schnürte dem reckenhaften Burschen die Kehle +zusammen. Er schloß hastig die Tür und stand einen Augenblick lang in +der Dunkelheit. Alle Glieder bebten, seine Kinnbacken schlugen im Frost +zusammen. Dann übergoß ihn glühende Scham. Er war der Mann nicht, sich +an dem Dunste der Geliebten verstohlen schnüffelnd zu erletzen. Er +rannte hinaus, fand endlich die Tür seiner Bude und saß lange mit +fiebernden Gliedern in der Finsternis, auf seinem Sofa. Endlich fuhr er +auf, schwankte zu seinem Nachttischchen hinüber, machte Licht, zündete +die Petroleumlampe an und sah die aufgeschlagenen Repetitorien liegen, +wie er sie morgens verlassen hatte, als die Kanzleirätin in sein Zimmer +gestürzt war ... + +Und eine stumpfe Ruhe kam über ihn. Arbeiten! Arbeiten! Er wühlte sich +in die schematisch öde Zusammenstellung der elementaren Grundbegriffe +seiner Wissenschaft hinein. Seiner Wissenschaft -- ah bah! Die Quelle +des Wissens, die hell in seiner Nähe sprudelte, hatte er ängstlich +gemieden sieben Semester lang und nur dem Korps gedient ... Nun galt es +hastig und mechanisch einen Haufen seelenloser Notizen in sich +hineinzustopfen, um den toten Popanz, die pappdeckelne Attrappe einer +fadenscheinigen Examensweisheit aufzurichten ... + +Immerhin ... wenigstens Vergessen wirkte dies stumpfsinnige Büffeln ... + +Und eine Stunde verrann -- zwei Stunden ... Plötzlich draußen auf dem +Flur die Stimmen der heimkehrenden Familie Buchner. Valentin lauschte +angestrengt ... Ob sie ihn denn nicht noch zu sprechen wünschte? Ihm zu +danken für die ... glückliche Lösung, die sein Eingreifen doch +herbeigeführt? + +Und wirklich -- es pochte an seine Tür ... + +»Herein!« + +Mutter Kanzleirätin stand auf der Schwelle. Ein wenig rot und verlegen +... In der schleifenbesetzten Kapuze, dem altmodischen Abendmantel, +genau wie gestern, als er sie aus dem Wagen gehoben ... + +»Sie wär'n entschuld'gen, Herr Pilgram -- hier is Sie nämlich ä +Briefchen von meiner Tochter ...« + +Ein -- Brief? Und warum konnte sie denn nicht selber --?! + +So deutlich stand diese Frage in des jungen Mannes starr aufgerissenen +Augen, daß Frau Buchner die unausgesprochene beantwortete: + +»Nämlich, Se dürfen's ihr nich iebel nähm', selber kann se's Ihn' nich +sagen, sie is Ihn' nämlich gar zu sähre angegriff'n von der Vorstellung +... Gut Nacht, Herr Pilgram, wünsch' gute Ruh ...« + +Und hastig war die massive Gestalt aus der Tür ... Nur der Brief blieb +zurück, lag weiß und fremd auf dem fleckigen, grellgemusterten +Tischtuch. + +Mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge nahm Valentin das Kuvert und +studierte die großen, fahrigen Züge der Aufschrift: + + »Herrn Stud. Pilgram ...« + +Weder Fakultät noch Vorname ... + +Was steht darin? Nun, es kann doch nur eins sein: Dank und abermals +Dank, feuriger, inniger Dank ... + +Er riß den Umschlag auf und las: + + »Sehr geehrter Herr ...« + +Er las und las ... »erwünschte Erfolg« -- »Herren haben mündlich bei mir +um Entschuldigung gebeten« -- »danke Ihnen innigst« -- »großes Opfer« -- +»Zweck erreicht« -- »nehmen Sie Ihre Herausforderung zurück, damit +nicht noch ... weitere ... Unannehmlichkeiten entstehn ...« -- »mit +der nochmaligen Versicherung meines aufrichtigsten Dankes Ihre ganz +ergebene ...« + +Na ja ... na also ... + +Völlig korrekt das alles ... Nichts fehlte, was man so erwarten und +verlangen konnte ... + +Nichts fehlte ... gar nichts ... + +Valentin Pilgram sah lange und regungslos in den hellen Lichtkegel der +Petroleumlampe, bis die Augen ihn zu schmerzen anfingen. + +Na ja ... na also ... + +Und endlich klappte er den Brief zusammen. Wollte ihn in den Umschlag +schieben ... Da auf einmal blieben seine Augen an etwas hängen, das er +nicht begriff. Auf der letzten Seite des Bogens, am unteren Rande und +mit dem Kopfe nach unten, fand sich ein Monogramm aus den Buchstaben T +und H und darüber der Zirkel eines wohllöblichen C. C. der Franconia zu +Leipzig. + +Was war das?! + +T. H.? Oder ... H. T.? Und darüber der Frankenzirkel? + +Kein Name der verflossenen Korpsbrüder fing mit einem H an, aber mit +einem T? Thumser? Hans ... Thumser ... Das ... stimmte ... + +Was war das? Wie kam Jucunda Buchner zu einem Briefbogen von Hans +Thumser?! Teufel -- + +Hatte der am Ende den Makler gespielt? Und geholfen, ihm diese ungeheure +Blamage einzubrocken?! + +Valentin Pilgram dachte nach. Nun, der kleine Thumser war ein Faselhans, +hatte den Kopf voll konfuser Ideen, voll unvorschriftsmäßiger, +inkorrekter, umstürzlerischer Gedanken über allerhand heilige, +unantastbare Dinge, Dinge, die immer so gewesen waren und immer so +bleiben sollten ... Sah ein bißchen von oben herab auf alle Menschen und +Zustände -- aber eine Gemeinheit, eine heimtückische Verräterei und +Niedertracht -- die war ihm denn doch nicht zuzutrauen ... + +Aber -- wie war dies -- Unfaßbare da -- zu erklären?! + +War denn irgendeine Möglichkeit, daß Jucunda und der versedrechselnde, +kunstsimpelnde Korpsbruder in Berührung hätten kommen können? + +Gestern abend -- so viel stand fest -- kannte Thumser die Künstlerin +noch nicht persönlich -- hatte zwar die Idee gehabt mit dem +Pferdeausspannen, aber nicht ein Wort mit dem Mädchen gewechselt ... + +Aber -- hatte nicht er selber, Valentin, gestern abend im Gespräch mit +der Familie Buchner den Namen Thumsers genannt als desjenigen, der den +glorreichen Einfall mit der Pferdeausspannerei ausgeheckt ... + +'Dafür hätten Sie 'nen Kuß gekriegt,' hatte Jucunda gesagt ... Noch ganz +deutlich entsann sich Valentin einer dunklen Regung von Eifersucht ... + +Wär's möglich -- sie hätte sich vielleicht an den gewandt um ... um +einen Ausweg aus der Verlegenheit, in die Valentin Pilgrams rasche +Ritterschaft sie hineingestürzt?! + +Oder?! Hatte er -- Hans Thumser -- die Bekanntschaft eingeleitet? Er +wußte aus dem C. C., was vorgefallen war ... Er war sehr schweigsam +gewesen im C. C. ... Sollte er diese ... Gelegenheit ... seine +Wissenschaft um die Situation -- sollte er die benutzt haben, um sich +bei Jucunda lieb Kind zu machen?! + +Wie es auch sein mochte -- es war etwas geschehen zwischen den beiden +... Hans Thumser hatte seine Hand im Spiel -- in dem falschen, +ränkevollen Spiel, an dessen Ende seine, Valentins, hilflose Blamage +stand ... + +Himmel und Hölle! Da stand ja auf einmal ein neuer Feind auf -- ein +Feind, der eine harmlos grinsende Freundesmaske trug ... und einer, der +nicht unangreifbar war, wie die andern -- nicht geschützt wie diese +Jucunda durch ihr Geschlecht -- nicht durch Rang, durch Pflichten der +Rücksichtnahme, durch die Ausnahmegesetze der militärischen +Standesordnung -- wie das fürstliche Käsegesicht mit der Scherbe im Auge +oder sein schnurrbärtiger Begleiter ... + +Einer, den man sich langen konnte! + +Ein Korpsbruder?! Pah ... er selber war ja nicht mehr Korpsstudent ... +Konnte ramschen, mit wem es ihm beliebte ... Seine Rache kühlen an dem +ersten besten, der seinem Grimm in den Weg lief ... + +Ja, seinem Grimm -- der besinnungslosen Wut, die ihm nun auf einmal in +die Augen stieg mit blutrotem Schimmer, ihm Blick und Fassung trübte -- +daß er aufsprang, die Halsbinde, den Kragen aufriß, um nicht zu +ersticken ... + +Nebenan raschelten Kleider, klapperten die leisen Tritte müder +Mädchenfüße ... + +Sie -- und nur eine dünne Wand zwischen ihm und seinem Schicksal ... + +Er lauschte ... flüsternde Frauenstimmen klangen: Mutter Kanzleirätin +brachte wohl das Goldkind schlafen ... Nun knarrte die Tür, nun +schlürften die Pantoffeln der Alten über den Korridor, zum ehelichen +Schlafgemach hinüber ... Und ein herzhaftes, langgezogenes Gähnen ... +Und nun krachte das Bett, rauschten die Kissen ... + +Valentin Pilgram saß noch immer steif und regungslos an seinem +Schreibtisch und starrte in den Lichtkegel der Petroleumlampe ... Und in +der Faust hielt er den halbzerknüllten Briefbogen, der vorne Jucunda +Buchners Brief und hinten Hans Thumsers Monogramm und den Frankenzirkel +trug ... + +Na ja ... Na also -- -- --!! + + + + + 10. + + +Die Franken hatten C. C. gehabt und Chargenwahl vollzogen. Ivo Volkner +aus Düsseldorf war Erster geworden an Pilgrams Statt. Hartwig, der +Vertreter des Marburger Kartellkorps, hatte die zweite Charge bekommen, +und der eben erst rezipierte Jungbursch Feldmann die dritte. Volkner +Senior -- das bedeutete einen Wechsel des Regimes. Statt des zähen, +wortkargen, sparsamen und fechtgewaltigen Sachsen der leichtsinnige, +wohlhabende, lebenslustige Rheinländer -- das war ein wahrer Umschwung +für den Geist des Frankenbundes ... + +Hans Thumser säumte nicht, von diesem Umschwung zu profitieren. Alle +paar Tage bat er um Dispens zum Besuch der Konzerte, des Theaters, +schwänzte regelmäßig Sonnabends das gemeinsame Mittagessen, um der +Motette des Knabenchors in der Thomaskirche zu lauschen ... + +Und eines Morgens erlangte er gar die Erlaubnis, bei den Meiningern zu +statieren ... + +Die Meininger ... sie hielten ihn völlig im Bann. Er versäumte keine +Premiere. Drama auf Drama reckten sich die genialen Machtschöpfungen der +erhabensten Meisterwerke des germanischen Theaters vor dem +schönheitshungrigen Auge des jungen Studenten auf ... + +Und all die heiße Inbrunst, die solch aufrüttelnde, seelenentzückende +Schau in ihm entflammt hatte, die küßte er der zierlichen Asta Thöny auf +den feuchten, bebenden Mund ... Es war ein toller Märchenrausch von +Begeisterung und Liebe, in dem die Tage, die Nächte dahinrasten. Und so +ganz versunken war alles, was sich nicht der Erinnerung aufdrängte, daß +er nicht ein einziges Mal auf den Einfall gekommen war, sich nach dem +armen Valentin Pilgram umzusehen, mit dem er doch drei Semester lang die +gleichen Farben getragen -- der aus dem Korps geschieden war um eines +Entschlusses willen, den er heiß bewunderte wie alle Korpsbrüder ... Er +wußte, die andern pflegten eifrig den Verkehr mit dem ausgeschiedenen +Freunde -- er nahm sich täglich vor, ihn aufzusuchen, und täglich vergaß +er's in seinem Taumel von Sehnsucht und Erfüllung, Erfüllung und +Sehnsucht ... + +Ja, Erfüllung ... und Sehnsucht ... Denn wenn Hans Thumsers flaumige +Jugend in Asta Thönys schimmernden Armen lag, dann am heißesten +verlangte seine Seele nach der andern, die Abend für Abend die ganz +großen, ganz lichten Visionen der Dichter verkörperte, statt jener +kleinen, sündigen, irdischen Geschöpfe, die Asta Thönys Kunst umspannte +... + +Aber außerhalb der Bühne hatte er sie niemals wieder zu sehen bekommen +-- Jucunda, die allvergötterte. Es war ein förmliches Jucundafieber +ausgebrochen unter der Leipziger Jugend, der männlichen wie der +weiblichen, der akademischen wie der Philisterwelt ... Allabendlich +schritt die Künstlerin durch ein jubeltrunkenes Spalier ihrer Verehrer +zu ihrem Wagen -- nach jeder Premiere wiederholte sich die gleiche +Komödie. -- Der Kutscher strängte die Gäule schon vorher ab und stellte +sie auf Seite und sich daneben, damit ihm die Tiere nicht ganz verrückt +wurden und er selber ohne blaue Flecke vom Bock herunterkäme ... + +Und Liebesbriefe ohne Zahl, voll ungelenker Gedichte, stammelnder +Mädchenverzückung und kecker Jungmännerwerbung flatterten in das +bescheidene Kämmerchen an der Katharinenstraße ... + +Selbst die Waffenstudenten, deren Gesichtskreis doch sonst mit ihren +Couleurangelegenheiten völlig ausgefüllt war, wurden in den allgemeinen +Theatertaumel mit hineingezogen. Wenn Jucundas Triumphwagen mit seiner +keuchenden, brüllenden Bespannung durch die Straßen südlich des +Königsplatzes der Altstadt zurollte, dann blinkten in der Schar der +Ziehenden und der Geleitenden die Mützen der Korps neben denen der +Burschenschaften, der Turner neben denen der Landsmannschaften -- Arion +und Paulus wetteiferten mit dem heiligen Wingolf im Dienste der +Jucundabegeisterung ... Es war wie im Paradiese, da das Lämmlein bei dem +Tiger weidete ... + +Und der regelmäßigste Besucher war der Gast der fest abonnierten +Proszeniumsloge vorn links vom Schauspieler, neben der Direktionsloge +... war der Erbprinz von Nassau-Dillingen. Zu jeder Premiere schleppten +die herzoglichen Leibdiener ein kostbares Blumenarrangement von +schier unermeßlichen Dimensionen auf die Bühne, daran ein Kuvert mit +geprägtem Wappen hing ... Es enthielt des Erbprinzen Visitenkarte, +darauf immer nur die Worte: »In Verehrung« ... geschrieben in einer +unausgeschriebenen Knabenschrift. Niemals aber hatte sich Jucunda +künftighin über den leisesten Versuch einer Annäherung zu beklagen +gehabt. + +Und Jucundas Dank beschränkte sich stets auf den Hofknix vor der ersten +Parkettloge links ... + +»So ist's recht, Langbeinchen,« sagte Franz Burg mehr als einmal zu der +jungen Freundin -- »so muß man's machen: hübsch in Distanz halten die +hochgeborenen Verehrer -- aber keinesfalls wegöden ... das hat keinen +Sinn -- immer warm halten -- man kann nie wissen, wozu man so etwas +einmal brauchen kann ...« + +Und Jucunda begriff. Es blieb doch nicht nur bei dem Hofknix. Wie jeder +andre Spender einer Blumengabe bekam auch Erbprinz Heribert ein paar +Dankesworte auf goldgerändertem Kärtchen ... Anfangs waren's nur drei +konventionelle, schematische Zeilen ... Bei der dritten Spende aber +stellte sich ein Zusatz ein: + + »Sie beschämen mich, Durchlaucht, -- ich weiß nicht, wodurch ich + soviel gnädige Anteilnahme verdient habe.« + +Das nächste Mal enthielt das wappengeprägte Kuvert an der riesigen +Seidenschleife, die in den Nassau-Dillingenschen Landesfarben von einem +riesigen Lorbeerrade niederrauschte -- enthielt das Kuvert ein Briefchen +von zwanzig Zeilen: + + »... Sie sind mir böse gewesen, und ich muß leider zugeben, nicht ganz + ohne Grund, obwohl ich für die geschmacklose Form der Huldigung, die + Ihnen in meinem Namen überreicht wurde, nichts kann. Sind Sie wieder + gut? Ich bitte Sie um ein Zeichen ...« + +In der Premiere des »Wintermärchens«, die kurz auf dies Briefchen +folgte, lockte der tumultuarische Applaus nach der Gerichtsszene die +eben hinter den Kulissen gestorbene Hermione-Jucunda auf die Bühne ... +Und wieder schleppten livrierte Diener eine weißleuchtende Kaskade von +rieselnden Chrysanthemen heran ... Da zog Hermione aus dem Blütenschwall +eine ganze Handvoll der märchenhaften, hundertstrahligen Blumensterne +und steckte sie an ihre Brust, um sich dann erst mit feierlichem Lächeln +im tiefen Hofknix zu neigen gegen die Proszeniumsloge vorn links vom +Schauspieler ... + + +Also Hans Thumser durfte statieren -- mit hoher Genehmigung des Herrn +Ersten Chargierten. Er ging sonach eines Morgens um zehn nach dem +Fechtboden zum Bureau des Carolatheaters und meldete sich als Statist +für »Wallensteins Tod«. Er wurde sofort und freundlich angenommen. Denn +es war hier wie immer und überall: Nach den ersten Tagen der +Begeisterung waren von den angeworbenen und mühsam eingedrillten +Komparsen viele Dutzende abgefallen, hatten sich schriftlich +entschuldigt oder waren einfach weggeblieben. Er mußte gleich in die +Probe. Es handelte sich nur um zwei Szenen: die große Kürassierszene am +Schluß des dritten Aktes und die Mordszene am Ende des fünften. + +Vom Bureau aus schickte man Hans Thumser auf die Bühne. Aber den Weg +mußte er sich selber suchen und erfragen. Er wurde durch sechs bis acht +verschiedene Türen gewiesen, kam sechs- bis achtmal an das weglose Ende +dunkler, verschlossener Korridore, stieß sich die Schienbeine wund an +allerhand unbeschreiblichen, geheimnisvollen Gegenständen, welche in der +Finsternis herumstanden ... Endlich fand er ein eisernes Pförtchen, an +dem in Weiß die Aufschrift stand: Zur Bühne ... und voll Ehrfurcht trat +er in einen hohen, frostigen Raum, in dem im halben Tageslicht ein +Gewirr von hölzernen Lattenrahmen, mit grauer Leinwand überspannt, +erkennbar war. An diesen Wänden war vielfach die aufgepinselte Inschrift +zu erkennen: »W. T. III. Saal.« + +Man wies ihn an, eine hohe bretterne Treppe hinanzuklimmen, auf deren +oberem Podest er plötzlich ein seltsames Schauspiel sah: eine Wand wie +ein riesiges, aus zahllosen kleinen Scheiben bestehendes Fenster, hinter +dem der Treppenpodest wie eine lange Galerie sich hinzog. Das +Glasfenster lief jenseits der Treppe in eine eichene Tür aus, von der +aus dann eine andere Treppe zum Bühnenpodium hinunterführte ... Diese +Treppe aber war im Bogen geschweift und aus massivem, dunkelgebeiztem +Eichenholz mit schwerem Renaissancegeländer -- wenigstens sah sie so +aus. Unten ein dunkler, wuchtiger Saal mit Kamin, Gobelins, gepolsterten +Bänken an den Wänden, und da standen an siebenzig jüngere Männer und +lauschten andächtig der Instruktion des Oberregisseurs Burg. + +»Aha -- noch 'n Kürassier?« unterbrach dieser seinen Vortrag. »Kennen +Sie 'n Wallenstein?« + +»Auswendig ...« + +»Um so besser ... + + »Geselle Dich zu uns -- komm hier! + Es ist ein pudelnärrisch Tier ...« + +Also bitte weiter zu hören, meine Herren. Ihr wollt Euren geliebten +Oberst Max -- hier steht er, Barthel ist sein Name, Alexander Barthel, +na, Ihr werdet doch unsern großen, schönen Alexander kennen?« + +»Ja! ja!« murmelten die Kürassiere mit Begeisterung. + +»Also den wollt Ihr dem Friedländer -- das heißt mir! -- entreißen ... +Ihr bildet Euch nämlich ein, ich hielte ihn in Gefangenschaft. Einzeln, +truppweise strömt Ihr herein, und wie Ihr in den Saal kommt, seht Ihr +etwas ganz Unerwartetes: Euer Kommandeur ist nicht gefesselt, sondern +frei: nicht ich halte ihn, sondern etwas anderes, der stärkste Magnet, +den es gibt, natürlich ein Frauenzimmer: die da, meine Tochter Jucunda, +ich wollte sagen Thekla ...« + +Ein weißer Schatten im halbdunklen Raum: sie, die Erträumte, von tausend +Sehnsuchtsgedanken Umschwärmte, die Verkörperung des Mädchenideals +deutscher Jugend im neunten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts ... +da stand sie im fußfreien grauen Rock, eine schlichte graue Bluse um den +festen Oberkörper ... + +»Nun stutzt natürlich jede Gruppe,« fuhr der Oberregisseur in seiner +Instruktion fort, »und es verstummen die Rufe, mit denen Ihr einander +angefeuert ... Die erstaunten Blicke gehen von ihm zu mir, von mir zu +ihr -- befangen flüstert einer dem andern zu, was er sich bei der Sache +denken mag ... und so steht Ihr schweigend, mit gesenkten Schwertern ... +nichts ist vernehmbar, als das leise Rascheln der eisernen Rüstungen -- +bis Euer Führer sich an Euch wendet und Euch warnt, ihm zu folgen. -- +Schlagen Sie an, Barthel!« + +Und der schöne Alexander trat einen halben Schritt vor, sprach lächelnd, +mit halber Stimme: + + »Bedenket, was ihr tut! Es ist nicht wohlgetan, + Zum Führer den Verzweifelten zu wählen -- + Ihr reißt mich weg von meinem Glück -- wohlan, + Der Rachegöttin weih' ich Eure Seelen ...« + +»Bitte halt!« unterbrach Burg. »In diesem Augenblick richtet sich jeder +auf, die Augen blitzen mutig den Führer an: Herr befiehl! Wir sind Dein +-- führ' uns in die Schlacht, führ' uns in den Tod, wir folgen Dir ... +Das geht wie ein Ruck durch die ganze eisenstarrende Gesellschaft durch, +versteht Ihr? Und nun weiter, Barthel!« + + »Ihr habt gewählt zu eigenem Verderben -- + wer mit mir geht, der sei bereit zu sterben!« + +so schmetterte der schöne Barthel heraus, berauscht von der klingenden +Herrlichkeit seines erzenen Organs. + +»So -- und auf dies Wort wirft er sich herum und stürzt sich in Eure +Mitte -- mit einem einzigen Aufschrei des Jubels, des wilden, +todbereiten Jubels umringt Ihr ihn, so daß die Eisenmasse ihn +gewissermaßen einschluckt, die Schwerter schießen in die Höhe wie eine +schäumende Flut, die über seinem Helmbusch zusammenschlägt ... Noch +einmal taucht er auf, als er in Eurer Schar die Treppe hinaufstürzt, Ihr +hinter ihm drein; der Schwall wälzt sich durch die Galerie, im Gedränge +werden ein paar Glasscheiben eingestoßen und klirren schneidend in das +Getös des Sterbejauchzens, der Hörner hinein, die von drunten zum +letzten Kampfe werben -- und denn Vorhang und aus!« + +Mit sprühenden Augen, mit langhin malenden Gesten seiner hageren Arme +hatte der Oberregisseur die ganze ungeheure Szene aufgebaut vor den +Augen der lauschenden Statistenlehrlinge ... die brachen nun in lauten +Beifall aus, als ihr Meister aus der hinreißenden Beredsamkeit in einen +trockenen Ulkton am Schluß fiel ... + +»So, Herrschaften, nun zählt mal von vorne nach hinten ab, und jeder +merke sich genau seine Zahl!« + +Dann wurden die zweiundsiebenzig in sieben Gruppen eingeteilt nach der +Nummer, und jede bekam ihr Stichwort zugeteilt ... »Scheidet -- Gott!« +hieß dasjenige für die erste Gruppe -- »Dein ewig teures und verehrtes +Antlitz« das für die zweite -- und so fort. Und dann mußten sie alle +über die breite Renaissancetreppe zurück -- »damit Ihr Euch an die +Stufen gewöhnt,« -- und draußen in der Dunkelheit wurden sie vom +Inspizienten zu einzelnen Klumpen zusammengeballt und aufgestellt ... + +»Sind Sie fertig, Ruperti?« klang dann Burgs Stimme von drinnen. »Ja? Na +dann bitte -- ich fange an: Dreiundzwanzigster Auftritt, ich komme mit +Illo und Buttler die Treppe hinunter --« + +Und nun herrenhaft, mit grollendem Erzklang in der Stimme. »Terzky!« + +»Mein Fürst!« antwortete drinnen eine andere Stimme, erregt, geschmeidig +-- + + »Laß unsre Regimenter + Sich fertig halten, heut noch aufzubrechen, + Denn wir verlassen Pilsen noch vor Abend ...« + +Und auf einmal war alles im Fluß. Der Zauber wirkte, der ungeheure, dem +einst der zitternde Knabe erlegen war, im Barmer Stadttheater, auf dem +Eckplatz des zweiten Ranges ... nur daß der Jüngling nun hineinschaute +in das Innere des komplizierten Mechanismus, der das Wunder wirkte ... +und eine dumpfe Sehnsucht sprang auf -- diesen geheimnisvollen Apparat +einmal aus eigener Machtvollkommenheit heraus zum Funktionieren zu +bringen ... + +Gott ... welch ein Gedanke ... selbst einmal etwas zu schaffen aus der +Magie des eigenen Innern heraus ... etwas, das die hundert Geister +dieses dunklen Heerbannes zur Tat, zur Heeresfolge zwingen könnte ... + +Scheuer Knabentraum, bist du mehr als nur ein Traum -- bist du die +mystische Vorahnung kommender Kraft, der Vorklang künftigen Schicksals?! + +Und Gruppe auf Gruppe der jungen Männer wurde vom Inspizienten +losgelassen, tobte die Treppe hinauf, erstarrte droben in staunender +Verständnislosigkeit, schob sich dann scheu und verhalten drüben die +breite Treppe hinunter in den Saal, wo Max Piccolominis todgeweihte +Liebe ihren letzten Verzweiflungskampf mit dem Dämon der Eidespflicht +ausfocht ... + +Freilich, manchesmal empfing sie drunten ein Hohngelächter des +Spielleiters. + +»Ne, Kinder, so geht das nicht -- Ihr seid ja keine Verbrecherbande ... +Ihr macht ja auf einmal Gesichter, als hättet Ihr alle einen Sack +silberne Löffel gestohlen! Ihr seid Soldaten, wüste Kerle, schlichte +Burschen, die nicht recht verstehen, weshalb man eines Mädels wegen +soviel Umstände macht ... dazu ein Rest von Scheu vor dem geliebten, +gefürchteten Auge Eures Feldherrn, 'das Eure Sonne war in heißer +Schlacht' -- aber vor allem doch Trotz, Empörertrotz, verhalten, +verbissen, gedämpft, aber Entsetzen einflößend, Schauer aushauchend, +kalt wie das blanke Eisen in Eurer Faust -- so will ich's haben, so hat +der Schiller sich's gedacht!« + +Das alles klang nur durch die bemalten Lappen hindurch an Hans Thumsers +Ohr. Denn er gehörte ja zur allerletzten Gruppe ... er würde nicht viel +mehr zu sehen bekommen ... und er ahnte nur die Gegenwart des Mädchens, +um dessen Bild all seine Gedanken kreisten, ihr Bild, das ihm die Seele +dieser wundersamen Kunst erschien, die aus Schein und Flitter das +ungeheure Widerspiel des Lebens webt, wahrer als alle Wirklichkeit, +tiefer als alles reale Erdengeschehen ... + +Als er so in stummem Lauschen den Gang der gigantischen Maschine +verfolgte, die das werdende Werk schuf -- da sah er plötzlich aus der +Gruppe sechs ein Augenpaar mit hartem, feindlichem Ausdruck zu sich +herüberblitzen. Es waren Valentin Pilgrams Augen ... + +Im Nu war er an der Seite des einstigen Korpsbruders. + +»Pilgram, Du? Also endlich ... endlich seh' ich Dich mal wieder ...« + +»Hm ... hat Dir wohl wenig dran gelegen -- sonst hättest Du das +Vergnügen früher haben können ...« + +»Hast ganz recht, es ist meine Schuld ... es ist ein Skandal, daß ich +mich so gar nicht um Dich gekümmert habe ... Aber wenn Du wüßtest ... +ich will mich auch bessern, sei mir nicht bös ... Und nun sag' nur, wie +kommst Du hierher?« + +»Das könnte ich Dich fragen,« sagte Pilgram hart. + +»Nu -- ich ... Du weißt doch, daß ich Dich selber seinerzeit schon um +Erlaubnis gebeten hatte -- Du wolltest nicht ... Na, nun haben wir den +Volkner, der ... denkt ein bißchen anders über solche Sachen ...« + +»Jawohl ... und seid mich glücklich los ... gratuliere.« + +»Aber Pilgram! Du weißt doch, wie furchtbar leid es uns allen getan hat +...« + +»Dir auch?!« fragte Pilgram finster. + +»Ich versteh Dich nicht, Pilgram ... so wie Du und ich doch immer +miteinander gestanden haben ...« + +»Hm ... wenn Deine korpsbrüderlichen Gefühle für mich ... echt gewesen +wären ... dann hätten sie sich wohl ein bißchen besser gehalten ...« + +»Aber Pilgram --!« + +»Ruhe, meine Herren!« fuhr der Inspizient dazwischen. »Sie da, Sie +gehören doch überhaupt zur Gruppe sieben -- nu bleiben Sie gefälligst +aber auch bei Ihrem Haufen! Ausquatschen können Sie sich ja genügend, +wenn's hier aus geworden ist!« + +»Wir sprechen uns noch!« sagte Thumser und trat zu seiner Gruppe zurück. + +Himmel -- was hatte der Pilgram nur? Und wie schrecklich er sich +verändert hatte in den wenigen Tagen seit seinem Austritt aus dem +Korps ... Die Augen, tiefumrändert, waren in ihre Höhlen gesunken ... +der sonst so peinlich korrekte Anzug vernachlässigt ... die früher +straffen und sicheren Bewegungen unruhig und zerfahren ... + +Und Valentin Pilgram fragte sich: Wie ist es möglich, daß ich es bis +heute ausgehalten habe, diesen falschen Hund nicht zu stellen? -- Es +kann ja nur sein böses Gewissen sein, das ihn von mir ferngehalten +hat ... alle die Tage, die zwei Wochen seit ... damals ... + +Ha, warum hatte er's nicht getan? Aus Furcht vor ... einer neuen +Uebereilung ... einer neuen Blamage ... + +Daß Thumser seine Hand in dem schändlichen Spiele gehabt haben müsse, +das man ihm gespielt, das war ja klar. Der Briefbogen mit dem +Frankenzirkel und dem H. T. auf der Rückseite und mit Jucundas +Absagebrief auf der Vorderseite -- das war ja doch ein untrüglicher +Beweis. Mit Jucundas Absagebrief! Ja, ein Absagebrief, das war's, und +nichts andres! Die glatten, gleißnerischen Dankesworte, ihn, den +Desillusionierten, blendeten sie nicht mehr. Er verstand, sie hatte ihn +verleugnet, er hatte sie verloren. Aber wie kam der andere dazu? Welche +Rolle hatte er gespielt in dem Gewirr von Ränken und Tücken, von denen +Valentin Pilgram sich umstrickt sah? Das war nicht zu erraten und nicht +zu erfahren ... Und aufs Geratewohl abermals unbedacht zufahren mit +einem züchtigenden Wort, einem rächenden Schlag -- Valentin Pilgram +besaß nicht mehr die frühere Sicherheit des Handelns, seit sein Instinkt +ihn so schmählich in die Irre, in die Wirrnis, in die lächerliche +Don-Quichottiade hineingestoßen hatte. So hatte er von einem zum andern +Tage gewartet und gewartet in der dumpfen Hoffnung, daß irgend etwas +sich ereignen würde, das ihm Klarheit gäbe ... Er hatte auf ein +Wiedersehen mit Jucunda, auf einen Besuch Thumsers gehofft, auf eine +Aussprache mit ihr und mit ihm, in deren Verlauf er brüsk und +kategorisch die Frage hätte stellen können: Wie war das möglich? Wie ist +dieser Brief auf dieses Blatt geraten? Erklärt mir den Zusammenhang, +zerstreut meinen grausamen Verdacht und bekennt, bekennt und empfangt +den Lohn, den Euer Verrat verdient! + +Aber nichts von alledem war geschehen. So häufig er den teilnahmsvollen +Besuch seiner ehemaligen Korpsbrüder erhielt, so oft er mit ihnen am +dritten Orte zusammentraf -- der schlanke Fuchsmajor blieb aus. Und +Jucunda? Sie war wie aus der Welt verschwunden. Wohl hörte er abends ihr +Heimkommen aus dem Theater, ihr herzhaftes Gähnen, den energischen +Plumps, mit dem sie sich arbeitsmüde auf ihr krachendes Bettchen warf, +und nachts, wenn er sich schlaflos auf seinem Lager wälzte, ihr +geruhsames, selbstzufriedenes Schnarchen ... denn bei Gott, sie +schnarchte wie ein Mann ... Und morgens vernahm er wohl, wie sie leise +ihre Rollen repetierte. Ach, wie gern hätte er noch einmal den sonoren +Alt in seinem vollen Glanze von da drüben schmettern gehört! Aber sie +hatte einen Flor über ihr Organ gebreitet, und er fühlte, das war die +Scheu vor ihm. Und die gleiche Scheu mußte es sein, unter deren Druck +sie es darauf anlegte, ihm um jeden Preis aus dem Wege zu gehen. Es war, +als überwache sie sein Gehen und Kommen und richte ihre eigenen +Ausgänge, ihre Rückkunft danach ein. Oft legte er es geradezu darauf an, +mit ihr im Korridor, auf der Treppe zusammenzutreffen, aber wie ein +Geist war sie dann von hinnen gehuscht, hinter irgend einer Tür +verschwunden, die Treppe hinuntergeschnurrt ... + +Der tolle Wirrwarr von Wut und Sehnsucht, von Ekel und Hingebung, in dem +seine Tage, seine Nächte dahinrannen, trieb ihn immer und immer wieder +ins Theater. Und dann sah und hörte er nichts von dem Stück -- er sah, +er fühlte, er träumte nur Jucunda. In welcher Gestalt, welcher Maske, +welchem Gewande sie auf der Bühne stand, ihm galt es gleich. Er sah +nicht die Künstlerin, er sah nur das Mädchen, dem seine Seele wie sein +Leben verfallen war. Fiebernd, stumpfsinnig harrend ließ er die +Auftritte an sich vorübergehen, bis sie erschien. Von folternden +Schmerzen zermartert und doch an ihr Bild gebannt, weit vorgebeugten +Oberkörpers, verfolgte er jeden Schritt, jede Bewegung, bis sie wieder +die Bühne verließ oder der Vorhang fiel -- er hätte seinen Nachbarn an +die Kehle fahren können, wenn sie fanatisch Beifall trampelten, wenn sie +wie toll ihr »Buchner! Buchner!« riefen ... Und wenn's zu Ende war, dann +stand er draußen unter der harrenden Rotte der Verehrer, den Kragen +seines Paletots hoch aufgeklappt, den Hut tief in die Stirn geschoben, +sah sie vorüberschweben und mit königlicher Gnade ein Lächeln rechts, +ein Lächeln links verteilen, atmete tief und stöhnend auf, wenn der +Wagenschlag klappte, die Pferde anzogen ... Wenn aber nach der Premiere +die schäumende Begeisterung der Jugend abermals den gewohnten Triumphzug +entfesselte, dann stellte sich Valentin Pilgram inmitten derer auf, die +von hinten Jucundas Wagen schoben, und arbeitete im Schweiße seines +Angesichts. Dann war ihm am wohlsten, dann fühlte er sich ihr am +nächsten ... + +Und als er eines Tages auf den Anschlagsäulen ersah, daß der +»Wallenstein« in Vorbereitung sei, da fiel ihm Thumsers Bitte ein, +in diesem Stücke mit statieren zu dürfen. Damals hatte er als Senior +diese Bitte abgeschlagen, nun nickte er sich selbst ein bitter +lächelndes Ja, als eine Stimme in ihm befahl, er solle sich in die Schar +der Pappenheimer Kürassiere mischen, um den Geliebten aus Theklas Armen +und in den Schwertertod hineinzureißen ... Und so war er nun hier, in +dieser pappdeckelnen, bretternen Trödelwand. Nie hätte er sich's träumen +lassen ... Nun war er, der weiland Erste Franconias, ein Statist in +Gruppe sechs ... + +Die Probe ging ihren Gang. + +Wie eines Meisters Hände den bildsamen Ton, so knetete Franz Burgs +zielsichere Regie die Schar der zweiundsiebenzig jungen und älteren +Männer in eine Horde entfesselter Pappenheimscher Soldateska um. Immer +und immer wieder wurde eine Gruppe nach der andern die Treppe hinauf- +und hinuntergejagt, jedes Knurren der Wut, jedes Aufheulen der +Begeisterung wurde einstudiert, jede Bewegung, jeder Blick festgelegt +und in das tausendmaschige Gewebe des farbenleuchtenden Teppichs +eingefügt, den der Szenenmeister vor dem lauschenden Publikum zu +entrollen gedachte. Und immer klarer, immer überzeugender modellierte +sich das Bild des kurzen, erschütternden Vorganges heraus, wie die +todestrunkene Schar der Kürassiere sich ihren Führer aus den +Verstrickungen der Liebespflicht herausholt und ihn auf schäumender Woge +hinwegreißt in Tod und Vernichtung. Keiner spürte Ermüdung, keiner nahm +Anstoß am derbsten Poltern, am spitzigsten Spotte des eisernen Mannes, +der diese Zweiundsiebzig am Drahte seines Willens zappeln ließ wie +ebensoviel Marionetten. + +Und endlich schien's getan: tief aufatmend lachte Franz Burg: »So, +Herrschaften, ich denk', nun könnt Ihr's, jetzt kommt der Tragödie +zweiter Teil: Rüstungen verpassen! Also Pause zum Verschnaufen und dann +gefälligst gruppenweise hinauf zur Rüstkammer, dort laßt Ihr Euch die +klapprigen Konservenbüchsen um den Leib hängen, holt Euch Euren +Eisentopf und Eure Bratspieße -- und denn geht's wieder von vorne los!« + +Da leuchteten die ermüdeten Augen der abgejagten Schar wieder hell auf. +Das hatte ja nur noch gefehlt, das Kostüm, das vollendete die +Verwandlung, das brachte das Letzte an Stimmung, was noch fehlte ... Und +während die Gruppen zwei bis sieben sich plaudernd und lärmend in dem +dunklen Hintergrunde des schwarzgähnenden Bühnenraumes verloren, +kletterte Gruppe eins unter Führung des Inspizienten lachend und +prustend die hallenden Steintreppen hinauf, um droben das Eisengewand +der Pappenheimer anzulegen. + +Hans Thumser hatte sich vergebens den Kopf zerbrochen, weshalb wohl der +Korpsbruder so maßlos gereizt auf ihn sein könne. Himmel ja, er hatte +ihn ja unverantwortlich vernachlässigt in der letzten Zeit -- aber +schließlich war das doch kein Grund, ihn dermaßen hundemiserabel zu +behandeln. Na, man würde nochmals um Entschuldigung bitten, und dann +müßte der arme Kerl doch schließlich Vernunft annehmen. Also, wo steckt +er denn bloß? + +Gruppe sechs -- wo ist Gruppe sechs? jawohl -- alles durcheinander +gewürfelt, alles wie verschluckt von der schwarzen Finsternis dahinten +jenseits des Prospekts. + +Hans Thumser drängte sich durch die Gruppen der »Kürassiere«, rief hin +und wieder halblaut Pilgrams Namen, aber umsonst, der Freund ließ sich +nicht sehen -- schließlich postierte er sich unten an der Treppe, die +zur Rüstkammer hinaufführte. Aber selbst als Gruppe sechs, der er +angehörte, vom Inspizienten zum Empfang der Rüstungen geführt wurde, war +Valentin Pilgram nicht darunter. Es schien, er wolle sich nicht sehen +lassen ... und schließlich konnte Hans das am Ende begreifen: er war +eben böse, weil Hans ihn so schnöde vernachlässigt hatte. Nun, das ließ +sich am Ende nachholen ... + +Und mit ganz wunderlichen Empfindungen ließ sich auch Hans Thumser den +rasselnden Eisenharnisch der Pappenheimer Kürassiere um die +geschmeidigen Glieder schnallen. Es war ja nur Spiel, nur Mummenschanz +-- und doch, welch sonderbare Macht lag in diesem starren Eisengewand, +lag überhaupt im Kostüm! Hans meinte ordentlich zu fühlen, wie er ein +anderer wurde, wie schlichte, rohe und starke Gefühle aus +jahrhundertfernen Tiefen sich an die Oberfläche seiner Seele drängten, +wie er verschmolz mit der gepanzerten Schar seiner Gefährten ... + +Und nun hinunter! Die matt erhellten Korridore, der stockfinstere Raum +hinter dem Prospekt war nun von geheimnisvollem Rascheln und Klirren +erfüllt. Es war, als sei der Geist der Wallensteinschen Soldateska über +die ganze junge Schar gekommen: rauher und härter klangen die Stimmen, +derber und knapper die Scherze, das Gelächter. + +Und von neuem begann die Probe. Teufel! war das schwer, sich in diesem +niederwuchtenden Gewand, in den kolossal steifen Stulpenstiefeln zu +bewegen, den mächtigen Pallasch mit dem breit ausladenden Stahlkorb +nicht zwischen die Beine zu bekommen! Und nun gar die Treppen hinauf, +hinunter! Da verhedderte sich mancher in den handlangen stählernen +Sporen, stolperte, krachte zu Boden und mußte schwerfällig, wie eine +Schildkröte, von den Kameraden aufgerichtet werden. + +Und unten auf dem Podium inmitten des Schloßsaales stand Franz Burg und +hielt sich beide Seiten vor Lachen ... und neben ihm im Halbkreis +gruppiert: Thekla, Terzky, Illo, Buttler, Max Piccolomini -- und alle +lachten sie sich schier zu Tode über die stolpernde, prustende, +schwitzende Kürassiergarde. + +Und doch, allmählich klärte sich auch dies neue Chaos. Und endlich sagte +Franz Burg: + +»So, meine Herrschaften, nun fangen wir richtig zu probieren an! Also +bitte, Kürassiere von der Bühne, die Soloherrschaften an ihre Plätze!« + +Und abermals stand die harrende Schar der Eisenreiter im Hintergrunde zu +Füßen der schmalen Holztreppe versammelt -- und abermals klang's von +drinnen herrenhaft in grollendem Erzklang: + + »Terzky!« + »Mein Fürst!« + »Laß unsre Regimenter + Sich fertig halten, heut noch aufzubrechen, + Denn wir verlassen Pilsen noch vor Abend.« + +Und Gruppe auf Gruppe erhielt ihr Stichwort, Gruppe auf Gruppe klirrte +die Treppe hinauf, strudelte die Galerie entlang, ergoß sich in den Saal +hinab ... + +Als aber Gruppe sechs aus dem Finster der Bühnentiefe die Treppe +hinanstieg, sah Hans Thumser, daß Pilgram doch noch vorhanden war. Seine +riesige Gestalt, sein hartes Herrengesicht standen vortrefflich zu der +blanken Wehr -- aber kein Blick für den einstigen Korpsbruder ... + +Was er nur haben mochte? -- Das war doch Kinderei, so offiziell zu tun. + +»Also Gruppe sieben!« zischte der Inspizient. »Los! Los!« + +Und Hans Thumser keucht die schmalen Stufen empor, stößt wie die +Kameraden rauhe gurgelnde Töne aus, stutzt droben am Treppenrande, +stutzt und verstummt ... + +Aber nicht nur, weil es so probiert ist ... Im gelben Lichte +der Proberampe sieht er drunten Jucunda Buchners schmales +Prinzessinnengesicht ... aber jetzt nicht mehr wie vorhin, von Lachen +und Schelmerei gerötet -- nein, nun ist sie plötzlich Thekla, +das verzweifelnde Kind, das Liebe, Glück, Leben versinken sieht in +den eisenschäumenden Wogen des Schicksals. So abgrundtief, so +herzdurchbohrend der Ausdruck des Schmerzes auf ihren tränengefurchten +Wangen -- Hans Thumser kann den Blick nicht lassen von diesem Bild +adligen Grams ... + +Aber die Masse der Kameraden schiebt ihn vorwärts -- und plötzlich fühlt +er keinen Boden mehr unter seinen Füßen, er strauchelt, schlägt krachend +nach vorn, alle Glieder knacken -- tausend Feuerräder kreiseln in seinem +Hirn -- ein lauter Aufschrei übertönt das Knacken und Klirren der +hundert Eisenringel, die seine Glieder umschlossen halten und im Sturz +in Schulter und Schienbein sich hineinzwängen -- und dann nichts mehr. + +Eine hilflose Masse, so war des Studenten Körper die fünfundzwanzig +Stufen der Freitreppe hinuntergekollert, anfangs noch ein wenig +aufgehalten durch die Schienbeine seiner Vordermänner, dann aber, als +alles instinktiv zur Seite sprang, ganz hemmungslos. Nun lag er bleich, +mit geschlossenen Augen am Fuß der Treppe. Die Sturmhaube war ihm vom +Kopf gefallen und in weiten Sprüngen ihm voran in den Saal +hineingehüpft. Einen Augenblick hatte alles vor Schrecken erstarrt +gestanden, nun sprangen fünf, sechs der nächststehenden Kürassiere zu +und richteten den schwerfälligen Körper auf. + +Durch den Wall der Geharnischten aber drängte sich Jucunda Buchner +hindurch. Sie hatte den Jüngling straucheln und vornüber stürzen gesehen +und in dem Augenblick sein Gesicht erkannt, ohne daß sie gleich wußte, +woher. Nun kniete sie neben dem aufgerichteten Oberkörper des Studenten +nieder, umfaßte seine Schultern und legte seinen zerschundenen Kopf +behutsam auf ihr Knie. Und da schlug Hans Thumser die Augen auf -- und +in diesem Augenblick wußte Jucunda, wo sie diesen leuchtenden Blick +schon einmal gesehen hatte -- der junge Poet ... er, neben dessen +»schwindelschmalem Pfade Abgründe klafften rechts und links« -- nun, in +einen dieser Abgründe war er nun glücklich hineingeplumpst ... freilich, +es schien ihm ganz gut bekommen zu sein, denn mit einem zufriedenen +Lächeln schloß er die erstaunten Augen, reckte sich ganz behaglich und +machte sich's ordentlich bequem auf dem weichen Kissen, auf das er sich +gebettet fühlte. + +Und nun löste sich der allgemeine Schreck in ein befreites Aufatmen. Da +schlug der Student die Augen abermals auf, und nun schien ihm das +Komische seiner Situation bewußt geworden zu sein: mit einem Ruck +richtete er den Oberkörper auf, sprang auch sofort auf die Beine und +reckte die Knochen. + +»Na? Kein edlerer Teil entzwei?« fragte der dröhnende Baß des +Szenenleiters. Hans Thumser versuchte sich diejenige Stelle seines +Körpers zu reiben, welche bei dem Fall am meisten in Mitleidenschaft +gezogen war, aber das gelang ihm nicht -- sie war zu gut gepanzert ... + +Nun brach ein endlos dröhnendes Gelächter aus, dazu rasselten die +Rüstungen der Pappenheimer, die sich die eisenbewehrten Bäuche hielten. +Am hellsten aber lachte Jucunda. In einer raschen Wallung trat sie auf +den jungen Burschen zu und klopfte ihm mit beiden Händen die glühenden +Backen. + +»Dunnerwetter!« tönte da aus den Reihen der Kürassiere eine neiderfüllte +Stimme. »Ich wär' nächstens ooch mal de Treppe 'nunner purzeln!« + +»Na, ich dächte, nach diesem kleinen Zwischenfall probieren wir weiter!« +rief Burg, »also alles zurück, meine Herrschaften, und noch einmal von +vorne!« + +Hans Thumser war's nun aber doch zumut, als klapperten alle seine +Knochen einzeln und lose in dem großen Blechtopfe durcheinander, der sie +einschloß -- und er bat um die Erlaubnis, sie wieder zusammenzusuchen. + +Als dies gewährt worden war, trat er vorn an die Proberampe und kam +neben Jucunda zu stehen. Die lachte ihn an und flüsterte ihm zu: + +»Ich habe ja so lange nichts mehr von Ihnen gehört -- warten Sie nach +der Probe auf mich -- ich möchte wissen, wie es Ihnen inzwischen +ergangen ist!« + +Da wurde es Hans Thumser klar, daß er wieder mal mehr Glück als Verstand +gehabt hatte ... + +Noch eine weitere halbe Stunde voll schwitzenden Bemühens -- dann war's +geschafft. Und nun harrte der Student am Bühnenpförtchen seiner Göttin. +Er drückte sich in den dunklen Schatten der Donnermaschine und ließ den +Schwall der Geharnischten an sich vorüber strudeln. Und endlich kam sie +-- kam nicht allein, sondern am Arm der majestätischen Kollegin Frau +Anna Cederlund, welche die Gräfin Terzky spielte. Im ersten Augenblick +verließ den Studenten der Mut ... Als aber die beiden ragenden +Frauengestalten an ihm vorüberschritten, ohne ihn zu bemerken, da +sprach's in ihm: Sei kein Narr! Und er schoß aus seiner Finsternis +hervor, daß die Frauen ordentlich zusammenschraken. + +»Gnädigste haben mich zu sprechen befohlen!« + +»Ah, sieh da, Herr Dummerle! Nun? Was macht die Poesie? Gestatten Sie, +Annerl -- Herr Studiosus Dummerle, dichtet -- hat immer die Nase in der +Luft und purzelt deswegen mit Vorliebe die Treppen hinunter -- meine +Kollegin, Frau Cederlund. Ja, also was fang' ich nun mit Ihnen an? +Wissen Sie was? Sie könnten ja auch mal zu mir zum Tee kommen -- wollen +Sie?« + +»Darf es heute sein?« antwortete Hans Thumser. + +»Aber warum denn nicht? Also um fünf -- soll's gelten?« + +Hans Thumser konnte sich nur stumm verneigen -- tief, tief auf die +schlanke Hand, die sich ihm entgegenstreckte -- und dann war's vorbei +... + +Und wie ein Begnadeter stolperte Hans Thumser die hallenden Steintreppen +zur Rüstkammer hinauf, um sich aus einem Pappenheimer wieder in einen +Fuchsmajor zu verwandeln. Zwei Minuten aber, nachdem das Eisenpförtchen, +das vom Bühnenraum zum Garderobenumgang führte, hinter ihm zugeklappt +war, löste sich aus dem Dunkel der Kulissen noch eine zweite +Kürassiergestalt los. Die einsame Glühbirne, die am Inspizientenpulte +brannte, beleuchtete ein finstres, verzerrtes Jungmännergesicht unter +dem tiefschattenden Doppelschirm der Sturmhaube: es war das Gesicht des +weiland Ersten der Franconia. + + + + + 11. + + +Asta Thöny war ein wenig eingenickt nach dem bescheidenen Mittagsmahl, +das Frau Wehe ihr aufgetischt. Nun fuhr sie empor, flog ans Fenster, +steckte den glühenden Kopf hinaus und klatschte jubelnd in die Hände, +als sie die ersten Schneeflocken durch das mürrische Grau der +Sophienstraße wirbeln sah ... + +Köstlich! köstlich! Würde das ein fröhliches Streifen werden mit dem +geliebten Jungen durch dies wattige Weiß hindurch an der graulich +gurgelnden Pleiße entlang! Sie wußte, wie gut ihr die prachtvolle +Sealskingarnitur stand, das splendide Andenken ihres Rittmeisters in +Gera ... Und nun schmückte sie sich nach Herzenslust für den Leipziger +Freund. Ob er wohl schon daheim war? Sie klopfte an die Wand -- keine +Antwort. Na, er würde schon nicht auf sich warten lassen, um vier Uhr +hatte er ja versprochen sie zum Spaziergang abzuholen. -- Aber es wurde +vier -- und kein Hans Thumser! Na, vielleicht war er schon längst zu +Hause und lag drüben auf seinem Kanapee in den geliebten +Nachmittagsschlaf versunken. Sie hatte eine Tüte Pralinees für ihn +gekauft, sie kannte seine schwache Stelle. Die steckte sie in die +Jackettasche, hüpfte zur Tür hinaus und pochte an die seine; da keine +Antwort kam, klinkte sie auf -- und richtig -- da lag er auf dem Sofa, +lang hingestreckt, in Hemdsärmeln, das blinkende Korpsband über der +Weste. Auf Zehen schlich sie heran und hielt ihm die duftende Tüte unter +die Nase. Da schlug er blinzelnd die Augen auf, lachte sie fröhlich an +und breitete die Arme aus -- mit einem leisen Jauchzen warf sie sich +hinein. + +Nachdem sie sich satt geküßt, richtete sie sich stramm auf und befahl: + +»So, nun antreten zum Spaziergang!« (Die militärischen Allüren ihrer +jüngsten Vergangenheit saßen ihr noch in den Gliedern.) + +Aber statt des erwarteten Entzückens trat in Hans Thumsers Züge +plötzlich eine peinliche Befangenheit, und ein Erröten stieg ihm langsam +in die Augen. + +»Nun, was ist Dir?« + +»Liebes Kind, ich bin trostlos ... Spaziergang ist nicht.« + +»Was ist das? Was fällt Dir ein!« + +»Ja ... ich ... ja ... ich ... es tut mir entsetzlich leid ... aber ... +wir haben heute nachmittag C. C. ...« + +»Das ist abscheulich, Hans! Wie kommt denn das, was ist denn los?! Und +ich hatte mich doch so gefreut, habe mich so hübsch für Dich gemacht, +das hast Du Ungeheuer überhaupt noch gar nicht bemerkt!« + +»Ob ich das bemerkt habe! ... aber -- es tut mir riesig leid, Du weißt, +das Korps spaßt nicht.« + +Asta sah, daß er ihren Blick vermied -- lügen hatte er noch nicht +gelernt. + +»Du, das mit dem C. C. das ist geschwindelt, da steckt was andres +dahinter! Beichte!« + +»Aber nein ... ganz wahrhaftig, Kind, wir haben C. C., Du kannst Dich +drauf verlassen.« + +»Sieh mich an, Hans --! Siehst Du, Du kannst es nicht --« + +»Aber ja ... ich kann's.« + +Nein wahrhaftig, er konnte es nicht. + +»Also heraus damit! Was ist los?« + +Sie stampfte mit den zierlichen Füßen auf, die in mächtigen +pelzbesetzten Boots steckten. + +Hans kämpfte einen Augenblick, dann sah er ihr gerade ins Gesicht mit +dem Ausdruck eines trotzigen Buben, der sich auf einer Schandtat ertappt +sieht: + +»Die Buchner hat mich zum Tee geladen.« + +»Das ist nicht wahr! Das darf nicht wahr sein!« + +»Aber warum soll ich denn nicht auch mal zur Buchner zum Tee gehen?« + +»Weil Du mir gehörst. Das gibt's nicht. Da wird nichts draus.« + +»Ich hab's versprochen.« + +»Dann bleibst Du eben einfach weg. Die Buchner weiß ganz genau, daß Du +mein bist. Es ist eine Niedertracht von ihr -- ich laß mir's nicht von +Dir gefallen!« + +»Und ich laß mir's nicht von Dir gefallen, daß Du über mich verfügst, +wie über ein Spielzeug.« + +»Hans, so darfst Du nicht zu mir sprechen, das weißt Du auch, daß Du +das nicht darfst! Du hast auch ein böses Gewissen dabei!« + +Hans Thumser ging mit drei raschen Schritten ans Fenster und trommelte +an die Scheiben. Wahrhaftig, sie hatte recht -- es war ihm hundeelend +zumute -- nichts als Liebes hatte sie ihm getan, weit über Hoffen und +Träumen hinaus hatte sie ihn glücklich gemacht ... und er -- er hatte +immer über sie hinweg geträumt von der andern. + +»Nun, hast Du Dich besonnen -- kommst Du mit mir?« + +»Ich kann's nicht ... ich hab's versprochen.« + +»Und mir? -- Wem hast Du's zuerst versprochen, mir oder ihr?« + +»Aber Kindchen, das mußt Du doch einsehen ... daß das für mich -- wie +soll ich sagen -- daß das für mich eine große Sache ist ... schließlich +ist sie doch ... die Buchner.« + +»Ach so -- und ich, ich bin nur die Thöny, die kleine Thöny, und sie die +große Jucunda! Hansel, das wird Dir noch mal leid tun!« + +Laut aufweinend stürzte sie hinaus ... die Schleppe ihres Pelzjacketts +fegte die Pralineetüte vom Tisch, und alles kollerte in die Stube. Hans +Thumser mußte aufsammeln. Dabei glühten seine Backen vor Scham. Es war +wirklich hundsgemein von ihm, das herzliebe Mädel so ruppig zu versetzen +-- er fühlte, er hatte sie bis ins Tiefste gekränkt. Mit hundert +Gewalten zog's ihn hinüber, die Tränen von den schönen Augen +wegzuküssen, die ihm so manche Stunde durchsonnt hatten ... und dann +fiel sein Blick auf Jucundas Bild, auf das bronzene Heroinenprofil, das +unterm Helm der Jungfrau so sieghaft leuchtete. -- Und er wußte, daß +zehn Astas diese Stunde nicht aufwiegen würden, die ihm bevorstand. + +Er lauschte -- wieder wie in jener ersten Nacht klang da drüben jenseits +der Doppeltür und der beiden Kleiderschränke, die sie verbarrikadierten, +das herzerschütternde Weinen ... aber diesmal nicht verhalten wie damals +-- nein -- in wilder leidenschaftlicher Empörung. -- Und diese, diese +Tränen hatte er auf dem Gewissen ... + +Und das war so niederträchtig, so infam: daß man im tiefsten Grunde +seiner Seele sogar noch etwas wie eine Genugtuung empfand über diese +Tränen, die man selbst verschuldet hatte. War es nicht eigentlich ein +verdammt stolzes Gefühl, daß man ein Kerl war, um den so heiße +Mädchentränen fließen konnten? + +Hans Thumser warf einen Blick in den Spiegel: also so sieht so ein +verfluchter Gesell aus, um den ein Mädchen wie Asta Thöny -- Tausende +würden ihn beneiden um so einen süßen Kameraden! -- um den so ein +himmelsüßes Geschöpf sich quält? + +Und mit einem verwegenen Ruck stülpte er die grüne Franken-Mütze auf den +braunen Schädel und ging zu Jucunda Buchner. + + +War's nicht eigentlich toll? Hans Thumser war in einer ganz +niederträchtig vergnügten Stimmung, als er durch das wirbelnde +Flockengestiebe den Peterssteinweg, die Petersstraße hinanschlenderte. +Jedem Mädel guckte er verwegen, wie er's nie getan, unters Pelzbarett: +Ja, wenn ihr wüßtet, ihr Leipziger Gänschen --! Eben hab' ich die Asta +Thöny geküßt ... die von den Meiningern, ihr wißt doch! Und nun -- nun +gehe ich zur Buchner ... und wer weiß -- wer weiß! So ein Kerl bin ich, +verflucht nich noch mal! + +Als er den schneebepuderten Marktplatz überquerte und in die +Katharinenstraße einbog, fiel ihm plötzlich ein, daß er ja nun endlich +den Weg zu Valentin Pilgrams Wohnung gefunden habe. Der arme Junge! Ob +der wohl auch schon mal von Jucunda Buchner zum Tee geladen worden war? +Wohl schwerlich -- und doch, was alles hatte der an dies Mädchen gesetzt +... und er --? Er hatte nichts getan, und alles fiel ihm in den Schoß. +Teufel auch -- man war eben ein Poet, ein Götterliebling --! nischt wie +verdammte Pflicht und Schuldigkeit vom Schicksal! + +Ob er den armen Burschen wohl mal aufsuchte? Eigentlich hätte sich's +gehört ... daß er gekränkt war, lag ja auf der Hand nach seinem Benehmen +von heut morgen ... aber freilich ... erst zu Pilgram gehen und dann +sich von ihm verabschieden mit der Erklärung, man sei zu Jucunda Buchner +zum Tee geladen -- das war doch wahrhaftig mehr eine Kränkung, wie die +Dinge nun einmal lagen, als die Erfüllung der längst geschuldeten +Freundschaftspflicht. Also lassen wir's doch lieber ... + +Glücklicherweise, im letzten Augenblick, fiel's ihm ein, daß er ja noch +ohne Blumen war. Er fand eine Gärtnerei, wählte die herrlichsten Rosen, +die es gab, und erschrak nicht im mindesten, als die Verkäuferin ihm +fünf Mark abverlangte. Denn diesmal war's ja in der ersten Hälfte des +Monats und nicht Ultimo, wie damals, als er mit dem gepumpten Markstück +ein Dahliensträußchen für Asta erstand ... Und so bewaffnet bis an die +Zähne kletterte er die wohlbekannten Stufen im dunklen Treppenhause +empor und zog die gellende Klingel an der Korridortür des Kanzleirats +Buchner. + +Eine stattliche Frau öffnete ihm. Er erkannte in ihr sofort Jucundas +Begleiterin von jenem ersten Triumphzuge wieder. Alle Wetter ja, seine +Idee von damals hatte Schule gemacht ... das blitzte ihm so durch den +Kopf, als er seiner Führerin durch den dunklen Korridor folgte, bis sie +haltmachte und anklopfte. + +»Bist Du es, Mutter?« tönte von drinnen die wohlbekannte Stimme ... die +Stimme, die durch sein Wachen und seine Träume klang. So hatte sein +junges Herz noch niemals an die Rippen gehämmert ... auch nicht bei +Beginn des Abiturienten-Examens ... auch nicht vor der ersten Mensur. + +»Hier ist der Herr, wo Du zum Tee hast eingeladen!« + +»Herein -- nur herein!« + +Die Tür sprang auf, und als dunkle Silhouette gegen die schimmernd +weißen Vorhänge abgehoben, stand Jucunda. Mit ausgestreckten Händen kam +sie ihm entgegen: + +»Wie freue ich mich! -- Die Poesie bei mir zu Gast ... das ist das +erstemal. Laß uns allein, Mutter.« + +Hans warf einen Blick in der Stube umher. Tausend ja, hier sah's anders +aus als damals bei Asta. Jucunda, das sah er sofort, hatte nicht +vergessen, daß sie sein Kommen gewünscht -- alles war sorgfältig für +seinen Empfang vorbereitet, der Tisch zierlich gedeckt und mit Rosen +bestreut, die Teemaschine dampfte, Zigaretten, Zigarren standen bereit, +eine gehäufte Schüssel Gebäcks. Und ringsum herrschte Ordnung, +Sauberkeit, noch mehr: Schönheit ... oder doch wenigstens die deutliche +Absicht sie hervorzuzaubern ... überall Blumenarrangements und Körbe +lebender Pflanzen, an den Wänden die welkenden Lorbeerkränze mit +riesigen langflutenden goldbedruckten, goldbefransten Atlasschleifen. +Uebers Bett aber war ein hermelinbesetzter Mantel von Purpursamt +königlich hingebreitet, und ein frischer Strauß tiefdunkelroter Rosen +lag oben drauf. Alles war abgetönt mit einem naiven Sinn für Eleganz und +Repräsentation. + +Hans Thumser sah nicht, daß die Möbel abgeschabt, die Bezüge +verschlissen waren, fühlte nicht, daß der Stuhl wackelte, auf den +er sich setzte, der Tisch, auf dem das Teegeschirr brannte ... auch +nicht, daß die Tassen gesprungen waren, und hier und da gar ein Henkel +fehlte ... ihm war zumut, als sei er in einem Königsschloß, in einem +Märchenpalast. Und wie eine Königin erschien ihm auch Jucunda. Sie +trug ein lang hinschleppendes Spitzenkleid, das ihm vorkam wie eine +märchenhafte Kostbarkeit -- er konnte ja nicht beurteilen, daß es +maschinengewebte Spitzen waren, nur bestimmt auf die Entfernung zu +wirken -- er war im Bann, im Traum. Und nur die eine Empfindung +durchdrang ihn mit wohligen Schauern: hier war er erwartet, hier hatte +man Staat für ihn gemacht, hier wollte man ihn ehren, ihn entzücken. + +Er saß ganz still, als Jucundas große, schlanke Hände den Tee +bereiteten, und sah nichts als das anmutige Spiel der elfenbeinfarbenen +Arme, die aus den Spitzenärmeln hervorlugten: + +»Erinnern Sie sich noch, daß wir schon einmal beim Tee zusammengesessen +haben?« + +»Wie können Sie fragen, gnädigstes Fräulein! Ich habe seitdem von nichts +geträumt, als daß dies einmal kommen könnte ... dies, was jetzt ist.« + +Jucunda stellte den dampfenden Tee vor ihn hin, sah ihn von oben her mit +ironischem Lächeln an und fragte: + +»Und Asta?! Haben Sie die Courage gehabt, ihr zu verraten, daß Sie heute +bei mir sind?« + +»Warum sollte ich nicht? Das ist doch nicht verboten!« + +»Nun, und was sagte sie?« + +Hans wurde rot. Ob Asta geschwatzt hatte? Ob Jucunda wußte, wie er mit +ihr stand? + +»Sehen Sie wohl,« lachte das Mädchen, »Sie können nicht antworten -- Sie +haben Schelte bekommen --! Dacht' ich mir's doch.« + +»Ich wüßte nicht, daß irgend jemand das Recht hätte mich zu schelten,« +sagte der Student etwas kleinlaut und trotzig. + +»Sagen Sie das nicht!« sagte Jucunda. »Wohltun verpflichtet -- oder ist +die ... Episode schon zu Ende?« + +»Welche Episode?« + +»Fragen Sie nicht so dumm!« + +Hans Thumser sah sich durchschaut. Aber wenn Jucunda doch wußte, daß +Asta immerhin doch gewisse ... Ansprüche geltend machen konnte ... warum +hatte sie ihn geladen, was wollte sie von ihm? Er richtete sich auf: + +»Gnädiges Fräulein, ich glaube nicht, daß Sie mich zu sich gebeten +haben, um mir klar zu machen, daß ich eigentlich wo anders hingehörte.« + +»Da haben Sie recht,« lachte die Schauspielerin, »Sie sind nun einmal +hier, nun seien Sie's auch ganz. Asta ist tot, es lebe Jucunda, nicht +wahr?« + +Sie streckte ihm die Fingerspitzen hin, er neigte sich darüber. + +»Nun, blaue Flecke von heute morgen?« + +»An allen Gliedern!« gestand Hans. »Na, irgend etwas muß der Mensch doch +schließlich tun, um eine solche Stunde zu verdienen.« + +»O, seien Sie nur ruhig, man wird von Ihnen vielleicht noch mehr +verlangen!« + +»Verlangen Sie.« + +»Was macht Ihr Korpsbruder Pilgram?« + +»Mein ... früherer Korpsbruder, wollten Sie sagen.« + +»Hm ... er tut mir so leid, aber ich habe ihm nicht helfen können, er +hatte es gar zu eilig, sich in die Bredouille zu stürzen -- also, was +treibt er? Erzählen Sie!« + +»Ja, haben Sie ihn denn heute morgen nicht bemerkt?« + +»Wo? doch nicht etwa auch unter den Kürassieren?« + +»Gewiß! der Längste und Schönste unter den Pappenheimern.« + +»Nein wahrhaftig -- er ist mir nicht aufgefallen! Er hat sich ja auch +nicht so bemerkbar gemacht wie Sie!« + +»Ja, es hat eben nicht jeder den Dusel, über fünfundzwanzig +Treppenstufen Ihnen geradewegs vor die Füße zu kollern.« + +»Wie denkt er denn über mich und -- über die ganze Affäre?« + +»Das weiß ich nicht. Ich schäme mich es zu gestehen, aber ich sah ihn +seitdem nicht mehr -- meine Schuld -- doch was will ich machen? Wenn ich +nicht Franke bin, so bin ich Meininger, in jeder Stunde, Tag und Nacht. +Ach, gnädigstes Fräulein, ich habe nie gedacht, daß es so etwas gäbe, +daß man sich so ganz verlieren, so ganz vergessen kann! Ich lebe wie im +Fieber -- mir ist, als hätte ich Flügel -- ich möchte tausend Augen, +tausendfache Sinne haben, um all das festzuhalten, was in mir strudelt +und braust. Was für Hexenmeister seid Ihr: alles, was ich ahnte, wenn +ich in meinem Knabenstübchen die großen Dichter las, ist Leben geworden, +Wirklichkeit, Erfüllung ... Und damit nicht genug, ich selber, ich +schaue nicht nur, ich selber stehe mitten drin, in all dem Schwall -- +ein Strom von Glück und Sehnsucht braust unter mir und wirbelt mich auf +und nieder. Wo soll ich hin mit all dem Drang -- wo soll ich hin?!« + +Lächelnd hob Jucunda die Hand und streichelte die glühenden Wangen des +Jünglings, wie sie es heut morgen im Theater getan. + +»Sie Dichter!« sagte sie, »Sie Dichter --! Lassen Sie es doch brodeln +und gären, lassen Sie's doch! Machen Sie Gedichte daraus, schön wie das, +welches Sie mir damals sprachen ... so schön und schöner noch!« + +»Ja,« sagte er, »das will ich tun ... später einmal, später, wenn alles +das vorüber ist ... denn ich weiß ja, es währt nicht ewig ... acht Tage +noch, dann zieht Ihr fort ... und ich bin wieder, was ich war -- ein +armes Studentlein, Franconiae Fuchsmajor, einer von Tausenden -- und um +mich ist wieder nichts als Bier und klirrende Speere und Drogenwelt und +die Dutzendgesichter meiner Kommilitonen -- o Gott! wie soll ich das +ertragen! Ich weiß, ich werde irgendeine Dummheit machen -- ich laufe +fort, in die weite Welt, dahin, wo Ihr seid -- wo Sie sind, Sie +wunderbarer Mensch -- Sie Zauberin!« + +»Das werden Sie nicht tun!« sagte Jucunda. »Ich weiß, daß Sie das nicht +tun werden -- ich weiß, Sie werden dann stille Stunden der Besinnung +haben ... es wird Ihnen werden, wie es denen gewesen ist, deren Verse, +deren Szenen wir abends sagen und gestalten. Sie werden dichten -- +glauben Sie's mir.« + +»Ach, wenn das wahr wäre -- wenn das möglich sein könnte!« + +»Es wird so sein,« sagte Jucunda. Ihre Stimme war weich, ihre blauen +Augen hingen an den braunen des Knaben. Soviel lebendige Dichter +hatte sie nun schon gesehen in ihrem Leben: was waren das alles für +reservierte, verbrauchte, zermürbte, grauköpfige Herren gewesen -- +wie hatten sie gezittert hinter den Kulissen, wenn ihre Stücke vom +Stapel gingen, da draußen -- wie hatten sie ängstlich auf den Applaus +gelauert, wenn der Vorhang sank, wie hilflos sich hinausziehen lassen +ins blendende Rampenlicht, um sich linkisch und schweratmend nach dem +schwarz gähnenden Zuschauerraum hin zu verneigen, wo das Publikum über +das Schicksal ihrer Schöpfungen entschied! -- Dieser hier war noch ganz +Poet, er wußte noch nichts von all dem Gräßlichen, das auf ihn wartete +hinter den grauen Schleiern, die seine Zukunft verhüllten, ihn trennten +von diesem schauderhaften Leben des angstvollen Ringens um Erfolg, +um Gold und Lorbeer, in das sie selbst, die Achtzehnjährige, schon so +tiefe Blicke hineingetan. In ihm sprudelten noch ganz ungetrübt die +heiligen Quellen der Phantasie, darinnen Sonn' und alle Sterne sich +spiegelten ... + +Einen Augenblick war's ganz still im Zimmer -- der Tee wurde kalt in den +Tassen, und sein Duft mengte sich mit dem Rosenhauch, mit den blauen +Wölkchen der Zigaretten, die durch die Stube kräuselten. Von der Straße +her fiel der erste Laternenschein in die umdunkelte Stube und ließ die +goldigen Schriften der Kranzschleifen matt aufglimmern. -- Mit langsamen +Bewegungen stand Jucunda auf, um Licht zu machen. + +»Nicht doch,« wehrte Hans -- »nicht Licht machen ... es ist so schön +so.« + +»Aber anders ist es besser!« sagte Jucunda mit leisem Lächeln und +entzündete die Lampe. Und wieder ließ sie sich in das Sofa fallen und +neigte den flechtenbeschwerten Kopf auf die Lehne zurück. + +Wie seltsam das doch war --! Sie kannte so viel Männer von Geist und +Rang ... wie kam's, daß ihr heut zumut war wie nie zuvor --? War's die +Kraft, die ungebrochene, die ihrer selbst noch unbewußte, die sie ahnte +in den Tiefen dieser empor sich ringenden Seele? War's die edlere Rasse, +die sie witterte, sie, das Kind einer enggebundenen Welt, einer Welt +ohne Schwung und Größe? Sie war Künstlerin genug, dies alles zu ahnen, +was in dem jungen Menschen da vor ihr wirkte und wallte ... + +Und Hans fragte sich immer wieder im stillen, ob das denn wahr, ob das +denn möglich sei ... ob das Leben wirklich so schön sein könne, so +maßlos reiche Gaben spende ... + +Still war's. Von der Katharinenstraße heraus klapperten behäbig +trottende Pferdehufe, der Schritt der Fußgänger, die von ihrer Arbeit +heimwärts steuerten. + +»Wie gut,« sagte Jucunda, »daß ich heut abend mal ausnahmsweise nicht +spiele, so gehört uns diese Stunde wenigstens ganz!« + +»Und wehe dem, der kommen wollte sie uns zu stören -- Sie wissen das +alles ja gar nicht -- Sie wissen nicht, was das alles mir bedeutet, was +Sie mir bedeuten -- ich weiß es selber erst seit wenig Augenblicken. Ich +denke zurück an zwei Abende meiner Jugend, die der Wendepunkt waren, ich +fühle es nun. Ihr spieltet daheim, in dem alten engen Stadttheater an +der Rathausbrücke -- Sie waren eben entdeckt worden, ein märchenhaft +aufleuchtender Stern -- und ich, ein sehnsüchtiger Primaner droben auf +dem zweiten Rang im »Wallenstein« -- Sie drunten als Thekla mit der +Laute in den rotsamtnen Vorhang geschmiegt, weißleuchtend abgehoben von +dem riesigen Glasfenster, durch das die sternlose Nacht hineingähnte. +Sie sangen Ihr Lied, Sie wissen's ja -- Sie singen's übermorgen wieder +-- Und wissen Sie, wie ich Sie empfand? Sie waren die leuchtende Seele +des gigantischen Gedichts, Sie waren die Schönheit, die versinken muß +unterm erbarmungslosen Schritte des Schicksals -- Sie waren die Tugend, +die zermalmt wird von den geifernden Kinnbacken des Verbrechens, Sie +waren ... das Ideal, das waren Sie ... ach! und Sie sind's mir +geblieben. Jetzt fühl' ich's, daß Sie immer mit mir gegangen sind in den +zwei Jahren -- und nun, ist's möglich! Nun sitze ich Ihnen gegenüber, +könnte Ihre Hand erreichen, wenn ich's wagte, darf in Ihre Augen sehen +und fühlen: das Geschick meines Lebens ist über meinem Haupt.« + +Seine Stimme zitterte -- die braunen Augen leuchteten, der Atem flog. + +»Und dennoch --« sagte Jucunda langsam, großäugig -- »und dennoch haben +Sie Asta Thöny geküßt.« + +»Ja, Jucunda, ich habe Asta Thöny geküßt. -- -- Wie soll ich Ihnen das +erklären -- sie war die erste, die kam, damit ist alles gesagt. Sie hat +mich genommen, weil alles in mir nach der Erfüllung lechzte, die nur +Jucunda heißen durfte. Ach! so ist's wohl stets im Leben, daß man sich +bescheiden muß und dankbar sein, wenn man Kupfer bekommt für Gold. Das +andere, das ganz große Glück, das gibt's ja nicht, das darf's ja gar +nicht geben -- denn gäb' es das, wir wären Götter und nicht Menschen ... +und Götterschicksal erträgt sie ja wohl nicht, diese arme, irdische +Seele, dieser schwache, tönerne Leib. -- Und doch, ich fühl's: daß ich +das habe tun können, daß ich, Ihr Bild im Herzen, die andere umarmt +habe, das hat mich Ihrer unwert gemacht und unwert auch all dessen, was +ich mir an eigenem Wert und Werden erträumt habe. Ja, Jucunda, ich habe +Asta Thöny geküßt -- und nun muß ich ja wohl auch gehen, nicht wahr?« + +Er war aufgestanden, gesenkten Auges stand er neben ihr. Da griff sie +nach seiner Hand: + +»Du lieber, süßer, dummer Junge, Du ... Hans Thumser, kleiner dummer +Bub, komm, sei vernünftig, setz' Dich mal her zu mir aufs Sofa. Ja, es +ist schade, lieber Freund, daß Sie so zu mir kommen -- aus den Armen der +andern. Aber vielleicht bin ich selber dran schuld ... warum habe ich +Sie nicht erkannt beim erstenmal, da wir uns sahen? Ich, ich bin in +Ihrer Schuld, ich war in Wirklichkeit die Dumme ... die Blinde ... Doch +was tut's, das alles? Ich will, daß es nicht gewesen sein soll -- und es +ist fort -- ich wisch' es aus, ich streiche den Namen Asta Thöny von der +Tafel Deines Lebens ... Und nun ist nichts mehr da als ich, nicht, mein +Hans?!« + +»O nichts, nichts als Du --!« stammelte er und sank neben dem Sofa in +die Knie. Seine glühende Stirn sank in ihren Schoß, ihre weißen Hände +glitten über seine braunen Locken. -- Da richtete er sich auf, irren +Auges, die Wangen feucht, und sah sie an, so ganz Inbrunst, Ergebung und +Verlangen, daß es sie niederzog zu ihm. Sie umschlang seinen Nacken, +ihre Lippen hingen über den seinen. + +In diesem Augenblick wurde heftig an die Tür geklopft. Die beiden jungen +Menschen fuhren empor -- das war nicht wahr, das durfte nicht sein ... +aus solchem Traume gibt's kein Erwachen, eh er zu Ende geträumt ist. Und +doch -- es klopfte abermals. + +»Jucunda, darf' ich 'rein kommen?« klang Frau Buchners fette Stimme. + +Die beiden Kinder richteten sich auf. Die mühevoll eindressierte +Haltung, sie versagte nicht in diesem trauervollsten Augenblick. Im Nu +saß Hans Thumser auf seinem Stuhl, ganz Korpsstudent, ganz korrekter +junger Gentleman -- und sie, ihm gegenüber, auf dem Sofa, ganz Dame, +ganz Komödiantin: + +»Bitte, Mama ...« + +Frau Buchner trat ein, mit einem Lächeln des Triumphs auf den Lippen. +Ein wenig stutzig sah sie von einem zum andern, doch ihr prüfender +Mutterblick fand keine Spur, die Besorgnis erregt hätte. + +»Nu, Jucunda, was sagste nu?« Mit spitzen Fingern hielt sie eine +Visitenkarte in den Bereich der Lampe, eine vielzackige Krone darauf und +darunter die Worte: + +Heribert Hans Herwig, Erbprinz von Nassau-Dillingen + +»Was?« rief Jucunda, »er ist draußen?« + +»Ei, herrjemerschnee! Ne so was -- ne so was ... Natierlich ist er +draußen -- in höchsteigener Person! Soll ich 'n 'rinlassen?« + +Mit einem Blick hatte auch Hans Thumser die Schrift auf der Karte +entziffert, der zweite flog mit schreckhafter Spannung zu Jucunda +hinüber. + +Und -- sie? Das Gesicht, das ihm eben geleuchtet hatte wie der Genius +seines Lebens selbst, es hatte den Ausdruck völlig gewandelt: ein dünnes +Lächeln befriedigter Eitelkeit spielte um die schmalen, herrischen +Lippen, die Augen flackerten einen Augenblick in unstetem Sinnen, die +Stirn hatte sich gekraust. Aber schon war der kurze Kampf zu Ende: + +»Selbstverständlich, Mama. Sie haben ja wohl nichts dagegen, Herr +Thumser, wie? Der Herr ist ja doch ein Korpsbruder von Ihnen.« + +Mit einem Ruck war Hans Thumser emporgeschnellt: + +»Dann verzeihen Sie wohl, wenn ich mich empfehle, mein gnädigstes +Fräulein -- ich wünsche nicht zu stören.« + +»Aber ich bitte Sie, was heißt stören? Wir könnten ja so nett zu dreien +...« + +Starr und förmlich verneigte sich der Student: + +»Adieu, meine Damen.« + +Er griff nach seiner grünen Mütze, die auf einem Stuhl an der Tür lag, +dem spanischen Rohr mit Silberbeschlag, das daneben lehnte, und schritt +hinaus. + +Im engen Korridor stand der Erbprinz, in Ueberrock und spiegelnden +Lackschuhen, den Zylinder in der Hand, die Scherbe im Auge. Sein Gesicht +wies den Ausdruck blöder Verblüffung. Mit einer kurzen Verneigung +stürmte Hans Thumser an ihm vorüber und ließ die Korridortür ins Schloß +fallen. + + + + + 12. + + +Vor ihrem Bett war Asta Thöny in die Knie gesunken und hatte geweint, +wie nie zuvor in ihrem Leben -- und doch, wieviel Tränen waren schon +über ihre vergangenen Tage geflossen ... Wie teuer hatte sie die +flüchtigen Augenblicke des Glücks erkaufen müssen, zwischen denen nichts +gewesen war als Kampf -- Kampf mit zusammengebissenen Zähnen -- Hunger +und Verzicht -- Abschied und Sehnsucht ... Und nun war's wieder einmal +tief, tief dunkel geworden um sie her ... + +Sie sprang in die Höhe. Die eingeschlossene Luft in dem engen Stübchen +preßte ihr die Brust zusammen -- sie riß das Fenster auf: da draußen auf +der Sophienstraße noch immer das Flockentreiben und all die Fenstersimse +der schwarzen Häuserzeilen schon weiß überlagert, die Straßen drunten +wie versunken unter der weißen Last -- die aufgespannten Regenschirme +bestäubt, die Hutkrempen, die Mäntel schneebepudert. Da hinein, in dies +wehmütig tolle Treiben hatte sie mit dem Liebsten schwärmen wollen -- da +hinein zog's sie nun, die glühenden Augen zu kühlen, die schneidende +Luft in tiefen Atemzügen in die schmerzende Brust zu saugen. + +Einen kurzen Blick warf sie in den Spiegel und sah ihre Lider, ihr +ganzes Gesicht fieberisch gerötet. Sie suchte den dichtesten Schleier, +den sie hatte, und knüpfte ihn fest ums Gesicht. Dabei fiel ihr Auge auf +die schönen neuen pelzgefütterten Glacéhandschuhe. Sie waren ganz +verdorben vom Strom ihrer Tränen ... ach, wie gleichgültig das war. + +Nun war sie drunten auf der Straße -- wie dunkel es schon war um diese +frühe Nachmittagsstunde -- wie sie emporblickte, lag's über den Dächern +wie eine graue Decke, aus der es unablässig niederrieselte. Im Nu trug +auch sie die Livree des Winters. + +Den wirbelnden Flockenschauern entgegen stapfte sie gen Westen, kreuzte +die Zeitzer Straße und überschritt auf schmalem Brückchen den Mühlgraben +... In den Wald hinaus, nur fort von den Menschen, fort aus der Stadt -- +in die Einsamkeit, dahin, wo sie hatte einsam sein wollen mit ihm. +Nun dehnte sich zur Rechten die endlose Schneefläche der Rennbahn, und +vor ihr stand der Wald, ein schwarzer Saum, weiß überzackt. Unter +der Schleußiger Brücke gurgelten gelb und angeschwollen die trägen +Pleißefluten -- ohn' Unterlaß sanken die leuchtenden Flocken in die +schmutzigen Gewässer und wurden eingeschluckt -- wie der Schwall des +Lebens Wesen um Wesen verschluckt. Den schmalen Pfad schlug sie ein, der +hart am Ufer drüben aufwärts führte zu den graulich aufragenden +Eichenschäften, dem Gewirr des Ufergestrüpps, dran jedes Zweiglein +schon seine feuchte weiße Last trug ... Und wirr durcheinander, wie +die stäubenden Flocken, jagten ihre Gedanken. Gott, wie grenzenlos +allein sie doch war auf der Welt: Tochter eines kleinen Gerichtsbeamten +in München, war sie von der strengen katholischen Rechtgläubigkeit und +engen Spießbürgersittsamkeit ihrer Eltern um jener ersten Liebschaft +willen, die sie einem schmucken Leutnant von den Chevauxlegers in +die Arme geweht hatte, aus Haus und Heimat verstoßen worden. Das +Gräflein hatte brav an ihr gehandelt. Ihre berufliche Ausbildung, ihren +ersten Schatz an Kostümen verdankte sie seiner Freigebigkeit. Und +dennoch hatten am Ende der Abschied, die Tränen, die Verlassenheit +gestanden ... + +Und nun: die kleinen Engagements in Nürnberg, in Regensburg, in +Augsburg. Immer umringt von einer Verehrerrotte, die nichts von ihr +wollte als immer das gleiche -- das eine -- für die sie niemals eine +Seele, ein Mensch, eine Künstlerin gewesen war, sondern immer nur eine +hübsche Schale, ein Spielzeug, ein Zeitvertreib, eine Sklavin ... Und +endlich das große Glück: ein einziges Mal ein Mensch, der sie ernsthaft +nahm, Franz Burg, der Meininger Oberregisseur, der sie entdeckte ganz +hinten im Ensemble eines Mittelstadtbühnchens. Und nun: Engagement, +kleine Rollen, mittlere Rollen, Erfolg -- Karriere. Karriere? Ach, du +lieber Gott! Bis zu den Sternen war man nicht gekommen -- immerhin, man +war geborgen, man konnte sich ausruhen, konnte arbeiten -- stand +inmitten eines großen, künstlerischen Treibens, brauchte sich nicht mehr +wegzuwerfen, zu verkaufen. + +Aber ach, verdorben war man nun doch einmal, konnte nicht mehr leben +ohne Küsse, ohne Rosen, ohne Liebesbriefe, ohne Zärtlichkeiten ... Und +so flog man doch auch jetzt immer noch aus einem Arm in den andern, +blieb ein Spielzeug -- blieb der rasch vergessene Kamerad flüchtiger +Taumelstunden ... + +Da war der eine gekommen, dies grasgrüne Studentlein, das so ganz, ganz +anders war als alle die frühern ... Was war's eigentlich gewesen, was +ihn von ihnen unterschied? Er hatte sie genommen, sie hatte sich ihm +gegeben, genau wie's immer gewesen war -- nur eines war anders gewesen +-- ach, sie wußte es wohl, der Klang seiner Rede war's, die schäumende +Flut von klingenden, schwingenden Worten, in denen seine Zärtlichkeit, +sein Rausch sich ausströmte über sie hin -- ach nein -- auch noch ein +andres. All die andern, die sie gekannt hatte, waren erfahrene, +abgebrühte, blasierte Burschen gewesen -- diesem einen, sie wußte es, +hatte sie das erste Glück des Lebens gebracht. Sie hatte träumen dürfen, +ihm etwas zu sein, etwas, das nicht verfliegen könnte mit dem Rausch der +flüchtigen Erfüllungsstunden ... Und nun, nun war auch das ein Trug, ein +Wahn gewesen ... + +Tief gesenkten Hauptes schritt das einsame Mädchen fürbaß. Und wie ein +fernes Brausen klang weit, weit hinten das Treiben der großen Stadt, +gedämpft durch die rastlos niedersinkenden Flockenmassen. Und in der +Nähe schien jeder Schall des Lebens erstorben -- nur der eigne Schritt +knirschte leise im lockren Teppich, der die Welt überzog. Und zur Linken +glucksten die gelben Wasser. Unter der nassen Last lösten sich die +letzten gelben Blätter von den Wipfeln und sanken schwer und matt wie +dunkle Schattengebilde inmitten des weißen Geriesels nieder, lagen ein +paar Sekunden als schwarze Flecken auf dem leuchtenden Grund und wurden +dann schnell verschüttet und begraben ... Und Asta sann in die Zukunft +-- was hatte sie noch zu hoffen? Zu den höchsten Höhen der Kunst, +dorthin, wo die strahlende Rivalin stand, ach, dorthin würde sie sich +niemals emporschwingen. Nur die Niederungen waren ihr bestimmt, die +wenigen Jahre, bis Jugend und Anmut verweht sein würden -- und was dann? +-- Und was inzwischen? -- Immer nur Neid und Enttäuschungen ... Ab und +an, wenn einmal eine neue Rolle neue Hoffnung brachte, ein verzweifeltes +Emporraffen, ein neues zähneknirschendes Einsetzen der ganzen Kraft -- +dem, ach, doch immer wieder das Versagen, das Ermatten, die Erkenntnis +der Begrenztheit des eigenen Wesens und Könnens folgen müßten, wie noch +stets bisher. + +Und wo war dann Trost als in neuen Umarmungen, in neuen Tändeleien, ohne +Glauben, ohne Hoffnung, ohne Sinn? + +Nein, wenn sie nicht einmal diesen einen dauernd hatte fesseln können, +wenn selbst dieser eine, in dessen Leben sie am Anfang der Liebe +gestanden, wenn sie nicht einmal ihn länger hatte binden können denn auf +ein paar Wochen, dann war sie doch wohl gar nichts wert. Nicht einmal +als Liebchen, nicht einmal als Weibchen! Und das nun immer und immer +wieder erleben müssen, hatte das einen Zweck? -- Ließ sich das ertragen? + +Und doch, etwas in ihr bäumte sich auf gegen diese Verneinung ihres +ganzen Daseins. War sie denn wirklich so ein Nichts, so ein Püppchen +ohne Existenzberechtigung, ohne Lebenswert? Ach nein ... nur den +falschen Weg war sie gegangen -- nein -- nicht gegangen: gestoßen war +sie worden von dem aberwitzigen Schicksal. Damals, als sie sich von dem +blinkenden Rock, der gleißenden Grafenkrone ihres ersten Galans hatte +blenden lassen, als sie ihren einzigen Besitz, ihr Mädchentum, einem +eitlen, egoistischen Jungen hingeworfen hatte, ohne zu denken, ohne zu +fragen wohin, wozu -- damals war sie aus dem Gleise geworfen worden ... +Irgendwo in der Welt lebte doch gewiß ein braver, schlichter Mensch +ihres eigenen Standes, des Standes, in dem alle ihre Instinkte +wurzelten, dem hätte sie in Bescheidenheit und Treue Gesellin und +Helferin werden müssen. Das wäre dann ein Leben gewesen, für das ihre +Kräfte gereicht hätten, in das sie Sonne, Glücksgenügen hätte zaubern +können für ein ganzes Erdendasein. -- Nun hieß sie eine Künstlerin, ohne +ein Künstlermensch zu sein ... Nun sollte sie gestalten, ohne in sich +die Fülle der Gesichte zu tragen ... Sollte die Schöpfungen von +Dichtern verkörpern, ohne selbst ein Stück Dichterin zu sein ... + +Die Dämmerung kam. Immer schauriger ängstete die Stille um sie her, und +lichtlos wie die nebelverhangene Waldeinsamkeit ringsum lagen Zukunft +und Leben. Eine grenzenlose Müdigkeit kam über das verlassene Kind -- +eine Sehnsucht nach Schlaf ohn' Erwachen. Und in der lastenden Stille, +in die sie sich hineingesogen fühlte, war nun ein Laut nur noch: das +einlullende Rieseln und Rauschen der gelben Gewässer neben ihrem Pfad, +die so erbarmungslos die weißen Flocken einschluckten in ihren +gurgelnden Schwall. Ach! wer auch so eine weiße Flocke wäre, so rasch +und völlig versinken, zergehen könnte ... + +Aber schreckhafte Gesichte drängen sich vor -- wie schauervoll müßte das +Ende sein, wären diese Flocken nicht fühllos, wären sie nicht der Flut +wesensgleich, die sie verschlang? Du aber, Asta, du bist ein junges, +heißes Menschenkind, du wirst nicht leicht und sanft dich auflösen und +verschmelzen mit den Gewässern, die meerwärts rollen da unten. Du wirst +dich quälen müssen, alles in dir wird im letzten verzweifelten Ansturm +noch einmal nach dem Leben in Glanz und Licht verlangen, dem du verwandt +bist, in dem du dich umgetrieben, zwar oft in Tränen und Verzweiflung, +doch bisweilen auch in Schauern von Seligkeit ... + +Und dennoch, eine Stille wird kommen nach der kurzen Qual -- eine lange, +tiefe, wunschlose Stille. + +Und noch ein Gedanke kam, der Furcht und Grauen schuf: Asta war in +römischer Frömmigkeit erzogen, der Kinderglaube war nie ganz versiegt in +ihrer unbewehrten Seele. Wenn's nun wahr wäre, was man sie gelehrt +hatte von ewiger Verdammnis, von einem Wiedererwachen zu unnennbarer, +unendlicher Qual? Ach nein, das war doch wohl nur Märchen und +Kinderschreck -- ach nein -- wenn erst die Glut hier drinnen verloschen +war, wenn die Glieder, die so heiß gefiebert hatten im Ueberschwang der +Daseinswonne -- wenn sie erst so kalt und leblos geworden waren wie +drunten die strömende Flut, dann war's aus und vorbei, dann kam nichts +mehr -- kein Glück mehr und kein Schrecknis. + +Da stieg aus den falben Nebeln, die mählich den Fluß überlagerten, ein +niedres Gebäude empor, eine hölzerne Wirtschaftsbaracke, grau +gestrichen, hart bis an die Strömung des Flüßchens herangeschoben, mit +einer Galerie, die über das Ufer vorsprang. »Zum Wassergott« lautete die +Inschrift auf dem getünchten Wirtshausschild. Im Sommer mochte hier zur +Abendstunde muntres Treiben herrschen, friedliche Philisterbehaglichkeit +-- nun lag das kleine Anwesen kläglich verödet, ganz versunken in +trostloses Schweigen. + +Asta trat ans Geländer und sah, wie die gelbe Flut in quirlenden +Strudeln um die schneeverwehte Treppe rauschte, an der sonst das +Fährboot anlegen mochte. Und nun zu denken, daß man morgen so gefunden +würde, weit, weit unten irgendwo, entstellt, zerzaust, aufgedunsen -- -- +Aber ... das ging einen ja dann nichts mehr an, das fühlte man ja doch +nimmer. Dann mochte die Welt laufen, wie sie wollte. Dann mochte der +kleine Hans Thumser vor Jucunda Buchner auf den Knien rutschen und um +die Gunst betteln, die Asta ihm, ach, allzu wohlfeil, allzu willfährig +gewährt. Dann mochten sie Komödie spielen, solange es ihnen noch Spaß +machte, sich abzuquälen für die undankbare Bande im dunkeln Parkett -- +ach! und wie dankbar war man doch gewesen, wenn die mal ein bißchen +mitgegangen waren, wenn man ab und an sich hatte vorlügen dürfen, man +sei auch wer, man habe auch die Kraft in sich, die da hinten zu packen +und durch und durch zu rütteln, wie die paar es konnten, die paar +Echten, die paar Großen ... Ja, spielt nur, spielt nur Komödie -- auf +den Brettern und im Leben. Lügt Euch Gefühle vor und laßt Euch welche +vorlügen, glaubt daran oder tut doch wenigstens so, als glaubtet Ihr. +Denn auch Du hast ja gelogen, kleiner Hans Thumser, als Du unter Küssen +und Tränen mir schwurst, ich habe Dir das Glück geschenkt. Ich weiß es +ja nun, Du hast in meinen Armen immer nur an die andre gedacht. Ob Du's +bei ihr finden wirst, das Glück, das sogenannte Glück? Ob Du es +überhaupt jemals finden wirst im Leben? Ich will Dir's gönnen, kleiner +Hans, denn ich habe Dich sehr lieb gehabt -- ich will Dir's gönnen, +kleiner Hans -- ich aber -- ich tu nicht mehr mit, ich habe genug ... + +Einen spähenden Blick noch warf Asta in die Runde. Es war nun fast ganz +dunkel geworden und nichts ringsum, als das sachte Sinken der weißen +Kristalle, hinter denen die schwarzen Stämme ragten, finster und stumm. +-- Ob es wohl lange dauern würde? Ob es sie noch einmal emportragen +würde an die Oberfläche? Hoffentlich würden die nassen Kleider sie rasch +in die Tiefe ziehen. Es war nicht schade drum, sie hatte sich für einen +Fußmarsch im Schnee zurecht gemacht. Das bissel Flitter, was daheim +herumlag, dafür würde sich schon irgendeine Verwendung finden: nur das +schöne Sealskinjackett und das Barett und der Muff dazu, das war doch zu +schade für die Pleiße! Irgendein Armes mochte das hier finden und es +verkaufen und sich einen guten Tag dafür machen ... Sie zog die +kostbaren Hüllen ab und legte sie sorgfältig zusammengefaltet unter das +weitvorspringende Holzdach der Wirtschaftsveranda, wo sie einigermaßen +vor dem Schnee geschützt waren. Nun schauerte sie fröstelnd zusammen im +Nebelhauch der Waldtiefe. Gott -- und daß nun niemand, niemand morgen +weinen wird, wenn sie's hören, wenn's in der Zeitung steht, wenn zum +letzten Mal von Asta Thöny was in der Zeitung steht -- ach, allzu viel +Schönes hat nie dringestanden über Asta Thöny -- und keiner wird weinen, +nicht ein einziger von all den vielen, vielen, die mich geküßt und mir +von Liebe geschwatzt haben, nicht einer. Auch Du nicht, Hans Thumser, +ach, auch Du nicht ... + +Und sachte wie die weißen Flocken in die träge ziehenden Fluten +niederglitten, so sachte ließ Asta Thöny sich niedergleiten von der +schneeverwehten Treppe an der Holzveranda des Restaurants »Zum +Wassergott« ... + + +Valentin Pilgram war nachmittags gegen halb vier von dem Repetitor nach +Hause gekommen, um sich in das gewohnte, besinnungslose Arbeiten +hineinzustürzen, mit dem er nun schon seit Wochen sich zu betäuben +gewohnt war. + +Als er durch den dunklen Korridor schritt, kam die Frau Kanzleirätin aus +der Küche mit einem Brett voll Teegeschirr und ging zu Jucundas Stube +hinüber. Verlegen erwiderte sie seinen Gruß; wie die Tochter, so wich +auch die Mutter dem Zimmerherrn aus, wo irgend möglich, seit jenem +verhängnisvollen Morgen ... + +Als sich die Tür zu der Stube der Schauspielerin öffnete, sah Valentin +Pilgram mit einem Blick, daß dort Vorbereitungen für den Empfang eines +Besuches getroffen wurden: festlich gedeckt glänzte der Tisch, +sorgfältig waren die Blumenspenden der letzten Abende arrangiert, kurz, +alles verriet ein nahes Fest. + +Wer mochte erwartet werden? Ein paar Kolleginnen oder Kollegen ... oder? +-- Valentin wußte, daß der Erbprinz keine Vorstellung versäumte, in der +Jucunda auftrat, er hatte bei jeder Premiere unter den Riesenschleifen +der Lorbeerkränze die Farben von Nassau-Dillingen erkannt. Also zum +mindesten war Seine Durchlaucht nicht mehr in der Ungnade ... + +Merkwürdig: der gewohnte Arbeitsfriede wollte heute nicht kommen. Immer +lauschte der Kandidat auf Stimmen da drüben, in der ingrimmigen, +quälenden Hoffnung, sie möchten recht behalten, jene ekelhaften +Vermutungen, die sich immer deutlicher in ihm emporreckten: der +Erwartete möchte der Erbprinz sein ... + +Und endlich schlug die Glocke im Hausflur an. Valentin Pilgram fuhr in +die Höhe, schlich zur Tür und lauschte. Dabei überkam ihn brennende +Scham: was war aus ihm geworden, daß er das Tun und Treiben anderer +Menschen zu beschnüffeln und zu bespitzeln gelernt hatte? Das war doch +früher nie gewesen ... + +Und horch -- die Stimme eines jungen Mannes ... aber das näselnde, +gequetschte Organ des Prinzen war's nicht, es war eine frische, +klangvolle Stimme ... es war ... Hans Thumsers Stimme ... Ach -- also +der! + +Er hörte ganz genau, wie Mutter Kanzleirätin den Besuch zur Stube der +Tochter führte, wie sie anklopfte, wie des Mädchens volltöniger Alt das +Herein ertönen ließ, wie sie lebhaft und freudig den Besucher begrüßte, +wie jener verbindlich und bewegt erwiderte. + +Das Blut stieg dem Lauscher ins Hirn, in die Augen -- die Gedanken +quirlten einander überstürzend empor und machten ihn schwindeln. Also er +--! Wundervoll! wundervoll! Wie das alles sich zusammenfand, wie die +vagen Vermutungen, die greulichen Phantasien der letzten Wochen sich nun +zu festen, zweifelsbaren Schlüssen zusammenfügten! Nun freilich -- nun +war's ja klar, wie der Frankenzirkel und Hans Thumsers Initialen auf +jenen Bogen geraten waren, der Jucundas Absagebrief trug! Man hatte es +verstanden, ihn beiseite zu schieben -- hatte seine schnelle +Ritterschaft lächerlich zu machen gewußt, um seine eigenen Chancen zu +verbessern! Freilich, daß man mit einer solchen Gemeinheit auf dem +Gewissen den Mut nicht gefunden hatte, den Hintergangenen, den an die +Wand Gedrückten in seiner Einsamkeit zu besuchen -- kein Wunder +schließlich! Und auch heute hatte man den Weg zur Tür des einstigen +Korpsbruders nicht gefunden, obwohl man unter einem Dache mit ihm war! +Also so etwas gab's -- so viel Infamie barg sich hinter der zur Schau +getragenen Besonderheit, der phantastischen Eigenart des +Reimedrechslers! -- -- Na warte, Bursche! + +Valentin Pilgram hatte kein Talent zum Lauscher an der Wand. Er schlich +an seinen Schreibtisch zurück, vergrub den Kopf in den Händen und wühlte +sich in das krause System des römischen Erbrechts hinein. Aber die +Buchstaben hüpften vor seinen Augen, die Sätze verwirrten sich, führten +sinnlose Tänze auf, und etwas Unwiderstehliches zog ihm immer wieder die +geballten Fäuste von den Ohren ... Da drüben klapperten die Tassen, +plätscherte munteres Gespräch ... kein Satz zu verstehen, höchstens +einmal ein einzelnes Wort. Nun ein erregtes Lachen, nun Schritte durchs +Zimmer, nun in raschem Wechsel Geplauder, ein Hinüber und Herüber von +Scherz und Neckerei jetzt und nun von Rede, deren Sinn man nicht +verstand, deren Klang aber deutlich genug von wachsender +Vertraulichkeit, von innigem Austausch redete ... Ja freilich, der wußte +besser, wie man mit Frauen, mit Künstlerinnen reden muß, um Eindruck zu +machen! + +Valentins Gedanken verwirrten sich. Es war ihm nun, als müsse Hans +Thumser das alles mit diabolischem Raffinement ausgeheckt haben, was +sich vollzogen hatte. Gewiß war er schon längst hinter Jucunda her -- +war er's nicht gewesen, der die Idee mit dem Pferdeausspannen ausgeheckt +-- und war er nicht an jenem Abend als des Erbprinzen Gast an seiner +Seite im Theater gewesen? Gewiß hatte er auch in Erfahrung gebracht, mit +welch geschmackloser Zudringlichkeit der Erbprinz und der Major sich bei +Jucunda einführen wollten, und hatte schon damals sein Plänchen +geschmiedet ... Alle Wut und Qual der letzten Wochen knäuelte sich +zusammen zu einem einzigen, alles verdrängenden Gefühle der Empörung, +des Ingrimms, der Rachelust ... ihn, diesen glatten Lächler, diesen +geschmeidigen Buben, stellen ... züchtigen! + +Aber nein -- das war nicht länger zu ertragen, dieser Zusammenklang der +zwei Stimmen da drüben, der gehaßten und der ach ... in tausend +Schmerzen geliebten! War er denn verdammt, all jenes Glückes Ohrenzeuge +zu sein, das er für sich selbst nur in fernen Träumen zu ersehnen gewagt +hatte? Und das dem Buben da drüben in den Schoß fiel. Nein, das nicht, +das doch nicht! Fort, hinaus, in das Schneegetriebe da draußen, weg aus +diesem dumpfen Zimmer, dessen Luft bis zum Ersticken angefüllt war mit +vergangener und gegenwärtiger Gedankenqual! + +Valentin Pilgram stand auf. Er warf seinen Winterpaletot um, stülpte den +weichen, zerknüllten Filzhut auf den unfrisierten Kopf, nicht achtend, +daß beide Kleidungsstücke seit Tagen nicht gebürstet, von dickem Staub +umlagert waren. Er, der sonst so peinlich gestriegelte Korpsstudent, +hatte seit Wochen sein Aeußeres schlimmer vernachlässigt als der +armseligste Prolet unter den Kommilitonen ... Er griff nach dem wüsten +Knotenstock, den er sich für fünfzig Pfennig in irgend einem Kram +gekauft, seit er das silberbeschlagene spanische Rohr mit der Dedikation +seines Leibburschen nicht mehr führen durfte ... und nun hinaus -- nur +hinaus! + +In der kurzen Stunde, seit der Jungschnee sich eingestellt, waren +Bürgersteig und Straße mit fußhohen Schneemassen überschüttet. Mühsam +bahnten sich die Fußgänger ihren Weg, trübselig stapften die +Droschkengäule daher, wie schwarze Silhouetten schoben Menschen, Tiere, +Gefährte einander vorüber, die ersten Laternen äugelten mit trübem +Blinzeln durch den Flockennebel, der ohn' Unterlaß herniederwogte. Von +weißen Kanten eingesäumt, reckten sich die finstern Fronten der alten +Barockpaläste zu beiden Seiten der engen Straße. Jedes Geräusch war +eingesogen von den weichen Polstern des Grundes, den stiebenden +Flockenmassen, welche die Luft verhängten. + +Der junge Gesell, der mit aufgeschlagenem Rockkragen, die Hände in den +Manteltaschen vergraben, verloren und ziellos durch die Straßen +pendelte, hielt es nicht aus inmitten des lautlosen Lebens, das sich +schattenhaft an ihm vorbeidrängte. An der Thomaskirche vorüber, deren +schwarzer Giebel sich droben in dem weißen Dunst verlor, pendelte er auf +den Ring hinaus, wo die Zweige der Baumreihen, des Gebüschs unter der +Wucht ihrer weißen Last sich bogen und knackten. Zur Linken stieg das +finster dräuende Massiv der Pleißenburg in die silbernen Schwaden, das +Rund des Turmes hob sich als riesiger Schattenriß von den Lichtfluten um +den Roßplatz und Königsplatz ab. Und nun der winterstille, menschenleere +Johannispark! Hier ließ sich aufatmen, hier wurde die Brust freier. Hier +klärte sich das Gedankenchaos ... + +Ja, es mußte gehandelt werden. Die ganze Fülle der verhängnisvollen +Ereignisse, die Valentin Pilgram aus seines Lebens sicher +vorgezeichneter Bahn so jählings hinausgeschleudert in ein uferloses +Nichts, das alles drängte zu einer entladenden, entlastenden Tat. Und +diesmal würde seinem Vorsatz Erfüllung werden -- diesmal würde er nicht +wie Don Quichotte gegen die Windmühlenflügel anrennen, um alsbald +entsattelt an der Erde zu zappeln, ein Spott der Welt ... Diesmal würde +er den waffengeübten Arm zum sicher treffenden Schlag zu brauchen +wissen, mitten in des Feindes Fratze! + +Des Feindes! -- es gab ja nur den einen! In ihm schien dies aberwitzige +Schicksal der letzten Wochen Gestalt angenommen zu haben -- in jenem +jungen Burschen, der sich jetzt gewiß von Jucundas Lippen den Dank holte +für eine ganze Kette von Niederträchtigkeiten und Bübereien. Ihn +züchtigen -- ja das war's! Das forderte die Stunde! + +Und dann? Was kam dann?! Dann würde man sich gegenüberstehen, Aug' +in Auge, den Lauf der Waffe auf des Feindes Herz gerichtet ... das war +dann das Gottesgericht ... Dann würde sich's zeigen, wer von ihnen +beiden weichen müsse von dieser Welt, die nicht Raum mehr hatte für sie +beide ... + +Und ... dann?! + +Hans Thumser sollte fallen. Er wollte es. All die eiserne Willenskraft, +die bis zu dieser Stunde sein junges Leben vorwärts getrieben, er würde +sie in das kleine Stückchen Blei hineinlegen, das des Feindes Herz +finden sollte. Das war dann die Sühne, das war die Wiederherstellung +der heiligen Weltordnung, welche von den Gesetzen der Ehre regiert wird, +der Ehre, deren Ritter er gewesen war, und die jener andere mit Füßen +getreten hatte ... jener andere, der heut noch das dreifarbene Band +um die Brust trug, das er, der Getreue, eingebüßt hatte dank jenem +sinnlosen Schicksal, dem er unterlegen war bis heut. Aber dies +stumpfsinnige, brutale Schicksal, es sollte nicht Meister bleiben +in der Welt, solange er noch Kraft hatte, den Hahn einer Pistole +abzudrücken ... + +Und dann?! Er wußte den Gesetzesparagraphen zu nennen, dem er dann +verfallen war; die Höhe der Strafe, welche seiner wartete. Das war ja +wiederum der groteske Unsinn dieser Zeit, daß die Gesetze des Staates +das Recht der Selbsthilfe dem Manne versagten, der am Heiligsten seines +Lebens gekränkt war: an seiner Ehre ... Dieselben Gesetze, die den +Beleidiger der Ehre mit Strafen von kindischer Winzigkeit bedrohten ... + +Immerhin -- lieber zwei Jahre lang als Gefangener auf dem Königstein, +lieber das, was liberale Zeitungsschmierer einen Duellmord nannten, +lieber das alles, als dieses zermürbende Gefühl der Ohnmacht, der +Wehrlosigkeit gegen menschliche Infamie und den Aberwitz des Fatums! + +Schon war des einsamen Wanderers Hutkrempe von einem dichten Schneekranz +umlagert. Nasse Schauer sprühten ihm um die glühenden Wangen, eisige +Tropfen rieselten ihm über Hals und Nacken. Er achtete es nicht. Den +Kopf tief in den Schultern vergraben, stolperte er fürbaß. Schon lag der +Park hinter ihm, mechanisch verfolgte er den nächsten Pfad, der hart am +Saume des rechten Pleißeufers zwischen den reckenhaften Schäften der +hochstämmigen Eichen und dem dürren Gestrüpp der Erlen entlang führte. +Als sein Blick zufällig die gelben Fluten der gurgelnden Pleiße +streifte, stieg mitten in sein finsteres Brüten hinein ein lachendes +Bild heiterer Jugendlust: + +Die S. C.-Kahnfahrt nach Connewitz, welche die Leipziger Korps in jedem +Sommersemester gemeinsam unternommen hatten ... + +Wann war doch das gewesen? Vor einer Ewigkeit ... in einem andern, +versunkenen Leben ... Damals hatte die Welt in tausend Farben +geleuchtet, hatten bunte Mützen und grellfarbige Bänder geblinkt, heiter +abgehoben vom dunklen Grün der Ufersäume, vom Blau des klaren Himmels, +das sich in den freundlichen Wellen des Flusses spiegelte ... Flüchtig, +wie es herangeweht, zerstob das Bild, und wieder war nichts als der +schneestarrende Wald und drunten die blaugraue Flut und ringsum +Dämmerung und lastende Einsamkeit. Nur drüben, am jenseitigen Ufer, wohl +zwanzig Schritte vor Pilgram, ging noch ein anderer einsamer Mensch, +ein schwarzer, formloser Schatten, vorüberhuschend vor dem silbernen +Reif, der den ganzen Wald, der alle Welt überflitterte. + +Und wieder tauchte Valentin Pilgram tief in den schaurigen Abgrund +seiner Grübeleien. + +Wie, wenn es nun anders kam? Wenn das Gottesgericht gegen ihn entschied? +Nun dann war eben alles aus -- und er brauchte doch wenigstens nicht +mehr zu leben auf einer Welt ohne Sinn ... + +Aber -- die daheim --?! Die Eltern, deren Stolz er war, er wußte das ... +Der eifrige Vater, der in rastloser Arbeit zu einer der obersten +Stellungen in der Königlich sächsischen Rechtspflege emporgestiegen war +und in den zwanzig Jahren rüstiger Arbeit, die noch vor ihm liegen +sollten, noch höher zu steigen hoffte? Er, in seiner starren +Rechtlichkeit, seiner tadellosen Korrektheit der Art des Sohnes so innig +verwandt? Nie hatten Vater und Sohn voreinander Worte zu machen +gebraucht von dem, was sie beide längst wußten: daß sie Menschen einer +Rasse, eines Wesens waren, würdige Glieder einer uralten Familie +hochangesehener Gelehrten, Geistlichen, Beamten, die stets eine Zierde +der Stadt, des Staates gewesen waren ... und die gute Mutter, ein +Mensch, so recht zur Ergänzung dieses Schlages geschaffen, ohne starke +Persönlichkeit, voll tiefsten Respekts gegenüber dem Gatten und dem +Sohne, denen sie sich allzeit als freudige und nützliche Dienerin +untergeordnet hatte, entsprechend den Traditionen der ehrbaren +Geschlechter, aus denen auch sie entsprossen war, und die allzeit +aufrechte Säulen der Ordnung und Tüchtigkeit gewesen waren. Die +Schwestern, von der Mutter nach ihrem Vorbilde erzogen zu braven +Gattinnen für diese ehrenfeste Art Männer, wie das Vaterland sie immer +gebraucht hatte und, will's Gott, immer brauchen würde ... und nun -- +ein Sohn im Duell gefallen ... in einem Duell, in dem eine Rolle, eine +wenn auch noch so entfernte Rolle immerhin ... eine Schauspielerin ... +gespielt hatte? War das nicht wider den Stil der Familie? wider alle +Gewohnheit ihrer Daseinsführung? + +Nein, das war es nicht. Untadelig war, was immer er getan, seit Jucunda +Buchners Bild emporgetaucht war in seinem jungen Leben, das nichts als +Ehre gewesen war. Untadelig ... Und so würde er's vor jenem ernsten +Gange für die Lieben daheim aufzeichnen, würde für jeden seiner Schritte +die Motive, die Handlungen angeben, die Zeugen benennen. Und so würden +die Seinen des Gefallenen mit tiefer und reiner Trauer ohne Groll und +ohne Scham gedenken können, ja mit Stolz als eines Menschen, der auch +diesem absurden Spiel dämonischer Mächte gegenüber geblieben, was er +stets gewesen: ein Mensch ihrer Art ... + +In diesem Augenblick trieb ein Windstoß dem einsamen Wanderer einen +heftigeren Guß prickelnden Schnees ins Gesicht und scheuchte ihn aus +seiner Versunkenheit auf. Es war fast völlig finster geworden, und +Valentin Pilgram entschloß sich zur Stadt zurückzukehren. Seine +Entschlüsse waren gefaßt, klar vor ihm lag der Weg, den seine Pflicht +ihn gehen hieß. Zu was noch länger ziellos durch die Einsamkeit +streifen? Daheim waren die Bücher ... und in wenig Tagen würde das +Examen beginnen ... und Ruhe würde ja nun auch geworden sein daheim. +Heut abend waren wieder die »Piccolomini« -- Jucunda würde schon im +Theater sein ... + +Schon war Valentin Pilgram im Begriff kehrtzumachen, da fiel sein Blick +zum jenseitigen Ufer, und er sah im letzten Dämmerschein etwas +Unbegreifliches: + +Kaum noch in matten Umrissen erkennbar, lag drüben die Sommerwirtschaft +»Zum Wassergott«. Dort hatte er nach manchem Spaziergange mit +Korpsbrüdern die Hitze des Marsches an einer Gose gekühlt und dem +munteren Treiben der sonntäglichen Kähne auf dem Flusse zugeschaut. Und +seitlich, an der Treppe, wo die Fähre anzulegen pflegte, stand ein +Mensch, eine Frau. Auch sie nur ein grauer Schatten vor dem Dunkel, das +unter der Galerie lastete. Und dieser Mensch tat nun etwas ganz +Sonderbares: dieses Weib legte seine Kopfbedeckung ab -- es schien eine +Pelzmütze zu sein -- und zog das Jackett aus, schob beides +zusammengefaltet nach hinten in das Dunkel und stieg nun die Treppe +hinunter bis dicht ans Wasser. Und nun -- -- in jähem Schrei entlud sich +Valentins Entsetzen! + +Schon in der nächsten Sekunde aber reagierte ganz automatisch sein +Instinkt auf das grauenhafte Schauspiel, das sich bot. Mit einem Ruck +riß er die Knöpfe seines Paletots und seines Rockes auf, schleuderte +beide Kleidungsstücke mit einer jähen Bewegung in den Schnee und war mit +einem Satz am Ufersaum, mit einem zweiten schoß er in die gelbe Flut +hinaus. -- Die markerschütternde Kälte des Wassers lähmte eine Sekunde +lang seine Glieder wie sein Hirn, im nächsten Augenblick aber durchschoß +ihn ein siedender Feuerstrom. Jeder Nerv, jeder Muskel spannte sich an +wider das eisige Grauen -- Arme und Beine strafften sich, mit heftigen, +ruckartigen Stößen setzte er sich zur Wehr gegen die zähe Umklammerung +des kalten Elements, in dem er trieb. Er schwamm, er wußte sein Ziel. +Ueber der fernen Stadt lag ein roter Schwaden, dessen Widerschein sich +in den träge hingleitenden Fluten spiegelte. In diesem matten +Perlmutterglast glitt eine dunkle Masse, auf die schwamm er zu. Wenig +Stöße, dann war's getan. Er griff in ein nasses Bündel Kleider hinein, +fühlte warme Menschenglieder, umspannte eine schlanke Gestalt. Kaum +spürte der wehrlose Körper die fremde Berührung, da zuckte er in +aufbäumendem Entsetzen zusammen, krümmte sich, warf sich hin und her in +den Eisstrudeln, welche die hintreibenden Leiber umquirlten. Doch nicht +umsonst hatte der Student seine Muskeln in der harten Zucht des +Fechtbodens gestählt und ihre Kraft in mehr denn zwanzig Waffengängen +erprobt. Mit eisernem Griff umschlang er das zarte Figürchen, rang die +strampelnden Arme nieder und lenkte mit heftigen Beinstößen dem nahen +Ufer zu. Die nassen Kleider legten sich wie stählerne Klammern um seine +Beine, der Druck der Schuhe machte die Füße schwer und hilflos, doch mit +wildem Ungestüm zwang der Wille jedes Hemmnis nieder, den Frost, den +Verzweiflungskampf der zuckenden Glieder, die er mit seinen Armen +umschloß. Nach wenigen Sekunden fühlten die Füße Grund, Schlammgrund, +doch er hielt. Nun packten beide Arme mit unwiderstehlichem Griff das +leichte Körperchen um Hüften und Knie -- noch ein kurzes, heftiges +Ringen, dann griff die Linke einen tiefniederhängenden Weidenast, die +Rechte schleifte die zappelnde Last durch die gurgelnden Wellen. Nun +spannten beide Arme noch einmal sich an und hoben mit hartem Ruck den +gefangenen Leib in die knackenden Büsche der Uferböschung hinein. Nun +klang ein wimmerndes Stöhnen, nun keuchten klagende Laute wie eines +kranken Kindes Stimme: + +»Lassen Sie mich doch ... o bitte ... bitte, lassen Sie mich doch los!« + +»Ne -- gibt's nich!« keuchte der Student. Mit letzter versagender Kraft +würgte er sich selber durch die schneeüberstäubten Zweige des +Ufergestrüpps hindurch, zog den Körper der Geretteten vollends hinauf +und ließ ihn in den lockeren Schnee gleiten, weil die ausgepumpten +Muskeln nichts mehr hergaben. Schwarze Finsternis ringsum -- nichts +hörte Valentin, als das raschelnde Keuchen der eigenen Lungen, das +ratternde Hämmern des eigenen Herzschlages und dazu aus der +geheimnisvollen Dunkelheit zu seinen Füßen das wimmernde Schluchzen +einer Mädchenstimme -- immer nur dies wimmernde Schluchzen, dies +hilflose Greinen. + +»Lassen Sie mich doch los ... o bitte, bitte ... lassen Sie mich doch!« + +»Ne,« keuchte Valentin Pilgram, »das können Sie nun wirklich nich ... +von mir ... verlangen, Verehrteste ... ich hab' mich dermaßen für Sie +... abgeschunden ... jetzt lass' ich Sie nich wieder ... in die nasse +Sauce da!« + +Mit der Ueberwindung der Gefahr war ein grimmiger Humor über ihn +gekommen. Er richtete sich auf, reckte die stählernen Glieder, schlug +ein paar mal die Arme über der Brust mit kräftigem Ruck zusammen, um +sich gegen die Frostschauer zu wehren, die sich in seine Haut einfraßen. +Dann bückte er sich zu der Geretteten, bekam das schlanke Figürchen um +die Taille zu fassen und setzte es mit einem energischen Hub auf die +Beine. + +»So, nun bleiben Sie gefälligst stehen ... aber nein, kommen Sie mit +mir, wir rennen zum »Wassergott« zurück ... das macht warm ... Sie +haben ja da meines Wissens Ihre Oberkleider gelassen, die holen wir ...« + +Dabei versuchte er die Dunkelheit zu durchdringen, um etwas von den +Zügen der Gesellin dieser seltsamen Begebenheit zu erkennen. Umsonst -- +nur etwas Nasses, Zitterndes hielt er in seinen Armen, dessen Wärme +langsam die eisige Nässe der Hüllen durchdrang, die um ihre Glieder +schlotterten. Die zarte Gestalt wollte wieder in die Knie sinken, aber +er raffte sie empor, zog sie herzhaft an seine Seite und zwang sie, in +raschem Schritt durch den lockeren Schnee mit ihm den Fußpfad +pleißeaufwärts zu verfolgen. + +Dabei redete er ohn' Unterlaß auf das junge Menschenkind ein, das +wankend und noch immer leise wimmernd an seiner Seite schritt. + +»Nun sagen Sie bloß, meine Gnädigste, wie sind Sie auf die verrückte +Idee gekommen, bei so schauderhaftem Wetter Schwimmversuche in der +Pleiße zu machen? -- Dabei können Sie sich ja einen Schnupfen holen, den +Sie in diesem Leben nicht mehr los werden. Denken Sie bloß, wenn ich +nicht zufällig des Weges gekommen wäre ... Und noch dazu in Kleidern, +das bringt ja nicht einmal ein Mann fertig, geschweige denn so ein +kleines zartes Mädel wie Sie. -- Oder sind Sie gar eine junge Frau? Dann +sagen Sie's mir, damit ich Sie richtig anrede ... kommen Sie, wir müssen +schneller laufen ... damit wir warm werden, Sie zittern ja +gottserbärmlich. Schade, daß der »Wassergott« zugemacht hat, ich wäre +kolossal für einen Grog oder auch deren mehrere, Sie nicht auch?« + +So schwatzte er drauf los, allerhand banales Zeug, was ihm gerade in den +Kopf kam, und nahm mit Befriedigung wahr, daß das Wimmern schwächer und +schwächer ward und schließlich ganz verstummte. + +Und dann kam eine wilde Lust an dem unerwarteten Abenteuer über ihn, das +in seine verzweifelte Stimmung hineingeplatzt war wie ein Weckruf zu +neuem Leben ... Und immer brennender wurde in ihm die Neugierde, die +Züge der Unbekannten zu sehen, in deren Schicksal er hatte eingreifen +dürfen wie vom Himmel gefallen. + +Als die beiden einen Augenblick verpusteten, griff er in seine +Hosentasche und zog die Zündholzschachtel hervor, sie war ganz trocken. +Die wenigen Sekunden, die er in dem nassen Element zugebracht, hatten +nicht genügt, um seine Kleidung gänzlich zu durchfeuchten. Da ließ er +ein Hölzchen aufflammen und sah mit jähem Entzücken, welchen holdseligen +Fang er gemacht. Dabei weckte ihm das triefende, glühende Gesicht, von +langen dunklen Haarsträhnen überhangen, unbestimmte Erinnerungen ... + +Aber eine Scheu verbot ihm zu fragen ... + +Und das Flämmchen verlosch, das angstvolle Gesicht, die hilflos +blickenden Augen versanken wieder in der Finsternis. Nein, jetzt nicht +fragen -- wie wund mußte diese arme flüchtige Seele sein ... + +Da war der »Wassergott«. Valentin stapfte in die schneeverwehte Galerie +hinein, aber die Gerettete ließ er dabei nicht los. + +»Ne, ne, kommen Sie ruhig mit, Gnädigste, ich habe Angst, Sie möchten zu +viel Geschmack an Ihren Schwimmkünsten gefunden haben ... und ob ich Sie +zum zweiten Male da herausbrächte? Ich weiß wirklich nicht.« + +In der Finsternis fand er die weichen, duftigen Pelzhüllen, ahnte voll +Respekt, daß es sich um Kostbarkeiten handeln müsse, und hüllte seine +Gefangene sorglich hinein. Sie wehrte sich nicht ... + +Und nun der Heimweg. Durch das schneebepuderte Gitterwerk des dürren +Waldes am jenseitigen Ufer leuchtete der Widerschein der fernen Stadt, +der einen gelblichen Lichtbogen wie eine matte Aureole in die +niederwallenden Schneenebel hineinzeichnete. Perlmutterfarben +widerleuchtete sein Schein auf den friedlich meerwärts gleitenden +Pleißefluten. + +Das junge Blut, vom raschen Gang, von der fiebernden Erregung der Herzen +aufgepeitscht, besiegte mählich die Frostschauer, die von den nassen +Kleidern her die Glieder überrieselten. Und mit einem geheimnisvollen +Gefühl brüderlichen Stolzes hielt der Student das zarte Figürchen +umschlungen, preßte es an sich, wie um ihm abzugeben von der Siedeglut, +die ihn durchpulste. + +Noch immer schwieg sie, und wie ein Wasserfall redete Valentin auf sie +ein: + +»Das hätt' ich mir weiß Gott auch nicht träumen lassen, daß ich meinen +Spaziergang in so angenehmer Gesellschaft beenden würde. -- Und Sie? +Finden Sie es nicht doch viel netter, zu zweit hier im Schnee zu waten, +als einsam da unten in der dreckigen Pleiße zu paddeln? -- Sehen Sie +mal, wie hübsch sich drüben das Gezweige von dem roten Himmel abhebt! Da +kann man's wahrhaftig sehen, wie helle die Leipziger sind -- sogar der +ganze Himmel ist hell über dem guten alten Biernest ... Aber nu sagen +Sie doch auch mal was, Fräulein! oder haben Sie Ihre Stimme da unten im +Wasser gelassen? Das wäre doch schade. Ich denke mir, Sie müssen sehr +niedlich plaudern können ... Soll ich Sie vielleicht noch einmal +erleuchten und mich auch, damit Sie sehen, daß Sie es mit einem ganz +ordentlichen Kerl zu tun haben? Sie haben doch am Ende nicht gar Angst +vor mir?« + +Und horch! + +Da klang's auf einmal aus der Dunkelheit neben seiner Schulter, leise +wie ein Taubengirren: + +»Angst ... ach nein -- wie könnte ich Angst vor Ihnen haben, Sie sind ja +so gut zu mir --« + +»Hurra! sie kann wieder reden!« jauchzte der Bursch. »Herrlich! +herrlich! Und nun -- nun sagen Sie mir's mal gleich, wohin ich Sie +bringen darf? Denn nach so einer Strapaze gehören kleine Mädchen ins +Bett ... Auch ein Glühwein könnte nicht schaden. Also -- wohin soll's +gehen? Heraus damit!« + +Leise nannte das Mädchen seine Adresse. Unwillkürlich schmiegte sie sich +fester in den führenden, schützenden Arm. Ihr war, als sei ihr noch nie +so wohl gewesen, so geborgen wie in diesem Augenblick. Das Dasein, das +ihr vor einer Viertelstunde noch schal und wertlos erschienen war, nun +glomm es wieder auf in ihr voll Sehnsucht nach neuem Erleben, voll +Dankbarkeit, noch da zu sein, die eigene Wärme siegen zu fühlen über die +eisige Nässe, der sie sich anvertraut -- das ferne Leuchten zu sehen +über der Stadt, wo die Menschen hausten, wo das Leben brandete, wo man +Komödie spielte -- aß und trank, lachte und küßte ... Gott, welch ein +Wahn, welch eine Raserei war doch nur über sie gekommen und hatte sie da +hinuntergetrieben --? + +Ach leben -- nur leben. Besser, sich prügeln lassen vom Schicksal, +besser, sich auf und ab wirbeln lassen zwischen Glückseligkeit und +Tränen, Tränen und Glückseligkeit, als dies kalte Nichts da unten. + +»Ich danke Ihnen,« stammelte sie. »Ich danke Ihnen!« + +Und lustig schwatzend von den gleichgültigsten, törichtsten Dingen, als +seien sie zwei alte Bekannte, die sich beim Spaziergang begegnet, +stapften die zwei Menschen fürbaß durch den knietiefen Schnee. + +»Haben Sie warme Backen?« fragte der Student. »Au! Teufel ja, die +brennen ja wie ein Oefchen -- und die Hände? Ziehen Sie doch die nassen +Handschuhe aus, das gibt ja Rheumatismus -- richtig, die sind wie zwei +Eiszapfen. Da weiß ich Rat, wir werden uns schneeballen. Los! Greifen +Sie zu, ich laufe voraus. Daß Sie mir aber nicht wieder auskneifen und +in die Pleiße spazieren!« + +Nein -- Asta hatte keine Sehnsucht mehr nach der Pleiße. Sie bückte +sich, griff mit den erstarrten Händen in die lockere Masse, die alles +überlagerte -- und klatsch, da flog ein raschgeformter Ball dem riesigen +Begleiter vor die Brust, daß es nur so knallte ... Und lachend, rennend, +prustend, wie zwei Kinder, tollten die zwei den Weg entlang. + +Schon schatteten die dunklen Fronten der Vorstadthäuser in das silberne +Flockengeflitter hinein. Nun galt's sittsam und verständig nebeneinander +durch die Straßen zu schreiten, in denen nur wenige schneebepuderte +Gestalten unter weißbezuckerten Regenschirmen hastig und lautlos ihren +Behausungen zustrebten. + +Als aber der erste Laternenschein dem wandelnden Paar die Gestalt des +Partners zeigte, schrie das Mädchen plötzlich auf: + +»Um Gottes willen, Sie sind ja in Hemdärmeln! Sie werden sich den Tod +holen!« + +»Ach! keine Spur!« lachte der Student. »Ich glühe nur so! vorwärts, nur +vorwärts!« + +Jeder Vorüberwandelnde stutzte, als er das seltsame Schauspiel sah, daß +ein junger Mann barhäuptig und hemdärmelig neben einer elegant bepelzten +Dame herschritt. + +Rasch war Valentin des Anstarrens, des Stehenbleibens satt. Auf der +Zeitzer Straße rief er eine Droschke an, deren schneebepackter Gaul +mühselig und dampfend dahin keuchte. Und nun war nach wenigen Minuten +die Sophienstraße erreicht, die Hausnummer, die das Mädchen angegeben. + +Es kostete Mühe, in den nassen Kleidern die Treppe hinan zu kommen, den +Korridorschlüssel zu finden. + +Mit Ueberraschung bemerkte der Student, daß es die wohlbekannte Wohnung +war, in der Mutter Ach schaltete, sie, die ganze Generationen von +Franken beherbergt hatte. Sie, bei der jetzt jener andere wohnte, dem +Valentin Pilgram in ingrimmiger Einsamkeit eine fürchterliche Vergeltung +geschworen ... + +Starr vor Entsetzen stand die behäbige Witwe, als im matten Schein des +Flurlämpchens ihre Mieterin vor ihr stand: + +»Ei, herrjemerschnee! ne so was -- ne so was ... Was hab'ns denn nur +gemacht, Freilein? ... Und wer is denn das? -- Weeß Knebbchen, das is +Sie ja der Herr Pilgram! Herr Pilgram, is es meeglich?! Nu komm' Se doch +bloß mal in die Stube 'nein -- ich wer' gleich Feier machen -- und Tee +wer' ich 'n kochen, i nee so was, nee so was.« + +Bei dem Namen Pilgram hatte das Mädchen gestutzt. Höher noch flammte ihr +glühendes Gesicht. Stumm klinkte sie ihre Stubentür auf und huschte +hinein. Die Tür ließ sie offen in dem dunklen Gefühl, daß ihr Retter +einen Anspruch auf die behagliche Wärme habe, die ihr von drinnen +entgegenschlug. + +Doch der folgte ihr nicht -- starr hingen seine Augen an dem weißen +Kärtchen, das an der Stubentür befestigt war. + +»=Das= -- sind Sie?« fragte er mit zusammengebissenen Zähnen. + +»Ja, das bin ich -- kommen Sie doch herein -- wärmen Sie sich.« + +Zögernden Schrittes trat der Student näher. In scheuem Staunen musterten +sich die beiden jungen Menschen, das Hirn von wirren Gedanken +durchkreuzt ... + +Frau Wehe hastete herein, rannte geschäftig zum Feuer, um frische Kohlen +aufzuschütten. + +»Nu sagen Se bloß, Herr Pilgram, was haben Se denn angefangen alle zwei? +Wer looft denn bloß in so en' Wetter hemdärmlig 'rum und mit bloßem +Koppe?! Und naß wie de Katzen seid 'r alle zwee! Da soll wer anders +draus klug wer'n!« + +»Das Fräulein ist spazierengegangen an der Pleiße, hat im Dunkeln den +Weg verfehlt, ist ins Wasser gefallen, ich habe sie herausgezogen,« +erklärte Pilgram hastig. + +»Gott soll mich bewahr'n!« schrie Frau Wehe. »Nu aber mal schnell ins +Bett mit dem Kind! -- Und Sie, Herr Pilgram, Sie gehen nebenan zum Herrn +Thumser und nehm' sich Wäsche und Kleider, versteh'n Se mich?! Am besten +wär's schon, Sie legten sich einfach da nebenan ins Bette! Herr Thumser +wird schon nich beese sinn! Und dann koch' ich Euch Tee oder Grog, 'ne +paar Wärmepullen unter de Decke, ich wer' schon machen!« + +»Nein!« schrie da Asta Thöny. »Herr Thumser, nein -- das geht nicht -- +der darf nichts davon wissen ... der auf keinen Fall!« + +»Ach Quatsch!« rief die stämmige Wirtin. »Ihr holt Euch ja den Tod alle +zwee, da gibt's nischt zu reden -- machen Se fort, Herr Pilgram, in's +Bette mit Ihn' --!« + +Mit angstvollen, flehenden Blicken hingen des Mädchens Augen an den +erstarrten Zügen ihres Retters, seiner finster zusammengekrausten Stirn. +-- Sie schwieg, sie wußte, daß sie nicht länger bitten durfte, wo es um +seine Gesundheit ging, vielleicht um sein Leben ... + +Heiser fragte da Valentin Pilgram: + +»Thumser? Warum darf der nicht wissen --? Kennen Sie Thumser?« + +Tief senkte das Mädchen den Kopf, stand regungslos, schauerte plötzlich +in Frösten zusammen. Auch der Student schwieg. In wirrem Grübeln, in +finstrem Forschen gingen seine dunklen Blicke zwischen dem zitternden +Mädchen, der hilflos, verständnislos dreinglotzenden Frau hin und wider. + +»Kennen Sie Hans Thumser, gnädiges Fräulein?« fragte er noch einmal, +hart und befehlend. Ein Verdacht reckte sich dräuend in ihm auf. So +phantastisch, so aberwitzig, daß der Verstand sich sträubte, ihn zu +formulieren ... + +Asta antwortete nicht. Sie sank immer tiefer in sich zusammen. Und +plötzlich knickte sie in die Knie, ihre Arme fielen auf einen Stuhlsitz, +das Köpfchen mit den triefenden, zerzausten Flechten glitt in die +silbernen Falten des Pelzwerks, das sich um ihre Glieder schmiegte, und +ein jähes Schluchzen durchrüttelte die hingeworfene Gestalt. + +Valentin Pilgram begriff ... Das fehlte noch, das war das letzte ... Und +die ganze, kochende sinnverwirrende Wut, die den Nachmittag über sein +Inneres verwüstet, schlug in roter Lohe aus den Tiefen seines Wesens +empor, stieg ihm in die Augen, in die Stirn, in die Fäuste. -- + +»Der Hund --! Ah, der Hund!« knirschte er. »Sorgen Sie mir gut für das +Fräulein, Frau Wehe! Adieu!« + +Er stürzte hinaus. Die Stubentür, die Korridortür krachten hinter ihm +ins Schloß. + +Asta Thöny war emporgefahren. Blitzschnell schloß sich die +Gedankenkette: Also der da, ihr Retter, das war Valentin Pilgram -- er, +den sie kannte aus Hansens Erzählungen, von dem sie wußte, wie er in +jähem Zorn sich zur Sühne für eine Schmach gedrängt, die ihrer großen +Kollegin widerfahren ... Und nun, nun stürmte er von hinnen, +unvollkommen bekleidet wie er war, schäumend vor Wut, wie sie ihn mit +einem letzten Blick gesehen. Und sein letztes Wort war eine gräßliche +Drohung für Hans Thumser gewesen. Für ihn, von dem er nicht einmal in +dieser Not trockene Kleider hatte annehmen wollen. + +Das bedeutete Gefahr -- Todesgefahr für den geliebten, den treulosen +Jungen --! + +Todesgefahr --! Noch meinte sie den stählernen Druck des Armes zu +fühlen, der sie aus dem kalten Flutengraus gerissen, der sie so sicher +und brüderlich heimgeleitet. + +Wehe dem, der diesem Arm verfiel. + +Nein, nein ... das nicht, das nicht! Um diesen Preis gerettet zu sein, +nein, das nicht ... o Gott, das nicht --! + +»I herrjemerschnee, Fräulein Thöny, was hat er denn nur, der Herr +Pilgram, was hat er nur?« stammelte Frau Wehe. + +»Still, still!« winkte Asta ab. »Lassen Sie mich einen Augenblick.« Und +hastig sann sie, wo Hans Thumser nur stecken könne in diesem Augenblick +... + +Ach so -- Mittwoch -- offizielle Kneipe ... Ach, sie kannte den +Wochenkalender des Korps in- und auswendig. Also im Cafébaum, auf der +Frankenkneipe ... Und da ... da würde ja auch der Rächer ihn suchen ... +nein -- das nicht ... o Gott, das nicht -- + +Und mit einem Ruck stülpte sie das Barett wieder auf, klappte den Kragen +des Pelzjacketts in die Höhe, und triefend und schlotternd, wie sie war, +rannte sie an der verblüfften Wirtin vorüber, flog die halbdunkle Stiege +hinunter, stand auf der Sophienstraße ... + +Drüben fluteten dichte Menschenströme, vom Glast der Laternen des +Carolatheaters überstrahlt, vom Flockengestiebe silbern umflittert, in +die dunkel gähnenden Pforten des Kassenflurs hinein. + +Gott sei Dank, »Piccolomini« --! Asta war dienstfrei. In die erste +Droschke, die drinnen ihre Fracht abgeladen hatte und aus der dunklen +Ausfahrt herausrumpelte, sprang Asta hinein, rief im Einsteigen dem +Kutscher zu: + +»Kleine Fleischergasse, Cafébaum, so schnell das Pferd laufen kann -- +einen Taler Trinkgeld sollen Sie haben, wenn's rasch geht!« + +Der Wagenschlag klappte, der Kutscher schlug die Peitsche dem Gaul um +die dampfenden Flanken, und durch die dunklen, schneeverwehten Straßen +schwerfällig von dannen rollte das Gefährt. + + + + + 13. + + +Auf der Sophienstraße geriet Valentin Pilgram in den Schwall der +Theaterbesucher hinein, der zum Carolatheater drängte. + +Ach so -- ha, ha! natürlich, da spielte man ja Komödie, heut' wie alle +Abende! + +Und Jucunda Buchner natürlich wieder der Stern des Abends, der Zielpunkt +aller Blicke, die Sehnsucht aller Herzen! Ja gewiß: wie er sich durch +die Menge schob, auf allen Lippen das leise, andächtig hingesprochene: +Die Buchner ... die Buchner ... + +Der lange Gesell, der im tollen Schneetreiben hemdärmelig und barhaupt +sich durch die Menge zwängte, machte alles stutzen, alle Hälse sich +wenden. + +»Nanu, was hat denn der? Das is wohl ä Verrickter am Ende! Schutzmann! +he, Schutzmann! Nähmen Se'n doch feste, den Langen da!« + +Nein -- so ging's nicht weiter. Er erwischte eine Droschke, warf sich +hinein, befahl Katharinenstraße zweiundzwanzig. Er konnte ja auch +unmöglich so auf Korpskneipe erscheinen, sie hätten ihn da wohl auch für +wahnsinnig gehalten -- hätten sein Rächeramt, seine heilige Mission, die +beleidigte Ehre des grün-gold-roten Bandes wiederherzustellen, für einen +Ausfluß des Aberwitzes genommen. Und dann: es schüttelte ihn. Fieberglut +und Frostschauer tobten abwechselnd durch seine Reckenglieder. + +Herrgott! Dieser alte Klepper wollte gar nicht vom Fleck. + +Und doch -- es wurde geschafft. Er flog die Treppe hinauf, langte +keuchend oben an. Als er den Schlüssel suchte, taumelte er -- das +Fieber verwirrte sein Hirn. Kaum gelang es ihm, den Schlüssel +einzustecken -- so leise er konnte, drehte er um, schlich sich auf +Zehenspitzen durch den dunklen Flur, machte drinnen Licht -- erschrak, +als er sein fahles Gesicht im Spiegel sah mit den stieren Augen, den +rotfleckigen Wangen. + +Einerlei -- nur fort, nur es zu Ende bringen! + +Er riß die triefenden, dunstigen Kleider vom Leibe, die schweißnasse +Wäsche, zog sich vom Kopf bis zu Füßen frisch an, schauerte zusammen in +der Siedeglut, die ihn durchrann. Er fühlte sich plötzlich müde zum +Sterben -- das aufgeschlagene Bett zog ihn magnetisch an. War's nicht +das beste, da hineinzukriechen, die Decke über die Ohren zu ziehen und +unterzusinken in bleiernes Vergessen ...? + +Aber nein -- das ging ja nicht. Die Mission! die Mission ... Abrechnung +mußte gehalten werden. -- Sauber mußte die Welt wieder werden ... Der +Schandfleck mußte weg ... Und mit fliegenden Händen kleidete er sich an. +Taumelte abermals, als er die Stiefel anziehen wollte, biß die Zähne +zusammen, bezwang die todgleiche Erschlaffung. + +Als er vor dem Spiegel die Halsbinde zu schlingen versuchte, versagten +die Hände. Da knüpfte er nur die Enden in einen wüsten Knoten, stülpte +statt des Hutes, der draußen an der Pleiße geblieben, eine +schwarzseidene Mensurmütze auf, hing statt des Winterpaletots, den er +ebenfalls im Schnee gelassen, einen dünnen Sommerhavelock um ... und nun +fort -- fort ... + +Er warf einen Blick auf die Uhr -- dreiviertel neun, gerade recht. Die +offizielle Kneipe mußte eben begonnen haben, und bis zur Kleinen +Fleischergasse waren's ja nur zwei Minuten. + +Halt! Einen Stock brauchte man noch, man konnte nicht wissen ... + +Nun, so mochte es schon das silbern beschlagene spanische Rohr sein, die +Dedikation seines Leibburschen. Daß er kein Recht mehr hatte, dieses +Stück zu führen, das mit dem Zirkel Franconias geschmückt war, was +verschlug's in dieser Stunde --?! Es war eben doch ... ein Stock ... + + +Noch einer war an diesem Nachmittage bis tief in den endlosen +Novemberabend hinein draußen im Schnee umhergeirrt: Hans Thumser. + +Als er aus Jucundas Zimmer gestürzt, an dem verblüfften Erbprinzen +vorüber, da war es auch ihm unmöglich gewesen, es auszuhalten zwischen +den hastenden Menschen, den keuchenden, dampfenden Droschkengäulen, in +den engen, finstern Straßen, unter den blinzelnden Laternen. + +Er war ins Rosental geraten und stundenlang durch die schweigende +Einsamkeit des schneeverwehten Parks geirrt. + +Ha! ha! Also so lief die Karre! Freilich, freilich! Wenn Fürstengnade +winkte, was galten da ein paar armselige Studentlein ...? Denen spielte +man eine nette kleine Komödie vor: Hilflose, beleidigte, +schutzbedürftige Unschuld dem einen, glühendes Verständnis, tiefinnige +Seelenharmonie dem andern ... Und dann -- dann ließ man einfach im +rechten Augenblick den Vorhang fallen, und ein neues Stück fing an. + +Komödie -- Komödie -- jedes Wort, jeder Blick, nichts als Reminiszenzen +aus abgespielten Stücken, nichts als der Nachhall erlogenen, +erheuchelten Gefühls ... Komödie ... Komödie ... Komödie --! + +War das nicht Strafe? War dieser Abfall, diese Blamage, die fressende +Scham -- da drinnen -- war das alles nicht verdient?! Hatte nicht auch +er selber leichtherzig den Vorhang fallen lassen über einem lieblichen +Spiel voll erster Seligkeit, voll flammender Glut und reizender +Tändelei, das die vergangenen Wochen seinem jungen Leben beschert +hatten? + +War er besser als jene Jucunda? Er, der danklos und roh die Gesellin so +köstlicher Entzückungen beiseite geschoben, um diesem gleißenden Phantom +nachzujagen, das heute vor seinen entsetzen Augen die Larve hatte fallen +lassen? + +Asta! Asta! Dich hatte ich. Du hast dich mir geschenkt ... und ich ließ +dich los und rannte einem Irrwisch nach ... + +Ja, Hans Thumser ging streng mit sich ins Gericht. Er kam sich so klein +vor, so dummejungenhaft, so unwert alles dessen, was die vergangenen +Wochen ihm in den Schoß geworfen. Eine jähe Sehnsucht kam über ihn, sich +in Astas Arme zu flüchten, die Stirn an ihre Knie zu drücken und um +Verzeihung zu betteln. + +Und doch -- Knabentrotz und Knabenscham jagten ihn immer tiefer in die +Schneewildnis hinein. Jetzt vor Asta hintreten und bitten: vergiß --?! + +Sie würde sogleich begreifen, daß er -- nun, daß er eben ... abgefallen +war bei Jucunda. Und würde sie dann nicht triumphieren, sich bedanken +für das Vergnügen, ihn über seinen Abfall trösten zu sollen? + +Nein -- das ging nicht. Das mußte man allein hinunterwürgen. Ha ha! +Gab's nicht ein Mittel, die Qual dieser Beschämung, dieser +fürchterlichen Blamage abzukürzen? Wozu war man denn Student -- +Korpsstudent -- Fuchsmajor?! Und wozu heut abend offizielle Kneipe? + +Ganz recht: besaufen werden wir uns! einen Eimer Bier in uns +hineinpumpen, bis wir mitsamt der ganzen Corona der Füchse unterm Tisch +liegen und den Himmel für 'nen Dudelsack ansehen. Hol' der Teufel die +Weiber --! + +Und morgen früh auf dem Fechtboden -- Filzmaske aufgesetzt, drauflos +gedroschen, solange Arm und Schädel halten wollen --! + +Kaum konnte Hans die Stunde der offiziellen Kneipe erwarten. Als er zum +Cafébaum schlenderte, grinsten ihm von allen Anschlagsäulen die riesigen +Lettern entgegen: + + »Wallensteins Lager« + »Die Piccolomini« + +Pah! was für Hieroglyphen waren das eigentlich?! Was ging das alles ihn +an? Pah, die Meininger! Pah! Schiller --! + +Komödie ... Komödie! + +Damit war man fertig, das mußte versunken sein und vergessen. -- Und was +stand ganz unten am Rande des Zettels? + + »Freitag: Wallensteins Tod« --?! + +Ja, hatte man gestern nicht selbst probiert, sollte morgen früh wiederum +probieren für die Komödie von übermorgen? Hatte man nicht im Eisenwams +der Pappenheimer Kürassiere gesteckt und sich als Friedländischer +Reitersknecht gefühlt, eine Stunde lang? + +Lüge, alles Lüge ... äffisches Spiel mit längst verpulster Glut, längst +verschütteter Leidenschaft -- Komödie das alles! Unwürdig des jungen +sehnenden Menschentums, das man in allen Knochen fühlte, das leidend +sich aufkrampfte gegen die Not der Stunde -- das nach wildem Rausch, +nach taumelnder Betäubung sich sehnte, das sich selbst vergessen wollte +und vergessen alles um sich her --! + +Nein -- Hans Thumser wird niemals wieder Komödie spielen ... + +Hans Thumser wird mehr nicht sein wollen, als er ist: ein ungarer, +unfertiger Mensch, dessen verdammte Pflicht und Schuldigkeit das eine +nur ist: zu lernen, zu arbeiten, sich zu stählen für die kommenden +Kämpfe des wahren, des wachen Lebens. Morgen, morgen soll's beginnen -- +heut aber: Bier her! Saufen bis zum Umsinken! Vergessen ... vergessen +... vergessen ... + +Da war der »Cafébaum«. Da winkte vom Sims des ersten Stockwerks das +dreifarbene Schild, schneeüberlagert. Und der steingemeißelte riesige +Türke, der sich von dem feisten kleinen Putten die Mokkaschale kredenzen +läßt, trug über seinem steinernen Turban einen doppelt so hohen aus +Schnee ... + +Nun die enge, muffige Stiege hinauf, nun die Klingel gezogen. Drinnen +lärmten schon die Korpsbrüder, die sich zum gewohnten Zechgelage +versammelten. Als der Korpsdiener öffnete, empfing den Ankömmling schon +auf dem Korridor, wo rings die grünen Kneipjacken mit den rot und +goldenen Schnüren an den Wänden hingen, lautes Hallo. + +Volkner, der Senior, hatte geschwatzt: er war Hans Thumser begegnet, als +dieser mit einem mächtigen, seidenpapierumhüllten Rosenstrauß in das +Haus Katharinenstraße zweiundzwanzig hineingegangen war. Daß dieser +Besuch nicht etwa dem früheren Korpsbruder Pilgram gegolten habe, das +hatte der Blumenstrauß verraten. Wo also konnte Thumser gewesen sein als +bei Jucunda Buchner? Halb mit Ulk und halb mit Neid empfing man den +Glücklichen. Der Name Jucundas war ein bißchen verdächtig von dem Fall +Pilgram her. Obwohl der weiland Senior sich bei den Besuchen der +früheren Korpsbrüder hartnäckig über seine Beziehungen zu der Diva +ausschwieg, hatten die Korpsbrüder doch allmählich herausbekommen, daß +jenem sein ritterliches Eintreten für das gekränkte Mädchen wenig Dank +eingetragen hatte ... + +Sich mit Jucunda Buchner einzulassen, das hatte also beinahe schon einen +Beigeschmack von Komik und drohendem Hereinfall ... + +Und dennoch ... der Duft des Lorbeers, der eine ganze Stadt berauschte, +zog wie lichter Weihrauchdunst auch durch die Hirne, welche die grünen +Mützen bedeckten ... + +Der Schwall der Neckereien, die sich über Hans Thumser ergossen, ging +ihm heiß in das siedende Blut -- immer wilder schwoll die sinnlose +Saufstimmung in ihm empor. + +»Füchse, _ad loca_!« brüllte er und nahm am unteren Ende der Kneiptafel +Platz, auf dem hochlehnigen Stuhl, der in Eichenschnitzerei die +Märchengestalt eines aufrechtstehenden Fuchses zeigte, in Cerevis, +Couleurband und Kanonenstiefeln, den Vorderlauf mit einem Schläger +bewehrt. Und um ihren jungen Herrn und Meister zur Rechten und zur +Linken scharte sich die Fuchscorona, sieben junge Bürschlein, darunter +vier Krasse, die erst seit ein paar Wochen der Zucht ihres +Schulmeisters entronnen waren, um der noch viel gestrengeren des +Fuchsmajors zu verfallen -- und drei Brander, Wangen und Nasen schon mit +den ersten Dokumenten bewährten Mensurschneids verziert. + +»Füchse, ich komm Euch den ersten und den zweiten Halben!« rief Hans +Thumser und schüttete das volle Glas hinunter, das der Korpsdiener vor +ihn hingesetzt. + +Gleichzeitig beschied auch der Senior Volkner alles, was der Fuchtel des +Fuchsmajors bereits entwachsen war, an das obere Ende der Kneiptafel: +die Korpsburschen, die Inaktiven der Kartell- und befreundeten Korps, +die sich in Leipzig studienhalber aufhielten und beim Korps verkehrten, +und einzelne Alte Herren aus der Stadt, die sich dann und wann zu den +Zusammenkünften des Korps einfanden. + +Und nun entwickelte sich das altvertraute Bild: von allen Wänden +schauten die Wappenschilder, die gekreuzten Fahnen und Schläger, die +Ehrenhumpen und silberbeschlagenen Trinkhörner, die zahllosen +jahrzehntealten Gruppenbilder, Silhouetten, Porträte der einstigen +Mitglieder des Bundes auf die zechende und lärmende Schar herunter. + +Mit zeremoniellem Anstand erhob sich der Erste: + +»_Silentium!_ Wir trinken zur Eröffnung einer fidelen, offiziellen +Kneipe unser Glas in Gestalt eines Schoppens Salamander! _Ad exercitium +salamandri_ -- eins, zwei, drei!« + +In langen Güssen kollerte der erste Ganze in die zechbereiten Mägen, +rasselnd wirbelte der Salamander und endete mit einem krachenden +Aufklappen aller Gläser auf die massive Eichenplatte der Kneiptische. + +»_Silentium!_« klang da wieder die Stimme des Präsidenten: »Wir singen +als erstes offizielles Lied auf Seite 159: Brüder, zu den festlichen +Gelagen ...« + +In rauhem, taktfestem Unisono schwoll das Lied durch den niedern Raum, +in dem das Brandopfer der Pfeifen und Zigarren sich mystisch über der +Sängerschar emporkreiselte: + + »Brüder, zu den festlichen Gelagen + Hat ein guter Gott uns hier vereint, + Allen Sorgen laßt uns jetzt entsagen, + Trinken mit dem Freund, der's redlich meint. + Da, wo Nektar glüht, + Holde Lust erblüht, + Wie den Blumen, wenn der Frühling scheint.« + +Und Hans Thumser fühlte beglückt, wie die dumpflastende Beklemmung der +einsamen Spätnachmittagstunden von ihm abfiel, und in grimmigem Behagen +stürzte er sich hinein in den schäumenden Strudel des Gelages, spürte, +wie alles, was ihn so im Tiefsten erschüttert, verschwamm, versank, +verflog -- und nichts mehr war, als der tolle Rausch der Stunde. + +»Füchse! Ich komme Euch den elften und zwölften Halben!« + + »Lasset nicht die Jugendkraft verrauchen, + In dem Becher winkt der goldne Stern! + Honig laßt uns von den Lippen saugen, + Lieben ist des Lebens süßer Kern! + Ist die Kraft versaust, + Ist der Wein verbraust, + Folgen, alter Charon, wir Dir gern!« + +-- so verscholl das hellaufrauschende Lied ... + +»_Silentium_ -- schönes Lied _ex_! Ein Schmollis den Sängern!« + +Da trat der Korpsdiener ein. Das glänzende Bemmchengesicht verstört, +fassungslos. Er schlich sich zu dem ragenden Stuhl des Ersten heran, +flüsterte mit vorgehaltener Flosse seinem jungen Herrn etwas ins Ohr, +das diesen stutzen und auffahren machte. Einen Augenblick sann Volkner +nach -- dann flüsterte er dem Korpsdiener zu: + +»Es ist gut -- sagen Sie's Herrn Thumser -- er mag hinausgehen.« + +Mit scharfen Blicken verfolgte Volkner den Gang des Korpsdieners, der +sich nun mit so lächerlicher Behutsamkeit, als tripple er auf Eiern, +hinter den Stühlen seiner Herren entlang zum Fuchsmajor schob und auch +diesem seine Botschaft zuraunte: + +»Entschuld'gen Se, Herr Thumser -- da draußen is Sie nämlich der Herr +Pilgram -- der läßt Ihn' bitten, ob Se nich mächten so freindlich sinn +und gomm'n een Augenblickchen auf'n Flur -- er hat 'n ä wicht'ge +Mitteilung zu machen!« + +Ganz deutlich sah Volkner, wie Thumser zusammenschrak, hastig aufsprang, +einen Augenblick nachsann, dann mit einem fragenden Blick die Erlaubnis +erbat, die Kneiptafel zu verlassen. Nachdem Volkner Gewährung genickt, +bat Thumser den ihm zunächst sitzenden Korpsburschen, ihn in seinem Amt +als Vorsitzender der Fuchsentafel eine Weile zu vertreten. Dann raffte +er sich zusammen und schritt aufrecht, doch blaß, mit zusammengezogenen +Brauen zur Tür hinaus. + +Als er mit dem Korpsdiener durch das anstoßende Konventszimmer schritt, +flüsterte der Alte ihm zu: + +»Se missen nämlich wissen, Herr Thumser, es is Sie schon vor eener +Viertelstunde eene sähre hiebsche, junge Dame dagewesen und hat mich +gefragt, ob der Herr Pilgram mächte uff der Kneipe sinn. Nu, da hab'ch +ihr natierlich nur kennen sagen, daß der Herr Pilgram ieberhaupt nich +mehr wirde uff Kneipe komm' -- und da is se denn wieder abgemacht. Ich +kann Ihn' nur sagen, Herr Thumser, sähr ä hiebsche Dame is es gewesen! +Nobel, püh, ich kann Ihn' sagen, Herr Thumser --!« + +Hans Thumser war einen Augenblick stehengeblieben. Wirre Vermutungen +schossen hin und wider. Pilgram --? Und eine Dame, die nach Pilgram +fragte? Was für unwahrscheinliche Begebenheiten -- auch nicht den +Schimmer eines Verständnisses fand Hans. + +Wer konnte die Dame sein, die Pilgram auf der Frankenkneipe vermutete +--? Was wollte Pilgram von ihm selber --?! + +Nun -- man würde ja hören ... Und abermals straffte Hans den Nacken und +öffnete die Tür zum Korridor. + + +Herzklopfend, von Glut und Frost hin und wider geschüttelt, war Asta +Thöny vor dem Cafébaum aus der Droschke in den weichen Schnee +gesprungen, der nun schon fußtief Bürgersteig und Fahrdamm der schmalen +Gasse überzog. Ob ihr Retter wohl schon drüben sein mochte? + +Hell erleuchtet glänzten die Fenster des ersten Stocks in das +schummerige Dunkel der Straße hinaus, während die ragenden Fronten der +geschwärzten Gebäude ringsum nur noch wenige matte Lichtspuren zeigten. +Auf der Kleinen Fleischergasse wohnte nur bescheidenes Bürgertum, da +ging man früh zur Rast. + +Asta trat auf das jenseitige Trottoir und spähte hinauf. Ab und an +huschte droben schattenhaft der Umriß einer jungen bemützten +Männergestalt vorüber. Durch die verschlossenen Doppelfenster drang +Lachen, vielstimmiges Gespräch, Tabakwolken kräuselten zur Decke, +Wappenschilder, Schläger blinkten an den Wänden -- sonst war nichts zu +erkennen. + +Es blieb nichts übrig: Asta mußte sich in das dunkle jahrhundertalte +Gebäude hineinwagen, mußte fragen, ob droben Herr Pilgram schon +eingetroffen. Mit versagendem Herzschlag kletterte sie die winklige, +dunstige Stiege hinan, hielt einen Augenblick vor der Tür still, an der +ein grün-gold-rotes Farbenschild angebracht war und ein längliches +Porzellanschildchen mit der Aufschrift: + + »Corps Franconia.« + +Drinnen klang lauter nun Lärm und Gelächter. Was half's -- sie mußte es +wagen ... + +Eine schrille Klingel schlug an, Schritte tappten heran, ein ältliches, +gerötetes, glattrasiertes Männergesicht lugte durch den Spalt und +blinzelte befremdet, als es des ungewohnten Besuches ansichtig ward. + +Mit stammelnden Lippen fragte Asta, ob Herr Pilgram schon angekommen. +Verblüfft grinste der Türhüter und erklärte: Herr Pilgram gehöre nicht +mehr zum Korps, er komme überhaupt nicht mehr. + +Gottlob -- also jedenfalls noch nicht zu spät gekommen ... + +Und Asta huschte wieder die Treppe hinunter, stapfte in den Schnee +hinaus und patrouillierte auf dem jenseitigen Bürgersteig, +frostgeschüttelt, erwartungfiebernd. + +Ab und zu kam noch eine grünbemützte Jünglingsgestalt und bog in den +schlechterleuchteten Flur des Cafébaums ein. Von Pilgram keine Spur! -- +Ob er seinen Vorsatz aufgegeben hatte? Sie wußte ja nicht, was er +eigentlich geplant hatte, aber etwas Grausames, etwas Wildes, etwas +Schauerliches mußte es gewesen sein! Davon hatten seine Züge deutlich +genug gesprochen. Und geduldig trippelte das Mädchen auf und ab, ohne +einen Blick von dem schmalen Lichtspalt zu wenden, der durch die +angelehnte Tür des Restaurants auf die Straße lugte. + +Der Schneefall hatte aufgehört. In winterlicher Schwermut gähnte die +menschenleere Straße. Und in die lautlose Stille, welche die abendliche +Stadt überlagerte, klang nun von drüben ein munterer Burschensang, +gedämpft durch die Doppelfenster, doch deutlich vernehmbar. Die Weise +meinte Asta zu kennen, aber Worte dazu wußte sie nicht. Ach, da oben war +er, der liebe, böse Junge ... + +Schau! zur Rechten, vom Marktplatz her glitt lautlos ein riesiger +Schatten heran, scharf abgezeichnet von dem weißen Grunde der Straße, +vom gelben Lichthof, den die Laternen in die Nebel der Nacht zeichneten. + +Er war's! Mit raschen Schritten steuerte er dem »Cafébaum« zu. Da schoß +Asta über den schmalen Straßendamm, traf hart an der Tür auf Pilgram: + +»Herr Pilgram -- ach, Herr Pilgram!« + +Gesenkten Blickes war jener geschritten, nun schrak er zusammen bei der +unerwarteten Begegnung. + +»Ah -- Sie, mein gnädiges Fräulein? -- Ja, um Gottes willen, sind Sie +denn toll? Warum nicht im Bett -- warum hier -- was soll das heißen?!« + +»Ich hatte solch entsetzliche Angst, Herr Pilgram!« + +»Angst? Was fällt Ihnen ein! Angst? Um wen?« + +»Um Sie, Herr Pilgram, um Sie und ... ach! Sie wissen's ja ... um wen -- +um wen noch. Herr Pilgram, ich bitte Sie -- ich flehe Sie an, was haben +Sie vor gegen Herrn Thumser?« + +Flehend hatte sie mit beiden Händen den linken Arm des Studenten +umklammert. + +»Aber Verehrteste ... ich begreife faktisch nicht ... wie kommen Sie auf +derartige Vermutungen?« + +»Ach, ich weiß ... ich weiß ... Sie wollen sich rächen an Herrn Thumser! +Ich weiß alles -- alles weiß ich ... Fräulein Buchner, meine Kollegin -- +Sie sind für sie eingetreten damals ... und dann ... dann hat sie sich +schlecht gegen Sie benommen ... und Sie, Sie hatten doch so viel für sie +dahingegeben, nicht wahr, so war's doch? Und heut -- heut ist Herr +Thumser bei Fräulein Buchner zum Tee gewesen, nicht wahr? ... Und Sie, +Sie haben das gehört und sind wütend auf ihn -- weil Sie denken, er hat +mehr Glück bei Fräulein Buchner als Sie nicht wahr? O, gestehen Sie's +nur, es ist ja keine Schande -- und dann, dann haben Sie mich gefunden +da draußen und denken, er hat mich auf dem Gewissen ... Sie sehen, ich +weiß, ich weiß alles. Und nun, nun wollen Sie ihn -- ich weiß nicht, was +Sie mit ihm machen wollen, aber etwas Schreckliches ist's gewiß. Sehen +Sie -- Sie schweigen -- sehen Sie, ich habe alles begriffen, alles! +Ist's nicht so?« + +Mit zusammengekniffenen Lippen, die Augen fast geschlossen, regungslos +hatte Valentin Pilgram den Schwall dieser bebenden Fragen über sich +dahinschauern lassen. Mit grimmiger Scham fühlte er sich durchschaut, +fühlte den geheimsten Trieb seines Wollens bloßgelegt, den er vergeblich +mit dem lügnerischen Pomp eines Rächers verratener Ehre verhüllt hatte, +und der doch nichts anderes war im letzten Grunde als der Neid des +Verschmähten gegen den Glücklichen, als Eifersucht -- ganz ordinäre, +banale Eifersucht ... + +Doch nein, das war ja nicht wahr -- das durfte ja nicht wahr sein! Da +oben klang der muntere Burschensang -- da oben tafelte die Runde derer, +die sich Mitglieder des ältesten Korps der Hochschule nennen durften, +die das grün-gold-rote Band tragen durften, das nur den Makellosen +schmücken soll. Und in ihrer Mitte saß einer, der doppelten Verrats +schuldig war: an dem Gefährten dreier Semester und an der Gesellin +glückseliger Liebesstunden. + +Und er --? Er hatte auf all das verzichtet, verzichten müssen um der +Ehre willen. Hatte das einen Sinn? Durfte das so bleiben? Nein, beim +Himmel, das sollte es nicht, solange es einen Valentin Pilgram gab. Wenn +er denn schon selber die geliebten Farben nicht mehr tragen durfte, +deren er doch wahrhaft würdig war wie einer, sollte dann der andere sich +mit ihnen brüsten dürfen, der das Recht auf sie schmählich verscherzt +hatte ...?! + +»Herr Pilgram,« klang's da in schmelzendem Flehen neben ihm, »so +sprechen Sie doch! Bitte, bitte, so sprechen Sie doch, habe ich nicht +recht?« + +»Mein verehrtes Fräulein,« sagte der Student, indem er seinen linken +Arm der flehenden Umschlingung entzog, »ich bedaure, Ihnen über mein +Tun und Lassen keine Rechenschaft ablegen zu können. Es mag sein, daß +ich etwas Aehnliches, wie Sie denken -- nun, daß ich ... das gewollt +habe ... und noch will. Wenn es so ist, so dürfen Sie überzeugt sein: +ich weiß genau, was meine Pflicht ist ... Und darum muß ich Sie schon +bitten, mich gewähren zu lassen.« + +Da trat ihm das Mädchen in den Weg, legte beide Hände auf seine +Schultern, brennende Augen starrten zu ihm empor, aus denen Tränen +rannen, hell aufblitzend im matten Lichtstreifen, der aus der Flurtür in +den Schnee der Gasse fiel: + +»Nein -- nein, das dürfen Sie nicht! Mir zuliebe dürfen Sie's nicht ... +Ja, es ist wahr, wegen dem da oben hab' ich heute das Leben wegwerfen +wollen -- nun haben Sie mich gerettet -- aber wenn Sie ihm etwas zuleide +tun, dann ist alles aus, dann hätten Sie mich nur lieber gleich da unten +in der Pleiße lassen sollen ... Ich will nicht, daß ihm ein Leids +geschieht um meinetwillen -- ich will's nicht -- und Sie, Sie dürfen's +nicht -- Sie dürfen mich nicht wieder dahin zurückstoßen, woher Sie mich +heut abend geholt haben -- nein! Herr Pilgram, das dürfen Sie nun und +nimmermehr.« + +»Gnädiges Fräulein,« sagte Valentin, »wenn es Sie beruhigen kann, so +will ich Ihnen versichern: das, was jetzt gleich geschehen wird, war +beschlossene Sache schon ehe ich Sie ... da draußen ... fand. Ich kann +mich nicht darauf einlassen, Ihnen das alles so auseinanderzusetzen. Was +Sie von mir denken mögen oder nicht denken mögen -- ich kann's bedauern, +aber ich kann's nicht ändern. Das alles muß nun seinen Lauf gehen. +Versuchen Sie nicht mich aufzuhalten, es hat keinen Zweck.« + +Es sollte wohl nur ein sanfter Druck sein, mit dem die hageren Hände des +weiland Frankenseniors die runden Gelenke der Schauspielerin von seinen +Schultern lösten, doch er war unwiderstehlich, wie das Zupacken +stählerner Zangen. Mit der gleichen unerbittlichen Gewalt, mit der er +vor wenig Stunden des Mädchens Glieder der Flutenumschlingung entrissen, +schob er sie nun zur Seite, wie ein willenloses Püppchen, und war mit +zwei raschen Schritten im gähnenden Toreingang verschwunden. + +Asta taumelte, als der Druck der gewaltigen Hände plötzlich nachließ. +Dabei trat sie unversehens einen halben Schritt rückwärts, geriet mit +dem Fuß in den lockeren Schneeaufwurf über dem Rinnstein, sank tief ein, +strauchelte, fiel in die Knie, stieß einen Schmerzenslaut aus: sie mußte +sich den Fuß verstaucht haben. Aber die heiße Angst um das, was werden +mochte, jagte sie wieder empor. Sie humpelte mit schmerzverzogenem +Gesicht zur Tür, stieß sie auf, lauschte hinein. Droben auf der Treppe +waren Pilgrams Schritte schon verhallt. Nur das Burschenlied brauste +noch immer weiter, klang und schwang durch das ganze altersmüde Gebäude. +In dem kleinen Restaurant des Erdgeschosses zur Linken das schläfrige +Stammtischgeschwätz, das Auftrumpfen der Karten, das Klappern der +Biergläser. Asta schlich durch den Hausflur, hinkte mühsam die Treppe +hinauf, stand wieder an der Tür mit dem Porzellanschildchen: Corps +Franconia, legte das Ohr an die dünne Holzwand und lauschte. + +Ganz deutlich dröhnte nun ein neuer Vers des feierlichen Liedes da +drinnen, dazwischen halblaute Stimmen, es schien Pilgram zu sein, +welcher im Flur mit dem alten Mann verhandelte, der sie vorhin an der +Pforte beschieden. Aber dies leise Gespräch blieb unverständlich, +dagegen war der Text des Liedes Wort für Wort zu verstehen. In frohem +Trotz scholl die alte Jugendweise daher: + + »Lasset nicht die Jugendkraft verrauchen, + In dem Becher winkt der gold'ne Stern! + Honig laßt uns von den Lippen saugen, + Lieben ist des Lebens süßer Kern! + Ist die Kraft versaust, + Ist der Wein verbraust, + Folgen, alter Charon, wir Dir gern!« + +Und nun plötzlich war das Lied zu Ende, ein paar unverständliche, +kommandoartige Worte klangen von drinnen, ein lustiger Aufschrei von +vielen Stimmen, dann munter durcheinander schwirrendes Stimmengewirr. +Einige Sekunden verflossen so: dann hörte Asta ganz deutlich, wie +drinnen eine Tür heftig aufgerissen wurde und jemand in den Flur trat -- +und jetzt klang drinnen gedämpft, doch klaren, festen Klanges des +geliebten Jungen Stimme: + +»Guten Abend, Pilgram -- Du hast mich zu sprechen gewünscht? Bitte, was +steht zu Deinen Diensten?« + +Da fühlte Asta, wie der Puls ihres Herzens aussetzte. Ganz fest preßte +sie ihr Ohr an das glatte, ölgestrichene Holz, ihre froststarren Hände +umklammerten krampfhaft den messingenen Türgriff, und in schlotterndem +Lauschen vernahm sie jedes Wort, das drinnen gesprochen wurde, vernahm +sie alles, was drinnen geschah ... + + +Hochaufgerichtet standen die zwei schlanken Jünglingsgestalten einander +drinnen gegenüber in dem schmalen Flur, den nur eine schwelende +Petroleumlampe erleuchtete. Rechts und links hingen Kneipjacken und +Garderobenstücke an den Regalen, welche die Wände umzogen -- ein fader +Dunst von altem Tabak und Bierneigen füllte den dumpfen Raum. Hinter der +mittleren Tür, die zum Kneipzimmer führte, klang heftiges Stimmengewirr, +das stiller und stiller ward. Offenbar war man drinnen aufmerksam +geworden, daß hier draußen sich Ungewöhnliches vollziehe, wartete man +gespannt, wie das wohl werden möchte. + +Hans Thumser hatte Pilgram die Hand hingestreckt. Der übersah sie, griff +stumm in die Brusttasche seines Rockes und reichte Hans Thumser einen +Brief hin. + +»Lies!« sagte er. + +Hans ließ die erstaunten Blicke hin und wider gleiten zwischen dem +Schreiben und dem, der es ihm gereicht, dann trat er in den Lichtbereich +des mattglänzenden Flurlämpchens und erkannte, daß der Brief mit +fahrigen, steilen Schriftzügen einer Frauenhand bedeckt war: + + »Sehr geehrter Herr! Ihr dankenswertes Eintreten für meine Ehre hat + schnell den gewünschten Erfolg gehabt. Die beiden Herren, welche mir + zu nahe getreten waren, haben mündlich bei mir um Entschuldigung + gebeten. Ich danke Ihnen innigst für das große Opfer, das Sie mir + gebracht haben ...« + +Verblüfft ließ Hans den Brief sinken: + +»Was soll ich damit?« fragte er, »was geht das mich an?!« + +»Dreh doch gefälligst einmal den Bogen um!« befahl Pilgram in +ingrimmiger Ruhe. + +Hans wandte den Bogen um und entdeckte mit grenzenlosem Staunen rechts +an der unteren Ecke der vierten Seite, auf dem Kopfe stehend, seine +Initialen und darüber den Frankenzirkel. Er drehte den Bogen um, und +richtig: es war kein Zweifel, das war einer von seinen eigenen +Briefbogen. Völlig verdutzt sah er den einstigen Korpsbruder an, um +dessen festgeschlossene Lippen ein mattes Lächeln des Triumphes irrte. + +»Von wem ist der Brief?« fragte Hans Thumser mit unsicherer Stimme. + +»Spiel' mir gefälligst keine Komödie vor!« brauste Pilgram auf. + +»Aber ich versichere Dir, ich habe nicht den leisesten Schimmer.« + +»Pfui Deubel -- nicht mal den Mut hast Du ... Gib her den Brief! Und nun +weiter! Warst Du heut' nachmittag bei Fräulein Buchner?« + +»Aber ich verstehe faktisch nicht,« stammelte Hans. »Wenn ich Dir sage, +daß ich auch nicht die entfernteste Ahnung habe --!« + +»Ich frage Dich, ob Du heut nachmittag bei Fräulein Buchner warst? Gib +Antwort -- oder ich mache kurzen Prozeß mit Dir!« + +Nun richtete sich Hans denn doch aus der unsicheren Haltung verlegenen +Staunens zu seiner ganzen Größe auf. Zwar reichte er nicht an die +riesige Länge des einstigen Freundes, aber gleich straff emporgereckt +stand er ihm gegenüber, sah ihm von unten frei und trotzig ins Gesicht, +und funkelnd, wie zwei Säbelklingen in der Auslage, so blitzten das +braune, das blaue Augenpaar einander an. + +»Ich frage Dich,« sprach er kalt gemessen, »was Dich berechtigt, mich in +einem derartigen Ton zur Rede zu stellen?« + +»Das weißt Du.« + +»Nein, ich weiß es nicht. Ich wünsche es von Dir zu hören.« + +»Ich verzichte darauf, Dir Aufklärung zu geben. Ich wiederhole Dir meine +Frage -- willst Du antworten?!« + +»Wer mich in diesem Tone fragt, bekommt keine Antwort!« + +»Schön! Was wirst Du nun aber sagen, wenn ich Dir mitteile, daß in +derselben Stunde, in der Du bei Jucunda Buchner warst, Fräulein Asta +Thöny am 'Wassergott' in die Pleiße gesprungen ist --?!« + +Da wurde Hans Thumsers fester Blick plötzlich stier und starr. Die +Kinnbacken klappten herunter, langsam schob sich seine Rechte an der +Brust empor, glitt tastend nach dem Achtzentimeterkragen. + +»Das ist ... das ist nicht wahr!« + +»Mein Ehrenwort, daß es wahr ist ... und Du weißt, scheint's, auch, wer +sie hineingetrieben hat?!« + +Da umklammerte Hans Thumser plötzlich mit beiden Händen des ehemaligen +Korpsbruders Arm und stammelte, schlotternd vor Entsetzen: + +»Sie ist tot?!« + +Valentin Pilgram machte sich frei, trat einen halben Schritt zurück. + +»Ich hatte das Glück sie zu retten ... bedank' Dich also bei mir, daß Du +nicht als Mörder vor mir stehst.« + +Ein stöhnender Laut, ein Jauchzen halb und halb ein Schluchzen brach aus +Hans Thumsers Brust zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor: + +»Erzähl' doch -- so erzähl' mir doch.« + +»Nein,« sagte Valentin Pilgram hart, »Du hast Fräulein Thöny von Dir +gestoßen -- es mag Dir genügen, daß sie lebt -- alles weitere geht Dich +nichts mehr an.« + +»Also was willst Du von mir?« schrie Hans Thumser, »sag' mir endlich, +was Du von mir willst?!« + +»Du sollst bekennen, daß Du ein elender, wortbrüchiger Bube bist ... Du +sollst das Korpsband da abziehen ... Du verdienst nicht mehr, es zu +tragen. Willst Du? Oder soll ich Dich dazu zwingen?« + +Da straffte sich Hansens Gestalt aufs neue. Seine Fäuste ballten sich, +als erwarteten sie den Angriff des Feindes -- ja, des Feindes, denn was +in den blauen Augen drüben düster flammte, war Feindschaft -- +Todfeindschaft ... + +»Versuch's!« sagte er nur. + +In diesem Augenblick ward die Tür zum Kneipzimmer hastig von drinnen +aufgerissen, blendender Lichtglanz quoll hervor, und hinter der Tür, +Kopf an Kopf, drängte sich das Korps: ein zu Tode erschrockenes +Jungmännergesicht hinter dem andern, ganz hinten stand man auf Stühlen +und Tischen, um das entsetzenerregende Schauspiel zu erreichen, wie da +zwei Jünglinge, die einst die gleichen Farben getragen, auf Leben und +Tod einander gegenüberstanden. + +»Pilgram! Thumser!« schrie alles durcheinander, »um Gottes willen, was +habt Ihr nur?!« + +Gleichzeitig schlug mit gellendem Schrillen die Etagenklingel an, und +gegen das Holz der Flurtür hämmerten matte Schläge, wie von einem zarten +Kinderhändchen. Und wie ein Schrei klang draußen das wimmernde Flehen +einer Frauenstimme: + +»Herr Pilgram -- tun Sie's nicht, Herr Pilgram!« + +Mit halbem Blick nur überflog Valentin Pilgram die hervordrängende Schar +der einstigen Korpsbrüder ... dann, als sei er noch allein mit dem +Gegner Aug' in Auge, wandte er sich wieder zu ihm und wiederholte: + +»Also noch einmal: Gibst Du es zu, daß Du ein elender Schelm bist? +unwürdig des Bandes, das Du trägst?« + +Mit eisiger Festigkeit hielt Hans Thumser des Feindes haßsprühenden +Blick aus. + +»Geh!« sagte er, »das weitere findet sich morgen.« + +In derselben Sekunde hatte Valentin Pilgram dem Gegner das Korpsband von +der Brust gerissen und es zu Boden geschleudert. Nun holte seine Rechte +weit aus, um ihm die Mütze vom Kopf zu schlagen. Im selben Augenblick +aber warfen sich die Korpsburschen mit lauten Entsetzensschreien auf +beide Gegner von hüben und drüben, trennten sie, alles schrie wie toll +durcheinander: + +»Pilgram, Du bist wohl wahnsinnig!« + +»Zurück, haltet Ruhe, zum Teufel!« + +»Was fällt Euch ein?!« + +»Wir sind auf Korpskneipe!« + +»Schmeißt ihn hinaus, er hat hier nichts mehr zu suchen!« + +»Laß gut sein, Thumser, er wird Dir Satisfaktion geben, morgen findet +sich alles -- morgen!« + +Volkner, der Senior, brach sich Bahn durch die dicht zusammengekeilte +Schar der jungen Männer. + +»_Silentium!_« schrie er. »Ich bin hier der Herr im Haus. Tritt vor, +Pilgram, was soll das, was fällt Dir ein? Dich hier einzudrängen und +Dich an einem von uns zu vergreifen? Du weißt, Du hast kein Recht mehr, +hier zu sein!« + +Die Zucht vieler Semester, die eiserne Disziplin des Korps rief Pilgram +zur Besinnung zurück. + +»Du hast recht, Volkner,« sagte er. »Habt die Freundlichkeit mich +loszulassen ... es wird nichts weiter passieren, verlaßt Euch drauf.« + +Und ruhig und gemessen trat er vor den Senior: + +»Verzeih mir -- ich hatte mich vergessen. Ich denke, Ihr verzichtet wohl +alle auf eine weitere Aufklärung ... dafür ist ja das Ehrengericht da.« + +»Allerdings,« sagte Volkner, »dafür ist ja wohl das Ehrengericht da.« + +»Gut,« sagte Pilgram. »Ich bitte das Korps also nochmals feierlichst um +Entschuldigung -- ich bin morgen vormittag bis ein Uhr in meiner +Wohnung. Guten Abend.« + +Alles wich zur Seite. Noch einmal maß Valentin Pilgram mit kurzem Blick +der Todfeindschaft seinen Gegner, der schwer atmend, mit +rotunterlaufenen Augen, doch völlig gefaßt inmitten seiner Korpsbrüder +stand ... schritt zur Tür, riß sie auf. + +Da bot sich ein unerwartetes Schauspiel: Auf der Schwelle kniete, +tränenüberströmt, zusammengekauert, ein Mädchen im grauen Pelzjackett. +Nun sprang sie auf die Füße, starrte mit angstverzerrten Zügen, blöden +Blicks in den Korridor hinein, in dem Kopf an Kopf Grünbemützte sich +drängten, warf sich dann jählings herum und floh wie gejagt die Treppe +hinunter. + +Und langsam, schwerfälligen Schritts ging Valentin Pilgram von dannen +und ließ die Tür ins Schloß fallen. + + + + + 14. + + +Asta hatte nicht schlafen können. Das Fieber hatte in dem zierlichen, +doch kerngesunden Körperchen rumort -- doch der Gedankensturm, der ihr +Hirn durchbrauste, der Drang zu leben, zu helfen, ihr armes bißchen Sein +dafür einzusetzen, daß nicht unsagbar Entsetzliches geschähe -- dies +inbrünstige Wollen hatte die heraufbrauende Krankheit niedergeworfen. +Und früh um neun schon klopfte sie an Jucunda Buchners Tür. + +Frau Kanzleirätin, noch in Nachtjacke und Unterrock, hatte hoch und +teuer geschworen, Jucunda sei noch nicht zu sprechen. Asta Thöny hatte +sich nicht abweisen lassen. + +»Sie wird mir's danken, gnädige Frau!« + +Aber Jucunda Buchner dankte nicht. + +Aus unruhigen Morgenträumen voll ehrgeiziger Hoffnungen und +ahnungsvoller Beklemmungen hatte das Pochen der Kollegin sie +aufgeschreckt. Nun saß sie aufrecht im Bett, sehr ungnädiger Laune, +kaum, daß sie der Besucherin einen Stuhl anbot. Sie liebte es nicht, +sich unvorbereitet überraschen zu lassen. + +Mit fliegenden Worten berichtete Asta: ihren Spaziergang an der Pleiße +verschwieg sie allerdings, um so genauer aber erzählte sie von dem +Renkontre zwischen Pilgram und Thumser auf der Frankenkneipe und sparte +nicht an grellen Farben. Sie war überzeugt gewesen, Jucunda würde +alsbald um Hans Thumsers willen mit allen Anzeichen des Entsetzens aus +dem Bette springen und Hals über Kopf zu dem Geliebten wollen, um ihm +nicht von seiner Seite zu weichen, bis die Gefahr an ihm vorübergegangen +war ... + +Statt dessen sah Jucunda sie stillschweigend mit spöttisch +zusammengebissenen Lippen an, als sie hocherglühend ihren Bericht +geendet. + +»Nun?« fragte Asta ganz erstaunt. + +»Mir fällt etwas auf an Deiner Erzählung, liebes Kind,« sagte Jucunda. +»Du erzählst mir da von einem Auftritt, der sich auf der Frankenkneipe +zugetragen hat ... und zwar wenn ich recht verstanden habe, hast Du +nicht nur vom Hörensagen berichtet, sondern Du warst selber dabei +gewesen -- stimmt's oder stimmt's nicht?!« + +Astas Wangen, vom heftigen Gang durch den Schnee gerötet, glühten noch +höher auf. + +»Ja ... ich habe alles ... selbst mit angehört ...« gestand sie. + +»Hm -- dann darf ich mir wohl die Frage gestatten: wie kommst denn Du +auf die Frankenkneipe?« + +Astas Hände zupften unstet an den Falten ihres Rockes. + +»Ja, wie soll ich Dir das ... erklären? Es ist ja auch ... eigentlich +gleichgültig ... wie ich hingekommen bin -- ich war eben ... da.« + +»Nun, so gleichgültig kann ich das eigentlich nicht finden,« meinte +Jucunda. Sie lehnte sich zurück in die Kissen, stützte sich auf die +Ellbogen und fixierte die niedliche Kollegin mit überlegen spöttischem +Blick. »Na, also lassen wir das einstweilen mal dahingestellt. Aber: zu +welchem Zweck teilst Du mir denn das alles mit?« + +»Ja, aber um Gottes willen, Jucunda, das geht doch nicht, das darf doch +nicht sein, daß die zwei guten Jungens sich totschießen Deinethalb!« + +»Meinethalb?« Jucunda hatte sich hochaufgerichtet. »Wieso meinethalb? +Erkläre mir das!« + +»Ja, aber Jucunda -- das ist doch ganz klar! Uebrigens, um Gottes +willen, der eine, der Pilgram, der wohnt doch hier nebenan, gelt, kann +der uns auch nicht etwa hören?« + +»Beruhige Dich, liebes Kind, meine Mutter hat mir schon mitgeteilt, daß +er heut nacht nicht nach Hause gekommen ist. Also bitte, wie kommst Du +auf diesen Einfall?« + +»Aber begreifst Du denn das noch immer nicht?! Der Pilgram ist doch nur +eifersüchtig auf den Thumser, weil Du ihn hast abfallen lassen und den +andern -- --« + +»Und den andern?!« fragte Jucunda scharf. »Na, was denn! Bitte, was +denn?!« + +»Nun, der andere ... ist denn der andere nicht gestern nachmittag bei +Dir ... bei Dir gewesen --?« + +»Er war gestern nachmittag zum Tee bei mir, nu! Und was weiter?« + +»Zum -- Tee --?!« fragte Asta mit einem halb wehmütigen, halb +verschmitzten Lächeln. »Nur zum Tee --?« + +»Na! zu was denn sonst, bitte?!« fragte Jucunda heftig. + +»Na, wir wollen nicht streiten,« meinte Asta. »Also: ob die zwei braven +Kerle sich Löcher in den Leib schießen Deinethalb, Dir ist's rund herum +egal, scheint's?!« + +»Meinethalb? Ich weiß nicht, ob sie's meinethalb tun, mir haben sie's +nicht gesagt. Und übrigens -- ich möchte wissen, was ich daran ändern +kann, wenn die zwei sich's in den Kopf gesetzt haben, aufeinander +loszuknallen. Ich habe sie nicht geheißen, ich kann sie nicht hindern!« + +Asta Thöny spielte mit den Zipfeln ihres Pelzjacketts und sann +angestrengt nach mit zusammengekniffenen Brauen. Dabei stieg eine helle +Freude, ja ein lustiger Uebermut langsam, aber immer mächtiger in ihr +empor. Das war ja eigentlich wunderschön, was sie da erfuhr. Sieh da, +Hanschen! Viel Glück scheinst du mit deinem Teebesuch bei der großen +Jucunda ja nicht gehabt zu haben! Und für das bißchen Ehre auch noch +totgeschossen zu werden -- nein, das wollen wir doch mal sehen, ob wir +das nicht hintertreiben können. Aber dazu brauchen wir ja wohl nicht die +große Jucunda -- das können wir uns schließlich auch allein verdienen +... + +»Verzeih, liebe Jucunda,« sagte sie. »Ich habe mir eingebildet, Du +hättest was übrig für Hans Thumser, da habe ich mich also anscheinend +geirrt. Nun dann freilich --« + +»Allerdings, mein Kind, da hast Du Dich geirrt. Vielleicht erinnerst Du +Dich daran, daß Herr Thumser zwanzig Jahr und ein Student ist. Es mag ja +Kolleginnen geben, die sich aus derartig -- ungaren jungen Herren was +machen. Ich für meine Person -- ich lege auf derartige Bekanntschaften +keinen Wert.« + +Ach so, die Großartige willst du spielen! Na warte --! + +»Wenigstens nicht, wenn's ein x-beliebiger Bürgerlicher ist, willst Du +sagen, nicht wahr? Wenn's freilich ein Prinz wäre -- das ist was andres, +gelt, Jucunderl, denn kann er so ungar sein wie er will, hab' ich +recht?« + +Da fuhr Jucunda Buchner so heftig in die Höhe, daß Asta Thöny +unwillkürlich aufstand und einen halben Schritt zurückwich. Die schönen +Hände krallten sich, das majestätische Gesicht verzerrte sich zum +Ausdruck einer Medusa, die stahlblauen Augen funkelten Wut gleich den +Lichtern einer gereizten Katze: + +»Was fällt Dir ein, was erlaubst Du Dir?!« Doch rasch glätteten sich +ihre Züge zum Ausdruck eiskalter Verachtung, sanken die schönen +Schultern nachlässig in die Kissen zurück, und mit einer Handbewegung, +gleich jener, mit der eine Königin eine unbotmäßige Kammerfrau entläßt, +befahl sie: + +»Verlassen Sie mein Zimmer, mein Fräulein!« + +Asta Thöny lächelte ihr boshaftes Spitzbubenlächeln. Sie sank in einem +tiefen Hofknix zusammen: + +»Zu Befehl, Frau Marquise, wünsche gute Karriere.« Und schon war sie +hinaus. + +Während sie die Katharinenstraße hinunterschritt und den Marktplatz +überquerte, dessen Schneedecke grell im duftumschleierten Lichte des +frühen Wintermorgens gleißte, fühlte sie sich fast erstickt von der +Seligkeit, die verhaßte Rivalin einmal bis aufs Blut geärgert zu haben. + +So eine Hundeschnauze! so eine eiskalte! Tut, als hätte sie keine +Ahnung, daß sie es doch allein ist, die all den Unfug angestiftet hat in +den Brauseköpfen hüben und drüben -- Gott! und wer weiß, was für +Dummheiten sie sonst noch alles auf dem Gewissen hat! Ist nicht dies +ganze Nest wie verrückt nach ihr? Aber das ist das Blödsinnige an dem +Ruhm: hat unsereins sich erst mal durchgesetzt, dann liegt die Welt vor +ihr auf dem Bauch, und das verrückte Mannsvolk bringt sich um für das +Glück, von ihr mit Füßen getreten zu werden ... + +Aber jetzt -- jetzt ist sie wild. Jetzt faucht sie zu Hause, jetzt hat +sie einmal gespürt, daß auch noch andere Katzen Krallen haben --! + +Aber schau -- wer war denn das? Da kamen aus der Kleinen Fleischergasse +zwei grüne Mützen heraus, zwei Franken-Korpsburschen, sehr feierlich. +Der eine, der ältere, trug den Paletot nachlässig geöffnet, und man sah +darunter den bis hoch hinauf zugeknöpften Bratenrock ... Handschuhe +trugen sie, gestreifte Hosen und Gummigaloschen. Der ältere, den kannte +sie, den hatte ihr Hans einmal von ihrem Fenster aus gezeigt, es war +Volkner, der jetzige Häuptling des Frankenbundes. Ingrimmigen Ernst auf +den jungen Gesichtern, steuerten die zwei über den Marktplatz, bogen in +die Katharinenstraße und verschwanden in der Tür, die sie selber soeben +verlassen. + +O Gott -- sie wußte, was die zwei zu suchen hatten bei Valentin Pilgram +da droben ... sie wußte: die sollten ihm Hans Thumsers Forderung +überbringen ... das waren die Kartellträger ... + +Daß Hans Thumser kein Glück gehabt bei Jucunda ... und daß sie selber es +der verhaßten Rivalin einmal gründlich gegeben -- über dieses doppelte +Glück hatte Asta völlig den blutigen Ernst der Situation vergessen ... +Sie wußte: Kavaliere -- und waren sie auch erst seit ein paar Semestern +flügge geworden, wie die Herren Korpsstudenten -- die fackeln nicht +lange mit dem Austrag solcher Händel. Und wenn erst die Pistolen geladen +sind, dann kommt guter Rat zu spät ... und dabei mußte sie ja doch in +die Probe. Morgen abend war ja Abschiedsvorstellung -- »Wallensteins +Tod« -- und wenn sie auch nur ein winziges Röllchen hatte, das Fräulein +von Neubrunn, Theklas Gesellschafterin und Vertraute -- die Probe +versäumen, das hätte sie sich doch nicht getraut. Der stramme +Pflichtgeist, der das Meininger Ensemble beseelte, ließ einen solchen +Gedanken selbst in höchster Not niemals aufkommen. Schon dreiviertel +zehn, also höchste Zeit! Asta sprang in eine Droschke, befahl »Zum +Carolatheater!« und drückte sich fröstelnd in den verschlissenen Plüsch. +All ihr Uebermut war verweht. Was auf den starren, korrekten +Amtsgesichtern der zwei jungen Gesellen da gestanden hatte, das legte +sich wie eisig umklammernde Knochenfinger um ihr Herz. + +Die zwei suchten Pilgram ... und wenn er jetzt noch nicht daheim war, er +würde kommen, sie würden ihn finden, würden ihre Botschaft ausrichten +... Und dahinter lauerte ein Schreckensbild: das Bild einer +tiefverschneiten Waldblöße, die in unberührter, weiter Fläche daliegt im +ersten Morgenschein ... Nun rollen von hüben und drüben zwei Wagen +heran, lautlos ... ein paar junge Männer entsteigen ihnen, rüsten sich +zu geheimnisvoll grausigem Tun -- nun treten sie alle rechts und links +zur Seite, und zweie nur bleiben inmitten stehen, wenige Schritte nur +voneinander, sie heben blitzende Läufe -- einer zielt nach des andern +Herzen ... und der eine von ihnen heißt Hans Thumser ... + +Was tun? o Gott, was tun?! + +Da, ein rettender Gedanke: Franz Burg ... der war doch einmal +akademischer Bürger ... Wenn einer der Meininger nicht mehr ein noch aus +wußte, ging er ja immer zu Franz Burg ... + +Ja, das war's! Franz Burg mußte Rat schaffen. Aber wie den Gestrengen +erreichen? Wenn sie auf die Bühne kam, würde die Generalprobe bereits +begonnen haben -- und bis die beendigt war, durfte man dem Szenenleiter +mit nichts anderm kommen, aber auch mit gar nichts. Solange gehörte er +nur seinem Werk. Und jeder Versuch, ihn mit andern Dingen zu befassen, +würde höchstens eine erstaunliche Grobheit eingetragen haben. + +Und darüber würde es drei Uhr werden ... Gott, was konnte inzwischen +alles geschehen! So lange war man machtlos, war man im Dienst ... war +man »Fräulein von Neubrunn, Hofdame der Prinzessin«. + +Und die Prinzessin? -- Selbstverständlich Jucunda Buchner ... die große +Jucunda ... + + +Drei Uhr nachmittags. + +Auf der Kneipe des Korps Misnia tagte das S. C. Ehrengericht zur +Entscheidung über die hängende Pistolenforderung des Korpsburschen eines +wohllöblichen C. C. der Franconia Thumser wider den früheren C. B. +Pilgram. + +Der Kneipsaal, sonst nur »zu den festlichen Gelagen« bestimmt, war nun +zu verhängnisschwerer Tagung eingerichtet. An den hufeisenförmigen +Tischen saßen die Ehrenrichter, je zwei von jedem der fünf Leipziger +Korps, und von dem präsidierenden Korps Misnia noch ein dritter +Korpsbursch als Protokollführer. + +Wie um das feierlich Eindrucksvolle des Femgerichts zu unterstreichen, +waren die Schlagläden heruntergelassen, und die gelben Flammen der +Gaslichtkrone warfen zuckende Reflexe auf die bunten Mützen, die +dreifarbenen Bänder, die blinkenden Scheiben der Klemmer und Monokels, +die schmißdurchsetzten Jugendwangen, die in feierlich offizielle Falten +gelegt waren. + +Hans Thumser, als der Beleidigte, wurde zuerst gehört. + +Mit knappen Worten berichtete er den Vorfall, der sich am gestrigen +Abend auf der Kneipe seines Korps zugetragen. Als er geendet, fragte der +Vorsitzende, Graf Schmettow, der Erste der Meißner, ein über die Maßen +patenter, hagerer Gesell, dessen linke Wange eine furchtbare Säbelnarbe +von der Schläfe über den Mundwinkel bis ins Kinn hinein durchzog: + +»Danke, Herr Thumser. Ihre Erzählung ist natürlich so, wie sie da +vorgetragen worden ist ... äh ... nicht so recht verständlich ... +offenbar ist doch zwischen Ihnen beiden ... äh ... noch irgend etwas +andres vorgekommen ...? Wollen Sie uns auch darüber Auskunft geben, oder +wünschen Sie, daß zunächst sich Ihr Herr Gegner ... äh ... über den von +Ihnen vorgetragenen Tatbestand erklärt?« + +Hans Thumser sann einen Augenblick nach. Astas Bild, Jucundas tauchte +einen Augenblick vor seinem Geiste auf. Hatte es einen Zweck, diese +Erlebnisse in die Verhandlung mit hineinzuziehen? -- Es war ja +schließlich ganz gleichgültig, wie das alles geworden war ... wie es +hatte kommen können, daß der einstige Korpsbruder ihm das Band von der +Brust gerissen ... das war nun einmal geschehen. Die Tat lag vor, nackt +und unerbittlich ... Für sie hatte er Sühne zu fordern -- sie zu +erklären war allenfalls des andern Sache, nicht die seine ... + +»Ich habe vorläufig nichts weiter mitzuteilen, Herr Vorsitzender.« + +Damit war er entlassen. + +Und mit angespannter Neugier hingen nun die Blicke der jugendlichen +Ehrenrichter an der Reckengestalt des Jünglings, der so lange als der +Besten einer in ihrer Mitte gestanden hatte, dessen scharfe Klinge nicht +nur, dessen scharfes Wort, dessen ganzes vorbildliches Wesen einem jeden +stets den vollkommensten Respekt abgezwungen. Da war keiner im +Leipziger S. C., der nicht den Fall Pilgram mit brennendem Interesse, +mit aufrichtiger Sympathie verfolgt hätte. Und jeder hatte Gelegenheit +gehabt zu beobachten, wie Franconias einstiger Senior schon gar bald +nach seinem Ausscheiden aus dem Korps wie unter der Last eines +grundstürzenden Erlebnisses förmlich in sich zusammengesunken war, +verändert, verwildert, tiefster Verbitterung anheimgefallen. + +Nun schien er wieder der Alte, zum mindesten in seiner äußeren +Erscheinung. Korrekt gescheitelt und gekleidet, in tadellosem Gehrock +und Lackschuhen stand er vor dem Ehrengericht, nur um seine Brust fehlte +das Band und auf seinem Gesicht das alte trotzig-heitere +Selbstbewußtsein ... + +»Herr Pilgram,« begann der Vorsitzende, »ich brauche Ihnen nicht zu +sagen, worum es sich handelt. Herr Thumser Franconiae hat Ihnen eine +Pistolenforderung auf fünfzehn Schritt Barriere und Kugelwechsel bis zur +Kampfunfähigkeit übersandt wegen eines Renkontres, das Sie mit ihm +gestern abend gegen neun Uhr auf der Frankenkneipe gehabt haben. +Entsinnen Sie sich der Ausdrücke, die Sie gebraucht haben, und ist es +Ihnen auch bewußt, daß Sie ihm das Korpsband von der Brust gerissen, +dann zum Schlage ausgeholt haben, und nur durch das Dazwischentreten der +Herren Korpsbrüder des Herrn Thumser verhindert worden sind, Herrn +Thumser noch weiter tätlich anzugreifen?« + +»Allerdings,« erklärte Pilgram ruhig. »Ich entsinne mich des Vorfalls +genau. Ich war vollständig Herr meiner Sinne und übernehme für meine +Handlungsweise die volle Verantwortung.« + +»Sie sind also bereit, Herrn Thumser die standesübliche Genugtuung mit +der Waffe zu geben? Und haben andrerseits nicht die Absicht, +irgendwelche andere Formen der Sühne in Vorschlag zu bringen?« + +»Nein!« sagte Valentin Pilgram. + +Einer der Ehrenrichter bat ums Wort. Herr ten Brink, der Erste +Chargierte der Guestphalia, ein langer, semmelblonder, sommersprossiger +Sohn der roten Erde. + +»Es ist mir was aufgefallen in der Erzählung des Herrn Thumser,« sagte +er. »Herr Thumser hat erzählt, Sie hätten ihm einen Brief zu lesen +gegeben, dessen Inhalt ihm vollständig unbekannt gewesen sei. Wollen Sie +sich über diesen Punkt vielleicht auslassen?« + +»Darf ich mir die Frage gestatten, Herr Vorsitzender,« erwiderte +Pilgram, »ob Herr Thumser über diesen Punkt bereits nähere Erklärungen +gegeben hat?« + +»Nein!« sagte Graf Schmettow. »Wir haben vorläufig darauf verzichtet, +uns überhaupt mit der Frage zu beschäftigen, was für ... äh ... Motive +hinter dem ... Renkontre vorhanden gewesen sein mögen.« + +»Dann --« sagte Valentin Pilgram, »dann würde ich für meine Person +vorziehen, diese Seite der Sache ebenfalls unerörtert zu lassen, +vorausgesetzt, daß ein hohes Ehrengericht nicht seinerseits darauf +besteht.« + +»Ich verstehe,« sagte der Vorsitzende. »Die Herren scheinen also einig +darüber zu sein, daß der Tatbestand der Beleidigungen lediglich an und +für sich hier zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden soll, ohne +daß auf ihre Veranlassung weiter einzugehen sein würde -- aus Gründen +der Diskretion vermutlich, nicht wahr?« + +Pilgram nickte stumm. + +»Wenn ich recht verstehe,« fuhr der Vorsitzende fort, »so stellen die +beiden Herren Gegner sonach den Sachverhalt übereinstimmend dar. Danach +würde wohl eine Vernehmung von Zeugen und jede weitere Aufklärung des +Sachverhalts erübrigen, nicht wahr, meine Herren?!« + +Zustimmend nickten die Ehrenrichter, und der Vorsitzende entließ den +Beleidiger. + +Die Beratung war nur kurz. Der Fall lag ganz klar: es handelte sich um +eine tätliche Beleidigung, die zur Ausführung gekommen war, und um eine +solche, deren Ausführung nur durch das Eingreifen Dritter verhindert +worden war. Die erstere, das Abreißen des Korpsbandes, kam an Schwere +der zweiten, vereitelten mindestens gleich. Neben diesen Realinjurien +spielen die vorgefallenen wörtlichen Beleidigungen nur eine +nebensächliche Rolle. Der Beleidiger hatte zugegeben, bei klarem +Verstande und wohlüberlegt vorgegangen zu sein. Unter diesen Umständen +war es vollkommen klar, daß die Forderung genehmigt werden mußte, und +zwar ohne daß ein Anlaß vorlag, die sehr scharfen Bedingungen zu +ermäßigen. + +Schon neigte sich die Verhandlung ihrem Ende, da erbat Herr ten Brink +Guestphaliae Erster noch einmal das Wort: + +»Ich weiß nicht, meine Herren, die Sache kommt mir eigentlich ein +bißchen merkwürdig vor. Die Geschichte mit dem Brief will mir nicht +aus dem Kopf, ich habe das Gefühl, da steckt ein Mißverständnis hinter. +Ich meine, das Ehrengericht ist doch schließlich nicht bloß dazu da, +über eine Forderung zu entscheiden -- ich meine, unter Umständen wäre es +doch unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, Mißverständnisse +aufzuklären ... kurz, zwischen den Parteien zu vermitteln. Ich meine, +wir sollten in diesem Fall doch ein wenig genauer auf die Vorgeschichte +des Renkontres eingehen. Um so mehr, als meines Erinnerns Herr Thumser +geäußert hat, der fragliche Brief sei von einer Dame geschrieben +gewesen. Na, meine Herren, wir wissen doch alle, wenn die Weiber in so +'ne Affäre hineinspielen, dann ist es meistens halb so schlimm.« + +Ein kurzes, verständnisinniges Schmunzeln auf allen Gesichtern, das aber +schnell der gewohnten, feierlichen Korrektheit wich. Der Vorsitzende +meinte: + +»Ich halte uns nicht für befugt, in die persönlichen Angelegenheiten +der Kontrahenten einzudringen, wenn diese nicht selbst Wert darauf +legen. Ich glaube -- der Versuch einer Vermittlung zwischen den Herren +würde ... äh ... eine Ueberschreitung unserer Kompetenz sein ... und +zugleich ein Eingriff in die Verfügungsfreiheit der Herren, den sie sich +nicht gefallen zu lassen brauchten. Aber ich weiß nicht, wie die anderen +Herren darüber denken? Bitte sich zu äußern!« + +Es stellte sich heraus, daß ten Brink mit seiner Auffassung ganz allein +stand. So wurde denn die Forderung mit den Stimmen aller Ehrenrichter +gegen die seinige genehmigt und dies den beiden Parteien mitgeteilt. + +Das Schicksal war gefallen. + +Gleich nach dem Ehrengericht traten die Sekundanten der beiden Parteien +zusammen. Volkner für Thumser und Herr Borgmann Neo-Borussiae Erster für +Pilgram. Sie verabredeten als Platz für das Duell die Heiderwiese, eine +Waldlichtung im Ratsholz, südwestlich von Connewitz, unfern des linken +Pleißeufers, am Reitwege nach Gautzsch, und als Zeit für die Austragung +punkt sechs Uhr am folgenden Morgen. + +Hiervon benachrichtigten sie ausschließlich den Grafen Schmettow und +ersuchten ihn, als Senior des derzeit präsidierenden Korps das Amt +eines Unparteiischen zu übernehmen. + +Dann wurden die Korpsdiener unter Hinweis auf ihre Pflicht zu absoluter +Verschwiegenheit ins Vertrauen gezogen und angewiesen, den +Pistolenkasten instandzusetzen, Wagen zu bestellen. Den Vertrauensarzt +des S. C. in derartigen Fällen, den Sanitätsrat Dr. Collwitz, einen +Alten Herrn der Neo-Borussia, übernahm Herr Borgmann zu bestellen. + +Diese Vereinbarungen hatten im Konventszimmer der Misnia stattgefunden, +welches den Herren für diesen Zweck zur Verfügung gestellt war. Nun +verabschiedete man sich voneinander mit dem üblichen Händedruck bei +hochgehobenen, eingewinkelten Ellenbogen und zeremonieller Verbeugung. + +Volkner begab sich in eine gegenüberliegende Konditorei, in der Hans +Thumser seine Mitteilungen abwartete, und benachrichtigte ihn vom +Geschehenen. + +Das alles geschah in kurzen, formelhaften Wendungen. Kein Wort wurde +gesprochen zwischen den beiden jungen Leuten, das über das sachlich +absolut Notwendige hinausging. Jeder mußte die letzte Kraft aufwenden, +Haltung zu bewahren angesichts des Grauens, das von diesem Unabwendbaren +ausging, von diesem Unabwendbaren, das nun herankroch mit dem +schleichenden Schritt der Sekunden und Minuten; das sich vollenden +mußte, bevor es abermals Tag geworden. + + +Nach Schluß der Probe mußte Asta lange warten, bevor sie den +Oberregisseur für sich allein bekam. Tausend Geschäfte, tausend Bitten +drängten sich noch an ihn heran. Schließlich wurde es ihm zu toll: + +»Kinder, ich bin auch nur ein Mensch und muß heut abend den Wallenstein +spielen. Jetzt schert Euch gefälligst alle zum Teufel! Ich will +schlafen.« + +Asta schoß hinter ihm drein. + +»Meister, eine Bitte, Sie müssen mich anhören, es geht um Tod und +Leben!« + +»Und wenn's um sechsundzwanzig Paar Regensburger Würschte geht, ich kann +nicht mehr.« + +»Helfen Sie mir, Meister, oder soll ich hier auf dem Korridor einen +Kniefall tun?« + +»Nützt Ihnen auch nichts, kommt alle Tage vor. Lassen Sie mich in +Frieden!« + +Asta brach in Tränen aus und hängte sich an des Davonhastenden Arm. + +»Pah!« brummte der, »auch noch flennen! nützt Dir auch nichts, kommt +auch alle Tage vor!« + +Aber er schüttelte sie doch nicht ab, als sie sich an seinen Arm hing +und das feuchte Gesichtchen an seiner Schulter barg -- als sie sich +hinter ihm in seine Garderobe drängte. + +»Also in drei Teufels Namen, was gibt's? Aber kurz, bitte!« + +Er ließ seine lange Gestalt mit einem Grunzen halb des Grimms, halb des +Behagens auf das schminkfleckige Sofa fallen. Wies der Besucherin mit +Handwink den Frisierstuhl als Sitzgelegenheit. Asta drehte den Stuhl +herum, hockte auf seiner vordersten Kante, erzählte stockend, befangen, +verwirrt ... + +Als sie schwieg, tippte Franz Burg mit dem Mittelfinger der Rechten auf +seine Brust und zuckte ein paarmal langsam die Schultern. Seine Brauen +waren hochgezogen, um die schmalen Lippen spielte in tausend Fältchen +ein Mephistoschmunzeln. + +»Sie sollen mir raten, was ich tun soll, Meister!« + +»Ja, Kindchen, soweit ich aus der Geschichte klug geworden bin, handelt +es sich also um zwei Studenten, und einer von ihnen ist momentan +Quartiergast in dem Kämmerchen da drüben unter Ihrem Pelzjackett, das +freilich, soviel mir bekannt ist, häufig seinen Mieter wechselt. Aber, +wat sall ick dorbi dauhn?« + +»Einen Rat -- einen Rat will ich, lieber Herr Burg. Sie sind doch +Student gewesen -- was fängt man nur an, um die zwei wieder +auseinanderzukriegen? Was soll ich tun, sagen Sie mir, was soll ich +tun?!« + +»Die Karre laufen lassen, wie sie laufen will! Ich bitt' Sie -- die +jungen Leute müssen doch was erleben ... Sehen Sie sich doch um in der +Welt! da geht ja heute alles so verflucht ehrbar, korrekt und +vorschriftsmäßig zu, es passiert nichts -- und passieren muß doch was in +der Welt ... wovon sollen wir denn sonst leben, wir armen Komödianten, +und die Poeten, die für uns Komödie schreiben! Ist ja 'n wahrer Segen, +daß wenigstens auf deutschen Hochschulen noch manchmal 'n bißchen +gerauft und geknallt wird. Ich freue mich immer, wenn ich sehe, daß noch +Leidenschaft in der Jugend drin steckt ... daß noch Tragödien passieren. +Das wäre ja doch ein wahrer Jammer, wenn man so was hintertreiben +wollte.« + +»Aber wenn nun ein Menschenleben dabei zugrunde ginge, bedenken Sie +doch, Meister! So ein blühendes, herziges, junges Studentenleben!« + +»Na -- wenn schon!« knurrte Burg, »Studenten gibt's doch weiß Gott genug +auf der Welt. Eine große Sensation ... eine -- na, einen Stoff -- das +ist wahrhaftig so'n Allerweltsstudentenleben wert!« + +»Herr Burg, Sie sagen Allerweltsstudentenleben ... das stimmt hier aber +nicht; der eine, das ist kein Allerweltsstudent, das ist was ganz +Besonderes --« + +»Der eine? Also =Ihrer= selbstverständlich, nicht wahr?« + +»Gott ja, meiner, wenn Sie wollen.« + +»Nun, was ist denn so Besonderes an ihm?!« + +»Er ist ein Dichter! Ach, so wundervolle Gedichte macht er. Wenn ich +doch nur eins bei mir hätt'!« + +»Sieh, sieh!« schmunzelte der Oberregisseur. »Also ein zukünftiger +Bühnenlieferant. Na, dann soll er sich erst recht schießen!« + +»Aber Herr Burg ... um Gottes willen!« + +»Ja gewiß soll er. Entweder er geht drauf -- na, in Gottes Namen: er ist +der erste nicht. Wie mancher Homer ist blind geworden, =ehe= er Zeit +gehabt hat, die Welt, das Leben so tief in sich hineinzusaugen wie der +alte Griechenbarde ... Wie mancher Aeschylos mag in der Seeschlacht +gefallen sein, wie mancher Schiller auf der Karlsschule in Verzweiflung +und Verblödung hineingeknutet ... Das ist Kismet ... Wenn er aber übrig +bleibt, glauben Sie nicht, daß er dann ein ganz andrer Kerl ist wie +vorher, wenn er mal dem Tode ganz nahe ins Gesicht gesehen hat? Glauben +Sie nicht, daß er Ihnen nachher noch viel schönere Verse machen wird; +daß er noch 'ne ganz andere Nummer von Tragödie zustandebringt, wenn er +erst mal erlebt hat, wie einem zumute ist, der die Nase hinhalten muß, +wenn's drüben blitzt und knallt?« + +Asta sprang auf, rannte schluchzend zum Fenster. + +»Das ist entsetzlich, Herr Burg, das ist grausam!« + +»Ne, das ist klug, das ist weise, Kindchen!« + +»Also gut!« schrie die Kleine, warf sich herum, stand mit geballten +Fäusten vor dem Oberregisseur, das reizende Gesicht von Grimm und Haß +verzehrt. »Also gut! Sie sollen sich schießen ... einer soll auf dem +Platze bleiben, alle beide -- was kommt dabei heraus?! Nur eine neue +Reklame für sie, für die große Jucunda! Was wird's heißen? Zwei +Studenten haben sich geschossen ... wegen ihr, wegen Jucunda Buchner! +Das ist's ja auch, was sie will, darauf hat sie's ja auch angelegt mit +allem Raffinement, die Katze, die verdammte! Der ist's recht, wenn ein +paar so fesche junge Kerle zum Teufel gehen ihretwegen -- das paßt ihr +grad in ihren Kram, dem hundeschnauzenkalten Weibsbild, das an nichts +denkt -- nur an sich, nur an sich!« + +»Ach so!« lächelte Franz Burg. »Da zielt's hinaus! Mag sein, Sie haben +recht, Kindchen ... Vielleicht ist unsere große Jucunda wirklich eine +ganz haarsträubende Egoistin -- aber ich wollte zu Ihrem Besten, Kleine, +Sie selber wären's auch. Wenn Sie das erfreuliche Temperament, das Sie +anscheinend im Leben besitzen, ein bißchen mehr zusammenhielten und auf +Ihre Kunst losließen, statt auf Ihre ... auf die Mieter Ihres +Herzenskämmerleins -- glauben Sie mir, Sie wären eine größere +Künstlerin, als Sie's leider sind. Sagen Sie mir nichts gegen die +Jucunda, die ist ganz gut so wie sie ist. Die ist, was Sie nicht sind: +eine Komödiantin. Die fühlt und weiß, wozu sie auf der Welt ist: nämlich +zum Komödienspielen! Lieben und sich lieben lassen -- schöne Sache, o +ja, für die andern, für die Alltagsweiber -- aber nicht für Euch. +Zusammenhalten sollt Ihr Eure Glut, kalt wie Hundeschnauzen sollt Ihr +meinetwegen sein im Leben, wenn Ihr nur abends, sobald der Lappen in die +Höhe fliegt, Vulkane seid, wie die Jucunda einer ist! -- Na, haben Sie +noch weiter Schmerzen, Kleine?« + +Gesenkten Blickes, mit zuckendem Kinn hatte Asta die Standrede des +Meisters über sich ergehen lassen. Nun warf sie den Kopf trotzig in den +Nacken, stampfte mit dem Fuß auf: + +»Ich will aber nicht, ich will nicht, daß der lange Pilgram mir meinen +süßen Jungen totschießt! Wollen Sie mir helfen, wollen Sie mir einen +vernünftigen Rat geben?! Oder soll ich meiner Wege gehen?« + +»Hm ... also das sage ich Ihnen, Astachen, gehen Sie weg vom Theater, +aus Ihnen wird niemals was. -- Also, wenn's denn absolut sein muß, die +Sache ist doch entsetzlich einfach: Wenn Studenten Dummheiten machen, +dann steckt man sich hinter ihre Eltern. Leben die respektiven Herren +Väter noch?« + +»Beide, soviel ich weiß.« + +»Na also, und wo wohnen sie denn, die würdigen Erzeuger der beiden +Hitzschädel?« + +»Der eine wohnt da hinten im Rheinland irgendwo, soviel ich weiß.« + +»Welcher? Ihr moralischer Schwiegerpapa oder der andere?« + +»Nein, der =eine=,« sagte Asta, und das alte Schelmenlächeln blitzte +durch Grimm und Tränchen wieder hindurch. + +»Also an den wird bis morgen nicht dranzukommen sein -- und der andere?« + +»Der andere, der ist, soviel ich weiß, irgendein hohes Tier in +Dresden!« + +»Teufel, das trifft sich ja glänzend! Also, setzen Sie sich auf die +Bahn, Kindchen, und rücken Sie dem Alten -- wie heißt er? -- dem alten +--?« + +»Pilgram,« half Asta ein. + +»Also, rücken Sie dem alten Pilgram auf die Bude und petzen Sie ihm, daß +sein wackerer Sprößling seinen Monatswechsel dazu mißbraucht, statt +hinter seinen Büchern zu hocken, andern jungen Leuten Löcher in den +Bauch zu schießen. Ich wette, dann entwickelt sich alles weitere +historisch.« + +Asta sprang auf den Oberregisseur zu, der noch immer langhingestreckt +auf dem schminkfleckigen Sofa lag, fiel ihm um den Hals und küßte ihn +stürmisch. + +»Ach, Franzel, Sie sind doch der Allerbeste! Das wird gemacht, das ist +die Rettung!« + +»Aber bitte, erst nach dem 'Lager' -- die kleine Oerzen ist krank +geworden. Sie spielen heut abend die Gustel von Blasewitz. Nachher +reisen Sie meinetwegen, wohin Sie wollen.« + +»Ich danke Ihnen, oh, ich danke Ihnen tausendmal, Sie Goldiger!« + +»Es ist ein Skandal,« knurrte Franz Burg. »Da hat unser Herrgott endlich +mal wieder eine richtiggehende Tragödie angelegt, und so ein dummes, +kleines Gör zerreißt ihm das Konzept und macht eine Posse draus!« + + + + + 15. + + +Wenige Minuten nach halb zwölf stieg Asta Thöny am Böhmischen Bahnhof in +Dresden aus dem Leipziger Schnellzuge. Sie hatte schon in Leipzig das +Dresdener Adreßbuch eingesehen und festgestellt, daß der +Senatspräsident am Oberlandesgericht Heinrich Pilgram in der +Marschallstraße Nummer zweiundzwanzig wohnte. + +In dem milderen Klima der Residenzstadt war der Neuschnee des gestrigen +Tages schon geschmolzen und hatte das Pflaster mit einer zähen +Schlammkruste überzogen. In den Straßen war schon alles Leben erstorben. +Trübselig spiegelte sich der Schein der Straßenlaternen in den Kotlachen +der überschwemmten Rinnsteine. Trübselig klapperte der Gaul durch die +physiognomielosen Straßen der Vorstadt und durch die kaum angebauten +Alleen an der Grenze der Altstadt. + +Eigentlich doch ein wahnsinniger Plan: um Mitternacht einer wildfremden +Familie auf die Bude zu rücken! Aber schließlich, man hatte doch wohl +alle Veranlassung, ihr dankbar zu sein. -- Endlich: da stand sie vor der +Pforte einer vierstöckigen Mietskaserne, und während der Wagen von +dannen rollte, riß sie sich schier die Hände ab in dem Bemühen, den +Portier zu alarmieren. + +Ein Tattergreis, der hastig Hose und Rock über sein Nachtgewand gezogen, +mit wirrem Graukopf und schlampigen Pantoffeln empfing sie, bösartig +knurrend, und war nur durch etliche Markstücke so weit zu bezähmen, daß +er sie bei der schwankenden Beleuchtung einer schwelenden Handlaterne +bis zum dritten Stock hinaufbegleitete, wo ein Porzellanschild mit der +Aufschrift »Pilgram« an einer breiten, mit Vorhängen abgeblendeten +Glastür den Eingang wies. + +Drinnen alles finster. + +Wahnsinnige Situation! Aber was half's! Die Klingel schrillte, und zu +Astas freudiger Ueberraschung erschien schon nach wenigen Minuten ein +verschlafenes Dienstmädchen, das entsetzt zurückprallte, als es der +fremden, eleganten Dame ansichtig wurde. + +Die Herrschaften seien in Gesellschaft, würden aber wohl bis ein Uhr +wieder zurück sein ... + +Den unbekannten Besuch in die Wohnung einzulassen, dazu war das Mädchen +nicht zu bewegen, und so mußte Asta unter Führung des Tattergreises +abermals die drei Stiegen hinunter, um draußen auf der ganz verlassenen +Straße in Schlamm und Tauwind auf und ab zu patrouillieren, wie sie +abends vorher im Schnee auf der Kleinen Fleischergasse auf- und +abpatrouilliert war ... + +Endlich nach einer Stunde Wartens nahten von der Altstadt her vier +vermummte Gestalten: ein Herr im Zylinder, den Rockkragen +hochgeschlagen, und drei Damen, eine kugelrunde und zwei schlanke, +hochgewachsene, in Abendmänteln und Kapuzen. + +Im Augenblick, als der alte Herr den Schlüssel einschob, um zu öffnen, +trat Asta auf ihn zu: + +»Um Verzeihung! Ich habe wohl die Ehre, Herrn Präsidenten Pilgram ...« + +Der alte Herr richtete sich aus seiner gebückten Stellung auf, stand +völlig verblüfft, musterte die Fragerin. + +Im selben Augenblick sah Asta durch goldgefaßte Brillengläser hindurch +zwei scharfe, klare Augen mit durchdringendem Blick auf sich gerichtet. + +»Allerdings! Ich heiße Pilgram -- Sie wünschen?!« + +Inzwischen waren die Damen herangekommen, starrten völlig verblüfft und +verständnislos auf die zierliche Gestalt im silbergrauen Jackett, deren +Züge ein grauer Schleier fast ganz verbarg. + +»Entschuldigen Sie gütigst, Herr Präsident, könnte ich Sie wohl einen +Moment allein sprechen?« + +»Was für eine Angelegenheit, bitte, meine Dame? Es ist ein Uhr!« + +»Eine sehr dringende Angelegenheit,« stammelte Asta, »ich komme aus +Leipzig, es handelt sich um Ihren Sohn.« + +Ein noch schärferer Augenblitz traf das Mädchen. + +»Hm ...« sagte er nur, dann bückte er sich aufs neue, schloß auf und +sagte zu seinen Damen: + +»Ihr seid wohl so freundlich und geht schon hinauf solange.« + +Mit angstvoller Neugier musterten die drei Damen die Fremde, aber ein +scharfes: »Also bitte!« veranlaßte sie, dem Wunsche des +Familienoberhauptes Folge zu leisten. Die Tür fiel ins Schloß. + +»Also zuvörderst, wer sind Sie?« fragte der alte Herr. + +»Ich bin die Herzoglich Meiningische Hofschauspielerin Asta Thöny.« + +»Hm ... und Sie wünschen?« + +»Ihr Sohn Valentin wird sich morgen früh mit einem andern Studenten +schießen.« + +Die buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen, der graue +Fransenschnurrbart zuckte. + +»Und dieser andere Student ist wer?« + +»Ein Herr Hans Thumser.« + +»Hans Thumser?! Das ist ja ein Korpsbruder meines Sohnes!« + +»Ihr Herr Sohn ist schon vor Wochen aus dem Korps ausgetreten ...« + +»Was ist das?!« + +Der Präsident richtete sich straff auf: + +»Das müßte ich denn doch wohl wissen, mein Fräulein!« + +»Es ist aber so, Herr Präsident.« + +»Hm ... lassen wir's zunächst einmal dahingestellt, ob Sie recht haben. +Was veranlaßt Sie, mir diese Mitteilung zu machen?« + +Asta war auf diese Frage vorbereitet und hatte sich ihre Antwort +zurechtgelegt. + +»Ich bin ... mit Herrn Thumser ... nahe befreundet.« + +»Hm -- mit Herrn Thumser? Sie machen mir also Ihre Mitteilungen weniger +im Interesse meines Sohnes als vielmehr in dem des Herrn Thumser, wenn +ich recht verstanden habe?« + +»Nein, das doch nicht, Herr Präsident. Allerdings ... vor allem doch +wohl Herrn Thumser zuliebe ... Aber Ihren Herrn Sohn kenne ich auch, +zwar nur sehr flüchtig, aber ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet, er +hat mich ... er hat mir gestern ... das Leben gerettet.« + +Der alte Herr sah das erregte Mädchen mit einem Blick an, in dem ganz +deutlich zu lesen war, er zweifle an ihrem Verstand. + +»Darf ich Sie bitten, meine Gnädigste, Ihren Schleier zu heben, damit +ich sehe, wen ich eigentlich vor mir habe?!« + +Mit zwei raschen Bewegungen streifte Asta Thöny den Schleier in die +Höhe. Sie fühlte sich mit scharfer Prüfung gemustert. Aber das Ergebnis +mußte wohl nicht ungünstig sein, denn erheblich liebenswürdiger als +zuvor fuhr der alte Herr fort: + +»Darf ich Sie bitten, mein gnädiges Fräulein, sich mit mir hinauf in +meine Wohnung zu bemühen: Sie werden mir erzählen.« + +Er entzündete ein Wachsstreichholz und leuchtete dem seltsamen Gast die +Treppe hinauf. Der Hausflur war nun hell erleuchtet. An einer +halboffenen Tür drängten sich drei weibliche Köpfe, die hastig +verschwanden, als der Präsident mit seinem Besuch eintrat. Sehr höflich +nahm er dem Gaste den Regenschirm ab und geleitete ihn in ein dunkles +Zimmer zur Rechten, entzündete zwei Gasflammen, bat, ihn einen Moment zu +entschuldigen. + +Einen raschen Blick warf Asta in dem Zimmer umher. Die übliche, +gutbürgerliche Einrichtung der sechziger Jahre: Mahagonimöbel, grüner +Plüschbezug, an den Wänden ehrwürdige Familienbilder in Oel mit +Darstellungen von Priestern und Gelehrten aus den beiden letzten +Jahrhunderten. Am Fenster ein Mahagonisekretär mit Rolljalousie, darauf +zahlreiche Photographien in Ständerrahmen, unter denen Asta sofort die +eines schlanken Studenten in Mütze und Band herauserkannte. + +Der Präsident kam zurück, bat, auf dem Sofa Platz zu nehmen, und setzte +sich ihr gegenüber in einen Plüschsessel. Er hatte abgelegt. Auf der +linken Brust seines Fracks schimmerte eine blinkende Ordenreihe. + +Und abermals mußte Asta die Geschichte des gestrigen Abends erzählen. +Der Präsident lauschte gespannt, ohne sie mit einem Wort, mit einer +Frage zu unterbrechen. Als sie geendet, trat er auf sie zu, streckte ihr +die Hand hin: + +»Ich danke Ihnen, meine Gnädigste. Das war sehr gescheit von Ihnen, daß +Sie gekommen sind. Ich fahre mit Ihnen nach Leipzig. Ich habe schon +nachgesehen, um drei Uhr vierzig fährt der Zug, um halb sechs sind wir +drüben. Darf ich Sie inzwischen meinen Damen zuführen?« + +»Sehr gütig, Herr Präsident. Und was wird werden, was wollen Sie tun?« + +»Den beiden jungen Herren klar machen, daß ihre Eltern sie nicht deshalb +großgezogen haben, damit sie sich untereinander als Zielscheibe +benutzen.« + +»Aber werden wir auch nicht zu spät kommen? Wollen Sie nicht vielleicht +vorher noch ein dringliches Telegramm an Ihren Sohn ablassen?« + +»Liebes Fräulein, ich war selbst einmal Student -- bin sogar Alter Herr +des Korps Franconia --, wie ich die Buben kenne, scheren sie sich in +solchen Fällen den Teufel um ein väterliches Telegramm. Im Gegenteil: +wenn sie erst wittern, daß wir ihnen auf der Spur sind, dann kriegen wir +sie morgen früh überhaupt nicht mehr zu fassen. Um halb sechs Uhr sind +wir dort, vor sechs Uhr wird's ja überhaupt nicht hell um diese +Jahreszeit; inzwischen werden wir überlegen, was zu tun ist. Darf ich +Sie jetzt bitten, zu meiner Frau und zu meinen Töchtern +hinüberzukommen?« + +»Verzeihung, Herr Präsident, würden Sie es nicht für besser halten, wenn +Sie zunächst Ihre werten Damen über den Zweck meines Besuchs +aufklärten?« + +»Da haben Sie recht, liebes Fräulein. Wenn Sie mich also einen +Augenblick beurlauben wollen ...?« + +Nur wenige Minuten blieb Asta allein. Dann flogen zwei schlanke Mädels +herein, in Balltoilette, mit glühenden Backen, glänzenden Augen, in +denen die Angst um den Bruder und dabei doch auch brennende Neugier und +gespannte Erregung standen, und stellten sich mit befangenen Knixen vor. +Achtzehn und zwanzig mochten sie sein, die ältere dem Vater und Bruder +wie aus den Augen geschnitten; die jüngere, ein munteres, molliges Ding, +das Ebenbild der Mutter, wie sich alsbald herausstellte, als nun auch +die rundliche Frau Präsidentin auf der Bildfläche erschien. Und alsbald +saß Asta mit Valentin Pilgrams Mutter und Schwestern unter der +Hängelampe eines altmodisch-behaglichen Speisezimmers. Man stopfte sie +mit Butterbrot und Süßigkeiten, man fragte sie aus nach tausend Dingen, +von denen sie keine Ahnung hatte. + +Während dessen hatte sich der Präsident entfernt, kam nach ein paar +Minuten zurück. + +»So, mein gnädiges Fräulein, ich habe mir die Sache überlegt. Ich werde +jetzt gleich zum nächsten Telegraphenamt gehen und eine dringliche +Depesche an die Leipziger Polizei aufgeben. Hören Sie, was ich +aufgesetzt habe: + + 'Königl. Kreishauptmannschaft Leipzig! Morgen früh soll dort + Pistolenduell zwischen meinem Sohn Valentin und Stud. Hans Thumser + stattfinden. Ort und Zeit unbekannt. Abreise sofort, um selbes zu + verhindern. Ankomme 5.29 dort Dresdener. Erbitte Unterstützung, + womöglich berittenen Gendarmen, am Bahnhof. + + Pilgram, + Senatspräsident am Oberlandesgericht.' + +So, ich nehme an, daß man einem königlichen Beamten meines Ranges in +angemessener Weise entgegenkommen wird. Wenn die Polizei einigermaßen +ihre Pflicht und Schuldigkeit tut, so kommen die jungen Herren morgen +früh überhaupt nicht aus ihrer Bude heraus, sondern werden gleich mit +Beschlag belegt. Sollte aber wider alles Erwarten die Sache nicht +klappen, so sind wir ja da!« + +»Ja, aber um Gottes willen, Herr Präsident,« meinte Asta, »wir haben +doch keine Ahnung, wo die schreckliche Geschichte eigentlich vom Stapel +gehen soll -- wie wollen Sie das denn herauskriegen?« + +»Ja, Papachen, wie willst Du das nur herauskriegen?« echoten die +Töchter. + +»Liebe Kinder, ich war doch selbst mal in dem Geschäft. Gebt acht: Wenn +man sich schlagen will, geht man nicht zu Fuß heraus, sondern bestellt +sich einen Wagen. Wenn man aber Korpsstudent ist, so hat man für diesen +Wagen eine ganz bestimmte Bezugsquelle: das Korps nimmt nämlich seinen +Wagen immer bei ein und demselben Fuhrwerksbesitzer, der ihm +Vorzugspreise gewährt. Den Namen aber des Wagenlieferanten der +Franconia, den kenne ich leider nur zu genau. Oder soll ich jetzt sagen: +glücklicherweise? Ich habe nämlich am Schluß des vorigen Semesters für +unseren guten Valentin noch eine ganz erkleckliche Wagenrechnung +berappen müssen ... Der gute Mann wohnt in der Nähe des Bayrischen +Bahnhofs, an ihn also wenden wir uns zunächst und versuchen +herauszubekommen, wohin die Fahrt gehen soll.« + +»Aber wird er's auch verraten?« meinte Asta, »das könnte das Korps ihn +doch teuer entgelten lassen?« + +»Ich glaube, wenn ich mit der Polizei drohe und darauf aufmerksam mache, +daß man ihn wegen Beihilfe zum Zweikampf mit tödlichen Waffen am +Schlafittchen kriegen könnte, dann wird er wohl mit sich reden lassen!« + +»Ach, Papachen, wie klug Du bist!« riefen die Töchter, strahlend vor +Entzücken über das unerwartete Abenteuer. Himmel, wie interessant endete +der Abend, der so langweilig, ganz nach dem Schema F verlaufen war. + +»Nun aber müssen Sie schlafen, liebes Fräulein,« meinte die Präsidentin, +nachdem ihr Gatte sich entfernt hatte, um das Telegramm aufzugeben. »In +einer Stunde müssen Sie schon wieder zum Bahnhof, die sollen Sie +wenigstens zur Ruhe benutzen.« + +Aber Asta dankte. Sie könne nachher in der Eisenbahn noch genug +schlafen, sie würde jetzt doch kein Auge zutun. Nur Hunger habe sie +noch, wenn sie's denn schon sagen solle, und Durst auch. + +Und die vier Frauen schwatzten und lachten zusammen wie alte Freundinnen +... und nur selten einmal ging's einer von ihnen durch den Kopf, was für +morgen auf dem Spiele stand. + +Papachen würde schon alles machen. Wenn Papachen eine Sache in die Hand +genommen hatte, dann konnte es ja nicht schief gehen! + + +Als Asta und der Präsident fast als einzige Passagiere dem Frühzuge +entstiegen, trat ein behäbiger Herr in einem undefinierbaren Räuberzivil +auf den alten Herrn zu. + +»Verzeihen Sie gütigst, ich habe wohl die Ehre, Herrn Senatspräsidenten +Pilgram ... Mein Name ist Gensel, Königlicher Kriminalkommissar. Stelle +mich im Auftrage der Kreishauptmannschaft zu Ihrer Verfügung.« + +»Ah, charmant, Verehrtester. Haben Sie auch einen Gendarmen zur Hand?« + +»Der wartet draußen mit seinem Gaul.« + +»Nun, und was ist sonst geschehen?« + +»Ja, Herr Präsident, wir haben unser Möglichstes getan. Wir haben sofort +zwei Kriminalschutzleute zu den Wohnungen der beiden jungen Leute +geschickt und feststellen lassen, ob sie zu Hause wären. Ihr Herr Sohn +hat seine bisherige Wohnung bei dem Kanzleirat Buchner seit gestern ganz +aufgegeben und ist ins Hotel übergesiedelt, in welches, das wußten die +Leute nicht. Und der andere, Herr Thumser heißt er ja wohl, der ist heut +nacht nicht nach Hause gekommen.« + +»Teufel! Das ist scheußlich -- was nun?!« + +»Ja, was nun, Herr Präsident? Ich weiß auch nicht, was ich machen soll!« + +Der Jurist sann eine Weile nach, dann erklärte er dem Polizeibeamten +seinen Plan, durch den Fuhrwerksbesitzer den Duellanten auf die Spur zu +kommen. + +Der Kommissar war völlig einverstanden. Man stieg in eine Droschke und +rollte durch die hier noch immer mit kotigem Schnee bedeckten Straßen +zum Bayrischen Bahnhof. + +Im trüben Laternenschein huschten hastige Fußgänger vorüber, das Leben +der großen Stadt erwachte -- die Arbeit begann. + +Die Herren berieten eifrig während der kurzen Fahrt. Der Präsident im +Rücksitz, der Kriminalkommissar ihm gegenüber. Asta lehnte in ihrer +Ecke, fröstelnd, übernächtig, von Angst geschüttelt, und lauschte der +halblauten Unterhaltung der Herren. + +Der Gendarm war vorausgetrabt. Als man vor dem Fuhrhof ankam, hielt er +bereits an dem Portal mit dem Geschäftsinhaber, einem grobknochigen Mann +in Flausrock und Holzpantoffeln. + +Schnell kletterte der Kommissar aus dem Wagen und inquirierte sofort den +Fuhrherrn: + +»Ist der Wagen für das Korps Franconia schon fort?« + +»Weeß Knebbchen, ja, Herr Kommissar, schon seit zehn Minuten is er +weg ... tut mir sähre leid.« + +»Und wohin geht die Fahrt?« + +»Das kann ich Sie nich sagen, uff mei Ehrenwort nich. Der Wagen is +bestellt für um den Herrn Volkner abzuholen, Kleine Fleischergasse fünfe +... aber da wird er nu ja woll ooch schon nich mehr sinn.« + +Der Präsident war ebenfalls ausgestiegen und fragte: »Na, lieber Herr, +Sie werden ja doch wohl eine Ahnung haben, wohin es geht?! Wo fahren +denn die jungen Herren gewöhnlich hin, wenn sie was Besonderes vorhaben, +he?!« + +»Nu, mei gutester Herr, wenn ich's ehrlich sagen soll, gewehnlich machen +se doch so was im Ratsholz ab, un da gibt's eigentlich nur een' Weg: +Kaiser-Wilhelm-Straße 'runter, dann Kaiserin-Augusta-Straße, am alten +Wasserwerk vorbei und ins Streitholz hinein. Freilich, was für ä +Plätzchen se sich dasmal haben ausgesucht, davon habe ich Sie natierlich +de leiseste Ahnung nich, mei gutester Herr.« + +»Also, Herr Robolski,« sagte der Kriminalkommissar, »ich mache Sie +darauf aufmerksam: Wenn sich's herausstellt, daß Sie uns nicht die reine +Wahrheit gesagt haben, dann krieg' ich Sie bei die Hammelbeene, +verstehen Sie mich?!« + +»Mein Ehrenwort,« sagte der Fuhrherr, »mein heiligstes Ehrenwort, Herr +Kommissar, das, was ich gesagt habe, ist alles, was ich weeß.« + +»Schön! Also, Gendarm Mehlhorn, Sie haben gehört: sitzen Sie auf, traben +Sie was haste was kannste nach dem Streitholz. Wir kommen nach. Sie +reiten bis zum Schnittpunkt der 'Neuen Linie' und der 'Linie', +meinetwegen auch die 'Linie' hinauf, bis zum Flußgraben, dann zurück bis +zum Wegekreuz, dort warten! Merken Sie inzwischen was von den +Duellanten, so greifen Sie selbständig ein, verstanden?!« + +»Zu Befehl, Herr Kommissar!« sagte Mehlhorn dienstlich, schwang sich auf +seinen Braunen und klapperte die Bayrische Straße hinunter. + +Die beiden anderen Herren verabschiedeten sich mit flüchtigem Gruß und +Dank von dem Fuhrwerksbesitzer, wiesen den Kutscher an, hinter dem +Gendarmen drein zu fahren, stiegen ein, und die Gäule zogen an. + +Die drei im Wagen schwiegen und sannen. + +Vom Bayrischen Bahnhof blinkten grelle Signallichter, schrillten +Lokomotivenpfiffe, ratterten mit dumpfen Stößen ausfahrende Züge über +die Schienen. Drüber stand schon heller Tagesglast. Auf der matt +erleuchteten Kreisscheibe der Bahnhofsuhr standen die beiden Zeiger in +einer geraden, senkrechten Linie ... + +O Gott, wenn man zu spät kam! Es konnte sich ja nur um Minuten handeln. + + + + + 16. + + +Hans Thumser erwachte. Oben an der Decke war irgend etwas, das blendete +ihn. Mit verschlafenen Augen blinzelte er hinauf und sah, daß es +Laternenschein war, der, von drunten herauffallend, das Lichtbild eines +Fensters auf die weiße Tünche zeichnete. Teufel ja, wo kam das denn her? +Das war sonst doch nicht so?! + +Mit einem Mal fiel's ihm ein: er war ja gar nicht in seinem eigenen +Zimmer, lag nicht in seinem Bett ... aber wo nur? Richtig, er war ja +doch auf Volkners Bude -- aber warum nur, was war denn eigentlich los? + +Mit einemmal krampfte sich sein Herz zusammen in siedendem Schreck: o +Gott, morgen früh --! + +Eigentlich doch eine sehr vernünftige Idee von Volkner, ihn nicht allein +zu lassen in dieser Nacht, in dieser vielleicht ... letzten Nacht. Und +auch sonst war alles sehr vernünftig gewesen, was der Senior gesagt und +geraten: + +»Weißt Du, Thumser, vor einer solchen Affäre ist das einzig Richtige, +sich so zu betragen, als sei gar nichts Besonderes los. Um Gottes +willen, bloß sich nicht hinsetzen und ein halbes Dutzend Abschiedsbriefe +schreiben: an die Eltern, an den Schatz, an die Erbtante, und wer weiß +an wen sonst noch. Das hat ja gar keinen Zweck. -- Mein Gott, so'n +bißchen Knallerei! Ja, wenn Du jedesmal Dein Testament machen wolltest, +wenn Du Dich in Lebensgefahr begibst, dann müßtest Du es von Rechts +wegen machen, so oft Du vor die Tür gehst! Ueberall kann Dir ein +Dachziegel auf den Schädel fallen. Und wenn Du in Deiner Bude und im +Bette bleibst, kann schließlich die Decke einstürzen ...« + +Des Korpsbruders rheinischer Leichtsinn hatte Hans Thumser über die +Abendstunden hinweggeholfen. Man war auf der Kneipe gewesen, hatte +Quodlibet gespielt und den blödesten Bierulk betrieben. Dann hatte +Volkner ihn mit auf seine Bude geschleift, ihm großmütig sein Bett +abgetreten und sich dann selber auf dem Kanapee einlogiert. Von dort +herüber drang jetzt sein melodisches Schnarchen. Na ja, der hatte gut +schnarchen! + +Vorher aber, vor dem Einschlafen, hatten die zwei noch einen besonderen +Trall ausgeheckt: Volkner hatte seine Geige genommen, und beide waren +sie vor die Kammertür von Volkners bejahrter Hauswirtin gezogen und +hatten ihr ein Ständchen gebracht, indem sie zu sanft hinschmelzender +Violinbegleitung das schöne Lied gesungen hatten: + + Seh ich ein Haus von weitem, + Wo ein lieb Mädel träumt, + Sing ich zu allen Zeiten + Ein Lied ihr ungesäumt. + Und wird's im Fenster helle, + Sei es auch noch so spat: + So weiß ich auf der Stelle + Wieviel's geschlagen hat. + +Erst als die Pantoffeln der Alten von drinnen gegen die Tür knallten, +hatten sie Ruhe gegeben und waren dann beide auch sofort eingeschlafen. + +Volkners Bude befand sich im ersten Stock des Hauses, das an der Kleinen +Fleischergasse dem Cafébaum direkt gegenüber lag. Und der Lichtschein +der Laterne, die neben dem Eingang des Restaurants stand, war es, der +Hans Thumser geweckt hatte. Er tastete nach seiner Taschenuhr und +stellte im matten Reflex des Deckenlichts fest, daß es zwei Uhr war. + +Auf halb fünf war der Korpsdiener zum Wecken, auf viertel sechs der +Wagen bestellt. Um viertel sieben sollte der erste Schuß fallen ... also +noch zwei und eine halbe Stunde Schlaf und vielleicht noch vier und eine +viertel Stunde zu leben ... + +Die ganze vorige Nacht hindurch hatte Hans Thumser wie ein Sack +geschlafen. Die nötige Bettschwere hatte er sich ja schon vor dem +Zusammenstoß mit Pilgram angezecht. Der gestrige Tag war in beständiger +Unrast hingegangen, und so kam jetzt in nächtlicher Stille zum erstenmal +Ordnung in den Wirrwarr der Gedanken, die um das Schicksal der kommenden +Morgenstunde flatterten. + +Also sterben vielleicht ... und warum denn eigentlich? Nun, die Antwort +war sehr einfach: Ein anderer war Hansens Ehre zu nahe getreten, hatte +ihn tätlich aufs schwerste beleidigt, dafür galt es eben die +standesübliche Sühne zu fordern. + +Schön! Das klang ja ganz vernünftig. Aber schließlich ... eine +Beleidigung hatte doch irgendeinen Grund, ein Motiv. Was hatte er +Pilgram denn eigentlich zuleide getan? Was hatte er begangen, daß +Pilgram ihn wie einen ehrlosen Buben behandelt hatte? Nun, das eine war +ja klar: Pilgram war eifersüchtig, er bildete sich ein, er selber, Hans +Thumser, sei sein Nebenbuhler bei Jucunda, und zwar ein begünstigter. +Ein begünstigter? Ach, du lieber Gott ...! + +Freilich, an ihm selber hatte es ja nicht gefehlt ... Und wer weiß, was +geschehen wäre, wenn nicht im Augenblick, als Jucunda anfing, gnädig zu +werden, sehr gnädig -- -- wenn nicht der andere dazu gekommen wäre, +dieser fade Laffe, über dessen blasiertem Geckenschädel der Nimbus einer +Fürstenkrone schwebte? + +Aber schließlich, es war doch ein Irrtum, wenn Pilgram sich einbildete, +Thumser sei glücklicher gewesen als er selber. + +Also ein Mißverständnis! Ein Wahn! + +Aber da war noch etwas andres, das nicht stimmte: Was das nur mit dem +Brief gewesen war, den Pilgram ihm vorgehalten? Offenbar ein Brief von +Jucunda, ein Brief, in dem sie sein Eintreten für ihre Ehre mehr oder +weniger verblümt abgelehnt hatte. Und dieser Brief hatte auf einem +Briefbogen gestanden, der seine, Hans Thumsers, Initialen trug. Wie kam +der Brief auf dieses Papier? Erst jetzt in der Stille der Nacht fand +Hans Zeit, um über dies Phänomen nachzugrübeln ... + +Und plötzlich stand ihm der Augenblick vor der Seele, wie er Jucunda +und ihrer Mutter sein Zimmer zur Verfügung gestellt hatte, um sich +auszusprechen. Natürlich, das war's ja! Da hatten die Frauen das +Uriasbrieflein ausgeheckt und das liebliche Plänchen gleich realisiert. +Sie hatten genommen, was gerade zu erreichen war, das Briefpapier +des Mannes, der ihnen vertrauensvoll seine Behausung zur Verfügung +gestellt ... + +Pilgram aber, der hatte natürlich für die sonderbare Erscheinung sich +eine ganz andere Erklärung in den Kopf gesetzt. Er mußte sich +eingebildet haben, der Korpsbruder sei mitschuldig an der Abfassung des +Briefes, habe ihn vielleicht sogar redigiert ... + +Also Mißverständnis Numero zwei. + +Schön! Zwei grobe Irrtümer in der Rechnung. Wenn man sich aber einmal in +Pilgrams vermutliche Auffassung hineinzudenken versuchte, so konnte man +ihm schließlich nicht so unrecht geben, wenn er bis aufs Blut gereizt +war, wenn er den einstigen Korpsbruder infamer Gesinnung und +Handlungsweise verdächtigte. + +Und darum Mord und Totschlag! Darum zwei junge Leben vor die Mündung +geladener Pistolen gestellt! War das nicht Wahnsinn? War es nicht noch +in diesem Augenblick Pflicht, eine offene Aussprache herbeizuführen, den +Irrtum aufzuklären?! + +Aber bei dem Irrtum war es nicht geblieben. Er hatte eine schreckliche +Folge gehabt: die rasche Tat, eine Tat, die nicht milder war denn ein +Schlag mitten ins Angesicht des Feindes. Und auch zu diesem Schlag wär's +ja gekommen, wenn nicht die Korpsbrüder dazwischen getreten wären. + +Mißverständnisse und Irrtümer ließen sich aufklären -- die Tat war nicht +ungeschehen zu machen. Der Kavalier, der von einem Kavalier einen Schlag +erhält, muß blutige Sühne fordern. Das war das eiserne Gebot des +Ehrenkodex, daran war nicht zu deuteln noch zu rütteln. + +Und dann -- wer mochte den ersten Schritt tun? Machte der sich nicht +verdächtig, als sei es nur die Angst vor der blauen Bohne, die ihn zur +Aussöhnung geneigt machte? Würde man ihn nicht der Kneiferei zeihen? + +Der Kneiferei? Nun, wer vierzehn Schlägermensuren mit Ehren bestanden +hatte, brauchte der sich vor dem Verdacht der Kneiferei zu fürchten? + +Halt! So eine Knipserei, das war doch was andres als das bissel +Bestimmungsmensur mit Binden und Bandagen. + +Nein, da war nichts zu wollen, dafür war man Korpsstudent! Der andere, +der war an allem schuld. Der hätte die Aussprache herbeiführen müssen +vor der Tat. Daß er dem Freund, dem Korpsbruder aus drei Semestern eine +ehrlose Gesinnung überhaupt zugetraut, das war die eigentliche +Beleidigung, das war die Schmach, die nur mit Blut abgewaschen werden +konnte. Die Worte, die Handlungen, die aus dieser abscheulichen +Unterstellung erwachsen waren, die waren schließlich nichts anderes als +der zufällige Ausdruck für einen Verdacht, der auch ohne Wort und Schlag +ins Herz der Ehre traf. + +Nein, es gab keinen anderen Ausweg -- und so würde man morgen früh +aufeinander losknallen »bis zur Kampfunfähigkeit«. + +Und nun kamen die Gedanken an daheim. An Eltern und Geschwister -- nein, +das ging ja doch nicht, einen solchen Gang zu tun, ohne sich vorher von +den liebsten Menschen verabschiedet zu haben. Wenn er nun fiel -- wie +sollten sie diese wirre, dunkle Geschichte verstehen? Sie würden doch +nachforschen, würden wissen wollen, was denn eigentlich geschehen war, +wie es hatte so weit kommen können -- und dann war's zu spät. Dann war +sein Mund, der allein Licht in die Wirrnis hätte bringen können, +verstummt. Sein Tod würde den Lieben ein düsteres, grauenhaftes Rätsel +bleiben. + +Also das geht nicht. Hans wird aufstehen und einen langen, langen Brief +an die Geliebten daheim schreiben. Ihnen alles erzählen, ohne +Verschweigen, auch das Glück -- die landläufige Moral nannte es ja wohl +ein sündiges Glück --, das er in Asta Thönys Armen genossen, auch die +verworrenen Dränge, die ihn zu Jucunda getrieben. Alles, alles wird er +berichten, und so wird wenigstens Klarheit liegen über seinem +schauerlichen Ende ... + +Ob sie ihn verstehen werden daheim? Mein Himmel, der Vater ist doch auch +einmal jung gewesen ... + +Und in Gedanken entwarf Hans Thumser den Wortlaut seiner Beichte. Immer +eindringlicher, immer inbrünstiger vertiefte er die Schilderung seines +Seelenzustandes, immer heißer und drängender formte er seine Bitte um +Verständnis, um Vergebung, um ein Gedenken ohne Groll. Und über all dem +Sinnen und Grübeln war er plötzlich versunken und verschwunden und +wachte erst wieder auf, als Volkner ihn wach rüttelte, und die +schlampige Alte, die sie beide gestern abend angeserenadet, in +Nachthaube und Nachtjacke, grimmigen Gesichts und knurrenden Mundes den +Kaffee auf den Tisch setzte. + +Nun war's zu spät, nach Hause zu schreiben. Nun blieb's doch bei +Volkners Theorie. + +Die trockenen Semmeln von gestern wollten nicht in die Kehle, der +glühheiße Bliemchenkaffee blieb fast unberührt. Ein Glück, daß Volkner +mit ein paar Tafeln Schokolade und einem besseren Schnaps versehen war. + +Geschäftig bediente er den Korpsbruder, wie man um einen Kranken, um +einen Sterbenden sich müht. Und dabei fühlte Hans Thumser ganz deutlich, +daß der andere sich im tiefsten Innern höchst mollig fühlte bei dem +Gedanken: Gott sei Dank, daß ich selber nicht derjenige welcher bin! + +Um Punkt halb sechs knallte drunten die Peitsche des Kutschers. Die +jungen Männer machten sich bereit. + +Im Schauer des dämmrigen Morgens fuhr Hans Thumser fröstelnd zusammen, +als sie vor die Tür traten, als sein Blick auf die eingeschnurrte +Gestalt des Korpsdieners fiel, der übernächtig auf dem Bock neben dem +Kutscher hockte und auf den Knien einen schmalen, schwarzpolierten +Kasten trug ... + +Nebeldurchdunstet lagen die Straßen. Das Weiß des frischen Schnees war +längst in ein kotiges Braun verwandelt, das der Frost der jüngsten Nacht +mit tausend Rauhreifkristallen überzogen hatte. Ringsum erwachte das +Leben der großen, fleißigen Stadt der Arbeit. + +Den Rockkragen hochgeschlagen, dampfenden Atems schritten die Männer, +huschten die Frauen einher, jeder an sein Geschäft. Schwarz und finster +reckten sich die Fronten der alten Straßen, deren Häuser sich im Laufe +der Jahrhunderte aus eleganten Wohnpalästen in dumpfe, mit Affichen +überladene Geschäftshäuser verwandelt hatten. + +Aber die Nebel sanken, von Osten wuchs die junge Tageshelle. Erste, +schüchterne Sonnenstrahlen spielten droben um die Giebeldächer, ein Tag +voll winterlicher Herrlichkeit flammte herauf. + +Nun wurden die Anlagen durchquert. Weißleuchtend zackte sich das Gewirr +der umreiften Aeste ins junge Blau. + +Ivo Volkner aber und Hans Thumser studierten eifrig den +S. C.-Pistolen-Komment, der in einem handschriftlichen Exemplar auf +ihren Knien lag, und zündeten eine Zigarette an der anderen an. + +Ganz kühl und geschäftsmäßig sprachen sie immer und immer wieder den +vorgeschriebenen Gang der Mensur durch, um später auch nicht den +leisesten Schnitzer zu begehen. + +Endlich aber hielt es Hans Thumser nicht mehr aus. Er schob das +schwarzgebundene Heft zurück, riß das frostbeschlagene Wagenfenster auf, +atmete in tiefen Zügen die Morgenfrische und sog mit brennenden Augen +das Bild der Morgenwelt in sich hinein. + +Und eine wilde Sehnsucht kam über ihn -- Sehnsucht nach all dem +Unsagbaren, das von da draußen in seine Seele hineinflutete, nach all +dem unendlich Schönen des Lebens, das er doch kaum mit erstem Erwachen +des Begreifens gegrüßt ... und das doch schon tausend Vorahnungen +künftiger Glücksmöglichkeiten in ihm geweckt hatte. Ach, +Glücks=möglichkeiten=?! Nein, er =war= ja schon glücklich gewesen! + +Asta Thöny! klagte es in seiner Seele. Gott! so undankbar konnte man +sein? An sie hatte er noch gar nicht gedacht ... Daß er von ihr sich +verabschieden mußte, das war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen ... +Und doch -- wieviel hatte sie ihm geschenkt! Wie unsäglich gut war sie +zu ihm gewesen, und er ... er hatte sie achtlos beiseite geschoben. Und +das letzte, das er von ihr gesehen, waren bittere Tränen gewesen. + +Zu spät ... Nun mußte das Schicksal seinen Gang gehen. Nun blieb nur +noch eins: der Feindeskugel die Brust zu bieten und die Stirn dem +wahllosen Walten des Geschicks. + +Und doch, wie schön die Welt! Wie reich, was sich barg hinter den weißen +Nebelschwaden, die das Kommende verhüllten. Wie selig selbst dieser +Augenblick ahnungsvollen Grauens ... + +Und Hans Thumsers Seele fühlte sich leben in diesem Augenblick. Leben, +wie sie nie zuvor gelebt ... In langen, schmerzvollen Zügen trank sie +das Glück des Augenblicks hinein. Das Glück, noch da zu sein, noch ein +paar schmerzvoll süße Minuten lang die tiefe Wonne des Daseins atmen zu +dürfen. + + +In einem billigen Zimmer des Hotel de Russie -- dritter Stock nach +hinten hinaus -- hatte Valentin Pilgram sich einquartiert und die halbe +Nacht mit Briefeschreiben zugebracht. Erst nach Mitternacht hatte er +sich aufs Bett gestreckt und ein paar Stunden hingedämmert ... + +Nun marschierte er auf dem Reitweg, der erst rechts, dann links der +»Neuen Linie« durch das Streitholz führte, dem Kampfplatz entgegen, ein +einsamer Wanderer ... + +Er hatte sich nicht entschließen können, die letzten Augenblicke in +Gesellschaft seines ihm tief unsympathischen Sekundanten Borgmann +zuzubringen, mit dem er zweimal die Klinge und noch viel öfter in +hitzigen Debatten des S. C. das Schwert des Wortes gekreuzt. + +Um nicht mit dem Wagen zusammenzutreffen, war er vom Fahrdamm abgebogen, +auf den Reitweg hinüber, auf dem um diese Morgenstunde noch keine +Begegnung zu befürchten war. Er sah nicht die Pracht des jungen Tages, +fühlte nicht die Schönheit des Daseins, die ringsum tausend Wunder +winterlicher Herrlichkeit erblühen ließ. Er fühlte nichts als seinen Haß +-- sah nichts als die Gestalt des Gegners, wie sie nun gleich vor ihm +stehen würde, ein sicheres Ziel dem stählernen Druck seiner Hand, dem +unbeirrbaren Blick seines Auges. + +Da ließ ein Geräusch ihn aufschauen, ein Geräusch, das rasch sich +näherte. Pferdegetrappel war's, gedämpft durch den Schnee -- nur wenn +die Hufe ab und an gegen die harte Eiskruste stießen, die den Boden +überzog, dann gab's einen klirrenden Ton. Der hatte ihn geweckt. + +Da vorne, in den silbernen Nebeln, die noch über der Pleißeniederung +lagerten, tauchten, schattenhaft abgehoben vom umgoldeten Himmel, zwei +Reitersilhouetten auf: ein Herr und eine Dame. In raschem Trabe näherten +sich die schnaubenden Gäule. + +Valentin Pilgram konnte keines Menschen Blick ertragen in diesem +Augenblick. Er trat rasch hinter den mächtigen Schaft einer Eiche und +ließ die Reiter vorüberflitzen. Im letzten Augenblick erkannte er sie: +es waren Jucunda und der Erbprinz. + +Es war ihm, als hätte er einen Stoß vor die Brust erhalten. Er taumelte, +starrte ein paar Sekunden wie ein Blödsinniger hinter den enteilenden +Schatten her. Noch klang Jucundas übermütiges Lachen, des Prinzen +näselnde Stimme in sein Ohr: + +»... mal sehen, ob der Generalintendant meines alten Herrn für ein +Gastspiel in diesem Winter ...« + +Das waren die Worte, die er aufgefangen ... + +Ha ha! -- ha ha ha ha ha --!! Das also war das Ende! Darauf lief es +hinaus! + +Während er zum Todesgange schritt mit jenem andern, der ihm der +Glückliche gewesen war bis zu diesem Augenblick ... In derselben +Stunde ... pfui Deubel! pfui Deubel! + +In dumpfer Betäubung trottete er weiter. + +Wo war der blindwütende Haß, der ihm den Nacken gestählt, die Sehnen +gestrafft? Verweht -- verflattert, wie die weißen Nebelschwaden um die +rauhreifumsilberten Kronen der Bäume zerwehten. + +Und plötzlich ward er sich des grausamen Wahnsinns bewußt, der in all +den Geschehnissen lag, die er selbst ins Rollen gebracht, und die nun +abschwirrten, wie ein gräßlich zermalmender Mechanismus, unhemmbar, +unwiderstehlich. + +Da blinkte schon der Lauf der Pleiße ... da vorn tauchte aus den +Morgendünsten der Umriß eines Wagens auf, der sich im Schritt gen Süden +bewegte, und hinter ihm klang das Rollen eines zweiten Wagens. + +Er beschleunigte den Gang, er mochte sich nicht überholen lassen, weder +von seinem Sekundanten noch von der ... andern Partei. + +Nun hatte er die »Linie« erreicht, verfolgte sie einige hundert Schritte +weit gen Osten ... und sieh, da öffnete sich rechts eine weite Lichtung: +die Heiderwiese ... + +Am Wegekreuz hielt der Wagen, der vor ihm gefahren war. Er sah, wie drei +männliche Gestalten ihm entstiegen und durch den Schnee ins Innere der +Lichtung hinein wateten. Das waren die andern: Hans Thumser, Volkner, +der Korpsdiener. + +Valentin Pilgram blieb am Chausseerand stehen und wartete auf seinen +Sekundanten. Nach wenigen Minuten war der Wagen heran. Ihm entstiegen +Herr Borgmann im grellkarierten Winterpaletot, sehr zeremoniös, +platzend vor Feierlichkeit, und Graf Schmettow, der Meißner-Senior, der +als Unparteiischer zu fungieren hatte, verkatert, die Scherbe im Auge. +Und ferner der alte Sanitätsrat Dr. Collwitz, der sich als zweiten +Paukarzt einen seiner Assistenten mitgebracht hatte. Einen jüngeren, +bebrillten Herrn mit langflutendem blonden Vollbart. Dieser wurde als +Doktor Köllicker vorgestellt. + +Pilgram dankte den Aerzten für ihr Erscheinen, die üblichen Redensarten +wurden getauscht in gezwungen nachlässigem Tone, den der Ernst der +Stunde mit frostigem Schauer durchzitterte. Dann stapften die Herren der +Gegenpartei nach gen Süden. + +Hinter ihnen schritt der Korpsdiener der Neo-Borussia, er trug einen mit +gelben Messingknöpfen benagelten Koffer, der Instrumente und Materialien +für die Aerzte enthalten mochte. + +Valentin Pilgrams Blicke suchten den Gegner und erkannten die schlanke, +geschmeidige Gestalt. Aber wohin war der Haß geschwunden, der ihn durch +Wochen gemartert, wenn er Hans Thumsers bloß gedachte?! Er sah nur noch +den Freund, den Korpsbruder aus drei Semestern. + +Thumser hatte seinen Paletot abgelegt und stand mit offenem Jackett, +über der Weste blitzte das grün-gold-rote Band. + +Und dahin sollte man nun zielen, dahin das Todesblei entsenden?! + +Und doch, es gab kein Zurück ... Und ob er wollte oder nicht, die +grausame Farce mußte nun mit Anstand zu Ende gespielt werden ... + +Und rasch und vorschriftsmäßig wickelte sich nun der Gang der Dinge ab. +In genauestem Anschluß an den Wortlaut des Komments wurden nun die +Plätze bestimmt, so daß das Licht gleichmäßig verteilt war; wurden die +Waffen geladen, die Duellanten instruiert. Der Unparteiische schritt +selber mit Riesensätzen seiner langen Storchbeine die Barriere ab und +bezeichnete sie durch zwei niedergelegte Spazierstöcke, hüben und +drüben. Noch zehn Schritt weiter jenseits wurden durch Kreuze, die in +den Schnee geritzt wurden, die Plätze für die Duellanten festgelegt, die +sonach durch fünfunddreißig reichlich bemessene Schritte voneinander +getrennt waren. + +Zuletzt nahmen die Sekundanten ihren Fechtern noch Brieftasche, Uhr und +Geldbörse ab und geleiteten sie dann zu ihrem Platze. Dort übergaben sie +ihnen die Waffen und traten dann jeder zwanzig Schritt zur Seite. + +Der Unparteiische nahm seinen Stand zwanzig Schritte seitwärts von der +Mitte der Schußlinie. + +»Meine Herren!« sprach er mit schallender Stimme, »ich wiederhole noch +einmal: ich zähle bis vier. Wenn ich eins! gezählt habe, dürfen Sie +avancieren bis an die Barriere, bis vier müssen Sie abgeschossen haben. +Herr Thumser, als der Beleidigte, hat den ersten Schuß. -- Bin ich +verstanden?« + +Mit stummem Nicken antworteten die Gegner. + +Hochaufgerichtet stand Hans Thumser und sah übers schneeblinkende Feld. +Endlos schien ihm die Entfernung, die ihn von dem Feinde trennte. Aber +er wußte, daß sie sich rasch verringern würde, zusammenschrumpfen zu +einem schrecklichen Aug' in Auge ... + +Ein jähes Frösteln rann durch seine Gestalt, kaum konnte er das Klappern +seiner Zähne bemeistern, kaum den Hahn der Pistole spannen ... Und nun +noch ein Blick in die goldige Morgenwelt hinaus. Ein Blick in die +Zukunft, die vor ihm versinken wollte wie der Tau einer Nacht. Und da +überfiel ihn eine jähe, ingrimmige Wut auf den, der ihm das alles rauben +wollte. Nein, sich wehren ... sich wehren bis zum letzten Atemzug! Ins +Herz den Gegner treffen -- ins Herz! Wenn einer fallen soll, gut, so +sei's der andere!! + +»Eins!« scholl da schneidend scharf das Kommando des Unparteiischen. + +Und nun war alles versunken, alles bis auf die hagere, starr +emporgereckte Gestalt da drüben, die einst geliebte, nun bis in den Tod +gehaßte ... + +Wie fern sie war, wie klein ... und nun, nun kam sie heran, nun wuchs +sie ... wuchs und wuchs ... und nun blieb sie stehen ... bot sich zum +Ziel ... + +Da raffte auch Hans Thumser sich zusammen. Mit hastigen Schritten schoß +er vorwärts, bis seine Fußspitzen den Spazierstock berührten, der die +Barriere bezeichnete. + +»Zwei!« klang des Unparteiischen Stimme. + +Hans Thumser hob die Waffe bis in die Augenhöhe, zielte auf des Gegners +Brust, sah ganz deutlich, wie über dem Visier die breiten Schultern +standen, das fahle Gesicht. + +»Drei!« + +Da drückte er los ... + +Er sah den Gegner wanken, sah, wie die Rechte, welche bisher die Waffe +gesenkt gehalten, eine rasche, zuckende Bewegung nach der linken +Schulter machte. Dann aber fand der Taumelnde Halt, hob nun ebenfalls +den Lauf, aber hoch bis über die Stirn, und schoß -- schoß hoch in die +Luft ... + +»Vier!« klang das Kommando des Unparteiischen. + +In diesem Augenblick ließ Valentin Pilgram die Pistole fallen und griff +mit der Rechten krampfhaft in das linke Schultergelenk hinein. + +Doktor Köllicker sprang zu, riß Pilgrams Rock auf, das weiße Hemd wies +Blutflecken, er zertrennte es mit raschem Zerren, untersuchte das +verletzte Gelenk. Dann winkte er dem Sanitätsrat, der hinzutrat. + +Auch Borgmann, der Sekundant, und Graf Schmettow eilten zu dem +Verwundeten heran. + +Der lächelte mit schmerzverzerrtem Munde. »Viel scheint's nicht zu sein, +meine Herren. Von mir aus kann's weiter gehen!« + +Aber der linke Arm hing kraftlos herunter, ein Versuch, ihn zu bewegen, +mißlang. + +Die Herren steckten in flüsternder Beratung die Köpfe zusammen. Die +Forderung lautete bis zur Kampfunfähigkeit ... und die lag wohl nicht +vor, obwohl das Schultergelenk schwer verletzt schien. + +Hans Thumser trug's nicht länger. Der andere hatte, obwohl getroffen, +seinen Schuß verloren gegeben. Was konnte das bedeuten? Doch nur dies +eine: die Erkenntnis begangenen Unrechts. + +Hans winkte seinen Sekundanten heran. + +»Ich kann nicht mehr, Volkner -- geh und biete Satisfaktion an ...« + +In derselben Sekunde scholl auf der Chaussee ein hastiges Hufegeklacker, +und eine atemlose Männerstimme keuchte: + +»Halt! Im Namen des Gesetzes: halt, meine Herren!« + +Zwischen den Büschen des Wiesenrandes tauchte ein goldblinkender Helm +auf, ein grüner Waffenrock, der braune Bug eines Pferdes, in rasendem +Galopp gestreckt. Fünf Minuten später preschte der Reiter an der Gruppe +der Herren vorüber, die sich um den Verwundeten zusammengeballt hatten, +warf den Gaul herum, versuchte den Flankenzitternden, Schäumenden zum +Stehen zu bringen. + +Hans Thumser hielt sich nicht länger. In langen Sätzen übersprang er die +fünfzehn Schritt, die ihn von dem Verwundeten trennten, streckte ihm die +Hand hin: + +»Komm, Pilgram -- das geht ja doch nicht mehr!« + +Die Herren, die den Verwundeten umdrängten, hatten ihm Platz gemacht. + +Aug' in Aug' standen die einstigen Freunde einander gegenüber, tauschten +einen Blick, in dem mehr als Versöhnung lag ... Genesungsglück +schimmerte darin, neue Hoffnung, neues Leben ... + +Mit der heilen Rechten schlug Valentin Pilgram in Hans Thumsers Hand +ein ... und auf einmal lagen die Jünglinge sich in den Armen. + +Da klangen wiederum Hufschläge auf der Chaussee. Und sieh, ein Wagen +hielt am Wiesenrand, ihm entstiegen zwei Herren und eine Dame, die mit +hastigen Schritten über den schneebedeckten Wiesengrund herankamen. + +Nun löste sich aus der Gruppe der drei die hagere Gestalt eines alten +Herrn in Gehpelz und Zylinder los, der mit langen Sätzen über die +klirrenden Schollen voranstelzte. Immer hastiger ward sein Gang ... ward +zum Lauf ... + +»Donnerwetter!« schrie da Volkner plötzlich, »sieh doch nur, Pilgram -- +Dein alter Herr!« + +Die Aerzte hatten sich ins Mittel gelegt und die Umarmung der +wiedergefundenen Freunde getrennt, um sich ihres Patienten zu +bemächtigen und die verletzte Schulter genauer zu untersuchen. + +Nun hob Valentin Pilgram den Kopf, alles wich zurück, so daß die Gruppe +der Herankommenden frei wurde -- und Pilgram erkannte seinen Vater ... + +Schon war der Präsident heran, ergriff mit beiden Händen die Rechte des +Sohnes, die sich ihm entgegenstreckte. Mit zuckenden Augen, mit +zuckenden Lippen standen Vater und Sohn einander gegenüber. + +»Ihr verfluchten Bengels!« sagte der alte Herr, »was macht Ihr für +Geschichten?« + +»Etwas zu spät bist Du doch gekommen, lieber Papa -- Du siehst, der Fall +ist bereits erledigt!« + +»Ich wollt's Euch auch geraten haben! Schlimm genug, daß es so weit +gekommen ist! Na, was hat's denn abgesetzt?« + +»Ach, nicht der Rede wert,« lachte der Junge und zwang den grimmigen +Schmerz nieder, der von dem verletzten Gelenk aus durch den ganzen +Oberkörper fraß. + +»Nun, und Du wunderst Dich gar nicht, daß ich hier bin?!« + +Valentins Blicke hatten die Gestalt des jungen Weibes erkannt, das nun +herankam in Begleitung eines dicken Herrn. An diesen ritt der Gendarm +heran und machte ihm in dienstlicher Haltung eine Meldung, während das +Mädchen mit glühenden Backen und strahlenden Augen nähertrat, um dann +ein paar Schritt vor den Herren plötzlich tiefbefangen stehen zu +bleiben. + +»Die da, nicht wahr?« fragte Valentin den Vater. + +»Jawohl, die da ... zum Dank für ... vorgestern!« + +»Ach, ich glaube, es war ihr weniger um mich zu tun ...« sagte Valentin +Pilgram und suchte das Auge des wiedergefundenen Freundes. + +Aber der hatte keinen Blick für ihn. In tiefer Erschütterung, regungslos +starrte er zu der hellen Gestalt hinüber, die über die weißen Schollen +herangeschwebt kam wie ein Frühlingshauch. Als sie nun aber stehen +blieb, da sprang er ihr entgegen, die Hände weit ausgestreckt. Da hob +auch sie ihm die Hände entgegen, und er ergriff sie und drückte sein +glühendes Gesicht hinein. + + +Erbprinz Heribert hatte nach seiner Rückkehr vom Morgenritt wie +gewöhnlich von neun bis zwölf das Kolleg besucht und war dann in seine +Wohnung im Hotel Hauffe zurückgekehrt, um mit Major von Gorczynski zu +frühstücken. + +»Nun, Durchlaucht, wie war's?« Der Major hob das Portweinglas. + +»Danke, ganz nett.« + +»Nur ganz nett?!« + +»Ach, wissen Sie, lieber Gorczynski, ich glaube, das ist eine von den +ganz Gerissenen ... die sichert sich =vorher= -- verstehen Sie?« + +Der aufwartende Lakai brachte auf silbernem Brett eine Besuchskarte. Der +Prinz las: + + =Pilgram= + Senatspräsident am Königlichen Oberlandesgericht + Dresden. + +»Haben Sie gesagt, daß wir beim Frühstück sind?« + +»Zu Befehl, Durchlaucht, aber der Herr bittet dringend um eine +Unterredung.« + +»Schön -- ins Empfangszimmer.« + +Als der Bediente verschwunden war, reichte der Erbprinz seinem Erzieher +die Karte hinüber. + +»Vermutlich der Vater meines ... äh ... meines Kollegen!« + +»Kollegen?! Wieso?« + +»Na, weil der auch auf die Buchner reingefallen ist. Kommen Sie mit, +lieber Gorczynski -- für alle Fälle.« + +Hoch aufgerichtet, die Ordensrosette im Knopfloch seines Ueberrocks, +erwartete der alte Herr den jungen Fürsten. Des Umgangs mit +hochgestellten Persönlichkeiten gewohnt und seiner guten Sache sicher, +neigte er sich mit gemessenem Selbstbewußtsein. + +»Sehr erfreut -- Herr Präsident, was verschafft mir die Ehre? Darf ich +bekannt machen? Herr Major von Gorczynski -- Herr Präsident Pilgram. -- +Stört Sie die Gegenwart meines Begleiters, Herr Präsident?« + +»Ich bitte, Durchlaucht.« + +»Bitte Platz zu nehmen, meine Herren.« + +»Durchlaucht, ich komme im Interesse meines Sohnes Valentin, den Sie +kennen!« + +»Ich habe die Freude.« + +»Durchlaucht wissen, daß mein Sohn aus dem Korps Franconia ausgetreten +ist, um Ihnen gegenüber für eine Dame eintreten zu können, von der er +annahm, daß Sie, Durchlaucht, ihr -- --« + +»Hm ...« machte der Erbprinz, »ich weiß.« + +»Durchlaucht haben die Güte gehabt, diese Angelegenheit in ritterlicher +Weise beizulegen. Trotzdem hat das Korps Franconia aus Rücksicht auf +Durchlaucht davon Abstand genommen, meinen Sohn in die Reihen seiner +Mitglieder wieder aufzunehmen.« + +»Allerdings ...« sagte der Erbprinz. »Das habe ich mir wohl so gedacht +-- aber wenn ich mir eine Zwischenbemerkung erlauben darf, Herr +Präsident: die Geschichte war mir höchst fatal ... und ich habe mich +seitdem vom Verkehr bei dem Korps fast völlig zurückgezogen ... Es war +mir kolossal peinlich ... verstehen Sie, Herr Präsident?« + +»Ich begreife sehr wohl,« sagte der Präsident ruhig. »Die jungen Herren +haben wohl eine zu geringe Meinung von Euer Durchlaucht wohlwollendem +Verständnis für die korpsstudentische Auffassung gehabt, sonst hätte +sich doch wohl ein Ausweg finden lassen, um meinem Sohn die +wohlverdiente Ehre der Zugehörigkeit zu dem Korps -- zu dessen Alten +Herren ich, beiläufig bemerkt, auch selber zähle -- wiederum zu +verschaffen. Oder täusche ich mich, Durchlaucht?« + +»Ne, ne, mein verehrter Herr Präsident. Sie haben in der Tat vollkommen +recht ... Wenn's nach mir gegangen wäre ... aber man hat mich ja gar +nicht gefragt. Mir für meine Person wär's ja doch zehnmal angenehmer +gewesen, wäre die ganze Geschichte diskret behandelt worden. Aber man +hatte ja die Sache dermaßen übers Knie gebrochen ... ich stand vor einem +_fait accompli_ ... und da hielt ich's für das beste, mich um gar nichts +mehr zu bekümmern. Das werden Sie begreifen, nicht wahr, Herr +Präsident?« + +»Ich begreife vollkommen, Durchlaucht. Ich sehe aber auch, daß ich mich +in meinen Vermutungen über Eurer Durchlaucht Ansichten von der Sache in +keiner Weise getäuscht habe: und darum komme ich jetzt mit der formellen +Bitte, die der Zweck meines Besuches ist: wollen Durchlaucht die große +Güte haben, durch meinen Mund dem Korps Franconia mitteilen zu lassen, +daß einer Rückgabe des Bandes an meinen Sohn Ihrerseits nichts im Wege +steht?« + +»Aber mit dem größten Vergnügen, Herr Präsident! Ich bin ja höchst +erfreut, daß die fatale Geschichte endgültig aus der Welt kommt ...« + +»Ich danke ehrerbietigst für diese Gnade, Durchlaucht. Ich glaube, sie +ist an keinen Unwürdigen verschwendet! Da Sie nun aber in so überaus +verständnisvoller Weise meinem Vorschlage entgegengekommen sind, so darf +ich wohl auch noch eine andere Begebenheit erzählen, die mit der +besprochenen nicht ganz ohne Zusammenhang ist, und die glücklicherweise +ebenfalls eine Wendung zum Besseren genommen hat?« + +Und nun erzählte der Präsident in knappen Worten von dem Renkontre der +beiden einstigen Korpsbrüder und seinem blutigen Austrag. Die Motive des +Zusammenstoßes ließ er unberührt. Er konnte sich wohl vorstellen, daß +der Erbprinz den Zusammenhang auch so durchschauen würde ... und darin +hatte er sich nicht getäuscht. Als er geschlossen hatte, erhob sich der +Erbprinz und streckte seinem Besucher die hagere Hand hin: + +»Ich danke Ihnen, Herr Präsident, Ihre Geschichte soll mir eine Lehre +sein ... gewisse Leute sind anscheinend ... äh ... mit Vorsicht zu +genießen. Was meinen Sie, lieber Gorczynski? Na, ich werde mir's +merken!« + +»Gestatten Durchlaucht nochmals meinen ehrerbietigsten Dank.« + +»Aber ich bitte, mein verehrter Herr Präsident -- nur ich habe zu +danken, nur ich ... Sie haben mir einen größeren Dienst geleistet, +als Sie vielleicht ahnen. Grüßen Sie Ihren Sohn, oder noch besser: +sagen Sie ihm, ich hoffe heute abend auf der Frankenkneipe mit ihm auf +gute Freundschaft anzustoßen ... Doch halt! Vorher müssen wir noch +einmal ins Theater ... Nicht wahr, lieber Major? Heut ist ja die +Abschiedsvorstellung der Meininger, das dürfen wir uns doch nicht +entgehen lassen ... Aber nachher, nicht wahr, Herr Präsident, dann +treffen wir uns im Cafébaum!« + +»Ich hatte gleichfalls vor, das Theater zu besuchen, Durchlaucht, wenn +ich mir die Bemerkung gestatten darf -- und zwar mit meinem Sohn und +unserm Korpsbruder Thumser. Die Verletzung meines Sohnes ist ja freilich +nicht ganz unbedeutend: das linke Oberarmbein ist in Höhe des unteren +Ansatzes des Oberarmkopfes getroffen, die Kugel ist im Knochen stecken +geblieben, konnte aber mit Leichtigkeit entfernt werden.« + +»Sehr erfreulich zu hören, Herr Präsident. Also auf Wiedersehen heut +abend, nicht wahr?« + + +Um zwölfeinhalb Uhr fuhr der alte Pilgram am Cafébaum vor, stieg die +Stufen zur Frankenkneipe hinan und wurde vom Korpsdiener in das +Konventszimmer geführt, wo Franconias Korpsburschen bereits zum C. C. +versammelt waren. + +Ehrerbietig begrüßte die Schar der Studiosen den Alten Herrn, der sofort +beim Eintreten eine grüne Mütze, die der Korpsdiener ihm dargereicht, +auf seinen grauen Schädel gestülpt hatte. + +Volkner bat Platz zu nehmen und eröffnete den C. C. Er erteilte dem +Alten Herrn Pilgram das Wort. Dieser berichtete über seinen Besuch bei +dem Prinzen und entledigte sich seiner Mission. + +Mit strahlenden Gesichtern vernahmen die Korpsburschen die frohe +Botschaft. + +Unmittelbar, nachdem der Alte Herr geendigt, sprach der Senior: + +»Ich stelle den Antrag, dem früheren C. B. Pilgram, gewesenen Zweiten, +Ersten, Ersten das Band zurückzugeben. Wünscht jemand zu dem Antrage das +Wort?« + +Alles schüttelte den Kopf, aus jedem Auge strahlte helles Glück. Hans +Thumser aber schämte sich nicht, daß ihm zwei Tränen über die frischen +Wangen rollten. Unfähig jeden Wortes, reichte er dem Präsidenten über +den Tisch hinüber die Hand. + + +Und nun saßen sie im Carolatheater, auf einer der vordersten +Parkettreihen. Präsident Pilgram inmitten der beiden jungen Gesellen, +zur Rechten sein Sohn: er trug den linken Arm in der schwarzen Binde, +fest im Gipsverband verschient, den Rock nur lose über die linke Achsel +gehängt, den Aermel leer. Ueber die rechte Schulter aber, über die Weste +und die schwarze Binde zog sich das grün-gold-rote Band. + +Hans Thumser saß zur Linken. Ueber den alten Herrn hinweg aber schauten +die Freunde sich immer und immer wieder in die Augen. Sie fühlten: so +hatten sie sich noch nie gehört, so sich noch nie geliebt. Und diese +Liebe, die würde nun bleiben fürs ganze Leben ... + +Oft aber flogen ihre Blicke auch nach der zweiten Proszeniumsloge des +Parketts vorn rechts hinüber. Da saß der Erbprinz, die Scherbe im fahlen +Gesicht, und hinter ihm verschwanden die groben Züge, der wehende +Schnurrbart des Majors im Dämmer des Logenhintergrundes. + +Aber auf den blasierten Zügen des jungen Fürsten lag heute ein seltsames +Leuchten, das noch niemand an ihm gekannt hatte. Und wenn sein Blick den +Augen des alten und der beiden jungen Franken da unten im Parkett +begegnete, dann lachte sein ganzes Gesicht so knabenhaft fröhlich, so +jung und gut, als sei auch er ein x-beliebiges junges Studentlein und +nicht der Erbe eines deutschen Fürstenthrones. + +Ringsum aber drängte sich ganz Leipzig und füllte das Haus bis zum +letzten Stehplatz droben auf der Galerie. Eine festlich dankbare +Stimmung lag über der erregten Versammlung. + +Fünf Wochen lang war dies Haus ein Tempelhaus gewesen. Fünf Wochen lang +hatte man hier den höchsten Offenbarungen gelauscht, welche die edelste +Blüte der zeitgenössischen Bühnenkunst geschaffen hatte im Bunde mit den +erhabensten Genietaten der großen Szenenbeherrscher des Dramas der +Weltliteratur. Und nun wollte man am letzten Tage noch einmal mit voller +Seele, mit allen Sinnen genießen, wollte in sich aufnehmen die +gigantischste Schöpfung der deutschen Tragödie: »Wallensteins Tod«. + +Das Spiel begann. + +Inmitten der Bilder seiner Gestirne stand der einsam-stolze Mann, über +dessen Haupte schon die schwarzen Fledermausschwingen des Verbrechens, +die Rabenfittiche des Todes rauschen. Am nächtlichen Himmel suchte er +den Stern seines Lebens, der sich nun so bald verfinstern sollte ... Und +in raschen, unfehlbaren Schlägen vollzog sich sein Geschick. + +Der alte Herr aber da vorn im Parkett und seine beiden jungen Gefährten +harrten ungeduldig des Augenblicks, da der Vorhang sich zum dritten Akt +heben und die beiden Mädchengestalten auftauchen würden, die so tiefe +Furchen in die Herzen, in die Geschicke der jungen Männer gezogen. + +Und sieh -- nun erfüllte sich's. + +Die Gardine rauschte empor; und es erschloß sich ein dunkler wuchtiger +Saal mit Kamin, Gobelins, gepolsterten Bänken an den Wänden. Nach hinten +stieg eine Treppe empor, im Bogen geschweift aus massivem, +dunkelgebeiztem Eichenholz mit schwerem Renaissance-Geländer. Sie führte +zu einer langen Galerie, die gegen die Bühne zu von einem riesigen, aus +zahllosen kleinen Scheiben bestehenden Glasfenster abgeschlossen war. + +Und wie verloren in dem weiten, angstdurchschauerten Raum saßen vorn +rechts auf der Bank zwei Frauengestalten mit weiblichen Arbeiten +beschäftigt, während eine dritte oben auf der Galerie stand und aus den +Fenstern nach drunten spähte -- Wallensteins Schwägerin, die Schwester +seiner Seele ... + +Die zwei da unten aber -- die beiden jungen Franken, die kannten sie. + +Scheu und wesenlos wie ein gutes, dienstbares Geistlein hockte Asta +Thöny als Fräulein von Neubrunn neben der jungen, schönheitsstrahlenden +Herrin. + +Die aber saß weiß und blaß, den adligen Kopf in schmerzvoller Starrheit +zurückgelehnt an die braune Täfelung. + +Sie war die Schönheit, die versinken muß unterm erbarmungslosen Schritt +des Schicksals, sie war die Tugend, die zermalmt wird von den geifernden +Kinnbacken des Verbrechens, sie war die leuchtende Seele des +gigantischen Gedichts, sie war ... das Ideal ... + +Und alles vollendete sich nun. + +Mit unerhörter Wucht stampfte das Fatum daher und ließ den Lügenbau der +friedländischen Größe zusammenkrachen. Blatt um Blatt sank hernieder von +dem ragenden Baum, bis er einsam stand, entlaubt, doch herrlich in +seinem starren Trotz. + +Und nun kam jene gewaltigste aller Szenen, die Valentin Pilgram und Hans +Thumser als Pappenheimer Kürassiere mitprobiert hatten, und der sie nun +als Zuschauer nur lauschen durften, wie damals, als Hans, ein scheuer +Primaner, sie zum erstenmal erschaut, dahinten, weit in der Heimat -- im +Barmer Stadttheater, auf dem Eckplatz des zweiten Ranges. + +Zwischen den zwei eisengeharnischten Männern, dem fürstlichen Vater +rechts, dem ritterlich prangenden Geliebten links stand das +unglückselige, geopferte Mädchen. Vor die grausame Pflicht gestellt, zu +wählen zwischen Gehorsam und Liebe. + +Und sie wählte den Gehorsam ... Mit den unschuldig reinen Händen riß sie +die Liebe aus ihrem Herzen und stieß sie von hinnen ... in den +unerbittlichen Schlachtentod ... + +War das Jucunda Buchner? War's das junge Ding von achtzehn Jahren, mit +dem die zwei schlanken Burschen da unten an einem Tisch gesessen, in +einer Stube? Um derentwillen sie heut morgen in der Frühe des +leuchtenden Wintertages einander mit der Pistole in der Hand gegenüber +gestanden hatten, während sie mit einem gefürsteten Knaben über Feld +ritt, nur von dem einen Gedanken erfüllt, ein Gastspiel am Hoftheater in +Nassau-Dillingen für den nächsten Winter herauszuschlagen? + +Nein, sie war es nicht. Ihre sterbliche Hülle war's! Und doch auch die +nicht mehr. Auch die verwandelt, erhöht, durchleuchtet, durchseelt von +der geheimnisvollen Flamme, die tief drinnen in ihr loderte, +unerklärlich, unbegreifbar ... der heiligen Flamme, die, solange sie +loderte, alles überstrahlte, alles verzehrte, alles verklärte, was +irdisch, was menschlich, was gewöhnlich, was häßlich war an ihr ... + +Horch, schon brandete von draußen der Schwall der Pappenheimer heran ... +Schon klang die wilde Feuerweise des Reitermarsches, der zu Kampf und +Tode lud ... + +Und nun -- nun tobte der rasselnde Schwall die Stiegen hinauf, stapfte +in die Galerie hinein, daß die Scheiben klirrend barsten, strudelte die +Treppe hinunter, überschwemmte in immer erneuten Güssen blinkender Wogen +die ganze Bühne ... entblößte Schwerter, haßflammende Blicke ... + +Und inmitten die zwei jungen Menschen, -- neben dem todgeweihten Manne +das todgeweihte Weib, die weiße, unschuldig leuchtende Gestalt, das tief +gesenkte, sterbensmatte Haupt. + +Und nun, nun ist der grausame Kampf zu Ende gekämpft. Aus dem Arm der +Geliebten reißt Oberst Max sich los. + + »Bedenket, was Ihr tut. Es ist nicht wohlgetan, + Zum Führer den Verzweifelten zu wählen. + Ihr reißt mich weg von meinem Glück, wohlan, + Der Rachegöttin weih' ich Eure Seelen! + Ihr habt gewählt zum eigenen Verderben, + Wer mit mir geht, der sei bereit, zu sterben!« + +Und mit hochgereckten Armen stürzt er sich hinein in die eisenschäumende +Woge. Die brüllt hell auf, schäumt gischtend empor, schlingt ihn +hinunter, reißt ihn von hinnen. Die Treppe hinauf strudelt der gärende +Schwall -- noch einmal taucht der wehende Helmbusch, der silberne +Harnisch auf ... versinkt aufs neue in den gleißenden Fluten. In den +wütenden Jubel der todestrunkenen Schar gellen die wirbelnden, erzenen +Rhythmen des Reitermarsches ... + +Da unten, da vorn, bricht das verlassene Kind vor des starren Vaters +eisenumschienten Knien zusammen ... es erfüllt sich das tragische Los +des Schönen auf der Erde ... Das Edle sinkt ... Das Ideal verweht ... + +Vorbei ... vorbei ... + +Während die Gardine niederrauschte, legte der alte Präsident seine +beiden Hände um die Schultern der jungen Männer zu seiner Rechten und +seiner Linken: + +»Kinder ... =jetzt= versteh' ich Euch ...!« + + +Am andern Morgen begleitete Hans Thumser seine Asta im Wagen zum +Bayrischen Bahnhof. Das Leipziger Gastspiel der Meininger war zu Ende -- +weiter rollte der Thespiskarren ... Schon übermorgen abend würde man im +Gärtnerplatz-Theater in München mit »Jungfrau« eröffnen ... + +Auf dem Bock thronte ein riesiger Reisekoffer. Vier Kisten mit Kostümen +waren schon als Eilgut vorausgegangen. + +Drinnen aber im Wagen lachten die zwei und machten die tollsten Witze. +Das Herz war ihnen gar zu voll und gar zu schwer. + +»Asta ...« sagte Hans mit einem Male im tiefsten Ernst, »-- ich bin ein +dummer, grüner Junge ... und ein Habenichts dazu ... sonst sagte ich zu +Dir: Laß uns zusammenbleiben ...« + +»Du Dummerle!« schalt Asta heftig und gab ihm einen derben Klaps auf die +Backe -- »Du bist doch wirklich ein riesengroßes Dummerle! So etwas darf +man nicht einmal denken ... so ein feiner, nobler Junge wie Du ... und +eine ... eine Landstreicherin wie ich ...« + +Aber ihre Lippen zuckten bitter und sehnsüchtig dabei, und in den Augen +schimmerte es verdächtig ... + +»Pfui, Asta! Abscheulich, so von Dir zu sprechen! Von meiner ... meiner +süßen Asta --!« + +»Sag's noch einmal!« bat Asta. »Es klingt so schön ... und ich werd's ja +doch niemals wieder hören ...« + +»Niemals wieder?! So oft Du willst, Süße, so oft Du willst ... und so +oft ... ich ... kann ...« + +»Da hast Du's ja ... Du wirst nicht können, mein armes Dummerle ... und +ich ... ich werde auch nicht wollen ... Es war so schön ... nun ist's zu +Ende ... und das ist gut so. Für uns beide ... für mich auch ... Denn +wenn's noch länger gedauert hätte ... dann ... dann wär ich am Ende doch +nicht mehr von Dir los gekommen ...« + +»Asta ... Asta ... So viel hast Du für mich getan ...« + +»Ja siehst Du -- da hast Du wieder so recht mein ganzes Pech: alles, +was ich für Dich hab' tun wollen, ist beim guten Willen geblieben ... +Ich hab' Dich glücklich machen wollen ... und Du bist zur Jucunda +gelaufen ... Ich hab' Dir das Leben retten wollen ... und bin zu spät +gekommen ... Eh wir dazwischen kamen, hattet Ihr Euch schon vertragen +... So geht mir's immer -- --« + +»Asta ... mein Mädchen ... ich ... ich hab' Dich ja so lieb ... +so unsagbar lieb ... ich laß Dich nicht fort ... ich ... ich brenne +durch ... Ich geh' mit nach München ... Ich frage Euren Herrn Burg, ob +er einen Volontär brauchen kann ... Ich sollte meinen, zu einem +Komödianten müßt' es doch auch bei mir reichen ...« + +Asta tupfte die Augen mit ihrem Spitzentüchelchen, und die zuckenden +Mundwinkel lachten schon wieder ihr lieblichstes Spitzbubenlachen. + +»Ne, Hanserl -- das glückt Dir nicht ... Das können wir vor Deinen +Herren Eltern nicht verantworten! Bleib Du, was Du bist ... ein Jurist +... oder ... werd' einmal ein Dichter, wenn Du kannst ... ich glaube, +Du kannst -- -- und dann, in zehn oder zwanzig Jahren schreibst Du +einmal ein Stück, das über alle Bühnen geht -- mit einer wunderhübschen +Rolle für die komische Alte darin ... Und wenn Du dann auf Reisen +zufällig einmal nach Krotoschin oder nach Stallupönen kommst und siehst +an irgendeiner Bauernkneipe oder Scheune den Theaterzettel einer +Schmiere kleben, die Dein Stück spielt, und hinter der Rolle der +komischen Alten findest Du den Namen Asta Thöny ... dann setz Dich +irgendwo unter das 'verehrliche Publikum' ... aber ganz, ganz weit +hinten ... daß ich Dich nicht etwa erkenne ... und denk' daran, daß das +alte, häßliche Weiblein da oben einmal in Deinen Armen gelegen hat ... +vor langer, langer Zeit ... als Du noch jung warst und unberühmt und +nichts weiter als ein Korpsstudent in Leipzig ... Gelt, Hans, Das tust +Du --?« + +Hans Thumser konnte nicht sprechen. Er küßte nur immer wieder die +rosige, weiche Hand, die er zwischen seinen harten, waffengestählten +Tatzen eingepreßt hielt, als wollte er sie zerdrücken. + +Der Wagen hielt vor dem Abfahrtportal des Bayrischen Bahnhofs. Es war +zehn Uhr morgens. In grellem Weiß standen die beschneiten Dächer gegen +das satte Himmelsblau, das gleißende Sonnenlicht. + +Auf dem Bahnsteig hielt bereits der Münchener Schnellzug. Für das +Ensemble der Meininger waren auf Bestellung ein paar Extrawagen +angehängt worden. Im Kassenflur, unter der Halle, wimmelte es von +glattrasierten Männergesichtern, von lebhaften mit betonter Eleganz +gekleideten Frauen. Riesige Koffermassen wurden in die Gepäckwagen +verstaut ... + +Daß Asta Thöny sich auf dem Bahnhof in Begleitung eines grünbemützten +Studenten einfand, erregte keinerlei besondere Sensation unter ihren +Kollegen und Kolleginnen. Derartiges war man von ihr gewohnt. Sonst +war's meist eine Uniform ... + +Die große Jucunda schritt mit spöttischem Naserümpfen an dem Paare +vorüber, einen ungeheuren Strauß der wunderbarsten Rosen in der Hand, +den ihr soeben ein prinzlicher Lakai überbracht hatte. Ja ... den +Rosenstrauß hatte sie wohl ... aber keinen herzlieben Jungen zur Seite, +der bei ihr hatte bleiben wollen bis zum letzten Augenblick ... Nur ihre +Eltern gaben ihr das Geleit, Mutter Doris aufgedonnert im +unglaublichsten Staat -- Vater Kanzleirat im abgeschabten Winterpaletot +und zerbürsteten Zylinder, ein armseliger, hüstelnder Schatten neben den +beiden mächtigen Frauengestalten. + +Die übrigen Kollegen gingen mit diskret abgewandten Gesichtern an Asta +und ihrem schmucken Begleiter vorüber. + +Nur Franz Burg trat grüßend heran: + +»Guten Morgen, Kleine ... Na -- ist das Ihr Dichter?« + +»Ja, liebster Freund -- das ist er ...« + +Burg lüftete lächelnd seinen Hut, nannte seinen Namen, streckte dem +Studenten die Hand hin: + +»Nun, ich sehe, Sie sind noch sehr lebendig ... Höchst erfreulich das.« + +Mit korrekt eingewinkeltem Arm schlug Hans Thumser ein in Franz Burgs +Händedruck und zog höchst offiziell die Mütze. + +»Hm,« machte der Oberregisseur und musterte ungeniert das feierlich +zurechtgefaltete Jugendgesicht -- »vorläufig ist noch nicht viel +zu lesen auf der Physiognomie da ... aber wer weiß ... vielleicht +stehen wir uns noch einmal an anderer Stelle gegenüber, und Sie legen +mir ehrfurchtdurchfröstelt das Manuskript Ihres ersten Dramas in die +Hand ... wer weiß! Dann wollen wir uns dieses Augenblicks erinnern ...« + +»Und ich werde mich Ihres 'Wallenstein' erinnern, Meister -- -- +einstweilen lassen Sie mich Ihnen dafür danken ...« sagte der Student +... und Franz Burg sah auf einmal mit Staunen, wie auf dem jungen +Gesicht die feierlich korrekten Falten sich auflösten, wie aus den +dunklen Augen eine heiße Flamme sehnsüchtiger Leidenschaft schlug. Da +leuchtete auch sein Blick dem jungen Gesellen freundlich und ermunternd +ins Gesicht. + +»Also -- auf dereinstiges Wiedersehen, junger Freund --! Jetzt aber +sollt Ihr zwei die paar letzten Augenblicke noch füreinander haben, +Kinder ...« + +Die paar letzten Augenblicke -- -- + +Hans Thumser und Asta Thöny senkten die Häupter und die Blicke ... Hoben +sie dann und ließen die Augen lange, lange ineinander ruhen ... Dabei +schwiegen die Lippen, Unsagbares quoll auf in ihren Herzen. + +»Bitte Platz nehmen!« schnarrten da die Stimmen der Schaffner. + +Da warf Asta die Arme um Hans Thumsers Nacken. Es kümmerte sie nicht, +daß die Kollegen vom Fenster aus mit Grinsen und halblautem Scherz den +Abschied beobachteten ... + +»Leb wohl ... mein Hanserl ... auf ewig ... leb wohl ...« + +»Nein ... nicht auf ewig ... das ist ja unmöglich ... das ertrag ich ja +nicht --« + +»Ach, Hanserl -- wie gut Du das ertragen wirst ... aber Du ... von Zeit +zu Zeit einmal an mich denken ... gelt? an ... Dein ... erstes Glück ... +gelt, Hanserl?!« + +Aus der finstern Halle polterte der Zug in die sonnige Morgenhelle +hinaus. Grell im Sonnenlichte leuchtete der weiße Rauchschwaden, den der +enteilende Schlot der Maschine hinter sich herzog. Und ein großes +Abschiedwinken ging aus den Fenstern des Zuges, ging auf dem Bahnsteig, +wo in ganzen Rudeln die Freunde und Verehrer standen, welche die +scheidende Künstlerschar bis zum letzten Augenblick begleitet hatten ... + +Ein Tüchlein aber wehte länger als alle andern ... und Hans Thumser +blickte ihm nach, winkte ihm nach, bis alles vorbei war. + +Dann wandte er sich rasch und schritt gesenkten Hauptes aus der Halle. +Einen Korpsstudenten in Couleur sollte niemand weinen sehen. + + + + + Von =Walter Bloem= sind früher erschienen: + + + Sonnenland + + + Eine Fahrt in die Schönheitswelt Griechenlands, in die + Märchenstädte des Orients an Bord eines schmucken + Lloyd-Schiffes, auf dem der Zufall eine bunte + Reisegesellschaft zusammenwürfelt. Ein munterer Kreis + meist humoristisch gesehener Gestalten und im + Hintergrund ein leuchtender Reigen von Kultur- und + Landschaftsbildern aus den gesegneten Zonen des + sonnigen Südens. + + Preis 1 Mark + + + * + + + Das lockende Spiel + + + Ein Buch vom Theater, von seiner berauschenden Magie, + die keinen aus ihrem Zauberkreis entläßt, der ihr + einmal verfiel. Wer es einmal gespielt hat das + »lockende Spiel«, er kann es nimmer lassen. Eine neue + Theatergründung in Berlin wird zum Mittelpunkt für ein + fröhliches Ringen um die Palme des Bühnendichters, + Schauspielers, Regisseurs. In diesen Kampf verkettet + sich ein zweites »lockendes Spiel«, das Spiel und + Gegenspiel der Liebe bei zwei jungen Menschenpaaren. + + Preis 1 Mark + + + Verlag Ullstein & Co / Berlin-Wien + + + + + + + + Ullstein & Co + + [Illustration Verlagslogo] + + Berlin SW 68 + + + + + Anmerkungen zur Transkription + + + Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originaltextes wurden + übernommen, nur offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. + + Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt, fremdsprachliche Passagen, + die im Original in Antiqua gesetzt sind, sind _so_ gekennzeichnet, + für Abkürzungen, wie C. C. und Regentenzahlen wie XIV wurde dies + nicht gemacht. Text der im Original g e s p e r r t gesetzt ist, + ist hier =so= gekennzeichnet. + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Komödiantinnen, by Walter Bloem + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KOMÖDIANTINNEN *** + +***** This file should be named 44647-8.txt or 44647-8.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/4/4/6/4/44647/ + +Produced by Tor Martin Kristiansen, Jan-Fabian Humann, +Norbert Müller and the Online Distributed Proofreading +Team at http://www.pgdp.net + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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It exists +because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from +people in all walks of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the +assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's +goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will +remain freely available for generations to come. In 2001, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure +and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. +To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation +and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 +and the Foundation web page at http://www.pglaf.org. + + +Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive +Foundation + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit +501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the +state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal +Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification +number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at +http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent +permitted by U.S. federal laws and your state's laws. + +The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. +Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered +throughout numerous locations. Its business office is located at +809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email +business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact +information can be found at the Foundation's web site and official +page at http://pglaf.org + +For additional contact information: + Dr. Gregory B. Newby + Chief Executive and Director + gbnewby@pglaf.org + + +Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation + +Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide +spread public support and donations to carry out its mission of +increasing the number of public domain and licensed works that can be +freely distributed in machine readable form accessible by the widest +array of equipment including outdated equipment. Many small donations +($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt +status with the IRS. + +The Foundation is committed to complying with the laws regulating +charities and charitable donations in all 50 states of the United +States. 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Thus, we do not necessarily +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + + +Most people start at our Web site which has the main PG search facility: + + http://www.gutenberg.org + +This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, +including how to make donations to the Project Gutenberg Literary +Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to +subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. diff --git a/old/44647-8.zip b/old/44647-8.zip Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..a08e9ed --- /dev/null +++ b/old/44647-8.zip diff --git a/old/44647-h.zip b/old/44647-h.zip Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..4e06fae --- /dev/null +++ b/old/44647-h.zip diff --git a/old/44647-h/44647-h.htm b/old/44647-h/44647-h.htm new file mode 100644 index 0000000..04c169c --- /dev/null +++ b/old/44647-h/44647-h.htm @@ -0,0 +1,12622 @@ +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.0 Strict//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml1/DTD/xhtml1-strict.dtd"> +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml" xml:lang="de" lang="de"> + <head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html;charset=iso-8859-1" /> + <meta http-equiv="Content-Style-Type" content="text/css" /> + <title> + The Project Gutenberg eBook of Komödiantinnen, by Walter Bloem. + </title> + <link rel="coverpage" href="images/cover.jpg" /> + <style type="text/css"> + +body { + margin-left: 10%; 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You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org/license + + +Title: Komödiantinnen + +Author: Walter Bloem + +Release Date: January 12, 2014 [EBook #44647] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KOMÖDIANTINNEN *** + + + + +Produced by Tor Martin Kristiansen, Jan-Fabian Humann, +Norbert Müller and the Online Distributed Proofreading +Team at http://www.pgdp.net + + + + + + +</pre> + + + +<h1>Komödiantinnen</h1> +<div class="box-container"> +<div class="bbox"> + <p class="tit1" >Ullstein-Bücher</p> + + <p class="center size1-5" style="margin-left:1em;margin-right:1em"> + Eine Sammlung<br /> + zeitgenössischer Romane + </p> + + <div class="figcenter" style="width: 50px;"> + <img src="images/owl.png" width="50" height="100" alt="Signet" /> + </div> + + <hr class="double" /> + <p class="center size1-5">Ullstein & Co / Berlin und Wien + </p> +</div> +</div> + + +<div class="box-container"> +<div class="bbox"> + <p class="tit1">Komödiantinnen</p> + + <p class="center">Roman von<br /> + <span class="size1-5 gesperrt"> Walter Bloem</span></p> + + <div class="figcenter" style="width: 50px;"> + <img src="images/owl.png" width="50" height="100" alt="Signet" /> + </div> + + <hr class="double" /> + <p class="center size1-5">Ullstein & Co / Berlin und Wien + </p> +</div> +</div> + +<p class="copyright">Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung +vorbehalten. — Copyright 1914 by Ullstein & Co +</p> +<div> +<h2>1.</h2> + +<p class="start-chapA">Aus tiefdunklem Jugendschlummer fuhr Hans Thumser +mit einem Ruck in die Höhe. Teufel auch! das nenn' +ich dachsen! Und diese Pestbeule von einem Korpsdiener +hatte mich doch wecken wollen? Wieviel mag's denn sein? +Uhr steht natürlich — Skandal! schon wieder mal das Aufziehen +verbummelt! Und schon ganz hell! Jeden Augenblick +muß der Wagen kommen mit Pilgram, dem gestrengen +Senior, der so verdammt ungemütlich werden +kann ... und mit Durchlaucht, dem fürstlichen Konkneipanten +eines wohllöblichen C. C. der Franconia ... und dann +warten lassen?! Herrgottsakra — rin' in die Buchsen —!</p> + +<p>Durchs offene Fenster schwamm herbstlicher Frühnebel +in das schummrige Studentenbudchen. Matt flimmerten +an den Wänden die dreifarbenen Wappenschilde, die gekreuzten +Schläger, die langsam einstaubenden Mützen +und Bänder — weit matter noch vom Schreibtisch her die +Goldtitel des <i lang="la">corpus iuris</i>, der spärlichen Lehrbücher +der Rechtswissenschaft ... Und weiß blinkte nun der +gertengeschmeidige Körper des jungen Studenten: Hals +und Nacken wurden mit raschen, scharfen Güssen erfrischt, +und dann wusch der Jüngling sorgsam das dichte braune +Haar mit schäumendem Bay-Rum durch, um alle septischen +Stoffe zu entfernen und der Säuberungsarbeit des +Paukarztes vorzuarbeiten ... Denn heute bekam Hans +Thumser Prügel, das stand in den Sternen geschrieben. +Herr Borgmann, Neo-Borussiae gewesener Zweiter, +Erster <i lang="la">ad interim</i> war der S. C. Fechter ... gegen den +konnte der schlanke Fuchsmajor der Franken nicht an. Da +galt es nur, sich gegen die unvermeidliche Abfuhr zu wehren, +solange Faust und Klinge hielten ... Schade, daß es gerade +der Borgmann sein mußte, der einen unterkriegte — dieser +üble Geselle, den man nicht riechen konnte, mit seinem suffisanten +Gesicht, seinem fatzkigen Lächeln, den frostigen Froschaugen +— dem mal einen Streicher über die Ohrfeigenvisage +ziehen, von der Temporalis bis ins Kinn — aber nee, nich +dran zu denken, er konnte zu viel, der Affe, der miserablichte!</p> + +<p>So — die Toilette wäre beendigt! Noch einen Blick +in den Spiegel — ade, du große schmale Nase, vielleicht +auf Nimmerwiedersehen — na, und auf Stirn und Wange +ist ja auch noch eine ganze Menge Platz, zwischen den +alten Abfuhren aus Heidelberg und denen vom Sommer, +und nun statt der grünen Mütze für heute den weichen +Knockabout auf die Stirn gestülpt — denn in jener Stadt, +in der das Reichsgericht saß, die erleuchtete Körperschaft, +welche die Schlägermensur für einen Zweikampf mit tödlichen +Waffen im Sinne des Strafgesetzbuches erklärt +hatte — im guten biedern Leipzig waren Staatsanwaltschaft +und Polizei nach der Mahnung jenes schönen Würzburger +Studentenverses tätig:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Darum auf, ihr Wächter des Gesetzes,<br /></span> +<span class="i0">Hüter des Studentenpaukgehetzes —<br /></span> +<span class="i0">Lauscht überall<br /></span> +<span class="i0">Auf Waffenschall<br /></span> +<span class="i0">Und seid stets der Mensur<br /></span> +<span class="i0">Auf der Spur!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Auch das dreifarbene Band wanderte zusammengerollt +in die Tasche — erst draußen im braunen Herbstwalde +bei Knauthain würde es sich um die junge Brust schlingen +dürfen ... und nun hinaus ... das Frühstück mußte man +sich für heut verkneifen, denn Frau Marie Wehe, genannt +Mutter Ach, stand um fünf Uhr noch nicht auf aus ihrem +keuschen Witwenbette ...</p> + +<p>Als Hans Thumser im dunklen Korridor an der Tür +zu der Nachbarbude vorüberschritt — der Nachbarbude, +die dies Semester zu Mutter Achs bittrem Schmerz unvermietet +geblieben war — da stolperte er plötzlich über +etwas Zierliches, Weiches ... was Teufel — also doch +noch Nachbarschaft gekommen —?!</p> + +<p>Hans Thumser bückte sich und hob ein Etwas auf, das nur +... ein Lackschuh sein konnte ... und zwar ein winziger ... +mit knisternder Seidenschleife besetzter ... ein feiner, geheimnisvoll +irritierender Duft entstieg ihm ... Hans Thumser +trat mit seinem seltsamen Fund an die Mattscheibe der +Korridortür, die ein falbes Licht einfallen ließ, und betrachtete +mit der naiven Andacht seiner unverwöhnten zwanzig Jahre +das zierliche Wunder. Gott, welch eine Wirrnis von Träumen +stieg empor aus diesem schmalen Kahn der Sehnsucht ... +Mit einem tiefen Seufzer, von fröstelnden Schauern überrieselt +setzte der Jüngling seine Beute sacht und herzklopfend +wieder vor die Tür, die nun auf einmal ein Eden barg. +Ein weißes Viereck schimmerte matt vor dem des Dämmers +nun gewöhnten Blick, als der Student sich wieder zu +seiner ganzen Länge aufgerichtet ... in unzähmbarer +Neugierde tastete er nach seiner Zündholzschachtel und las +im zuckenden Flackerlichte die lithographischen Schriftzüge:</p> + +<p class="center"> +Asta Thöny<br /> +Herzoglich Meiningische Hofschauspielerin<br /> +</p> + +<p>Was ... war das?!</p> + +<p>Hans Thumser hatte auf eines jener Dämchen geraten, +die sich wohl bisweilen im <i lang="fr">Quartier latin</i> einnisteten, +um Jugendglut und Monatswechsel der akademischen +Bürger zu brandschatzen ... und nun —?!</p> + +<p>Eine Künstlerin ... ein Mitglied jener erlauchten +Komödiantengilde, deren Siegeszug dem staunenden +Deutschland, nein der Kulturwelt erst erschlossen die ganze +Herrlichkeit des klassischen deutschen, des klassischen germanischen +Dramas —?!</p> + +<p>Hans Thumser sah sich in der Heimatstadt, auf einem +Platze des zweiten Ranges, den er vom Taschengeld abgeknausert, +abgebettelt dem gütigen Vater, der so schlecht +nein sagen konnte — sah sich sitzen als ahnungsvollen +Primaner und lauschen — lauschen in Verzückung und +Tränen ... schauen voll seliger Gier und ungläubig-gläubigen +Ueberschwangs in eine Wunderwelt hinein, da +alle seine Träume die Erfüllung fanden ... und sah sich +am andern Tage auf der Schulbank, stumm und stumpf +bei jeder Frage der Lehrer, gleichgültig gegen ihren Zorn +und den Spott der Mitschüler, die nicht ahnen konnten, +was mit dem Primus vorgegangen ... was ihm die flinke +Zunge, das unfehlbare Gedächtnis lähmte ...</p> + +<p>Und nun —?! Eine Meiningerin — und seine Zimmernachbarin?</p> + +<p>Was konnte das bedeuten —?</p> + +<p>Etwa dies: daß die Meininger in Leipzig wären — +gastierten drüben im Carolatheater —?</p> + +<p>Und davon — davon hatte man nichts erfahren?</p> + +<p>Freilich — unmöglich wär's nicht — wie man so +dahinlebte, das Gladiatorendasein des aktiven Korpsstudenten ...</p> + +<p>Asta Thöny? Nein — den Namen Asta Thöny verzeichnete +seine Erinnerung nicht — das mußte wohl ein +neues Mitglied sein, schlank und ... duftig wie die +Schuhchen, von denen nun, im wachsenden Tageslicht, +ein paar Lichtpünktchen aufgleißten aus dem Dämmer +des Korridors ...</p> + +<p>Aber ein anderer Name stieg nun auf, ein weißleuchtendes +Mädchenbild tauchte glorienumstrahlt aus der +Tiefe seiner Visionen: Jucunda Buchner, die kaum +Sechzehnjährige, die Thekla der Meininger ...</p> + +<p>Sie sah er, im dritten Akt der »Piccolomini«, einsam im +finstern Schloßgemach, mit der Laute hineingeschmiegt in +einen faltenstarren rotsamtenen Vorhang, scharf abgehoben +die weiße Gestalt vom riesigen Fenster, durch +dessen hundert kreisrunde Scheiben die sternlose Nacht +hineinglotzte ... und wie ein Kind im Finstern singt, +die Herzensbangigkeit zu betäuben, so verloren, so verlassen, +so angstumschauert hatte das junge Weib seine +schmachtende Weise vor sich hingelallt:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">Der Eichwald brauset, die Wolken ziehn —<br /></span> +<span class="i0">Das Mägdlein wandelt an Ufers Grün —<br /></span> +<span class="i0">Das Auge von Weinen getrübet ...<br /></span> +</div><div class="stanza"> +<span class="i0">Du Heilige, rufe Dein Kind zurück —<br /></span> +<span class="i0">Ich habe genossen das irdische Glück —<br /></span> +<span class="i0">Ich habe gelebt und geliebet ...<br /></span> +</div></div> + +<p>O Erinnerung ... o Ahnung ... o Kunst, du mächtige +Weckerin, Vorschule des Lebens, Tummelplatz der +werdenden, in Werdeschauern erzitternden Seele —!</p> + +<p>Gelebt und geliebet ... und du, junges Studentlein im +finstern Korridor — aus dessen Dunkel die weißen Lichtpünktchen +glitzern von Asta Thönys Lackschuhchen — —?!</p> + +<p>Hans Thumser schrak zusammen. Ihm war's, als +hätte er aus weiter Ferne, ungeduldig, seinen Namen +rufen gehört ...</p> + +<p>Und richtig:</p> + +<p>»Thumser! Thumser! Zum Donnerwetter, wenn Du +jetzt nicht kommst, fahren wir ohne Dich!«</p> + +<p>Ach so ... ach ja ... die Stunde, die heischende ... +die Stunde des Burschenkampfes ...</p> + +<p>Hans Thumser fuhr auf, reckte sich — kein Abschiedsblick +mehr zurück zu den Lichtpünktchen drunten, dem +weißen Kärtchen an der Pforte des Geheimnisses — +fort — hinaus —!</p> + +<p>Er flog die krachenden Stiegen hinunter, der mächtige +Haustürschlüssel knarrte im Schloß — und draußen auf +der morgenstillen, morgenleeren Sophienstraße empfing +ihn ein Durcheinander von Begrüßung und Vorwurf —</p> + +<p>»Na, Du Schlafratze — endlich ausgepennt?« zürnte +der Senior vom Rücksitz aus. Und:</p> + +<p>»Hatten schon alle Hoffnung aufgegeben, Sie noch +unter den Lebenden begrüßen zu dürfen!« schnarrte der +Major von Gorczynski, dessen kantige Reiterfigur sich noch +immer nicht in das elegante Zivil des Prinzenbegleiters +eingewöhnen mochte.</p> + +<p>Erbprinz Heribert aber, der durchlauchtigste Konkneipant +der Franken, zog nur stumm und mit indignierter +Miene den steifen grauen Filzhut. Also man ließ warten! +na ja, an einer deutschen Hochschule funktioniert der Betrieb +nun einmal nicht wie am herzoglichen Hofe zu +Nassau-Dillingen ... man mußte Nachsicht üben ...</p> + +<p>Mit einem Ruck saß Hans Thumser neben seinem +Korpsbruder auf dem Rücksitz, dem Prinzen gegenüber, +der ihn durch sein Monokel mit kühl-durchdringendem +Blick niederzuschmettern suchte, was ihm freilich nicht +gelang.</p> + +<p>»Also wenn Durchlaucht gestatten, fahren wir ab!« +sagte Valentin Pilgram mit korrektem Gesicht. Er war +auch nicht sehr erbaut von der Ehre, einen prinzlichen Mitkneipanten +im Korps durch das Semester schleppen zu +müssen, zumal einen solchen faden Burschen, der nicht +warm wurde unter den Kommilitonen, deren Mütze er +wie zum Maskenscherz die wenigen Male aufsetzte, wenn +er gelangweilt und verständnislos an den offiziellen Veranstaltungen +des Korps teilnahm ... indessen das gehörte +nun einmal dazu ...</p> + +<p>»Also los, Kutscher und lassen Sie gefälligst die +Gäule loofen, sonst fällt der erschte Hieb, ehe wir draußen +sind!«</p> + +<p>»I herrjemerschnee, Herr Pilgram, das kann Sie ja +gar nich passier'n — de Allererschten wär'n mer sein am +Platze, da genn' Se sich drauf verlass'n!« ...</p> + +<p>Als der Wagen anzog, fiel der Blick der Abfahrenden +auf eine lange Kolonne riesiger Möbeltransportwagen — +drüben waren sie aufgefahren vor der nüchternen Häuserfront, +deren Erdgeschoß die Einfahrt zum Carolatheater +durchstieß. Das Theater selber lag verborgen und +schmucklos dahinter im Hofe. Um die Wagen aber +sammelte sich eine Rotte herkulischer Blusenmänner und +begann sie zu entladen. Was kam da alles zum Vorschein!</p> + +<p>Das erste, was das Auge der Wageninsassen entdeckte, +war der riesige Körper eines schwarzen Pferdes, in liegender +Stellung, in der Stellung des Todes ausgestopft ... +Unter derben Späßen hoben die untersetzten Arbeiter die +Bestie aus dem Finstern des Wagens und trugen sie in +die Dämmerung des Flurs. Und im schnellen Davonfliegen +des Wagens erfaßte der Blick der Enteilenden +noch ein Chaos von Gegenständen, die bereits ausgepackt +an den Hauswänden lehnten: ein ganzes Arsenal eiserner +Rüstungen, Schwerter, Hellebarden, Federhelme ... und +noch allerhand Dinge, seltsam durch ihre Lage und Zusammenstellung: +einen prunkvollen gotischen Altar, einen +mächtigen Eichbaumstumpf, dessen papierene Blätter im +Herbstmorgenhauche gespenstisch raschelten — und endlich +ein kolossales Renaissance-Büfett, das Hans Thumser auf +den ersten Blick wiedererkannte: es hatte im Bankettsaal +des Grafen Terzky gestanden, der Zecherrausch der +Friedländischen Generale hatte es umbrandet — damals, +im Barmer Stadttheater, als Hans Thumser in Fieberschauern +den »Wallenstein« erlebte ...</p> + +<p>»Die reine Trödelbude —« sagte Valentin Pilgram, +der Senior, und zog die Winkel des schmalen Mundes +verächtlich herab. »Ooch 'n Geschäft, sich Abend für Abend +die Visage zu beschmieren, sich vor so'ne Lappen hinzustellen +und mit Armen und Beinen zu fuchteln ...«</p> + +<p>Die blassen, matten Züge des Erbprinzen hatten sich +plötzlich belebt. »Sie vergessen, lieber Pilgram, daß +diese Fuchtelei mit Armen und Beinen doch manchmal +ganz niedlich anzusehen ist ... namentlich wenn diese +Arme und Beine — halten Sie sich mal die Ohren zu, +Herr Major! — na also, wenn sie schlank, jung und ... +<i lang="la">feminini generi</i> sind ...«</p> + +<p>»— <i lang="la">gener<em class="gesperrt-in">is</em></i>, Durchlaucht!« erlaubte sich der Erzieher +zu bemerken.</p> + +<p>»Echauffieren Sie sich nicht, lieber Major — als +Sprachlehrer sind Sie nicht engagiert — Sie haben nur +für meine Moral zu sorgen — wenn's auch schwer fällt ... +aber nun sagen Sie mal, Sie Alleswisser — was bedeutet +denn dieser Apparat da vor dem ollen muffigen Carolatheater?«</p> + +<p>»Die Meininger, Durchlaucht, beginnen in fünf Tagen +ein vierwöchiges Gastspiel in Leipzig,« sagte der Major.</p> + +<p>»Und das haben Sie mir bis jetzt unterschlagen, Sie +Cerberus?«</p> + +<p>»Ich habe nicht gewußt, daß Durchlaucht sich auch für +<em class="gesperrt">ernste</em> Kunst interessieren ...«</p> + +<p>»Ah bah — Theater ist Theater ... und wo kann der +Thronfolger eines — na sagen wir mal eines Staates +von mäßigem Umfang — wo kann ich mich besser auf +meinen künftigen Beruf vorbereiten als im Theater? +Mein Hoftheater, das ist doch der einzige Platz, wo ich +später ... gewissermaßen ... wirklich mal was zu sagen +haben werde ...«</p> + +<p>»Durchlaucht ... ich darf wohl bitten ...« warf der +Major ein.</p> + +<p>»Na, jedenfalls ist das meine Auffassung!« lachte der +Erbprinz, »— können Sie meinetwillen nach Dillingen +berichten! Und das bitte ich mir aus, Herr Major: bei +den Meiningern belegen Sie heut abend sofort die vorderste +Proszeniumloge! Ich sehe mir die ... Kunst ... +gern aus der nächsten Nähe an! Lieber Pilgram — zur +Eröffnungsvorstellung sind Sie mein Gast, nicht wahr?«</p> + +<p>»Sehr gütig, Durchlaucht ...« sagte Valentin Pilgram +und sann nach. »Das wäre, soviel ich weiß, am +nächsten Mittwoch ... da haben wir allerdings offizielle +Kneipe, und ich als Erster Chargierter dürfte eigentlich +nicht ... und dann ... habe ich auch nicht allzuviel fürs +Theater übrig ...«</p> + +<p>»Philister Sie! Na und Sie, Herr Thumser — wie +wär's mit Ihnen?«</p> + +<p>Hans Thumser wurde glühendrot ... halb in Glück, +halb in Befangenheit ... er hatte sich bereits schmerzlich +bewegt ausgerechnet, daß es gegen Ende des Monats +gehe, und sein Wechsel ihm einen Besuch der Meininger +wohl schwerlich vor dem ersten November gestatten +würde ... also das fiel ja geradezu vom Himmel ... +andererseits ... mit diesem blasierten, schwunglosen +Menschen zusammen — wie würde er's ertragen, in seine +Andacht hinein solche Reden vernehmen, gar ihnen ehrerbietig +lauschen zu müssen?</p> + +<p>Dennoch ... besser als gar nichts ...</p> + +<p>»Ich nehme mit Freuden an, Durchlaucht ...«</p> + +<p>»Also abgemacht! Was gibt's denn, Herr Major?«</p> + +<p>»Jungfrau von Orleans ...«</p> + +<p>»Ausgerechnet —!« schnarrte der Prinz — »Schiller —! +Gymnasium in Wiesbaden — verfluchten Angedenkens! +Schiller! Was ist Schiller? Eine Serie von Aufsatzthemen +—!!«</p> + +<p>»Stimmt!« rief Pilgram. »Keine zehn Pferde ziehen +mich ins Theater, wenn Schiller gespielt wird! 'Die +tragische Schuld der Maria Stuart' — 'Wallenstein, ein +tragischer Charakter' — 'Die poetische Gerechtigkeit in +der Braut von Messina' — pfui Deuwel! um junge Hunde +zu kriegen —!«</p> + +<p>Wie bin ich unter diese Menschen geraten? dachte +Hans Thumser. Warum trage ich die gleiche Mütze und +die gleichen Farben wie sie? Kein Takt des Herzschlags, +kein Gefühl, kein Wort ist mir mit ihnen gemeinsam ...</p> + +<p>Und derweil rollte der Wagen seitwärts durch die +nüchternen, morgenleeren, hallenden Straßen der Südstadt, +dem fernen Kampfplatz entgegen, wo Hans wieder +einmal seine Zusammengehörigkeit mit seinen Korpsbrüdern, +seine Zugehörigkeit zum Frankenbunde mit +seinem Herzblut besiegeln sollte ...</p> + +<p>»Vergessen Sie nicht, Durchlaucht, daß Jucunda +Buchner die Jungfrau spielt ...«</p> + +<p>»Jucunda Buchner? Ist — wer?«</p> + +<p>»Nun, der jugendliche Stern der Meininger — einfach +Sehenswürdigkeit — gewissermaßen das deutsche Mädchen +in Reinkultur —«</p> + +<p>»Schön — also abgemacht!« sagte der Erbprinz. »Aber +halten Sie mich fest, lieber Major, sonst mach' ich Dummheiten...«</p> + +<p>»Buchner?« sagte der Senior, »hm — da fällt mir +was ein. Mein Hauswirt, der Kanzleirat Buchner, der +hat ja, soviel ich weiß, irgendwo 'ne Tochter beim Theater +... das wäre doch ulkig ... soviel ich weiß, wurde ihre +Ankunft erwartet ... und ich mein' auch, daß sie in Leipzig +spielen sollte, hätte die Alte erzählt — ich hab' aber nicht +recht hingehört — was geht mich das Theater an ...«</p> + +<p>»Herrgott, Mensch — das Theater!« platzte Thumser +heraus. — »Hier handelt sich's doch um die Meininger! +Hast Du davon überhaupt eine Ahnung, was dieses — +dieses Theater bedeutet? Die Entdeckung der Klassiker, +ihre Eroberung für die Bühne unserer Zeit, die Entbindung +all der tausend köstlichen Sinnlichkeiten, die im +Drama unserer Großen schlummern — bist Du denn solch +ein Barbar, solch ein Banause, daß Du von all dem nichts +weißt — daß all das für Dich nicht existiert?«</p> + +<p>»Na, entschuldige schon, daß ich existiere!« schnarrte +der Erste. »Ne wirklich, teures Thumserherz, das alles +ist mir schnuppe, schnupper, am schnuppesten! Ich halt's +mit meinem Vater, der nie in seinem Leben ins Theater +gegangen ist und doch Senatspräsident am Oberlandesgericht +in Dresden geworden ist, und jedenfalls noch ein +Endchen weiter kommen wird im Leben, eh er Schluß +macht! Kunst ist Spielzeug für charakterlose Müßiggänger +— unsere Zeit aber braucht Arbeiter, Charaktere +— Männer, verstehste?!«</p> + +<p>»Bumm, bumm, bumm! Tusch!« sagte der Prinz. +»Sie sind zum Landtagsabgeordneten qualifiziert, lieber +Pilgram ...«</p> + +<p>»Verzeihung, Durchlaucht, es muß auch — Landtagsabgeordnete +geben! Ne, lieber Thumser, lauf Du nur +immer ins Theater und laß Dir — wie hast Du so schön +gesagt? — laß Dir Deine tausend köstlichen Sinnlichkeiten +entbinden — mein Bedarf ist mit Fechtboden, Kneipe und +Windscheids Drogenweltkolleg vollkommen gedeckt!«</p> + +<p>»Und so was hat nun das Glück, mit Jucunda Buchner +unter einem Dache zu wohnen ...« seufzte Erbprinz +Heribert.</p> + +<p>»Das weiß ich noch nicht, das ist nur eine Vermutung +von mir, Durchlaucht ... Uebrigens ist die Sache wirklich +ohne Interesse für mich. Mit einer Komödiantin möcht' +ich noch nicht mal eine Poussage haben ... man kann ja +doch nie wissen, ob sie einem nicht was vormimt und +einen innerlich auslacht ...«</p> + +<p>»Na, teurer Pilgram, nu sei'n Se aber friedlich!« +schmunzelte der Erbprinz. »Davon versteh'n Sie nu +wirklich nischt — det haben Sie noch nich gehabt!«</p> + +<p>»Sie doch auch nicht, wie ich hoffe, Durchlaucht!« sagte +der Major und blinzelte seinem jungen Herrn unter +grimmig zusammengezogenen Brauen verschmitzt zu. Und +Erzieher und Zögling wechselten ein Augurnlächeln ...</p> + +<p>Der Wagen rollte. Niederer wurden die Häuser, die +beiderseits die Connewitzer Landstraße umsäumten. Und +bald wurde die Bebauung offener, ländlicher. Dann bog +die Fahrt nach rechts, und in die braunen Schattenhaine +des Streitholzes ging's hinein, die Pleiße wurde überschritten +auf knarrender Holzbrücke, unter der sich die +gelben Fluten träge hinwälzten, noch angeschwollen von +den ersten Herbstregen, welche die vergangene Woche +gebracht. Aber heut rang sich aus Nebelbrodem die verschlafene +Morgensonne mühsam durch, umgoldete das +rötliche Buchenlaub zu Häupten der Dahinrollenden, +verhieß einen lustig blanken Fechtertag, den letzten unter +freiem Himmel für dies Jahr: der nächste würde schon +im benachbarten Halle, richtiger im Vorort Cröllwitz, +steigen müssen, an der murmelnden Saale, gegenüber +den reckenhaften Trümmern des Giebichenstein.</p> + +<p>Allmählich wandte sich das Gespräch von dem strittigen +Thema des Theaters zum minder kontroversenreichen des +nahen Bestimmtages hinüber. Daß der Fuchsmajor der +Franken heute seine todsichern Senge bekommen würde, +galt als ausgemachte Sache, über die niemand Worte zu +verlieren brauchte. Es fragte sich bloß, ob Hans Thumser +auf seine notorische vielgeprüfte Quartblöße oder auf +Borgmanns allgefürchteten Durchzieher abgestochen werden +würde — von dem Valentin Pilgrim, der Senior, im Gesicht +bereits ein stattliches Exemplar trug, welches Ohrläppchen +und Mundwinkel mit einem linealgraden breiten +Strich verband ...</p> + +<p>Aber während man also über Hans Thumsers nächste +Zukunft verhandelte, das Schicksal seiner linken Gesichtshälfte +sachverständig abtaxierte — — war Hans Thumsers +Inneres auf geheimnisvolle Weise in Gleichgültigkeit und +Fernsein untergetaucht.</p> + +<p>Jungfrau von Orleans ... sang es in seinem Herzen +... Jucunda Buchner ... das war wie eine leuchtende, +gnadenvolle Nähe, wie ein offener Himmel, aus dem eine +lichte Madonna sich neigt, gegenwärtig und doch unnahbar, +bekannt und doch undurchdringlich ...</p> + +<p>Und zwischen die Choralmelodien, die Harfenarpeggien, +welche das Heiligenbild umschauerten, kicherte und +schwirrte es hinein wie Flötentriller, wie kecke Geigenpizzicati:</p> + +<p>Asta Thöny ... Asta Thöny ...</p> + +<p>Und ein paar neckische, blinkende Lackschuhchen tanzten +auf und nieder, aus denen zwei schlanke, seidenbestrumpfte +Knöchel guckten — was darüber war, verschwand in rosigen +Schleiern, aus denen es lachte und girrte wie Taubengurren:</p> + +<p>Asta Thöny ... Asta Thöny ...</p> + +<p>Ernsthaft und aufrecht saß Valentin Pilgram, der gestrenge +Senior des Korps Franconia. Als läge die Regierungslast +eines Millionenstaates auf seinen Schultern, +so pflichtdurchdrungen, so würdeumbauscht saß er und +übersann das Programm des Tages ... Ob Heinz Hartwig, +das muntre, taprige, ewig korkende Füchslein, wohl +heute endlich eine einwandfreie Mensur liefern würde +und daraufhin ins engere Korps rezipiert werden könnte? +Und Ivo Volkner, der leichtblütige Rheinländer aus Düsseldorf, +dessen letzte Mensur auch keineswegs tadelsfrei gewesen +war — ob er wohl sein unstätes Musikantentemperament +heute so weit im Zaume halten würde, um +sich herausreißen zu können?</p> + +<p>Und was sollte der C. C. auf den merkwürdig +schnoddrigen Brief unseres lieben Kartellkorps Pomerania +zu Göttingen antworten? Ob es nicht doch besser war, +das alte Kartellverhältnis zu lösen und ein frisch-fröhliches +P. P. zu fechten?! Aber was würden die gemeinsamen +Alten Herren sagen?</p> + +<p>Und ob man den Rektor zur C. C.-Antrittskneipe einladen +mußte — anläßlich der hohen Ehre, daß ein richtiggehender +Prinz und Thronfolger zu den Konkneipanten +des Korps zählte?</p> + +<p>Ja, man hatte schon seine Sorgen ... Der Reichskanzler +war am Ende auch nicht viel schlimmer dran als +der Erste Franconiae-Leipzig ...</p> + +<p>Der Erbprinz aber träumte von einer fernen Zukunft +... noch war der alte Herr ja ... hm, hm! — erheblich +rüstig ... und seine Altersgenossen, die Leutnants des +Sophien-Regiments, hatten ihm gelegentlich in später +Stunde, wenn der Sekt die Zungen gelöst, das Gefühl der +Distanz ein wenig gemildert hatte — na ja, dann hatten +sie ihm gelegentlich etwas gesteckt von all dem Gemunkel, +das in der Residenzstadt umlief über die zarten Beziehungen +des hohen Herrn zu der weiblichen Elite des +Hoftheaters ...</p> + +<p>Er, Heribert Hans Herwig, würde sich das erlauchte +Vorbild seines gnädigsten Vaters zum Muster nehmen, +wenn er einmal als Heribert XIV. das Thrönchen seiner +Väter bestiegen haben würde.</p> + +<p>Inzwischen hielt man sich studienhalber in Leipzig auf und +würde auch da auf seine Rechnung zu kommen wissen ...</p> + +<p>Jucunda Buchner ... das klang recht verheißungsvoll +... und Jungfrau von Orleans ... Himmel, es gibt +allerhand Arten von Jungfrauen ...</p> + +<p>Nun war man »draußen«. Mitten im tiefschattigen +Buchenwald ein wuchtender Eichbaum, sonst von tiefem +Dämmerfrieden umwirkt, heut umbraust von einem +bunten, farbentollen Leben. Die wilden Völkerschaften, +die inmitten moderner Gesittung ein mittelalterliches +Reckendasein führten bei Waffenklirren, rauhem Sang +und schäumenden Kannen, die Franken und die Neo-Borussen, +die Westfalen und Meißner und Thüringer, +hier hatten sie sich Stelldichein gegeben zur allwöchentlichen +feierlichen Rauferei. Und diesmal, als am ersten +Bestimmtage des Semesters, war alles in besonders gehobener +Stimmung. Die alten Bekannten in den verschiedenen +Korps begrüßten sich hinüber und herüber, mit +besonderer Herzlichkeit jene, die bereits einmal oder gar +mehrmals die Klinge gekreuzt hatten — wesentlich +zeremonieller schon jene, denen heute der blutige Gang +bevorstand. Alles war in Wagen gekommen, die nun +als langer Park auf der Chaussee aufgefahren waren, +stets bereit, mit den Paukanten in Windesschnelle davonzusausen, +wenn die weithin aufgestellten Schnarrposten +die Annäherung von Pickelhauben und grünen Waffenröcken +melden sollten. Alles war im »Bummel« gekommen, +das heißt im Hut, die Couleur in der Tasche; +nun wurden schleunigst Mützen und Bänder angelegt: +gar lustig flimmerten auf dem bunten Tuch, der dreifarben-gestreiften +Seide, die Sonnentupfen, die durchs braune +Laubdach sich niederringelten. Und bald stand das erste +Paar bereit: Pilgram, Franconiae Erster, gegen den +stämmigen Zweitchargierten der Meißner.</p> + +<p>Und nun — heiho! Gellende Kommandorufe hinein +in die lauschende Stille, widerhallend an den schlanken, +weißleuchtenden Buchenstämmen ... und nun: klirr, klirr +der helle Klang, wenn Eisen scharf auf Eisen traf, im +Wechsel mit dem dumpfen Knall der flachen Hiebe, die +über Stulp und Schädel krachten — heiho! uralte Reckenlust +am tollen Raufen, am harten Widereinander der +jugendlichen Kräfte ...</p> + +<p>Jähes Halt der Sekundanten, Pause, Blut rinnend +hüben über die schmalen, herrischen Züge des Frankenseniors, +drüben über die feisten Speckbacken des +Fechtchargierten der Meißner ... und wiederum Kommandos, +hageldichte Hiebe, Stahl auf Stahl ...</p> + +<p>Und dann war's plötzlich aus: der Meißner hatte seine +Abfuhr weg, eine lange Quart, fast unpariert, überm +linken Ohr. Und in die blutbeschmierte Bandage mußte +nun Hans Thumser hinein.</p> + +<p>Schon stand er dem verhaßten Borgmann gegenüber, +schon faßten die Gegner einander fest ins Auge, schon +flogen die Klingen in die Auslage, kauerten die Sekundanten +wie sprungbereite Katzen zu ihrer Kämpfer Seiten +— da entstand eine Bewegung unter der lauschenden +Korona. Auf dem weichen Waldboden scholl ein dumpfes +Klackern wie von Huftritten, und auf dem schmalen Pfade, +der am Wiesensaum entlang sich zog, flitzten zwei Reiter +heran — aber nicht die Grünröcke der Gendarmen — +Zivilisten waren's, ein Herr und eine Dame. Hans +Thumser sah, wie alle Köpfe sich wandten — doch ihm +blieb nicht Zeit — nur einen grauen Schleier sah er wehen +von einem hohen, schwarzglänzenden Seidenhut; sah etwas +Lichtes, Klares darunter, hell abgehoben vom dämmernden +Waldgrund — und dann —</p> + +<p>»Auf die Mensur — bindet die Klingen!«</p> + +<p>»Gebunden sind —!«</p> + +<p>»Los!«</p> + +<p>Und nun alles Leben in Aug und Handgelenk hinein +sich krampfend — und ein Wille nur — sich wehren — +und treffen! treffen —!!</p> + +<p>»Halt!«</p> + +<p>»Halt —!!«</p> + +<p>Und auch hier schon nach dem ersten Gange helle rote +Bäche rinnend über weiße Stirnen, zernarbte Wangen ...</p> + +<p>Und während der Paukarzt mit dem Wattebausch in +Hansens klaffende Stirnwunde tupft, vernimmt des +Fechters Ohr ganz deutlich aus der Mitte der Umstehenden +die Worte:</p> + +<p>»Das ist die Buchner!«</p> + +<p>Und eine andere Stimme fragt:</p> + +<p>»Und der Herr — wer ist das?«</p> + +<p>»Das ist Franz Burg — der Heldenspieler ...«</p> + +<p>Inzwischen hat der Paukarzt seine Untersuchung beendigt; +er lächelt:</p> + +<p>»Weiter!«</p> + +<p>»Herr Unparteiischer — von unserer Seite kann's +weitergehen ...«</p> + +<p>Aber drüben bei den Neo-Borussen scheint man noch +nicht so recht im Klaren ... na, wenn Hans Thumser auch +schließlich wird dran glauben müssen: auch Herr Borgmann +hat sein Teil bekommen, scheint's!</p> + +<p>Er lugt umher: dort halten sie, die Reiter, unterm +Eichbaum und spähen neugierig hinüber ... Ja, das glaub' +ich, ihr Komödianten — so etwas bekommt ihr nicht alle +Tage zu sehen — hier schwingt man die Waffe nicht nur +zum Spiel — und was hier Stirn und Wange färbt, ist +wirkliches Blut, nicht Schminke ...</p> + +<p>Und dies schmale, feine junge Gesichtchen — das ist ... +Thekla — das ist Johanna von Arc?!</p> + +<p>Nun werden auch die Neo-Borussen wieder munter:</p> + +<p>»Herr Unparteiischer, von unserer Seite kann's weitergehen!«</p> + +<p>»<i lang="la">Silentium</i> — Pause <i lang="la">ex</i>!«</p> + +<p>»Auf die Mensur — bindet die Klingen!«</p> + +<p>Jucunda! betet irgend etwas in Hans Thumsers Seele. +Er fühlt, wie alle Sehnen sich straffen.</p> + +<p>»Gebunden sind!«</p> + +<p>»Los!«</p> + +<p>Und zweimal, dreimal schmettert Hieb auf Hieb — und:</p> + +<p>»Halt!«</p> + +<p>»Halt!«</p> + +<p>»Herr Unparteiischer, bitte drüben nachzusehen und +einen Blutigen zu konstatieren!« ruft Valentin Pilgram, +Hansens Sekundant, wilden Triumph in der Stimme — +sich aufrichtend, zischt er seinem Paukanten ins Ohr:</p> + +<p>»Du — das ist Rest!!«</p> + +<p>»Rest? Bei wem? Bei mir?« fragt Hans Thumser +ganz verdutzt.</p> + +<p>»Ne — da drüben — bei Borgmann! Teufel auch, +Thumser — der Durchzieher — so was darfste öfters +schlagen!«</p> + +<p>Was? Er — Hans Thumser — er hätte den S. C. +Fechter — —? Donnerwetter!</p> + +<p>An des Gegners Stirn klaffte ein breiter roter Spalt, +aus dem zwei feine warme Strahlen spritzten —</p> + +<p>»'raus!« sagt drüben der Paukarzt.</p> + +<p>»Herr Unparteiischer, wir erklären die Abfuhr!«</p> + +<p>Borgmann stampfte vor Wut mit dem Fuß, als der +Paukarzt von hinten mit kräftigem Griff seine Stirn zusammenpreßte +und ihn herumdrehte. Was half's?</p> + +<p>»<i lang="la">Silentium</i> — Neo-Borussia erklärt Abfuhr nach +anderthalb Minuten!«</p> + +<p>Als Hans Thumser sich aus dem Schwall der Glückwünsche +seiner Korpsbrüder losmachte und Ausschau +hielt — war das Reiterpaar verschwunden.</p> + +<p>»Gratuliere!« sagte Erbprinz Heribert. »Fabelhaft, +lieber Thumser, meine vollste Bewunderung! Haben Sie +übrigens die Buchner gesehen?! Vollkommen tadelloses +Mädchen ...«</p> + +</div> +<div> +<h2>2.</h2> + +<p class="start-chapW">Wenn Hans Thumser auf ein Glück wartete, so machte +die Ungeduld ihn krank, verdarb ihm jede Minute mit +zehrender Sehnsucht. So war es schon immer gewesen, +solange er sich seiner erinnern konnte. Die letzten Wochen +vor dem Weihnachtsfest, vor dem Beginn der Sommerfrische +waren ihm stets eine endlose Tortur gewesen ... +Und als er später begonnen hatte zu empfinden, daß nur +die Stunden wahrhaft lebenswert seien, in denen er mit +einem gewissen braunbezopften Menschenkind unter einem +Dache weilen durfte ... da war alles, was zwischen diesen +Stunden lag, nur wie ein unermeßlich langer, böser, +dumpfer Traum und Alpdruck gewesen ...</p> + +<p>Und so bedrückend, so angstumschnürt wälzten sich auch +die Tage dahin, die Hansens Mensurtriumph noch von der +Eröffnungsvorstellung des Meininger Gastspiels schieden. +Er saß inmitten seiner Korpsbrüder, schwatzte und trank +mit ihnen wie immer, ließ ihre Lobesbezeigungen mit der +gleichen Gelassenheit über sich ergehen wie den boshaften +Spott der Neider, es sei nur ein »Schweinedusel« gewesen, +daß er den S. C. Fechter hinabgetan habe ... Er ließ +auf offizieller Kneipe seine Füchse in die Kanne steigen, +daß sie quietschten, und schrieb morgens bei Windscheid +und Binding im Kolleg mit einem ganz ungewohnten, +krampfhaften Eifer nach, als steure er auf ein Prädikatexamen +los — — und all dies Tun blieb seiner Seele so +fern, so fern ...</p> + +<p>Manchmal fragte er sich, ob er wohl bei ganz gesundem +Verstande sei — ob es nicht eine fixe Idee, ein krampfhaftes +Wahngebilde sei, das ihn so grenzenlos hungern +ließ nach — nach einem Nichts, einem Spiel, dem flüchtigen +Schattenbilde eines Dichtertraums ... Und dann +wieder genoß er mit einer phantastischen Seligkeit sein +Wesen, das ihn vom wachen Leben hinweg so unwiderstehlich +in luftige Spukwelten drängte ...</p> + +<p>Nur die Stunden zählten wenigstens halb, die er am +Fenster seiner Bude verbrachte, hinüberstarrend zur nüchternen +Front jener Gebäude an der langweiligen Sophienstraße, +hinter denen der kahle Bau des Carolatheaters +sich barg. Dort war um die Vormittagsstunden ein lebhaftes +Kommen und Gehen. Früh um neun begannen +die Proben, natürlich nur für die neuangeworbene Statisterie, +denn für die Solo-Rollen »standen« selbstverständlich +alle Stücke des Repertoires. Aber die stattliche Schar +des »Volkes«, die in jeder Stadt aufs neue zusammengebracht +und gedrillt werden mußte, die wimmelte heran, +füllte die sonst stille Straße mit Lachen und Geschwätz ... +braunäugige Töchter kleiner Bürgersleute, stellungslose +Ladenfräulein und Kommis, Stadtreisende und Konservatoristen +— vor allem aber Studenten, Studenten von +jener Sorte, die der Waffenstudent eigentlich nicht mitrechnete, +und die trotzdem die weitaus überwiegende Mehrzahl +der akademischen Bürgerschaft bildete: die »Finken«, +auch »Bummler« genannt, obwohl sie natürlich weit +weniger bummelten als die jungen Herren in Mützen und +Bändern ... gar zu gerne hätte Hans Thumser sich mit +ins Gewühl der Statisten gemengt, um als »Volk« oder +»Friedländischer Soldat« oder als römischer Quirite sich an +den großen, festlichen Unternehmungen zu beteiligen, die +da drüben vorbereitet wurden ... Und eines Tages hatte +er sich's getraut, vor den Ersten hinzutreten mit der Bitte:</p> + +<p>»Sag' mal, Pilgram, wie ich höre, wirken eine ganze +Menge Studenten in den Vorstellungen der Meininger +als Statisten mit — hättest Du was dagegen, wenn ich da +ebenfalls mittäte?«</p> + +<p>Der Erste sah den Fuchsmajor mit einem Blick an, als +bäte dieser um Erlaubnis, silberne Löffel zu stehlen.</p> + +<p>»Hör mal, Du, Dein Kopfschmiß von Sonnabend eitert +wohl nach innen, he?!«</p> + +<p>Also damit war es nichts ... und so mußte man sich +denn begnügen, von weitem zuzuschauen, wie die glücklicheren +Kommilitonen, frei des korpsstudentischen +Zwanges, nach Schluß der Probe froh erregt, mit glühenden +Köpfen, lebhaft diskutierend dem Eingangstor des +Theaters entströmten, um die namenlosen Kneipen aufzusuchen, +in denen sie nach eigener Wahl und entsprechend +der Rücksicht auf die Dimensionen ihres Monatswechsels +verkehrten. Und inmitten dieser Beneidenswerten kamen +auch die Helden und Heldinnen aus der Probe — natürlich +mußten ja auch sie wenigstens die Massenszenen immer +wieder aufs neue mit probieren ...</p> + +<p>Und noch ein andres heimliches Fest blühte für Hans +Thumser innerhalb seiner bescheidenen vier Wände, die +glücklicherweise so dünn waren, daß sie manch ein Geräusch +durchließen von jener geheimnisvoll lockenden Welt, die +hinter ihnen sich barg: das Klappern zierlicher Pantöffelchen, +das Rascheln seidener Röcke, keckes Mädchenlachen +und halblautes Geschwätz, wenn Kolleginnen drüben +zum Besuch kamen ... Aber noch immer war's ihm nicht +geglückt, seine Nachbarin von Angesicht zu Angesicht zu +sehen.</p> + +<p>Inzwischen baute Hans in seinem Herzen ein seltsam +Kirchlein auf: droben war ein feierliches gotisches Heiligtum, +in dem Jucunda Buchners weiße Gestalt auf ernstem +Altare stand, von Weihrauch und Kerzengeflacker umspielt +... darunter aber, tief unter der Erde, barg sich +eine dämmrige romanische Krypta, in der tolle Orgien +verbotener, heidnischer Kulte nächtens gefeiert wurden +vor einem üppig lächelnden Götzenbild — seine Züge +waren nicht genau erkennbar — verschwammen im hüpfenden +Fackellicht, das durch den Raum dunstete ...</p> + +<p>Aber Hänschen Thumser war nicht der Mann des +tatenlosen Zuwartens. Es mußte etwas geschehen, die +dumpfe Qual dieser sehnsüchtigen Tage zu verkürzen. +Aber was? Immer wieder mündeten seine Pläne in die +Erkenntnis, daß man einem jungen verwöhnten Mädchen +— und eine Schauspielerin konnte man sich ja doch nicht +anders vorstellen als jung und verwöhnt, nicht wahr? — +daß man solch einem Liebling der Götter und Menschen +nur nahen könne mit gebenden Händen ... und seine +Hände waren leer ... der Monatswechsel heidt — knapp +noch das Nötigste für die letzten Tage vorhanden ...</p> + +<p>Auf einmal — welch glorreicher Gedanke! Hänschen +Thumser konnte ja etwas, das am Ende doch nur die +wenigsten unter Asta Thönys Verehrern — gewiß hatte +sie unzählige — reiche Bankiersöhne und Gardeleutnants +und — na und solche Leute mit unerschöpflichen Portemonnaies +— aber gewiß konnten solche Leute meistens +eines nicht, oder wenigstens nicht so gut wie Hänschen +Thumser — nämlich <em class="gesperrt">dichten</em>!</p> + +<p>Juchhe! Hänschen hat kein Geld, um kunstvolle +Blumenarrangements zu kaufen — aber wunderschöne +Verse kann er machen! — Also los! ein Blatt aus dem +Kollegheft gerissen und gereimt auf Deuwel komm heraus!</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Ich bin ein junger Korpsstudent,<br /></span> +<span class="i0">Die Schuhe Lack, der Rock patent —<br /></span> +<span class="i0">Korrekt und schick an mir ist alles —«<br /></span> +</div></div> + +<p>lauter unbestreitbare Wahrheiten! aber nun kommt der +Haken.</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»— im Portemonnaie nur haust der Dalles —«<br /></span> +</div></div> + +<p>So — immer frisch heraus mit dem sauren Bekenntnis, +dann weiß Asta auch gleich, wie sie mit mir dran ist — +was sie von mir zu erwarten hat — und was nicht ...</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Doch da das Schicksal über Nacht<br /></span> +<span class="i0">Zu Budennachbarn uns gemacht —«<br /></span> +</div></div> + +<p>(Ach du liebes, gnädiges Schicksal du!)</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»— müßt' ich Dich eigentlich begrüßen,<br /></span> +<span class="i0">Und Rosen legen Dir zu Füßen —<br /></span> +<span class="i0">Wie gerne würd' ich mich erdreisten —<br /></span> +<span class="i0">Doch leider —«<br /></span> +</div></div> + +<p>Alle Wetter: das wird ja ein prachtvoller Reim:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i10">»— kann ich mir's nicht leisten ...«<br /></span> +</div></div> + +<p>Nun ein zweites offenes Bekenntnis:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Noch kenn' ich Dich, Du Schelmin, nicht,<br /></span> +<span class="i0">Sah nicht einmal Dein Angesicht —<br /></span> +<span class="i0">Nur —«<br /></span> +</div></div> + +<p>Gott, bleiben wir doch schon bei der Wahrheit:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i6">»— hab' ich morgens früh gesehn<br /></span> +<span class="i0">Vor Deiner Tür zwei Schuhchen stehn —<br /></span> +<span class="i0">So winzig, duftig, elegant —«<br /></span> +</div></div> + +<p>Hans! du imponierst mir! So viel edle Dreistigkeit hätt' +ich dir gar nicht zugetraut — aber freilich: auf dem Papier, +und mit einer schützenden Scheidewand dazwischen — — +Aug' in Auge würde das Debüt wohl etwas kümmerlicher +ausfallen, wie? — Aber weiter, weiter — einen Reim +auf »elegant« — pah, Spielerei!</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»— daß gleich mein Herz in Flammen stand —«<br /></span> +</div></div> + +<p>— nein, das ist doch zu billig, zu abgeschabt:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Da gab es Funken — Flammen — Brand!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Ja, es ist eine alte Sache: Verse werden immer am +besten, wenn man ganz geradezu ausspricht, was wirklich +passiert ist:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Und seitdem träum' ich wahnbetört,<br /></span> +<span class="i0">Von dem, was da hineingehört —«<br /></span> +</div></div> + +<p>Ist das nicht ... doch ... gar zu unverschämt?! Ach +was, mehr wie hauen kann sie schließlich nicht!</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Willst Du mir's auf den Nacken setzen,<br /></span> +<span class="i0">Mir wär's ein sklavisches Ergetzen —«<br /></span> +</div></div> + +<p>— ne, das ist ein falscher Ton — von der Sorte sind +wir doch nicht! —</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Ach, dürft' ich's einmal — einmal küssen —<br /></span> +<span class="i0">Wirst mir's schon noch — erlauben müssen —<br /></span> +<span class="i0">O welche süße Phantasie —<br /></span> +<span class="i0">Und ach — probiert hab ich's noch nie — —«<br /></span> +</div></div> + +<p>Hans überlas das Geschriebene. Himmel, ist das +schnurrig, wenn's auf einmal so in einem zu dichten anfängt! +Ein ganz andrer Mensch kommt da plötzlich zum +Vorschein als der, den man so im Leben darstellt ...</p> + +<p>Hatte er das wirklich geschrieben, er, der wohlerzogene +Beamtensohn, der geschniegelte, korrekte Korpsstudent, +der künftige Richter des Volkes?!</p> + +<p>Ach, und es gefiel ihm so gut — daß er's ganz hastig +und mit fliegenden Fingern ins Reine schrieb und kuvertierte +... dann stülpte er die grüne Mütze auf, lauschte, ob +seine Nachbarin daheim sei ... und da er keinerlei Geräusch +hörte, klinkte er im Vorbeigehen sachte die Tür zum +Nebenstübchen auf und sah —</p> + +<p>Sah durch den Spalt eine zierliche Mädchengestalt in +weißem Unterrock und weißem Frisiermantel schlafend +aufs Sofa hingestreckt ... ein schwarzes Wuschelköpfchen ... +und über den Rand des Sofas guckten ein paar schwarzbestrumpfte +Füße, an denen zierliche rote Halbpantöffelchen +baumelten ...</p> + +<p>Und schon hatte er mit einem Ruck den Briefumschlag +mit seinen unverschämten Versen mitten in die Stube geschleudert, +die Tür mit hartem Knall zugeklinkt — und flog +nun die Stufen hinunter — die grüne Mütze war ihm in +den Nacken gerutscht, seine Wangen brannten, und draußen +zog er mit seinem spanischen Rohr einen Durchzieher durch +die Luft, daß es nur so pfiff.</p> + +<p class="start-chapW space-above">Wie in Hans Thumsers unoffiziellem Herzen, so war +auch in Valentin Pilgrams korrekter Chargiertenseele +Revolution ausgebrochen, und auch die um einer Zimmernachbarschaft +willen. Aber diese Revolution war doch von +einer ganz anderen Sorte und gipfelte in der Erklärung, +die der Senior in energischem Tone an die Frau Kanzleirat +Buchner abgab: er kündige hiermit seine Bude und +werde sofort ein andres Quartier suchen, wenn man den +ruhestörenden Lärm und groben Unfug da nebenan nicht +abzustellen die Mittel finden würde ...</p> + +<p>Und das war so gekommen:</p> + +<p>Valentin Pilgram stand im sechsten Semester. Er war +bereits zwei Semester in Berlin inaktiv gewesen und nur +nach Leipzig zurückgekehrt, weil er als Königlich sächsischer +Untertan sein Referendarexamen in Sachsen ablegen +mußte. Er war auf dringendes Bitten des C. C. zu Anfang +des Semesters noch einmal wieder aktiv geworden +und hatte die erste Charge interimistisch übernommen, weil +kein anderer geeigneter Korpsbursch für diesen Posten da +war, und der Vertreter des Marburger Kartellkorps, der +die erste Charge später definitiv bekommen sollte, doch erst +einmal in Leipzig und im Korps warm werden mußte. +Interimistisch bekleidete dieser junge Herr die zweite +Charge. Und so teilte Pilgram mit seiner ganzen feierlichen +Gewissenhaftigkeit seine Zeit zwischen dem Korps +und der Vorbereitung fürs Examen. Und in der letzteren +war er nun plötzlich und gründlich unterbrochen worden +durch ein grollendes Getöse, das aus der Nachbarkammer +in seinen Studienfrieden hinüberklang, aus der Nachbarkammer, +in der, wie er gelegentlich mit halbem Ohr vernommen +hatte, die Tochter seiner Hauswirte, die herzoglich +meiningische Hofschauspielerin Jucunda Buchner, für die +Dauer des Gastspiels ihres Ensemble einquartiert worden +war. Mitten in die Lektüre der Windscheidschen Drogenweltweisheit +war da plötzlich eine sonore Altstimme +hineingeklungen, zunächst in sachtem, murmelndem Repetieren, +dann aber in selbstvergessen wildem Ausbruch:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Und <em class="gesperrt">einer</em> Freude Hochgefühl entbrennet,<br /></span> +<span class="i0">Und <em class="gesperrt">ein</em> Gedanke schlägt in jeder Brust —«<br /></span> +</div></div> + +<p>Da war der reckenhafte <i lang="la">candidatus iuris</i> mit einem +Wutknurren aufgefahren ... aber umsonst: die sonore +Stimme drinnen grollte weiter — sänftigte sich nun zu +herzbeklommener Klage:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Doch mich, die all dies Herrliche vollendet,<br /></span> +<span class="i0">Mich rührt es nicht, das allgemeine Glück,<br /></span> +<span class="i0">Mir ist das Herz verwandelt und gewendet,<br /></span> +<span class="i0">Es flieht von dieser Festlichkeit zurück ...«<br /></span> +</div></div> + +<p>Aber bald schrillte sie wieder auf mit jähem Wehlaut, +daß sich vor Wut und Entsetzen dem Rechtskandidaten die +Gedärme umkehrten.</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Sollt' ich ihn tö—öten? Konnt' ich's, da ich ihm<br /></span> +<span class="i0">Ins Auge sah? I—h—n tö—ö—öten? Eher hätt' ich<br /></span> +<span class="i0">Den Mordstahl auf die eig'ne Brust gezückt!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Das war zuviel! Der Student riß einen seiner Lederpantoffeln +von den Füßen und pfefferte ihn krachend gegen +die Nachbartür.</p> + +<p>Einen Augenblick verblüffte Stille — doch o weh — +sein Warnsignal war offenbar nicht verstanden worden — +schon nach wenigen Sekunden setzte das Gegroll und Gewimmer +drüben wieder ein:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Und bin ich strafbar, weil ich menschlich war?<br /></span> +<span class="i0">Ist Mitleid Sünde?«<br /></span> +</div></div> + +<p>»Nee!« brüllte Valentin Pilgram. »Mitleid is keene +Sinde nich! Haben Sie ruhig Mitleid mit mir und halten +Sie den Mund — ich muß lernen!!«</p> + +<p>Einen Augenblick war drüben alles stumm — todesstarres +Schweigen. Und plötzlich fauchte ... ja fauchte, +anders war's nicht zu nennen — keifte — ja man muß +schon sagen, keifte die sonore Stimme von nebenan:</p> + +<p>»So? Lernen müssen Sie? Na — ich auch ... +stopfen Sie sich Watte in die Ohren!« Und noch dreimal +mächtiger und markerschütternder grollte nun der majestätische +Alt:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Ist Mitleid Sünde? Mitleid! Hörtest Du<br /></span> +<span class="i0">Des Mitleids Stimme und der Menschlichkeit<br /></span> +<span class="i0">Auch bei den andern, die Dein Schwert geopfert?!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Da sprang Valentin Pilgram wütend auf, riß den +Klingelzug, daß es schrill durch den Flur gellte, und als die +stattliche runde Frau Kanzleirätin ganz entsetzt ins Zimmer +schoß, schnauzte er sie an:</p> + +<p>»Was ist das für ein gottverfluchter Spektakel daneben? +Wenn das nicht in fünf Sekunden aufhört, +zieh' ich!«</p> + +<p>»Erlooben Se mal, mei gutester Herr Pilgram!« entrüstete +sich die behäbige Dame im geblümten Morgenrock +sehr energisch. »Se wissen, scheint's, nich so recht, mit wäm +Se's zu tun ha'm! Das is Se nämlich meine Tochter, die +große Jucunda Buchner von die Meininger — die Jungfrau +von Orleans!«</p> + +<p>»Und wenn je die Jungfrau Maria selber wär' — +hier verlang' ich meine Ruhe, versteh'n Se mich, Frau +Kanzleirat?! Ich hab' diese Bude gefälligst zum Studieren +gemietet — versteh'n Se? Wir sind Se hier nich im +Theater!!«</p> + +<p>»Se sollten Ihn' was schämen, Herr Pilgram, daß Se nich +mal kenn'n bißchen Ricksicht nähm' auf Studium von eener +gottbegnadeten Ginstlerin, wo ganz Leipz'g stolz drauf is!«</p> + +<p>»Wenn eener ä Vierteljahr vor'm Examen steht, +dann hört die Rücksichtnahme ergebenst auf!« brüllte Pilgram. +»Ich muß ooch studieren, aber mei Studium is +wenigstens geräuschlos! Wenn Se e gottbegnadetes +Mädchen zur Tochter haben, die beim Studieren einen +Schkandal macht, wo die Mauern von Jericho von könnten +einstürzen, dann vermieten Se gefälligst keene Buden an +Studenten nich!«</p> + +<p>»Herr Pilgram — wenn ich gewußt hätte, was für e +ungeschliffener Mensch Sie sein kenn' — nie wär'n Se +mir ieber de Schwell gekomm', weeß Knebbchen!«</p> + +<p>»Mamaa!« tönte da plötzlich der sonore Alt aus dem +Nebenzimmer, »rege Dich doch bitte ja nicht auf, Mamaaa! +Der Herr mag ruhig ziehen — ich komme Deiner Haushaltungskasse +für den Schaden auf!«</p> + +<p>Frau Kanzleirat musterte den Studenten von oben +bis unten mit einem Blick tiefster Verachtung. »Da heer'n +Se's, Herr Pilgram! So benimmt sich e wahrhaft vornähmer +Mensch! — Also wenn Se zieh'n woll'n, ich hab +Sie nich das mindeste dagegen — lieber heut als morgen! +Adieu, Herr Pilgram — ziehen Se glicklich!«</p> + +<p>Und die stattliche Dame rauschte hinaus mit der Würde +einer Königin. Die Schleppe des geblümten, nicht mehr +ganz saubern Morgenrockes waberte hinter ihr drein.</p> + +<p>Valentin Pilgram aber blieb etwas benommen an +seinem einsamen Studiertisch. Es war doch höchst fatal, +nun so mitten in den Examensvorbereitungen das lieb gewordene +Quartier gegen ein noch unbekanntes eintauschen +zu müssen ... am Ende hätte er auch ein bißchen weniger +hitzig sein können ... vielleicht mit einem guten Wort hätte +sich die Sache viel besser einrenken lassen ... Aber das +machte diese verfluchte Kandidatenstimmung, das Bangen +vor diesem fahlen Gespenst, das am Ende der Studentenzeit +hockte mit stieren Augen und sich ganz, ganz unmerklich +immer näher heranschob ... da sollte der Teufel nicht +nervös werden ... Was keine sausende Säbelklinge +fertiggebracht hatte: das Schreckbild der drei Männer +hinterm grünen Tisch hatte es erreicht: Valentin Pilgram +hatte Angst ... und dieser Zustand, so ungewohnt, so unmöglich, +der hatte ihn toll gemacht ... Eigentlich hatte er +sich ja doch wirklich unqualifizierbar benommen ... es +waren doch weibliche Wesen, beinahe Damen, mit denen +er so gröblich umgesprungen ... zwar ein Kanzleirat war +ein Subalternbeamter, und seine Frau gehörte nicht zur +Gesellschaft ... und vollends eine Komödiantin ... aber +wenn auch ... wenn auch ... Valentin Pilgram, ich +glaube, dein Benehmen war durchaus nicht auf der Höhe +der berühmten korpsstudentischen Direktion ... deren +eifriger Hüter du selber so lange im C. C. gewesen ...</p> + +<p>Valentin wartete mit Spannung, ob nicht alsbald da +drinnen wieder der dunkeltönige Alt mit dröhnendem +Jambenschwall einsetzen würde ... er wartete mit Spannung +und Verlangen ... das Fortdauern der Störung +wäre wie eine nachträgliche halbe Entschuldigung seiner +Hitze gewesen ... aber er wartete umsonst. Alles blieb +still darinnen. Er hätt' also triumphieren, den ertrotzten +Arbeitsfrieden eifrig büffelnd genießen können ... aber +seltsam ... die richtige Streberstimmung wollte nicht +wiederkommen ...</p> + +<p>Teufel auch, Valentin Pilgram, du hast doch nicht etwa +einen »Moralischen«?</p> + +<p>Franconias Senior stand langsam auf und räumte +Drogenweltlehrbuch und Repetitorien zusammen. Er stülpte +die grüne Mütze auf den strohblonden Schädel und stieg +sinnend die altehrwürdigen Holzstiegen hinab auf die +»Kleine Fleischergaß«. Drüben im ersten Stockwerk des +»Cafébaums« winkte über dem in Sandstein gemeißelten +Amor, der schon seit Jahrhunderten einem gleichfalls sandsteinernen +Türken »e Schälchen Heeßen« kredenzte, winkte +Franconias Wappenschild, lockte, unter den morgendlich +geöffneten Fenstern des Kneipzimmers, im Morgengolde +sich bauschend, das grün-gold-rote Banner ... aber der +Erste stieg nicht hinauf. Er ging auch nicht auf Wohnungsuche: +er tat etwas, was er im Leben noch nicht getan +hatte: er ging zur Universität und kämpfte inmitten eines +Massenandranges von Kommilitonen, ganz gewöhnlichen +Nichtinkorporierten, um ein Studentenbillett zur morgigen +Eröffnungsvorstellung der Meininger — zur »Jungfrau +von Orleans« ...</p> + +<p class="start-chapI space-above">Ecke Roßplatz, und Roßstraße, vor dem Hotel Hauffe, +in dessen erstem Stockwerk der <i lang="la">studiosus iuris et +cameralium</i> Heribert Hans Herwig Erbprinz von Nassau-Dillingen +mit seinem militärischen Begleiter und seiner +Dienerschaft die ganze Zimmerflucht an der Straßenfront +inne hatte, harrten frühmorgens um sechse zwei Reitknechte +in Livree mit drei prächtigen Gäulen. Sie plauderten +mit dem galonierten Portier.</p> + +<p>»Nanu?« meinte der Hotelgestrenge, »schon wieder? +Ihr seid ja Frühuffsteher geworden uff eemal?«</p> + +<p>»Was will mer mache?« meinte der ältere der herzoglich +nassauischen Pferdepfleger. »Unser junger Herr hat +widder mal e funkelnagelneies Veegelche g'fange ...«</p> + +<p>»Ei herrjemerschnee!« machte der Portier. »Was das +nur zu bedeiten hat? Das is doch ganz unnatierlich fier +so 'n jungen Herrn — Morgen fier Morgen drei Stunden +durch den Wald zu flitzen un sich den Schlaf um die Ohr'n +zu schlagen ...«</p> + +<p>»Ich glaub, ich weeß, was da derhinner steckt!« +meinte der jüngere Bursche. »Ich hab' neilich so ebb's +uffg'schnappt, wie se beim Reite g'sproche habe. Er und +der Major!«</p> + +<p>»Da wär' ich Ihn' aber doch wahrhaft'g neigierig!« +kicherte der Portier und schob sich von seiner Treppe hinunter +auf den Bürgersteig.</p> + +<p>»Nu — e Weibsbild steckt da derhinner!« triumphierte +der Reitknecht. »Ich hann's neilich ganz g'nau geheert: +Lasse mer heemreite, hat der Major g'sagt — heit morge +finne mer se doch nit — hat er g'sagt!«</p> + +<p>»I nee so was!« staunte der Portier. »Un dann sind +se wärklich alle zwee heemgeritten?«</p> + +<p>»Ja — ganz wahrhaftig sinn se heemg'ridde!«</p> + +<p>»Wer das bloß sinn mag?« meinte der Portier. +»Gewiß ganz was Vornähmes — sonst tät der gnädige +Herr doch gewiß nich so viel Umstände dann machen +um so e Weibsbild!«</p> + +<p>»Pscht — die Herre komme!«</p> + +<p>Der Erbprinz federte mit dem natürlichen Schwung +seiner einundzwanzig Jahre in den Sattel — der Major +mit der wohlkonservierten, doch immerhin etwas gewollteren +Elastizität seiner zweiundvierzig. Und im +Schritt ging's die gutgepflasterten Straßen der erwachenden +Großstadt hinab, am massiven Bau und klobigen +Rundturm der Pleißenburg vorüber bis zu den Anlagen +jenseits des Flüßchens, wo man antraben konnte.</p> + +<p>»Wenn Sie ahnten, Durchlaucht, wie komisch Ihnen +die Maske eines schmachtenden Toggenburg steht — Sie +würden sich selber erheblich auslachen!« meinte Herr +von Gorczynski.</p> + +<p>»Gott, wenn mir's doch Vergnügen macht, lieber Major +— lassen Sie mir schon den kindlichen Spaß!«</p> + +<p>»Ich versteh' Sie nicht, Durchlaucht — Sie benehmen +sich wie ein Sekundaner von einem Kleinstadtpennal und +nicht wie ein Fürst ... So'n Theatermädel ... der schickt +man doch einfach ein Rosenarrangement und seine Visitenkarte +— und das Weitere findet sich!«</p> + +<p>Ueber das blasierte Knabenantlitz des Erbprinzen flog +ein flüchtiges Rot. »Wenn ich glaubte, bei der Buchner +ginge das auch so, dann pfiff' ich auf das ganze Abenteuer. +Die Nummer kenn' ich nun allmählich! Die Weiber, +die sich kommandieren lassen, die hab' ich satt! Ich möchte +einmal ein Erlebnis haben — ein richtiggehendes Erlebnis!«</p> + +<p>»Na, auf Ihre Manier werden Sie's höchstens bis zu +einem richtiggehenden Korbe bringen!« meinte der Major. +»Ein Mann, der schmachtet, hat von vornherein alle +Chancen verloren! Selbst wenn er der Erbprinz von +Nassau-Dillingen wäre!«</p> + +<p>»Ich will aber diesmal überhaupt nicht der Erbprinz +von Nassau-Dillingen sein! Versteh'n Sie mich, Herr +Major?! Es paßt mir nicht, immer nur auf das Prinzenkonto +geliebt zu werden! Schließlich bin ich doch ganz +simplement als junger Mann nicht zu verachten, wie? +Sehen Sie — und das möcht' ich mal ausprobieren! Ich +hab' mir's nun mal in den Kopf gesetzt! Und gestern hab' +ich der Buchner ein Rosenarrangement geschickt mit einem +Kärtchen, auf das ich nichts weiter geschrieben habe als: +Herbert von Dillingen, <i lang="la">studiosus iuris et cameralium</i>!«</p> + +<p>»Na, ich sag's ja, Durchlaucht! Sie sind auf dem +besten Wege, einen <a id="InCorr1">hahnebüchenen</a> Unsinn aufzustecken! +Aber was ich Ihnen sage: Ich habe Ihnen viel durch die +Finger gesehen — aus unerschütterlicher Liebe zu Ihnen —«</p> + +<p>»Na ja, aus unerschütterlicher Liebe zu mir. Und +weil Ihnen Ihr gesunder Menschenverstand sagt, daß Sie +aller Voraussicht nach unter Bernhard dem Sechzehnten +noch zehn Jahre, unter Heribert dem Vierzehnten aber, +will's Gott, den ganzen Rest Ihrer Erdenlaufbahn abzuleisten +haben werden!«</p> + +<p>»Oh — aber Durchlaucht!« sagte der Major und legte +mit pathetischer Bewegung seine Hand auf jene Stelle +seines Busens, unter der man den Sitz seiner unerschütterlichen +Liebe zu seinem jungen Herrn und Zögling annehmen +mußte.</p> + +<p>»Bitte, lieber Gorczynski — stürzen Sie sich nicht in +Unkosten — ich denke, wir beide kennen uns!« lachte Erbprinz +Heribert.</p> + +<p>»Ernsthaft gesprochen, Durchlaucht!« sagte der Major +etwas verärgert, indem er seinen Gaul in Schritt fallen +ließ, »ich lasse Ihnen jede harmlose Affäre durchgehen — +wenn sich aber etwas Ernsthaftes anspinnt, berichte ich +<i lang="la">a tempo</i> nach Dillingen! Ihr erlauchter Herr Vater +hat mich kategorisch dahin instruiert: keine Weibergeschichten! +Und ich glaube diese Instruktion ganz im +Sinne meines gnädigen Herrn aufzufassen, wenn ich —«</p> + +<p>»Wie kann man sich nur so sinnlos aufregen, mein +Teuerster! Also weil es mir Vergnügen macht, mal ein +paar Vormittage im Leipziger Ratsholz spazieren zu +reiten, und weil ich dabei gelegentlich die Hoffnung ausgesprochen +habe, einen gewissen grauen Schleier noch +einmal wehen zu sehen, wittern Sie bereits allerlei +Tragödien!«</p> + +<p>»Ich gestatte mir, Durchlaucht, mich auf meine +Menschenkenntnis zu berufen. Es ist wider die Natur, +wenn ein von seinem gnädigen Herrn Vater mit überaus +auskömmlicher Apanage ausgestatteter und dank meiner +überaus riskierten Nachsicht bereits einigermaßen erfahrener +junger Prinz einer Theatermamsell wegen, die +er ein einziges Mal von weitem gesehen hat, an drei +nacheinanderfolgenden Tagen um fünf statt um neun Uhr +aufsteht. Wenn ich das nach Dillingen berichte, gibt's +eine Katastrophe! Hab' ich nicht recht?«</p> + +<p>»Von weitem gesehen?« schmunzelte der Prinz. »Ich +habe mir bereits eingehenderes Material verschafft!« Und +er holte einen großen Umschlag aus seiner Rocktasche, +reichte ihn von Schimmel zu Rappen zum Major +hinüber. Dem fielen beim Oeffnen drei Bilder in die +Hand: es waren Darstellungen eines jungen Mädchens; +zunächst im Straßenkleide — Pelzjäckchen, Barett, Muff +— und dann im Eisenharnisch mit bloßem Haupt, aufgelösten +Haaren, ein Schwert und eine Fahne in Händen — +und endlich im Samt, mit riesigen Puffenärmeln, das +Gesicht von langen Ringellocken umwallt und von einem +starren weißen Rundkragen eingesäumt ...</p> + +<p>»Kreuzmillionen —!« entfuhr es dem Major. »Das +ist —?!«</p> + +<p>»Das ist — <em class="gesperrt">sie</em>,« sagte der Erbprinz, und über seinem +fahlen Lebemannsangesicht lag eine Sekundanerröte, die +dem Major völlig fremd war an seinem Zögling. Er +starrte den jungen Mann an, als sehe er ihn zum +erstenmal.</p> + +<p>Verdammt — also so stand die Sache?! Nun hieß +es aber wahrhaftig aufpassen ...</p> + +<p>Der Major reichte die Bilder zurück. »Na ja,« sagte +er im Tone völliger Wurstigkeit, »die Buchner ... Gott, +warum nicht? Wenn Sie sich auf die nun mal kaprizieren, +Durchlaucht — von meiner Seite aus steht nichts im +Wege! Nur fangen Sie's vernünftig an und halten Sie +sich nicht zu lange bei der Vorrede auf! Also wir werden +sie auf — na sagen wir auf morgen abend, heut nach +der Premiere wird sie schwerlich abkömmlich sein — wir +werden sie auf morgen abend zum Souper einladen — +sie mag noch eine Kollegin mitbringen — und dann entwickelt +sich alles weitere glatt und prompt historisch!«</p> + +<p>Der Erbprinz antwortete nicht. Er gab dem Gaul +die Schenkel, und zwar so heftig, daß das rassige Tier +ganz erschrocken zusammenfuhr und dann in tollen Sätzen +von dannen raste. Der Major flitzte hinterdrein und +überlegte im Hinsausen, ob er das als eine Zustimmung +zu seinem Vorschlage aufzufassen habe.</p> + +<p>Auf jeden Fall — geschehen mußte es. Und wenn +sein Schützling, ein wenig verspätet allerdings — na, wie +nannte man das noch — hm, hm! sein — sagen wir also: +Herz entdeckt hätte — dann möglichst schnell diese kleine +Entgleisung auf den Normalweg zu dem üblichen, gefahr- und +schmerzlosen Ausgang leiten ... So befahl es Pflicht +und Instruktion ...</p> + +<p>Und in Gedanken redigierte er folgendes Billett, das +er heut abend bei der Premiere mit einer aufmunternd +luxuriösen Blumenspende auf die Bühne lancieren wollte +— heut abend? Nein — da würde die Aktion vermutlich +ihren Effekt verfehlen — würde untergehen in einem +Wust und Ueberschwall ... nein, morgen früh zum Frühstück +— das wird das richtige sein! Also ungefähr +folgendermaßen würde er schreiben:</p> + +<blockquote> + +<p>»Mein sehr verehrtes <i lang="la">etcaetera</i>! Zwei aufrichtige +und hingerissene (gerissen ist sehr gut!) Verehrer Ihrer +Kunst würden es sich zur höchsten Ehre und Freude +rechnen, Ihre nähere Bekanntschaft <i lang="la">etcaetera +etcaetera</i>. Wir wagen deshalb die dreiste Bitte, +daß es Ihnen, Verehrungswürdige, gefallen möge, +morgen, Donnerstag abend, nach der ersten Wiederholung +der »Jungfrau« mit uns im Hotel Hauffe zwanglos +zu soupieren ... Sollten Sie unter Ihren liebenswürdigen +Kolleginnen eine nähere Freundin haben, +die es nicht verschmähen würde, eine Stunde in harmlos +vergnügter Gesellschaft <i lang="la">etcaetera</i>, so würde uns das +eine ganz besondere <i lang="la">etcaetera</i> ... In Voraussetzung +Ihrer Zustimmung werden wir uns erlauben, nach +Schluß der Vorstellung ein Coupé zur Verfügung der +Damen am Bühneneingange <i lang="la">etcaetera</i>. Mit der +Versicherung unserer vollkommensten Bewunderung +Ihre aufrichtigen Verehrer</p> + +<p class="right"> +v. Dillingen. v. Gorczynski.« +</p></blockquote> + +<p>Na ja — das übliche Schema — das nie versagende ... +pöh ... eine Komödiantin ... wenn's weiter nichts ist ...</p> + +<p>Und schließlich die Hauptsache: zwei blaue Lappen +hinein — für jede einen — damit die guten Kinder auch +gleich merken, daß man ernsthafte Absichten hat — nicht +wahr?</p> +</div> +<div> +<h2>3.</h2> + +<p class="start-chapA">Am Mittwoch nachmittag um fünf war der allwöchentliche +Seniorenkonvent: die Zusammenkunft der Korpsburschen +sämtlicher Leipziger Korps. Sie fand auf der +Kneipe des präsidierenden Korps statt: zurzeit war's +Neo-Borussia, die ihr Heim in nächster Nähe der Franken +aufgeschlagen hatte, im ersten Stock eines gleich uralten, +verräucherten, verwahrlosten Kneiphauses, wie der altberühmte +Cafébaum eins war, in dem Franconia +residierte. Es stand irgendeine der welterschütternden +Fragen auf der Tagesordnung, um welche sich ein hoher +S. C. an jedem Mittwoch Nachmittag die Köpfe zu zerbrechen +pflegte. Diesmal lag vor — na was noch? — +lag vor ein Antrag von Misnia und Thuringia, ein wohllöblicher +S. C. wolle beschließen, daß die Klingen der +Mensurspeere an der Spitze in Zukunft nicht mehr rechtwinklig +und scharfkantig abgeschliffen würden, wie es +bisher üblich war, sondern abgerundet ... Infolge des +eckigen Schliffs waren nämlich an den letzten Bestimmtagen +ein paar so <a id="InCorr2">hahnebüchene</a> Knochensplitter herausgekommen, +daß die Paukärzte kategorisch Wandel verlangten: +die Klingen sollten in Zukunft an der Spitze +halbkreisförmig geschliffen werden ... Das war natürlich +ein Problem von fundamentaler Bedeutung, und so erhitzten +sich die Gemüter immer mehr und mehr, immer +stärker wurde der Bierkonsum, immer massiver der Zigarren- +und Zigarettenqualm ... und immer hastiger +rückte der Zeiger jener Stunde zu, da im Carolatheater +das Gastspiel der Meininger beginnen sollte ... Theater +— pah! Wer hat Zeit, ans Theater zu denken, wenn +der bittre Ernst des Lebens einen im Bann hält?</p> + +<p>Einer hatte Zeit: der schlanke Fuchsmajor der Franken +natürlich — er saß auf Kohlen und hätte sich mit Vergnügen +bereit erklärt, sich am Sonnabend auf Mensur +mit einem kantig geschliffenen Speer ein halbes Dutzend +Knochensplitter aus dem Schädel hauen zu lassen, wenn +er dadurch diese entsetzliche Debatte hätte abkürzen und +den Anschluß an den Beginn der Vorstellung hätte erreichen +können ...</p> + +<p>Endlich wagte er ein Aeußerstes. Er ging leise zum +Ersten hinüber, neigte sich und flüsterte ihm — der mit +aller Nervenanspannung der hitzigen Rede seines Gegenpaukanten +vom vergangenen Sonnabend, des Meißner +Zweiten, folgte — flüsterte ihm ins Ohr:</p> + +<p>»Pilgram, ich darf Dich vielleicht daran erinnern, daß +Durchlaucht mich auf heut abend in seine Loge eingeladen +hat — da darf ich doch keinesfalls zu spät kommen ... +würdest Du wohl gestatten, daß ich den S. C. verlasse?«</p> + +<p>»Du bist verrückt!« knurrte Pilgram halblaut. »S. C. +geht doch vor allem andern vor! Du siehst, ich muß ja +auch aushalten!«</p> + +<p>»Du —?! Ja, wie soll ich das verstehen, Pilgram? +Gehst Du ... denn auch ... ins ...«</p> + +<p>Der Erste errötete tief. Es war ihm herausgefahren, +das Geheimnis, dessen er sich vor allen Korpsbrüdern +schämte: daß der traditionelle Feind aller neun Musen +sich ein Theaterbillett erstanden hatte — und noch dazu +eine Studentenkarte zu einer Mark und zwanzig Pfennigen, +um gänzlich unstandesgemäß — selbstverständlich +im Bummel, also im tiefsten Inkognito — zwischen allerhand +proletigen Kommilitonen, das Parterre, ganz hinten, +zu bevölkern — sintemalen und alldieweilen es auch bei +ihm am Monatsschluß nicht mehr zu dem für das Korps +vorgeschriebenen Platz im ersten Rang hatte reichen +wollen ...</p> + +<p>»Allerdings — ich geh' auch!« zischte Pilgram. »Wir +gehen nachher zusammen — aber im S. C. wird ausgehalten, +und wenn uns die ganze Affenkomödie durch +die Lappen gehen sollte!«</p> + +<p>Vor solchem Pflichteifer verstummte Hans Thumser — +völlig erschüttert ... Freilich, was galt diesem Banausen +die Versäumnis eines, zweier, dreier Akte Schiller! Wie +mochte der bloß auf die Idee gekommen sein, ins ... +Hallo — sollte da am Ende ein ... trotz allem ... erwachtes +Interesse für seine berühmte <i lang="la">filia hospitalis</i>?! +Alle Wetter — das war am Ende doch wohl die einzige +Erklärung!</p> + +<p>Und während ein wohllöblicher S. C. sich weiterhin +über krummen oder geraden Schliff der Klingenspitzen +aufregte, griff Hans Thumser alle fünf Minuten heimlich +nach seiner Taschenuhr ... halb sieben — — sieben Uhr +jetzt — verflucht! War denn diese verdammte Zwiebel +rasend geworden? Und nun — nun war es auf einmal +halb acht — in diesem Augenblick hob sich da unten fern +in der Südstadt, in der Sophienstraße, der Vorhang zum +Prolog, und der biedere Thibaut d'Arc verlobte seine +zwei ältesten Töchter ... Nun stand sie auf der Bühne — +sie, die Madonna aus der oberen Kirche seines Herzens ... +noch im schlichten Kleide der Bäuerin, doch schon überlagert +vom tragischen Schatten ihrer göttlichen Sendung ...</p> + +<p>»Meine Herren,« sagte der Vorsitzende, Herr Borgmann, +Neo-Borussiae, die linke Stirnseite noch immer +von mächtigem Wattebausch unter schwarzer Kompresse +bedeckt, da, wo Hans Thumsers kecker Durchzieher ihm +wider alle Vorsicht Schwarte, Knochenhaut und alle Aeste +der Temporalis durchgesäbelt — »meine Herren, meiner +Ueberzeugung nach würden wir uns vor sämtlichen Glocke +schlagenden S. C. eines hohen Kösener unsterblich +blamieren, wenn wir als einziger S. C. den allgemein +üblichen scharfkantigen Schliff abschaffen wollten — und +zwar aus einer Anwandlung von Humanitätsdusel +heraus, der für mein Empfinden einen bedenklichen Beigeschmack +von Kneiferei hat —«</p> + +<p>»Ich bitt' ums Wort!«</p> + +<p>»Ich auch! Ich auch!« so scholl's heftig aus der Korona.</p> + +<p>»Silentium für Herrn von Schubart, Misniae!« sagte +Borgmann gelassen.</p> + +<p>»Ich muß mir aufs entschiedenste verbitten,« schrie +Herr von Schubart, der Zweite der Meißner, in den +Zigarrenbrodem hinein, »daß der Herr Erste Chargierte +des präsidierenden Korps von einer Maßregel, die mein +C. C. befürwortet, erklärt, sie habe einen Beigeschmack von +Kneiferei! Ich verlange, daß der Herr Vorsitzende diese +Aeußerung mit dem Ausdruck des Bedauerns zurücknimmt +— andernfalls behält sich mein C. C. weitere +Schritte vor, sowohl gegen einen wohllöblichen C. C. des +präsidierenden Korps als auch gegen Herrn Borgmann +persönlich!«</p> + +<p>Dreiviertel acht —! wimmerte Hans Thumsers sehnsüchtige +Seele — und in seinem Herzen klang's:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Nichts von Verträgen! nichts von Uebergabe!<br /></span> +<span class="i0">Der Retter naht, es rüstet sich zum Kampf —<br /></span> +<span class="i0">Vor Orleans soll das Glück des Feindes scheitern,<br /></span> +<span class="i0">Sein Maß ist voll, er ist zur Ernte reif!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Thuringia schloß sich den Erklärungen Misnias an; +Guestphalia schwankte, während Franconia und Neo-Borussia +gemeinschaftlich gegen den Antrag auf Abänderung +des Klingenschliffs auftraten. Unter allgemeiner +Erregung schritt der Vorsitzende endlich um zehn Minuten +vor acht zur Abstimmung, und nun fiel Guestphalia +definitiv zur Partei des runden Schliffs. Franconia und +Neo-Borussia waren überstimmt: die holde Menschlichkeit +oder, wie Herr Borgmann Neo-Borussiae es nannte, der +Geist der Kneiferei hatte gesiegt ... Und mit dem +Zigarrenrauch hingen unzählige P. P. Suiten und Säbelforderungen +in der Luft ... Morgen früh zum Frühschoppen +würden sie explodieren ...</p> + +<p>»Nu aber raus!« zischte Pilgram seinem Korpsbruder +zu. »Weh Dir, wenn Du den andern was davon sagst, +daß ich ins Theater geh — offiziell büffle ich heut abend!«</p> + +<p>Drunten wartete des Ersten Chargierten der Korpsdiener +mit Hut und Regenschirm. Pilgram riß ihm beides +aus der Hand, zog Mütze und Band ab und übergab sie +dem Getreuen. Thumser, der vornehm in der Proszeniumsloge +sitzen würde mit dem Erbprinzen, blieb natürlich in +Couleur. Und in rasendem Tempo hasteten nun die beiden +Studenten die kleine Fischergasse hinab.</p> + +<p>Auf dem Alten Markt standen Droschken aufgefahren. +Die Wanderer warfen einen wehmütigen Blick hinüber:</p> + +<p>»Wenn's doch schon der Erste wäre!« knirschte Hans +Thumser.</p> + +<p>»Beine in die Hand!« knurrte Pilgram.</p> + +<p class="start-chapA space-above">Als Hans Thumser sich auf Zehenspitzen in die +Proszeniumsloge schob, hatte der erste Akt bereits +begonnen. Der Erbprinz und der Major wandten kaum +zu flüchtiger Begrüßung die Köpfe — schon waren sie im +Bann. Und hinter den schwarzen Silhouetten der Vordermänner +sah Hans nur mit einem flüchtigen Blick die von +der Bühne her matt erleuchteten vordersten Reihen des +Publikums im Parkett — lauter Gesichter, im Lauschen +und Schauen erstarrt. Und schon schlugen auch über ihm +die Wogen zusammen.</p> + +<p>Ein hoher gotischer Saal am Hoflager König Karls +von Frankreich. Düstere pfeilergetragene Holzdecke, die +Wände eichengetäfelt, darüber Gobelins mit steifen Reihen +buntgewandeter Ritter und Edeldamen. Und ganz tief +hinten ein buntes Fenster, durch das sich ein paar verirrte +Sonnenstrahlen stehlen. Und mit zweien Getreuen der +unglückliche weichherzige König, dessen Knabenhand wohl +seine Agnes Sorel zu kosen vermag, nicht aber die Zeit, +die aus den Fugen gegangen, wieder einzurenken ... +drei Ratsherren knien vor ihm, seine vielgetreuen Bürger +von Orleans, und flehen um Hilfe, um Entsatz ihrer hartbedrängten +Stadt ... Verzweiflungsvoll ringt der König +die kraftlosen Arme:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Kann ich Armeen aus der Erde stampfen?<br /></span> +<span class="i0">Wächst mir ein Kornfeld in der flachen Hand?«<br /></span> +</div></div> + +<p>Doch sieh: ein Lichtstrahl zittert in das Dunkel der +Szene: Die Geliebte kommt: Sie bringt opfermutig all +den blinkenden kostbaren Tand, den ihr König in süßen +Stunden ihr um den Nacken gewunden ... Ein schwarzlockiges, +schmiegsames, kätzchenweiches Geschöpfchen ... +Ihre Augen schimmern in koketten Tränen, ihre Hände, +weich und rosig wie Frühlingswolken, umschmeicheln den +Freund, noch in der Angst der Verzweiflung liebeheischend, +sehnsuchtsweckend ...</p> + +<p class="center"> +»Agnes Sorel ... Asta Thöny«<br /> +</p> + +<p>sagt der Theaterzettel. Herrgott ... das ist sie ...</p> + +<p>Und einen Moment ist Hans Thumser wieder Hans +Thumser ... Er tastet nach seiner Brusttasche, wo ein +etwas zu stark parfümiertes rosa Billetchen steckt: Die +Worte, die es enthält, ach, die kann er auswendig, im +Träumen, von vorn und von hinten:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Nach zierlichen Schuhchen und dem, was drin steckt,<br /></span> +<span class="i0">Liegt mancher Fuchs auf der Lauer —<br /></span> +<span class="i0">Eintritt verboten! Hier wird nicht geschleckt!<br /></span> +<span class="i0">Füchschen, die Trauben sind sauer!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Also — das ist sie ... das ... Füßchen werden nicht +vorgezeigt, nur zwei zierliche Goldspitzen lugen im Schreiten +ab und an für einen winzigen Moment unterm schweren +Brokat des gotisch starren Gewandes vor ... dafür +aber läßt dies neidische Gewand einen Hals frei ... einen +Hals ... o Gott, o Gott ...</p> + +<p>Einen Augenblick ist Hans Thumser Hans Thumser — +der sehnsüchtige Knabe an der Schwelle des Lebens ... +nur einen Augenblick ... und schon wieder ist er ... +niemand und alles ... nur Auge, nur weitgeöffnet schauendes +Gottesauge — nur Seele, alliebende, alldurchdringende +Weltseele ...</p> + +<p>Höher schwillt die Flut des Entsetzens um den verlorenen +Königsknaben und sein zitterndes Lieb ... Eine +Hiobspost jagt die andere, das Maß des Ertragens ist voll, +sein Land und seine Ehre gibt der Schwache preis, und +empört fallen die letzten seiner Getreuen von ihm ab ... +Verlassen steh'n die beiden Kinder ...</p> + +<p>Da auf einmal ... kommt einer der Entwichenen +zurück ... auf seinem zuckenden Gesicht, seinen stammelnden +Lippen glüht ein Wort ... ein Wort, das längst ins +Fabelland entschwunden schien ... das Wort: <em class="gesperrt">Sieg</em> ...</p> + +<p>Und sieh — da führen die edlen Herren aus des +Königs Gefolge einen riesigen Krieger heran: einen +Ritter im zerhauenen, blutbekrusteten Harnisch: ein blutiger +Fetzen windet sich um seine kampfglühende Stirn, +aus seinem blutunterlaufenen Auge lodert das gleiche +Zauberwort: das unfaßbare: Sieg ... Sieg ...</p> + +<p>Und atemlos, stockend oft und nun in wahnwitzigen +Jubel ausbrechend, kündet er die phantastische Mär:</p> + +<p>Das Wunder ist herabgestiegen vom Himmel ... Ein +weißes Mädchen ist in die Mitte der umzingelten Franzosen +getreten — hat dem Fahnenträger das Banner entrissen +und an der Reisigen Spitze sich in den Feind gestürzt!</p> + +<p class="quote"> +»Ein Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen!« +</p> + +<p>Und daß fassungsloser Unglaube kniebeugender Glaube +werde — — wird sie selber kommen! wird kommen — +hierher, an diese Stelle, auf der wir stehen, harrend, bis +ins Mark erschüttert und dennoch zweifelnd ...</p> + +<p>Und horch! Schon kündet sich's an: Da draußen, in +den fernen Gassen der Stadt, hören wir den Lärm eines +jäh triumphierenden Empfangs ... Näher und näher +kommt das festliche Getös ...</p> + +<p>Und da — da fangen ja die Glocken von allen Türmen +plötzlich an zu schwingen ... und heller tönt draußen das +tolle Jauchzen der Begeisterung ... und nun stürzen sie +alle, die in der dumpfen, ragenden Kammer weilen, in +kindischer Hast ans Fenster da hinten und beugen sich +hinaus, und sieh, sie sehen's schon, das Wunder, das Unmögliche +— sie schreien und winken und schreien —</p> + +<p>Und horch, nun stürmt's da draußen die Stufen hinauf, +nun stürzt, nun strömt es herein. Ratsherren und +Rittersleute und Bürger und Weiber und Soldknappen +und Kindervolk und ... eben Menschen, schreiende, +tobende, vor Erlösungstaumel sinnlose Menschen ... Vor +dem König, der mit der Geliebten, zitternd, schwindelnd, +da vorn geblieben, werfen sie sich auf die Knie, in den +Staub, heulen und jauchzen: Sieg! Sieg! Sieg!</p> + +<p>Und nun — nun öffnet sich auf einmal, wie die Flut +des Roten Meeres vor dem Durchzug der Kinder Israel, +so klaffend öffnet sich durch die Menschenflut eine Gasse ... +und durch die Gasse ... schwebenden Schrittes ... +kommt ... sie ...</p> + +<p>Kommt ein weißes Mädchen, nein, kein Mädchen, +kein Mensch ... ein Gedanke, ein Gottgedanke, der Gedanke +der Erlösung, der Gerechtigkeit, der Freiheit, des +Vaterlandes ...</p> + +<p>Und steht so vor dem König ... das Ewige, das Heilige, +das Unendliche selbst ...</p> + +<p>Und doch ... nur ein Mädchen ... ein junges, weißes +Weib ...</p> + +<p class="start-chapI space-above">In der winzigen Garderobe, rechts vom Schauspieler, +auf der Frauenseite, wartete Mutter Buchner ihrer berühmten +Tochter. Sie hatte es sich zwar nicht versagen +können, sich von einem Eckplatz des Parketts aus an +Jucundas Spiel, den neidisch-ehrfurchtsvollen Blicken der +Bekannten, dem Jubelsturm des Publikums zu weiden; +aber am Anfang des zweiten Aktes, das wußte sie, trat +Jucunda nicht auf, und da drängte es sie in die Garderobe +ihres Kindes, um ihr Zofendienste zu leisten. Ach, +am liebsten wäre sie ja von Ort zu Ort mitgereist ... +Wenn ein Mädchen so ungeheuer viel Talent hatte ... +und so gut gewachsen war — na, man wußte ja, von wem +sie das hatte! — und so heißblütig — ach Himmel, man +war ja selber auch mal jung gewesen! — Das war ja ganz +selbstverständlich, daß die Mannsbilder hinter so einer her +waren wie verrückt — da hätte man ja doch als Mutter +eigentlich auf Schritt und Tritt aufpassen müssen ... +Aber da war ihr Alter, der Herr Rat ... der konnte ja +nicht leben ohne seine Doris ... Na, solange das Kind +in Leipzig war, sollte es wenigstens fühlen, was man an +einer Mutter hat ... Und kaum war der Vorhang nach +dem ersten Akt gefallen, da flog — während das Publikum +noch immer tobte, die Gardine auf und nieder tanzte, +die Darsteller sich immer und immer wieder süß lächelnd +verneigten — flog Mutter Doris aus dem Zuschauerraum +zu dem bekannten Pförtchen, das nur denen vom Bau sich +öffnet, hastete die steinerne Treppe hinauf in das winzige, +von Schminke, Puder und Menschendunst geschwängerte +Kämmerchen und wendete das gewärmte Hemd, das auf +der Heizung bereit hing ... Denn wie ihre Jucunda +schwitzte bei so'ner großen Szene, das war schon nicht +mehr schön ... Von Kopf bis zu Füßen mußte sie die +Unterwäsche wechseln jedesmal, wenn irgend Zeit blieb ... +Freilich, wie das Mädchen sich auch ins Zeug legte ...</p> + +<p>Und nun kam sie — kochend, dampfend, wie aus dem +Backofen ... fiel in den Frisierstuhl und streckte alle Viere +von sich ... Frau Doris umarmte sie zärtlich und drückte +ihr einen begeisterten Mutterkuß auf die triefende Stirn ...</p> + +<p>»Schinderei, verfluchte!« pustete Jucunda. »Wie aus +dem Wasser gezogen ist man — und das schon nach dem +ersten Akt! Schnell, Muttel, die Lappen runter und +frische Wäsche! Ich komm' ja um!«</p> + +<p>In der Tür der Garderobe drängten ein paar Kollegen +nach, der Heldin des Abends die Hand zu drücken. +Alle mochten sie das stramme junge Ding leiden, das mit +seinen achtzehn Jahren so resolut durch diese schminkestarrende +Welt stapfte, als sei sie darinnen geboren und +nicht in einem engbrüstigen Leipziger Spießermilieu ...</p> + +<p>»'raus!« befahl Mutter Doris. »Alles 'raus! Meine +Tochter wünscht alleene zu sein!«</p> + +<p>Und rasch vollzog sich die Verwandlung. In kräftiger +Frische, schweißgebadet, stieg der derbe Mädchenleib aus +den klatschnaß zusammensinkenden Hüllen, wurde von sorglicher +Mutterhand mit lauen Güssen überspült und in die +frischen gewärmten Unterkleider gesteckt. Die Garderobiere, +ein verknittertes, verhutzeltes Weiblein, stand +müßig daneben und träumte von der goldenen Zeit, als +auch sie einmal am Stadttheater zu Stallupönen erste +Naive gewesen und von den Leutnants der Garnison mit +billigen Buketts und falschen Schmucksachen überschüttet +worden war ... Dann aber mußte sie eingreifen, denn +über das weiße Gewand des Bauernmädchens wurde nun +die wuchtige Rüstung geschnallt und mit einem Dutzend +Riemen und Oesen befestigt — darauf verstand Mutter +Doris sich denn doch nicht. Inzwischen aber schwatzten die +Frauen ohn' Unterlaß:</p> + +<p>»Gott, war das ein Spektakel zum Aktschluß! Namentlich +da hinten im Parterre!« sagte Jucunda und warf das +langflutende braune Gelock über die Rüstung zurück.</p> + +<p>»Natierlich — das gloob' ich ooch!« erwiderte die +Mutter und strich mit glättendem Kamme bedächtig durch +die krause Mähne der Tochter. »Da sitzen doch die Herren +Studenten! Was die trampeln kenn'! Gott soll mich bewahren! +'s ganze Parkett war Dir doch eene Staubwolke! +Und <em class="gesperrt">unserer</em> is ooch dabei — wirscht mer's +glauben?«</p> + +<p>»Wer? Der unverschämte Mensch aus dem Eckzimmer?«</p> + +<p>»Freilich, der! Un gezogen is er noch lange nich!«</p> + +<p>»I nee so was!« lachte Jucunda.</p> + +<p>»Eegentlich is mer'sch ganz lieb, daß er noch nich weg +is,« sagte Mutter Doris. »Immerhin er is der Erste +Scharschierte vons älteste und angesehenste Korps in +Leipz'g ... Un so lang als ich denken kann, hab' ich +immer Korpsstudenten bei mir wohnen gehabt — 's wär +doch sehr unangenehm für mich gewäsen, wenn er wär' +mit'n großen Krach von mir fortgegangen — leicht hätt's +kenn' passieren, daß die ganzen Korps mich hätt'n in'n Verruf +getan — damit sin se immer sehr fix bei der Hand, +wenn ma een' von ihn' mal schief angekuckt hat ... Unser +Nachbar Wunderlich, der Mützenmacher, der kann e +Wertchen davon erzählen ... Der hat mal een' von die +Korpsstudenten, der absolut nich wollt' zahl'n, nu, dem +hat er en groben Brief geschrieben — und iebermorgen war +er schon im S. C. Verruf — das kost'n an sechshundert +Mark jährlich!«</p> + +<p>»I herrjemerschnee!« lachte Jucunda, »das hätt' ich +wissen sollen, daß unser Student so ein großes Tier ist! +Da hätt' ich durch meine Grobheit ja beinahe Deinen Geschäftsbetrieb +ganz bösartig geschädigt! Na, hoffentlich +kommst Du noch mal mit 'nem blauen Auge davon! +Uebrigens, Muttel, wenn ich mich recht erinnere, so hast +Du den einflußreichen Jüngling auch nicht gerade mit +Glacéhandschuhen angefaßt ...«</p> + +<p>»Nu, ich hab' mich eben lassen hinreißen,« sagte Frau +Doris. »Weeßte, wenn eener mir mit mein' Goldkinde +tut anbinden — hernach weeß'ch mich nich zu beherrschen +— reinweg wie ene Furie werd' ich Dir dann!«</p> + +<p>»Muttel!« sagte Jucunda zärtlich und legte einen +Augenblick lang das lockenumflutete Haupt an den mächtig +wallenden Mutterbusen.</p> + +<p>In diesem Augenblick trat Franz Burg herein, der +Oberregisseur, in der klirrenden Rüstung des englischen +Oberfeldherrn, in einer Maske so voll schrecklichen Ingrimms, +daß Jucunda hell auflachte:</p> + +<p>»Donnerwetter, lieber Freund — mit Ihrem Konterfei +kann man ja die Pferde scheu machen!«</p> + +<p>»Himmel — für die guten Leipziger muß man eben +ein bißchen dick auftragen ...«</p> + +<p>»Schön,« sagte Jucunda, »werd' ich mir merken. +Passen Sie mal auf, Meister, wie ich jetzt loslegen werde!«</p> + +<p>»Aber gefälligst mit einem vernünftigen Stimmansatz, +und nicht wieder so aufs Organ loswüsten wie im ersten +Akt! Ihnen geht's zu gut, Kindchen, Sie werden mir zu +üppig ... In einem Alter, wo andre Kolleginnen froh +sind, wenn sie einmal ein Servierbrett mit Kaffeegeschirr +hereinbringen dürfen, toben Sie schon abendfüllend durch +ganz Deutschland — da muß ja so ein achtzehnjähriger +Verstand aus dem Leim gehen ...«</p> + +<p>»Ach, lassen Sie mich doch ...« Jucunda reckte den +herrlichen Körper, daß alle Niete und Scharniere der +Rüstung knackten ... »Lassen Sie mich doch, lieber +Freund ... Es ist ja so schön ...«</p> + +<p>Franz Burgs Augen schimmerten hinter den grimmigen, +rotgrauen Brauen in einem ganz seltsam weichen +Licht ... Sie glitten über die schlanke, waffenblanke Gestalt, +wie ein Streicheln.</p> + +<p>»Schön ist's, das glaube ich — Sie sind eben ein +Sonnenkind, Langbeinchen!« So nannte er sie noch +immer, aus jener Zeit, wo sie als blutige Novize wegen +ihres knabenhaften Wuchses immer die Pagen hatte spielen +müssen ... Jetzt freilich wäre das nicht mehr zu machen +gewesen — sie war ein Weib geworden ...</p> + +<p>»Na also — Sie sind fertig ... Nun halten Sie aber +Ruhe, bis Sie geholt werden ... Und nicht zu toll mit +dem Organ aasen, verstanden? Adieu, Langbeinchen!«</p> + +<p>»Adieu, Sie Bester!«</p> + +<p>Ein Blick so voll dankbarer Zärtlichkeit, daß der grimme +Talbot rasch das Visier herunterklappte ... Und durch +die Augenlöcher klang sein Knurren:</p> + +<p>»Also fang'n mer an!«</p> + +<p>Er rasselte von dannen. Jucunda warf ihm ein halbes +Dutzend Kußhände nach.</p> + +<p>»Aber Jucunda!« rief die Mutter ganz entsetzt.</p> + +<p>»Ach laß doch, Muttel! Einmal ein Mensch beim +Theater, ein einziger, der selbstlos gütig ist — einen lehrt, +einem vorwärts hilft, ohne gleich — —«</p> + +<p class="start-chapD space-above">Der zweite, der dritte Akt waren vorübergebraust, mit +Schlachtgetöse und Siegesjubel und Sterbegrauen ... +und hatten geendet mit der naiv-gewaltigen Szene, in der +Johannas tragisches Geschick sich wendet: der Fluch ihrer +übernatürlichen Sendung sich wider sie kehrt. Das Herz +der Jungfrau hat mit Entsetzen sein Mädchentum empfunden +...</p> + +<p>Große Pause nun — alles strömte hinaus in die +schmalen, schlechtbeleuchteten Gänge, das dürftige Foyer +des dumpfen winkligen Hauses ...</p> + +<p>Und da oben fanden sich die beiden Franken, ihr fürstlicher +Konkneipant und sein Erzieher. Die Herren begrüßten +einander mit dem gewohnten starr offiziellen Gesicht, +dem korrekten Händeschütteln der hoch gewinkelten +Arme ... Keiner mochte verraten, wie sehr er gepackt +war.</p> + +<p>»Ganz nett — wie?« näselte der Erbprinz.</p> + +<p>»Na ja ... Aber immer dies ewige eintönige Pathos, +das hält kein Pferd auf die Dauer aus!« schnarrte Pilgram.</p> + +<p>»Wie fanden Sie die Buchner?« fragte nachlässigen +Tones der Prinz.</p> + +<p>»Na — mein Himmel — spielt eben Schiller!« erwiderte +der Rechtskandidat.</p> + +<p>Hans Thumser blieb stumm. Ihm standen Erregung +und Entzücken bis an den Hals — die Tränen, die er +mühsam hatte unterdrücken müssen, preßten ihm die +glühenden Augen. O Gott — so Erhabenes, so Ungeheures +erlebt zu haben ... Und dann den gelassenen Weltmann +mimen zu müssen mit zwanzig Jahren ... Was war das +für eine Jugend? Sie schämte sich aller jugendlichen +Empfindungen ... der Begeisterung, des Glaubens an +das Große, das Weltbezwingende ...</p> + +<p class="start-chapI space-above">Und schnell vollendete sich's nun. Wie ward es Valentin +Pilgram zumut, als er nun im festlich geputzten +Saale zu Reims die Verse erklingen hörte, die er neulich +so schmählich unterbrochen?</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Sollt' ich ihn töten? Konnt' ich's, da ich ihm<br /></span> +<span class="i0">Ins Auge sah? Ist Mitleid Sünde?!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Was war denn das, was so heiß und fremd unter der +linken Westentasche zuckte und hüpfte? Was war dieser +geheimnisvolle Schmerz, dieser brennende, der durch Hirn +und Glieder rumorte, wenn dieses Mädchen seine stählernen +blauen Augen verloren in den dunklen Raum hinausschweifen +ließ, in dem er saß, inmitten der proletigen +Finken ringsum, die er verachtete, wie er alles verachtete, +was nicht zu den Angehörigen eines hohen Kösener S. C. +Verbandes zählte?! War es die Scham, daß er dies +Mädchen, diese weiße, stolze Weibesgestalt da hinten, gekränkt, +gestört in ihrem Studium — sich benommen gegen +sie wie ein Rauhbein, ein Knote ohne Kinderstube und +Direktion!</p> + +<p>Ja, das mußte es sein, das und nichts andres ... Er +wird morgen früh seinen Bratenrock anziehen und seine +beste Mütze aufsetzen — wird sich feierlich durch die Frau +Kanzleirätin anmelden lassen und förmlich und devotest +um Verzeihung bitten ... Es ist männlich, begangenes +Unrecht einzusehen und zu sühnen, und durch Revokation +und Deprekation einer Dame gegenüber vergibt auch +Franconiae gewesener Erster, Erster, Erster <i lang="la">ad interim</i> +sich nichts — nein, ganz gewiß nicht!</p> + +<p>Also das mach' ich! Gesegnet meine wüste Laune, gesegnet +meine Examensnervosität ... So hab' ich doch +wenigstens einen anständigen Grund, mich ihr vorzustellen, +sie zu sehen, mit ihr zu sprechen ... Und ich werde mich +dermaßen kavaliermäßig benehmen ... Ich werde ... +Ueberhaupt ... Ich werde — hol' mich der Teufel — Eindruck +werd' ich machen, so wahr ich Valentin Pilgram bin, +Franconiae gewesener Erster, Erster, Erster <i lang="la">ad interim</i>!</p> + +<p class="start-chapI space-above">Hans Thumsers Seele war aber zwiegeteilt, wie fast +immer — fast immer ... Noch einmal, in der zweiten +Szene des vierten Aktes, kam die andere — nach der er +ein geheimes, lästerliches und süßes Schmachten verspürt +hatte, nun sie so lange verschwunden war ... kam Agnes +Sorel, stand neben der herrischen Gestalt Jucundas in +ihrer kätzchenhaften Holdseligkeit ... schmiegte an Jucundas +gepanzerten Busen die unverhüllte, die rosige lockende +Brust ... O Hans Thumser, und denken zu müssen, daß +diese Himmelswonne Nacht für Nacht neben deinem +Knabenstübchen schläft, nur durch eine dünne Ziegelmauer +von dir getrennt, in der es gar noch eine Tür gibt, die +freilich verschlossen ist und mit einem Kleiderschrank verstellt +... O Hans Thumser, wie wirst du dies Bewußtsein +ertragen, nun du sie kennst, sie gesehen hast mit +deinen scheuen, brennenden Augen, ihr Bild hineingesogen +in deine lechzende, lebenshungrige Seele ... +Wie wirst du's ertragen?</p> + +<p>Füchschen, die Trauben sind sauer ... So hat sie geschrieben. +Ach, du Schelm, du böser, neckender Traumspuk +du — du warmes, weiches, nahes, fernes, weltenfernes +Menschenkind — —!</p> + +<p>Still — es erfüllt sich Johannas Geschick ... Vor dem +Bannspruch des Vaters, der sie höllischer Blendekünste +zeiht, verstummt sie ... verstummt vor dem Donner des +Himmels ... flieht in Einsamkeit und Verzweiflung — +fällt stumm und wehrlos in die Hand der Feinde ...</p> + +<p>Doch dann, in letzter, höchster Not, kommt noch einmal +über sie die alte, magische Kraft: Sie zerreißt ihre Ketten, +entrafft sich den entsetzten Feinden, trägt noch einmal das +Banner der Jungfrau zum Kampf ... und dann, die +Todeswunde in der Brust, von Siegesbannern überbauscht, +läßt sie ihre reine Seele ins All hinüberströmen ...</p> + +<p>O Dichter! Dichter! betet Hans Thumser — großer, +herrlicher mit Deiner wunderbaren Cherubseele — einen +Tropfen von Deinem Geist in mein junges Herz — einen +Flammenfunken von Deinem Himmelsfeuer!</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Wie wird mir? — leichte Wolken heben mich —<br /></span> +<span class="i0">Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide —<br /></span> +<span class="i0">Hinauf — hinauf — die Erde flieht zurück —<br /></span> +<span class="i0">Kurz ist der Schmerz, und ewig ist die Freude!«<br /></span> +</div></div> + +<p class="start-chapI space-above">Ein heftig gestammelter Dank an den Prinzen, ein feierliches +Schütteln der korrekt eingewinkelten Hände mit +ihm und dem Major, und dann hinaus — hinaus in die +herbstliche Abendluft ... O glühende Stirn, o glühendes +Herz ...</p> + +<p>Und nun — warten — sie noch einmal sehen, sie, »die +alles Herrliche vollendet« ... nicht jene andre, das +Kätzchen, den Spukgeist ... Nein, die eine, die weiße, +die königliche ...</p> + +<p>Warten auf sie — sie warten ja alle ... Eine +dichtgedrängte Schar, lauter blutjunges Volk. Konservatoristinnen +und Ladenmamsellchen untermischt mit Primanern +und Studenten ... Sie warten vor dem Portal, +vor dem ein einziger Wagen noch hält, ein einziger, +während all die andern mit ihrer Fracht schleierumhangener, +kapuzenverhüllter Weiblichkeit von dannen donnern +— ein einziger Wagen, in dem, hüstelnd und frierend, ein +bebrilltes Männlein hockt mit grauem Kragenbart: der +Kanzleirat Buchner ...</p> + +<p>Es dauert lange, dies Warten ... Aber Hans Thumser +wartet nicht allein: An seiner Seite, geduldig fröstelnd, +harrt der gestrenge Senior, ganz gegen jede Wahrscheinlichkeit +und Psychologie ...</p> + +<p>»Ne, Pilgram, wie <em class="gesperrt">Du</em> mir heute vorkommst!«</p> + +<p>»Na, was denn? Wieso denn?« knurrt der Erste. +»Denkste vielleicht, Du hast die Kunstbegeisterung alleene +gepachtet?!«</p> + +<p>Und endlich — endlich — — am Bühneneingang +fliegen die Hüte, die Mützen von den Köpfen —</p> + +<p>»Jucunda Buchner — hoch! hoch!«</p> + +<p>Voran schiebt sich eine derbe Matrone in uraltmodischer +schleifenbesetzter Kapuze — und dann kommt — sie — so +mädchenhaft auf einmal, so spießbürgerlich schlicht ... +Wie ein Backfisch schaut sie aus, so menschlich, so nahe ...</p> + +<p>»Hoch! hoch!« brüllen die Studenten, juchzen die +Mädels — sie huscht vorüber, kopfnickend, so lieb, so einfach, +so — so fabelhaft nett — sie schlüpft in die Wagentür, +nickt noch einmal vom Fensterrand — neuer Jubel —</p> + +<p>Ach was — längst nicht genug!</p> + +<p>Eine neue, eine würdige Huldigung dem wundervollen +Menschenkind!</p> + +<p>»Kommilitonen!« ruft Hans Thumser und schwenkt die +grüne Mütze, »Kommilitonen! Wir spannen ihr die +Pferde aus, wir fahren sie im Triumph nach Hause!«</p> + +<p>Ein Beifallsgeheul ist die Antwort. Und auf die +Gäule stürzt sich der Schwall — im Nu sind die Scheuenden, +Schäumenden abgesträngt, der fluchende, peitschenschwingende +Kutscher entwaffnet und vom Bock gezerrt ...</p> + +<p>»Verrickt seid 'r! Alle mitenander seid 'r übergeschnappt! +Der Deifel soll Euch hol'n!«</p> + +<p>Und hundert Hände packen zu, langen nach der Deichsel, +den Zugscheiten, den Strängen — hundert Hände greifen +in die Speichen — hurra! Der Wagen rollt, rollt mit +seiner vielgeliebten Fracht ... Und allen voran als +Führer, den Hut auf dem Stock balancierend, den Stock +im Takt schwingend wie ein Tambourmajor schreitet einer, +der den Weg kennen muß: Franconiae gewesener Erster, +Erster, Erster <i lang="la">ad interim</i>!</p> + +<p>Und der Wagen rollt die Sophienstraße entlang, umdröhnt +vom Jauchzen schönheitstrunkener, größeberauschter +Jugend ... Rollt die Zeitzer Straße, den Peterssteinweg +hinab, der Altstadt zu ... Und immer zahlreicher wird +das Huldigungsgefolge hinter dem Triumphzug, den +Jugend der Jugend, der Schönheit, der Kunst bereitet, +immer betäubender schwillt der allgemeine Jubel:</p> + +<p>»Jucunda Buchner — hoch — hoch Jucunda — unsre +Jucunda!«</p> +</div> + +<div> +<h2>4.</h2> + +<p class="start-chapA">Als der Triumphwagen endlich in der Katharinenstraße +hielt, zog der alte Buchner den riesigen Hausschlüssel +aus der Tasche und stieg als erster aus. Ein hundertstimmiger +Jubel empfing ihn ...</p> + +<p>»Das ist der Vater — Jucundas Alter ist das — Papa +Buchner hoch! hoch!«</p> + +<p>Ein Dutzend Hände waren ihm behilflich, hoben ihn +über die Bordschwelle, ganz betäubt humpelte er durch die +Gasse, die sich vor seinen Schritten öffnete, fand die Tür +seines Hauses zu seiner Verwunderung bereits geöffnet +und schlüpfte hinein, wie erlöst, daß er dem Getös entronnen +...</p> + +<p>Und nun schob sich Mama Buchners massives Gestell +aus der Droschke.</p> + +<p>»Achtung, jetzt kommt Mamachen!« schrien kecke +Stimmen. »Platz für Mamachen!« Geblendet vom +grellen Licht der Gaslaterne, dicht neben dem finstern +Hauseingang, verwirrt vom Stimmengewirr, dem Glanz +blitzender Augen, dem Durcheinander winkender Hände, +flatternder Tücher verfehlte Mutter Doris mit unbehilflich +suchendem Fuß den Wagentritt und wäre gestürzt, hätte +nicht ein sehniger Arm sie gefaßt und ihre schwerfällige +Gestalt mit sicherem Griff aufs Trottoir, auf die Beine +gestellt. Und gleich darauf fühlte sie ihre Hand in diesen +sehnigen Arm hineingezogen, fühlte sich sicher und ritterlich +der Haustür zugeführt — sah dankbar zu ihrem Beschützer +empor und — sah in das verlegenheitglühende +Gesicht ihres Mieters ...</p> + +<p>»Gnädige Frau —« stammelte Pilgram.</p> + +<p>Gnädige Frau —?! Es war das erstemal, daß ihr +Student diese Anrede für die Frau Kanzleirätin fand ... +sie war direkt erschüttert ...</p> + +<p>»Herr Pilgram — nee heer'n Se, das is aber hibsch +von Ihn' ...«</p> + +<p>»Darf ich Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch zu +dem Riesenerfolge Ihres Fräulein Tochter — gnädige +Frau? und zugleich auch meine Bitte um Entschuldigung +wegen meines unqualifizierbaren Benehmens von vorgestern +morgen —«</p> + +<p>»Ach sei'n Se still, Herr Pilgram — scheen war's ja +grade nich ... Aber Sie haben's ja gut gemacht ... +Also woll'n mer uns wieder vertragen! Aber wo bleibt +denn 's Kind?«</p> + +<p>'s Kind war noch nicht abkömmlich. Sie mußte draußen +die Dutzende von Händen schütteln, die sich ihr entgegenstreckten +... Und dabei liefen ihr die hellen Tränen nervöser +Seligkeit über die Backen ...</p> + +<p>»Dank ... tausend, tausend Dank!« Das war das +einzige, was sie nur immer wieder stammeln konnte ...</p> + +<p>Und endlich fiel die Pforte denn doch ins Schloß, +während die begeisterte Jugend draußen weiter jubelte +und tobte. Kanzleirat Buchner wollte abschließen, aber +Valentin Pilgram kam ihm zuvor. Und dann entzündete +er ein Wachsstreichholz und geleitete Mama Doris mit der +Galanterie eines Oberhofmarschalls die knackenden +Treppen des altehrwürdigen Baues hinan, der einstmals +ein feierlich elegantes Patrizierhaus gewesen war ... +Der Kanzleirat und die Heldin des Abends folgten.</p> + +<p>Oben wollte sich Valentin verabschieden, um in seinem +Zimmer zu verschwinden, aber Jucunda rief:</p> + +<p>»Was? Sie wollen schon schlafen? Nee, gibt's nich! +Muttel, mach' Licht in der guten Stube! Wir schwatzen +noch eins! Und Du, Alter, rück' mal ein paar Pullen Gose +heraus! Ich hab' einen Pferd'sdurst!«</p> + +<p>Und sieh — nach wenigen Minuten war's hell und +mollig in der behaglichen Wohnstube, und während Mutter +Buchner drinnen Bemmchen schmierte und Papa Kanzleirat +Zigarren und Aschenbecher bereit stellte, sorglich aus +den dickbauchigen Goseflaschen das bernsteingelbe bitterliche +Naß in die hohen Stangengläser plätschern ließ, stand +Valentin Pilgram voll nie gefühlter Empfindungen am +Fenster, hinter Jucundas hoher Gestalt, die noch immer +hinaus auf die Straße winkte und Kußhände warf, +während von drunten, vom Straßendamm empor ohn' +Ermatten das Begeisterungsgebrüll der Burschen tönte, +die Taschentücher der Mädels flatterten ...</p> + +<p>»So, Kind,« sagte Mutter Doris endlich, »nu mache +schon Schluß, daß Du was zu essen und zu trinken kriegst ... +Bitte, Herr Pilgram, nehmen Sie Platz!«</p> + +<p>Valentin und Jucunda traten vom Fenster zurück. Jetzt +erst fand das Mädchen Zeit, den jungen Gesellen zu mustern.</p> + +<p>»Sie sind wohl einen halben Kopf größer als ich,« +sagte sie anerkennend.</p> + +<p>»Aber Sie — Sie sind ... etwas ganz Besonderes ... +eine ganz andre Sorte von Mensch als ... nu als wir gewöhnlichen +Leute, wir simplen Rechtskandidaten ... und +so was.«</p> + +<p>»Erlauben Sie mal — Sie sind doch auch was Besonderes +... Erster Chargierter des ältesten und angesehensten +Korps in Leipzig ...« Sie wies auf einen +Stuhl.</p> + +<p>»Gott — gnädiges Fräulein ... Wie können Sie so +was überhaupt ... das sind doch Kindereien, wenn man's +mit ... mit Ihrer Kunst vergleicht ...«</p> + +<p>O Valentin Pilgram — wer dir das gestern prophezeit +hätte ... daß du so zu einer Komödiantin sprechen +würdest ... daß die Heiligtümer deiner Seele so schnell +verbleichen würden ...</p> + +<p>»Na, nu nähmt mal gefälligst ä bißchen Platz, Kinder!« +rief der Kanzleirat ...</p> + +<p>Kinder —?! Es durchfuhr die beiden jungen Menschen +... ein seltsames, ahnungsvolles Gefühl ... Mit +einem Male war Jucunda Buchner nicht die glückverwöhnte, +reichbegnadete Künstlerin, sondern ein Backfisch +von achtzehn Jahren ... und Valentin Pilgram nicht der +Sohn des Senatspräsidenten am Dresdener Oberlandesgericht, +nicht der Erste Chargierte eines wohllöblichen +C. C. der Franconia, sondern ein Knabe von vierundzwanzig, +in all seiner senioralen Würde doch noch immer +ein junger, lebensunkundiger Novize des Daseins ...</p> + +<p>Zwei blutjunge Menschen ... zwei Kinder ... beide +gewachsen wie ein paar Tannen, beide jung, stark und +heiß ...</p> + +<p>»Kinder!« hatte der alte Mann gesagt ... Wie seltsam +das die Seele traf ...</p> + +<p>Beider Augen waren gesenkt, beider Stirnen glühten, +als sie sich setzten ...</p> + +<p>Man stieß mit den langschäftigen Gosengläsern an, +Jucunda tat einen tiefen, herzhaften Schluck und biß dann +nicht minder herzhaft in ihre Butterbemme.</p> + +<p>»Donnerkiel!« sagte sie, »das tut aasig gut ...«</p> + +<p>»Nu sagen Se, Herr Pilgram, wie sind Sie denn bloß +in's Theater gekommen? Ich hab' gedacht, Sie haben gar +nischt iebrig für die Kunst?« erkundigte sich Mama +Buchner.</p> + +<p>»Ja ... Frau Rätin,« sagte Valentin, »wie soll ich +Ihnen das erklären? Sie haben nämlich recht ... Ich +hab' wirklich nicht viel Sinn für die Kunst ... Ich — nu +ich war eben ... neugierig war ich — auf meine Budennachbarin +...«</p> + +<p>»Sehr schmeichelhaft!« lachte Jucunda und zündete sich +eine Zigarette an. »Na und — und was sagen Sie nu?«</p> + +<p>»Gar nischt sag' ich —« bekannte der Student. »Wissen +Sie ... zum Komplimente machen ... bin ich nicht maulgewandt +genug ... ich kann nur sagen: dies war der +schönste Tag meines Lebens.«</p> + +<p>»Hehe — da siehst es, Jucunda, was fier ä Kerle Du +bist!« schmunzelte der Kanzleirat.</p> + +<p>»Ach — das geht doch nicht auf mich!« wehrte Jucunda +ab. »Herr Pilgram ist eben von Schillers großer Dichtung +so ergriffen gewesen ...«</p> + +<p>»Ne, gnädiges Fräulein, das könnt' ich nu gerade nich +sagen,« erklärte Valentin. »Ich bin eben doch, wie mein +Korpsbruder Thumser sagt, ich bin doch ein Banause. +Schiller? Ich weeß nich ... es ist mir doch zu viel +Schmalz an der Brühe ... Wenn Sie nicht gewesen +wären, gnädiges Fräulein, ich glaube nicht, daß ich wäre +bis zum Ende dageblieben ...«</p> + +<p>»Schämen Sie sich!« zürnte das Mädchen.</p> + +<p>»Ja — 's tut mir selber leid, daß ich so wenig Verständnis +habe für die sogenannte Kunst ... Sehen Sie ... +ich stamme aus einer alten Juristen- und Beamtenfamilie +... bei uns zu Hause ist nie von was anderm +die Rede gewesen wie von Dienst und Vorgesetzten +und Karriere machen und Orden kriegen und Gesetzesnovellen +... und das Theaterspielen und Musikemachen +und Bilderklexen und Verseschmieren — nee, davon hat man +bei uns nie was wissen wollen. Aber was Arbeit und +Pflicht und Gehorsam ist und Gewissenhaftigkeit und Treue +... das ist mir eingepaukt worden von Kindesbeinen an +... und nicht nur mit der Moralpredigt, sondern mit dem +guten Beispiel, dem nachahmungswürdigen Vorbild ...«</p> + +<p>»Das is sähr scheen, wenn man das von sein' Elternhause +kann sagen —« meinte der Kanzleirat. »Prost, +Herr Pilgram — Ihre Herren Eltern sollen leben.«</p> + +<p>Andächtig tat Pilgram Bescheid. Aber Jucunda war +des trockenen Tones satt:</p> + +<p>»Erzählen Sie mir lieber von heut abend — erzählen +Sie mir, wie ich Ihnen gefallen habe! Sie können's ruhig +ein bißchen dicke machen ... Sie haben ja gar keine +Ahnung, wieviel Honig und Weihrauch unsereins vertragen +kann nach so einer gewonnenen Schlacht ...«</p> + +<p>»Aber Jucunda — so schäme Dich doch! Was soll +denn Herr Pilgram von Dir denken?«</p> + +<p>»Na — nichts als was wahr ist! Daß ich eine ganz +eitle, verwöhnte Komödiantin bin! Nicht wahr, Herr +Pilgram, so denken Sie doch! Nur heraus damit ...«</p> + +<p>»Gnädiges Fräulein, ich denke an nichts andres als an +den Augenblick, wo Sie zuerst herauskamen ... Wir +waren zu spät gekommen, aus dem S. C., wissen Sie? +da muß man aushalten — und als wir kamen, hatte +der erste Akt schon angefangen ... und ich langweilte mich +und dachte: na ja, Schiller ... und überlegte, was für +ein Aufsatzthema mein alter vermickerter Professor auf +Prima in Dresden wohl aus diesem ersten Akt herausgeschlagen +hätte: Würde Johanna d'Arc ihr Vaterland +auch errettet haben, wenn Karl der Siebente anstatt mit +den Engländern mit den Deutschen Krieg geführt hätte? +oder so ähnlich ... Und da — da kamen Sie — und +auf einmal wurde alles wahr und richtig und interessant +und ... na ja eben schön ... mit einem Wort ...«</p> + +<p>»Ich seh's kommen, daß se Dich noch ganz närr'sch +werden machen, Jucunda —« kicherte der Kanzleirat.</p> + +<p>»Ach ja ... macht mich nur ruhig närrisch, Kinder — +es ist ja so schön, gefeiert zu werden ... und begraben +zu werden unter Lorbeer und Rosen — und die Pferde +ausgespannt zu kriegen ... hören Sie, Herr Pilgram — +die Idee, die war wohl von Ihnen?«</p> + +<p>»Ehrlich gestanden, nein — so leid mir's tut — aber +den glorreichen Einfall, den hat mein Korpsbruder +Thumser gehabt ...«</p> + +<p>»Schade — sonst hätten Sie wahrhaft'gen Gott 'nen +Kuß gekriegt dafür —«</p> + +<p>Der Kanzleirat drohte der Tochter lächelnd mit dem +Finger.</p> + +<p>»Säh'n Se, Herr Pilgram, wie se Ihn' schon überschnappt?«</p> + +<p>Und er ließ frische Gosefluten in die Gläser <a id="InCorr3">kluckern</a>.</p> + +<p>Aber allmählich fielen dem alten, hageren Männchen, +das sein ganzes Leben in der muffigen, überhitzten Luft +der Königlichen Justizbureaus zugebracht hatte, die geröteten +Aeugelchen zu. Er verabschiedete sich und humpelte +ins Schlafzimmer.</p> + +<p>Auch Mutter Doris fiel allmählich ab.</p> + +<p>»Nu, Herr Pilgram, wie denken Sie über's Schlafengehen?«</p> + +<p>»Gibt's nich!« erklärte Jucunda. »Wenn Du müde +bist, Mamachen, kriech in Gottes Namen in die Posen ... +Ich bin noch nicht fällig, und Herr Pilgram wird mir Gesellschaft +leisten, bis meine Nerven ausgezappelt haben ...«</p> + +<p>Und die jungen Menschen waren allein. Es wurde +still, ganz still ringsum. Von der Katharinenstraße klang +ab und an noch das schläfrige Geklapper eines heimwärts +trottenden Droschkengauls ... Vom nahen Rathausturme +meldeten die Glocken mit hallenden Schlägen Viertelstunde +um Viertelstunde ... sonst nichts mehr. Leipzig schlief.</p> + +<p>»Erzählen Sie mir mehr von sich!« sagte Jucunda und +legte sich mit behaglichem Gähnen in die gestickten Schoner +des grünen Plüschsofas zurück. »Aber nicht so was Langweiliges +vom Korps und von Ihren Fechtereien und vom +Examen und so! Was Schönes ... was Interessantes!«</p> + +<p>»Ach, gnädiges Fräulein — ich bin ein schrecklich uninteressanter +Mensch ... ich schäme mich ordentlich, ich werde +ganz klein, wenn ich mein Leben mit Ihrem vergleiche.«</p> + +<p>»Na, aber Sie müssen doch irgend was Besonderes +erlebt haben ... Waren Sie denn nie verliebt? Haben +Sie nie ein Mädchen geküßt?« Sie zündete an dem Rest +ihrer Zigarette eine frische an, pustete eine dicke Rauchwolke +zu Valentin hinüber und schielte durch den Qualm +hindurch neckisch blinzelnd zu ihm hin.</p> + +<p>Valentin Pilgram wurde verlegen. »Hm ... ich weiß +nicht recht, was ich da antworten soll ... als Künstlerin +wissen Sie doch jedenfalls schon manches vom Leben ... +und wissen, was wir jungen Männer, Studenten und +so — wie soll ich mich nur ausdrücken?«</p> + +<p>»Na, daß Ihr gerade keine Tugendspiegel seid ... Euch +mit Kellnerinnen und ... so 'ner Sorte von Weibsbildern +herumtreibt ... Herr Pilgram, ich bin ein Leipziger +Kind, das alles ist mir nichts Neues. Aber — sowas +zählt doch hoffentlich nicht?«</p> + +<p>»Nein — Sie haben ganz recht ... es zählt nicht ... +Sehen Sie, man betrinkt sich ja auch zuweilen mal ganz +stumpfsinnig ... so ähnlich ist das ...«</p> + +<p>»Und — sonst? Sonst haben Sie noch gar nichts ... +erlebt? Niemals eine richtige ... eine Leidenschaft ... +ein Gefühl, daß Sie so richtig die Zügel aus der Hand +verloren haben? Daß es mit Ihnen durchgegangen ist +wie ein wildes Pferd, so zuck, zuck, hoppla, hopp, über +Stock und Stein, nur vorwärts, ins Weglose, ins Nichts — +nur vorwärts ... komme was wolle?!«</p> + +<p>Hingerissen hing Valentins Blick an den flackernden +Augen, dem zuckenden Munde des Mädchens. »Ach +nein ... gnädiges Fräulein ... so was hab' ich nie erlebt +... ich glaube auch, so was kann mir nie passieren ... +dazu sind wir Pilgrams viel zu korrekt ... viel zu gewissenhaft +...«</p> + +<p>»Schade —« sagte Jucunda. »Ich denke mir, das +müßte schön sein ...«</p> + +<p>»Das ... glaube ich auch ...« sagte Valentin langsam. +»Schön ... und schrecklich ...«</p> + +<p>»Wie wär's, wenn wir nun schlafen gingen? Ich +fange doch allmählich an, abzufallen ...«</p> + +<p>»Schade!« sagte nun der Student. Seine Augen überflogen +noch einmal die weiße Gestalt, die sich in so fester, +straffer Leiblichkeit abhob von dem verschlissenen Samt, +auf dem sie ruhte, beide Ellbogen nach vorn emporgewinkelt, +die Hände nach rücklings um die Lehne des +Sofas geklammert.</p> + +<p>»Gott, war das ein Tag!« sagte das Mädchen. »Ein +Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen! Aber +das Hübscheste daran war doch, daß ich Sie nun kenne, +Nachbar ... daß ich Sie Grobian doch ein bißchen gebändigt +habe ... nicht wahr? Und daß wir zwei nun +allein noch übrig sind von all dem Trubel und Trara ... +was? Ist das nicht nett? Aber Sie sagen ja gar nichts?«</p> + +<p>»Was ... soll ich sagen?« stotterte der Student. »Ich +... sehe Sie an ... und denke, daß morgen ... morgen +das alles vorbei ist ... daß Sie morgen wieder die allgefeierte +Jucunda Buchner sind ... und ich ... irgendein +simpler, gleichgültiger Rechtskandidat ... der Ihnen nichts +sein kann ... nichts für Sie tun ... Ihnen nichts bedeutet +als eben ein Stück Publikum ... einer von den +Tausenden, die Ihnen allabendlich zujubeln, ohne daß +Sie sie kennen, mehr für sie übrig haben als ein geschäftsmäßiges +Lächeln, wenn der Vorhang sich noch einmal +hebt ...«</p> + +<p>»Wer weiß!« sagte Jucunda mit einem gnädigen Blick. +»Vielleicht, daß ich doch einmal einen ... einen Ritter +brauchen kann ... dann will ich mich an diese Stunde +erinnern ... und Sie rufen ... Soll ich?«</p> + +<p>»Gnädiges Fräulein ...« sprach Valentin Pilgram +heiser ... »Das wäre mehr Gunst vom Schicksal, als +ich Mut habe zu hoffen ...«</p> + +<p>Sie reichte ihm die feste, warme Hand. Er küßte sie ... +ehrfurchtsvoll, als sei es einer Fürstin Hand ... und ging.</p> + +<p>Als er die Tür zu seinem Kämmerchen hinter sich geschlossen, +stand er einen Augenblick im tiefen Dunkel, +regungslos. Ihm war's, als drehe sich alles um ihn im +Wirbel. Und der reckenhafte Gesell, der zweiundzwanzigmal +dem Schläger und fünfmal dem Säbel Stirn und +Brust geboten, fühlte ein rätselhaftes Grauen vor etwas +Kommendem, dem er keine Deutung wußte ... das im +Dunkel hockte und ihn ansah mit den blauen, hellen, befehlenden +Augen, von denen er fühlte, daß er ihnen gehorsam +sein müßte, was immer sie ihm gebieten würden.</p> +</div> + +<div> +<h2>5.</h2> + +<p class="start-chapD">Die zwölf halben Liter Tucher, die Hans Thumser nach +dem Jucunda-Rummel auf der Kneipe noch in +seine ausgepichte Fuchsmajorskehle gepumpt, hatten die +Erregung der zappelnden Nerven untergekriegt und für +die nötige Bettschwere gesorgt — zum Anfang wenigstens. +Aber dennoch — als der Student plötzlich aus dumpfen, +wirbelnden Träumen in die Höhe fuhr, so daß der kaum +verheilte Schädel krachend gegen die Rückwand seines +Bettes bumste — da war es noch stockfinster, und wie er +ein Streichholz entzündete, wies die Uhr halb vier ...</p> + +<p>Und wieder Dunkelheit und Schweigen, und im Herzen +schwirrend und rumorend viel hundert Bilder, viel tausend +Farben und Klänge ...</p> + +<p>Wo soll es hin, das alles?! Was will's von dir, dies +tolle, glühende Leben?!</p> + +<p>Da horch ... ein seltsamer Laut ... ein zager, verzitternder +... von irgendwoher aus dem Dunkel ... und +wieder ... und wieder ... derselbe bang verschwebende +Klageton ...</p> + +<p>Weinen ... Weinen einer Frauenstimme — ganz leise, +mühsam unterdrückt ... von Tränen umschleiert ... +erschütternd ...</p> + +<p>Nun scheint's zu verstummen ... horch — kein Laut +mehr ... doch nein — nur heftiger jetzt die wimmernde +Klage ...</p> + +<p>Um Gott — das ist — da nebenan — das ist ... Asta +Thöny ...</p> + +<p>Tränen ... Tränen in Frauenaugen — entsetzlicher +Gedanke für einen Jüngling, einen tatensehnsüchtigen, +weltgläubigen — wer konnte glücklich sein, ach nur ruhig +sein, nur schlafen — wenn ein Mensch, ein Mädchen +weinen mußte?!</p> + +<p>Himmel — vielleicht ist sie krank geworden — Agnes +Sorel, die kätzchenweiche, mit dem süßen, rosigen Hals, den +dunklen, flirrenden Augensternen ... windet sich in +Schmerzen ... und niemand hört sie, niemand steht ihr +bei, denn sie ist nicht ein gehegtes, umsorgtes Haustöchterlein +wie Hansens Schwestern daheim — sie ist ganz +allein auf der Welt — einsam, schutzlos, hilflos ...</p> + +<p>Gott, wenn das doch enden wollte! Das ist ja nicht +zu ertragen, diese hilflose Klage ... Aber was kann +man tun?</p> + +<p>Sich melden — seinen Beistand anbieten ...</p> + +<p>Aber — könnte das nicht — mißverstanden werden? +Nachdem er nun einmal die dummen, zudringlichen Verse +hinübergeschickt? Und einen so wohlverdienten, ach, +eigentlich noch viel zu schmuck bebänderten Korb gekriegt?</p> + +<p>Aber — wenn sie nun wirklich leidend wäre — Hilfe +brauchte — gewiß, sie würde nicht böse werden ...</p> + +<p>Oder — wenn man Mutter Ach weckte — und ihr mitteilte, +das Fräulein scheine nicht wohl zu sein?</p> + +<p>Aber — wenn's nun gar nichts Ernstes wäre — +vielleicht nur eine Laune, eine kindische Gereiztheit — +was weiß ich — dann hätte man um nichts und wieder +nichts den schnarchenden Schlummer der ehrsamen Wittib +gestört ... und es gäbe gar noch eine Szene, nachts um +halb vier ...</p> + +<p><i lang="fr">Enfin</i> — was geht's mich an? Decke über die Ohren +und weiter dachsen!</p> + +<p>Ja, wenn das so ginge! Die Phantasie hebt an zu +spielen — dringt durch die Finsternis, die Tapetenwand +und malt in rosigen Farben das Bild des einsam weinenden +Kindes da drinnen ... und ach, das bange Schluchzen +dringt auch zum verbarrikadierten Ohr ...</p> + +<p>Mut! Es muß!</p> + +<p>»Gnädiges Fräulein —?« ganz leise, kaum geflüstert ...</p> + +<p>Das Weinen geht weiter, still und bitter ...</p> + +<p>»Gnädiges Fräulein —?«</p> + +<p>Auf einmal ist's still da drüben — Finsternis und +lastende Stille ringsum ...</p> + +<p>»Verzeihen Sie, mein gnädiges ... Fräulein ... ich +... hörte ... ich ängstige mich ... Sie möchten nicht +wohl sein ... Hilfe brauchen ... darum hab' ich mir die +Freiheit genommen ...«</p> + +<p>Noch immer alles still ... offenbar ist man böse ...</p> + +<p>»Gnädiges Fräulein ... ich ... ich will nicht weiter +beschwerlich fallen ... Sie wissen nun, daß jemand zur +Hand ist, wenn's not sein sollte ... Wenn Sie also nichts +weiter von sich hören lassen — dann — na dann darf +ich ja wohl annehmen, daß ... daß alles in Ordnung ist ... +und dann werd' ich also in Gottes Namen weiterschlafen!«</p> + +<p>Auf einmal ein Laut ... kein Weinen ... auch kein +Wort ... etwas andres ... etwas Silbern-Zwitscherndes +— ein ganz feines, ersticktes Kichern ...</p> + +<p>»Ach so —!« sagte der Student völlig beruhigt. »Na, +denn gut' Nacht, mein gnädiges Fräulein, und sei'n Sie +nicht böse!«</p> + +<p>Und krachend warf er sich auf die rechte Seite, fest entschlossen, +nun aber auch <i lang="la">a tempo</i> —</p> + +<p>Da horch! Noch einmal ein Lachen, nun aber hell, +übermütig — und dann die Stimme, die girrende, die +streichelnde der Agnes Sorel:</p> + +<p>»Aber bitte ... ich muß ja doch danken für die gute +Meinung! Aber sei'n Sie ganz ruhig — mir fehlt wirklich +nix — ich hab' nur so ein bissel für mich geweint — das +kann doch vorkommen — gelt?«</p> + +<p>»Na — wenn's weiter nichts ist ... ich hab' ja solch +einen Schrecken bekommen ...«</p> + +<p>»O — das tut mir leid — ich hab' Sie so friedlich — +na ja, so friedlich schnarchen gehört — da hab' ich gedacht: +den störst du nicht ... und da hab' ich halt ein bissel +geweint ... Nehmen Sie's nicht übel, es soll nicht wieder +passieren ...«</p> + +<p>»Aber bitte — von meinetwegen — ich weiß ja jetzt, +daß es nichts weiter zu bedeuten hat, wenn Sie einmal +nachts weinen — da werd' ich mich also künftig auch nicht +mehr drum aufregen ...«</p> + +<p>»Ach du lieber Gott — zu bedeuten hat's schon was ...«</p> + +<p>»Hm ... also doch?! — — Können Sie mir's nicht +sagen?«</p> + +<p>»Ach ... so durch die Tür hindurch ...«</p> + +<p>Jetzt fingen Hans Thumsers Hände denn doch ein +bißchen an zu zittern. Er suchte nach einer Antwort ... +fand keine ... Himmel! Meine unsterbliche Seele für +einen Einfall ...</p> + +<p>»Ja ... so durch die Tür ... das geht natürlich nicht +recht ...«</p> + +<p>Endlich ... das erlösende Wort: da ist's:</p> + +<p>»Aber ... wenn ich Ihnen ... morgen früh ... +einmal ... meine nachbarliche ... Aufwartung machen +dürfte ...«</p> + +<p>»Hm ... morgen früh?!« Es klang so gedehnt ... +so ... nach einem leisen Bedauern ... ach nein ... +das war ja doch ... da mußte Hans Thumser sich doch +wohl ... verhört haben ...</p> + +<p>»Morgen früh? Da hab ich ja Probe von zehn bis +zwei ... Da müssen Sie schon morgen nachmittag kommen +... zum Tee um fünf, wenn Sie mögen — gelt?«</p> + +<p>O Gott ... solch eine Einladung ... zum erstenmal +in diesem jungen Leben einem so schönen ... so ... verlockenden +... Mädchen gegenüber ... mit ihr allein ... +Gibt's denn so etwas?! Ist das denn möglich?!</p> + +<p>»Nu — Sie antworten ja gar nicht?« klang's ganz leise. +»Sind Sie am Ende gar — schon wieder eingeschlafen?«</p> + +<p>»Aber mein gnädiges Fräulein — wie können Sie +nur denken ...«</p> + +<p>»Also Sie kommen? Das ist schön. — Na, nu wollen +wir aber auch ... gut Nacht, Sie — Sie Füchschen Sie!«</p> + +<p>»Bitte — Fuchsmajor!« rief Hans Thumser fast laut +vor Selbstbewußtsein. »Also ... wenn's denn sein muß — +gut Nacht, Agnes Sorel!</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">Auch jenseits der Loire liegt noch ein Frankreich,<br /></span> +<span class="i0">Wir gehen in ein glücklicheres Land,<br /></span> +<span class="i0">Da lacht ein milder, nie bewölkter Himmel,<br /></span> +<span class="i0">Und schöner blüht das Leben und die Liebe!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Ja! Wenn man so ein phänomenales Versgedächtnis +hat! Und seinen Schiller <i lang="la">intus</i>!</p> + +<p>»Donnerwetter — allerhand Achtung!« kicherte es von +drinnen. »Da möchte man ja wahrhaftig — aber nein — +jetzt wird geschlafen — gut Nacht, Herr Fuchs<em class="gesperrt-in">major</em>!«</p> + +<p>Tiefe Stille ... Dunkelheit ... und zitternde Sehnsucht +... zitternde Hoffnung ...</p> + +<p>Hans Thumser fand keinen Schlaf. Zu toll rumorte +die Jugendbangigkeit in seinen Gliedern ...</p> + +<p>Er lauschte, ob er wohl noch einen Laut vernähme +von da drüben ... aus der Märchenwelt der Träume ... +aber alles blieb stumm ... und endlich vernahm er durch +den lastenden Frieden der Nacht geruhig schwellende, +leise Atemzüge ...</p> + +<p>Sie schlief ...</p> + +<p>Da streckte sich auch Hans Thumser mit einem langen +Seufzer ... und versank.</p> +</div> + +<div> +<h2>6.</h2> + +<p class="start-chapW">Valentin Pilgram war erst spät aufgestanden. In +wüstem Halbschlaf, von tollen Träumen gequält, hatte +er die Nacht verbracht. Nun saß er über seinem Drogenwelt-Geruch +und knuffte die vier Klassen der Gradualerbfolge +der Novelle 118 in den schmerzenden Schädel +hinein.</p> + +<p>Da klopfte es heftig an die Tür seiner Bude, und im +selben Augenblick, noch eh er: herein! hatte rufen können, +schoß auch schon die Frau Kanzleirätin herein, im geblümten +Morgenrock, dessen Schleppe hinter ihr drein +waberte, in schleifenbesetztem Häubchen, unter dem die +grauen Strähnen des ungeordneten Haares hervorlugten:</p> + +<p>»Ach herrjeses, Herr Pilgram, Herr Pilgram, kommen +Se doch nur mal schnell — 's Kind hat ja en Weinkrampf +— ach es is gräßlich! Kennten Se nich gehn und +en Doktor holen? Ich hab ja keen' Menschen nich im +Hause ...«</p> + +<p>Valentin schoß in die Höhe. »Einen Weinkrampf? Um +Gottes willen, was ist denn passiert?«</p> + +<p>»Ä Rosenbukett is gekommen, groß wie ä Turm ... +un dabei ä Brief, ne, so was von einer Unverschämtheit is +überhaupt noch gar nich dagewäsen ...«</p> + +<p>»Ist sie denn ohnmächtig? Kann ich vielleicht helfen? +Darf ich zu ihr hinein?«</p> + +<p>»I du mein Himmel, Herr Pilgram, se is noch im Neglischee +... na aber, ä Kinstlerin — ä Kinstlerin sieht ja +schließlich ooch im Neglischee ganz anständ'g aus ... kommen +Se nur, Herr Pilgram, helfen Se!«</p> + +<p>Aus der geöffneten Tür kam ein warmer Strom von +Rosenduft ... und Rosen überall, ein Rosenschwall, ein +Rosenwald ... betäubend duftende, schon leise welkende +Rosen ... dazwischen die eigentlichen Blumen der +Saison: Dahlien, Astern, Erika ... und inmitten, auf eine +Chaiselongue hingeworfen, in leidenschaftlichem Schluchzen +— sie ...</p> + +<p>Ein riesiges Arrangement von Rosen und Chrysanthemen, +in Manneshöhe, lag umgestürzt auf dem Boden — +daneben ein aufgerissenes Kuvert mit aufgeprägtem Wappen, +ein zerknitterter Bogen schweren Elfenbeinbriefpapieres, +und — — zwei Hundertmarkscheine ...</p> + +<p>Auf dem Tisch aufgereiht die Karten der Spender der +übrigen Blumenherrlichkeiten — Jucunda war offenbar +eben beschäftigt gewesen, den Gebern zu danken, prompt +und akkurat, wie es zu den geschäftlichen Pflichten einer +vielgefeierten Künstlerin gehört ... da war <em class="gesperrt">das da</em> gekommen ...</p> + +<p>Frau Buchner hob das Briefchen auf, glättete es und +hielt es Pilgram hin. »Da läsen Se's — und sagen Se, +ob so was meeglich is — so eene Gemeinheit —!«</p> + +<p>Jucunda hatte sich beim Klang der Stimme ihrer +Mutter aufgerichtet ... nun tupfte sie rasch mit dem +nassen Tüchlein die Tränen von den glühenden Augen, +ordnete das wirre Haar und verfolgte mit gierigen Blicken +Valentins Gesichtsausdruck, während er das Briefchen +durchflog ...</p> + +<p>Valentin Pilgram las ... und eine dunkle Zornesflamme +schlug über sein feierliches Gesicht.</p> + +<p>»Halunken!« knurrte er.</p> + +<p>Er las weiter — nun wendete er das Blatt und sah +nach der Unterschrift ... und plötzlich wurden seine Züge +ganz starr, und seine Hände ballten sich zur Faust. Dann +las er zu Ende ... ließ das Blatt sinken und starrte die +Schauspielerin an mit Augen, in denen Schreck, fassungs- +und ratlose Bestürzung stand.</p> + +<p>»Sie ... kennen, scheint's, die Herren —?« fragte die +Kanzleirätin.</p> + +<p>»Es scheint, fast — ja ... entsetzlich fatal ...«</p> + +<p>»Am Ende gar — Korpsbrüder von Ihnen —?«</p> + +<p>»Hm — wenn's richtige Korpsbrüder von mir wären +— denen wollt ich die Flötentöne schon beibringen!! — +aber so ...«</p> + +<p>»Aber — Sie kennen die Absender?«</p> + +<p>»Ich ... fürchte ... ich kenn' sie ... von Dillingen ... +von Gorczynski ...« Und mit heftig stammelnden Worten +erklärte er den Damen, wer es sei, den er hinter diesen +Namen vermuten müsse ... und in wie naher Beziehung +diese Herren zu seinem Korps, zu ihm selbst standen ...</p> + +<p>»Da sehen Sie's!« sagte Jucunda. »Ein Erbprinz! Ein +Fürst! das muß man eben einstecken ... nicht mal verklagen +kann man so 'n großes Tier — sonst engagiert +einen kein Hoftheater mehr ... ganz wehrlos und schutzlos +ist man ...«</p> + +<p>Und wiederum flossen die Tränen über das weiße, +herrische Gesicht ... und auch die Mutter, vom herzbrechenden +Weinen der Tochter angesteckt, schluchzte nun +los. Um die Wette weinten die Frauen.</p> + +<p>Es arbeitete heftig in Valentin Pilgrams festem, +offenem Gesicht.</p> + +<p>»Nein,« sagte er plötzlich hart und stand mit einem +Ruck auf. »Schutzlos? Das sind Sie nicht. Guten Morgen, +meine Damen.«</p> + +<p>»Wohin, Herr Pilgram? Was haben Sie denn? Was +ist Ihnen?« rief Jucunda und hielt den Studenten am +Aermel seines Bratenrockes fest.</p> + +<p>»Ich werde Ihnen Genugtuung verschaffen!«</p> + +<p>»Sie — mir? Nein, Herr Pilgram, das ... das geht +nicht ... Sie werden ja die entsetzlichsten Unannehmlichkeiten +haben ... werden sich womöglich gar um meinetwillen +— nein, das will ich nicht — das sollen Sie nicht, +Herr Pilgram!«</p> + +<p>»Nee, nee, Herr Pilgram!« sprudelte auch die Frau +Kanzleirätin, »das dürfen Se nich machen! Das kenn' wir +ja gar nich von Ihn' verlangen! Das dürfen wir ja gar +nich von Ihn' annähm'!«</p> + +<p>»Seien Sie ohne Sorge meinetwegen!« sagte Valentin +und reckte sich zu seiner ganzen Länge. »Ich bin Manns +genug, so eine Affäre standesgemäß zu erledigen.«</p> + +<p>»Nein, Herr Pilgram, das dulde ich unter keinen +Umständen! Wie kämen Sie denn dazu, sich für mich ... +ich bitte Sie, was gehe ich Sie denn überhaupt an?«</p> + +<p>Da sah der Student das schöne Mädchen mit einem +Blick an, vor dem sie die Augen niederschlagen mußte in +Schreck und stolzem Machtgefühl zugleich. Gott, war das +entsetzlich ... war das berauschend schön ... was sie da so +jäh, so unerwartet erlebte ...</p> + +<p>»Erinnern sie sich noch an ... gestern abend?« sagte der +Jüngling. »Was Sie mir da versprochen haben?«</p> + +<p>»Ach ... das war so leichtsinnig daher geredet ...«</p> + +<p>»Von <em class="gesperrt">mir</em> nicht!«</p> + +<p>Ach ... wie süß das war ... dies Bewußtsein, daß +ein Starker, ein Kühner sich einsetzt für dich ...</p> + +<p>Aber nein ... das durfte nicht sein ... mit Blitzesschnelle +flogen die Bilder von hundert schrecklichen Möglichkeiten +an ihrem Geiste vorbei. Er war doch wohl +Jurist — seine Karriere würde er sich ruinieren — sein +Examen zunächst ... und wer weiß — zwar Prinzen — +die schlugen sich ja wohl nicht — aber der Major ... ein +Offizier ... ein Duell ... Himmel, und der junge Mensch +hatte ja doch Eltern daheim ... und schließlich — auch +sie selber konnte eigentlich keinen Skandal gebrauchen ... +was wohl Franz Burg dazu sagen würde ... und ihr +gnädiger, gütiger Herr daheim in Meiningen ...</p> + +<p>»Herr Pilgram — das darf nicht sein! Ich bitte Sie, +wenn Sie wüßten, wie oft unsereine so etwas erleben +muß — wenn man da jedesmal Krach machen wollte! Die +Herren haben's ja wahrscheinlich gar nicht so schlimm +gemeint — haben sich wohl gar nichts dabei gedacht —«</p> + +<p>»Sie haben ... weinen müssen ...« sagte Valentin +Pilgram durch die Zähne ... »das sollen sie mir bezahlen +... die zwei.«</p> + +<p>Und mit sanftem Druck machte er die große, schlanke +Hand los, die seinen Rockärmel noch immer gefaßt hielt, +küßte sie ehrerbietig und ging zur Tür.</p> + +<p>»Ach — die dummen Tränen —« rief Jucunda — +»das macht nichts, die sitzen einem Mädchen ja so lose ... +sehen Sie, ich lache ja schon wieder ... ich lache ja doch —«</p> + +<p>Und sieh: da liefen ihr wirklich aufs neue die heißen, +hellen Tropfen über die glühenden Backen ... sie schluchzte +wie ein Kind:</p> + +<p>»Ich will aber doch nicht — Sie sollen nicht, Herr +Pilgram —!«</p> + +<p>Der war schon aus der Tür, schritt in seine Bude hinüber, +riß die neuste grüne Mütze vom Nagel und stülpte +sie auf den Schädel. Nahm sein silberbeschlagenes spanisches +Rohr und ging zum Flur ... klinkte mit hartem +Ruck die Pforte auf und stieg mit hallenden Tritten +die Treppen hinab. Aus der steinumschnörkelten Pforte +des altersgeschwärzten Barockhauses trat er auf die belebte +Katharinenstraße, ging den Markt hinunter am +Ladengewimmel des Rathausparterres vorbei und stolzierte +grimmigen Schrittes die Grimm'sche hinab.</p> + +<p>Und dabei sann er, was zu tun. Also jetzt werde ich +die beiden Burschen ankontrahieren müssen — nicht auf +Pistolen, bah! Vor die Klinge sollen sie mir, vor die +krumme! Freilich, der Prinz wird sich wohl hinter seine +Hausgesetze verkriechen und mir einen Ersatzmann präsentieren +... aber der Major, dieser aalglatte Streber — +der muß 'ran! Hat ja auch wohl jedenfalls den saubern +Wisch verfaßt — denn des Prinzen kindliche Pfote war +das nicht, die kenn' ich doch! Na, und dann wollen wir +dem mal zeigen, was 'ne Prim ist!</p> + +<p>Hm ... aber ... wie stellt sich das Korps dazu? Der +Prinz ist Konkneipant unseres Bundes, trägt offiziell seine +Farben ... also ... ich werde austreten müssen ... +und nicht nur <i lang="la">pro forma</i>, denn sie können mir ... nach +dem Skandal können sie mir niemals das Band zurückgeben +...</p> + +<p>Teufel auch, da hab' ich mir ja eine schöne Suppe eingerührt +...</p> + +<p>Aber was kann das helfen ... Ritterpflicht ist Ritterpflicht +... kein Mädchen, und wär's zehnmal eine Komödiantin +— keine soll klagen, daß ihre Ehre schutzlos sei, solange +Valentin Pilgram noch eine Klinge führen kann ... +Hatte er sich nicht ihrem Dienste gelobt — gestern abend? +Und wie rasch war das nun gekommen, daß dies Gelöbnis +ihn zu Taten rief!</p> + +<p>Geld hatte man ihr zu bieten gewagt ... ihr, die ganz +Deutschland vergötterte ... ihr, die vor seinen Augen dastand +in so stolzer Reinheit, wie eine Heilige ... die hatte +man kaufen wollen wie eine ... wie eine aus den dunklen +Gäßchen der Stadt, durch die am hellsten Tage niemand +gehen mochte —?! Das forderte Blut — nur mit +Blut war das zu sühnen —!</p> + +<p>Aber ... du selber, Valentin Pilgram —?</p> + +<p>Hm ... ist das nun nicht eigentlich doch ein Narrenstreich? +Hat sie nicht doch recht gehabt, als sie sagte: was +geh' ich Sie an —?!</p> + +<p>O Valentin Pilgram, Rechtskandidat im achten Semester +— greif' in deine Brust und frage dich: geht sie +dich an — diese — diese da?!</p> + +<p>Ja — wenn eine in der Welt, dann geht diese da dich +an ... denn, Valentin Pilgram, so närrisch das auch klingen +mag ... Du bist ... diesem Mädchen bist du verfallen +seit dem Augenblick, als sie durch die Gasse des +jauchzenden Volkes vor Karl den Siebenten trat ... und +zugleich in dein Leben, Valentin Pilgram, schicksalsgewaltig +... für immer — für alle deine Tage —!</p> + +<p>Nun lag vor dem Schreitenden, herbstsonnenübergoldet, +der Augustusplatz: zur Rechten flimmerten die +Wasser des Mendebrunnens, reckte sich die finsterblinkende +Front des Museums; zur Linken stieg in heiterer Anmut +der köstliche Bau des Neuen Theaters ins duftige Blau. +Dorthin strebte Franconias Senior, denn er wußte zu +dieser Stunde das Korps im Restaurant auf der Theaterterrasse +zum Frühschoppen versammelt. Vor ihm wanderte +noch eine andere grüne Mütze: Pilgram ließ den Frankenpfiff +schallen: da fuhr der Kopf unter der grünen Fuchsmütze +herum:</p> + +<p>»Ah ... Pilgram —«</p> + +<p>Ehrerbietig zog das blonde Füchschen vor dem gestrengen +Ersten den Deckel und sprang heran.</p> + +<p>»Also, Hartwig, geh' zum Frühschoppen und sage dem +Fuchsmajor, er möge sofort die Korpsburschen zum außerordentlichen +Korpskonvent zusammenbitten! Ich erwarte +die Herren im Flügelzimmer des Restaurants — verstanden?«</p> + +<p>»Gewiß, gewiß, Pilgram — ich laufe ...«</p> + +<p>Und vom muntern Frühtrunk weg, von der sonnüberglühten +Terrasse, wo bei rauschender Musik die Korps ihren +offiziellen Frühschoppen hielten inmitten neugierig beobachtender +Fremden, verschwand ein wohllöblicher C. C. +der Franconia unter dem Rundbogen, der zum inneren +Lokal führte, und versammelte sich in einem kühlen, abseitigen +Gastzimmer zum Konvent — gespannt, was diese +unerwartete Ladung zu bedeuten haben möge.</p> + +<p>Die Franken waren's gewohnt, daß ein Ausdruck beklemmender +Feierlichkeit sich über das hagere Gesicht ihres +Ersten legte, wenn er den Korpskonvent eröffnete: aber +so ... so unheimlich offiziell hatten sie ihn doch noch niemals +gesehen.</p> + +<p>»Ich habe dem C. C. von einer persönlichen Angelegenheit +Mitteilung zu machen, die — zu meinem +größten Bedauern — mich in einen Widerspruch mit den +Interessen des Korps bringt. Unser Konkneipant, Seine +Durchlaucht der Erbprinz, und dessen Begleiter Major +v. Gorczynski haben sich einer schweren Beleidigung gegen +eine Dame schuldig gemacht. Diese Dame ... diese Dame +steht unter meinem Schutze ... und deshalb sehe ich mich +genötigt, diesen Herren eine schwere Forderung zu übersenden. +Ich kann natürlich nicht erwarten, daß das Korps +den Erbprinzen zur Verantwortung zieht ... und deshalb +bleibt mir nichts übrig, als den C. C. zu bitten, mir die +Entlassung ohne Farben zu gewähren, damit ich den +Ehrenhandel mit einem Herrn, der offiziell zu den Angehörigen +des Korps zählt, zum Austrag bringen kann. +Wünscht jemand zu meinem Antrage das Wort?«</p> + +<p>In stummer Verblüffung hatten die jungen Herren den +Vortrag ihres Häuptlings angehört — angesteckt von +seiner Erregung, seinem fiebernden Ernst. Nun baten fast +sämtliche Korpsburschen ums Wort und verlangten nähere +Erklärungen. Man fragte, wie es möglich sein könne, +daß der junge Prinz mit einer Dame, welche der nächsten +Verwandtschaft ihres Korpsbruders angehörte — denn +nur um eine solche Dame konnte es sich doch handeln — +überhaupt in Berührung gekommen sein könne?</p> + +<p>»Die Dame, für die ich einzutreten habe, ist keine Verwandte +von mir ... es handelt sich um ein junges Mädchen, +das außer seinem Vater, einem älteren, gebrechlichen +Herrn, keinen männlichen Schutz zur Seite hat — und für +das einzutreten mir deshalb als die Pflicht eines Ehrenmannes +erscheint, zumal diese junge Dame zugleich eine +berühmte und gefeierte Künstlerin ist ... es handelt sich +um die herzoglich meiningische Hofschauspielerin Jucunda +Buchner.«</p> + +<p>Ein unwillkürlicher Laut des Staunens, der tiefsten +Ueberraschung entfuhr jedem der jungen Herren. Keiner +konnte sich den Zusammenhang erklären ... wußte doch +außer Hans Thumser noch nicht ein einziger von ihnen, +daß ihr Erster, der notorische Verächter alles dessen, was +Kunst und Künstler hieß, überhaupt gestern abend bei den +»Meiningern« gewesen war ...</p> + +<p>»Ich bitt' ums Wort!« rief Ivo Volkner, der temperamentvolle +Rheinländer, und als der Erste dem Konvent +Silentium für Volkner anbefohlen: »Ja, lieber Pilgram +— ohne uns in Deine persönlichen Angelegenheiten +hineinmischen zu wollen — aber Deine Erklärungen sind +doch für uns alle dermaßen — überraschend, daß wir doch +wohl um etwas genauere Auskunft bitten müssen ... was +ist der ... jungen Dame ... denn eigentlich passiert ... +und wie kommst Du — gerade Du dazu, Dich zu ihrem +Ritter aufzuwerfen?«</p> + +<p>»Ich will ... zuerst diese letzte Frage beantworten. +Oder vielmehr nicht beantworten. Liebe Korpsbrüder, +Ihr kennt mich und wißt: ich weiß im allgemeinen, was +ich tue ... Und wenn ich Euch sage, das, was ich zu tun +vorhabe, das muß sein — na, dann darf ich vielleicht von +Euch erwarten, daß Ihr mir das glaubt. Hab' ich recht?«</p> + +<p>Allgemeines Gemurmel der Zustimmung.</p> + +<p>»Also noch einmal: ich halte mich für verpflichtet, für +die Dame einzutreten ... und bitte den C. C. ... von einer +näheren Darlegung meiner Motive ... Abstand zu +nehmen.«</p> + +<p>Volkner bat ums Wort und fragte:</p> + +<p>»Ohne weiter in Dich dringen zu wollen, Pilgram: wir +hören doch alle in diesem Augenblick zum ersten Male, +daß Du die Dame überhaupt kennst. Sollten wir dann +nicht wenigstens erfahren, wann und ... unter welchen +Umständen Du ... ihr denn eigentlich dermaßen nähergetreten +bist, daß Du — hm! daß Du nun dermaßen für +sie in die Verlängerung springen willst?«</p> + +<p>»Das kann ich Euch mitteilen ... aber zur Erklärung +meiner ... meines Entschlusses wird's Euch wenig +nützen ... ich muß da schon an ... an Euer korpsbrüderliches +Vertrauen appellieren ... ich kenne Fräulein Buchner +erst seit gestern abend ... sie ist die einzige Tochter +des Kanzleirats Buchner ... bei dem ich zur Miete wohne.«</p> + +<p>»Also sozusagen — <i lang="la">filia hospitalis</i>!« sagte Volkner, +und ein kurzes, verständnisvolles Schmunzeln ging über +die erregten Gesichter der Korpsbrüder.</p> + +<p>»Nun, ich denke, ich habe Euch zu diesem Punkte mitgeteilt, +was ... was sich irgend mitteilen läßt. Und zweitens — was +wolltest Du ferner noch wissen, Volkner?«</p> + +<p>»Ja — was denn der Erbprinz eigentlich gemacht +hat ...«</p> + +<p>»Er hat sie durch seinen Begleiter zum Souper einladen +lassen — na, das möchte ja allenfalls gehen ... aber er +hat dieser Einladung dadurch einen nicht mißzuverstehenden +Charakter gegeben — daß er ... daß er zwei Hundertmarkscheine +beigefügt hat ...«</p> + +<p>Das Lächeln, das bei Erwähnung der Soupereinladung +um die Lippen der jungen Herren aufgezuckt hatte, erlosch +... Rufe wurden laut:</p> + +<p>»Geschmacklosigkeit!«</p> + +<p>»Donnerwetter, der geht aber aufs Ganze!«</p> + +<p>»Na ja — ein Förscht — der denkt eben, er braucht +bloß auf'n Knopp zu drücken ...«</p> + +<p>»Ich denke, liebe Korpsbrüder, Ihr seht ein, daß eine +solche infame Beleidigung — einem anständigen Mädchen +gegenüber — Fräulein Buchner <em class="gesperrt">ist</em> ein anständiges Mädchen, +und wenn sie zehnmal eine Komödiantin ist — was +sagst Du, Thumser? Du kennst sie ja auch?«</p> + +<p>Hans Thumser hatte mit einem wahren Toben der Gefühle +die Verhandlung verfolgt, ohne selbst das Wort zu +nehmen. Mein Gott, wie war aus dem strahlenden Spiel +von gestern so rasch ein grotesker, tragikomisch grinsender +Ernst geworden! Und was war doch dieser offizielle, +banausische Pilgram für ein Prachtkerl, daß er sich für +ein jählings erwachtes Gefühl gleich so ganz und rückhaltlos +in die Schanze warf!</p> + +<p>Ach, und du, Hans Thumser? was soll denn heut nachmittag +werden? Mit was für Träumen, was für Begehrnissen, +Hans Thumser, trägst du dich?!</p> + +<p>»Ein anständiges Mädchen?« rief er zur Antwort auf +die Frage des Ersten. »Eine Königin ist sie ... eine +Göttin ... Pilgram, ich beneide Dich um das Glück, für +sie vom Leder ziehen zu dürfen!«</p> + +<p>»So überschwenglich brauchen wir das gar nicht mal +auszudrücken,« sagte der Erste. »Aber ein anständiges +Mädchen ist sie ... und da ich nun mal zufällig das Pech +oder ... das Glück habe, mit ihr unter einem Dache zu +wohnen ... und der erste honorige Mensch zu sein, dem +sie sich anvertraut hat ... so bleibt ja wohl nichts andres +übrig, als die Konsequenzen zu ziehen ...«</p> + +<p>Bei diesen so nüchtern klingenden Worten schwoll's in all +den jungen Burschenherzen. Es war der romantische Glanz, +der diese Tat ihres Korpsbruders, ihres Führers, umwob, +der ihnen allen Sinne und Urteil blendete. Wenn auch +der Idealismus, den das Gymnasium in ihnen erzogen, +durch die Formen blasierten, kaltschnäuzigen Lebemannstums +verdeckt, ja stellenweise überwuchert sein mochte — +noch lebte in ihnen allen etwas von dem Adelsgeiste, +unter dessen Herrschaft ihre ganze Jugend, die Formung +ihrer Seelen gestanden ... Wohl stieg in manchem von +ihnen das Gefühl auf, als hätte sich doch am Ende ein +Kompromiß finden lassen ... noch bedächtigere Seelen +bedachten gar insgeheim, daß eine solche Katastrophe, auch +wenn Pilgram vorher offiziell aus dem Korps ausschiede, +doch nicht ohne Folgen für die Beziehungen des Korps +zu dem Erbprinzen und damit vielleicht überhaupt zu den +deutschen Fürstensöhnen bleiben könne ... In weiter +Ferne dämmerte gar hie und da etwas wie der Gedanke +an verpfuschte Karriere, verspielte Zukunftsaussichten ... +aber:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Wer die Folgen ängstlich zuvor erwägt,<br /></span> +<span class="i0">Der beugt sich, wo man die Tiefquart schlägt —<br /></span> +<span class="i0">Frei ist der Bursch!«<br /></span> +</div></div> + +<p>— das galt auch heute noch, das galt, das sang man nicht +nur, so handelte man auch — hol's der Teufel!</p> + +<p>Einstimmig ging Pilgrams Antrag durch, ihm die +ehrenvolle Entlassung ohne Band zu erteilen ... Aber +durch jedes Herz ging's wie ein schriller Riß, als nun +Valentin Pilgram stumm das grün-gold-rote Band von +der Brust zog, es stumm auf die Mütze legte, die auf dem +Tische lag, sich mit schweigendem Händedruck von den ... +ehemaligen Korpsbrüdern verabschiedete ... und, mit +einem Handwink im Kreise, an ihnen vorüberschritt ...</p> + +<p>Er ging durch den Schenkraum des Theaterrestaurants, +schritt barhaupt quer über den Augustusplatz, kaufte sich +in der Passage für seinen letzten Taler (Gott sei Dank, +morgen ist der Erste!) einen einigermaßen schäbigen Filzhut +und kehrte dann zur Theaterterrasse zurück. Grüßend +schritt er am Frankentisch vorbei, wo die harrenden Füchse +in stummer Verwunderung ihre Mützen zogen, lüftete +flüchtig den Hut zu den Tischen der übrigen Korps und +trat auf den Neo-Borussentisch zu, an dessen Spitze der +Erste, Herr Borgmann, mit dem gewohnten süffisanten +Lächeln präsidierte.</p> + +<p>»Herr Borgmann — kann ich Sie einen Moment +sprechen?«</p> + +<p>»Mit dem größten Vergnügen, Herr Pilgram ...«</p> + +<p>Die beiden jungen Herren traten abseits an den Rand +der Terrasse, von der der Blick hinschweifte zum +zitternden Spiegel des Schwanenteiches, auf das braune, +rieselnde Laub der Anlagen auf dem alten Umwallungsgebiet.</p> + +<p>»Zunächst gestatte ich mir, Ihnen anzuzeigen, daß ich +aus dem Korps Franconia ausgeschieden bin ...«</p> + +<p>»Herr Pilgram —!«</p> + +<p>»Sie werden den Grund sogleich erraten: Ich bitte +einen wohllöblichen C. C. der Neo-Borussia um Waffenschutz +und zugleich Sie persönlich um die große Liebenswürdigkeit, +Seiner Durchlaucht dem Erbprinzen von Nassau-Dillingen +und Herrn Major von Gorczynski je eine +Forderung auf schwere Säbel ohne Binden und Bandagen +auf fünfundzwanzig Minuten bis zur Abfuhr zu überbringen.«</p> + +<p class="start-chapI space-above">In ratloser Verblüffung waren Mutter und Tochter +zurückgeblieben, als ihr Student sich so unerwartet und +kategorisch zu Jucundas Ritter aufgeworfen. Nun sie +allein waren, wich die erste Rührung und Ergriffenheit +bald einem kaltblütigen Erwägen.</p> + +<p>»Das gibt weeß Knebbchen än richt'gen Schkandal!« +platzte Mutter Doris heraus. »Gucke, das hast Du nu +davon, daß Du Dich so hast vergessen kenn'! Schließlich — +so gefährlich war doch am Ende die ganze Geschichte nu +nich! Man hätte den Herrn ihr Geld einfach sollen wiederschicken +— mit Abzug von's Porto nadierlich — un den +Korb zum Gärtner zurück, un all's war in Ordnung! +Statt dem wird der nun hingehn und wird'n fordern, +den Erbprinz, un der Krach is fertig! Un schließlich, was +wer'n die Leite sagen? Die Buchner hat's mit ä Studenten, +wer'n se sagen!«</p> + +<p>Eine Flut von wirren Gedanken wirbelte durch +Jucundas Hirn. Da war so unendlich Vieles, was beglückte, +erregte, schmeichelte, stachelte, berauschte! Welch eine +Macht ging von ihr aus — trieb den langen Jungen, einen +Sohn aus gutem Hause, den Ersten Chargierten des +ältesten und angesehensten Korps in Leipzig — sie war +ihren Kindheitserinnerungen noch nahe genug, fühlte sich +noch immer als Tochter eines Hauses, das jahraus, jahrein +nur Korpsstudenten beherbergte — wußte das als eine +Ehre zu schätzen ... ihn trieb sie in tolle, aberwitzige +Abenteuer, diese unheimliche Macht, die von ihr ausging +... Achtzehn Jahre, und schon der Mittelpunkt von +Tragödien und Katastrophen ...</p> + +<p>Aber da war noch eine andere Stimme: die Stimme +der kalt rechnenden Vernunft, die Stimme der kleinbürgerlichen +Gerissenheit, die das früh gewitzigte Töchterchen +einer engbegrenzten Spießerwelt auf ihrem Anstieg +in lichte Höhen des Daseins bisher so sicher geleitet hatte: +die warnte vor dem Skandal ... mahnte zur Ruhe, zur +Vorsicht ...</p> + +<p>»Wenn ich nur wüßte, was Hoheit in Meiningen zu +so einer Geschichte sagen würde ...«</p> + +<p>»Nu, ich glaub' nich, daß der gnädigste Herr sähre +entzickt mechte sinn, wenn's Geschichten gibt wegen en +Prinzen aus fürstlichem Hause ...« meinte die Mutter.</p> + +<p>Jucunda sann, an wen sie sich wohl um Rat wenden +könnte. Franz Burg! schoß es ihr durch den Sinn. Der +wackere, selbstlose Freund und Förderer hätte es wohl +verdient, daß sie sich überhaupt zuerst an ihn gewandt +hätte ... Und das hätte sie ja auch sicherlich getan, wenn +nicht ihre Nerven, noch nachzitternd von den gestrigen +Fiebern, ihr den Streich mit dem Weinkrampf gespielt +hätten ... ja, und da war's eben alles so von selbst gekommen, +das Andre, das Unwahrscheinliche, das süß +Berauschende und Erschreckende ...</p> + +<p>Mutter Doris war natürlich sehr einverstanden ... +Und alsbald war Jucunda auf dem Wege zu Franz Burg +... wie sie immer zu Franz Burg gegangen war, wenn +sie nicht mehr aus noch ein wußte ... es gingen sehr viele +Menschen zu Franz Burg, wenn sie nicht mehr aus noch +ein wußten ...</p> + +<p>Ach, wie ging sie gern zu Franz Burg! Erstens war +es ein behagliches Bewußtsein, daß er verheiratet war — +sehr glücklich verheiratet. Zweitens war's ein sehr behagliches +Bewußtsein, daß — nun daß er trotzdem heftig für +sie schwärmte — so was merkt man doch, nicht wahr? — +daß sich hinter seiner trockenen, reservierten Freundschaft +eine Empfindung versteckte, die gewaltsam gebändigt +werden mußte ...</p> + +<p>Gott, ist das entzückend, so zu fühlen, zu wissen, daß +man wie eine allvergötterte Königin durchs Leben +schreitet ... Ihr fiel ein, daß sie einmal von den Indianern +gelesen hatte, sie sammelten die Skalpe ihrer erlegten +Feinde ... O Jucunda — wenn du die Skalpe +deiner zur Strecke gebrachten Verehrer sammeln würdest +... was für ein Museum käme da zusammen!</p> + +<p>So sann Jucunda, während sie hastig die Petersstraße +hinabschritt, den Weg, den man sie gestern im Triumphzug +heimwärtsgeführt ... Unter dem Torweg kaufte sie +sich die Morgenzeitungen, außer dem Tageblatt, das sie +daheim zum Frühstück schon verschlungen, und las die +Kritiken ... eitel Hosianna über den ganzen Abend, und +sie natürlich der Mittelpunkt ... und hier ein Bericht über +ihre Heimkehr, feuilletonistisch zurechtgestutzt — brav so, +brav, na ja, so was macht eine bildschöne Reklame, das +darf öfter passieren!</p> + +<p>Erst während sie die Anlagen am Roßplatz kreuzte, +den Königsplatz überschritt, kam ihr wieder in den Sinn, +weshalb sie sich eigentlich heut morgen zum Theater aufgemacht +hatte, wo sie doch auf Rechnung der gestrigen +Strapaze von der Probe dispensiert war. Nein, dieser +gute Pilgram — so ein Starrschädel! Eigentlich rührend ... +und doch ein bißchen zum Lachen, daß er sich ihretwegen +... des lumpigen Billetts wegen, das doch wahrhaftig +nicht das erste gewesen war und auch nicht das letzte sein +würde ... daß er sich deswegen mit Tod und Teufel +schlagen wollte — sich sein Leben verpfuschen reineweg! +Also solche Männer gab es doch auch ... eigentlich eine +Wohltat, wenn man so inmitten dieses marklosen, +irrlichtelierenden, an großen Worten sich betrinkenden +und vor jeder Tat mit eingekniffenem Schwanz abseits +schleichenden Künstlervolks lebte ... Franz Burg war ja +eine Ausnahme ... aber ob er sich ihretwegen auch nur +einem Schnupfen ausgesetzt hätte statt einer Degenklinge +— das bezweifelte Jucunda denn doch eigentlich ...</p> + +<p>Da war das Carolatheater ... Jucunda schritt durch +den Eingang, überquerte das schmale Höfchen, den Kassenflur, +in dem sich bereits wieder das Publikum um die +Abendplätze prügelte — Gott, wie wird Hoheit sich über die +Kassenrapporte freuen! — schlüpfte durch die knarrende Eisentür +in den Bühnenumgang und horchte am Pförtchen, das +zur Bühne führte. Burg arrangierte eben das »Lager« ...</p> + +<p>»Kinder,« hörte sie seine Stimme, »faßt Eure Kriegsknechte +man recht feste um 'n Hals — Ihr seid jetzt keine +höheren Töchter mehr, Ihr seid Lagerdirnen des Friedländers, +die hatten etwas weniger etepetetige Umgangsformen +als die Leipzigerinnen von 1888! Und wenn's +aus Versehen mal 'nen handfesten Kuß absetzt — na, für +die Kunst muß man eben Opfer bringen können!«</p> + +<p>Ja — das konnte natürlich bis zur Erschlaffung so +weitergehen ... und dabei war doch Eile not ... Es +half nichts, sie mußte unterbrechen ... obschon sie wußte, +daß er das auf den Tod nicht leiden konnte ... Sie trat +in den halbdunklen Bühnenraum, den nur die offenen +Gasflammen der Proberampe matt erhellten. Da stand +Franz Burg neben dem Regietisch, umringt von der andächtig +lauschenden Schar des »Volkes«.</p> + +<p>»Suchen Sie mich, Buchner?«</p> + +<p>»Wenn Sie einen Moment Zeit für mich hätten, +Meister ... es ist dringend ...«</p> + +<p>Jucunda störte nicht ohne Grund — dafür kannte er sie. +Aber allzu gnädig klang es nicht, wie er drinnen im Konversationszimmer +ein kurzes »Also los!« hervorstieß.</p> + +<p>Und Jucunda berichtete. Ausführlich entschuldigte sie +sich, daß sie sich nicht zuerst an ihn gewandt ... ließ deutlich +durchblicken, daß ihr die ganze Geschichte nur so über +den Kopf gekommen ...</p> + +<p>Ein sardonisches Schmunzeln zog über's ausgearbeitete +Gesicht des Oberregisseurs, in seinen dunklen, tiefliegenden +Augen tanzten tausend Teufelchen.</p> + +<p>»Un wat sall ick dorbi dauhn?«</p> + +<p>»Helfen sollen Sie, lieber Freund! Das darf doch nicht +geschehen!«</p> + +<p>»Ganz im Gegenteil, Kindchen — einer von den dreien +muß auf der Strecke bleiben — noch besser alle! Die +Schädel sollen sie sich spalten — einander auffressen wie +die beiden Löwen in dem berühmten Liede:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">Zwei Löwen gingen einst selband<br /></span> +<span class="i0">In einem Wald spazoren,<br /></span> +<span class="i0">Und haben da, von Wut entbrannt,<br /></span> +<span class="i0">Einander aufgezohren!«<br /></span> +</div></div> + +<p>»Das — kann Ihr Ernst nicht sein!«</p> + +<p>»Aber blutiger! Was liegt an einem Rechtskandidaten, +einem Erbprinzen, einem Stabsoffizier! Hin müssen sie +allesamt werden, damit Jucunda Buchner im Triumph +über ihren Leichnamen zum Tempel des Ruhms emporwandelt!«</p> + +<p>»Ach — mir ist wirklich nicht nach Späßen zumut!«</p> + +<p>»Denken Sie, mir?! Merken Sie nicht, Kindchen: alles, +was nicht zum Bau gehört, ist Publikum, das heißt, einzig +und allein dazu da, uns zu bewundern, zu feiern, zu erhöhen +... Gestern abend haben sie Ihnen die Pferde +ausgespannt und Sie im Wagen nach Hause gezogen: +geben Sie mal acht, wenn Ihr Student und Ihr Erbprinz +sich Ihretwegen gegenseitig aufgespießt haben — was die +Leute dann erst mit Ihnen aufstecken! Auf Händen werden +Sie dann nach Hause getragen!«</p> + +<p>»Und ... was wird Hoheit zu der Geschichte sagen?«</p> + +<p>»Hm ... Hoheit ...« Burg sann einen Augenblick nach. +Allerdings, das war zu erwägen ... An Hoheit durfte +so eine kindische Affäre natürlich nicht herankommen ...</p> + +<p>Aber ... würde es denn überhaupt eine Affäre +werden? Franz Burg kannte die Welt und wußte, daß +in ihr nichts so heiß gegessen wird, wie jugendlicher Ueberschwang +es kochen möchte ...</p> + +<p>»Na ... so weit sind wir ja noch lange nicht!« lachte +er. »Vorläufig wollen wir mal ruhig zusehen, wie das +Rummelchen sich historisch entwickelt ... Is ja ganz nett, +auch mal Zuschauer spielen zu dürfen! So, und nun muß +ich wieder Affen dressieren — komm her, Langbeinchen, +gib mir 'n Kuß!«</p> + +<p class="start-chapA space-above">Als Jucunda auf der Straße stand, sah sie ihre Kollegin +Thöny drüben in einem Fenster des ersten Stockes +liegen. Sie winkte ihr zu.</p> + +<p>»Was haben Sie denn da drinnen gemacht, Buchner? +Kommen Sie 'nauf, wir schwatzen ein bissel!«</p> + +<p>Die beiden Rivalinnen kamen rasch ins Gespräch. +Plötzlich fiel's Jucunda ein, daß ihre Mutter daheim mit +dem Mittagessen wartete: Na, dem ließ sich abhelfen — +es war nicht alle Tage so nett — nicht alle Tage vertrug +man sich so gut mit seinen Kolleginnen — das mußte man +auskosten. Sie pfiff sich einen barfüßigen Jungen von +der Straße herauf und schickte ihn mit einem Markstück +und einem Stadttelegramm zum nächsten Postamt.</p> + +<p class="quote">»Muß probieren, nicht zum Essen erwarten. Jucunda.«</p> + +<p>Die Mädchen teilten das frugale Mittagsmahl, das +Mutter Ach ihrer Pensionärin gekocht hatte, und +schwatzten, küßten sich, schworen sich ewige Freundschaft ... +und Asta Thöny hatte ganz vergessen, daß sie noch heut +nacht so heiß geweint hatte, weil man Jucunda Buchner +die Pferde ausgespannt hatte und ihr nicht ...</p> + +<p>Und Jucunda Buchner dachte nicht mit einem Sterbensgedanken +mehr daran, daß um ihretwillen ein junger, +wackerer Gesell im Begriff war, seine Zukunft und sein +Leben auf ein tolles Spiel zu setzen ...</p> + +<p class="start-chapI space-above">Erbprinz Heribert und sein Mentor waren beim +Dessert ... Zwei junge Leutnants vom hundertsiebenten +Regiment, Söhne verarmter Nassau-Dillingenscher +Adelsfamilien, deren alte Herren nur Infanteriezulage +erschwingen konnten, waren zu Tische geladen. Man +trank Pommery und beklatschte Hofskandäler der benachbarten +Fürstenhöfe — da wurde in dringlicher, persönlicher +Angelegenheit Herr Studiosus Borgmann Neo-Borussiae +gemeldet.</p> + +<p>»Hm ... dringliche, persönliche Angelegenheit? Also +bitte ins Empfangszimmer ... Entschuldigen Sie mich +einen Augenblick, meine Herren ...«</p> + +<p>Sporenklirrend ging der Prinz — den militärischen +Gästen zu Ehren war er heut in der Uniform seiner +Sophiendragoner — in den Salon hinüber, dessen +konventionelle Hoteleleganz durch ein paar erlesene Stücke +aus dem erbprinzlichen Schloß Beauregard eine Art persönliche +Note empfangen hatte.</p> + +<p>Herr Borgmann verneigte sich tief. Unter seiner +schwarzen Kompresse waren Stirn und Nase erblaßt vor +feierlicher Erregung.</p> + +<p>»Durchlaucht ... ich bedaure unendlich ... furchtbar +peinliche Mission ...«</p> + +<p>»Darf ich bitten, Platz zu nehmen?«</p> + +<p>Stotternd entledigte sich Herr Borgmann seines Auftrages.</p> + +<p>»Hören Sie mal, mein Verehrtester — das ist ein +Witz ... aber ein fader!« sagte der Erbprinz. »Einen +Augenblick ... ich werde Herrn von Gorczynski rufen +lassen, der ist ebenfalls beteiligt ...«</p> + +<p>Er klingelte und befahl, den Major zu bitten.</p> + +<p>»Nehmen Sie mir die Frage nicht übel, Herr Borgmann +— ist bei Ihrem Herrn Auftraggeber vielleicht eine +Schraube los?«</p> + +<p>»Ich bedaure, als Kartellträger eine Kritik an dem +Inhalt meines Auftrages ... weder selbst ausüben noch ... +entgegennehmen zu dürfen ...«</p> + +<p>»Sehr korrekt!« lobte der Erbprinz. »Sie haben ganz +recht — verzeihen Sie. Aber ich bin einstweilen dermaßen +baff ... So was hab' ich denn doch nicht für möglich +gehalten.«</p> + +<p>Und zu dem eintretenden Major mit einem boshaften +Schmunzeln:</p> + +<p>»Nun sagen Sie mal, mein Verehrtester — was haben +Sie uns da denn eigentlich eingebrockt? Wir werden +gefordert! Wir sollen uns prügeln — weil wir den perversen +Wunsch geäußert haben, mit der Jungfrau von +Orleans zu soupieren!«</p> + +<p>Der Major begriff nicht — mußte erst völlig aufgeklärt +werden — und dann platzte er hell heraus ... Der Prinz +stimmte ein, auch Borgmann glaubte aus schuldiger Höflichkeit +mitlachen zu müssen ...</p> + +<p>»In der Tat, die Sache ist zum Wälzen,« sagte der +Prinz — »aber Teufel auch, wie bringen wir diesen +rabiaten Burschen, den guten Pilgram, zur Ruhe? Wie +die ganze verfahrene Karre wieder ins Gleis? Ich danke +für einen Skandal ... die Sache muß unbedingt in aller +Stille arrangiert werden.«</p> + +<p>»Durchlaucht,« sagte der Major, »ich bin natürlich +schuld. Ich habe unsre ... hm, hm ... unsre vollkommen +harmlose Soupereinladung scheinbar doch ein bißchen zu +herausfordernd stilisiert ... ich übernehme selbstverständlich +jede Verantwortung. Zunächst werde ich zu Fräulein +Buchner hinfahren, mich als den Schreiber des ... verhängnisvollen +Zettels bekennen ... und für mich, als den +allein schuldigen Teil — die Verzeihung dieser ... nun der +jungen Dame erbitten. Damit dürfte dann wohl die Angelegenheit +vollkommen erledigt sein — nicht wahr, Herr +Borgmann?«</p> + +<p>»Hm ... ich will's hoffen,« meinte Herr Borgmann +etwas kleinlaut. »Wenn ich den Fall richtig taxiere, ist +mein Herr Auftraggeber in ... na, in gewissen ... +heiligen ... Gefühlen gekränkt ... die bei etwas +temperamentvollen jungen Leuten leicht eine ... etwas +explosive Form annehmen ...«</p> + +<p>»Ach so — Koller nennt man das ja wohl,« näselte +der Erbprinz. »Ja ... aber wenn ein solcher — hm ... +pathologischer Zustand gemeingefährlich wird, dann muß +eben eine Radikalkur versucht werden. Aeh — die Sache +ödet mich ... Ich wünsche, lieber Herr von Gorczynski, +daß Sie die Angelegenheit völlig ins Reine bringen, verstehen +Sie mich?«</p> + +<p>»Gewiß, gewiß, Durchlaucht, ich werde es an nichts +fehlen lassen ...« hastete der Major beflissen.</p> + +<p>»Und Sie, Herr Borgmann? Ich rechne auf Ihre +Mitwirkung zu einer absolut geräuschlosen Beilegung!«</p> + +<p>»Durchlaucht wollen versichert sein, daß ich mein möglichstes +tun werde!«</p> + +<p>Mit kurzer Verneigung schritt der Prinz an den beiden +Herren vorüber und überließ sie ihrer Ratlosigkeit. Auf +dem Wege zum Speisesalon brach er in ein schallendes +Gelächter aus.</p> + +<p>So eine gerissene Katze — bringt's fertig, einen +Prinzen, einen Prinzenbegleiter und einen langen Laban +von Schlagetot vor ihren Reklamewagen zu spannen ... +und sowas ist achtzehn Jahre alt und spielt weißgewaschene +Tugendengel dermaßen überzeugend, daß einem ganz +kniefällig dabei zumute wird ... Na, warte Du, Dich +zähm' ich mir noch mal, Du süße, weiße Bestie Du — das +lohnt doch noch der Mühe!</p> + +<p>»Sie, lieber Aldringen, geben Sie mal 'n Glas +Pommery — aber etwas lebhaft, bitte!«</p> +</div> + +<div> +<h2>7.</h2> + +<p class="start-chapI">Major von Gorczynski hatte beschlossen, den Stier bei +den Hörnern zu packen. So etwas Blödsinniges war +ihm in seinem ganzen Leben noch nicht passiert! Eine +Soupereinladung an eine Bühnenprinzessin, die mit einer +Säbelforderung seitens eines Korpsstudenten beantwortet +wird! Und noch dazu eines Korpsstudenten, von dem man +mit positiver Bestimmtheit weiß, daß er allem, was Theater +und Theaterweiber heißt, weltenfern steht! Das war zu +abgeschmackt ... Was konnte nur vorgegangen sein, das +diese ausgefallene Konstellation ermöglicht hatte! Das +mußte man herausbekommen ... Und das Einfachste +war, man ging gleich vor die rechte Schmiede ... Mit +dem Mädel war jedenfalls noch am ehesten fertig zu +werden ... Absolut geräuschlose Erledigung hatten Durchlaucht +verlangt? Herr von Gorczynski kannte sich jedenfalls +mit Mädeln noch besser aus als mit dieser rauf- und +trinkfesten Männerjugend in Band und Mütze, deren Begriffe +und Sitten so was mittelalterlich Unkontrollierbares +an sich hatten ... Also auf zu Jucunda!</p> + +<p>Frau Kanzleirätin Buchner öffnete selbst die Tür und war +nicht wenig entsetzt, als ein nicht mehr ganz junger, höchst +eleganter und — hm! — pikfein parfümierter Herr in Gehrock, +Zylinder, hechtgrauen Glacés an der Entreetür stand +und Fräulein Jucunda Buchner zu sprechen wünschte ...</p> + +<p>»Fräul'n Buchner is aus — tut m'r unendl'ch leid ... +Aber wenn ich was kennte bestell'n — ich bin die Mutter.«</p> + +<p>Herr von Gorczynski musterte die stattliche, rundliche +Frau mit Kennerblick. Es war nachmittags um vier, aber +die ... Dame war noch immer in Morgentoilette ... +geblümter Schlafrock und Schleifenhäubchen ... Also aus +so einem ... Milieu entstammte das Dämchen, für das +der Sohn eines hohen sächsischen Justizbeamten Korpsband +und Karriere in den Wind schlug ... Hm ... Das vereinfachte +die Situation allerdings außerordentlich. Herr +von Gorczynski war auf eine feingebildete Familie gefaßt +gewesen ... Vielleicht Justiz, Universität, ein Predigerhaus +... Und nun ... Na, wenn man mit so etwas +nicht geräuschlos fertig werden sollte ...</p> + +<p>»So ... Sie sind die Mutter ... Na da ist es vielleicht +am besten, ich unterhalte mich erst mal ein wenig +mit Ihnen ... Major von Gorczynski ist mein Name.«</p> + +<p>Frau Doris fühlte, wie ihr das Herz in die flanellenen +Unterhosen rutschte. »Ja, aber ... Sie sehen, Herr +Major ... Ich bin Sie ja doch gar nich angezogen ...«</p> + +<p>»Bitte, das macht nichts ... Was ich Ihnen zu eröffnen +habe, das können Sie auch unangezogen hören. +Also wenn ich bitten darf — oder wünschen Sie meine Erklärungen +auf dem Hausflur entgegenzunehmen?«</p> + +<p>»Ach nee ... Aber gewiß nicht, Herr Major ... +Bitte treten Sie ein ... in die gute Stube ...«</p> + +<p>Herr von Gorczynski überflog mit demonstrativer Geringschätzung +die verschlissene Herrlichkeit des Buchnerschen +Salons. Dann setzte er sich mit einer gewissen Vorsicht, +als fürchte er, der Samtfauteuil könne unter ihm zusammenbrechen, +in den grünen Plüsch und sah die vor Erregung +fiebernde Frau mit durchdringendem Blick an.</p> + +<p>»Sie werden sich wohl ungefähr vorstellen können, weswegen +ich komme, Frau — Buchner!« begann er scharf. +»Nicht wahr?«</p> + +<p>Frau Doris' Kinnbacken schlotterten. Da hatte man die +Bescherung! Und ihr Rat war fern ... Und das Kind ... +Und sie mußte den ersten Ansturm des Schicksals ganz +allein aushalten, von Gott und aller Welt verlassen ...</p> + +<p>»Nu ja, nu nee ... denken ... kann ich mersch am +Ende ...«</p> + +<p>»Na also: Um's kurz zu machen: Ihr Fräulein Tochter +hat eine Einladung, wie sie in der ganzen Welt Abend +für Abend an tausend und abertausend Kolleginnen Ihrer +Tochter ergeht — die hat sie damit beantwortet, daß sie +mir und ... meinem jungen Freunde, in dessen Namen +ich mit unterzeichnet hatte, eine Forderung auf schwere +Waffen hat überbringen lassen. Darf ich mich zunächst +erkundigen, in welchen Beziehungen der ... junge Herr, +der sich zum Beschützer Ihrer Familienehre aufgeworfen +hat, zu Ihrer Tochter steht?«</p> + +<p>»Aber ich bitt' Ihn', Herr Major — in gar keener Beziehung. +Er wohnt hier im Haus ... zur Miete ... un +da is er ... ganz zufäll'g is er dazu gekommen, wie meine +Tochter een Weinkrampf hat gekriegt, als das Bukett ist +angekommen ... un der Brief ... un ... un das Geld ...«</p> + +<p>Hm ... das Geld ... und ... ein Weinkrampf ... +verdammt peinliche Vorstellung ... aber was war zu +machen ... man mußte oben bleiben.</p> + +<p>»So ... also in gar keinen Beziehungen ... verehrteste +Dame, Sie haben keinen dummen Jungen vor +sich, dem Sie Lederstrumpfgeschichten aufbinden können. +Ich will also mal annehmen, der junge Herr ist der ... +Bräutigam Ihrer Tochter ...«</p> + +<p>»Ne, ne, wahrhaft'gen Gott nich — aber gar keene +Ahnung ... e junger Student, ne, ne, wie kenn' Se +nur so was denken ... So was hat meine Jucunda +wahrhaft'gen Gott nich neetig!«</p> + +<p>»Hm ... also nicht ... Na dann wollen wir's dahingestellt +sein lassen, welcher Art das ... Verhältnis zwischen +den beiden jungen Leuten ist ...«</p> + +<p>Jetzt hatte Frau Doris sich denn doch gefunden. Die +Ehre ihres Hauses, ihres Mädchens —? Ne, ne, damit +durfte man denn doch nicht spaßen ...</p> + +<p>»Heer'n Se, Herr Major,« rief sie zitternd, doch mit +Entschiedenheit, »das muß ich mir denn doch ganz ergäbenst +verbitt'n! Meine Tochter hat kein ... kein Verhältnis +nich!«</p> + +<p>»In dem Sinne, in dem Sie das Wort verstanden zu +haben scheinen, habe ich es durchaus nicht gebraucht ... +und verbitte mir meinerseits eine derartige Auslegung +meiner Worte! Nun aber zu Ihrem Fräulein Tochter! +Hat sie — und haben Sie als Mutter — oder wenn Ihr +Mann noch unter den Lebenden ist —«</p> + +<p>»Allerdings — mein Mann ist der Kanzleirat Buchner +— ein königlicher Beamter ...« warf Frau Doris ein, +»Ritter des Albrechtkreuzes zweiter Klasse ...« Sie richtete +sich ordentlich auf an all diesen ehrenvollen Tatsachen.</p> + +<p>»Na also! Haben Sie alle zusammen sich denn eigentlich +nicht klar gemacht, was ein so ... rabiates Vorgehen +denn eigentlich für Ihre Tochter ... vielleicht auch für +Ihren Mann ... bedeutet? Ich nehme an, daß Sie bereits +in Erfahrung gebracht haben, wer wir eigentlich sind +— wer sich hinter dem Namen von Dillingen versteckt — +hä? Wissen Sie das, Frau Kanzleirat Buchner?«</p> + +<p>»Ja, ja, ich weeß — ich weeß,« stammelte die geängstigte +Frau und fuhr mit dem Rücken der fleischigen +Hand über die feucht gewordene Stirn.</p> + +<p>»Na also! Bilden Sie sich denn im Ernste ein, ein +solcher Herr werde sich wegen ... wegen einer Lappalie +von einem x-beliebigen jungen Menschen zur Rechenschaft +ziehen lassen? Nee, verehrte Dame, die Sache kommt +anders: Es möchte Ihrer Tochter vielleicht doch peinlich +sein, wenn an ... eine gewisse Stelle ein Bericht über +das ... eigentümliche Interesse erginge, dessen Ihre +Tochter sich in — hm! Studentenkreisen erfreut! Und +wenn Ihre Tochter sich überlegt, daß ihr Kontrakt doch am +Ende noch nicht lebenslänglich und unkündbar ist, und daß +es sich wenig empfiehlt, sich die Gunst eines jungen Fürsten +zu verscherzen, der einmal der Brotherr eines der größeren +deutschen Hoftheater sein wird ... dann wird ihr am +Ende klar werden, daß es ein bißchen übereilt von ihr war, +eine kleine Unbedachtsamkeit — ich gebe ja zu, daß es eine +Unbedachtsamkeit war, Ihre Tochter ohne weiteres in eine +Linie mit der Mehrzahl ihrer Kolleginnen zu setzen ... +Aber deshalb gleich nach Blut — nach Fürstenblut zu +lechzen — das scheint mir doch einigermaßen kindisch!«</p> + +<p>Völlig zerschmettert hatte Frau Buchner die Suada +ihres vornehmen Besuchers über sich ergehen lassen. Vor +ihrem Auge tanzten hundert gräßliche Bilder ... Der +gnädigste Herr in Meiningen hatte Jucunda seine Gunst +entzogen — ihr Vertrag war gekündigt ... Vergebens +klopfte sie an die Pforten aller deutschen Bühnen ... Als +»schwieriges Mitglied« wurde sie überall abgelehnt ... +Das Elend lauerte, der Hunger ...</p> + +<p>»Ne ... ne ... das is ja äne schreckliche Geschichte ...« +stammelte sie.</p> + +<p>»Nun, Sie scheinen ja Vernunft annehmen zu wollen. +Ich empfehle Ihnen also, unverzüglich mit Ihrer Tochter +Rücksprache zu nehmen: Sie soll ihren ... ihren jugendlichen +Beschützer veranlassen, seine höchst törichte und kindische +Herausforderung zurückzuziehen ... Damit dürfte +die Angelegenheit eine für alle Beteiligten befriedigende +Erledigung finden. Sind Sie dazu bereit?«</p> + +<p>»Aber mit dem greeßten Vergniegen — 's wird sich +doch am Ende noch alles lassen ins reine bringen!« ächzte +aufatmend die geängstigte Frau.</p> + +<p>»Na also —« der Major erhob sich — »ich rechne +darauf, daß Sie Ihren mütterlichen Einfluß in diesem +Sinne geltend machen. Meine Empfehlung an Ihr Fräulein +Tochter ... und ... böse ... braucht sie uns nicht zu +sein ... Die ganze Sache war vollkommen harmlos gemeint +... also ... adieu, Frau Kanzleirätin!«</p> + +<p>Frau Buchner knixte ein übers andre Mal, während +sie den Gast zur Entreetür geleitete.</p> + +<p>Auf der Schwelle wandte der Major sich noch einmal +um.</p> + +<p>»Apropos — soweit ich unterrichtet bin, hat man bei +Ihnen besonders daran Anstoß genommen, daß meinem +Briefchen ein ... ein kleines Geschenk ... in barem +Gelde ... beigelegt war. Vermutlich haben Sie diese ... +diese kleine Aufmerksamkeit ... in Verwahrung genommen?«</p> + +<p>»Allerdings ... das hab' ich ... in meine Wirtschaftskasse +hab' ich die Scheine eingeschlossen ... Jucunda wollte +sie zur Post bringen, aber ... sie wollte sich erscht noch +nach Ihrer ... genaueren ... Adresse erkundigen ... +Na un von dem Wege, da is se noch nich zurück ...«</p> + +<p>»Na, dann kann ich ihr ja den Gang ersparen ... +Wenn Sie's mir gleich aushändigen wollten ... und vielleicht +—« ganz harmlos, nachlässig wurde das hingelegt — +»vielleicht händigen Sie mir auch gleich das Briefchen mit +aus, das die Gemüter so sehr erregt hat — und damit wäre +ja dann alles in schönster Ordnung ...«</p> + +<p>»Gewiß, gewiß, Herr Major — das hab' ich ooch ... +alles kenn' Se kriegen — ich bin ja froh, wenn ich's +aus 'm Hause hab ...«</p> + +<p class="start-chapD space-above">Teufel auch ... das war mehr, als ich gehofft habe! +schmunzelte der Major, als er mit seinem Raube die +halbdunkle Stiege hinunterknarrte.</p> + +<p>Unten im Hausflur zog er den Brief hervor, entzündete +ein Streichholz und ließ das <i lang="la">corpus delicti</i> in Flammen +auflodern. Die beiden Scheine aber, die er beim Empfang +nur nachlässig in die Westentasche geschoben, barg er nun +sorgfältig in seinem Portefeuille. Es waren immerhin +zweihundert bare Mark ...</p> + +<p>Und dann ging er zu Aeckerlein hinüber und bestellte +eine Flasche Heidsieck.</p> +</div> + +<div> +<h2>8.</h2> + +<p class="start-chapA">Als Hans Thumser inmitten seiner Korpsbrüder das +Theaterrestaurant verließ und über den sonnenflimmernden +Augustusplatz, die mittäglich durchhastete +Grimmaische Straße nach dem Baarmannschen Lokal am +Markt hinüberspazierte, wo das Korps speiste — da +wirbelte ihm der Kopf dermaßen vom Fieber des Erlebens, +daß die erregten Gespräche der Freunde nur wie +aus weiter Ferne zu ihm herüberklangen. Und doch +disputierte er selber eifrigst mit ... Es war ja kein Ende +zu finden des Ueberlegens und Projektierens — wie alles +kommen würde — ob man sich nicht übereilt, ob Pilgram, +ob das Korps richtig gehandelt, ob sich nicht eine minder +schroffe Lösung des Konflikts hätte finden lassen ... Wie +der Erbprinz sich stellen würde ... und schließlich doch +auch der Hof in Nassau-Dillingen ... was der für Weisungen +erteilen würde ... und was all der welterschütternden +Schicksalsfragen mehr noch waren.</p> + +<p>Und dabei immer der heimlich bohrende, süß erregende, +wonnesam beklemmende Hintergedanke an ... +heut nachmittag ...</p> + +<p>Und so in Wirrnis und Ahnung verrannen die Stunden +... Jetzt ward alles andre verdrängt durch das +Mitgefühl mit Valentin Pilgrams Schicksal, des Korpsbruders, +der so ganz anders geartet war, mit dessen +Wesen das eigene niemals harmonisch hatte zusammenklingen +wollen ... und dessen starkgemute Jungmännlichkeit +dennoch die lebenshungrige Seele fest in ihren +Bann geschlagen hatte — längst eh dies opferstolze Einsetzen +seines ganzen Daseins für ein fremdes Mädchen, +das Kind einer andern Welt ... eh' diese Tat sein Bild +in eine fast heroische Sphäre emporgehoben ...</p> + +<p>Und dann wieder schwirrten mit scheuem Flügelschlage +die Gedanken um das eigene Hoffen und +Bangen ...</p> + +<p>Und seltsam: Astas und Jucundas Bilder, sie rannen +zusammen in der Seele ... Wer war's eigentlich, der +ihn erwartete heut um fünf? War's nicht jener Dämon, +der in seines Korpsbruders Leben so verhängnismächtig +hineingegriffen? Jucunda! Jucunda! Der Name klang +aus allen Gesprächen, die in der Runde hin und wider +flogen ... Daß es überhaupt eine Asta Thöny gab, das +wußte ja nur einer von seinen Freunden, und dieser eine +— der war fern ... war ausgeschieden aus dem Bunde, +dem sein ganzes Herz gehörte, für dessen Farben er in +siebenundzwanzig Waffengängen sein junges Herzblut +vergossen ... ausgeschieden um jener andern willen ... +und selbst dieser eine hatte sie doch nur auf der Bühne +gesehen — ahnte nicht, daß sie mit Hans Thumser unter +einem Dache wohnte ... konnte nicht ahnen, daß sie heimlich +nächtens in ihre Kissen weinen und dann plötzlich +lachen konnte, so girrend, so atemversetzend.</p> + +<p>Nach dem Mittagessen blieb das Korps beim Kaffee +noch lange zusammen. Die Füchse wurden fortgeschickt, +und immer und immer wieder in heftigen Disputen +drehten und wendeten die Korpsburschen das Ereignis +des Tages. Hans aber zog von Zeit zu Zeit heimlich die +Uhr und zählte, wie eine Viertelstunde um die andere +verrann von jenen, die ihn noch von dem größten Erlebnis +seines jungen Daseins trennten ... Und einmal +zog er heimlich auch sein Portemonnaie und stellte fest, +daß er heute, am einunddreißigsten Oktober, noch fünfundachtzig +Pfennige sein eigen nannte ...</p> + +<p>Teufel auch! Wenn man die Farben eines Korps +trägt, kann man unmöglich ohne ein bescheidenes +Blümchen in der Hand bei einer Dame zum Tee antreten +... Und Hans Thumser pumpte sich von Volkner, +der immer Geld hatte, eine Mark ...</p> + +<p>Und endlich war's dreiviertel fünf ... Und wie ein +Träumender strich Hans Thumser die Petersstraße hinunter, +einen Busch rosa Dahlien, in Seidenpapier gewickelt, +in der Hand ... Zu wem ging's? Zu Asta? +Zu Jucunda? Er wußte es nicht ... es ging ... +zu <em class="gesperrt">ihr</em> ...</p> + +<p>Und so war's fast eine Selbstverständlichkeit, daß er sie +nun <em class="gesperrt">beide</em> fand ...</p> + +<p>Die Stube schwamm von Zigarettenrauch ... Und +auf dem Sofa, eng aneinandergelehnt, zwei Mädchen ... +die, die er zu suchen kam — und die andere ...</p> + +<p>»Ach Gott ...« lachte Asta in komischem Entsetzen auf, +»Herr ... na wie heißen Sie noch? Herr ...«</p> + +<p>»Thumser,« stotterte Hans und blieb ganz verdonnert +an der Tür stehen.</p> + +<p>»Richtig, Herr Thumser — mein Zimmernachbar — +nicht wahr, Sie sind's doch? Mein Gott, Sie hatt' ich +wahrhaftig total vergessen —«</p> + +<p>»O bitte, dann will ich nicht stören,« sagte Hans und +griff zur Tür.</p> + +<p>Ein Kübel Eiswasser, einem glutgedörrten Saharawanderer +jählings über den Nacken gegossen ...</p> + +<p>»Aber nein! Stören! Weglaufen! Gibt's nicht!« +Und das weiche Figürchen in der nicht ganz tadellos +frischen Batist-Matinee sprang auf, stand vor dem +schlanken Studenten, eine Hand, zart und warm wie ein +sonnendurchglühtes Rosenblatt, legte sich auf die seine und +zog ihn ins Zimmer.</p> + +<p>»Nicht böse sein! Meine Kollegin ist mich besuchen +gekommen, und da haben wir uns verschwatzt ... Ist's +denn schon fünf Uhr? Himmel — und wie's hier ausschaut! +Frau Wehe! Frau Wehe! Schnell kommen Sie +mal her und räumen S' ab! Gestattest Du, Jucunda? +Mein Zimmernachbar, Herr Studiosus Dummler —«</p> + +<p>»Thumser,« verbesserte Hans etwas pikiert.</p> + +<p>»Pardon — Thumser — meine Kollegin Buchner — +die große Buchner, wissen S'!«</p> + +<p>Jucunda grüßte stumm und königlich. Sie hatte die +grüne Mütze, die drei Farben um die Brust des jungen +Mannes wiedererkannt ...</p> + +<p>»Ich weiß ...« sagte Hans. »Ich war gestern abend +in der 'Jungfrau' ... und ich bin auch unter denen gewesen, +die —«</p> + +<p>»— ihr die Pferde ausgespannt haben — natürlich! +Das nächste Mal, Sie Schlingel, spannen Sie mir die +Pferde aus — verstanden? Sonst ist's aus mit der guten +Nachbarschaft!«</p> + +<p>»Wird gemacht!« sagte Hans, der sich wiederfand. +»Inzwischen darf ich wohl als bescheidene Entschädigung +diese Blümchen ...«</p> + +<p>»Ach — das ist famos! Sehen Sie, Jucunderl, es +wachsen heuer doch nicht alle Blumen bloß für Dich ...« +Und sie drückte den Studenten in einen der verschlissenen, +fettigen Damastfauteuils, welche Mutter Achs beste Bude +verherrlichten.</p> + +<p>Einen raschen Blick warf Hans Thumser in der Bude +umher. Wild sah's aus ... auf dem Tisch noch die Reste +des bescheidenen Mittagsmahls, Aepfelschalen und die +zerknautschten Mundstücke abgerauchter Zigaretten trieben +sich auf dem fleckigen Tischtuch herum ... und drüben +auf dem Bette aufgestapelte Mullröcke und Spitzenhöschen, +auf dem Schreibtisch ein zusammengerolltes +Korsett, dazwischen unsaubere Hefte mit ausgeschriebenen +Rollen und zerflederte Reclambändchen ...</p> + +<p>Asta war diesem Blick gefolgt und sah den Ausdruck +von Mißbehagen, der ununterdrückbar das schmissebedeckte +tadellos rasierte Gesicht des korrekten und gepflegten +Jünglings überzog.</p> + +<p>»Bös schaut's aus da drin, gelt? Aber warten S' +nur, ich schaff' schon eine Ordnung! Faß an, Jucunderl, +Du bist ja schuld, daß ich so einen feschen, jungen Herrn +in so einer Schlamperei muß empfangen! Und Sie, +Frau Wehe« — die noch immer hübsche, kugelrunde +Wittib stand mit nachmittagschlafgeröteten Augen in der +Tür — »hinaus mit dem Abfall da! Und ein' Tee kochen +S' uns, und Kuchen will ich seh'n und Schlagsahn' und +was sich sonst gehört! Da haben S' ein Geld!« Und wie +ein Irrlicht fegte das dunkellockige Mädchen in der Stube +umher, hob den Bettbezug aus gewebter, leidlich defekter +Spitze, das Ueberbett in die Höhe, stopfte die herumliegenden +intimen Kleidungsstücke drunter und deckte mit +einem Spitzbubenlächeln wieder zu, griff in die Nachttischschublade +und warf ein paar Markstücke auf den Tisch, +daß zwei, drei in die Stube kollerten und Hans Thumser +sich bücken mußte, um sie wieder aufzulesen; griff dazwischen +in die Zigarettenschachtel, schob ihren beiden +Besuchern, sich selbst und schließlich auch der verlegen +grinsenden Wittib eine Zigarette zwischen die Lippen:</p> + +<p>»Da, Herr Dummser — haben S' Feuer?«</p> + +<p>Und da flimmerten auch die feuchten Lippen, die +dunklen, flackernden Augen dicht vor Hansens Gesicht, +loderten ihn an, während sie mit ihm zugleich am nämlichen +Zündholz ihre Zigarette anbrannte ...</p> + +<p>Inzwischen saß Jucunda stumm und königlich auf dem +Sofa, ohne eine Hand zu rühren, und ließ ihre runden +blauen Augen von einem zum andern leuchten. Und +auch Hans Thumsers Blicke gingen hin und her, von dem +Schalk zu der jungen Königin, von der jungen Königin +zu dem rastlosen Schelm ...</p> + +<p>Und endlich gab's Ruhe und so etwas wie Ordnung, +und mit einem tiefen Aufseufzen warf Asta Thöny sich +in das Sofa, kuschelte sich an Jucundas kräftige Schulter +... und nun sahen zwei Augenpaare, das blaue, das +schwarze, den braunäugigen Studenten an ...</p> + +<p>»So, Herr Dummser, nu erzählen S' uns was!«</p> + +<p>Hans Thumser war des Umgangs mit weiblichen +Wesen wenig gewohnt. Seine Schwestern waren um +vier und fünf Jahre jünger als er, die zählten, samt ihrer +Freundinnenschar, noch nicht mit, waren Gören, oder wie +man daheim sagte, Blagen ... unfähig, die erhabene +Größe eines Studenten, eines Korpsstudenten, eines +Fuchsmajors richtig einzuschätzen. Und das Korps? Es +lebte außerhalb der Leipziger Gesellschaft, war völlig +durch Mensur und Kneipe absorbiert und kam höchstens +auf dunklen und verschwiegenen Pfaden einmal mit verachteten +Parias der Weiblichkeit in Berührung ...</p> + +<p>Aber ... er war ein werdender Poet ... und der +Zauber der Situation löste ihm die Zunge, gab ihm +Worte, wie sie gesellschaftliche Routine nicht kennt ...</p> + +<p>»Erzählen soll ich Ihnen ... meine Damen? Ach ... +ich hab' nichts erlebt, was des Erzählens wert wär' in +solch einem Augenblick ... aber ... das darf ich ja wohl +sagen, nicht wahr? daß ich sehr glücklich bin ... Ich +denke an gestern abend ... ich habe Sie beide gesehen und +bewundert und beneidet um das Glück Ihres Berufs ... +den Menschen das Schöne zu offenbaren ... und nun sitz' +ich hier ... Ihnen gegenüber ... seien Sie mir nicht +böse, wenn das mir zu Kopf steigt und ... mich dumm +und stumm macht ... Sie nennen mich noch immer +Dummser, gnädiges Fräulein ... und das stimmt, ich +bin auch ein dummer Bub, das fühl' ich, jetzt, wo ich mit +Ihnen zusammensitzen darf ... Nein, ich kann Ihnen nichts +erzählen ... ersparen Sie es mir, mich mit Konversationmachen +abzuquälen ... erlauben Sie mir nur ... da +zu sein ... und Sie anzuschauen ... und zu fühlen, ja +bis ins Tiefste zu fühlen, wie schön das ist ... was für +ein Glück das ist!«</p> + +<p>»Aber warum machen Sie sich selber so schlecht?« sagte +Jucunda und sah ihn groß an — »Sie sprechen gar nicht +übel ... im Gegenteil — ich meine, ich hätte noch niemals +einen Menschen so sprechen gehört ...«</p> + +<p>»Du —?« sagte Asta, »daß Du mir dem Jungen nicht +zuviel Komplimente machst! Das ist <em class="gesperrt">meiner</em>, verstehst +Du mich? Aber Du mußt immer alles für Dich haben ... +die Blumen — die Kränze — die ausgespannten Pferde — +die Verehrer, alles muß sie allein haben! Und so was +redet von Freundschaft und Kollegialität! Schämen +sollten S' Ihnen, mein Fräulein!«</p> + +<p>Hans wurde glühendrot. »Ach, meine Damen, machen +Sie sich nur immer über mich lustig ... ich weiß ganz +genau, wie wenig ich Ihnen sein kann. Nur das eine +muß ich Ihnen sagen: Sie ahnen gar nicht, was dieser +Tag für mich bedeutet ... Sie können sich wohl nicht +vorstellen, wie barbarisch und rauh dies Leben ist, +das wir jungen Dächse so führen auf deutschen Hochschulen +... Und seit gestern ist's auf einmal bunt und licht +und ... groß und ... schön um mich her ... seit ich Sie +beide kenne ...«</p> + +<p>»Gott, wie süß er ist — gelt, Jucunda?« sagte Asta +und streichelte dem Studenten mit einer raschen, zärtlichen +Bewegung ganz leise und flüchtig die glühende, narbenzerrissene +Wange. »Nur mehr so Schönes, nur mehr! +So was kann man gar nicht genug hören!«</p> + +<p>»Ach — Sie scherzen wieder, Gnädigste —« sagte +Hans. »Sie sind weit schönere Worte gewohnt ... Sie +verkehren am Hof — inmitten von Geist und Grazie ... +die Dichter, deren Werke Sie verkörpern, huldigen +Ihnen ...«</p> + +<p>»Der hat Ahnung, gelt?« lachte Asta halb verschmitzt +halb schmerzlich zu ihrer Kollegin hinauf, in deren Arm +sie sich drückte.</p> + +<p>»Nein, Herr Thumser,« sprach Jucunda langsam, »Sie +haben doch wohl eine etwas — na sagen wir mal zu +ideale Vorstellung von unserm Leben ... Glauben Sie +mir nur, es gibt nicht viel Männer, die so zu reden wissen, +daß es einem wohltut ...«</p> + +<p>»Gewiß, ich glaub's — so verwöhnt, so anspruchsvoll +wie Sie sein müssen ... denn so jung wie Sie sind, Sie +sind berühmt, alles liegt Ihnen zu Füßen, Sie kommen +wie das Schicksal ... wehe dem, der Ihnen verfällt ...«</p> + +<p>Ein Schatten war bei diesen Worten über die +enthusiastischen Züge geflogen, die flammenden Augen +hatten sich verdunkelt.</p> + +<p>Jucundas Stirn hatte sich langsam zusammengezogen.</p> + +<p>»Wie das Schicksal?« fragte sie, »wie meinen Sie das?«</p> + +<p>»O ... ich dachte an ... eine gewisse Geschichte ... +eine sonderbare, aufregende Geschichte ... von der Sie +doch wohl auch wissen müssen ...«</p> + +<p>»Sie ... meinen ... die Sache ... mit Herrn Pilgram? +Von der wissen Sie also auch schon?«</p> + +<p>»Ich weiß ... selbstverständlich weiß ich ... wir sind +ja doch Korpsbrüder ...«</p> + +<p>»Eine ... Sache?« fragte Asta ganz erstaunt. »Was +hat's gegeben? Hast mir ja doch gar nichts davon erzählt, +daß es was gegeben hat? Heraus mit der Geschichte!«</p> + +<p>»Ich möchte ... eigentlich überhaupt nicht davon +sprechen ...« meinte Jucunda.</p> + +<p>»Und ich ... ich halte mich ebenfalls nicht für berechtigt +...« setzte Hans befangen hinzu.</p> + +<p>»Schöne Sachen sind mir das!« zürnte Asta. »Ich +bring' Euch zwei zusammen, und schon habt Ihr Geheimnisse +miteinander, und ich werd' ausgesperrt und hab 's +Zuschau'n! Na wartet — jetzt kommt der Tee mit dem +Kuchen, hernach setz' ich Euch vor die Tür und ess' alles +alleinig!«</p> + +<p>Jucunda hatte einen Moment sinnend den Rauchwölkchen +ihrer Zigarette nachgestarrt. Es war dämmrig +im Zimmer geworden. Frau Wehe kam mit dem Tee, +dem Gebäck, zündete die Petroleum-Hängelampe über dem +Tische an, und hell gleißten nun die drei jungen Gesichter +auf dem Hintergrunde der abgenutzten Stube, die rasch +in völliges Dunkel versank.</p> + +<p>Als die Wirtin gegangen, sagte Jucunda langsam: +»Ich verstehe, daß Sie sich über die ... Angelegenheit ... +die bewußte ... nicht gern aussprechen. Aber Sie werden +begreifen: ich bin ziemlich gespannt. Sie wissen schon +drum ... also die Sache kommt doch, scheint's, wirklich an +die große Glocke. Ich bin ja schließlich doch ein bißchen +beteiligt ... Wollen Sie mir nicht sagen, was inzwischen +eigentlich passiert ist?«</p> + +<p>»Hm ... wenn unsre ... gütige Gastgeberin gestattet, +daß wir uns in ihrer Gegenwart über ... eine Sache +unterhalten, die sie nicht ... in die wir sie nicht einweihen +dürfen?« +»Na macht schon, macht schon ...« maulte Asta, »Ihr +brennt ja darauf, Eure Geheimnisse auszutauschen ... +ich ess' Kuchen.« Und wütend bissen ihre blinkenden Zähne +in einen braunlächelnden Mohrenkopf.</p> + +<p>»Also kurz ... Er ... ist aus dem Korps ausgetreten +... und hat die ... die bewußten beiden Herren auf Säbel +ohne ohne gefordert ... Genügt Ihnen diese Andeutung?« +fragte Hans.</p> + +<p>»Hm ... und mehr ... wissen Sie also noch nicht?«</p> + +<p>»Noch nicht.«</p> + +<p>»Immerhin ... also der Skandal ist fertig. Schöne +Bescherung ...«</p> + +<p>»Hol Euch der Satan, Kinder, Ihr macht eins aber +wirklich neugierig wie eine Ziege!« sagte Asta und ließ die +kuchenstopfenden Finger sinken. »Säbelforderung — Skandal +... und dabei habt Ihr Euch vor einer halben Stunde +erst kennen gelernt vor meinen sehenden Augen ...«</p> + +<p>»Gott, warum soll man's ihr schließlich nicht erzählen?« +meinte Jucunda. »Morgen weiß es ganz Leipzig ...«</p> + +<p>»Hast einmal wieder was, womit Du Dich kannst +int'ressant machen, Jucunderl? Gott, das Mädel hat +einen Dusel! Daß es um Dich geht, soviel hab' ich schon +heraus ... Also es werden zwei sich die Köpf' entzweischlagen +Deinetwegen ... hernach schauen die Leut' +unsereins überhaupt nicht mehr an ... und so ist's in +allem! Schon wie's heißt — Jucunda! Wie kommt +bloß ein Vater auf die Idee, so ein Wurm 'Jucunda' zu +taufen? Als ob er damals schon geahnt hätt', daß das +Kind einmal wird unters Theater gehen! Sag' doch, Mädel +— wo kommst an so einen Namen, so ein' ausgefall'nen?«</p> + +<p>»Ach — das ist einfach genug ... da war eine alte +Tante, die eine Beamtenpension zu verzehren hatte und +so schöne uralte Möbel und Bilder gehabt hat aus der +Goethezeit ... um die sind alle Verwandte herum gewesen +erbschleichen ... aber meine Eltern haben den +Vogel abgeschossen und mich nach ihr getauft ... das hat +sie so erschüttert, daß sie mir den ganzen Krempel vermacht +hat ...«</p> + +<p>»Ach — und nun hast Du das ganze schöne Zeugs?«</p> + +<p>»I Gott bewahre — verkauft hat's mein Vater und +für mich in einem Sparkassenbuch angelegt ... und davon +sind mein Studium und meine modernen Kostüme bezahlt +worden — paar Groschen werden wohl auch noch da sein, +denk' ich ...«</p> + +<p>»Ja schaust, was Du für ein Glückskind gewesen +bist ...« Astas Augen irrten in die Ferne, ein ganz +fremder Ausdruck von Bitterkeit und Ekel umschattete +das pfirsichweiche Oval. — »So eine Tante wenn ich +gehabt hätt', meinetwegen hätten s' mich Eulalia mögen +taufen! Ich hab' das alles allein müssen schaffen, so gut +oder — so hundsfött'sch wie's hat gehen mögen ... Dabei +wird man ein armes, gerissenes, mit allen Hunden gehetztes +Wildkatzerl allenfalls ... und wenn man ein +bisserl Talent hat, hernach wurschtelt sich eins am End' +auch noch rechtzeitig in die Höh' ... aber eine Priesterin, +vor der die Menschen sich platt auf den Bauch schmeißen, +eine Jungfrau von Orleans wird man nicht auf die Art!«</p> + +<p>Mit herablassender Zärtlichkeit streichelte Jucunda die +zierliche Kollegin. »Ich sollte meinen, Asta, Du könntest +noch ganz zufrieden sein mit Dir — nicht wahr, Herr ... +Gott, dieser lächerliche Name — schon wieder hab' ich ihn +verschwitzt —«</p> + +<p>»Herr Dummerle!« half Asta ein, und um die schmerzlich +verzogenen Lippen huschte schon wieder der Schalk.</p> + +<p>Hans Thumsers Blicke wanderten rastlos von einer +zur andern. Welches Glück, daß er den goldenen Apfel +des Paris nicht zu vergeben hatte!</p> + +<p>Und Valentin Pilgram? Und die Affäre? Schon längst +wieder versunken ... kaum die Oberfläche des Gesprächs +hatte sie gekräuselt, die Geschichte von dem wackren Gesellen, +der um dieses achtzehnjährigen Weibes willen sein +Blut, sein Schicksal aufs Spiel gesetzt hatte — als Dank +für ein paar freundliche Worte, die sie ihm geschenkt ...</p> + +<p>Dieser Gedanke tauchte dann und wann flüchtig auf +in Hans Thumsers Denken — aber die Gegenwart, die +nie erlebte, der beiden jungen, blutjungen und doch schon +aller Machtmittel ihres Geschlechtes kundigen Geschöpfe +verdrängte das Bild des Korpsbruders, das heut morgen +in so lichtem Heroenglanze gestrahlt hatte.</p> + +<p>»Sagen Sie, Herr Thumser, was studieren Sie eigentlich?« +fragte Jucunda.</p> + +<p>»Gott, was studier' ich? Die Geheimnisse des S. C. +Paukkomments — die Kunst, eine Tiefquart unter der +steilsten Auslage hindurch in die Nasenspitze des Gegners +zu dirigieren ...«</p> + +<p>»Das glaub' ich nicht ... so sehen Sie nicht aus, als +ob das alles wäre, was Sie treiben ...«</p> + +<p>»Na ... meine kümmerlichen Versuche, mich mit der +Juristerei anzufreunden, werden Sie mir doch wohl kaum +am Gesicht ansehen können?«</p> + +<p>»Das nun schon gar nicht! Nein, es steckt noch etwas +andres hinter Ihnen —«</p> + +<p>»Soll ich's verraten?« fiel Asta ein — »ich weiß es +nämlich ...«</p> + +<p>Und mit ihrem Spitzbubenlächeln, das Köpfchen tief +auf die weiche Schulterlinie geneigt, fing sie an zu +rezitieren:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Ich bin ein junger Korpsstudent,<br /></span> +<span class="i0">Die Schuhe Lack, der Rock patent,<br /></span> +<span class="i0">Korrekt und schick an mir ist alles —<br /></span> +<span class="i0">Im Portemonnaie nur —«<br /></span> +</div></div> + +<p>»Halt! Gnade!« rief Hans und legte seine Hand beschwörend +auf Astas runden Unterarm — von dessen +Wärme süße Schauer in seine Fingerspitzen, seine Arme, +sein Blut hinüberströmten.</p> + +<p>»Ach — sieh da — Verse — und von Ihnen?« fragte +Jucunda. »Also ein junger Schiller — oder Goethe? +Sieh da!«</p> + +<p>»Ach Gott — diese elenden Knittelreime — wenn man +nichts Besseres könnte ...«</p> + +<p>»Oh — das ist aber nicht hübsch von Ihnen, daß Sie +sich meinetwegen so wenig angestrengt haben —« sagte +Asta. »Na, was können Sie denn Besseres? Heraus damit!«</p> + +<p>»Jawohl, Herr Poet, eine Probe Ihrer Kunst!«</p> + +<p>Hans Thumser ließ sich nicht lange bitten. Er sann +einen Augenblick nach. Dann richtete er sich unwillkürlich +etwas auf, ein feierlicher, strahlender Ausdruck kam in +seine Züge; und in tiefinnerer Bewegung sprach er:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Abgründe klaffen rechts und links<br /></span> +<span class="i0">Von meinem schwindelschmalen Pfade,<br /></span> +<span class="i0">Und hinter mir schleicht stumm die Sphinx —<br /></span> +<span class="i0">Doch über mir geigt Engelsgnade.<br /></span> +<span class="i0">Ich aber will nachtwandlerkühn<br /></span> +<span class="i0">Den Gratgang bis ans Ende wagen,<br /></span> +<span class="i0">Und hell durchsonnt von Morgenglühn<br /></span> +<span class="i0">Der Harfe gold'ne Saiten schlagen!«<br /></span> +</div></div> + +<p>»Ah ... bravo ... das ist wirklich ein Gedicht ...« +sagte Jucunda. »Sieh da — wer hätte das hinter diesem +wandelnden Modejournal gesucht ...«</p> + +<p>»Oh ... seh' ich aus wie ein wandelndes Modejournal?«</p> + +<p>»Na, so seht Ihr Korpsstudenten doch alle aus ...«</p> + +<p>»Gott ja — es braucht ja nicht jeder Poet auszusehen +wie die Jünglinge aus dem Café Größenwahn — von +denen mir ein Berliner Korpsbruder neulich erzählt hat.«</p> + +<p>»Nein, da haben Sie recht,« sagte Jucunda. »Die Sorte +kenn' ich auch — aus der Zeit unseres Gastspiels am +Viktoriatheater ... ich denke mir, der junge Goethe ist +hier in Leipzig auch so etwa wie ein wandelndes Modejournal +herumgelaufen, während seine Kollegen lange fettige +Haare und schmutzige Hemdkragen trugen ... Sieh da — +also so schaut ein junger Dichter aus ... alte kenn' ich ja +schon diesen oder jenen, aber das waren alles sehr verschlissene, +sehr diplomatische, sehr nüchterne und ... ernüchternde +Herren ... Sie sind nicht nüchtern, Herr Thumser, +Sie laufen wie in einem ewigen Rausch herum — wenn +Sie auch noch so schneiderelegant aufgemacht sind ...«</p> + +<p>»Ja, das ist wahr!« sagte Hans lebhaft. »Ewiger +Rausch! Sie haben recht! Ich bin immer wie betrunken +von ... von all dem Herrlichen um mich her — von +all dem Neuen und Gewaltigen, das jede Stunde bringt! +Ist nicht die Welt ein einziges, ungeheures Wunder? Und +so ein armes Menschenherz viel zu klein und eng, um das +alles zu fassen? Und wenn man's nun so erleben darf, +die Schönheit, die Kunst, die Poesie leibhaftig vor sich zu +sehen ... wie in Ihnen, Jucunda Buchner ...«</p> + +<p>Die braunen Augen hingen an den blauen, die blauen +an den braunen — mit hochaufgerichteten Leibern saßen +die jungen Menschen einander gegenüber, und Ströme +des Lebens rauschten von einem zum andern.</p> + +<p>Jucunda fühlte sich wachsen in dieser naiven Bewunderung +eines Menschen, in dem ihr weiblicher Instinkt +die gärenden, schäumenden Kräfte witterte ... und Hans +Thumsers gläubiges Märchenherz erblickte in dem weißen, +vom Schöpfer in einer Künstlerlaune so edel ausgeformten +Gesicht die fleischgewordene Schönheit, herabgestiegen vom +Himmel, um ihm, dem Werdenden, die Fülle zu offenbaren ...</p> + +<p>Auf einmal fuhren beide herum: ein Ton, ein erstickter, +war in ihre Versunkenheit gedrungen — ein Ton, den +Hans schon einmal vernommen zu haben meinte: der Ton +eines bittren, unbezwinglichen Weinens ...</p> + +<p>Asta Thöny hatte den Kopf in die Finger gedrückt, +die Hände auf die Knie gepreßt ... ganz in sich zusammengekauert +saß sie da, die zierlichen Schultern zuckten, aus +dem Nest der schwarzen Flechten hatten sich ein paar +glänzende Locken gelöst und rollten über den weißen +Nacken ...</p> + +<p>»Aber Kind — was ist Dir nur?« fragte Jucunda und +legte den Arm um die Hüften der Kollegin.</p> + +<p>Aber die schüttelte die Umschlingung ab, sprang auf, +eilte zum Fenster hinüber und lehnte den hochgehobenen +Arm, die tiefgesenkte Stirn an die Scheiben ...</p> + +<p>»Aber ... was ist Ihnen denn nur, gnädiges Fräulein?« +stammelte Hans Thumser.</p> + +<p>»Ach, geht mir doch — laßt mich doch in Ruh, Ihr zwei! +Poussiert doch miteinander, so viel Ihr Lust habt — aber +nicht in meiner Gegenwart!«</p> + +<p>»Aber Kind!« sagte Jucunda, stand auf, sah Hans an +mit einem Blick, der für die Kollegin um wohlwollende +Nachsicht zu bitten schien, wie für ein törichtes, verzogenes +Kind, und trat zu ihr ans Fenster.</p> + +<p>»Ach, gehen Sie doch, Buchner — lassen Sie mich! +Es ist ja immer dieselbe Geschichte! Alles müssen Sie +für sich haben, alles belegen Sie mit Beschlag — alles +muß zu Ihren Füßen liegen, keiner andern gönnen Sie +was! Den Jungen da, den hab' ich nun entdeckt — und +kaum hab' ich ihn eingeladen, schon sind Sie da, als wenn +Sie's gewittert hätten — und gleich geht's los, das alte +Spiel — nur Jucunda Buchner redet, man sieht nur sie, +man hört nur sie, man vergafft sich nur in sie, nichts +existiert auf Gottes weiter Welt, nichts und gar nichts, +als einzig und immer wieder Jucunda Buchner!«</p> + +<p>»Herr Thumser, ich bitte Sie um Ihr unparteiisches +Zeugnis!« sagte Jucunda ruhig, ganz beherrschte Weltdame +— »ist das nun gerecht, wie diese Dame mich behandelt? +Habe ich auch nur den geringsten Versuch gemacht, +Sie — wie hat sie gesagt? — mit Beschlag zu belegen? +Haben wir nicht vollkommen harmlos geplaudert alle +drei? Und auf einmal aus heitrem Himmel diese Explosion? +Habe ich das verdient, Herr Thumser? Bitte, +sprechen Sie.«</p> + +<p>In tödlichster Verlegenheit hatte Hans Thumser diesen +Ausbruch, dieses Zwiegespräch der Kolleginnen über sich +ergehen lassen. Er suchte vergebens nach der rechten +Antwort auf Jucundas Frage.</p> + +<p>»Gnädiges Fräulein ...« stammelte er zuletzt, »verzeihen +Sie, wenn ich auf Ihre Frage nicht antworte. Wir +sind beide Fräulein Thönys Gäste ... Ich bin untröstlich, +daß ich Ihr Mißfallen erregt habe, Fräulein Thöny ... +ich darf Ihnen zwar versichern, daß es keineswegs meine +Absicht war, Sie irgendwie zu ... wie soll ich sagen? +... zu vernachlässigen ... Wenn ich dennoch ... es +an der schuldigen Rücksicht habe fehlen lassen — so bitte +ich tausendmal um Entschuldigung ...«</p> + +<p>Asta Thöny antwortete nicht. Sie stand noch immer +am Fenster ... der Schein der Straßenlaternen von +drunten umrandete ihre dunkle Silhouette mit einem +silbernen Streif — den weißen Batist, den zarten Flaum +des Armes, die Flimmerlöckchen des schwarzen Haars. +Wie das Kabinettstück eines der holländischen Kleinmeister +sah das aus.</p> + +<p>Jucunda und Hans blickten einander an — der Jüngling +in ratloser Befangenheit, das Mädchen gelangweilt, +mit verdrossenem Achselzucken ...</p> + +<p>In diesem Augenblick erklang draußen eine heftige, +erregte Stimme, die Jucunda auffahren machte:</p> + +<p>»Na, Gott sei Dank und Lob — endlich also! G'sucht +hab' ich das Mädchen durch die halbe Stadt ... nee so +was, nee so was!«</p> + +<p>Die Tür sprang auf, und eine massive Frauengestalt +füllte den Rahmen — Frau Wehe verschwand fast ganz +hinter dem roten, schwitzenden Gesicht, das von den Samtschleifen, +den Seidenbändern eines schwarzen Kapothutes +eingesäumt war — hinter den mächtigen Schultern unterm +perlbesetzten Samtcape ...</p> + +<p>»Jucunda — endlich ... Wenn Du wüßtest, was ich +hab' müssen aussteh'n diesen Nachmittag Dir zuliebe ... +Daß mich der Schlag nicht hat gerührt, das is mir ä +blaues Wunder ...«</p> + +<p>»Mutter — Du?« sagte Jucunda langsam und ungnädig. +Sie empfand dunkel, daß diese Erscheinung in +schroffem Widerspruch stand zu dem mystischen Glanz, der, +sie wußte es, von ihr ausging, wenn sie wollte, und wenn +der Glückliche, der in diesem Glanze stand, die nötige +Naivität besaß.</p> + +<p>»Was ist denn passiert? Darf ich zunächst bekannt +machen? Meine Kollegin Fräulein Asta Thöny — Herr +Studiosus — na wie war's doch noch? Dummser, nicht +wahr?«</p> + +<p>»Thumser,« sagte Hans.</p> + +<p>»— meine Mutter, Frau Rat Buchner. Also was +steht Dir zu Diensten, Mama?«</p> + +<p>»Nu nee — ich weeß nich recht, ich mecht wohl mal e +Wertchen mir Dir alleene sprech'n, Jucunda ... Entschuldigen +Se nur, meine Herrschaft'n — aber kannste nich +e bißchen mit mir uff de Straße 'nunter kommen, Kind?«</p> + +<p>»O bitte, gnädige Frau, wenn Sie mit Ihrem Fräulein +Tochter etwas unter vier Augen zu besprechen haben« — +fiel Hans Thumser ein — »meine Stube ist nebenan, die +steht Ihnen mit Vergnügen zur Verfügung — darf ich +Mutter Ach — Frau Wehe, wollt' ich sagen, darf ich ihr +Auftrag geben, daß sie Licht macht?«</p> + +<p>Jucunda dankte mit einem Lächeln, kühl und hoheitsvoll, +wie nie zuvor, als gälte es, den etwas befremdlichen +Eindruck, den das Erscheinen ihrer Mutter gemacht, durch +doppelt königliches Wesen wettzumachen. Und Hans und +Asta blieben allein zurück.</p> + +<p>Stumm war's im Zimmer, während jenseits der Tür, +jenseits der beiden Kleiderschränke, die sie hüben und +drüben verbarrikadierten, ein erregtes Flüstern anhob. +In weißen Schwaden lag der Zigarettenqualm über dem +Tisch, wob um die Hängelampe, ward von Wärmestrudeln +in ihren Schirm hineingesogen und stieg um ihren Zylinder +steil wie aus einem Schlot empor.</p> + +<p>Ein weiches, brüderliches Gefühl zog Hans zu dem +Mädchen hin, das noch immer schweigend am Fenster +stand, vom Laternenlicht umsilbert, von stoßweis zuckendem +Schluchzen den schlanken Leib geschüttelt.</p> + +<p>»Fräulein Asta!« sagte er und trat ein paar Schritte +auf sie zu; das Herz schlug ihm bis in den Hals. Nun +war es da: er war zum erstenmal in seinem Leben mit +einem Mädchen allein.</p> + +<p>Sie antwortete nicht, nur heftiger flossen ihre Tränen +beim Klang der gedämpften Stimme, die so erregt, so +gütig ihren Namen sprach.</p> + +<p>»Fräulein Asta,« sagte Hans noch einmal, »so wahr +ich lebe, ich habe nicht daran gedacht, daß mein Benehmen +Sie kränken könnte. Und Sie müssen mir's glauben, +wenn ich Ihnen sage: es war reiner Zufall, daß ich ... +daß ich mich mehrmals hintereinander mit meinem Gespräch +nur an Fräulein Buchner gewendet habe — ich +weiß wohl, daß ich gesellschaftlich noch nicht sehr gewandt +bin ... aber ... Fräulein Buchner ... Ihnen ... vorziehen +... daran hab' ich ja mit keinem Sterbensgedanken +gedacht ... ich wäre doch auch ein Narr ... Sie ... Sie +sind ja so ein ... so ein wundervolles Geschöpf ... Sie +ahnen ja gar nicht, wie ich ... hingerissen gewesen bin ... +gestern, wie ich Sie auf der Bühne sah ...«</p> + +<p>Er lauschte, ob eine Antwort käme ... aber regungslos +stand das Mädchen, Arm und Stirn an die Scheiben +gepreßt, die von der Wärme ihrer Glieder mit einem +feinen Nebel beschlugen. Und wie Hans sich zage, Schritt +um Schritt, der Fensternische näher schob, fiel sein Blick +auf die Sophienstraße: drüben, vorm Eingang des +Carolatheaters, drängte sich schon wieder, noch weit +über eine Stunde vor Beginn der Vorstellung, ein dichter +Menschenhauf, des Augenblicks wartend, da die Kasse sich +zur ersten Wiederholung der »Jungfrau« öffnen würde. +Noch nicht vierundzwanzig Stunden waren vergangen, +seit er Asta Thöny zum ersten Male gesehen ...</p> + +<p>Aber ihre Tränen waren versiegt: sie harrte, ohne sich +zu rühren ... es war, als lausche sie ... als lechze sie, +mehr zu hören ... mehr ...</p> + +<p>Hans Thumser fühlte, wie alle seine Glieder nur ein +einziges banges, verlangendes Beben wurden ... auch +seine Stimme bebte heftig, als er weitersprach, ohne zu +wissen, was er sagte ...</p> + +<p>»Asta ... ich habe noch nie ... noch nie ein Mädchen +berührt ... ich bin ein ganz dummer, dummer Bub ... +Sie ... Sie müssen Geduld mit mir haben ... Wenn +Sie ahnen könnten, wie mir zumut ist ... wie ich mich +sehne ... ach, wie namenlos ich mich sehne ... ach, und +ich hab' mich ja schon so gesehnt ... seit ich Sie gesehen +hab' da drüben ... in Ihrer Schönheit ... und heut nacht, +o Mädchen, wie haben meine Gedanken, meine Träume +sich an Dich gedrängt ... hast Du das denn nicht gefühlt? +nicht geahnt? Seien Sie doch nicht so stumm, sagen Sie +mir doch, daß Sie mir verziehen haben ... mir ist ja so +bang, so namenlos bang ist mir nach Dir ...«</p> + +<p>Da wandte das junge Weib sich um ... Ihre duftenden +Arme warf sie dem Knaben um den Nacken und überflutete +ihm die Lippen, die Augen, den Hals mit dem +schäumenden Strom ihrer Küsse.</p> + +<p class="start-chapA space-above">Also, Jucunda, Du weeßt nu, was die Glocke geschlagen +hat ...« beendete drüben in Hans Thumsers +Studentenbudchen Mutter Doris ihren Bericht über die +schwerste Stunde ihres Lebens — wie sie den Nachmittagsbesuch +des Herrn vom Nassau-Dillingenschen Hofe genannt +hatte. Sie thronte auf dem Kanapee unter den gekreuzten +durchbohrten Mützen, den staubigen, verblichenen Bändern +in ihrer ganzen schnaubenden, dampfenden Leiblichkeit +... Die Korsettstangen knackten unter den keuchenden +Atemstößen der eingepreßten Lungen, die fleischige Hand +wedelte ohn' Unterlaß mit dem feuchten Taschentuch den +beperlten Hängebacken Erfrischung zu. Jucunda saß +stumm in einem der geblümten Fauteuils, mit zusammengepreßten +Lippen, das stolze Haupt ein wenig zurückgeneigt, +die blauen Augen starr zur Decke gerichtet. Sie +schwieg auch, als die Mutter ihren Bericht geendet und erwartungsvoll +an den Zügen der Tochter hing.</p> + +<p>»Nu rede Du aber gefälligst ooch en Ton!« polterte +Mutter Doris schließlich heraus. »Ich mein', ich hätte +mich nu genügend abgerackert für Dich!«</p> + +<p>»Na, wenn Du meine Meinung denn wirklich hören +willst, Mutter: Du scheinst mir eine märchenhafte Dummheit +begangen zu haben.«</p> + +<p>»I herrjemersch nee ... nu wird mer'sch aber doch zu +tolle! Und was wär' das fier ä Dummheit, wenn's gefällig +wär?«</p> + +<p>»Wie Du den Brief hast herausgeben können, Mutter, +das versteh ich einfach nicht ... das Geld, mag sein, +obgleich mir's schon lieber wäre, ich hätte einen Postquittungsschein +in Händen ... aber den Brief — unglaublich +einfach!«</p> + +<p>Sie sprang heftig auf, stieß den Fauteuil mit einem +Ruck zur Seite, daß er in seinen Grundfesten krachte, und +rannte zum Fenster — starrte hinaus, wie drüben vorher +die zierliche Kollegin ...</p> + +<p>Ach ... da drunten drängten sich die Massen — eben +war der Kassenflur geöffnet worden — stießen sich, +balgten, prügelten sich um den Vorrang ... wem galt +das alles als ihr? Die alle da unten, hatten die einen +anderen Gedanken als — Jucunda Buchner?</p> + +<p>Und nach der Tortur dieser letzten Viertelstunde, nach +all dem Ekel, der Zukunftsbangigkeit, die in ihr aufgequollen +war beim Bericht der Mutter — kam da auf +einmal eine wunderbare Gelassenheit über das Mädchen. +Pah — was konnte ihr geschehen?!</p> + +<p>Inzwischen hatte Mutter Doris sich von ihrem ersten +Schreck erholt.</p> + +<p>»Nee, weeßte, Jucunda, ich versteh Dich nich, wahrhaft'gen +Gott, ich versteh Dich nich. Erscht stellst Du Dich +an wer weeß wie sähre, daß De so än Brief kriegst, un ... +un das andre ... un nu kommt der, der Dir's geschickt +hat, und holt sich's wieder ab — un nu is ooch wieder +nicht recht — — un ich hab' Dir doch bloß die scheißliche +Geschichte woll'n vom Halse halten ... nee, nee, so was! +Das hätt' ich wissen sollen, dann hätt' ich dem dicknäsigen +Herrn ganz einfach gesagt: kommen Se gefälligst wieder, +wenn Fräulein Jucunda Buchner derheeme is — mich +geht's nischt an!«</p> + +<p>»Hättest Du das man getan, Mutter ... Ich hätte +dem Herrn schon beigebracht, wie man mit Jucunda +Buchner spricht — das kannst mir glauben! Ach — aber +es ist ja alles egal ...«</p> + +<p>Sie reckte sich ... ein harter Glanz kam in ihre Augen +... Noch eine knappe Stunde, und die Rampenlichter +flammten auf, und sie tauchte hinein in ihren blendenden +Schimmer — und von jenseits, aus dem dunkel gähnenden +Zuschauerraum, dampfte die Vergötterung der anderthalb +Tausend ihr entgegen ...</p> + +<p>»Was wirscht De denn nu anfangen?« fragte Mutter +Doris ganz halblaut. »Wo der Herr Major doch verlangt +hat, Du sollst machen, daß der ... der Herr Korpsstudent +seine ... seine Aufforderung zum Duell ... daß er die +zurück tut nähm'!«</p> + +<p>Jucunda versank in einen Wirbel der Gedanken. Das +Bild des jungen Gesellen stieg in ihr auf, der so viel für +sie getan ... aus einem ritterlichen Empfinden heraus, +das so einfach, so natürlich war, daß Jucunda es wohl +verstehen mußte, würdigen konnte in seiner schlichten, +starken Mannhaftigkeit ... Und nun sollte sie selber von +ihm verlangen, daß er den kühnen, verhängnisvollen +Schritt, den er zu ihrem Schutze getan — rückwärts tun +sollte ... Sie war in einer Luft groß geworden, in die +immerfort, aus den Stübchen der Mieter ihrer Eltern in +die gute Stube da hinten mit den grünen Plüschmöbeln, +in die Träume ihres eigenen Mädchenkämmerleins +hinein — die romantischen Vorstellungen und Begriffe +von korpsstudentischem Schneid, von Burschenehre hineingeweht +waren ...</p> + +<p>O sie wußte ganz genau, was es für den weiland +Ersten Chargierten der Franconia bedeutete, aus dem +Korps auszutreten, um einen Prinzen, der an offiziellen +Kneipabenden die grüne Mütze anlegte, zum Säbelduell +fordern zu können ... und was es nun erst bedeuten +mußte, wenn sie ihm zumutete, seine Forderung zurückzunehmen, +ohne daß eine Sühne erfolgt war ... ohne +selbst eine formelle Bitte um Entschuldigung ... denn als +eine solche konnte doch der Besuch des Majors, seine unverblümten +Drohungen, die Erlistung des Briefes und +des Geldes aus der Hand der hilf- und ahnungslosen +Mutter unmöglich aufgefaßt werden ...</p> + +<p>Immerhin — hier war der Ansatzpunkt. Die Sache +mußte dem Studenten so dargestellt werden, als habe der +Major den Auftrag gehabt, eine Bitte um Verzeihung im +eigenen Namen und im Namen seines prinzlichen Zöglings +zu überbringen ... als ob er diese Bitte auch tatsächlich +überbracht habe ... und wenn sie, die Beleidigte, sich +mit dieser Genugtuung einverstanden erklärte, dann war +ja doch wohl für ihren Beschützer kein vernünftiger Grund +mehr, seine Forderung aufrecht zu erhalten ... und alles +in schönster Ordnung ...</p> + +<p>Alles in Ordnung? Nein ... Jucunda war ein viel +zu klarer Kopf, als daß sie die Folgen des Geschehenen +nicht zu Ende gedacht hätte ...</p> + +<p>Also er zieht seine Forderung zurück, und dann? Nun +dann ist er, auf gut deutsch gesagt, der unrettbar Blamierte +... Er ist aus dem Korps ausgetreten und hat +ein Mitglied des Korps gefordert — die Forderung ist +zwar nicht zum Austrag gekommen, aber die unsühnbare +Feindschaft zwischen den beiden jungen Männern besteht +— sie können nicht mehr auf der Kneipe zusammensitzen, +nicht mehr die gleichen Farben tragen ... Und da das +Korps seiner ganzen Tradition nach, um seiner Beziehungen +zu Hof, Behörden, Gesellschaft willen den +Prinzen nicht fallen lassen kann, so wird eben Pilgram +dran glauben müssen ... Er hat sein Band verloren, ist +ausgeschieden aus dem Kreise der Freunde seiner Jugend +... All das tapfere Ringen, Mensuren, Chargen, +verbummelte Semester umsonst ...</p> + +<p>Das alles wußte Jucunda und wurde sich im angestrengten +Nachsinnen weniger Minuten über all diese +Folgen klar, mitleidslos gegen sich und ihn ...</p> + +<p>Und wieder meinte sie sein hartes, herrisches Gesicht +zu sehen, wie es weich, selbstlos, opferfreudig aufglühte +um ihrer Ehre willen ...</p> + +<p>»Sie haben weinen müssen — — — das sollen sie mir +bezahlen, die zwei ...«</p> + +<p>Wie gut, wie tapfer, wie ... heldenhaft seine Worte, +seine Tat ... und nun?!</p> + +<p>Hieß das nicht ... ihn schmählich verleugnen ... +wenn sie nun zurückwich, sie ... und dadurch seiner Tat +den ritterlichen Glanz raubte ... sie zu einer Narrensposse, +zu einem Dummenjungenstreich erniedrigte?</p> + +<p>Aber ... ihre eigene Zukunft? Ihre Karriere? War +das nicht alles, alles das, was der Major ihrer Mutter +angedeutet hatte ... waren das nicht alles Wahrheiten?!</p> + +<p>Einen Augenblick lang war sie geneigt, das alles in +den Wind zu schlagen ... Pah ... Engagement in +Frage gestellt ... Bericht gegen sie beim Hof in Meiningen +... War sie nicht Jucunda Buchner? Brauchte +sie die Hoftheater? Oder brauchten die Hoftheater — sie?!</p> + +<p>Ach nein ... So stand es doch nicht ... Man war +nicht immer achtzehn Jahre, nicht immer eine neue Entdeckung, +eine Sensation, eine Mode ... Jucunda wußte +schon viel, viel zu viel von den brutalen Gesetzen der +Macht, der Laune, des Glücks, des Wechsels, welche die +schillernde Welt regierten, in der es ihr bislang so herrlich, +so unverdient und unfaßbar glänzend gegangen ... +sie dachte an ihre alte, verknitterte Garderobiere, die +auch einmal eine vergötterte junge Liebhaberin gewesen +war — freilich nur am Stadttheater in Stallupönen, +aber je höher der Anstieg, um so grimmiger die Gefahr, +um so steiler und zerschmetternder der Sturz ... Nein, +beim Theater konnte sich niemand erlauben, nur auf sein +Talent, seine eigene Kraft und Persönlichkeit zu bauen +und die Gunst der Mächtigen, der Brotgeber leichtsinnig +zu verscherzen ... Niemand konnte sich das erlauben, +auch Jucunda Buchner nicht ...</p> + +<p>Er ... oder ich — — so stellte sich schließlich die +Frage ... und waren da die Chancen nicht doch zu ungleich? +Schließlich ... ersparte sie nicht auch ihm durch +ihren Entschluß, ihn fallen zu lassen, das größere Opfer, +das noch ausstand? Das Risiko eines, nein zweier Zweikämpfe +mit schweren Waffen, unter den schärfsten Bedingungen? +Ersparte sie ihm nicht den definitiven, den +viel größeren, gar nicht wieder gut zu machenden +Skandal?!</p> + +<p>Eine ... Enttäuschung ... eine schmerzliche Wunde +für sein jugendlich enthusiastisches Empfinden bedeutete +es ihm, wenn sie sich zurückzog ... mehr doch nicht ... +Für sie aber stand ihre ganze Zukunft, ihre Zukunft als +Künstlerin wie ihre materielle Existenz auf dem Spiele ...</p> + +<p>Gab es da eine Wahl?</p> + +<p>Und letzten, allerletzten Endes: Hatte er das alles nicht +sich selber zuzuschreiben? Hatte sie ihn um seinen Schutz +— gebeten?! Nein, das hatte sie nicht getan, mit keinem +Wort, keinem Blick ... Er hatte sich zum Verteidiger +ihrer Ehre aufgeworfen ... Hatte sich eigentlich, wenn +man es einmal mit einem etwas scharfen Ausdruck bezeichnen +wollte, aufgedrängt ... Und hatte sie nicht alles +Mögliche versucht, ihn von diesem unerbetenen Opfer abzuhalten?! +Aber er war ja fortgestürmt, als ging's um +seine eigene Ehre, um sein Leben ...</p> + +<p>Jucunda stand am Fenster, noch immer regungslos. +Und hinüber, herüber schossen die Gedanken, anklagend +und entschuldigend ...</p> + +<p>Mutter Doris saß ganz still und gedrückt in ihrem +Kanapee ... Daß sie eine furchtbare Dummheit gemacht, +als sie das verhängnisvolle Briefchen aus der Hand gegeben +... das war ihr nun völlig klar ... Ihre spießbürgerliche +Verschlagenheit sagte ihr ja nun selber, daß +man aus solchen Beweisstücken Kapital hätte schlagen +müssen ... Selbstverständlich nicht im materiellen Sinne +— o nein, so etwas hatte man ja gottlob nicht nötig ... +Aber man kann doch nie wissen, wozu man ein solches +Zettelchen einmal gebrauchen kann ... So etwas läßt +man sich doch nicht ganz umsonst aus den Fingern +drehen ...</p> + +<p>Und dies Bewußtsein: die einzige Waffe, die ihre +Tochter besaß, blöde, gedankenlos aus der Hand gegeben +zu haben — das machte sie klein und stumm ...</p> + +<p>Jucunda schloß unterdessen ab. Ganz kühl, ganz klar +hatte sie alles abgewogen. Nein, es ging nicht ... Sie +konnte sich nicht, wider ihre innersten Lebensinteressen, +von dem Don-Quichotte-Streich des jungen Burschen durch +dick und dünn fortschleppen lassen ... Losketten mußte +sie das Schiff ihres Glücks von der toll und steuerlos +dahinrasenden Fahrt des überheizten Dampfers, der sie so +mir nichts dir nichts ins Schlepptau genommen ...</p> + +<p>Und doch ... und doch ...</p> + +<p>'Sie haben weinen müssen ... Das sollen sie mir bezahlen +... die zwei ...'</p> + +<p>Wenn man — diesen Ton, diesen Blick nur los werden +könnte ...</p> + +<p>Pah ... Es <em class="gesperrt">mußte</em> sein ...</p> + +<p>Und schließlich und endlich — wer war Herr Pilgram?! +Ein gleichgültiger junger Mensch, von dem sie nichts +wußte, als daß er sie einmal sehr grob in ihrer Arbeit +gestört ... sich für diese Grobheit dann freilich sehr +manierlich entschuldigt ... und eine Abendstunde mit ihr +geplaudert hatte ... in der sie, das wußte sie ganz genau, +ihm nicht die leiseste Andeutung einer Sympathie gemacht +hatte, die sie ja auch nie empfunden hatte ... Denn +schließlich, sie machte sich ja doch nicht das mindeste aus +ihm ... Er war ein kreuzbraver, aber doch durchaus +alltäglicher Geselle ... Ja, wenn noch etwas in ihrem +Herzen sich geregt hätte bei dem Gedanken an ihn ... +die Ahnung von etwas Besonderem ... wie sie es eben, +vor einer halben Stunde, so deutlich gefühlt hatte im Gespräch +mit ... jenem andern grünbemützten Studenten, +in dessen Zimmer sie jetzt stand ... der so schöne Verse +machen konnte und so seltsam verhaltene Worte reden... +in dem irgend etwas gärte und brodelte, das ihrem +eigenen Wesen und Wollen auf eine geheimnisvolle Weise +verwandt war ...</p> + +<p>Nein ... Herr Pilgram war ... irgendein Herr +Pilgram ... war nichts und niemand ... Herr Pilgram +hatte sich in ihr Leben eingedrängt ... man würde +ihn mit möglichster Schonung, doch unmißverständlich +wieder hinauskomplimentieren müssen ...</p> + +<p>»Es ist gut, Mutter ...« sagte Jucunda und wandte +sich ruhig um. »Ich will Herrn Pilgram schreiben ... +jetzt gleich ... er soll seine Forderung zurückziehen ... +Den Brief kannst Du ihm hernach — wenn wir aus dem +Theater nach Hause kommen — dann kannst Du ihm den +Brief auf die Stube legen ... Hoffentlich ist er nicht zu +Hause, wenn wir kommen — sonst — na sonst mußt Du +ihm den Brief eben geben.«</p> + +<p>»Na, das is verninft'g von Dir, Mädchen!« seufzte die +stattliche Frau und atmete tief auf, daß die Korsettstangen +knackten. »Hier, mache nur schnell ... Da is ja der +Schreibtisch, und Briefpapier liegt ooch genug herum — +gleich setz' Dich und schreib'! Kannst Dich ja hernach bei +dem Herrn entschuld'gen ...«</p> + +<p>Jucunda ging zum Schreibtisch des Studenten hinüber, +fand Briefbogen, entdeckte aber, daß sie sämtlich +oben in der linken Ecke den Zirkel des Korps Franconia +und darunter das Monogramm des Eigentümers trugen. +Da drehte sie kurz entschlossen einen Bogen herum und +schrieb auf die Rückseite:</p> + +<p class="right" style="margin-right : 1em"> +»Leipzig, den 31. Oktober 1888. +</p> +<p class="center"> +Sehr geehrter Herr!<br /> +</p> + +<blockquote> + +<p>Ihr ritterliches Eintreten für mich hat den gewünschten +Erfolg gehabt: die beiden Herren, die mir +diesen abscheulichen Brief geschickt haben, haben mündlich +bei mir um Entschuldigung gebeten. Ich bin über +diese Lösung hocherfreut und danke Ihnen innigst für +Ihren gütigen Beistand, ich weiß wohl, daß Sie mir +ein großes Opfer gebracht haben. Nun ist der Zweck +Ihres Handelns erreicht. Bitte tun Sie mir nun auch +den Gefallen und nehmen Sie so bald als möglich Ihre +Herausforderung zum Duell zurück, damit nicht noch +weitere Unannehmlichkeiten entstehen.</p> + +<p>Ich bin mit der nochmaligen Versicherung meines +aufrichtigen Dankes</p></blockquote> + +<p class="right" style="margin-right:7em"> +Ihre ganz ergebene +</p> +<p class="right" style="margin-right:1em"> +J. B.« +</p> + +<p>In einem Zuge, ohne Besinnen, hatte Jucunda geschrieben: +Nun überlas sie die Zeilen und wunderte sich, +wie klar und einfach und selbstverständlich das alles klang. +Und darum wunderte sie sich noch viel mehr, weshalb ihr +nur so übel dabei zumute war. Sie hatte ja doch recht, +tausendmal recht ... Es war eine so klare vernünftige +Lösung — es konnte ja doch schlechterdings nicht anders +gemacht werden ...</p> + +<p>'Sie haben weinen müssen ... Das sollen sie mir bezahlen, +die zwei ...'</p> + +<p>Das war ja doch eigentlich ein Unsinn ... Was +gingen ihn, den fremden jungen Mann, ihre Tränen an? +Was berechtigte ihn, für diese Tränen Sühne zu fordern? +Da war irgend etwas, das stimmte nicht ... ein Fehler, +ein Gedankenfehler ... Und aus diesem Fehler war alles +entstanden ...</p> + +<p>Dennoch ... Sie fühlte es ganz deutlich: Um das +törichte, unbesonnene Handeln des Jünglings war etwas +Leuchtendes, etwas, das den Taten des Mädchens von +Orleans verwandt war ... Und es war wie in Talbots +Worten, des eisigen Vernünftlers, dessen hundeschnäuzige +Kriegsmathematik vor dem frommen Wahn der Jungfrau +zusammenbrach:</p> + +<p class="quote"> +»Unsinn, du siegst ... und ich muß untergehn ...«<br /> +</p> + +<p>Und während Jucunda Buchner den Brief kuvertierte +und die Adresse darauf schrieb:</p> + +<p class="center">»Herrn Stud. Pilgram«</p> + +<p>— seinen Vornamen entsann sie sich auf der Visitenkarte +gelesen zu haben, die er an seine Tür genagelt hatte, aber +er wollte ihr nicht einfallen — als sie so schrieb, da +empfand sie es ganz deutlich, ganz unabweisbar, daß sein +Tun gut und groß gewesen war ... und ihres frostig und +häßlich und gemein ...</p> + +<p>»Da, Mutter, steck den Brief in Deinen Pompadour ... +und jetzt« — sie zog die Uhr — »sieben bereits!« Donnerwetter! +Jetzt revidierte der Inspizient drüben schon die +Garderoben! Teufel auch — höchste Zeit ins Theater — +»Vorwärts, Mutter!«</p> + +<p>»Willste nich Deine Kollegin daneben abholen?«</p> + +<p>»Na — die wird wohl schon hinüber sein — aber ich +kann ja mal nachsehen ...«</p> + +<p>Sie klopfte an die Tür des Nachbarstübchens, und da +keine Antwort kam, klinkte sie auf. Die kleine Kammer +lag dunkel und still. Nur durch die Fenster fiel der Schein +der Gaslaternen von der Straße durch die Gardinen, +malte ein paar große Rechtecke an die weißgetünchte Decke. +Also Asta Thöny warf sich drüben bereits wieder in den +steiflinigen Brokat der Agnes Sorel ...</p> + +<p>»Sie ist schon hinüber — und kommt doch erst im +ersten Akt — und ich muß schon zum Prolog 'raus ... +Glücklicherweise nur das Bauernkleid ... Vorwärts, +Mutter ...«</p> + +<p>Das hatte sie freilich nicht sehen können oder wenigstens +nicht gesehen in der Finsternis, daß auf dem Sofa noch +einsam und regungslos der junge Student gesessen hatte, +das Poetlein, um dessen »schwindelschmalen Pfad Abgründe +klafften rechts und links ...«</p> + +<p>Daß er noch immer da saß, seitdem das Mädchen sich +aus seinen Armen gerissen ... Alle Glieder und das +Herz wie mit Blei beschwert vor trunkener Zärtlichkeit, +sein ganzes Wesen durchschauert von Erfüllungsglück ...</p> + +<p>Jucunda schritt über den Hof, der mit Dekorationsstücken +vollgepfropft war, die zum Schutze gegen den +Regen mit Wachsleinwand verhangen waren — stolperte +über die Beine des ausgestopften schwarzen Pferdes, +dessen Leichnam im dritten Akt so überzeugend die Stimmung +des blutgedüngten Schlachtfeldes heraufbeschwor — +nahm dies Stolpern für ein gutes Omen, hastete weiter, +so schnell, daß Mutter Doris in weitem Abstande hinter +ihr drein schnaufte ... Und als sie nun das schmale +Pförtchen aus Eisenblech öffnete, das zum Bühnenraum +führte, als ihr der vertraute Dunst von Schminke, wirbelndem +Staub und Menschenbrodem entgegenschlug, als +sie den schlechterleuchteten Korridor, den halbdunklen +Bühnenraum kreuzte, auf dem die Arbeiter eben den +Prospekt zum Prolog anbohrten ... als sie dann die +hallende Steintreppe hinanflog, in ihr Kämmerchen schoß, +wo die zerknitterte Krausen herzklopfend ihrer harrte — +(»Ach Gottchen nee, gnäd'ges Fräulein, daß Se nu endlich +kommen! Der Inspizient und der Herr Oberregisseur +sind schon sechsmal mind'stens dagewäsen nach Ihn' +fragen!«) als ihr weißes Gewand, als das blanke Eisen +ihrer Rüstung, ihres Helmes aufgleißten im hellen Licht +der Spiegellampen —</p> + +<p>— da fühlte sie, wie alles, alles abfiel, was dieser +Tag ihr Fremdes, Verworrenes, unheimlich Störendes +gebracht. Fühlte, daß sie noch dieselbe war wie gestern +abend um diese Stunde — dieselbe, die sie immer sein +würde, so oft der Rausch des Komödienspiels, des Im-Spiele-Gestaltens +über sie kam.</p> + +<p>Sie riß die Taille ihres Straßenkleides ab, reckte die +herrlichen Arme, schmetterte durch den Raum, daß die +Wände wankten:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Ins Kriegsgewühl hinein will es mich reißen,<br /></span> +<span class="i0">Es treibt mich fort mit Sturmes Ungestüm,<br /></span> +<span class="i0">Den Feldruf hör' ich mächtig zu mir dringen,<br /></span> +<span class="i0">Das Schlachtroß steigt, und die Trompeten klingen!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Ja, es parierte, das erzene Organ ... vor dem sogleich +die anderthalb Tausend da drunten erzittern würden ... +Ja, sie war es noch, um derentwillen die alle da draußen +vor allem doch gekommen waren — die Heldin des Stückes, +die Heldin dieses Abends ...</p> + +<p>Kaum stand sie im Bäuerinnengewand, die braunen +Haare zu schlichtem Flechtenbau um das runde Haupt +gelegt, da trat Franz Burg ein, im ledernen Koller bereits, +doch noch ohne das rasselnde Blech drüber, noch ohne +Maske:</p> + +<p>»Nun, Langbeinchen? Das kennt man ja gar nicht +von Ihnen, daß Sie mal zu spät kommen! Wie ist die +Stimmung?«</p> + +<p>»Prima prima!« lachte sie und leuchtete den Freund an.</p> + +<p>»Nichts Neues in der Affäre?« fragte er leise.</p> + +<p>»Nichts von Belang ... Ich denke, es renkt sich ein.«</p> + +<p>»Oh!« Franz Burg zog die tiefschattenden Augenbrauen +hoch — »das wäre aber jammerschade ... Können +Sie denn nichts dazu tun, daß die Geschichte mit dem +nötigen Theaterdonner zum Klappen kommt?«</p> + +<p>»Ach ... Ich bin froh, wenn sie aus der Welt ist ... +Ich muß freien Kopf haben, freie Arme zum Arbeiten, +zum Schaffen ...«</p> + +<p>»Soll ich Ihnen mal was verraten? — Ihr Erbprinz +ist im Theater — hat noch vor einer halben Stunde einen +<a id="InCorr4">Levkoyen</a> geschickt und eine Loge bestellen lassen ... Da +alles futsch war, hat der Intendant die Direktionsloge zur +Verfügung gestellt ...«</p> + +<p>»Hm ... Das ist ja interessant ... Werde mir den +jungen Herrn doch mal anschaun ...«</p> + +<p>»Sie kennen ihn noch gar nicht?«</p> + +<p>»Keine Ahnung ...«</p> + +<p>»Na — die Hauptsache ist: Er ist da — jedenfalls ein +Beweis, daß man nicht ungnädig ist ... Na, die Reklame +haben Sie verscherzt, nun halten Sie sich wenigstens den +hochgeborenen Verehrer warm ...«</p> + +<p>Der Inspizient steckte den Kopf zur Tür herein:</p> + +<p>»Fräulein Buchner — bitte auf die Szene!«</p> + +<p>»Also, Langbeinchen, wieder mal: Hals- und Beinbruch!«</p> + +<p>»Danke, Meister!«</p> + +<p>Mit Wohlgefallen sah Franz Burg der weißen, stolzen +Gestalt nach. Künstlerblut! dachte er, kennt nichts als +sich und ihre Arbeit ... Alles andre ist Dreck ...</p> + +<p>Und Jucunda schritt die Treppe hinunter. Alles +grüßte mit vertraulicher Höflichkeit, wenn sie vorüberging: +die Friseure, die Bühnenarbeiter, die Statisten, die +Volontäre ...</p> + +<p>Und in ihrer Seele schwoll die unbändige Lust des +Schaffens. Es schwang und klang in ihr von dröhnendem +Jambenstrom und schmelzender Trochäenklage ... »Frommer +Stab, o hätt' ich nimmer mit dem Schwerte dich vertauscht« +... Kaum konnte sie das Maß, die scheue, entrückte +Gebärde für die Stimmung des Anfangs finden, +da sie noch ein schlichtes Hirtenmädchen ist, von geheimen +Stimmen, phantastischen Visionen geängstigt, doch ihrer +Sendung noch ahnungsvoll unbewußt ...</p> + +<p>Und endlich rauschte die Gardine empor, wogte drunten +das Gebraus, das wohlbekannte, von Zettelknistern und +Räuspern und Zurechtrücken, klappten die Sitze der Zuspätkommenden, +tönte das leise Zischen der Gestörten ... +Und all dies wirre Durcheinander verebbte nach und nach, +und die große schaurige Stille ward, in die ihrer Partner +Verse hineinklapperten, wie eine belanglose Ouvertüre, +ein gleichgültiger Auftakt des Augenblicks, da sie die ersten +Worte zu sprechen haben würde ... Ach, aber wie endlos +lang dieser Auftakt! Die kamen ja heut wohl gar nicht +vom Fleck, der alte Thibaut, ihre Schwestern, die Bräutigame +— biedre Chormitglieder, die heute ein paar Verse +zu lallen hatten ...</p> + +<p>Gesenkten Hauptes, stumm stand das Hirtenmädchen +im Hintergrund ... Nur zuweilen hob sie zaghaft und +scheu die großen Augen, ließ sie von einem zum andern +flattern, als verstände sie die Sprache ihrer nächsten +Menschen nicht mehr ... Und aus den verträumten +Augen Johannas d'Arc spähte Jucunda Buchners ganz +wacher, lauernder Sinn in den Zuschauerraum, dorthin, +wo dicht an der Rampe links die Direktionsloge lag ... +Die Lichter blendeten abscheulich — dennoch konnte sie allmählich +ganz vorn, matt angestrahlt vom Widerschein des +hellen Bühnentages, zwei Gesichter erkennen: ein fahles, +junges mit der blinkenden Scherbe im Auge — und daneben +ein verwettertes, tiefgebräuntes mit flatterndem +Schnurrbart ... Also das waren die zwei — »von Dillingen +— von Gorczynski« — das waren die Schreiber +des verhängnisvollen Briefchens — die Spender des +Rosenturms und der ... beiden ... blauen ... Lappen ...</p> + +<p>Achtung jetzt! Bertrand kommt, den blinkenden Helm +in der Hand, den »ein Bohemerweib« ihm aufgedrungen +im Gewühl ... Gleich wird das Stichwort kommen ... +Horch ... Die letzten Verse rannen hin:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Da war das Weib mir aus den Augen schnell —<br /></span> +<span class="i0">Hinweggerissen hatte sie der Strom<br /></span> +<span class="i0">Des Volkes, und der Helm blieb mir in Händen.«<br /></span> +</div></div> + +<p>In diesem Augenblick versank alles, alles ... Jucunda +Buchner versank, und nichts mehr war als Johanna von +Orleans ... Die schoß nun wie ein Meteor aus der +scheuen Zurückgezogenheit vor, riß dem alten Bauern den +Helm aus der Hand:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Gebt mir den Helm!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Erschrocken fragt der Alte:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i22">»Was frommt Euch dies Gerät?<br /></span> +<span class="i0">Das ist kein Schmuck für ein jungfräulich Haupt!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Und wie eine Fanfare jauchzt es aus der endlich entfesselten +Brust der jungen Heldin:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Mein ist der Helm — und mir gehört er zu!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Alles — alles ist versunken — nur eines wirkt und +wogt: der große Rausch des Schaffens ...</p> + +<p>Und Johanna wurde erst wieder Jucunda, als nach +dem ersten großen Monolog die Gardine sank und gleich +darauf, wie hinweggerissen vom Orkan des Beifalls, +wieder emporrauschte ... als tausendstimmiger Jubelruf +sie umbrandete ...</p> + +<p>Da war Jucunda wieder da — ganz wach, ganz klar ... +Und sie neigte sich ... neigte sich zuerst mit tiefem Hofknix +nach der Direktionsloge.</p> +</div> + +<div> +<h2>9.</h2> + +<p class="start-chapA">Als Herr Borgmann Neo-Borussiae das Hotel Hauffe +verließ und verloren, ziellos nach dem Augustusplatz +hinüberschlenderte, kam er sich entsetzlich dumm vor. Was +sollte er nun seinem Auftraggeber und Doppelgegenpaukanten +ausrichten? Man hatte seine Forderung nicht angenommen, +aber auch nicht abgelehnt ... Ein Witz ... +aber ein fader ... Ist bei Ihrem Auftraggeber eine +Schraube los? Rabiater Bursche — ich danke für einen +Skandal ... Koller ... Pathologischer Zustand ... +Verlange absolut geräuschlose Erledigung ... Rechne +dabei auf Ihre Mitwirkung ... Das waren so ungefähr +die Schlagworte, die Herrn Borgmann noch im Gedächtnis +hängen geblieben waren und nun in der korrekten +Chargiertenseele einen tollen Tanz vollführten ... Ja, +was sollte man auch einem Prinzen antworten, der von +korpsstudentischer Direktion und Haltung keinen Schimmer +hatte? Der eine so blutig ernste Sache wie eine Säbelforderung +einfach behandelte ... wie ... na wie einen +Hanswurststreich ... wie einen faulen Kalauer?!</p> + +<p>Und das hatte man sich gefallen lassen? Man hatte +Ja und Amen gesagt zu der ungeheuerlichen Zumutung, +nach solch einem Affront auch noch an einer ... hm, hm! +geräuschlosen Beilegung mitzuwirken?!</p> + +<p>Herr Borgmann nahm die weiße Mütze mit dem weiß-schwarz-weißen +Randstreifen ab und tupfte die von weißblonden, +seltsamerweise schon etwas gelichteten Haaren +umsäumte Stirn. Was konnte man seinem Auftraggeber +nun eigentlich berichten? Hatte der Prinz irgend eine +Erklärung zur Sache selbst abgegeben? Eine Entschuldigung +bei der beleidigten jungen Dame in Aussicht gestellt? +Nicht das mindeste ... Er hatte nichts weiter geäußert +als Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Mandanten +— und das kategorische Verlangen, die Sache müsse aus +der Welt geschafft werden!</p> + +<p>Na, und du, Wilhelm Borgmann, Neo-Borussiae gewesener +Zweiter, Erster?! Was für eine Antwort hast du +gefunden?</p> + +<p>Gar keine! Völlig aus dem Konzept hat man dich gebracht, +verblüfft, verhohnepiepelt ... Schindluder hat +man mit dir getrieben, ganz einfach!</p> + +<p>Und warum? Warum hast du nicht aufgemuckt? +Warum hat deine ganze mühevoll erworbene korpsstudentische +Direktion, deine Haltung, dein Schimmer dich verlassen? +Weil dies junge hagere Herrchen im hellblauen +Dragonerüberrock mit den silberblinkenden Knöpfen ein ... +Prinz von Geblüt war ... Da war von deiner Spießbürgerseele +der dünne Firnis des Kavaliers abgefallen, +den man dir in einer Dressur von fünf Semestern aufgepinselt +— und du warst in Lakaiendevotion submissest +zusammengeknickt!</p> + +<p>Und drüben im Theaterrestaurant sitzt der unglückselige +Pilgram, weiland Franconiae, und wartet auf Antwort ... +Wartet auf das Schicksal ...</p> + +<p>Ja, was sagt man ihm nur? So wie die Geschichte in +Wirklichkeit abgelaufen ist, so kann man sie ja gar nicht +erzählen — der rabiate Bursche schlägt sonst Krach! Das +muß man sich erst ein bißchen zurechtlegen ...</p> + +<p>Herr Borgmann suchte einen Zufluchtsort. Café +Felsche? Viel zu viel Betrieb jetzt da, wahrscheinlich auch +ein Tisch voll Neo-Borussen — —</p> + +<p>Ein Einfall! Das Museum! Das war zu dieser +Stunde vielleicht noch geöffnet ...</p> + +<p>Und Studiosus Borgmann tat etwas, was ihm in +seinen fünf Semestern, die er in Leipzig zugebracht, noch +niemals passiert war: Er ging ins Museum hinein, stieg +die prächtige Marmortreppe hinan, schritt gleichgültig durch +die Säle voll bemalter Lappen in goldenen Rahmen und +versank in einem Plüschsofa des großen Oberlichtsaales ... +Und sann, wie er die Sache deichseln könne, ohne seine +Blamage eingestehen zu müssen.</p> + +<p>Inzwischen saß Valentin Pilgram in regungslosem +Warten in einer dunklen Ecke des Theaterrestaurants. +Was werden würde? Nun das war ja ganz klar: Sowohl +der Major als auch der Erbprinz, der die Charge +eines Rittmeisters bekleidete, würden die militärisch korrekte +Erklärung abgeben, daß sie die Tatsache der erfolgten +Forderung ihrem zuständigen Ehrenrat unterbreiten +würden ... Der würde dann einen formellen Ausgleichsversuch +machen — wenn dieser, wie selbstverständlich, +gescheitert wäre, würde der Erbprinz einen Ersatzmann +stellen, einen möglichst fechtgewandten Offizier eines +Gardekavallerieregiments ... Und dann stiegen eben die +beiden Partien ... Na Himmel, das hatte man ja doch +schon fünfmal durchgemacht — zwar nicht unter ganz +gleich schweren Bedingungen ... Aber — na ja, Eisen +ist Eisen, und fechten haben wir ja gottlob gelernt ...</p> + +<p>Und dann ...</p> + +<p>Valentin Pilgram versank in Träume ... Dann +mußte irgend etwas kommen, etwas Schönes, von dem +man sich keine rechte Vorstellung machen konnte. So ganz +ohne Dank und Lohn würde man ihn doch nicht laufen +lassen ...</p> + +<p>Dank und Lohn? Aber wie?</p> + +<p>Valentin Pilgram hatte bewiesen, daß er bereit war, +sich jeden vors krumme Messer zu langen, der an dies +Mädchen anders dachte denn an eine Heilige ... Und +Heilige ... Wie belohnen sie denn?</p> + +<p>Mit ihrer Gnade ... Mit Fürsprache im Himmel ...</p> + +<p>Sie belohnen von ferne ... Mit Gaben, für die man +sich auf Erden verdammt wenig kaufen kann ...</p> + +<p>Na, und das wird ja auch wohl dein Fall sein, mein +guter Valentin — nicht wahr?!</p> + +<p>Na — und wenn auch! Wir haben eben getan, was +wir mußten ...</p> + +<p>Ein alter Reckenspruch aus den goldenen Tagen des +Rittertums klang ihm durch den Sinn:</p> +<div class="poem"> +<div class="stanza"> +<i lang="fr"> +<span class="i0">A Dieu mon âme,<br /></span> +<span class="i0">Ma vie au roi,<br /></span> +<span class="i0">Mon coeur aux dames,<br /></span> +<span class="i0">L'honneur pour moi.<br /></span> +</i> +</div> +</div> + +<p><i lang="fr">Pour moi</i> ... Na eben, das war's: das Bewußtsein: +So gehört sich's — und so hab' ich's gemacht ...</p> + +<p>Endlich! Da kam sein Kartellträger ...</p> + +<p>»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Borgmann ...«</p> + +<p>»Gewiß, gern ... Herr Ober, eine Schale Schwarz ...«</p> + +<p>»Also ... Angenommen?«</p> + +<p>»Hm ... Die Herren haben Erklärungen abgegeben, +die vielleicht ... als befriedigend gelten könnten ...«</p> + +<p>»Was! sie kneifen?!«</p> + +<p>»Hm ... Doch wohl etwas zu schroffer Ausdruck ... +Der Prinz hat den Major beauftragt, die Angelegenheit +in Güte zu arrangieren ... Ich nehme also an, daß er +Familie Buchner im beiderseitigen Namen um Verzeihung +bitten wird ... Was macht's, Ober? Fünfundzwanzig? +Schön — ziehen Sie fünfunddreißig ab ...«</p> + +<p>Valentin Pilgram war wie vor den Kopf gestoßen.</p> + +<p>In Güte arrangieren ... Fräulein Buchner um Verzeihung +bitten ... Hm ... Verteufelt einfache Lösung ... +Und das hatte man sich nicht mal im Traume vorgestellt, +daß es so kommen würde ... kommen ... müßte ...</p> + +<p>Himmel ja — man war eben Korpsstudent — trat für +alles, was man gesagt und getan — selbst in der Hitze gesagt +und getan — für das trat man eben stramm und rücksichtslos +ein mit Waffe und Blut, mit Schädeldach und +Nase, mit Brustbein und Armknochen — konnte sich gar +nicht vorstellen, daß jemand auswich — revozierte und +deprezierte — den Schwanz einzog und ... na eben kniff.</p> + +<p>Und ... jeden andern Kneifer durfte man einen +Kneifer schimpfen ... Dieser aber stand außerhalb der +Lebensgesetze der akademischen Welt — der er <i lang="la">pro forma</i> +doch angehörte ... Der konnte sich eine Kneiferei leisten, +obwohl er doch auch Student, offiziell sogar Korpsstudent +war ...</p> + +<p>Was für ein Hohn ... Was für eine blöde Farce!</p> + +<p>»Hm ... Und Sie meinen, Herr Borgmann — mit +diesen Erklärungen müsse ich mich begnügen?«</p> + +<p>»Ich ... glaube wenigstens nicht, daß ... nach +diesen Erklärungen ... das Ehrengericht Ihre Forderung +noch genehmigen würde, wenn Sie darauf bestehen +wollten ... Selbst ein S. C. Ehrengericht nicht ... Aber +vor das kommt die Sache ja überhaupt nicht ... Die +kommt vor den Offiziersehrenrat ... Na und der wird +eben selbstverständlich die Sache für erledigt erklären +unter diesen Umständen ...«</p> + +<p>Ach so ... Also alles in schönster Ordnung ... Die +Ehre der angegriffenen jungen Dame <i lang="la">in integrum</i> restituiert +durch die Deprekation ... und nur er selber ... er +selber um sein Korpsband gekommen ... und eigentlich ... +der ... Blamierte ...</p> + +<p>Hm ... es stimmte ... Da war nichts zu machen ... +Aber auch gar nichts ...</p> + +<p>Ja ... Wie war denn das aber möglich? Hatte er +denn irgend einen ... Fehler gemacht?</p> + +<p>Nein ... Er hatte den Geboten der Ehre, der Ritterlichkeit +gefolgt ... Und was sich da wider ihn aufreckte ... +das war etwas, was er bis dahin noch nicht geahnt hatte +— der Unsinn des Daseins ... die Tragikomödie des +Idealismus ... dieses phantastischen romantischen +Idealismus, der den eigenen Adel, die eigene heroisch-naive +Auffassung von Pflicht und Ehre noch für das Gesetz +des Weltganges hält ...</p> + +<p>Valentin Pilgram stand auf ... stumm ... stieren, +korrekten Antlitzes.</p> + +<p>»Ich danke Ihnen verbindlichst für Ihren gütigen +Beistand, Herr Borgmann ... Nun, dann wird sich die +Sache ja wohl in aller Güte und Freundschaft erledigen ... +zwischen den ... <em class="gesperrt">Nächstbeteiligten</em> ... Adieu, +Herr Borgmann ...«</p> + +<p>Donnerwetter — dachte Wilhelm Borgmann — das +hat besser gegangen, als ich mir's träumen ließ ...</p> + +<p>Valentin Pilgram irrte durch die Straßen ... Dies +Menschengewoge, der Spätherbstglanz über der Welt, die +Wagen, die klingelnde Pferdebahn, das alles machte ihn +rasend. Er floh ins Rosental, strich ziellos durch die +Laubgänge ...</p> + +<p>Jucunda! Das war sein einziger Trostgedanke ... +Jucunda würde zu ihm stehen ... ihm danken, ihn belohnen +... irgendwie ... für alles, was er ihr geopfert +...</p> + +<p>Er rannte immer weiter, immer tiefer ins Holz hinein +— über die Elster hinüber, kreuzte die sumpfigen Wiesen +jenseits der Marienbrücke, verlor sich in den braunen +Forsten des Leutzscher Holzes. Es kam die frühe Dämmerung, +es wurde feucht und frostig unter dem Laubdach, +von dem langsam Blatt um Blatt niederrieselte im melancholischen +Schweigen des windstillen Herbstabends — +Valentin Pilgram bemerkte es nicht. Und wie die Fledermäuse, +die lautlos um die schattenhaften Säume der Gebüsche +schwirrten, über den perlmuttfarbenen Spiegeln +der Sumpfteiche huschten, so flatterten durch des wackern +Gesellen Hirn die aberwitzigen Gedanken.</p> + +<p>Er hatte doch recht getan — gehandelt wie ein Mann +und Kavalier ... Und eine lächerliche Blamage war die +Folge ... Das Korpsband, das geliebte, war von seiner +Brust hinweggeweht, wie ein klagender Abendhauch die +ziehenden Nebelstreifen dort auf den Wiesen hinwegstreifte ...</p> + +<p>Das konnte doch das Ende nicht sein — so dummejungenmäßig +beiseite geschoben werden, das war doch kein +Abschluß für Valentin Pilgrams stolze, prangende Burschenherrlichkeit ...</p> + +<p>Nein ... Es mußte noch irgend etwas kommen — +die Ahnung irgend eines süßen oder schrecklichen Ereignisses +düsterte durch die Seele des einsamen Wanderers.</p> + +<p>Es war schon Nacht, sternüberflimmerte Spätherbstnacht, +als er vor sich die dunklen Umrisse des Leutzscher +Bahnhofes auftauchen, die grellfarbigen Lichter des Bahnkörpers +flimmern sah. Eine dumpfe Sehnsucht nach der +Stadt zurück überkam ihn plötzlich, nach wogenden Menschenmassen, +nach Wagenlärm und glitzernden Schaufenstern. +Er erkundigte sich: der nächste Zug fuhr erst +in einer halben Stunde. In dem schmutzigen Bahnhofsrestaurant +schüttete er hastig, gedankenlos ein paar Glas +Bier in die brennende Gurgel. Als der Zug herannahte +und er die Börse zog, bemerkte er, daß er an seiner Uhrkette +noch den Bierzipfel trug, ein Stück des grün-gold-roten +Korpsbandes mit goldenen Beschlägen ... Da +hakte er mit einem bitteren Zucken der Mundwinkel den +blanken Zierat ab und barg ihn in seiner Brieftasche.</p> + +<p>Als er auf dem Thüringer Bahnhof ankam, war es +gegen neun Uhr. Er hastete heimwärts. Jetzt war +Jucunda im Theater — spielte abermals die Jungfrau ... +An allen Anschlagsäulen hing der Theaterzettel, der ihren +Namen trug ... Es trieb ihn nach Hause, dahin, wo sie +geboren und groß geworden war, eine seltene, phantastische +Wunderblume, in einem abgezirkelten, banalen Spießergärtchen +erblüht ...</p> + +<p>Alles war still und finster in dem engen, muffigen +Korridor, als er die Entreetür öffnete. Natürlich, die +Eltern waren ja mit im Theater, ihr Goldkind zu bewundern ...</p> + +<p>Er suchte seine Zündholzschachtel, fand sie, aber sie war +leer. Vergebens tappte er nach Licht. Die Tür zur +Wohnstube war angelehnt, ein matter Lichtreflex von der +Straßenbeleuchtung fiel heraus. Valentin konnte der Versuchung +nicht widerstehen und trat ein. Stumm und +dunkel und dumpfig lag das Zimmer. Dort am Fenster +hatte er mit ihr gestanden — wann doch nur? Vor einer +Ewigkeit?! Pah — es war noch nicht vierundzwanzig +Stunden her ... Und hier auf dem verschlissenen Plüsch +hatte sie gesessen, das weiße Königinnenhaupt zurückgelehnt +... und — wie hatte sie nur gesagt? 'Vielleicht +kann ich doch einmal einen Ritter gebrauchen — dann will +ich an diese Stunde denken und Sie rufen ...' Und jetzt? +Hatte sie ihn nicht gerufen? — Nein — das eigentlich +wohl nicht ... Aber hatte sie nicht geweint?! Sie ... +sie ... und hatte geweint um einer bübischen Kränkung +willen ...</p> + +<p>Und da hatte er getan, was er genau so rasch, so selbstverständlich +und geradezu getan hätte für seine Schwesterchen +daheim in Dresden ... Und morgen würde ganz +Leipzig über ihn lachen ...</p> + +<p>Hastig trat er auf den stockfinstern Korridor zurück und +tappte nach seiner Stube hinüber. Zufällig bekam er die +Klinke zu Jucundas Kammertür in die Hand ... Er +drückte sie nieder, und ein Duft wehte ihm entgegen, der +ihn mit einem Schwall stummer, wirrer Sehnsuchtswünsche +bedrängte. Das Zimmer lag nach einem Seitengäßchen +hinaus und war fast völlig finster. Nur aus +einem gegenüberliegenden Fenster fiel ein ganz matter +Lichtschein hinein. In diesem Schein leuchtete das weiße +Bett, schon aufgeschlagen, für die Nachtruhe der Künstlerin ...</p> + +<p>Ein Grausen des Verlangens schnürte dem reckenhaften +Burschen die Kehle zusammen. Er schloß hastig die +Tür und stand einen Augenblick lang in der Dunkelheit. +Alle Glieder bebten, seine Kinnbacken schlugen im Frost +zusammen. Dann übergoß ihn glühende Scham. Er war +der Mann nicht, sich an dem Dunste der Geliebten verstohlen +schnüffelnd zu erletzen. Er rannte hinaus, fand +endlich die Tür seiner Bude und saß lange mit fiebernden +Gliedern in der Finsternis, auf seinem Sofa. Endlich +fuhr er auf, schwankte zu seinem Nachttischchen hinüber, +machte Licht, zündete die Petroleumlampe an und sah die +aufgeschlagenen Repetitorien liegen, wie er sie morgens +verlassen hatte, als die Kanzleirätin in sein Zimmer gestürzt +war ...</p> + +<p>Und eine stumpfe Ruhe kam über ihn. Arbeiten! +Arbeiten! Er wühlte sich in die schematisch öde Zusammenstellung +der elementaren Grundbegriffe seiner Wissenschaft +hinein. Seiner Wissenschaft — ah bah! Die Quelle +des Wissens, die hell in seiner Nähe sprudelte, hatte er +ängstlich gemieden sieben Semester lang und nur dem +Korps gedient ... Nun galt es hastig und mechanisch +einen Haufen seelenloser Notizen in sich hineinzustopfen, +um den toten Popanz, die pappdeckelne Attrappe einer +fadenscheinigen Examensweisheit aufzurichten ...</p> + +<p>Immerhin ... wenigstens Vergessen wirkte dies +stumpfsinnige Büffeln ...</p> + +<p>Und eine Stunde verrann — zwei Stunden ... Plötzlich +draußen auf dem Flur die Stimmen der heimkehrenden +Familie Buchner. Valentin lauschte angestrengt ... +Ob sie ihn denn nicht noch zu sprechen wünschte? Ihm zu +danken für die ... glückliche Lösung, die sein Eingreifen +doch herbeigeführt?</p> + +<p>Und wirklich — es pochte an seine Tür ...</p> + +<p>»Herein!«</p> + +<p>Mutter Kanzleirätin stand auf der Schwelle. Ein +wenig rot und verlegen ... In der schleifenbesetzten +Kapuze, dem altmodischen Abendmantel, genau wie gestern, +als er sie aus dem Wagen gehoben ...</p> + +<p>»Sie wär'n entschuld'gen, Herr Pilgram — hier is +Sie nämlich ä Briefchen von meiner Tochter ...«</p> + +<p>Ein — Brief? Und warum konnte sie denn nicht +selber —?!</p> + +<p>So deutlich stand diese Frage in des jungen Mannes +starr aufgerissenen Augen, daß Frau Buchner die unausgesprochene +beantwortete:</p> + +<p>»Nämlich, Se dürfen's ihr nich iebel nähm', selber +kann se's Ihn' nich sagen, sie is Ihn' nämlich gar zu sähre +angegriff'n von der Vorstellung ... Gut Nacht, Herr +Pilgram, wünsch' gute Ruh ...«</p> + +<p>Und hastig war die massive Gestalt aus der Tür ... +Nur der Brief blieb zurück, lag weiß und fremd auf dem +fleckigen, grellgemusterten Tischtuch.</p> + +<p>Mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge nahm +Valentin das Kuvert und studierte die großen, fahrigen +Züge der Aufschrift:</p> + +<p class="center">»Herrn Stud. Pilgram ...«</p> + +<p>Weder Fakultät noch Vorname ...</p> + +<p>Was steht darin? Nun, es kann doch nur eins sein: +Dank und abermals Dank, feuriger, inniger Dank ...</p> + +<p>Er riß den Umschlag auf und las:</p> + +<p class="center">»Sehr geehrter Herr ...«</p> + +<p>Er las und las ... »erwünschte Erfolg« — »Herren +haben mündlich bei mir um Entschuldigung gebeten« — +»danke Ihnen innigst« — »großes Opfer« — »Zweck erreicht« +— »nehmen Sie Ihre Herausforderung zurück, +damit nicht noch ... weitere ... Unannehmlichkeiten entstehn +...« — »mit der nochmaligen Versicherung meines +aufrichtigsten Dankes Ihre ganz ergebene ...«</p> + +<p>Na ja ... na also ...</p> + +<p>Völlig korrekt das alles ... Nichts fehlte, was man +so erwarten und verlangen konnte ...</p> + +<p>Nichts fehlte ... gar nichts ...</p> + +<p>Valentin Pilgram sah lange und regungslos in den +hellen Lichtkegel der Petroleumlampe, bis die Augen ihn +zu schmerzen anfingen.</p> + +<p>Na ja ... na also ...</p> + +<p>Und endlich klappte er den Brief zusammen. Wollte +ihn in den Umschlag schieben ... Da auf einmal blieben +seine Augen an etwas hängen, das er nicht begriff. Auf +der letzten Seite des Bogens, am unteren Rande und mit +dem Kopfe nach unten, fand sich ein Monogramm aus den +Buchstaben T und H und darüber der Zirkel eines wohllöblichen +C. C. der Franconia zu Leipzig.</p> + +<p>Was war das?!</p> + +<p>T. H.? Oder ... H. T.? Und darüber der Frankenzirkel?</p> + +<p>Kein Name der verflossenen Korpsbrüder fing mit +einem H an, aber mit einem T? Thumser? Hans ... +Thumser ... Das ... stimmte ...</p> + +<p>Was war das? Wie kam Jucunda Buchner zu einem +Briefbogen von Hans Thumser?! Teufel —</p> + +<p>Hatte der am Ende den Makler gespielt? Und geholfen, +ihm diese ungeheure Blamage einzubrocken?!</p> + +<p>Valentin Pilgram dachte nach. Nun, der kleine +Thumser war ein Faselhans, hatte den Kopf voll konfuser +Ideen, voll unvorschriftsmäßiger, inkorrekter, umstürzlerischer +Gedanken über allerhand heilige, unantastbare +Dinge, Dinge, die immer so gewesen waren und immer so +bleiben sollten ... Sah ein bißchen von oben herab auf +alle Menschen und Zustände — aber eine Gemeinheit, eine +heimtückische Verräterei und Niedertracht — die war ihm +denn doch nicht zuzutrauen ...</p> + +<p>Aber — wie war dies — Unfaßbare da — zu erklären?!</p> + +<p>War denn irgendeine Möglichkeit, daß Jucunda und +der versedrechselnde, kunstsimpelnde Korpsbruder in Berührung +hätten kommen können?</p> + +<p>Gestern abend — so viel stand fest — kannte Thumser +die Künstlerin noch nicht persönlich — hatte zwar die Idee +gehabt mit dem Pferdeausspannen, aber nicht ein Wort +mit dem Mädchen gewechselt ...</p> + +<p>Aber — hatte nicht er selber, Valentin, gestern abend +im Gespräch mit der Familie Buchner den Namen Thumsers +genannt als desjenigen, der den glorreichen Einfall +mit der Pferdeausspannerei ausgeheckt ...</p> + +<p>'Dafür hätten Sie 'nen Kuß gekriegt,' hatte Jucunda +gesagt ... Noch ganz deutlich entsann sich Valentin einer +dunklen Regung von Eifersucht ...</p> + +<p>Wär's möglich — sie hätte sich vielleicht an den gewandt +um ... um einen Ausweg aus der Verlegenheit, +in die Valentin Pilgrams rasche Ritterschaft sie hineingestürzt?!</p> + +<p>Oder?! Hatte er — Hans Thumser — die Bekanntschaft +eingeleitet? Er wußte aus dem C. C., was vorgefallen +war ... Er war sehr schweigsam gewesen im C. C. ... +Sollte er diese ... Gelegenheit ... seine Wissenschaft +um die Situation — sollte er die benutzt haben, um sich +bei Jucunda lieb Kind zu machen?!</p> + +<p>Wie es auch sein mochte — es war etwas geschehen +zwischen den beiden ... Hans Thumser hatte seine Hand +im Spiel — in dem falschen, ränkevollen Spiel, an dessen +Ende seine, Valentins, hilflose Blamage stand ...</p> + +<p>Himmel und Hölle! Da stand ja auf einmal ein neuer +Feind auf — ein Feind, der eine harmlos grinsende +Freundesmaske trug ... und einer, der nicht unangreifbar +war, wie die andern — nicht geschützt wie diese +Jucunda durch ihr Geschlecht — nicht durch Rang, durch +Pflichten der Rücksichtnahme, durch die Ausnahmegesetze +der militärischen Standesordnung — wie das fürstliche +Käsegesicht mit der Scherbe im Auge oder sein schnurrbärtiger +Begleiter ...</p> + +<p>Einer, den man sich langen konnte!</p> + +<p>Ein Korpsbruder?! Pah ... er selber war ja nicht +mehr Korpsstudent ... Konnte ramschen, mit wem es +ihm beliebte ... Seine Rache kühlen an dem ersten +besten, der seinem Grimm in den Weg lief ...</p> + +<p>Ja, seinem Grimm — der besinnungslosen Wut, die +ihm nun auf einmal in die Augen stieg mit blutrotem +Schimmer, ihm Blick und Fassung trübte — daß er aufsprang, +die Halsbinde, den Kragen aufriß, um nicht zu +ersticken ...</p> + +<p>Nebenan raschelten Kleider, klapperten die leisen Tritte +müder Mädchenfüße ...</p> + +<p>Sie — und nur eine dünne Wand zwischen ihm und +seinem Schicksal ...</p> + +<p>Er lauschte ... flüsternde Frauenstimmen klangen: +Mutter Kanzleirätin brachte wohl das Goldkind schlafen ... +Nun knarrte die Tür, nun schlürften die Pantoffeln der +Alten über den Korridor, zum ehelichen Schlafgemach +hinüber ... Und ein herzhaftes, langgezogenes Gähnen ... +Und nun krachte das Bett, rauschten die Kissen ...</p> + +<p>Valentin Pilgram saß noch immer steif und regungslos +an seinem Schreibtisch und starrte in den Lichtkegel der +Petroleumlampe ... Und in der Faust hielt er den halbzerknüllten +Briefbogen, der vorne Jucunda Buchners +Brief und hinten Hans Thumsers Monogramm und den +Frankenzirkel trug ...</p> + +<p>Na ja ... Na also — — —!!</p> +</div> + +<div> +<h2>10.</h2> + +<p class="start-chapD">Die Franken hatten C. C. gehabt und Chargenwahl +vollzogen. Ivo Volkner aus Düsseldorf war Erster +geworden an Pilgrams Statt. Hartwig, der Vertreter +des Marburger Kartellkorps, hatte die zweite Charge bekommen, +und der eben erst rezipierte Jungbursch Feldmann +die dritte. Volkner Senior — das bedeutete einen +Wechsel des Regimes. Statt des zähen, wortkargen, +sparsamen und fechtgewaltigen Sachsen der leichtsinnige, +wohlhabende, lebenslustige Rheinländer — das war ein +wahrer Umschwung für den Geist des Frankenbundes ...</p> + +<p>Hans Thumser säumte nicht, von diesem Umschwung +zu profitieren. Alle paar Tage bat er um Dispens zum +Besuch der Konzerte, des Theaters, schwänzte regelmäßig +Sonnabends das gemeinsame Mittagessen, um der Motette +des Knabenchors in der Thomaskirche zu lauschen ...</p> + +<p>Und eines Morgens erlangte er gar die Erlaubnis, +bei den Meiningern zu statieren ...</p> + +<p>Die Meininger ... sie hielten ihn völlig im Bann. +Er versäumte keine Premiere. Drama auf Drama reckten +sich die genialen Machtschöpfungen der erhabensten +Meisterwerke des germanischen Theaters vor dem +schönheitshungrigen Auge des jungen Studenten auf ...</p> + +<p>Und all die heiße Inbrunst, die solch aufrüttelnde, +seelenentzückende Schau in ihm entflammt hatte, die küßte +er der zierlichen Asta Thöny auf den feuchten, bebenden +Mund ... Es war ein toller Märchenrausch von Begeisterung +und Liebe, in dem die Tage, die Nächte dahinrasten. +Und so ganz versunken war alles, was sich nicht +der Erinnerung aufdrängte, daß er nicht ein einziges Mal +auf den Einfall gekommen war, sich nach dem armen +Valentin Pilgram umzusehen, mit dem er doch drei +Semester lang die gleichen Farben getragen — der aus +dem Korps geschieden war um eines Entschlusses willen, +den er heiß bewunderte wie alle Korpsbrüder ... Er +wußte, die andern pflegten eifrig den Verkehr mit dem +ausgeschiedenen Freunde — er nahm sich täglich vor, +ihn aufzusuchen, und täglich vergaß er's in seinem Taumel +von Sehnsucht und Erfüllung, Erfüllung und Sehnsucht ...</p> + +<p>Ja, Erfüllung ... und Sehnsucht ... Denn wenn +Hans Thumsers flaumige Jugend in Asta Thönys schimmernden +Armen lag, dann am heißesten verlangte seine +Seele nach der andern, die Abend für Abend die ganz +großen, ganz lichten Visionen der Dichter verkörperte, +statt jener kleinen, sündigen, irdischen Geschöpfe, die Asta +Thönys Kunst umspannte ...</p> + +<p>Aber außerhalb der Bühne hatte er sie niemals wieder +zu sehen bekommen — Jucunda, die allvergötterte. Es +war ein förmliches Jucundafieber ausgebrochen unter der +Leipziger Jugend, der männlichen wie der weiblichen, der +akademischen wie der Philisterwelt ... Allabendlich +schritt die Künstlerin durch ein jubeltrunkenes Spalier ihrer +Verehrer zu ihrem Wagen — nach jeder Premiere wiederholte +sich die gleiche Komödie. — Der Kutscher strängte +die Gäule schon vorher ab und stellte sie auf Seite und +sich daneben, damit ihm die Tiere nicht ganz verrückt +wurden und er selber ohne blaue Flecke vom Bock +herunterkäme ...</p> + +<p>Und Liebesbriefe ohne Zahl, voll ungelenker Gedichte, +stammelnder Mädchenverzückung und kecker Jungmännerwerbung +flatterten in das bescheidene Kämmerchen an +der Katharinenstraße ...</p> + +<p>Selbst die Waffenstudenten, deren Gesichtskreis doch +sonst mit ihren Couleurangelegenheiten völlig ausgefüllt +war, wurden in den allgemeinen Theatertaumel mit hineingezogen. +Wenn Jucundas Triumphwagen mit seiner +keuchenden, brüllenden Bespannung durch die Straßen +südlich des Königsplatzes der Altstadt zurollte, dann +blinkten in der Schar der Ziehenden und der Geleitenden +die Mützen der Korps neben denen der Burschenschaften, +der Turner neben denen der Landsmannschaften — Arion +und Paulus wetteiferten mit dem heiligen Wingolf im +Dienste der Jucundabegeisterung ... Es war wie im +Paradiese, da das Lämmlein bei dem Tiger weidete ...</p> + +<p>Und der regelmäßigste Besucher war der Gast der fest +abonnierten Proszeniumsloge vorn links vom Schauspieler, +neben der Direktionsloge ... war der Erbprinz +von Nassau-Dillingen. Zu jeder Premiere schleppten die +herzoglichen Leibdiener ein kostbares Blumenarrangement +von schier unermeßlichen Dimensionen auf die Bühne, +daran ein Kuvert mit geprägtem Wappen hing ... Es +enthielt des Erbprinzen Visitenkarte, darauf immer nur +die Worte: »In Verehrung« ... geschrieben in einer unausgeschriebenen +Knabenschrift. Niemals aber hatte sich +Jucunda künftighin über den leisesten Versuch einer Annäherung +zu beklagen gehabt.</p> + +<p>Und Jucundas Dank beschränkte sich stets auf den +Hofknix vor der ersten Parkettloge links ...</p> + +<p>»So ist's recht, Langbeinchen,« sagte Franz Burg mehr +als einmal zu der jungen Freundin — »so muß man's +machen: hübsch in Distanz halten die hochgeborenen +Verehrer — aber keinesfalls wegöden ... das hat keinen +Sinn — immer warm halten — man kann nie wissen, +wozu man so etwas einmal brauchen kann ...«</p> + +<p>Und Jucunda begriff. Es blieb doch nicht nur bei dem +Hofknix. Wie jeder andre Spender einer Blumengabe +bekam auch Erbprinz Heribert ein paar Dankesworte auf +goldgerändertem Kärtchen ... Anfangs waren's nur +drei konventionelle, schematische Zeilen ... Bei der +dritten Spende aber stellte sich ein Zusatz ein:</p> + +<blockquote> + +<p>»Sie beschämen mich, Durchlaucht, — ich weiß +nicht, wodurch ich soviel gnädige Anteilnahme verdient +habe.«</p></blockquote> + +<p>Das nächste Mal enthielt das wappengeprägte Kuvert +an der riesigen Seidenschleife, die in den Nassau-Dillingenschen +Landesfarben von einem riesigen Lorbeerrade +niederrauschte — enthielt das Kuvert ein Briefchen +von zwanzig Zeilen:</p> + +<blockquote> + +<p>»... Sie sind mir böse gewesen, und ich muß leider +zugeben, nicht ganz ohne Grund, obwohl ich für die +geschmacklose Form der Huldigung, die Ihnen in +meinem Namen überreicht wurde, nichts kann. Sind +Sie wieder gut? Ich bitte Sie um ein Zeichen ...«</p></blockquote> + +<p>In der Premiere des »Wintermärchens«, die kurz auf +dies Briefchen folgte, lockte der tumultuarische Applaus +nach der Gerichtsszene die eben hinter den Kulissen gestorbene +Hermione-Jucunda auf die Bühne ... Und wieder +schleppten livrierte Diener eine weißleuchtende Kaskade +von rieselnden Chrysanthemen heran ... Da zog Hermione +aus dem Blütenschwall eine ganze Handvoll der märchenhaften, +hundertstrahligen Blumensterne und steckte sie an +ihre Brust, um sich dann erst mit feierlichem Lächeln im +tiefen Hofknix zu neigen gegen die Proszeniumsloge vorn +links vom Schauspieler ...</p> + +<p class="start-chapA space-above">Also Hans Thumser durfte statieren — mit hoher Genehmigung +des Herrn Ersten Chargierten. Er ging +sonach eines Morgens um zehn nach dem Fechtboden zum +Bureau des Carolatheaters und meldete sich als Statist +für »Wallensteins Tod«. Er wurde sofort und freundlich +angenommen. Denn es war hier wie immer und überall: +Nach den ersten Tagen der Begeisterung waren von den +angeworbenen und mühsam eingedrillten Komparsen +viele Dutzende abgefallen, hatten sich schriftlich entschuldigt +oder waren einfach weggeblieben. Er mußte gleich in die +Probe. Es handelte sich nur um zwei Szenen: die große +Kürassierszene am Schluß des dritten Aktes und die Mordszene +am Ende des fünften.</p> + +<p>Vom Bureau aus schickte man Hans Thumser auf die +Bühne. Aber den Weg mußte er sich selber suchen und +erfragen. Er wurde durch sechs bis acht verschiedene +Türen gewiesen, kam sechs- bis achtmal an das weglose +Ende dunkler, verschlossener Korridore, stieß sich die +Schienbeine wund an allerhand unbeschreiblichen, geheimnisvollen +Gegenständen, welche in der Finsternis +herumstanden ... Endlich fand er ein eisernes Pförtchen, +an dem in Weiß die Aufschrift stand: Zur Bühne ... und +voll Ehrfurcht trat er in einen hohen, frostigen Raum, +in dem im halben Tageslicht ein Gewirr von hölzernen +Lattenrahmen, mit grauer Leinwand überspannt, erkennbar +war. An diesen Wänden war vielfach die aufgepinselte +Inschrift zu erkennen: »W. T. III. Saal.«</p> + +<p>Man wies ihn an, eine hohe bretterne Treppe hinanzuklimmen, +auf deren oberem Podest er plötzlich ein seltsames +Schauspiel sah: eine Wand wie ein riesiges, aus +zahllosen kleinen Scheiben bestehendes Fenster, hinter dem +der Treppenpodest wie eine lange Galerie sich hinzog. +Das Glasfenster lief jenseits der Treppe in eine eichene +Tür aus, von der aus dann eine andere Treppe zum +Bühnenpodium hinunterführte ... Diese Treppe aber +war im Bogen geschweift und aus massivem, dunkelgebeiztem +Eichenholz mit schwerem Renaissancegeländer +— wenigstens sah sie so aus. Unten ein dunkler, wuchtiger +Saal mit Kamin, Gobelins, gepolsterten Bänken an den +Wänden, und da standen an siebenzig jüngere Männer +und lauschten andächtig der Instruktion des Oberregisseurs +Burg.</p> + +<p>»Aha — noch 'n Kürassier?« unterbrach dieser seinen +Vortrag. »Kennen Sie 'n Wallenstein?«</p> + +<p>»Auswendig ...«</p> + +<p>»Um so besser ...</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Geselle Dich zu uns — komm hier!<br /></span> +<span class="i0">Es ist ein pudelnärrisch Tier ...«<br /></span> +</div></div> + +<p>Also bitte weiter zu hören, meine Herren. Ihr wollt +Euren geliebten Oberst Max — hier steht er, Barthel ist +sein Name, Alexander Barthel, na, Ihr werdet doch unsern +großen, schönen Alexander kennen?«</p> + +<p>»Ja! ja!« murmelten die Kürassiere mit Begeisterung.</p> + +<p>»Also den wollt Ihr dem Friedländer — das heißt +mir! — entreißen ... Ihr bildet Euch nämlich ein, ich +hielte ihn in Gefangenschaft. Einzeln, truppweise strömt +Ihr herein, und wie Ihr in den Saal kommt, seht Ihr +etwas ganz Unerwartetes: Euer Kommandeur ist nicht +gefesselt, sondern frei: nicht ich halte ihn, sondern etwas +anderes, der stärkste Magnet, den es gibt, natürlich ein +Frauenzimmer: die da, meine Tochter Jucunda, ich wollte +sagen Thekla ...«</p> + +<p>Ein weißer Schatten im halbdunklen Raum: sie, die +Erträumte, von tausend Sehnsuchtsgedanken Umschwärmte, +die Verkörperung des Mädchenideals deutscher +Jugend im neunten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts +... da stand sie im fußfreien grauen Rock, eine +schlichte graue Bluse um den festen Oberkörper ...</p> + +<p>»Nun stutzt natürlich jede Gruppe,« fuhr der Oberregisseur +in seiner Instruktion fort, »und es verstummen +die Rufe, mit denen Ihr einander angefeuert ... Die +erstaunten Blicke gehen von ihm zu mir, von mir zu ihr +— befangen flüstert einer dem andern zu, was er sich bei +der Sache denken mag ... und so steht Ihr schweigend, +mit gesenkten Schwertern ... nichts ist vernehmbar, als +das leise Rascheln der eisernen Rüstungen — bis Euer +Führer sich an Euch wendet und Euch warnt, ihm zu +folgen. — Schlagen Sie an, Barthel!«</p> + +<p>Und der schöne Alexander trat einen halben Schritt +vor, sprach lächelnd, mit halber Stimme:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Bedenket, was ihr tut! Es ist nicht wohlgetan,<br /></span> +<span class="i0">Zum Führer den Verzweifelten zu wählen —<br /></span> +<span class="i0">Ihr reißt mich weg von meinem Glück — wohlan,<br /></span> +<span class="i0">Der Rachegöttin weih' ich Eure Seelen ...«<br /></span> +</div></div> + +<p>»Bitte halt!« unterbrach Burg. »In diesem Augenblick +richtet sich jeder auf, die Augen blitzen mutig den +Führer an: Herr befiehl! Wir sind Dein — führ' uns in +die Schlacht, führ' uns in den Tod, wir folgen Dir ... +Das geht wie ein Ruck durch die ganze eisenstarrende Gesellschaft +durch, versteht Ihr? Und nun weiter, Barthel!«</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Ihr habt gewählt zu eigenem Verderben —<br /></span> +<span class="i0">wer mit mir geht, der sei bereit zu sterben!«<br /></span> +</div></div> + +<p>so schmetterte der schöne Barthel heraus, berauscht von +der klingenden Herrlichkeit seines erzenen Organs.</p> + +<p>»So — und auf dies Wort wirft er sich herum und +stürzt sich in Eure Mitte — mit einem einzigen Aufschrei +des Jubels, des wilden, todbereiten Jubels umringt Ihr +ihn, so daß die Eisenmasse ihn gewissermaßen einschluckt, +die Schwerter schießen in die Höhe wie eine schäumende +Flut, die über seinem Helmbusch zusammenschlägt ... +Noch einmal taucht er auf, als er in Eurer Schar die +Treppe hinaufstürzt, Ihr hinter ihm drein; der Schwall +wälzt sich durch die Galerie, im Gedränge werden ein +paar Glasscheiben eingestoßen und klirren schneidend in +das Getös des Sterbejauchzens, der Hörner hinein, die +von drunten zum letzten Kampfe werben — und denn +Vorhang und aus!«</p> + +<p>Mit sprühenden Augen, mit langhin malenden Gesten +seiner hageren Arme hatte der Oberregisseur die ganze +ungeheure Szene aufgebaut vor den Augen der +lauschenden Statistenlehrlinge ... die brachen nun in +lauten Beifall aus, als ihr Meister aus der hinreißenden +Beredsamkeit in einen trockenen Ulkton am Schluß fiel ...</p> + +<p>»So, Herrschaften, nun zählt mal von vorne nach +hinten ab, und jeder merke sich genau seine Zahl!«</p> + +<p>Dann wurden die zweiundsiebenzig in sieben Gruppen +eingeteilt nach der Nummer, und jede bekam ihr Stichwort +zugeteilt ... »Scheidet — Gott!« hieß dasjenige für +die erste Gruppe — »Dein ewig teures und verehrtes +Antlitz« das für die zweite — und so fort. Und dann +mußten sie alle über die breite Renaissancetreppe zurück — +»damit Ihr Euch an die Stufen gewöhnt,« — und draußen +in der Dunkelheit wurden sie vom Inspizienten zu einzelnen +Klumpen zusammengeballt und aufgestellt ...</p> + +<p>»Sind Sie fertig, Ruperti?« klang dann Burgs +Stimme von drinnen. »Ja? Na dann bitte — ich fange +an: Dreiundzwanzigster Auftritt, ich komme mit Illo und +Buttler die Treppe hinunter —«</p> + +<p>Und nun herrenhaft, mit grollendem Erzklang in der +Stimme. »Terzky!«</p> + +<p>»Mein Fürst!« antwortete drinnen eine andere +Stimme, erregt, geschmeidig —</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i28">»Laß unsre Regimenter<br /></span> +<span class="i0">Sich fertig halten, heut noch aufzubrechen,<br /></span> +<span class="i0">Denn wir verlassen Pilsen noch vor Abend ...«<br /></span> +</div></div> + +<p>Und auf einmal war alles im Fluß. Der Zauber +wirkte, der ungeheure, dem einst der zitternde Knabe erlegen +war, im Barmer Stadttheater, auf dem Eckplatz des +zweiten Ranges ... nur daß der Jüngling nun hineinschaute +in das Innere des komplizierten Mechanismus, +der das Wunder wirkte ... und eine dumpfe Sehnsucht +sprang auf — diesen geheimnisvollen Apparat einmal +aus eigener Machtvollkommenheit heraus zum Funktionieren +zu bringen ...</p> + +<p>Gott ... welch ein Gedanke ... selbst einmal etwas +zu schaffen aus der Magie des eigenen Innern heraus ... +etwas, das die hundert Geister dieses dunklen Heerbannes +zur Tat, zur Heeresfolge zwingen könnte ...</p> + +<p>Scheuer Knabentraum, bist du mehr als nur ein +Traum — bist du die mystische Vorahnung kommender +Kraft, der Vorklang künftigen Schicksals?!</p> + +<p>Und Gruppe auf Gruppe der jungen Männer wurde +vom Inspizienten losgelassen, tobte die Treppe hinauf, +erstarrte droben in staunender Verständnislosigkeit, schob +sich dann scheu und verhalten drüben die breite Treppe +hinunter in den Saal, wo Max Piccolominis todgeweihte +Liebe ihren letzten Verzweiflungskampf mit dem Dämon +der Eidespflicht ausfocht ...</p> + +<p>Freilich, manchesmal empfing sie drunten ein Hohngelächter +des Spielleiters.</p> + +<p>»Ne, Kinder, so geht das nicht — Ihr seid ja keine +Verbrecherbande ... Ihr macht ja auf einmal Gesichter, +als hättet Ihr alle einen Sack silberne Löffel gestohlen! +Ihr seid Soldaten, wüste Kerle, schlichte Burschen, die +nicht recht verstehen, weshalb man eines Mädels wegen +soviel Umstände macht ... dazu ein Rest von Scheu vor +dem geliebten, gefürchteten Auge Eures Feldherrn, 'das +Eure Sonne war in heißer Schlacht' — aber vor allem +doch Trotz, Empörertrotz, verhalten, verbissen, gedämpft, +aber Entsetzen einflößend, Schauer aushauchend, kalt wie +das blanke Eisen in Eurer Faust — so will ich's haben, +so hat der Schiller sich's gedacht!«</p> + +<p>Das alles klang nur durch die bemalten Lappen hindurch +an Hans Thumsers Ohr. Denn er gehörte ja zur +allerletzten Gruppe ... er würde nicht viel mehr zu sehen +bekommen ... und er ahnte nur die Gegenwart des +Mädchens, um dessen Bild all seine Gedanken kreisten, +ihr Bild, das ihm die Seele dieser wundersamen Kunst +erschien, die aus Schein und Flitter das ungeheure Widerspiel +des Lebens webt, wahrer als alle Wirklichkeit, tiefer +als alles reale Erdengeschehen ...</p> + +<p>Als er so in stummem Lauschen den Gang der +gigantischen Maschine verfolgte, die das werdende Werk +schuf — da sah er plötzlich aus der Gruppe sechs ein +Augenpaar mit hartem, feindlichem Ausdruck zu sich +herüberblitzen. Es waren Valentin Pilgrams Augen ...</p> + +<p>Im Nu war er an der Seite des einstigen Korpsbruders.</p> + +<p>»Pilgram, Du? Also endlich ... endlich seh' ich Dich +mal wieder ...«</p> + +<p>»Hm ... hat Dir wohl wenig dran gelegen — sonst +hättest Du das Vergnügen früher haben können ...«</p> + +<p>»Hast ganz recht, es ist meine Schuld ... es ist ein +Skandal, daß ich mich so gar nicht um Dich gekümmert +habe ... Aber wenn Du wüßtest ... ich will mich auch +bessern, sei mir nicht bös ... Und nun sag' nur, wie +kommst Du hierher?«</p> + +<p>»Das könnte ich Dich fragen,« sagte Pilgram hart.</p> + +<p>»Nu — ich ... Du weißt doch, daß ich Dich selber +seinerzeit schon um Erlaubnis gebeten hatte — Du wolltest +nicht ... Na, nun haben wir den Volkner, der ... denkt +ein bißchen anders über solche Sachen ...«</p> + +<p>»Jawohl ... und seid mich glücklich los ... gratuliere.«</p> + +<p>»Aber Pilgram! Du weißt doch, wie furchtbar leid +es uns allen getan hat ...«</p> + +<p>»Dir auch?!« fragte Pilgram finster.</p> + +<p>»Ich versteh Dich nicht, Pilgram ... so wie Du und +ich doch immer miteinander gestanden haben ...«</p> + +<p>»Hm ... wenn Deine korpsbrüderlichen Gefühle für +mich ... echt gewesen wären ... dann hätten sie sich wohl +ein bißchen besser gehalten ...«</p> + +<p>»Aber Pilgram —!«</p> + +<p>»Ruhe, meine Herren!« fuhr der Inspizient dazwischen. +»Sie da, Sie gehören doch überhaupt zur Gruppe sieben +— nu bleiben Sie gefälligst aber auch bei Ihrem Haufen! +Ausquatschen können Sie sich ja genügend, wenn's hier +aus geworden ist!«</p> + +<p>»Wir sprechen uns noch!« sagte Thumser und trat zu +seiner Gruppe zurück.</p> + +<p>Himmel — was hatte der Pilgram nur? Und wie +schrecklich er sich verändert hatte in den wenigen Tagen +seit seinem Austritt aus dem Korps ... Die Augen, tiefumrändert, +waren in ihre Höhlen gesunken ... der sonst +so peinlich korrekte Anzug vernachlässigt ... die früher +straffen und sicheren Bewegungen unruhig und zerfahren +...</p> + +<p>Und Valentin Pilgram fragte sich: Wie ist es möglich, +daß ich es bis heute ausgehalten habe, diesen falschen +Hund nicht zu stellen? — Es kann ja nur sein böses Gewissen +sein, das ihn von mir ferngehalten hat ... alle +die Tage, die zwei Wochen seit ... damals ...</p> + +<p>Ha, warum hatte er's nicht getan? Aus Furcht vor ... +einer neuen Uebereilung ... einer neuen Blamage ...</p> + +<p>Daß Thumser seine Hand in dem schändlichen Spiele +gehabt haben müsse, das man ihm gespielt, das war ja +klar. Der Briefbogen mit dem Frankenzirkel und dem +H. T. auf der Rückseite und mit Jucundas Absagebrief +auf der Vorderseite — das war ja doch ein untrüglicher +Beweis. Mit Jucundas Absagebrief! Ja, ein Absagebrief, +das war's, und nichts andres! Die glatten, +gleißnerischen Dankesworte, ihn, den Desillusionierten, +blendeten sie nicht mehr. Er verstand, sie hatte ihn verleugnet, +er hatte sie verloren. Aber wie kam der andere +dazu? Welche Rolle hatte er gespielt in dem Gewirr von +Ränken und Tücken, von denen Valentin Pilgram sich +umstrickt sah? Das war nicht zu erraten und nicht zu +erfahren ... Und aufs Geratewohl abermals unbedacht +zufahren mit einem züchtigenden Wort, einem rächenden +Schlag — Valentin Pilgram besaß nicht mehr die frühere +Sicherheit des Handelns, seit sein Instinkt ihn so schmählich +in die Irre, in die Wirrnis, in die lächerliche Don-Quichottiade +hineingestoßen hatte. So hatte er von einem +zum andern Tage gewartet und gewartet in der dumpfen +Hoffnung, daß irgend etwas sich ereignen würde, das +ihm Klarheit gäbe ... Er hatte auf ein Wiedersehen mit +Jucunda, auf einen Besuch Thumsers gehofft, auf eine +Aussprache mit ihr und mit ihm, in deren Verlauf er +brüsk und kategorisch die Frage hätte stellen können: Wie +war das möglich? Wie ist dieser Brief auf dieses Blatt +geraten? Erklärt mir den Zusammenhang, zerstreut +meinen grausamen Verdacht und bekennt, bekennt und +empfangt den Lohn, den Euer Verrat verdient!</p> + +<p>Aber nichts von alledem war geschehen. So häufig er +den teilnahmsvollen Besuch seiner ehemaligen Korpsbrüder +erhielt, so oft er mit ihnen am dritten Orte zusammentraf +— der schlanke Fuchsmajor blieb aus. Und Jucunda? +Sie war wie aus der Welt verschwunden. Wohl hörte er +abends ihr Heimkommen aus dem Theater, ihr herzhaftes +Gähnen, den energischen Plumps, mit dem sie sich arbeitsmüde +auf ihr krachendes Bettchen warf, und nachts, wenn +er sich schlaflos auf seinem Lager wälzte, ihr geruhsames, +selbstzufriedenes Schnarchen ... denn bei Gott, sie +schnarchte wie ein Mann ... Und morgens vernahm +er wohl, wie sie leise ihre Rollen repetierte. Ach, wie +gern hätte er noch einmal den sonoren Alt in seinem +vollen Glanze von da drüben schmettern gehört! Aber +sie hatte einen Flor über ihr Organ gebreitet, und er +fühlte, das war die Scheu vor ihm. Und die gleiche Scheu +mußte es sein, unter deren Druck sie es darauf anlegte, +ihm um jeden Preis aus dem Wege zu gehen. Es war, +als überwache sie sein Gehen und Kommen und richte +ihre eigenen Ausgänge, ihre Rückkunft danach ein. Oft +legte er es geradezu darauf an, mit ihr im Korridor, auf +der Treppe zusammenzutreffen, aber wie ein Geist war +sie dann von hinnen gehuscht, hinter irgend einer Tür +verschwunden, die Treppe hinuntergeschnurrt ...</p> + +<p>Der tolle Wirrwarr von Wut und Sehnsucht, von +Ekel und Hingebung, in dem seine Tage, seine Nächte +dahinrannen, trieb ihn immer und immer wieder ins +Theater. Und dann sah und hörte er nichts von dem +Stück — er sah, er fühlte, er träumte nur Jucunda. In +welcher Gestalt, welcher Maske, welchem Gewande sie auf +der Bühne stand, ihm galt es gleich. Er sah nicht die +Künstlerin, er sah nur das Mädchen, dem seine Seele wie +sein Leben verfallen war. Fiebernd, stumpfsinnig harrend +ließ er die Auftritte an sich vorübergehen, bis sie erschien. +Von folternden Schmerzen zermartert und doch an ihr +Bild gebannt, weit vorgebeugten Oberkörpers, verfolgte +er jeden Schritt, jede Bewegung, bis sie wieder die Bühne +verließ oder der Vorhang fiel — er hätte seinen Nachbarn +an die Kehle fahren können, wenn sie fanatisch Beifall +trampelten, wenn sie wie toll ihr »Buchner! Buchner!« +riefen ... Und wenn's zu Ende war, dann stand er +draußen unter der harrenden Rotte der Verehrer, den +Kragen seines Paletots hoch aufgeklappt, den Hut tief in +die Stirn geschoben, sah sie vorüberschweben und mit +königlicher Gnade ein Lächeln rechts, ein Lächeln links +verteilen, atmete tief und stöhnend auf, wenn der Wagenschlag +klappte, die Pferde anzogen ... Wenn aber nach +der Premiere die schäumende Begeisterung der Jugend +abermals den gewohnten Triumphzug entfesselte, dann +stellte sich Valentin Pilgram inmitten derer auf, die von +hinten Jucundas Wagen schoben, und arbeitete im +Schweiße seines Angesichts. Dann war ihm am wohlsten, +dann fühlte er sich ihr am nächsten ...</p> + +<p>Und als er eines Tages auf den Anschlagsäulen ersah, +daß der »Wallenstein« in Vorbereitung sei, da fiel ihm +Thumsers Bitte ein, in diesem Stücke mit statieren zu +dürfen. Damals hatte er als Senior diese Bitte abgeschlagen, +nun nickte er sich selbst ein bitter lächelndes Ja, +als eine Stimme in ihm befahl, er solle sich in die Schar +der Pappenheimer Kürassiere mischen, um den Geliebten +aus Theklas Armen und in den Schwertertod hineinzureißen +... Und so war er nun hier, in dieser pappdeckelnen, +bretternen Trödelwand. Nie hätte er sich's +träumen lassen ... Nun war er, der weiland Erste Franconias, +ein Statist in Gruppe sechs ...</p> + +<p>Die Probe ging ihren Gang.</p> + +<p>Wie eines Meisters Hände den bildsamen Ton, so +knetete Franz Burgs zielsichere Regie die Schar der zweiundsiebenzig +jungen und älteren Männer in eine Horde +entfesselter Pappenheimscher Soldateska um. Immer +und immer wieder wurde eine Gruppe nach der andern +die Treppe hinauf- und hinuntergejagt, jedes Knurren der +Wut, jedes Aufheulen der Begeisterung wurde einstudiert, +jede Bewegung, jeder Blick festgelegt und in das tausendmaschige +Gewebe des farbenleuchtenden Teppichs eingefügt, +den der Szenenmeister vor dem lauschenden Publikum +zu entrollen gedachte. Und immer klarer, immer +überzeugender modellierte sich das Bild des kurzen, erschütternden +Vorganges heraus, wie die todestrunkene +Schar der Kürassiere sich ihren Führer aus den Verstrickungen +der Liebespflicht herausholt und ihn auf schäumender +Woge hinwegreißt in Tod und Vernichtung. +Keiner spürte Ermüdung, keiner nahm Anstoß am derbsten +Poltern, am spitzigsten Spotte des eisernen Mannes, der +diese Zweiundsiebzig am Drahte seines Willens zappeln +ließ wie ebensoviel Marionetten.</p> + +<p>Und endlich schien's getan: tief aufatmend lachte Franz +Burg: »So, Herrschaften, ich denk', nun könnt Ihr's, jetzt +kommt der Tragödie zweiter Teil: Rüstungen verpassen! +Also Pause zum Verschnaufen und dann gefälligst gruppenweise +hinauf zur Rüstkammer, dort laßt Ihr Euch die klapprigen +Konservenbüchsen um den Leib hängen, holt Euch +Euren Eisentopf und Eure Bratspieße — und denn geht's +wieder von vorne los!«</p> + +<p>Da leuchteten die ermüdeten Augen der abgejagten +Schar wieder hell auf. Das hatte ja nur noch gefehlt, das +Kostüm, das vollendete die Verwandlung, das brachte das +Letzte an Stimmung, was noch fehlte ... Und während +die Gruppen zwei bis sieben sich plaudernd und lärmend in +dem dunklen Hintergrunde des schwarzgähnenden Bühnenraumes +verloren, kletterte Gruppe eins unter Führung des +Inspizienten lachend und prustend die hallenden Steintreppen +hinauf, um droben das Eisengewand der Pappenheimer +anzulegen.</p> + +<p>Hans Thumser hatte sich vergebens den Kopf zerbrochen, +weshalb wohl der Korpsbruder so maßlos gereizt +auf ihn sein könne. Himmel ja, er hatte ihn ja unverantwortlich +vernachlässigt in der letzten Zeit — aber schließlich +war das doch kein Grund, ihn dermaßen hundemiserabel +zu behandeln. Na, man würde nochmals um Entschuldigung +bitten, und dann müßte der arme Kerl doch +schließlich Vernunft annehmen. Also, wo steckt er denn +bloß?</p> + +<p>Gruppe sechs — wo ist Gruppe sechs? jawohl — alles +durcheinander gewürfelt, alles wie verschluckt von der +schwarzen Finsternis dahinten jenseits des Prospekts.</p> + +<p>Hans Thumser drängte sich durch die Gruppen der +»Kürassiere«, rief hin und wieder halblaut Pilgrams +Namen, aber umsonst, der Freund ließ sich nicht sehen — +schließlich postierte er sich unten an der Treppe, die zur +Rüstkammer hinaufführte. Aber selbst als Gruppe sechs, +der er angehörte, vom Inspizienten zum Empfang der +Rüstungen geführt wurde, war Valentin Pilgram nicht +darunter. Es schien, er wolle sich nicht sehen lassen ... +und schließlich konnte Hans das am Ende begreifen: er +war eben böse, weil Hans ihn so schnöde vernachlässigt +hatte. Nun, das ließ sich am Ende nachholen ...</p> + +<p>Und mit ganz wunderlichen Empfindungen ließ sich +auch Hans Thumser den rasselnden Eisenharnisch der +Pappenheimer Kürassiere um die geschmeidigen Glieder +schnallen. Es war ja nur Spiel, nur Mummenschanz — +und doch, welch sonderbare Macht lag in diesem starren +Eisengewand, lag überhaupt im Kostüm! Hans meinte +ordentlich zu fühlen, wie er ein anderer wurde, wie +schlichte, rohe und starke Gefühle aus jahrhundertfernen +Tiefen sich an die Oberfläche seiner Seele drängten, wie +er verschmolz mit der gepanzerten Schar seiner Gefährten +...</p> + +<p>Und nun hinunter! Die matt erhellten Korridore, der +stockfinstere Raum hinter dem Prospekt war nun von geheimnisvollem +Rascheln und Klirren erfüllt. Es war, als +sei der Geist der Wallensteinschen Soldateska über die</p> + +<p>ganze junge Schar gekommen: rauher und härter klangen +die Stimmen, derber und knapper die Scherze, das Gelächter.</p> + +<p>Und von neuem begann die Probe. Teufel! war das +schwer, sich in diesem niederwuchtenden Gewand, in den +kolossal steifen Stulpenstiefeln zu bewegen, den mächtigen +Pallasch mit dem breit ausladenden Stahlkorb nicht +zwischen die Beine zu bekommen! Und nun gar die +Treppen hinauf, hinunter! Da verhedderte sich mancher +in den handlangen stählernen Sporen, stolperte, krachte zu +Boden und mußte schwerfällig, wie eine Schildkröte, von +den Kameraden aufgerichtet werden.</p> + +<p>Und unten auf dem Podium inmitten des Schloßsaales +stand Franz Burg und hielt sich beide Seiten vor Lachen ... +und neben ihm im Halbkreis gruppiert: Thekla, Terzky, +Illo, Buttler, Max Piccolomini — und alle lachten sie sich +schier zu Tode über die stolpernde, prustende, schwitzende +Kürassiergarde.</p> + +<p>Und doch, allmählich klärte sich auch dies neue Chaos. +Und endlich sagte Franz Burg:</p> + +<p>»So, meine Herrschaften, nun fangen wir richtig zu +probieren an! Also bitte, Kürassiere von der Bühne, die +Soloherrschaften an ihre Plätze!«</p> + +<p>Und abermals stand die harrende Schar der Eisenreiter +im Hintergrunde zu Füßen der schmalen Holztreppe versammelt +— und abermals klang's von drinnen herrenhaft +in grollendem Erzklang:</p> + +<p> +»Terzky!«<br /> +<span style="margin-left: 4em;">»Mein Fürst!«</span><br /> +<span style="margin-left: 10em;">»Laß unsre Regimenter</span><br /> +Sich fertig halten, heut noch aufzubrechen,<br /> +Denn wir verlassen Pilsen noch vor Abend.«<br /> +</p> + +<p>Und Gruppe auf Gruppe erhielt ihr Stichwort, Gruppe +auf Gruppe klirrte die Treppe hinauf, strudelte die Galerie +entlang, ergoß sich in den Saal hinab ...</p> + +<p>Als aber Gruppe sechs aus dem Finster der Bühnentiefe +die Treppe hinanstieg, sah Hans Thumser, daß Pilgram +doch noch vorhanden war. Seine riesige Gestalt, +sein hartes Herrengesicht standen vortrefflich zu der blanken +Wehr — aber kein Blick für den einstigen Korpsbruder ...</p> + +<p>Was er nur haben mochte? — Das war doch Kinderei, +so offiziell zu tun.</p> + +<p>»Also Gruppe sieben!« zischte der Inspizient. »Los! +Los!«</p> + +<p>Und Hans Thumser keucht die schmalen Stufen empor, +stößt wie die Kameraden rauhe gurgelnde Töne aus, +stutzt droben am Treppenrande, stutzt und verstummt ...</p> + +<p>Aber nicht nur, weil es so probiert ist ... Im gelben +Lichte der Proberampe sieht er drunten Jucunda Buchners +schmales Prinzessinnengesicht ... aber jetzt nicht mehr wie +vorhin, von Lachen und Schelmerei gerötet — nein, nun +ist sie plötzlich Thekla, das verzweifelnde Kind, das Liebe, +Glück, Leben versinken sieht in den eisenschäumenden +Wogen des Schicksals. So abgrundtief, so herzdurchbohrend +der Ausdruck des Schmerzes auf ihren tränengefurchten +Wangen — Hans Thumser kann den Blick nicht +lassen von diesem Bild adligen Grams ...</p> + +<p>Aber die Masse der Kameraden schiebt ihn vorwärts +— und plötzlich fühlt er keinen Boden mehr unter seinen +Füßen, er strauchelt, schlägt krachend nach vorn, alle +Glieder knacken — tausend Feuerräder kreiseln in seinem +Hirn — ein lauter Aufschrei übertönt das Knacken und +Klirren der hundert Eisenringel, die seine Glieder umschlossen +halten und im Sturz in Schulter und Schienbein +sich hineinzwängen — und dann nichts mehr.</p> + +<p>Eine hilflose Masse, so war des Studenten Körper die +fünfundzwanzig Stufen der Freitreppe hinuntergekollert, +anfangs noch ein wenig aufgehalten durch die Schienbeine +seiner Vordermänner, dann aber, als alles instinktiv zur +Seite sprang, ganz hemmungslos. Nun lag er bleich, mit +geschlossenen Augen am Fuß der Treppe. Die Sturmhaube +war ihm vom Kopf gefallen und in weiten Sprüngen +ihm voran in den Saal hineingehüpft. Einen Augenblick +hatte alles vor Schrecken erstarrt gestanden, nun sprangen +fünf, sechs der nächststehenden Kürassiere zu und richteten +den schwerfälligen Körper auf.</p> + +<p>Durch den Wall der Geharnischten aber drängte sich +Jucunda Buchner hindurch. Sie hatte den Jüngling +straucheln und vornüber stürzen gesehen und in dem +Augenblick sein Gesicht erkannt, ohne daß sie gleich +wußte, woher. Nun kniete sie neben dem aufgerichteten +Oberkörper des Studenten nieder, umfaßte seine Schultern +und legte seinen zerschundenen Kopf behutsam auf ihr +Knie. Und da schlug Hans Thumser die Augen auf — +und in diesem Augenblick wußte Jucunda, wo sie +diesen leuchtenden Blick schon einmal gesehen hatte — +der junge Poet ... er, neben dessen »schwindelschmalem +Pfade Abgründe klafften rechts und links« — nun, in einen +dieser Abgründe war er nun glücklich hineingeplumpst ... +freilich, es schien ihm ganz gut bekommen zu sein, denn +mit einem zufriedenen Lächeln schloß er die erstaunten +Augen, reckte sich ganz behaglich und machte sich's ordentlich +bequem auf dem weichen Kissen, auf das er sich gebettet +fühlte.</p> + +<p>Und nun löste sich der allgemeine Schreck in ein befreites +Aufatmen. Da schlug der Student die Augen abermals +auf, und nun schien ihm das Komische seiner Situation +bewußt geworden zu sein: mit einem Ruck richtete +er den Oberkörper auf, sprang auch sofort auf die Beine +und reckte die Knochen.</p> + +<p>»Na? Kein edlerer Teil entzwei?« fragte der dröhnende +Baß des Szenenleiters. Hans Thumser versuchte +sich diejenige Stelle seines Körpers zu reiben, welche bei +dem Fall am meisten in Mitleidenschaft gezogen war, +aber das gelang ihm nicht — sie war zu gut gepanzert ...</p> + +<p>Nun brach ein endlos dröhnendes Gelächter aus, dazu +rasselten die Rüstungen der Pappenheimer, die sich die +eisenbewehrten Bäuche hielten. Am hellsten aber lachte +Jucunda. In einer raschen Wallung trat sie auf den +jungen Burschen zu und klopfte ihm mit beiden Händen +die glühenden Backen.</p> + +<p>»Dunnerwetter!« tönte da aus den Reihen der Kürassiere +eine neiderfüllte Stimme. »Ich wär' nächstens ooch +mal de Treppe 'nunner purzeln!«</p> + +<p>»Na, ich dächte, nach diesem kleinen Zwischenfall probieren +wir weiter!« rief Burg, »also alles zurück, meine +Herrschaften, und noch einmal von vorne!«</p> + +<p>Hans Thumser war's nun aber doch zumut, als +klapperten alle seine Knochen einzeln und lose in dem +großen Blechtopfe durcheinander, der sie einschloß — und +er bat um die Erlaubnis, sie wieder zusammenzusuchen.</p> + +<p>Als dies gewährt worden war, trat er vorn an die +Proberampe und kam neben Jucunda zu stehen. Die lachte +ihn an und flüsterte ihm zu:</p> + +<p>»Ich habe ja so lange nichts mehr von Ihnen gehört — +warten Sie nach der Probe auf mich — ich möchte wissen, +wie es Ihnen inzwischen ergangen ist!«</p> + +<p>Da wurde es Hans Thumser klar, daß er wieder mal +mehr Glück als Verstand gehabt hatte ...</p> + +<p>Noch eine weitere halbe Stunde voll schwitzenden Bemühens +— dann war's geschafft. Und nun harrte der +Student am Bühnenpförtchen seiner Göttin. Er drückte +sich in den dunklen Schatten der Donnermaschine und ließ +den Schwall der Geharnischten an sich vorüber strudeln. +Und endlich kam sie — kam nicht allein, sondern am Arm +der majestätischen Kollegin Frau Anna Cederlund, welche +die Gräfin Terzky spielte. Im ersten Augenblick verließ +den Studenten der Mut ... Als aber die beiden ragenden +Frauengestalten an ihm vorüberschritten, ohne ihn zu bemerken, +da sprach's in ihm: Sei kein Narr! Und er schoß +aus seiner Finsternis hervor, daß die Frauen ordentlich +zusammenschraken.</p> + +<p>»Gnädigste haben mich zu sprechen befohlen!«</p> + +<p>»Ah, sieh da, Herr Dummerle! Nun? Was macht die +Poesie? Gestatten Sie, Annerl — Herr Studiosus Dummerle, +dichtet — hat immer die Nase in der Luft und +purzelt deswegen mit Vorliebe die Treppen hinunter — +meine Kollegin, Frau Cederlund. Ja, also was fang' ich +nun mit Ihnen an? Wissen Sie was? Sie könnten ja +auch mal zu mir zum Tee kommen — wollen Sie?«</p> + +<p>»Darf es heute sein?« antwortete Hans Thumser.</p> + +<p>»Aber warum denn nicht? Also um fünf — soll's +gelten?«</p> + +<p>Hans Thumser konnte sich nur stumm verneigen — +tief, tief auf die schlanke Hand, die sich ihm entgegenstreckte +— und dann war's vorbei ...</p> + +<p>Und wie ein Begnadeter stolperte Hans Thumser die +hallenden Steintreppen zur Rüstkammer hinauf, um sich +aus einem Pappenheimer wieder in einen Fuchsmajor +zu verwandeln. Zwei Minuten aber, nachdem das Eisenpförtchen, +das vom Bühnenraum zum Garderobenumgang +führte, hinter ihm zugeklappt war, löste sich aus dem +Dunkel der Kulissen noch eine zweite Kürassiergestalt los. +Die einsame Glühbirne, die am Inspizientenpulte brannte, +beleuchtete ein finstres, verzerrtes Jungmännergesicht +unter dem tiefschattenden Doppelschirm der Sturmhaube: +es war das Gesicht des weiland Ersten der Franconia.</p> +</div> + +<div> +<h2>11.</h2> + +<p class="start-chapA">Asta Thöny war ein wenig eingenickt nach dem bescheidenen +Mittagsmahl, das Frau Wehe ihr aufgetischt. +Nun fuhr sie empor, flog ans Fenster, steckte den +glühenden Kopf hinaus und klatschte jubelnd in die Hände, +als sie die ersten Schneeflocken durch das mürrische Grau +der Sophienstraße wirbeln sah ...</p> + +<p>Köstlich! köstlich! Würde das ein fröhliches Streifen +werden mit dem geliebten Jungen durch dies wattige Weiß +hindurch an der graulich gurgelnden Pleiße entlang! Sie +wußte, wie gut ihr die prachtvolle Sealskingarnitur stand, +das splendide Andenken ihres Rittmeisters in Gera ... +Und nun schmückte sie sich nach Herzenslust für den Leipziger +Freund. Ob er wohl schon daheim war? Sie klopfte +an die Wand — keine Antwort. Na, er würde schon nicht +auf sich warten lassen, um vier Uhr hatte er ja versprochen +sie zum Spaziergang abzuholen. — Aber es wurde vier — und +kein Hans Thumser! Na, vielleicht war er schon längst +zu Hause und lag drüben auf seinem Kanapee in den geliebten +Nachmittagsschlaf versunken. Sie hatte eine Tüte +Pralinees für ihn gekauft, sie kannte seine schwache Stelle. +Die steckte sie in die Jackettasche, hüpfte zur Tür hinaus und +pochte an die seine; da keine Antwort kam, klinkte sie auf +— und richtig — da lag er auf dem Sofa, lang hingestreckt, +in Hemdsärmeln, das blinkende Korpsband über der +Weste. Auf Zehen schlich sie heran und hielt ihm die +duftende Tüte unter die Nase. Da schlug er blinzelnd die +Augen auf, lachte sie fröhlich an und breitete die Arme +aus — mit einem leisen Jauchzen warf sie sich hinein.</p> + +<p>Nachdem sie sich satt geküßt, richtete sie sich stramm +auf und befahl:</p> + +<p>»So, nun antreten zum Spaziergang!« (Die militärischen +Allüren ihrer jüngsten Vergangenheit saßen ihr +noch in den Gliedern.)</p> + +<p>Aber statt des erwarteten Entzückens trat in Hans +Thumsers Züge plötzlich eine peinliche Befangenheit, und +ein Erröten stieg ihm langsam in die Augen.</p> + +<p>»Nun, was ist Dir?«</p> + +<p>»Liebes Kind, ich bin trostlos ... Spaziergang ist +nicht.«</p> + +<p>»Was ist das? Was fällt Dir ein!«</p> + +<p>»Ja ... ich ... ja ... ich ... es tut mir entsetzlich +leid ... aber ... wir haben heute nachmittag C. C. ...«</p> + +<p>»Das ist abscheulich, Hans! Wie kommt denn das, was +ist denn los?! Und ich hatte mich doch so gefreut, habe +mich so hübsch für Dich gemacht, das hast Du Ungeheuer +überhaupt noch gar nicht bemerkt!«</p> + +<p>»Ob ich das bemerkt habe! ... aber — es tut mir riesig +leid, Du weißt, das Korps spaßt nicht.«</p> + +<p>Asta sah, daß er ihren Blick vermied — lügen hatte er +noch nicht gelernt.</p> + +<p>»Du, das mit dem C. C. das ist geschwindelt, da steckt +was andres dahinter! Beichte!«</p> + +<p>»Aber nein ... ganz wahrhaftig, Kind, wir haben +C. C., Du kannst Dich drauf verlassen.«</p> + +<p>»Sieh mich an, Hans —! Siehst Du, Du kannst es +nicht —«</p> + +<p>»Aber ja ... ich kann's.«</p> + +<p>Nein wahrhaftig, er konnte es nicht.</p> + +<p>»Also heraus damit! Was ist los?«</p> + +<p>Sie stampfte mit den zierlichen Füßen auf, die in mächtigen +pelzbesetzten Boots steckten.</p> + +<p>Hans kämpfte einen Augenblick, dann sah er ihr gerade +ins Gesicht mit dem Ausdruck eines trotzigen Buben, der +sich auf einer Schandtat ertappt sieht:</p> + +<p>»Die Buchner hat mich zum Tee geladen.«</p> + +<p>»Das ist nicht wahr! Das darf nicht wahr sein!«</p> + +<p>»Aber warum soll ich denn nicht auch mal zur Buchner +zum Tee gehen?«</p> + +<p>»Weil Du mir gehörst. Das gibt's nicht. Da wird +nichts draus.«</p> + +<p>»Ich hab's versprochen.«</p> + +<p>»Dann bleibst Du eben einfach weg. Die Buchner +weiß ganz genau, daß Du mein bist. Es ist eine Niedertracht +von ihr — ich laß mir's nicht von Dir gefallen!«</p> + +<p>»Und ich laß mir's nicht von Dir gefallen, daß Du +über mich verfügst, wie über ein Spielzeug.«</p> + +<p>»Hans, so darfst Du nicht zu mir sprechen, das weißt +Du auch, daß Du das nicht darfst! Du hast auch ein böses +Gewissen dabei!«</p> + +<p>Hans Thumser ging mit drei raschen Schritten ans +Fenster und trommelte an die Scheiben. Wahrhaftig, sie +hatte recht — es war ihm hundeelend zumute — nichts +als Liebes hatte sie ihm getan, weit über Hoffen und +Träumen hinaus hatte sie ihn glücklich gemacht ... und +er — er hatte immer über sie hinweg geträumt von der +andern.</p> + +<p>»Nun, hast Du Dich besonnen — kommst Du mit mir?«</p> + +<p>»Ich kann's nicht ... ich hab's versprochen.«</p> + +<p>»Und mir? — Wem hast Du's zuerst versprochen, mir +oder ihr?«</p> + +<p>»Aber Kindchen, das mußt Du doch einsehen ... daß +das für mich — wie soll ich sagen — daß das für mich +eine große Sache ist ... schließlich ist sie doch ... die +Buchner.«</p> + +<p>»Ach so — und ich, ich bin nur die Thöny, die kleine +Thöny, und sie die große Jucunda! Hansel, das wird Dir +noch mal leid tun!«</p> + +<p>Laut aufweinend stürzte sie hinaus ... die Schleppe +ihres Pelzjacketts fegte die Pralineetüte vom Tisch, und +alles kollerte in die Stube. Hans Thumser mußte aufsammeln. +Dabei glühten seine Backen vor Scham. Es +war wirklich hundsgemein von ihm, das herzliebe Mädel +so ruppig zu versetzen — er fühlte, er hatte sie bis ins +Tiefste gekränkt. Mit hundert Gewalten zog's ihn hinüber, +die Tränen von den schönen Augen wegzuküssen, die ihm +so manche Stunde durchsonnt hatten ... und dann fiel +sein Blick auf Jucundas Bild, auf das bronzene Heroinenprofil, +das unterm Helm der Jungfrau so sieghaft leuchtete. +— Und er wußte, daß zehn Astas diese Stunde nicht aufwiegen +würden, die ihm bevorstand.</p> + +<p>Er lauschte — wieder wie in jener ersten Nacht klang +da drüben jenseits der Doppeltür und der beiden Kleiderschränke, +die sie verbarrikadierten, das herzerschütternde +Weinen ... aber diesmal nicht verhalten wie damals — +nein — in wilder leidenschaftlicher Empörung. — Und +diese, diese Tränen hatte er auf dem Gewissen ...</p> + +<p>Und das war so niederträchtig, so infam: daß man im +tiefsten Grunde seiner Seele sogar noch etwas wie eine +Genugtuung empfand über diese Tränen, die man selbst +verschuldet hatte. War es nicht eigentlich ein verdammt +stolzes Gefühl, daß man ein Kerl war, um den so heiße +Mädchentränen fließen konnten?</p> + +<p>Hans Thumser warf einen Blick in den Spiegel: also +so sieht so ein verfluchter Gesell aus, um den ein Mädchen +wie Asta Thöny — Tausende würden ihn beneiden um +so einen süßen Kameraden! — um den so ein himmelsüßes +Geschöpf sich quält?</p> + +<p>Und mit einem verwegenen Ruck stülpte er die grüne +Franken-Mütze auf den braunen Schädel und ging zu +Jucunda Buchner.</p> + +<p class="start-chapW space-above">War's nicht eigentlich toll? Hans Thumser war in +einer ganz niederträchtig vergnügten Stimmung, als +er durch das wirbelnde Flockengestiebe den Peterssteinweg, +die Petersstraße hinanschlenderte. Jedem Mädel +guckte er verwegen, wie er's nie getan, unters Pelzbarett: +Ja, wenn ihr wüßtet, ihr Leipziger Gänschen —! Eben +hab' ich die Asta Thöny geküßt ... die von den Meiningern, +ihr wißt doch! Und nun — nun gehe ich zur +Buchner ... und wer weiß — wer weiß! So ein Kerl +bin ich, verflucht nich noch mal!</p> + +<p>Als er den schneebepuderten Marktplatz überquerte +und in die Katharinenstraße einbog, fiel ihm plötzlich ein, +daß er ja nun endlich den Weg zu Valentin Pilgrams +Wohnung gefunden habe. Der arme Junge! Ob der wohl +auch schon mal von Jucunda Buchner zum Tee geladen +worden war? Wohl schwerlich — und doch, was alles +hatte der an dies Mädchen gesetzt ... und er —? Er hatte +nichts getan, und alles fiel ihm in den Schoß. Teufel auch +— man war eben ein Poet, ein Götterliebling —! nischt +wie verdammte Pflicht und Schuldigkeit vom Schicksal!</p> + +<p>Ob er den armen Burschen wohl mal aufsuchte? +Eigentlich hätte sich's gehört ... daß er gekränkt war, +lag ja auf der Hand nach seinem Benehmen von heut +morgen ... aber freilich ... erst zu Pilgram gehen und +dann sich von ihm verabschieden mit der Erklärung, man +sei zu Jucunda Buchner zum Tee geladen — das war +doch wahrhaftig mehr eine Kränkung, wie die Dinge nun +einmal lagen, als die Erfüllung der längst geschuldeten +Freundschaftspflicht. Also lassen wir's doch lieber ...</p> + +<p>Glücklicherweise, im letzten Augenblick, fiel's ihm ein, +daß er ja noch ohne Blumen war. Er fand eine Gärtnerei, +wählte die herrlichsten Rosen, die es gab, und erschrak +nicht im mindesten, als die Verkäuferin ihm fünf Mark +abverlangte. Denn diesmal war's ja in der ersten Hälfte +des Monats und nicht Ultimo, wie damals, als er mit dem +gepumpten Markstück ein Dahliensträußchen für Asta erstand +... Und so bewaffnet bis an die Zähne kletterte +er die wohlbekannten Stufen im dunklen Treppenhause +empor und zog die gellende Klingel an der Korridortür +des Kanzleirats Buchner.</p> + +<p>Eine stattliche Frau öffnete ihm. Er erkannte in ihr +sofort Jucundas Begleiterin von jenem ersten Triumphzuge +wieder. Alle Wetter ja, seine Idee von damals hatte +Schule gemacht ... das blitzte ihm so durch den Kopf, als +er seiner Führerin durch den dunklen Korridor folgte, bis +sie haltmachte und anklopfte.</p> + +<p>»Bist Du es, Mutter?« tönte von drinnen die wohlbekannte +Stimme ... die Stimme, die durch sein Wachen +und seine Träume klang. So hatte sein junges Herz noch +niemals an die Rippen gehämmert ... auch nicht bei +Beginn des Abiturienten-Examens ... auch nicht vor der +ersten Mensur.</p> + +<p>»Hier ist der Herr, wo Du zum Tee hast eingeladen!«</p> + +<p>»Herein — nur herein!«</p> + +<p>Die Tür sprang auf, und als dunkle Silhouette gegen +die schimmernd weißen Vorhänge abgehoben, stand +Jucunda. Mit ausgestreckten Händen kam sie ihm entgegen:</p> + +<p>»Wie freue ich mich! — Die Poesie bei mir zu Gast ... +das ist das erstemal. Laß uns allein, Mutter.«</p> + +<p>Hans warf einen Blick in der Stube umher. Tausend +ja, hier sah's anders aus als damals bei Asta. Jucunda, +das sah er sofort, hatte nicht vergessen, daß sie sein Kommen +gewünscht — alles war sorgfältig für seinen Empfang vorbereitet, +der Tisch zierlich gedeckt und mit Rosen bestreut, +die Teemaschine dampfte, Zigaretten, Zigarren standen +bereit, eine gehäufte Schüssel Gebäcks. Und ringsum +herrschte Ordnung, Sauberkeit, noch mehr: Schönheit ... +oder doch wenigstens die deutliche Absicht sie hervorzuzaubern +... überall Blumenarrangements und Körbe +lebender Pflanzen, an den Wänden die welkenden Lorbeerkränze +mit riesigen langflutenden goldbedruckten, goldbefransten +Atlasschleifen. Uebers Bett aber war ein hermelinbesetzter +Mantel von Purpursamt königlich hingebreitet, +und ein frischer Strauß tiefdunkelroter Rosen +lag oben drauf. Alles war abgetönt mit einem naiven +Sinn für Eleganz und Repräsentation.</p> + +<p>Hans Thumser sah nicht, daß die Möbel abgeschabt, die +Bezüge verschlissen waren, fühlte nicht, daß der Stuhl +wackelte, auf den er sich setzte, der Tisch, auf dem das Teegeschirr +brannte ... auch nicht, daß die Tassen gesprungen +waren, und hier und da gar ein Henkel fehlte ... ihm war +zumut, als sei er in einem Königsschloß, in einem +Märchenpalast. Und wie eine Königin erschien ihm auch +Jucunda. Sie trug ein lang hinschleppendes Spitzenkleid, +das ihm vorkam wie eine märchenhafte Kostbarkeit — er +konnte ja nicht beurteilen, daß es maschinengewebte +Spitzen waren, nur bestimmt auf die Entfernung zu +wirken — er war im Bann, im Traum. Und nur die +eine Empfindung durchdrang ihn mit wohligen Schauern: +hier war er erwartet, hier hatte man Staat für ihn gemacht, +hier wollte man ihn ehren, ihn entzücken.</p> + +<p>Er saß ganz still, als Jucundas große, schlanke Hände +den Tee bereiteten, und sah nichts als das anmutige Spiel +der elfenbeinfarbenen Arme, die aus den Spitzenärmeln +hervorlugten:</p> + +<p>»Erinnern Sie sich noch, daß wir schon einmal beim +Tee zusammengesessen haben?«</p> + +<p>»Wie können Sie fragen, gnädigstes Fräulein! Ich +habe seitdem von nichts geträumt, als daß dies einmal +kommen könnte ... dies, was jetzt ist.«</p> + +<p>Jucunda stellte den dampfenden Tee vor ihn hin, sah +ihn von oben her mit ironischem Lächeln an und fragte:</p> + +<p>»Und Asta?! Haben Sie die Courage gehabt, ihr zu +verraten, daß Sie heute bei mir sind?«</p> + +<p>»Warum sollte ich nicht? Das ist doch nicht verboten!«</p> + +<p>»Nun, und was sagte sie?«</p> + +<p>Hans wurde rot. Ob Asta geschwatzt hatte? Ob +Jucunda wußte, wie er mit ihr stand?</p> + +<p>»Sehen Sie wohl,« lachte das Mädchen, »Sie können +nicht antworten — Sie haben Schelte bekommen —! +Dacht' ich mir's doch.«</p> + +<p>»Ich wüßte nicht, daß irgend jemand das Recht hätte +mich zu schelten,« sagte der Student etwas kleinlaut und +trotzig.</p> + +<p>»Sagen Sie das nicht!« sagte Jucunda. »Wohltun +verpflichtet — oder ist die ... Episode schon zu Ende?«</p> + +<p>»Welche Episode?«</p> + +<p>»Fragen Sie nicht so dumm!«</p> + +<p>Hans Thumser sah sich durchschaut. Aber wenn +Jucunda doch wußte, daß Asta immerhin doch gewisse ... +Ansprüche geltend machen konnte ... warum hatte sie ihn +geladen, was wollte sie von ihm? Er richtete sich auf:</p> + +<p>»Gnädiges Fräulein, ich glaube nicht, daß Sie mich zu +sich gebeten haben, um mir klar zu machen, daß ich eigentlich +wo anders hingehörte.«</p> + +<p>»Da haben Sie recht,« lachte die Schauspielerin, »Sie +sind nun einmal hier, nun seien Sie's auch ganz. Asta +ist tot, es lebe Jucunda, nicht wahr?«</p> + +<p>Sie streckte ihm die Fingerspitzen hin, er neigte sich +darüber.</p> + +<p>»Nun, blaue Flecke von heute morgen?«</p> + +<p>»An allen Gliedern!« gestand Hans. »Na, irgend +etwas muß der Mensch doch schließlich tun, um eine solche +Stunde zu verdienen.«</p> + +<p>»O, seien Sie nur ruhig, man wird von Ihnen vielleicht +noch mehr verlangen!«</p> + +<p>»Verlangen Sie.«</p> + +<p>»Was macht Ihr Korpsbruder Pilgram?«</p> + +<p>»Mein ... früherer Korpsbruder, wollten Sie sagen.«</p> + +<p>»Hm ... er tut mir so leid, aber ich habe ihm nicht +helfen können, er hatte es gar zu eilig, sich in die Bredouille +zu stürzen — also, was treibt er? Erzählen Sie!«</p> + +<p>»Ja, haben Sie ihn denn heute morgen nicht bemerkt?«</p> + +<p>»Wo? doch nicht etwa auch unter den Kürassieren?«</p> + +<p>»Gewiß! der Längste und Schönste unter den Pappenheimern.«</p> + +<p>»Nein wahrhaftig — er ist mir nicht aufgefallen! Er +hat sich ja auch nicht so bemerkbar gemacht wie Sie!«</p> + +<p>»Ja, es hat eben nicht jeder den Dusel, über fünfundzwanzig +Treppenstufen Ihnen geradewegs vor die Füße +zu kollern.«</p> + +<p>»Wie denkt er denn über mich und — über die ganze +Affäre?«</p> + +<p>»Das weiß ich nicht. Ich schäme mich es zu gestehen, +aber ich sah ihn seitdem nicht mehr — meine Schuld — +doch was will ich machen? Wenn ich nicht Franke bin, so +bin ich Meininger, in jeder Stunde, Tag und Nacht. Ach, +gnädigstes Fräulein, ich habe nie gedacht, daß es so etwas +gäbe, daß man sich so ganz verlieren, so ganz vergessen +kann! Ich lebe wie im Fieber — mir ist, als hätte ich +Flügel — ich möchte tausend Augen, tausendfache Sinne +haben, um all das festzuhalten, was in mir strudelt und +braust. Was für Hexenmeister seid Ihr: alles, was ich +ahnte, wenn ich in meinem Knabenstübchen die großen +Dichter las, ist Leben geworden, Wirklichkeit, Erfüllung ... +Und damit nicht genug, ich selber, ich schaue nicht nur, ich +selber stehe mitten drin, in all dem Schwall — ein Strom +von Glück und Sehnsucht braust unter mir und wirbelt +mich auf und nieder. Wo soll ich hin mit all dem Drang +— wo soll ich hin?!«</p> + +<p>Lächelnd hob Jucunda die Hand und streichelte die +glühenden Wangen des Jünglings, wie sie es heut morgen +im Theater getan.</p> + +<p>»Sie Dichter!« sagte sie, »Sie Dichter —! Lassen Sie +es doch brodeln und gären, lassen Sie's doch! Machen Sie +Gedichte daraus, schön wie das, welches Sie mir damals +sprachen ... so schön und schöner noch!«</p> + +<p>»Ja,« sagte er, »das will ich tun ... später einmal, +später, wenn alles das vorüber ist ... denn ich weiß ja, +es währt nicht ewig ... acht Tage noch, dann zieht Ihr +fort ... und ich bin wieder, was ich war — ein armes +Studentlein, Franconiae Fuchsmajor, einer von Tausenden +— und um mich ist wieder nichts als Bier und klirrende +Speere und Drogenwelt und die Dutzendgesichter +meiner Kommilitonen — o Gott! wie soll ich das ertragen! +Ich weiß, ich werde irgendeine Dummheit machen — ich +laufe fort, in die weite Welt, dahin, wo Ihr seid — wo +Sie sind, Sie wunderbarer Mensch — Sie Zauberin!«</p> + +<p>»Das werden Sie nicht tun!« sagte Jucunda. »Ich +weiß, daß Sie das nicht tun werden — ich weiß, Sie werden +dann stille Stunden der Besinnung haben ... es wird +Ihnen werden, wie es denen gewesen ist, deren Verse, +deren Szenen wir abends sagen und gestalten. Sie werden +dichten — glauben Sie's mir.«</p> + +<p>»Ach, wenn das wahr wäre — wenn das möglich sein +könnte!«</p> + +<p>»Es wird so sein,« sagte Jucunda. Ihre Stimme war +weich, ihre blauen Augen hingen an den braunen des +Knaben. Soviel lebendige Dichter hatte sie nun schon gesehen +in ihrem Leben: was waren das alles für reservierte, +verbrauchte, zermürbte, grauköpfige Herren gewesen +— wie hatten sie gezittert hinter den Kulissen, wenn +ihre Stücke vom Stapel gingen, da draußen — wie hatten +sie ängstlich auf den Applaus gelauert, wenn der Vorhang +sank, wie hilflos sich hinausziehen lassen ins blendende +Rampenlicht, um sich linkisch und schweratmend nach dem +schwarz gähnenden Zuschauerraum hin zu verneigen, wo +das Publikum über das Schicksal ihrer Schöpfungen entschied! +— Dieser hier war noch ganz Poet, er wußte noch +nichts von all dem Gräßlichen, das auf ihn wartete hinter +den grauen Schleiern, die seine Zukunft verhüllten, ihn +trennten von diesem schauderhaften Leben des angstvollen +Ringens um Erfolg, um Gold und Lorbeer, in das sie +selbst, die Achtzehnjährige, schon so tiefe Blicke hineingetan. +In ihm sprudelten noch ganz ungetrübt die heiligen +Quellen der Phantasie, darinnen Sonn' und alle +Sterne sich spiegelten ...</p> + +<p>Einen Augenblick war's ganz still im Zimmer — der +Tee wurde kalt in den Tassen, und sein Duft mengte sich +mit dem Rosenhauch, mit den blauen Wölkchen der Zigaretten, +die durch die Stube kräuselten. Von der Straße +her fiel der erste Laternenschein in die umdunkelte Stube +und ließ die goldigen Schriften der Kranzschleifen matt +aufglimmern. — Mit langsamen Bewegungen stand +Jucunda auf, um Licht zu machen.</p> + +<p>»Nicht doch,« wehrte Hans — »nicht Licht machen ... +es ist so schön so.«</p> + +<p>»Aber anders ist es besser!« sagte Jucunda mit leisem +Lächeln und entzündete die Lampe. Und wieder ließ sie +sich in das Sofa fallen und neigte den flechtenbeschwerten +Kopf auf die Lehne zurück.</p> + +<p>Wie seltsam das doch war —! Sie kannte so viel +Männer von Geist und Rang ... wie kam's, daß ihr heut +zumut war wie nie zuvor —? War's die Kraft, die ungebrochene, +die ihrer selbst noch unbewußte, die sie ahnte +in den Tiefen dieser empor sich ringenden Seele? War's +die edlere Rasse, die sie witterte, sie, das Kind einer enggebundenen +Welt, einer Welt ohne Schwung und Größe? +Sie war Künstlerin genug, dies alles zu ahnen, was in +dem jungen Menschen da vor ihr wirkte und wallte ...</p> + +<p>Und Hans fragte sich immer wieder im stillen, ob das +denn wahr, ob das denn möglich sei ... ob das Leben +wirklich so schön sein könne, so maßlos reiche Gaben +spende ...</p> + +<p>Still war's. Von der Katharinenstraße heraus klapperten +behäbig trottende Pferdehufe, der Schritt der Fußgänger, +die von ihrer Arbeit heimwärts steuerten.</p> + +<p>»Wie gut,« sagte Jucunda, »daß ich heut abend mal +ausnahmsweise nicht spiele, so gehört uns diese Stunde +wenigstens ganz!«</p> + +<p>»Und wehe dem, der kommen wollte sie uns zu stören +— Sie wissen das alles ja gar nicht — Sie wissen nicht, +was das alles mir bedeutet, was Sie mir bedeuten — ich +weiß es selber erst seit wenig Augenblicken. Ich denke +zurück an zwei Abende meiner Jugend, die der Wendepunkt +waren, ich fühle es nun. Ihr spieltet daheim, in +dem alten engen Stadttheater an der Rathausbrücke — +Sie waren eben entdeckt worden, ein märchenhaft aufleuchtender +Stern — und ich, ein sehnsüchtiger Primaner +droben auf dem zweiten Rang im »Wallenstein« — Sie +drunten als Thekla mit der Laute in den rotsamtnen +Vorhang geschmiegt, weißleuchtend abgehoben von dem +riesigen Glasfenster, durch das die sternlose Nacht hineingähnte. +Sie sangen Ihr Lied, Sie wissen's ja — Sie +singen's übermorgen wieder — Und wissen Sie, wie ich +Sie empfand? Sie waren die leuchtende Seele des gigantischen +Gedichts, Sie waren die Schönheit, die versinken +muß unterm erbarmungslosen Schritte des Schicksals — +Sie waren die Tugend, die zermalmt wird von den geifernden +Kinnbacken des Verbrechens, Sie waren ... das +Ideal, das waren Sie ... ach! und Sie sind's mir geblieben. +Jetzt fühl' ich's, daß Sie immer mit mir gegangen +sind in den zwei Jahren — und nun, ist's möglich! +Nun sitze ich Ihnen gegenüber, könnte Ihre Hand erreichen, +wenn ich's wagte, darf in Ihre Augen sehen und +fühlen: das Geschick meines Lebens ist über meinem +Haupt.«</p> + +<p>Seine Stimme zitterte — die braunen Augen leuchteten, +der Atem flog.</p> + +<p>»Und dennoch —« sagte Jucunda langsam, großäugig +— »und dennoch haben Sie Asta Thöny geküßt.«</p> + +<p>»Ja, Jucunda, ich habe Asta Thöny geküßt. — — Wie +soll ich Ihnen das erklären — sie war die erste, die kam, +damit ist alles gesagt. Sie hat mich genommen, weil alles +in mir nach der Erfüllung lechzte, die nur Jucunda heißen +durfte. Ach! so ist's wohl stets im Leben, daß man sich +bescheiden muß und dankbar sein, wenn man Kupfer bekommt +für Gold. Das andere, das ganz große Glück, das +gibt's ja nicht, das darf's ja gar nicht geben — denn gäb' +es das, wir wären Götter und nicht Menschen ... und +Götterschicksal erträgt sie ja wohl nicht, diese arme, irdische +Seele, dieser schwache, tönerne Leib. — Und doch, ich +fühl's: daß ich das habe tun können, daß ich, Ihr Bild im +Herzen, die andere umarmt habe, das hat mich Ihrer unwert +gemacht und unwert auch all dessen, was ich mir an +eigenem Wert und Werden erträumt habe. Ja, Jucunda, +ich habe Asta Thöny geküßt — und nun muß ich ja wohl +auch gehen, nicht wahr?«</p> + +<p>Er war aufgestanden, gesenkten Auges stand er neben +ihr. Da griff sie nach seiner Hand:</p> + +<p>»Du lieber, süßer, dummer Junge, Du ... Hans +Thumser, kleiner dummer Bub, komm, sei vernünftig, setz' +Dich mal her zu mir aufs Sofa. Ja, es ist schade, lieber +Freund, daß Sie so zu mir kommen — aus den Armen +der andern. Aber vielleicht bin ich selber dran schuld ... +warum habe ich Sie nicht erkannt beim erstenmal, da +wir uns sahen? Ich, ich bin in Ihrer Schuld, ich war in +Wirklichkeit die Dumme ... die Blinde ... Doch was +tut's, das alles? Ich will, daß es nicht gewesen sein soll +— und es ist fort — ich wisch' es aus, ich streiche den +Namen Asta Thöny von der Tafel Deines Lebens ... +Und nun ist nichts mehr da als ich, nicht, mein Hans?!«</p> + +<p>»O nichts, nichts als Du —!« stammelte er und sank +neben dem Sofa in die Knie. Seine glühende Stirn sank +in ihren Schoß, ihre weißen Hände glitten über seine +braunen Locken. — Da richtete er sich auf, irren Auges, +die Wangen feucht, und sah sie an, so ganz Inbrunst, Ergebung +und Verlangen, daß es sie niederzog zu ihm. Sie +umschlang seinen Nacken, ihre Lippen hingen über den +seinen.</p> + +<p>In diesem Augenblick wurde heftig an die Tür geklopft. +Die beiden jungen Menschen fuhren empor — +das war nicht wahr, das durfte nicht sein ... aus solchem +Traume gibt's kein Erwachen, eh er zu Ende geträumt +ist. Und doch — es klopfte abermals.</p> + +<p>»Jucunda, darf' ich 'rein kommen?« klang Frau +Buchners fette Stimme.</p> + +<p>Die beiden Kinder richteten sich auf. Die mühevoll +eindressierte Haltung, sie versagte nicht in diesem trauervollsten +Augenblick. Im Nu saß Hans Thumser auf +seinem Stuhl, ganz Korpsstudent, ganz korrekter junger +Gentleman — und sie, ihm gegenüber, auf dem Sofa, +ganz Dame, ganz Komödiantin:</p> + +<p>»Bitte, Mama ...«</p> + +<p>Frau Buchner trat ein, mit einem Lächeln des +Triumphs auf den Lippen. Ein wenig stutzig sah sie von +einem zum andern, doch ihr prüfender Mutterblick fand +keine Spur, die Besorgnis erregt hätte.</p> + +<p>»Nu, Jucunda, was sagste nu?« Mit spitzen Fingern +hielt sie eine Visitenkarte in den Bereich der Lampe, eine +vielzackige Krone darauf und darunter die Worte:</p> + +<p> +Heribert Hans Herwig, Erbprinz von Nassau-Dillingen<br /> +</p> + +<p>»Was?« rief Jucunda, »er ist draußen?«</p> + +<p>»Ei, herrjemerschnee! Ne so was — ne so was ... +Natierlich ist er draußen — in höchsteigener Person! Soll +ich 'n 'rinlassen?«</p> + +<p>Mit einem Blick hatte auch Hans Thumser die Schrift +auf der Karte entziffert, der zweite flog mit schreckhafter +Spannung zu Jucunda hinüber.</p> + +<p>Und — sie? Das Gesicht, das ihm eben geleuchtet +hatte wie der Genius seines Lebens selbst, es hatte den +Ausdruck völlig gewandelt: ein dünnes Lächeln befriedigter +Eitelkeit spielte um die schmalen, herrischen +Lippen, die Augen flackerten einen Augenblick in unstetem +Sinnen, die Stirn hatte sich gekraust. Aber schon war der +kurze Kampf zu Ende:</p> + +<p>»Selbstverständlich, Mama. Sie haben ja wohl nichts +dagegen, Herr Thumser, wie? Der Herr ist ja doch ein +Korpsbruder von Ihnen.«</p> + +<p>Mit einem Ruck war Hans Thumser emporgeschnellt:</p> + +<p>»Dann verzeihen Sie wohl, wenn ich mich empfehle, +mein gnädigstes Fräulein — ich wünsche nicht zu stören.«</p> + +<p>»Aber ich bitte Sie, was heißt stören? Wir könnten +ja so nett zu dreien ...«</p> + +<p>Starr und förmlich verneigte sich der Student:</p> + +<p>»Adieu, meine Damen.«</p> + +<p>Er griff nach seiner grünen Mütze, die auf einem +Stuhl an der Tür lag, dem spanischen Rohr mit Silberbeschlag, +das daneben lehnte, und schritt hinaus.</p> + +<p>Im engen Korridor stand der Erbprinz, in Ueberrock +und spiegelnden Lackschuhen, den Zylinder in der Hand, +die Scherbe im Auge. Sein Gesicht wies den Ausdruck +blöder Verblüffung. Mit einer kurzen Verneigung stürmte +Hans Thumser an ihm vorüber und ließ die Korridortür +ins Schloß fallen.</p> +</div> + +<div> +<h2>12.</h2> + +<p class="start-chapW">Vor ihrem Bett war Asta Thöny in die Knie gesunken +und hatte geweint, wie nie zuvor in ihrem Leben — +und doch, wieviel Tränen waren schon über ihre vergangenen +Tage geflossen ... Wie teuer hatte sie die +flüchtigen Augenblicke des Glücks erkaufen müssen, zwischen +denen nichts gewesen war als Kampf — Kampf mit zusammengebissenen +Zähnen — Hunger und Verzicht — +Abschied und Sehnsucht ... Und nun war's wieder +einmal tief, tief dunkel geworden um sie her ...</p> + +<p>Sie sprang in die Höhe. Die eingeschlossene Luft in +dem engen Stübchen preßte ihr die Brust zusammen — +sie riß das Fenster auf: da draußen auf der Sophienstraße +noch immer das Flockentreiben und all die Fenstersimse +der schwarzen Häuserzeilen schon weiß überlagert, +die Straßen drunten wie versunken unter der weißen +Last — die aufgespannten Regenschirme bestäubt, die Hutkrempen, +die Mäntel schneebepudert. Da hinein, in dies +wehmütig tolle Treiben hatte sie mit dem Liebsten +schwärmen wollen — da hinein zog's sie nun, die glühenden +Augen zu kühlen, die schneidende Luft in tiefen Atemzügen +in die schmerzende Brust zu saugen.</p> + +<p>Einen kurzen Blick warf sie in den Spiegel und sah +ihre Lider, ihr ganzes Gesicht fieberisch gerötet. Sie +suchte den dichtesten Schleier, den sie hatte, und knüpfte +ihn fest ums Gesicht. Dabei fiel ihr Auge auf die schönen +neuen pelzgefütterten Glacéhandschuhe. Sie waren ganz +verdorben vom Strom ihrer Tränen ... ach, wie gleichgültig +das war.</p> + +<p>Nun war sie drunten auf der Straße — wie dunkel es +schon war um diese frühe Nachmittagsstunde — wie sie +emporblickte, lag's über den Dächern wie eine graue +Decke, aus der es unablässig niederrieselte. Im Nu trug +auch sie die Livree des Winters.</p> + +<p>Den wirbelnden Flockenschauern entgegen stapfte sie +gen Westen, kreuzte die Zeitzer Straße und überschritt +auf schmalem Brückchen den Mühlgraben ... In den +Wald hinaus, nur fort von den Menschen, fort aus der +Stadt — in die Einsamkeit, dahin, wo sie hatte einsam +sein wollen mit ihm. Nun dehnte sich zur Rechten die +endlose Schneefläche der Rennbahn, und vor ihr stand der +Wald, ein schwarzer Saum, weiß überzackt. Unter der +Schleußiger Brücke gurgelten gelb und angeschwollen die +trägen Pleißefluten — ohn' Unterlaß sanken die leuchtenden +Flocken in die schmutzigen Gewässer und wurden +eingeschluckt — wie der Schwall des Lebens Wesen um +Wesen verschluckt. Den schmalen Pfad schlug sie ein, der +hart am Ufer drüben aufwärts führte zu den graulich aufragenden +Eichenschäften, dem Gewirr des Ufergestrüpps, +dran jedes Zweiglein schon seine feuchte weiße Last +trug ... Und wirr durcheinander, wie die stäubenden +Flocken, jagten ihre Gedanken. Gott, wie grenzenlos +allein sie doch war auf der Welt: Tochter eines kleinen +Gerichtsbeamten in München, war sie von der strengen +katholischen Rechtgläubigkeit und engen Spießbürgersittsamkeit +ihrer Eltern um jener ersten Liebschaft willen, +die sie einem schmucken Leutnant von den Chevauxlegers +in die Arme geweht hatte, aus Haus und Heimat verstoßen +worden. Das Gräflein hatte brav an ihr gehandelt. Ihre +berufliche Ausbildung, ihren ersten Schatz an Kostümen +verdankte sie seiner Freigebigkeit. Und dennoch hatten am +Ende der Abschied, die Tränen, die Verlassenheit gestanden ...</p> + +<p>Und nun: die kleinen Engagements in Nürnberg, in +Regensburg, in Augsburg. Immer umringt von einer +Verehrerrotte, die nichts von ihr wollte als immer das +gleiche — das eine — für die sie niemals eine Seele, ein +Mensch, eine Künstlerin gewesen war, sondern immer nur +eine hübsche Schale, ein Spielzeug, ein Zeitvertreib, eine +Sklavin ... Und endlich das große Glück: ein einziges Mal +ein Mensch, der sie ernsthaft nahm, Franz Burg, der +Meininger Oberregisseur, der sie entdeckte ganz hinten +im Ensemble eines Mittelstadtbühnchens. Und nun: +Engagement, kleine Rollen, mittlere Rollen, Erfolg — +Karriere. Karriere? Ach, du lieber Gott! Bis zu den +Sternen war man nicht gekommen — immerhin, man +war geborgen, man konnte sich ausruhen, konnte arbeiten +— stand inmitten eines großen, künstlerischen Treibens, +brauchte sich nicht mehr wegzuwerfen, zu verkaufen.</p> + +<p>Aber ach, verdorben war man nun doch einmal, konnte +nicht mehr leben ohne Küsse, ohne Rosen, ohne Liebesbriefe, +ohne Zärtlichkeiten ... Und so flog man doch +auch jetzt immer noch aus einem Arm in den andern, +blieb ein Spielzeug — blieb der rasch vergessene Kamerad +flüchtiger Taumelstunden ...</p> + +<p>Da war der eine gekommen, dies grasgrüne Studentlein, +das so ganz, ganz anders war als alle die frühern ... +Was war's eigentlich gewesen, was ihn von ihnen unterschied? +Er hatte sie genommen, sie hatte sich ihm gegeben, +genau wie's immer gewesen war — nur eines +war anders gewesen — ach, sie wußte es wohl, der Klang +seiner Rede war's, die schäumende Flut von klingenden, +schwingenden Worten, in denen seine Zärtlichkeit, sein +Rausch sich ausströmte über sie hin — ach nein — auch +noch ein andres. All die andern, die sie gekannt hatte, +waren erfahrene, abgebrühte, blasierte Burschen gewesen +— diesem einen, sie wußte es, hatte sie das erste Glück +des Lebens gebracht. Sie hatte träumen dürfen, ihm +etwas zu sein, etwas, das nicht verfliegen könnte mit +dem Rausch der flüchtigen Erfüllungsstunden ... Und +nun, nun war auch das ein Trug, ein Wahn gewesen ...</p> + +<p>Tief gesenkten Hauptes schritt das einsame Mädchen +fürbaß. Und wie ein fernes Brausen klang weit, weit +hinten das Treiben der großen Stadt, gedämpft durch die +rastlos niedersinkenden Flockenmassen. Und in der Nähe +schien jeder Schall des Lebens erstorben — nur der eigne +Schritt knirschte leise im lockren Teppich, der die Welt +überzog. Und zur Linken glucksten die gelben Wasser. +Unter der nassen Last lösten sich die letzten gelben Blätter +von den Wipfeln und sanken schwer und matt wie dunkle +Schattengebilde inmitten des weißen Geriesels nieder, +lagen ein paar Sekunden als schwarze Flecken auf dem +leuchtenden Grund und wurden dann schnell verschüttet +und begraben ... Und Asta sann in die Zukunft — was +hatte sie noch zu hoffen? Zu den höchsten Höhen der +Kunst, dorthin, wo die strahlende Rivalin stand, ach, +dorthin würde sie sich niemals emporschwingen. Nur die +Niederungen waren ihr bestimmt, die wenigen Jahre, bis +Jugend und Anmut verweht sein würden — und was +dann? — Und was inzwischen? — Immer nur Neid und +Enttäuschungen ... Ab und an, wenn einmal eine neue +Rolle neue Hoffnung brachte, ein verzweifeltes Emporraffen, +ein neues zähneknirschendes Einsetzen der ganzen +Kraft — dem, ach, doch immer wieder das Versagen, das +Ermatten, die Erkenntnis der Begrenztheit des eigenen +Wesens und Könnens folgen müßten, wie noch stets +bisher.</p> + +<p>Und wo war dann Trost als in neuen Umarmungen, +in neuen Tändeleien, ohne Glauben, ohne Hoffnung, ohne +Sinn?</p> + +<p>Nein, wenn sie nicht einmal diesen einen dauernd +hatte fesseln können, wenn selbst dieser eine, in dessen +Leben sie am Anfang der Liebe gestanden, wenn sie nicht +einmal ihn länger hatte binden können denn auf ein paar +Wochen, dann war sie doch wohl gar nichts wert. Nicht +einmal als Liebchen, nicht einmal als Weibchen! Und +das nun immer und immer wieder erleben müssen, hatte +das einen Zweck? — Ließ sich das ertragen?</p> + +<p>Und doch, etwas in ihr bäumte sich auf gegen diese +Verneinung ihres ganzen Daseins. War sie denn wirklich +so ein Nichts, so ein Püppchen ohne Existenzberechtigung, +ohne Lebenswert? Ach nein ... nur den falschen Weg +war sie gegangen — nein — nicht gegangen: gestoßen +war sie worden von dem aberwitzigen Schicksal. Damals, +als sie sich von dem blinkenden Rock, der gleißenden +Grafenkrone ihres ersten Galans hatte blenden lassen, als +sie ihren einzigen Besitz, ihr Mädchentum, einem eitlen, +egoistischen Jungen hingeworfen hatte, ohne zu denken, +ohne zu fragen wohin, wozu — damals war sie aus dem +Gleise geworfen worden ... Irgendwo in der Welt +lebte doch gewiß ein braver, schlichter Mensch ihres eigenen +Standes, des Standes, in dem alle ihre Instinkte wurzelten, +dem hätte sie in Bescheidenheit und Treue Gesellin +und Helferin werden müssen. Das wäre dann ein Leben +gewesen, für das ihre Kräfte gereicht hätten, in das sie +Sonne, Glücksgenügen hätte zaubern können für ein +ganzes Erdendasein. — Nun hieß sie eine Künstlerin, ohne +ein Künstlermensch zu sein ... Nun sollte sie gestalten, +ohne in sich die Fülle der Gesichte zu tragen ... Sollte +die Schöpfungen von Dichtern verkörpern, ohne selbst ein +Stück Dichterin zu sein ...</p> + +<p>Die Dämmerung kam. Immer schauriger ängstete +die Stille um sie her, und lichtlos wie die nebelverhangene +Waldeinsamkeit ringsum lagen Zukunft und Leben. Eine +grenzenlose Müdigkeit kam über das verlassene Kind — +eine Sehnsucht nach Schlaf ohn' Erwachen. Und in der +lastenden Stille, in die sie sich hineingesogen fühlte, war +nun ein Laut nur noch: das einlullende Rieseln und +Rauschen der gelben Gewässer neben ihrem Pfad, die so +erbarmungslos die weißen Flocken einschluckten in ihren +gurgelnden Schwall. Ach! wer auch so eine weiße Flocke +wäre, so rasch und völlig versinken, zergehen könnte ...</p> + +<p>Aber schreckhafte Gesichte drängen sich vor — wie +schauervoll müßte das Ende sein, wären diese Flocken nicht +fühllos, wären sie nicht der Flut wesensgleich, die sie verschlang? +Du aber, Asta, du bist ein junges, heißes +Menschenkind, du wirst nicht leicht und sanft dich auflösen +und verschmelzen mit den Gewässern, die meerwärts +rollen da unten. Du wirst dich quälen müssen, alles +in dir wird im letzten verzweifelten Ansturm noch einmal +nach dem Leben in Glanz und Licht verlangen, dem du +verwandt bist, in dem du dich umgetrieben, zwar oft in +Tränen und Verzweiflung, doch bisweilen auch in +Schauern von Seligkeit ...</p> + +<p>Und dennoch, eine Stille wird kommen nach der kurzen +Qual — eine lange, tiefe, wunschlose Stille.</p> + +<p>Und noch ein Gedanke kam, der Furcht und Grauen +schuf: Asta war in römischer Frömmigkeit erzogen, der +Kinderglaube war nie ganz versiegt in ihrer unbewehrten +Seele. Wenn's nun wahr wäre, was man sie gelehrt +hatte von ewiger Verdammnis, von einem Wiedererwachen +zu unnennbarer, unendlicher Qual? Ach nein, das war +doch wohl nur Märchen und Kinderschreck — ach nein — +wenn erst die Glut hier drinnen verloschen war, wenn die +Glieder, die so heiß gefiebert hatten im Ueberschwang der +Daseinswonne — wenn sie erst so kalt und leblos geworden +waren wie drunten die strömende Flut, dann +war's aus und vorbei, dann kam nichts mehr — kein +Glück mehr und kein Schrecknis.</p> + +<p>Da stieg aus den falben Nebeln, die mählich den Fluß +überlagerten, ein niedres Gebäude empor, eine hölzerne +Wirtschaftsbaracke, grau gestrichen, hart bis an die +Strömung des Flüßchens herangeschoben, mit einer +Galerie, die über das Ufer vorsprang. »Zum Wassergott« +lautete die Inschrift auf dem getünchten Wirtshausschild. +Im Sommer mochte hier zur Abendstunde muntres +Treiben herrschen, friedliche Philisterbehaglichkeit — nun +lag das kleine Anwesen kläglich verödet, ganz versunken +in trostloses Schweigen.</p> + +<p>Asta trat ans Geländer und sah, wie die gelbe +Flut in quirlenden Strudeln um die schneeverwehte +Treppe rauschte, an der sonst das Fährboot anlegen +mochte. Und nun zu denken, daß man morgen so +gefunden würde, weit, weit unten irgendwo, entstellt, +zerzaust, aufgedunsen — — Aber ... das ging einen ja +dann nichts mehr an, das fühlte man ja doch nimmer. +Dann mochte die Welt laufen, wie sie wollte. Dann mochte +der kleine Hans Thumser vor Jucunda Buchner auf den +Knien rutschen und um die Gunst betteln, die Asta ihm, +ach, allzu wohlfeil, allzu willfährig gewährt. Dann +mochten sie Komödie spielen, solange es ihnen noch Spaß +machte, sich abzuquälen für die undankbare Bande im +dunkeln Parkett — ach! und wie dankbar war man doch +gewesen, wenn die mal ein bißchen mitgegangen waren, +wenn man ab und an sich hatte vorlügen dürfen, man +sei auch wer, man habe auch die Kraft in sich, die da hinten +zu packen und durch und durch zu rütteln, wie die paar es +konnten, die paar Echten, die paar Großen ... Ja, spielt +nur, spielt nur Komödie — auf den Brettern und im +Leben. Lügt Euch Gefühle vor und laßt Euch welche +vorlügen, glaubt daran oder tut doch wenigstens so, als +glaubtet Ihr. Denn auch Du hast ja gelogen, kleiner Hans +Thumser, als Du unter Küssen und Tränen mir schwurst, +ich habe Dir das Glück geschenkt. Ich weiß es ja nun, +Du hast in meinen Armen immer nur an die andre gedacht. +Ob Du's bei ihr finden wirst, das Glück, das sogenannte +Glück? Ob Du es überhaupt jemals finden +wirst im Leben? Ich will Dir's gönnen, kleiner Hans, +denn ich habe Dich sehr lieb gehabt — ich will Dir's +gönnen, kleiner Hans — ich aber — ich tu nicht mehr +mit, ich habe genug ...</p> + +<p>Einen spähenden Blick noch warf Asta in die Runde. +Es war nun fast ganz dunkel geworden und nichts +ringsum, als das sachte Sinken der weißen Kristalle, +hinter denen die schwarzen Stämme ragten, finster und +stumm. — Ob es wohl lange dauern würde? Ob es sie +noch einmal emportragen würde an die Oberfläche? +Hoffentlich würden die nassen Kleider sie rasch in die Tiefe +ziehen. Es war nicht schade drum, sie hatte sich für einen +Fußmarsch im Schnee zurecht gemacht. Das bissel Flitter, +was daheim herumlag, dafür würde sich schon irgendeine +Verwendung finden: nur das schöne Sealskinjackett und +das Barett und der Muff dazu, das war doch zu schade +für die Pleiße! Irgendein Armes mochte das hier +finden und es verkaufen und sich einen guten Tag dafür +machen ... Sie zog die kostbaren Hüllen ab und legte +sie sorgfältig zusammengefaltet unter das weitvorspringende +Holzdach der Wirtschaftsveranda, wo sie einigermaßen +vor dem Schnee geschützt waren. Nun schauerte +sie fröstelnd zusammen im Nebelhauch der Waldtiefe. +Gott — und daß nun niemand, niemand morgen weinen +wird, wenn sie's hören, wenn's in der Zeitung steht, wenn +zum letzten Mal von Asta Thöny was in der Zeitung steht +— ach, allzu viel Schönes hat nie dringestanden über Asta +Thöny — und keiner wird weinen, nicht ein einziger von +all den vielen, vielen, die mich geküßt und mir von Liebe +geschwatzt haben, nicht einer. Auch Du nicht, Hans +Thumser, ach, auch Du nicht ...</p> + +<p>Und sachte wie die weißen Flocken in die träge ziehenden +Fluten niederglitten, so sachte ließ Asta Thöny sich +niedergleiten von der schneeverwehten Treppe an der +Holzveranda des Restaurants »Zum Wassergott« ...</p> + +<p class="start-chapW space-above">Valentin Pilgram war nachmittags gegen halb vier +von dem Repetitor nach Hause gekommen, um sich in +das gewohnte, besinnungslose Arbeiten hineinzustürzen, +mit dem er nun schon seit Wochen sich zu betäuben gewohnt +war.</p> + +<p>Als er durch den dunklen Korridor schritt, kam die +Frau Kanzleirätin aus der Küche mit einem Brett +voll Teegeschirr und ging zu Jucundas Stube hinüber. +Verlegen erwiderte sie seinen Gruß; wie die Tochter, so +wich auch die Mutter dem Zimmerherrn aus, wo irgend +möglich, seit jenem verhängnisvollen Morgen ...</p> + +<p>Als sich die Tür zu der Stube der Schauspielerin +öffnete, sah Valentin Pilgram mit einem Blick, daß dort +Vorbereitungen für den Empfang eines Besuches getroffen +wurden: festlich gedeckt glänzte der Tisch, sorgfältig waren +die Blumenspenden der letzten Abende arrangiert, kurz, +alles verriet ein nahes Fest.</p> + +<p>Wer mochte erwartet werden? Ein paar Kolleginnen +oder Kollegen ... oder? — Valentin wußte, daß der Erbprinz +keine Vorstellung versäumte, in der Jucunda auftrat, +er hatte bei jeder Premiere unter den Riesenschleifen +der Lorbeerkränze die Farben von Nassau-Dillingen erkannt. +Also zum mindesten war Seine Durchlaucht nicht +mehr in der Ungnade ...</p> + +<p>Merkwürdig: der gewohnte Arbeitsfriede wollte +heute nicht kommen. Immer lauschte der Kandidat auf +Stimmen da drüben, in der ingrimmigen, quälenden Hoffnung, +sie möchten recht behalten, jene ekelhaften Vermutungen, +die sich immer deutlicher in ihm emporreckten: +der Erwartete möchte der Erbprinz sein ...</p> + +<p>Und endlich schlug die Glocke im Hausflur an. Valentin +Pilgram fuhr in die Höhe, schlich zur Tür und lauschte. +Dabei überkam ihn brennende Scham: was war aus ihm +geworden, daß er das Tun und Treiben anderer Menschen +zu beschnüffeln und zu bespitzeln gelernt hatte? Das +war doch früher nie gewesen ...</p> + +<p>Und horch — die Stimme eines jungen Mannes ... +aber das näselnde, gequetschte Organ des Prinzen war's +nicht, es war eine frische, klangvolle Stimme ... es war ... +Hans Thumsers Stimme ... Ach — also der!</p> + +<p>Er hörte ganz genau, wie Mutter Kanzleirätin den +Besuch zur Stube der Tochter führte, wie sie anklopfte, +wie des Mädchens volltöniger Alt das Herein ertönen +ließ, wie sie lebhaft und freudig den Besucher begrüßte, +wie jener verbindlich und bewegt erwiderte.</p> + +<p>Das Blut stieg dem Lauscher ins Hirn, in die Augen +— die Gedanken quirlten einander überstürzend empor +und machten ihn schwindeln. Also er —! Wundervoll! +wundervoll! Wie das alles sich zusammenfand, wie die +vagen Vermutungen, die greulichen Phantasien der letzten +Wochen sich nun zu festen, zweifelsbaren Schlüssen zusammenfügten! +Nun freilich — nun war's ja klar, wie +der Frankenzirkel und Hans Thumsers Initialen auf +jenen Bogen geraten waren, der Jucundas Absagebrief +trug! Man hatte es verstanden, ihn beiseite zu schieben — +hatte seine schnelle Ritterschaft lächerlich zu machen gewußt, +um seine eigenen Chancen zu verbessern! Freilich, +daß man mit einer solchen Gemeinheit auf dem Gewissen +den Mut nicht gefunden hatte, den Hintergangenen, den +an die Wand Gedrückten in seiner Einsamkeit zu besuchen +— kein Wunder schließlich! Und auch heute hatte man +den Weg zur Tür des einstigen Korpsbruders nicht gefunden, +obwohl man unter einem Dache mit ihm war! +Also so etwas gab's — so viel Infamie barg sich hinter +der zur Schau getragenen Besonderheit, der phantastischen +Eigenart des Reimedrechslers! — — Na warte, Bursche!</p> + +<p>Valentin Pilgram hatte kein Talent zum Lauscher an +der Wand. Er schlich an seinen Schreibtisch zurück, vergrub +den Kopf in den Händen und wühlte sich in das +krause System des römischen Erbrechts hinein. Aber die +Buchstaben hüpften vor seinen Augen, die Sätze verwirrten +sich, führten sinnlose Tänze auf, und etwas Unwiderstehliches +zog ihm immer wieder die geballten Fäuste von +den Ohren ... Da drüben klapperten die Tassen, plätscherte +munteres Gespräch ... kein Satz zu verstehen, +höchstens einmal ein einzelnes Wort. Nun ein erregtes +Lachen, nun Schritte durchs Zimmer, nun in raschem +Wechsel Geplauder, ein Hinüber und Herüber von Scherz +und Neckerei jetzt und nun von Rede, deren Sinn man +nicht verstand, deren Klang aber deutlich genug von +wachsender Vertraulichkeit, von innigem Austausch redete +... Ja freilich, der wußte besser, wie man mit Frauen, +mit Künstlerinnen reden muß, um Eindruck zu machen!</p> + +<p>Valentins Gedanken verwirrten sich. Es war ihm +nun, als müsse Hans Thumser das alles mit diabolischem +Raffinement ausgeheckt haben, was sich vollzogen hatte. +Gewiß war er schon längst hinter Jucunda her — war +er's nicht gewesen, der die Idee mit dem Pferdeausspannen +ausgeheckt — und war er nicht an jenem Abend als des +Erbprinzen Gast an seiner Seite im Theater gewesen? +Gewiß hatte er auch in Erfahrung gebracht, mit welch +geschmackloser Zudringlichkeit der Erbprinz und der Major +sich bei Jucunda einführen wollten, und hatte schon damals +sein Plänchen geschmiedet ... Alle Wut und Qual der +letzten Wochen knäuelte sich zusammen zu einem einzigen, +alles verdrängenden Gefühle der Empörung, des Ingrimms, +der Rachelust ... ihn, diesen glatten Lächler, +diesen geschmeidigen Buben, stellen ... züchtigen!</p> + +<p>Aber nein — das war nicht länger zu ertragen, dieser +Zusammenklang der zwei Stimmen da drüben, der gehaßten +und der ach ... in tausend Schmerzen geliebten! +War er denn verdammt, all jenes Glückes Ohrenzeuge +zu sein, das er für sich selbst nur in fernen Träumen zu +ersehnen gewagt hatte? Und das dem Buben da drüben +in den Schoß fiel. Nein, das nicht, das doch nicht! Fort, +hinaus, in das Schneegetriebe da draußen, weg aus +diesem dumpfen Zimmer, dessen Luft bis zum Ersticken +angefüllt war mit vergangener und gegenwärtiger Gedankenqual!</p> + +<p>Valentin Pilgram stand auf. Er warf seinen Winterpaletot +um, stülpte den weichen, zerknüllten Filzhut auf +den unfrisierten Kopf, nicht achtend, daß beide Kleidungsstücke +seit Tagen nicht gebürstet, von dickem Staub umlagert +waren. Er, der sonst so peinlich gestriegelte Korpsstudent, +hatte seit Wochen sein Aeußeres schlimmer vernachlässigt +als der armseligste Prolet unter den Kommilitonen +... Er griff nach dem wüsten Knotenstock, den er +sich für fünfzig Pfennig in irgend einem Kram gekauft, +seit er das silberbeschlagene spanische Rohr mit der +Dedikation seines Leibburschen nicht mehr führen durfte +... und nun hinaus — nur hinaus!</p> + +<p>In der kurzen Stunde, seit der Jungschnee sich eingestellt, +waren Bürgersteig und Straße mit fußhohen +Schneemassen überschüttet. Mühsam bahnten sich die Fußgänger +ihren Weg, trübselig stapften die Droschkengäule +daher, wie schwarze Silhouetten schoben Menschen, Tiere, +Gefährte einander vorüber, die ersten Laternen äugelten +mit trübem Blinzeln durch den Flockennebel, der ohn' +Unterlaß herniederwogte. Von weißen Kanten eingesäumt, +reckten sich die finstern Fronten der alten Barockpaläste +zu beiden Seiten der engen Straße. Jedes Geräusch +war eingesogen von den weichen Polstern des +Grundes, den stiebenden Flockenmassen, welche die Luft +verhängten.</p> + +<p>Der junge Gesell, der mit aufgeschlagenem Rockkragen, +die Hände in den Manteltaschen vergraben, verloren und +ziellos durch die Straßen pendelte, hielt es nicht aus inmitten +des lautlosen Lebens, das sich schattenhaft an ihm +vorbeidrängte. An der Thomaskirche vorüber, deren +schwarzer Giebel sich droben in dem weißen Dunst verlor, +pendelte er auf den Ring hinaus, wo die Zweige der +Baumreihen, des Gebüschs unter der Wucht ihrer weißen +Last sich bogen und knackten. Zur Linken stieg das finster +dräuende Massiv der Pleißenburg in die silbernen +Schwaden, das Rund des Turmes hob sich als riesiger +Schattenriß von den Lichtfluten um den Roßplatz und +Königsplatz ab. Und nun der winterstille, menschenleere +Johannispark! Hier ließ sich aufatmen, hier wurde die +Brust freier. Hier klärte sich das Gedankenchaos ...</p> + +<p>Ja, es mußte gehandelt werden. Die ganze Fülle +der verhängnisvollen Ereignisse, die Valentin Pilgram +aus seines Lebens sicher vorgezeichneter Bahn so jählings +hinausgeschleudert in ein uferloses Nichts, das alles +drängte zu einer entladenden, entlastenden Tat. Und +diesmal würde seinem Vorsatz Erfüllung werden — diesmal +würde er nicht wie Don Quichotte gegen die Windmühlenflügel +anrennen, um alsbald entsattelt an der Erde +zu zappeln, ein Spott der Welt ... Diesmal würde er den +waffengeübten Arm zum sicher treffenden Schlag zu +brauchen wissen, mitten in des Feindes Fratze!</p> + +<p>Des Feindes! — es gab ja nur den einen! In ihm +schien dies aberwitzige Schicksal der letzten Wochen Gestalt +angenommen zu haben — in jenem jungen Burschen, +der sich jetzt gewiß von Jucundas Lippen den Dank holte +für eine ganze Kette von Niederträchtigkeiten und +Bübereien. Ihn züchtigen — ja das war's! Das forderte +die Stunde!</p> + +<p>Und dann? Was kam dann?! Dann würde man +sich gegenüberstehen, Aug' in Auge, den Lauf der Waffe +auf des Feindes Herz gerichtet ... das war dann das +Gottesgericht ... Dann würde sich's zeigen, wer von +ihnen beiden weichen müsse von dieser Welt, die nicht +Raum mehr hatte für sie beide ...</p> + +<p>Und ... dann?!</p> + +<p>Hans Thumser sollte fallen. Er wollte es. All die +eiserne Willenskraft, die bis zu dieser Stunde sein junges +Leben vorwärts getrieben, er würde sie in das kleine +Stückchen Blei hineinlegen, das des Feindes Herz finden +sollte. Das war dann die Sühne, das war die Wiederherstellung +der heiligen Weltordnung, welche von den +Gesetzen der Ehre regiert wird, der Ehre, deren Ritter +er gewesen war, und die jener andere mit Füßen getreten +hatte ... jener andere, der heut noch das dreifarbene +Band um die Brust trug, das er, der Getreue, eingebüßt +hatte dank jenem sinnlosen Schicksal, dem er unterlegen +war bis heut. Aber dies stumpfsinnige, brutale Schicksal, +es sollte nicht Meister bleiben in der Welt, solange er +noch Kraft hatte, den Hahn einer Pistole abzudrücken ...</p> + +<p>Und dann?! Er wußte den Gesetzesparagraphen zu +nennen, dem er dann verfallen war; die Höhe der Strafe, +welche seiner wartete. Das war ja wiederum der groteske +Unsinn dieser Zeit, daß die Gesetze des Staates das Recht +der Selbsthilfe dem Manne versagten, der am Heiligsten +seines Lebens gekränkt war: an seiner Ehre ... Dieselben +Gesetze, die den Beleidiger der Ehre mit Strafen von +kindischer Winzigkeit bedrohten ...</p> + +<p>Immerhin — lieber zwei Jahre lang als Gefangener +auf dem Königstein, lieber das, was liberale Zeitungsschmierer +einen Duellmord nannten, lieber das alles, als +dieses zermürbende Gefühl der Ohnmacht, der Wehrlosigkeit +gegen menschliche Infamie und den Aberwitz des +Fatums!</p> + +<p>Schon war des einsamen Wanderers Hutkrempe von +einem dichten Schneekranz umlagert. Nasse Schauer +sprühten ihm um die glühenden Wangen, eisige Tropfen +rieselten ihm über Hals und Nacken. Er achtete es nicht. +Den Kopf tief in den Schultern vergraben, stolperte er +fürbaß. Schon lag der Park hinter ihm, mechanisch verfolgte +er den nächsten Pfad, der hart am Saume des +rechten Pleißeufers zwischen den reckenhaften Schäften +der hochstämmigen Eichen und dem dürren Gestrüpp der +Erlen entlang führte. Als sein Blick zufällig die gelben +Fluten der gurgelnden Pleiße streifte, stieg mitten in sein +finsteres Brüten hinein ein lachendes Bild heiterer +Jugendlust:</p> + +<p>Die S. C.-Kahnfahrt nach Connewitz, welche die +Leipziger Korps in jedem Sommersemester gemeinsam +unternommen hatten ...</p> + +<p>Wann war doch das gewesen? Vor einer Ewigkeit ... +in einem andern, versunkenen Leben ... Damals hatte +die Welt in tausend Farben geleuchtet, hatten bunte +Mützen und grellfarbige Bänder geblinkt, heiter abgehoben +vom dunklen Grün der Ufersäume, vom Blau des klaren +Himmels, das sich in den freundlichen Wellen des Flusses +spiegelte ... Flüchtig, wie es herangeweht, zerstob das +Bild, und wieder war nichts als der schneestarrende Wald +und drunten die blaugraue Flut und ringsum Dämmerung +und lastende Einsamkeit. Nur drüben, am jenseitigen +Ufer, wohl zwanzig Schritte vor Pilgram, ging noch ein +anderer einsamer Mensch, ein schwarzer, formloser +Schatten, vorüberhuschend vor dem silbernen Reif, der +den ganzen Wald, der alle Welt überflitterte.</p> + +<p>Und wieder tauchte Valentin Pilgram tief in den +schaurigen Abgrund seiner Grübeleien.</p> + +<p>Wie, wenn es nun anders kam? Wenn das Gottesgericht +gegen ihn entschied? Nun dann war eben alles +aus — und er brauchte doch wenigstens nicht mehr zu +leben auf einer Welt ohne Sinn ...</p> + +<p>Aber — die daheim —?! Die Eltern, deren Stolz er +war, er wußte das ... Der eifrige Vater, der in rastloser +Arbeit zu einer der obersten Stellungen in der +Königlich sächsischen Rechtspflege emporgestiegen war +und in den zwanzig Jahren rüstiger Arbeit, die noch vor +ihm liegen sollten, noch höher zu steigen hoffte? Er, in +seiner starren Rechtlichkeit, seiner tadellosen Korrektheit +der Art des Sohnes so innig verwandt? Nie hatten Vater +und Sohn voreinander Worte zu machen gebraucht von +dem, was sie beide längst wußten: daß sie Menschen einer +Rasse, eines Wesens waren, würdige Glieder einer uralten +Familie hochangesehener Gelehrten, Geistlichen, Beamten, +die stets eine Zierde der Stadt, des Staates gewesen +waren ... und die gute Mutter, ein Mensch, so recht +zur Ergänzung dieses Schlages geschaffen, ohne starke Persönlichkeit, +voll tiefsten Respekts gegenüber dem Gatten +und dem Sohne, denen sie sich allzeit als freudige und nützliche +Dienerin untergeordnet hatte, entsprechend den Traditionen +der ehrbaren Geschlechter, aus denen auch sie +entsprossen war, und die allzeit aufrechte Säulen der Ordnung +und Tüchtigkeit gewesen waren. Die Schwestern, +von der Mutter nach ihrem Vorbilde erzogen zu braven +Gattinnen für diese ehrenfeste Art Männer, wie das +Vaterland sie immer gebraucht hatte und, will's Gott, +immer brauchen würde ... und nun — ein Sohn im +Duell gefallen ... in einem Duell, in dem eine Rolle, +eine wenn auch noch so entfernte Rolle immerhin ... +eine Schauspielerin ... gespielt hatte? War das nicht +wider den Stil der Familie? wider alle Gewohnheit ihrer +Daseinsführung?</p> + +<p>Nein, das war es nicht. Untadelig war, was immer +er getan, seit Jucunda Buchners Bild emporgetaucht war +in seinem jungen Leben, das nichts als Ehre gewesen war. +Untadelig ... Und so würde er's vor jenem ernsten +Gange für die Lieben daheim aufzeichnen, würde für +jeden seiner Schritte die Motive, die Handlungen angeben, +die Zeugen benennen. Und so würden die Seinen des +Gefallenen mit tiefer und reiner Trauer ohne Groll und +ohne Scham gedenken können, ja mit Stolz als eines +Menschen, der auch diesem absurden Spiel dämonischer +Mächte gegenüber geblieben, was er stets gewesen: ein +Mensch ihrer Art ...</p> + +<p>In diesem Augenblick trieb ein Windstoß dem einsamen +Wanderer einen heftigeren Guß prickelnden Schnees ins +Gesicht und scheuchte ihn aus seiner Versunkenheit auf. +Es war fast völlig finster geworden, und Valentin Pilgram +entschloß sich zur Stadt zurückzukehren. Seine Entschlüsse +waren gefaßt, klar vor ihm lag der Weg, den seine +Pflicht ihn gehen hieß. Zu was noch länger ziellos durch +die Einsamkeit streifen? Daheim waren die Bücher ... +und in wenig Tagen würde das Examen beginnen ... +und Ruhe würde ja nun auch geworden sein daheim. +Heut abend waren wieder die »Piccolomini« — Jucunda +würde schon im Theater sein ...</p> + +<p>Schon war Valentin Pilgram im Begriff kehrtzumachen, +da fiel sein Blick zum jenseitigen Ufer, und er sah +im letzten Dämmerschein etwas Unbegreifliches:</p> + +<p>Kaum noch in matten Umrissen erkennbar, lag drüben +die Sommerwirtschaft »Zum Wassergott«. Dort hatte er +nach manchem Spaziergange mit Korpsbrüdern die Hitze +des Marsches an einer Gose gekühlt und dem munteren +Treiben der sonntäglichen Kähne auf dem Flusse zugeschaut. +Und seitlich, an der Treppe, wo die Fähre anzulegen +pflegte, stand ein Mensch, eine Frau. Auch sie +nur ein grauer Schatten vor dem Dunkel, das unter der +Galerie lastete. Und dieser Mensch tat nun etwas ganz +Sonderbares: dieses Weib legte seine Kopfbedeckung ab +— es schien eine Pelzmütze zu sein — und zog das Jackett +aus, schob beides zusammengefaltet nach hinten in das +Dunkel und stieg nun die Treppe hinunter bis dicht ans +Wasser. Und nun — — in jähem Schrei entlud sich Valentins +Entsetzen!</p> + +<p>Schon in der nächsten Sekunde aber reagierte ganz +automatisch sein Instinkt auf das grauenhafte Schauspiel, +das sich bot. Mit einem Ruck riß er die Knöpfe seines +Paletots und seines Rockes auf, schleuderte beide Kleidungsstücke +mit einer jähen Bewegung in den Schnee und +war mit einem Satz am Ufersaum, mit einem zweiten +schoß er in die gelbe Flut hinaus. — Die markerschütternde +Kälte des Wassers lähmte eine Sekunde lang seine +Glieder wie sein Hirn, im nächsten Augenblick aber durchschoß +ihn ein siedender Feuerstrom. Jeder Nerv, jeder +Muskel spannte sich an wider das eisige Grauen — Arme +und Beine strafften sich, mit heftigen, ruckartigen Stößen +setzte er sich zur Wehr gegen die zähe Umklammerung des +kalten Elements, in dem er trieb. Er schwamm, er wußte +sein Ziel. Ueber der fernen Stadt lag ein roter Schwaden, +dessen Widerschein sich in den träge hingleitenden +Fluten spiegelte. In diesem matten Perlmutterglast glitt +eine dunkle Masse, auf die schwamm er zu. Wenig Stöße, +dann war's getan. Er griff in ein nasses Bündel Kleider +hinein, fühlte warme Menschenglieder, umspannte eine +schlanke Gestalt. Kaum spürte der wehrlose Körper die +fremde Berührung, da zuckte er in aufbäumendem Entsetzen +zusammen, krümmte sich, warf sich hin und her in +den Eisstrudeln, welche die hintreibenden Leiber umquirlten. +Doch nicht umsonst hatte der Student seine +Muskeln in der harten Zucht des Fechtbodens gestählt und +ihre Kraft in mehr denn zwanzig Waffengängen erprobt. +Mit eisernem Griff umschlang er das zarte Figürchen, rang +die strampelnden Arme nieder und lenkte mit heftigen +Beinstößen dem nahen Ufer zu. Die nassen Kleider legten +sich wie stählerne Klammern um seine Beine, der Druck der +Schuhe machte die Füße schwer und hilflos, doch mit +wildem Ungestüm zwang der Wille jedes Hemmnis nieder, +den Frost, den Verzweiflungskampf der zuckenden Glieder, +die er mit seinen Armen umschloß. Nach wenigen Sekunden +fühlten die Füße Grund, Schlammgrund, doch er +hielt. Nun packten beide Arme mit unwiderstehlichem +Griff das leichte Körperchen um Hüften und Knie — noch +ein kurzes, heftiges Ringen, dann griff die Linke einen +tiefniederhängenden Weidenast, die Rechte schleifte die +zappelnde Last durch die gurgelnden Wellen. Nun +spannten beide Arme noch einmal sich an und hoben mit +hartem Ruck den gefangenen Leib in die knackenden Büsche +der Uferböschung hinein. Nun klang ein wimmerndes +Stöhnen, nun keuchten klagende Laute wie eines kranken +Kindes Stimme:</p> + +<p>»Lassen Sie mich doch ... o bitte ... bitte, lassen Sie +mich doch los!«</p> + +<p>»Ne — gibt's nich!« keuchte der Student. Mit letzter +versagender Kraft würgte er sich selber durch die schneeüberstäubten +Zweige des Ufergestrüpps hindurch, zog den +Körper der Geretteten vollends hinauf und ließ ihn in den +lockeren Schnee gleiten, weil die ausgepumpten Muskeln +nichts mehr hergaben. Schwarze Finsternis ringsum — +nichts hörte Valentin, als das raschelnde Keuchen der +eigenen Lungen, das ratternde Hämmern des eigenen +Herzschlages und dazu aus der geheimnisvollen Dunkelheit +zu seinen Füßen das wimmernde Schluchzen einer +Mädchenstimme — immer nur dies wimmernde Schluchzen, +dies hilflose Greinen.</p> + +<p>»Lassen Sie mich doch los ... o bitte, bitte ... lassen +Sie mich doch!«</p> + +<p>»Ne,« keuchte Valentin Pilgram, »das können Sie nun +wirklich nich ... von mir ... verlangen, Verehrteste ... +ich hab' mich dermaßen für Sie ... abgeschunden ... jetzt +lass' ich Sie nich wieder ... in die nasse Sauce da!«</p> + +<p>Mit der Ueberwindung der Gefahr war ein grimmiger +Humor über ihn gekommen. Er richtete sich auf, reckte +die stählernen Glieder, schlug ein paar mal die Arme über +der Brust mit kräftigem Ruck zusammen, um sich gegen +die Frostschauer zu wehren, die sich in seine Haut einfraßen. +Dann bückte er sich zu der Geretteten, bekam das +schlanke Figürchen um die Taille zu fassen und setzte es +mit einem energischen Hub auf die Beine.</p> + +<p>»So, nun bleiben Sie gefälligst stehen ... aber nein, +kommen Sie mit mir, wir rennen zum »Wassergott« +zurück ... das macht warm ... Sie haben ja da meines +Wissens Ihre Oberkleider gelassen, die holen wir ...«</p> + +<p>Dabei versuchte er die Dunkelheit zu durchdringen, um +etwas von den Zügen der Gesellin dieser seltsamen Begebenheit +zu erkennen. Umsonst — nur etwas Nasses, +Zitterndes hielt er in seinen Armen, dessen Wärme langsam +die eisige Nässe der Hüllen durchdrang, die um ihre +Glieder schlotterten. Die zarte Gestalt wollte wieder in +die Knie sinken, aber er raffte sie empor, zog sie herzhaft +an seine Seite und zwang sie, in raschem Schritt durch +den lockeren Schnee mit ihm den Fußpfad pleißeaufwärts +zu verfolgen.</p> + +<p>Dabei redete er ohn' Unterlaß auf das junge Menschenkind +ein, das wankend und noch immer leise wimmernd +an seiner Seite schritt.</p> + +<p>»Nun sagen Sie bloß, meine Gnädigste, wie sind Sie +auf die verrückte Idee gekommen, bei so schauderhaftem +Wetter Schwimmversuche in der Pleiße zu machen? — +Dabei können Sie sich ja einen Schnupfen holen, den Sie +in diesem Leben nicht mehr los werden. Denken Sie bloß, +wenn ich nicht zufällig des Weges gekommen wäre ... +Und noch dazu in Kleidern, das bringt ja nicht einmal ein +Mann fertig, geschweige denn so ein kleines zartes Mädel +wie Sie. — Oder sind Sie gar eine junge Frau? Dann +sagen Sie's mir, damit ich Sie richtig anrede ... kommen +Sie, wir müssen schneller laufen ... damit wir warm +werden, Sie zittern ja gottserbärmlich. Schade, daß der +»Wassergott« zugemacht hat, ich wäre kolossal für einen +Grog oder auch deren mehrere, Sie nicht auch?«</p> + +<p>So schwatzte er drauf los, allerhand banales Zeug, was +ihm gerade in den Kopf kam, und nahm mit Befriedigung +wahr, daß das Wimmern schwächer und schwächer ward +und schließlich ganz verstummte.</p> + +<p>Und dann kam eine wilde Lust an dem unerwarteten +Abenteuer über ihn, das in seine verzweifelte Stimmung +hineingeplatzt war wie ein Weckruf zu neuem Leben ... +Und immer brennender wurde in ihm die Neugierde, die +Züge der Unbekannten zu sehen, in deren Schicksal er +hatte eingreifen dürfen wie vom Himmel gefallen.</p> + +<p>Als die beiden einen Augenblick verpusteten, griff er +in seine Hosentasche und zog die Zündholzschachtel hervor, +sie war ganz trocken. Die wenigen Sekunden, die er in +dem nassen Element zugebracht, hatten nicht genügt, um +seine Kleidung gänzlich zu durchfeuchten. Da ließ er ein +Hölzchen aufflammen und sah mit jähem Entzücken, +welchen holdseligen Fang er gemacht. Dabei weckte ihm +das triefende, glühende Gesicht, von langen dunklen +Haarsträhnen überhangen, unbestimmte Erinnerungen ...</p> + +<p>Aber eine Scheu verbot ihm zu fragen ...</p> + +<p>Und das Flämmchen verlosch, das angstvolle Gesicht, +die hilflos blickenden Augen versanken wieder in der +Finsternis. Nein, jetzt nicht fragen — wie wund mußte +diese arme flüchtige Seele sein ...</p> + +<p>Da war der »Wassergott«. Valentin stapfte in die +schneeverwehte Galerie hinein, aber die Gerettete ließ er +dabei nicht los.</p> + +<p>»Ne, ne, kommen Sie ruhig mit, Gnädigste, ich habe +Angst, Sie möchten zu viel Geschmack an Ihren Schwimmkünsten +gefunden haben ... und ob ich Sie zum zweiten +Male da herausbrächte? Ich weiß wirklich nicht.«</p> + +<p>In der Finsternis fand er die weichen, duftigen Pelzhüllen, +ahnte voll Respekt, daß es sich um Kostbarkeiten +handeln müsse, und hüllte seine Gefangene sorglich hinein. +Sie wehrte sich nicht ...</p> + +<p>Und nun der Heimweg. Durch das schneebepuderte +Gitterwerk des dürren Waldes am jenseitigen Ufer +leuchtete der Widerschein der fernen Stadt, der einen gelblichen +Lichtbogen wie eine matte Aureole in die niederwallenden +Schneenebel hineinzeichnete. Perlmutterfarben +widerleuchtete sein Schein auf den friedlich meerwärts +gleitenden Pleißefluten.</p> + +<p>Das junge Blut, vom raschen Gang, von der fiebernden +Erregung der Herzen aufgepeitscht, besiegte mählich +die Frostschauer, die von den nassen Kleidern her die +Glieder überrieselten. Und mit einem geheimnisvollen +Gefühl brüderlichen Stolzes hielt der Student das zarte +Figürchen umschlungen, preßte es an sich, wie um ihm +abzugeben von der Siedeglut, die ihn durchpulste.</p> + +<p>Noch immer schwieg sie, und wie ein Wasserfall redete +Valentin auf sie ein:</p> + +<p>»Das hätt' ich mir weiß Gott auch nicht träumen +lassen, daß ich meinen Spaziergang in so angenehmer Gesellschaft +beenden würde. — Und Sie? Finden Sie es +nicht doch viel netter, zu zweit hier im Schnee zu waten, +als einsam da unten in der dreckigen Pleiße zu paddeln? +— Sehen Sie mal, wie hübsch sich drüben das Gezweige +von dem roten Himmel abhebt! Da kann man's wahrhaftig +sehen, wie helle die Leipziger sind — sogar der +ganze Himmel ist hell über dem guten alten Biernest ... +Aber nu sagen Sie doch auch mal was, Fräulein! oder +haben Sie Ihre Stimme da unten im Wasser gelassen? +Das wäre doch schade. Ich denke mir, Sie müssen sehr +niedlich plaudern können ... Soll ich Sie vielleicht noch +einmal erleuchten und mich auch, damit Sie sehen, daß +Sie es mit einem ganz ordentlichen Kerl zu tun haben? +Sie haben doch am Ende nicht gar Angst vor mir?«</p> + +<p>Und horch!</p> + +<p>Da klang's auf einmal aus der Dunkelheit neben seiner +Schulter, leise wie ein Taubengirren:</p> + +<p>»Angst ... ach nein — wie könnte ich Angst vor Ihnen +haben, Sie sind ja so gut zu mir —«</p> + +<p>»Hurra! sie kann wieder reden!« jauchzte der Bursch. +»Herrlich! herrlich! Und nun — nun sagen Sie mir's mal +gleich, wohin ich Sie bringen darf? Denn nach so einer +Strapaze gehören kleine Mädchen ins Bett ... Auch ein +Glühwein könnte nicht schaden. Also — wohin soll's +gehen? Heraus damit!«</p> + +<p>Leise nannte das Mädchen seine Adresse. Unwillkürlich +schmiegte sie sich fester in den führenden, schützenden +Arm. Ihr war, als sei ihr noch nie so wohl gewesen, so +geborgen wie in diesem Augenblick. Das Dasein, das +ihr vor einer Viertelstunde noch schal und wertlos erschienen +war, nun glomm es wieder auf in ihr voll Sehnsucht +nach neuem Erleben, voll Dankbarkeit, noch da zu +sein, die eigene Wärme siegen zu fühlen über die eisige +Nässe, der sie sich anvertraut — das ferne Leuchten zu +sehen über der Stadt, wo die Menschen hausten, wo das +Leben brandete, wo man Komödie spielte — aß und trank, +lachte und küßte ... Gott, welch ein Wahn, welch eine +Raserei war doch nur über sie gekommen und hatte sie +da hinuntergetrieben —?</p> + +<p>Ach leben — nur leben. Besser, sich prügeln lassen +vom Schicksal, besser, sich auf und ab wirbeln lassen zwischen +Glückseligkeit und Tränen, Tränen und Glückseligkeit, als +dies kalte Nichts da unten.</p> + +<p>»Ich danke Ihnen,« stammelte sie. »Ich danke Ihnen!«</p> + +<p>Und lustig schwatzend von den gleichgültigsten, törichtsten +Dingen, als seien sie zwei alte Bekannte, die sich beim +Spaziergang begegnet, stapften die zwei Menschen fürbaß +durch den knietiefen Schnee.</p> + +<p>»Haben Sie warme Backen?« fragte der Student. +»Au! Teufel ja, die brennen ja wie ein Oefchen — und +die Hände? Ziehen Sie doch die nassen Handschuhe aus, +das gibt ja Rheumatismus — richtig, die sind wie zwei +Eiszapfen. Da weiß ich Rat, wir werden uns schneeballen. +Los! Greifen Sie zu, ich laufe voraus. Daß Sie +mir aber nicht wieder auskneifen und in die Pleiße spazieren!«</p> + +<p>Nein — Asta hatte keine Sehnsucht mehr nach der +Pleiße. Sie bückte sich, griff mit den erstarrten Händen +in die lockere Masse, die alles überlagerte — und klatsch, +da flog ein raschgeformter Ball dem riesigen Begleiter vor +die Brust, daß es nur so knallte ... Und lachend, rennend, +prustend, wie zwei Kinder, tollten die zwei den Weg +entlang.</p> + +<p>Schon schatteten die dunklen Fronten der Vorstadthäuser +in das silberne Flockengeflitter hinein. Nun galt's +sittsam und verständig nebeneinander durch die Straßen +zu schreiten, in denen nur wenige schneebepuderte Gestalten +unter weißbezuckerten Regenschirmen hastig und +lautlos ihren Behausungen zustrebten.</p> + +<p>Als aber der erste Laternenschein dem wandelnden +Paar die Gestalt des Partners zeigte, schrie das Mädchen +plötzlich auf:</p> + +<p>»Um Gottes willen, Sie sind ja in Hemdärmeln! Sie +werden sich den Tod holen!«</p> + +<p>»Ach! keine Spur!« lachte der Student. »Ich glühe +nur so! vorwärts, nur vorwärts!«</p> + +<p>Jeder Vorüberwandelnde stutzte, als er das seltsame +Schauspiel sah, daß ein junger Mann barhäuptig und +hemdärmelig neben einer elegant bepelzten Dame herschritt.</p> + +<p>Rasch war Valentin des Anstarrens, des Stehenbleibens +satt. Auf der Zeitzer Straße rief er eine Droschke +an, deren schneebepackter Gaul mühselig und dampfend +dahin keuchte. Und nun war nach wenigen Minuten die +Sophienstraße erreicht, die Hausnummer, die das Mädchen +angegeben.</p> + +<p>Es kostete Mühe, in den nassen Kleidern die Treppe +hinan zu kommen, den Korridorschlüssel zu finden.</p> + +<p>Mit Ueberraschung bemerkte der Student, daß es die +wohlbekannte Wohnung war, in der Mutter Ach schaltete, +sie, die ganze Generationen von Franken beherbergt hatte. +Sie, bei der jetzt jener andere wohnte, dem Valentin Pilgram +in ingrimmiger Einsamkeit eine fürchterliche Vergeltung +geschworen ...</p> + +<p>Starr vor Entsetzen stand die behäbige Witwe, als im +matten Schein des Flurlämpchens ihre Mieterin vor ihr +stand:</p> + +<p>»Ei, herrjemerschnee! ne so was — ne so was ... +Was hab'ns denn nur gemacht, Freilein? ... Und wer +is denn das? — Weeß Knebbchen, das is Sie ja der Herr +Pilgram! Herr Pilgram, is es meeglich?! Nu komm' +Se doch bloß mal in die Stube 'nein — ich wer' gleich +Feier machen — und Tee wer' ich 'n kochen, i nee so was, +nee so was.«</p> + +<p>Bei dem Namen Pilgram hatte das Mädchen gestutzt. +Höher noch flammte ihr glühendes Gesicht. Stumm klinkte +sie ihre Stubentür auf und huschte hinein. Die Tür ließ +sie offen in dem dunklen Gefühl, daß ihr Retter einen Anspruch +auf die behagliche Wärme habe, die ihr von drinnen +entgegenschlug.</p> + +<p>Doch der folgte ihr nicht — starr hingen seine Augen +an dem weißen Kärtchen, das an der Stubentür befestigt +war.</p> + +<p>»<em class="gesperrt">Das</em> — sind Sie?« fragte er mit zusammengebissenen +Zähnen.</p> + +<p>»Ja, das bin ich — kommen Sie doch herein — +wärmen Sie sich.«</p> + +<p>Zögernden Schrittes trat der Student näher. In +scheuem Staunen musterten sich die beiden jungen Menschen, +das Hirn von wirren Gedanken durchkreuzt ...</p> + +<p>Frau Wehe hastete herein, rannte geschäftig zum +Feuer, um frische Kohlen aufzuschütten.</p> + +<p>»Nu sagen Se bloß, Herr Pilgram, was haben Se +denn angefangen alle zwei? Wer looft denn bloß in so en' +Wetter hemdärmlig 'rum und mit bloßem Koppe?! Und +naß wie de Katzen seid 'r alle zwee! Da soll wer anders +draus klug wer'n!«</p> + +<p>»Das Fräulein ist spazierengegangen an der Pleiße, +hat im Dunkeln den Weg verfehlt, ist ins Wasser gefallen, +ich habe sie herausgezogen,« erklärte Pilgram hastig.</p> + +<p>»Gott soll mich bewahr'n!« schrie Frau Wehe. »Nu +aber mal schnell ins Bett mit dem Kind! — Und Sie, Herr +Pilgram, Sie gehen nebenan zum Herrn Thumser und +nehm' sich Wäsche und Kleider, versteh'n Se mich?! Am +besten wär's schon, Sie legten sich einfach da nebenan ins +Bette! Herr Thumser wird schon nich beese sinn! Und +dann koch' ich Euch Tee oder Grog, 'ne paar Wärmepullen +unter de Decke, ich wer' schon machen!«</p> + +<p>»Nein!« schrie da Asta Thöny. »Herr Thumser, nein +— das geht nicht — der darf nichts davon wissen ... der +auf keinen Fall!«</p> + +<p>»Ach Quatsch!« rief die stämmige Wirtin. »Ihr holt +Euch ja den Tod alle zwee, da gibt's nischt zu reden — +machen Se fort, Herr Pilgram, in's Bette mit Ihn' —!«</p> + +<p>Mit angstvollen, flehenden Blicken hingen des Mädchens +Augen an den erstarrten Zügen ihres Retters, seiner +finster zusammengekrausten Stirn. — Sie schwieg, sie +wußte, daß sie nicht länger bitten durfte, wo es um seine +Gesundheit ging, vielleicht um sein Leben ...</p> + +<p>Heiser fragte da Valentin Pilgram:</p> + +<p>»Thumser? Warum darf der nicht wissen —? Kennen +Sie Thumser?«</p> + +<p>Tief senkte das Mädchen den Kopf, stand regungslos, +schauerte plötzlich in Frösten zusammen. Auch der Student +schwieg. In wirrem Grübeln, in finstrem Forschen +gingen seine dunklen Blicke zwischen dem zitternden +Mädchen, der hilflos, verständnislos dreinglotzenden Frau +hin und wider.</p> + +<p>»Kennen Sie Hans Thumser, gnädiges Fräulein?« +fragte er noch einmal, hart und befehlend. Ein Verdacht +reckte sich dräuend in ihm auf. So phantastisch, so aberwitzig, +daß der Verstand sich sträubte, ihn zu formulieren ...</p> + +<p>Asta antwortete nicht. Sie sank immer tiefer in sich +zusammen. Und plötzlich knickte sie in die Knie, ihre +Arme fielen auf einen Stuhlsitz, das Köpfchen mit den +triefenden, zerzausten Flechten glitt in die silbernen Falten +des Pelzwerks, das sich um ihre Glieder schmiegte, und +ein jähes Schluchzen durchrüttelte die hingeworfene Gestalt.</p> + +<p>Valentin Pilgram begriff ... Das fehlte noch, das +war das letzte ... Und die ganze, kochende sinnverwirrende +Wut, die den Nachmittag über sein Inneres +verwüstet, schlug in roter Lohe aus den Tiefen seines +Wesens empor, stieg ihm in die Augen, in die Stirn, in die +Fäuste. —</p> + +<p>»Der Hund —! Ah, der Hund!« knirschte er. »Sorgen +Sie mir gut für das Fräulein, Frau Wehe! Adieu!«</p> + +<p>Er stürzte hinaus. Die Stubentür, die Korridortür +krachten hinter ihm ins Schloß.</p> + +<p>Asta Thöny war emporgefahren. Blitzschnell schloß sich +die Gedankenkette: Also der da, ihr Retter, das war Valentin +Pilgram — er, den sie kannte aus Hansens Erzählungen, +von dem sie wußte, wie er in jähem Zorn sich +zur Sühne für eine Schmach gedrängt, die ihrer großen +Kollegin widerfahren ... Und nun, nun stürmte er von +hinnen, unvollkommen bekleidet wie er war, schäumend +vor Wut, wie sie ihn mit einem letzten Blick gesehen. Und +sein letztes Wort war eine gräßliche Drohung für Hans +Thumser gewesen. Für ihn, von dem er nicht einmal in +dieser Not trockene Kleider hatte annehmen wollen.</p> + +<p>Das bedeutete Gefahr — Todesgefahr für den geliebten, +den treulosen Jungen —!</p> + +<p>Todesgefahr —! Noch meinte sie den stählernen Druck +des Armes zu fühlen, der sie aus dem kalten Flutengraus +gerissen, der sie so sicher und brüderlich heimgeleitet.</p> + +<p>Wehe dem, der diesem Arm verfiel.</p> + +<p>Nein, nein ... das nicht, das nicht! Um diesen Preis +gerettet zu sein, nein, das nicht ... o Gott, das nicht —!</p> + +<p>»I herrjemerschnee, Fräulein Thöny, was hat er denn +nur, der Herr Pilgram, was hat er nur?« stammelte +Frau Wehe.</p> + +<p>»Still, still!« winkte Asta ab. »Lassen Sie mich einen +Augenblick.« Und hastig sann sie, wo Hans Thumser nur +stecken könne in diesem Augenblick ...</p> + +<p>Ach so — Mittwoch — offizielle Kneipe ... Ach, sie +kannte den Wochenkalender des Korps in- und auswendig. +Also im Cafébaum, auf der Frankenkneipe ... Und da ... +da würde ja auch der Rächer ihn suchen ... nein — das +nicht ... o Gott, das nicht —</p> + +<p>Und mit einem Ruck stülpte sie das Barett wieder auf, +klappte den Kragen des Pelzjacketts in die Höhe, und +triefend und schlotternd, wie sie war, rannte sie an der +verblüfften Wirtin vorüber, flog die halbdunkle Stiege +hinunter, stand auf der Sophienstraße ...</p> + +<p>Drüben fluteten dichte Menschenströme, vom Glast +der Laternen des Carolatheaters überstrahlt, vom Flockengestiebe +silbern umflittert, in die dunkel gähnenden Pforten +des Kassenflurs hinein.</p> + +<p>Gott sei Dank, »Piccolomini« —! Asta war dienstfrei. +In die erste Droschke, die drinnen ihre Fracht abgeladen +hatte und aus der dunklen Ausfahrt herausrumpelte, +sprang Asta hinein, rief im Einsteigen dem +Kutscher zu:</p> + +<p>»Kleine Fleischergasse, Cafébaum, so schnell das Pferd +laufen kann — einen Taler Trinkgeld sollen Sie haben, +wenn's rasch geht!«</p> + +<p>Der Wagenschlag klappte, der Kutscher schlug die +Peitsche dem Gaul um die dampfenden Flanken, und +durch die dunklen, schneeverwehten Straßen schwerfällig +von dannen rollte das Gefährt.</p> +</div> + +<div> +<h2>13.</h2> + +<p class="start-chapA">Auf der Sophienstraße geriet Valentin Pilgram in den +Schwall der Theaterbesucher hinein, der zum Carolatheater +drängte.</p> + +<p>Ach so — ha, ha! natürlich, da spielte man ja Komödie, +heut' wie alle Abende!</p> + +<p>Und Jucunda Buchner natürlich wieder der Stern des +Abends, der Zielpunkt aller Blicke, die Sehnsucht aller +Herzen! Ja gewiß: wie er sich durch die Menge schob, auf +allen Lippen das leise, andächtig hingesprochene: Die +Buchner ... die Buchner ...</p> + +<p>Der lange Gesell, der im tollen Schneetreiben hemdärmelig +und barhaupt sich durch die Menge zwängte, +machte alles stutzen, alle Hälse sich wenden.</p> + +<p>»Nanu, was hat denn der? Das is wohl ä Verrickter +am Ende! Schutzmann! he, Schutzmann! Nähmen Se'n +doch feste, den Langen da!«</p> + +<p>Nein — so ging's nicht weiter. Er erwischte eine +Droschke, warf sich hinein, befahl Katharinenstraße zweiundzwanzig. +Er konnte ja auch unmöglich so auf Korpskneipe +erscheinen, sie hätten ihn da wohl auch für wahnsinnig +gehalten — hätten sein Rächeramt, seine heilige +Mission, die beleidigte Ehre des grün-gold-roten Bandes +wiederherzustellen, für einen Ausfluß des Aberwitzes genommen. +Und dann: es schüttelte ihn. Fieberglut und +Frostschauer tobten abwechselnd durch seine Reckenglieder.</p> + +<p>Herrgott! Dieser alte Klepper wollte gar nicht vom +Fleck.</p> + +<p>Und doch — es wurde geschafft. Er flog die Treppe +hinauf, langte keuchend oben an. Als er den Schlüssel +suchte, taumelte er — das Fieber verwirrte sein Hirn. +Kaum gelang es ihm, den Schlüssel einzustecken — so leise +er konnte, drehte er um, schlich sich auf Zehenspitzen durch +den dunklen Flur, machte drinnen Licht — erschrak, als er +sein fahles Gesicht im Spiegel sah mit den stieren Augen, +den rotfleckigen Wangen.</p> + +<p>Einerlei — nur fort, nur es zu Ende bringen!</p> + +<p>Er riß die triefenden, dunstigen Kleider vom Leibe, +die schweißnasse Wäsche, zog sich vom Kopf bis zu Füßen +frisch an, schauerte zusammen in der Siedeglut, die ihn +durchrann. Er fühlte sich plötzlich müde zum Sterben — +das aufgeschlagene Bett zog ihn magnetisch an. War's +nicht das beste, da hineinzukriechen, die Decke über die +Ohren zu ziehen und unterzusinken in bleiernes Vergessen +...?</p> + +<p>Aber nein — das ging ja nicht. Die Mission! die +Mission ... Abrechnung mußte gehalten werden. — +Sauber mußte die Welt wieder werden ... Der Schandfleck +mußte weg ... Und mit fliegenden Händen kleidete +er sich an. Taumelte abermals, als er die Stiefel anziehen +wollte, biß die Zähne zusammen, bezwang die todgleiche +Erschlaffung.</p> + +<p>Als er vor dem Spiegel die Halsbinde zu schlingen +versuchte, versagten die Hände. Da knüpfte er nur die +Enden in einen wüsten Knoten, stülpte statt des Hutes, der +draußen an der Pleiße geblieben, eine schwarzseidene +Mensurmütze auf, hing statt des Winterpaletots, den er +ebenfalls im Schnee gelassen, einen dünnen Sommerhavelock +um ... und nun fort — fort ...</p> + +<p>Er warf einen Blick auf die Uhr — dreiviertel neun, +gerade recht. Die offizielle Kneipe mußte eben begonnen +haben, und bis zur Kleinen Fleischergasse waren's ja nur +zwei Minuten.</p> + +<p>Halt! Einen Stock brauchte man noch, man konnte +nicht wissen ...</p> + +<p>Nun, so mochte es schon das silbern beschlagene spanische +Rohr sein, die Dedikation seines Leibburschen. Daß +er kein Recht mehr hatte, dieses Stück zu führen, das +mit dem Zirkel Franconias geschmückt war, was verschlug's +in dieser Stunde —?! Es war eben doch ... +ein Stock ...</p> + +<p class="start-chapI space-above">Noch einer war an diesem Nachmittage bis tief in den +endlosen Novemberabend hinein draußen im Schnee +umhergeirrt: Hans Thumser.</p> + +<p>Als er aus Jucundas Zimmer gestürzt, an dem verblüfften +Erbprinzen vorüber, da war es auch ihm unmöglich +gewesen, es auszuhalten zwischen den hastenden +Menschen, den keuchenden, dampfenden Droschkengäulen, +in den engen, finstern Straßen, unter den blinzelnden +Laternen.</p> + +<p>Er war ins Rosental geraten und stundenlang durch +die schweigende Einsamkeit des schneeverwehten Parks +geirrt.</p> + +<p>Ha! ha! Also so lief die Karre! Freilich, freilich! +Wenn Fürstengnade winkte, was galten da ein paar armselige +Studentlein ...? Denen spielte man eine nette +kleine Komödie vor: Hilflose, beleidigte, schutzbedürftige +Unschuld dem einen, glühendes Verständnis, tiefinnige +Seelenharmonie dem andern ... Und dann — dann +ließ man einfach im rechten Augenblick den Vorhang +fallen, und ein neues Stück fing an.</p> + +<p>Komödie — Komödie — jedes Wort, jeder Blick, nichts +als Reminiszenzen aus abgespielten Stücken, nichts als +der Nachhall erlogenen, erheuchelten Gefühls ... Komödie +... Komödie ... Komödie —!</p> + +<p>War das nicht Strafe? War dieser Abfall, diese +Blamage, die fressende Scham — da drinnen — war das +alles nicht verdient?! Hatte nicht auch er selber leichtherzig +den Vorhang fallen lassen über einem lieblichen +Spiel voll erster Seligkeit, voll flammender Glut und +reizender Tändelei, das die vergangenen Wochen seinem +jungen Leben beschert hatten?</p> + +<p>War er besser als jene Jucunda? Er, der danklos +und roh die Gesellin so köstlicher Entzückungen beiseite geschoben, +um diesem gleißenden Phantom nachzujagen, das +heute vor seinen entsetzen Augen die Larve hatte fallen +lassen?</p> + +<p>Asta! Asta! Dich hatte ich. Du hast dich mir geschenkt +... und ich ließ dich los und rannte einem Irrwisch +nach ...</p> + +<p>Ja, Hans Thumser ging streng mit sich ins Gericht. +Er kam sich so klein vor, so dummejungenhaft, so unwert +alles dessen, was die vergangenen Wochen ihm in den +Schoß geworfen. Eine jähe Sehnsucht kam über ihn, sich +in Astas Arme zu flüchten, die Stirn an ihre Knie zu +drücken und um Verzeihung zu betteln.</p> + +<p>Und doch — Knabentrotz und Knabenscham jagten ihn +immer tiefer in die Schneewildnis hinein. Jetzt vor Asta +hintreten und bitten: vergiß —?!</p> + +<p>Sie würde sogleich begreifen, daß er — nun, daß er +eben ... abgefallen war bei Jucunda. Und würde sie +dann nicht triumphieren, sich bedanken für das Vergnügen, +ihn über seinen Abfall trösten zu sollen?</p> + +<p>Nein — das ging nicht. Das mußte man allein hinunterwürgen. +Ha ha! Gab's nicht ein Mittel, die Qual +dieser Beschämung, dieser fürchterlichen Blamage abzukürzen? +Wozu war man denn Student — Korpsstudent +— Fuchsmajor?! Und wozu heut abend offizielle +Kneipe?</p> + +<p>Ganz recht: besaufen werden wir uns! einen Eimer +Bier in uns hineinpumpen, bis wir mitsamt der ganzen +Corona der Füchse unterm Tisch liegen und den Himmel +für 'nen Dudelsack ansehen. Hol' der Teufel die Weiber —!</p> + +<p>Und morgen früh auf dem Fechtboden — Filzmaske +aufgesetzt, drauflos gedroschen, solange Arm und Schädel +halten wollen —!</p> + +<p>Kaum konnte Hans die Stunde der offiziellen Kneipe +erwarten. Als er zum Cafébaum schlenderte, grinsten +ihm von allen Anschlagsäulen die riesigen Lettern entgegen:</p> + +<p class="center"> +»Wallensteins Lager«<br /> +»Die Piccolomini«<br /> +</p> + +<p>Pah! was für Hieroglyphen waren das eigentlich?! +Was ging das alles ihn an? Pah, die Meininger! Pah! +Schiller —!</p> + +<p>Komödie ... Komödie!</p> + +<p>Damit war man fertig, das mußte versunken sein und +vergessen. — Und was stand ganz unten am Rande des +Zettels?</p> + +<p class="center"> +»Freitag: Wallensteins Tod« —?!<br /> +</p> + +<p>Ja, hatte man gestern nicht selbst probiert, sollte +morgen früh wiederum probieren für die Komödie von +übermorgen? Hatte man nicht im Eisenwams der Pappenheimer +Kürassiere gesteckt und sich als Friedländischer +Reitersknecht gefühlt, eine Stunde lang?</p> + +<p>Lüge, alles Lüge ... äffisches Spiel mit längst verpulster +Glut, längst verschütteter Leidenschaft — Komödie +das alles! Unwürdig des jungen sehnenden Menschentums, +das man in allen Knochen fühlte, das leidend sich +aufkrampfte gegen die Not der Stunde — das nach +wildem Rausch, nach taumelnder Betäubung sich sehnte, +das sich selbst vergessen wollte und vergessen alles um +sich her —!</p> + +<p>Nein — Hans Thumser wird niemals wieder Komödie +spielen ...</p> + +<p>Hans Thumser wird mehr nicht sein wollen, als er ist: +ein ungarer, unfertiger Mensch, dessen verdammte Pflicht +und Schuldigkeit das eine nur ist: zu lernen, zu arbeiten, +sich zu stählen für die kommenden Kämpfe des wahren, +des wachen Lebens. Morgen, morgen soll's beginnen — +heut aber: Bier her! Saufen bis zum Umsinken! Vergessen +... vergessen ... vergessen ...</p> + +<p>Da war der »Cafébaum«. Da winkte vom Sims des +ersten Stockwerks das dreifarbene Schild, schneeüberlagert. +Und der steingemeißelte riesige Türke, der sich von +dem feisten kleinen Putten die Mokkaschale kredenzen +läßt, trug über seinem steinernen Turban einen doppelt +so hohen aus Schnee ...</p> + +<p>Nun die enge, muffige Stiege hinauf, nun die Klingel +gezogen. Drinnen lärmten schon die Korpsbrüder, die +sich zum gewohnten Zechgelage versammelten. Als der +Korpsdiener öffnete, empfing den Ankömmling schon auf +dem Korridor, wo rings die grünen Kneipjacken mit den +rot und goldenen Schnüren an den Wänden hingen, +lautes Hallo.</p> + +<p>Volkner, der Senior, hatte geschwatzt: er war Hans +Thumser begegnet, als dieser mit einem mächtigen, seidenpapierumhüllten +Rosenstrauß in das Haus Katharinenstraße +zweiundzwanzig hineingegangen war. Daß dieser +Besuch nicht etwa dem früheren Korpsbruder Pilgram gegolten +habe, das hatte der Blumenstrauß verraten. Wo +also konnte Thumser gewesen sein als bei Jucunda +Buchner? Halb mit Ulk und halb mit Neid empfing man +den Glücklichen. Der Name Jucundas war ein bißchen +verdächtig von dem Fall Pilgram her. Obwohl der +weiland Senior sich bei den Besuchen der früheren Korpsbrüder +hartnäckig über seine Beziehungen zu der Diva +ausschwieg, hatten die Korpsbrüder doch allmählich herausbekommen, +daß jenem sein ritterliches Eintreten für +das gekränkte Mädchen wenig Dank eingetragen hatte ...</p> + +<p>Sich mit Jucunda Buchner einzulassen, das hatte also +beinahe schon einen Beigeschmack von Komik und drohendem +Hereinfall ...</p> + +<p>Und dennoch ... der Duft des Lorbeers, der eine ganze +Stadt berauschte, zog wie lichter Weihrauchdunst auch +durch die Hirne, welche die grünen Mützen bedeckten ...</p> + +<p>Der Schwall der Neckereien, die sich über Hans Thumser +ergossen, ging ihm heiß in das siedende Blut — immer +wilder schwoll die sinnlose Saufstimmung in ihm empor.</p> + +<p>»Füchse, <i lang="la">ad loca</i>!« brüllte er und nahm am unteren +Ende der Kneiptafel Platz, auf dem hochlehnigen Stuhl, +der in Eichenschnitzerei die Märchengestalt eines aufrechtstehenden +Fuchses zeigte, in Cerevis, Couleurband und +Kanonenstiefeln, den Vorderlauf mit einem Schläger bewehrt. +Und um ihren jungen Herrn und Meister zur +Rechten und zur Linken scharte sich die Fuchscorona, sieben +junge Bürschlein, darunter vier Krasse, die erst seit ein +paar Wochen der Zucht ihres Schulmeisters entronnen +waren, um der noch viel gestrengeren des Fuchsmajors +zu verfallen — und drei Brander, Wangen und Nasen +schon mit den ersten Dokumenten bewährten Mensurschneids +verziert.</p> + +<p>»Füchse, ich komm Euch den ersten und den zweiten +Halben!« rief Hans Thumser und schüttete das volle Glas +hinunter, das der Korpsdiener vor ihn hingesetzt.</p> + +<p>Gleichzeitig beschied auch der Senior Volkner alles, +was der Fuchtel des Fuchsmajors bereits entwachsen war, +an das obere Ende der Kneiptafel: die Korpsburschen, +die Inaktiven der Kartell- und befreundeten Korps, die +sich in Leipzig studienhalber aufhielten und beim Korps +verkehrten, und einzelne Alte Herren aus der Stadt, die +sich dann und wann zu den Zusammenkünften des Korps +einfanden.</p> + +<p>Und nun entwickelte sich das altvertraute Bild: von +allen Wänden schauten die Wappenschilder, die gekreuzten +Fahnen und Schläger, die Ehrenhumpen und silberbeschlagenen +Trinkhörner, die zahllosen jahrzehntealten +Gruppenbilder, Silhouetten, <a id="InCorr5">Porträte</a> der einstigen Mitglieder +des Bundes auf die zechende und lärmende Schar +herunter.</p> + +<p>Mit zeremoniellem Anstand erhob sich der Erste:</p> + +<p>»<i lang="la">Silentium!</i> Wir trinken zur Eröffnung einer +fidelen, offiziellen Kneipe unser Glas in Gestalt eines +Schoppens Salamander! <i lang="la">Ad exercitium salamandri</i> +— eins, zwei, drei!«</p> + +<p>In langen Güssen kollerte der erste Ganze in die zechbereiten +Mägen, rasselnd wirbelte der Salamander und +endete mit einem krachenden Aufklappen aller Gläser auf +die massive Eichenplatte der Kneiptische.</p> + +<p>»<i lang="la">Silentium!</i>« klang da wieder die Stimme des Präsidenten: +»Wir singen als erstes offizielles Lied auf +Seite 159: Brüder, zu den festlichen Gelagen ...«</p> + +<p>In rauhem, taktfestem Unisono schwoll das Lied durch +den niedern Raum, in dem das Brandopfer der Pfeifen +und Zigarren sich mystisch über der Sängerschar emporkreiselte:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Brüder, zu den festlichen Gelagen<br /></span> +<span class="i0">Hat ein guter Gott uns hier vereint,<br /></span> +<span class="i0">Allen Sorgen laßt uns jetzt entsagen,<br /></span> +<span class="i0">Trinken mit dem Freund, der's redlich meint.<br /></span> +<span class="i4">Da, wo Nektar glüht,<br /></span> +<span class="i4">Holde Lust erblüht,<br /></span> +<span class="i0">Wie den Blumen, wenn der Frühling scheint.«<br /></span> +</div></div> + +<p>Und Hans Thumser fühlte beglückt, wie die dumpflastende +Beklemmung der einsamen Spätnachmittagstunden +von ihm abfiel, und in grimmigem Behagen stürzte +er sich hinein in den schäumenden Strudel des Gelages, +spürte, wie alles, was ihn so im Tiefsten erschüttert, verschwamm, +versank, verflog — und nichts mehr war, als +der tolle Rausch der Stunde.</p> + +<p>»Füchse! Ich komme Euch den elften und zwölften +Halben!«</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Lasset nicht die Jugendkraft verrauchen,<br /></span> +<span class="i0">In dem Becher winkt der goldne Stern!<br /></span> +<span class="i0">Honig laßt uns von den Lippen saugen,<br /></span> +<span class="i0">Lieben ist des Lebens süßer Kern!<br /></span> +<span class="i4">Ist die Kraft versaust,<br /></span> +<span class="i4">Ist der Wein verbraust,<br /></span> +<span class="i0">Folgen, alter Charon, wir Dir gern!«<br /></span> +</div></div> + +<p>— so verscholl das hellaufrauschende Lied ...</p> + +<p>»<i lang="la">Silentium</i> — schönes Lied <i lang="la">ex</i>! Ein Schmollis den +Sängern!«</p> + +<p>Da trat der Korpsdiener ein. Das glänzende Bemmchengesicht +verstört, fassungslos. Er schlich sich zu dem +ragenden Stuhl des Ersten heran, flüsterte mit vorgehaltener +Flosse seinem jungen Herrn etwas ins Ohr, das +diesen stutzen und auffahren machte. Einen Augenblick +sann Volkner nach — dann flüsterte er dem Korpsdiener +zu:</p> + +<p>»Es ist gut — sagen Sie's Herrn Thumser — er mag +hinausgehen.«</p> + +<p>Mit scharfen Blicken verfolgte Volkner den Gang des +Korpsdieners, der sich nun mit so lächerlicher Behutsamkeit, +als tripple er auf Eiern, hinter den Stühlen seiner +Herren entlang zum Fuchsmajor schob und auch diesem +seine Botschaft zuraunte:</p> + +<p>»Entschuld'gen Se, Herr Thumser — da draußen is +Sie nämlich der Herr Pilgram — der läßt Ihn' bitten, ob +Se nich mächten so freindlich sinn und gomm'n een Augenblickchen +auf'n Flur — er hat 'n ä wicht'ge Mitteilung zu +machen!«</p> + +<p>Ganz deutlich sah Volkner, wie Thumser zusammenschrak, +hastig aufsprang, einen Augenblick nachsann, dann +mit einem fragenden Blick die Erlaubnis erbat, die Kneiptafel +zu verlassen. Nachdem Volkner Gewährung genickt, +bat Thumser den ihm zunächst sitzenden Korpsburschen, +ihn in seinem Amt als Vorsitzender der Fuchsentafel eine +Weile zu vertreten. Dann raffte er sich zusammen und +schritt aufrecht, doch blaß, mit zusammengezogenen Brauen +zur Tür hinaus.</p> + +<p>Als er mit dem Korpsdiener durch das anstoßende +Konventszimmer schritt, flüsterte der Alte ihm zu:</p> + +<p>»Se missen nämlich wissen, Herr Thumser, es is Sie +schon vor eener Viertelstunde eene sähre hiebsche, junge +Dame dagewesen und hat mich gefragt, ob der Herr Pilgram +mächte uff der Kneipe sinn. Nu, da hab'ch ihr +natierlich nur kennen sagen, daß der Herr Pilgram ieberhaupt +nich mehr wirde uff Kneipe komm' — und da is se +denn wieder abgemacht. Ich kann Ihn' nur sagen, Herr +Thumser, sähr ä hiebsche Dame is es gewesen! Nobel, +püh, ich kann Ihn' sagen, Herr Thumser —!«</p> + +<p>Hans Thumser war einen Augenblick stehengeblieben. +Wirre Vermutungen schossen hin und wider. Pilgram —? +Und eine Dame, die nach Pilgram fragte? Was für unwahrscheinliche +Begebenheiten — auch nicht den Schimmer +eines Verständnisses fand Hans.</p> + +<p>Wer konnte die Dame sein, die Pilgram auf der +Frankenkneipe vermutete —? Was wollte Pilgram von +ihm selber —?!</p> + +<p>Nun — man würde ja hören ... Und abermals +straffte Hans den Nacken und öffnete die Tür zum Korridor.</p> + +<p class="start-chapI space-above">Herzklopfend, von Glut und Frost hin und wider geschüttelt, +war Asta Thöny vor dem Cafébaum aus der +Droschke in den weichen Schnee gesprungen, der nun schon +fußtief Bürgersteig und Fahrdamm der schmalen Gasse +überzog. Ob ihr Retter wohl schon drüben sein mochte?</p> + +<p>Hell erleuchtet glänzten die Fenster des ersten Stocks in +das schummerige Dunkel der Straße hinaus, während die +ragenden Fronten der geschwärzten Gebäude ringsum +nur noch wenige matte Lichtspuren zeigten. Auf der +Kleinen Fleischergasse wohnte nur bescheidenes Bürgertum, +da ging man früh zur Rast.</p> + +<p>Asta trat auf das jenseitige Trottoir und spähte hinauf. +Ab und an huschte droben schattenhaft der Umriß +einer jungen bemützten Männergestalt vorüber. Durch +die verschlossenen Doppelfenster drang Lachen, vielstimmiges +Gespräch, Tabakwolken kräuselten zur Decke, Wappenschilder, +Schläger blinkten an den Wänden — sonst +war nichts zu erkennen.</p> + +<p>Es blieb nichts übrig: Asta mußte sich in das dunkle +jahrhundertalte Gebäude hineinwagen, mußte fragen, ob +droben Herr Pilgram schon eingetroffen. Mit versagendem +Herzschlag kletterte sie die winklige, dunstige Stiege +hinan, hielt einen Augenblick vor der Tür still, an der ein +grün-gold-rotes Farbenschild angebracht war und ein +längliches Porzellanschildchen mit der Aufschrift:</p> + +<p class="center" style="font-size:0.9em"> +»Corps Franconia.«<br /> +</p> + +<p>Drinnen klang lauter nun Lärm und Gelächter. Was +half's — sie mußte es wagen ...</p> + +<p>Eine schrille Klingel schlug an, Schritte tappten heran, +ein ältliches, gerötetes, glattrasiertes Männergesicht lugte +durch den Spalt und blinzelte befremdet, als es des ungewohnten +Besuches ansichtig ward.</p> + +<p>Mit stammelnden Lippen fragte Asta, ob Herr Pilgram +schon angekommen. Verblüfft grinste der Türhüter +und erklärte: Herr Pilgram gehöre nicht mehr zum Korps, +er komme überhaupt nicht mehr.</p> + +<p>Gottlob — also jedenfalls noch nicht zu spät gekommen +...</p> + +<p>Und Asta huschte wieder die Treppe hinunter, stapfte +in den Schnee hinaus und patrouillierte auf dem jenseitigen +Bürgersteig, frostgeschüttelt, erwartungfiebernd.</p> + +<p>Ab und zu kam noch eine grünbemützte Jünglingsgestalt +und bog in den schlechterleuchteten Flur des Cafébaums +ein. Von Pilgram keine Spur! — Ob er seinen +Vorsatz aufgegeben hatte? Sie wußte ja nicht, was er +eigentlich geplant hatte, aber etwas Grausames, etwas +Wildes, etwas Schauerliches mußte es gewesen sein! Davon +hatten seine Züge deutlich genug gesprochen. Und +geduldig trippelte das Mädchen auf und ab, ohne einen +Blick von dem schmalen Lichtspalt zu wenden, der durch +die angelehnte Tür des Restaurants auf die Straße lugte.</p> + +<p>Der Schneefall hatte aufgehört. In winterlicher +Schwermut gähnte die menschenleere Straße. Und in die +lautlose Stille, welche die abendliche Stadt überlagerte, +klang nun von drüben ein munterer Burschensang, gedämpft +durch die Doppelfenster, doch deutlich vernehmbar. +Die Weise meinte Asta zu kennen, aber Worte dazu wußte +sie nicht. Ach, da oben war er, der liebe, böse Junge ...</p> + +<p>Schau! zur Rechten, vom Marktplatz her glitt lautlos +ein riesiger Schatten heran, scharf abgezeichnet von dem +weißen Grunde der Straße, vom gelben Lichthof, den die +Laternen in die Nebel der Nacht zeichneten.</p> + +<p>Er war's! Mit raschen Schritten steuerte er dem +»Cafébaum« zu. Da schoß Asta über den schmalen +Straßendamm, traf hart an der Tür auf Pilgram:</p> + +<p>»Herr Pilgram — ach, Herr Pilgram!«</p> + +<p>Gesenkten Blickes war jener geschritten, nun schrak er +zusammen bei der unerwarteten Begegnung.</p> + +<p>»Ah — Sie, mein gnädiges Fräulein? — Ja, um +Gottes willen, sind Sie denn toll? Warum nicht im Bett +— warum hier — was soll das heißen?!«</p> + +<p>»Ich hatte solch entsetzliche Angst, Herr Pilgram!«</p> + +<p>»Angst? Was fällt Ihnen ein! Angst? Um wen?«</p> + +<p>»Um Sie, Herr Pilgram, um Sie und ... ach! Sie +wissen's ja ... um wen — um wen noch. Herr Pilgram, +ich bitte Sie — ich flehe Sie an, was haben Sie vor gegen +Herrn Thumser?«</p> + +<p>Flehend hatte sie mit beiden Händen den linken Arm +des Studenten umklammert.</p> + +<p>»Aber Verehrteste ... ich begreife faktisch nicht ... +wie kommen Sie auf derartige Vermutungen?«</p> + +<p>»Ach, ich weiß ... ich weiß ... Sie wollen sich +rächen an Herrn Thumser! Ich weiß alles — alles weiß +ich ... Fräulein Buchner, meine Kollegin — Sie sind +für sie eingetreten damals ... und dann ... dann hat sie +sich schlecht gegen Sie benommen ... und Sie, Sie hatten +doch so viel für sie dahingegeben, nicht wahr, so war's +doch? Und heut — heut ist Herr Thumser bei Fräulein +Buchner zum Tee gewesen, nicht wahr? ... Und Sie, +Sie haben das gehört und sind wütend auf ihn — weil +Sie denken, er hat mehr Glück bei Fräulein Buchner als +Sie nicht wahr? O, gestehen Sie's nur, es ist ja keine +Schande — und dann, dann haben Sie mich gefunden +da draußen und denken, er hat mich auf dem Gewissen ... +Sie sehen, ich weiß, ich weiß alles. Und nun, nun wollen +Sie ihn — ich weiß nicht, was Sie mit ihm machen +wollen, aber etwas Schreckliches ist's gewiß. Sehen Sie +— Sie schweigen — sehen Sie, ich habe alles begriffen, +alles! Ist's nicht so?«</p> + +<p>Mit zusammengekniffenen Lippen, die Augen fast geschlossen, +regungslos hatte Valentin Pilgram den Schwall +dieser bebenden Fragen über sich dahinschauern lassen. +Mit grimmiger Scham fühlte er sich durchschaut, fühlte +den geheimsten Trieb seines Wollens bloßgelegt, den er +vergeblich mit dem lügnerischen Pomp eines Rächers verratener +Ehre verhüllt hatte, und der doch nichts anderes +war im letzten Grunde als der Neid des Verschmähten +gegen den Glücklichen, als Eifersucht — ganz ordinäre, +banale Eifersucht ...</p> + +<p>Doch nein, das war ja nicht wahr — das durfte ja +nicht wahr sein! Da oben klang der muntere Burschensang +— da oben tafelte die Runde derer, die sich Mitglieder +des ältesten Korps der Hochschule nennen durften, +die das grün-gold-rote Band tragen durften, das nur den +Makellosen schmücken soll. Und in ihrer Mitte saß einer, +der doppelten Verrats schuldig war: an dem Gefährten +dreier Semester und an der Gesellin glückseliger Liebesstunden.</p> + +<p>Und er —? Er hatte auf all das verzichtet, verzichten +müssen um der Ehre willen. Hatte das einen Sinn? +Durfte das so bleiben? Nein, beim Himmel, das sollte es +nicht, solange es einen Valentin Pilgram gab. Wenn er +denn schon selber die geliebten Farben nicht mehr tragen +durfte, deren er doch wahrhaft würdig war wie einer, +sollte dann der andere sich mit ihnen brüsten dürfen, der +das Recht auf sie schmählich verscherzt hatte ...?!</p> + +<p>»Herr Pilgram,« klang's da in schmelzendem Flehen +neben ihm, »so sprechen Sie doch! Bitte, bitte, so sprechen +Sie doch, habe ich nicht recht?«</p> + +<p>»Mein verehrtes Fräulein,« sagte der Student, indem +er seinen linken Arm der flehenden Umschlingung entzog, +»ich bedaure, Ihnen über mein Tun und Lassen keine +Rechenschaft ablegen zu können. Es mag sein, daß ich +etwas Aehnliches, wie Sie denken — nun, daß ich ... das +gewollt habe ... und noch will. Wenn es so ist, so dürfen +Sie überzeugt sein: ich weiß genau, was meine Pflicht +ist ... Und darum muß ich Sie schon bitten, mich gewähren +zu lassen.«</p> + +<p>Da trat ihm das Mädchen in den Weg, legte beide +Hände auf seine Schultern, brennende Augen starrten zu +ihm empor, aus denen Tränen rannen, hell aufblitzend +im matten Lichtstreifen, der aus der Flurtür in den Schnee +der Gasse fiel:</p> + +<p>»Nein — nein, das dürfen Sie nicht! Mir zuliebe +dürfen Sie's nicht ... Ja, es ist wahr, wegen dem da +oben hab' ich heute das Leben wegwerfen wollen — nun +haben Sie mich gerettet — aber wenn Sie ihm etwas +zuleide tun, dann ist alles aus, dann hätten Sie mich nur +lieber gleich da unten in der Pleiße lassen sollen ... Ich +will nicht, daß ihm ein Leids geschieht um meinetwillen — +ich will's nicht — und Sie, Sie dürfen's nicht — Sie +dürfen mich nicht wieder dahin zurückstoßen, woher Sie +mich heut abend geholt haben — nein! Herr Pilgram, +das dürfen Sie nun und nimmermehr.«</p> + +<p>»Gnädiges Fräulein,« sagte Valentin, »wenn es Sie +beruhigen kann, so will ich Ihnen versichern: das, was +jetzt gleich geschehen wird, war beschlossene Sache schon +ehe ich Sie ... da draußen ... fand. Ich kann mich nicht +darauf einlassen, Ihnen das alles so auseinanderzusetzen. +Was Sie von mir denken mögen oder nicht denken mögen +— ich kann's bedauern, aber ich kann's nicht ändern. Das +alles muß nun seinen Lauf gehen. Versuchen Sie nicht +mich aufzuhalten, es hat keinen Zweck.«</p> + +<p>Es sollte wohl nur ein sanfter Druck sein, mit dem die +hageren Hände des weiland Frankenseniors die runden +Gelenke der Schauspielerin von seinen Schultern lösten, +doch er war unwiderstehlich, wie das Zupacken stählerner +Zangen. Mit der gleichen unerbittlichen Gewalt, mit der +er vor wenig Stunden des Mädchens Glieder der Flutenumschlingung +entrissen, schob er sie nun zur Seite, wie +ein willenloses Püppchen, und war mit zwei raschen +Schritten im gähnenden Toreingang verschwunden.</p> + +<p>Asta taumelte, als der Druck der gewaltigen Hände +plötzlich nachließ. Dabei trat sie unversehens einen halben +Schritt rückwärts, geriet mit dem Fuß in den lockeren +Schneeaufwurf über dem Rinnstein, sank tief ein, +strauchelte, fiel in die Knie, stieß einen Schmerzenslaut +aus: sie mußte sich den Fuß verstaucht haben. Aber die +heiße Angst um das, was werden mochte, jagte sie wieder +empor. Sie humpelte mit schmerzverzogenem Gesicht zur +Tür, stieß sie auf, lauschte hinein. Droben auf der Treppe +waren Pilgrams Schritte schon verhallt. Nur das Burschenlied +brauste noch immer weiter, klang und schwang +durch das ganze altersmüde Gebäude. In dem kleinen +Restaurant des Erdgeschosses zur Linken das schläfrige +Stammtischgeschwätz, das Auftrumpfen der Karten, das +Klappern der Biergläser. Asta schlich durch den Hausflur, +hinkte mühsam die Treppe hinauf, stand wieder an +der Tür mit dem Porzellanschildchen: Corps Franconia, +legte das Ohr an die dünne Holzwand und lauschte.</p> + +<p>Ganz deutlich dröhnte nun ein neuer Vers des feierlichen +Liedes da drinnen, dazwischen halblaute Stimmen, +es schien Pilgram zu sein, welcher im Flur mit dem alten +Mann verhandelte, der sie vorhin an der Pforte beschieden. +Aber dies leise Gespräch blieb unverständlich, +dagegen war der Text des Liedes Wort für Wort zu verstehen. +In frohem Trotz scholl die alte Jugendweise +daher:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Lasset nicht die Jugendkraft verrauchen,<br /></span> +<span class="i0">In dem Becher winkt der gold'ne Stern!<br /></span> +<span class="i0">Honig laßt uns von den Lippen saugen,<br /></span> +<span class="i0">Lieben ist des Lebens süßer Kern!<br /></span> +<span class="i4">Ist die Kraft versaust,<br /></span> +<span class="i4">Ist der Wein verbraust,<br /></span> +<span class="i0">Folgen, alter Charon, wir Dir gern!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Und nun plötzlich war das Lied zu Ende, ein paar unverständliche, +kommandoartige Worte klangen von drinnen, +ein lustiger Aufschrei von vielen Stimmen, dann munter +durcheinander schwirrendes Stimmengewirr. Einige +Sekunden verflossen so: dann hörte Asta ganz deutlich, +wie drinnen eine Tür heftig aufgerissen wurde und jemand +in den Flur trat — und jetzt klang drinnen gedämpft, doch +klaren, festen Klanges des geliebten Jungen Stimme:</p> + +<p>»Guten Abend, Pilgram — Du hast mich zu sprechen +gewünscht? Bitte, was steht zu Deinen Diensten?«</p> + +<p>Da fühlte Asta, wie der Puls ihres Herzens aussetzte. +Ganz fest preßte sie ihr Ohr an das glatte, ölgestrichene +Holz, ihre froststarren Hände umklammerten +krampfhaft den messingenen Türgriff, und in schlotterndem +Lauschen vernahm sie jedes Wort, das drinnen gesprochen +wurde, vernahm sie alles, was drinnen geschah ...</p> + +<p class="start-chapI space-above">Hochaufgerichtet standen die zwei schlanken Jünglingsgestalten +einander drinnen gegenüber in dem schmalen +Flur, den nur eine schwelende Petroleumlampe erleuchtete. +Rechts und links hingen Kneipjacken und Garderobenstücke +an den Regalen, welche die Wände umzogen — ein +fader Dunst von altem Tabak und Bierneigen füllte den +dumpfen Raum. Hinter der mittleren Tür, die zum Kneipzimmer +führte, klang heftiges Stimmengewirr, das stiller +und stiller ward. Offenbar war man drinnen aufmerksam +geworden, daß hier draußen sich Ungewöhnliches vollziehe, +wartete man gespannt, wie das wohl werden möchte.</p> + +<p>Hans Thumser hatte Pilgram die Hand hingestreckt. +Der übersah sie, griff stumm in die Brusttasche seines +Rockes und reichte Hans Thumser einen Brief hin.</p> + +<p>»Lies!« sagte er.</p> + +<p>Hans ließ die erstaunten Blicke hin und wider gleiten +zwischen dem Schreiben und dem, der es ihm gereicht, +dann trat er in den Lichtbereich des mattglänzenden Flurlämpchens +und erkannte, daß der Brief mit fahrigen, +steilen Schriftzügen einer Frauenhand bedeckt war:</p> + +<blockquote> + +<p>»Sehr geehrter Herr! Ihr dankenswertes Eintreten +für meine Ehre hat schnell den gewünschten Erfolg gehabt. +Die beiden Herren, welche mir zu nahe getreten +waren, haben mündlich bei mir um Entschuldigung gebeten. +Ich danke Ihnen innigst für das große Opfer, +das Sie mir gebracht haben ...«</p></blockquote> + +<p>Verblüfft ließ Hans den Brief sinken:</p> + +<p>»Was soll ich damit?« fragte er, »was geht das +mich an?!«</p> + +<p>»Dreh doch gefälligst einmal den Bogen um!« befahl +Pilgram in ingrimmiger Ruhe.</p> + +<p>Hans wandte den Bogen um und entdeckte mit grenzenlosem +Staunen rechts an der unteren Ecke der vierten +Seite, auf dem Kopfe stehend, seine Initialen und darüber +den Frankenzirkel. Er drehte den Bogen um, und richtig: +es war kein Zweifel, das war einer von seinen eigenen +Briefbogen. Völlig verdutzt sah er den einstigen Korpsbruder +an, um dessen festgeschlossene Lippen ein mattes +Lächeln des Triumphes irrte.</p> + +<p>»Von wem ist der Brief?« fragte Hans Thumser mit +unsicherer Stimme.</p> + +<p>»Spiel' mir gefälligst keine Komödie vor!« brauste Pilgram +auf.</p> + +<p>»Aber ich versichere Dir, ich habe nicht den leisesten +Schimmer.«</p> + +<p>»Pfui Deubel — nicht mal den Mut hast Du ... Gib +her den Brief! Und nun weiter! Warst Du heut' nachmittag +bei Fräulein Buchner?«</p> + +<p>»Aber ich verstehe faktisch nicht,« stammelte Hans. +»Wenn ich Dir sage, daß ich auch nicht die entfernteste +Ahnung habe —!«</p> + +<p>»Ich frage Dich, ob Du heut nachmittag bei Fräulein +Buchner warst? Gib Antwort — oder ich mache kurzen +Prozeß mit Dir!«</p> + +<p>Nun richtete sich Hans denn doch aus der unsicheren +Haltung verlegenen Staunens zu seiner ganzen Größe +auf. Zwar reichte er nicht an die riesige Länge des +einstigen Freundes, aber gleich straff emporgereckt stand +er ihm gegenüber, sah ihm von unten frei und trotzig ins +Gesicht, und funkelnd, wie zwei Säbelklingen in der Auslage, +so blitzten das braune, das blaue Augenpaar einander +an.</p> + +<p>»Ich frage Dich,« sprach er kalt gemessen, »was Dich +berechtigt, mich in einem derartigen Ton zur Rede zu +stellen?«</p> + +<p>»Das weißt Du.«</p> + +<p>»Nein, ich weiß es nicht. Ich wünsche es von Dir zu +hören.«</p> + +<p>»Ich verzichte darauf, Dir Aufklärung zu geben. Ich +wiederhole Dir meine Frage — willst Du antworten?!«</p> + +<p>»Wer mich in diesem Tone fragt, bekommt keine +Antwort!«</p> + +<p>»Schön! Was wirst Du nun aber sagen, wenn ich +Dir mitteile, daß in derselben Stunde, in der Du bei +Jucunda Buchner warst, Fräulein Asta Thöny am +'Wassergott' in die Pleiße gesprungen ist —?!«</p> + +<p>Da wurde Hans Thumsers fester Blick plötzlich stier +und starr. Die Kinnbacken klappten herunter, langsam +schob sich seine Rechte an der Brust empor, glitt tastend +nach dem Achtzentimeterkragen.</p> + +<p>»Das ist ... das ist nicht wahr!«</p> + +<p>»Mein Ehrenwort, daß es wahr ist ... und Du weißt, +scheint's, auch, wer sie hineingetrieben hat?!«</p> + +<p>Da umklammerte Hans Thumser plötzlich mit beiden +Händen des ehemaligen Korpsbruders Arm und stammelte, +schlotternd vor Entsetzen:</p> + +<p>»Sie ist tot?!«</p> + +<p>Valentin Pilgram machte sich frei, trat einen halben +Schritt zurück.</p> + +<p>»Ich hatte das Glück sie zu retten ... bedank' Dich also +bei mir, daß Du nicht als Mörder vor mir stehst.«</p> + +<p>Ein stöhnender Laut, ein Jauchzen halb und halb ein +Schluchzen brach aus Hans Thumsers Brust zwischen den +zusammengebissenen Zähnen hervor:</p> + +<p>»Erzähl' doch — so erzähl' mir doch.«</p> + +<p>»Nein,« sagte Valentin Pilgram hart, »Du hast Fräulein +Thöny von Dir gestoßen — es mag Dir genügen, daß +sie lebt — alles weitere geht Dich nichts mehr an.«</p> + +<p>»Also was willst Du von mir?« schrie Hans Thumser, +»sag' mir endlich, was Du von mir willst?!«</p> + +<p>»Du sollst bekennen, daß Du ein elender, wortbrüchiger +Bube bist ... Du sollst das Korpsband da abziehen ... +Du verdienst nicht mehr, es zu tragen. Willst Du? Oder +soll ich Dich dazu zwingen?«</p> + +<p>Da straffte sich Hansens Gestalt aufs neue. Seine +Fäuste ballten sich, als erwarteten sie den Angriff des +Feindes — ja, des Feindes, denn was in den blauen +Augen drüben düster flammte, war Feindschaft — Todfeindschaft +...</p> + +<p>»Versuch's!« sagte er nur.</p> + +<p>In diesem Augenblick ward die Tür zum Kneipzimmer +hastig von drinnen aufgerissen, blendender Lichtglanz quoll +hervor, und hinter der Tür, Kopf an Kopf, drängte sich das +Korps: ein zu Tode erschrockenes Jungmännergesicht +hinter dem andern, ganz hinten stand man auf Stühlen +und Tischen, um das entsetzenerregende Schauspiel zu erreichen, +wie da zwei Jünglinge, die einst die gleichen +Farben getragen, auf Leben und Tod einander gegenüberstanden.</p> + +<p>»Pilgram! Thumser!« schrie alles durcheinander, »um +Gottes willen, was habt Ihr nur?!«</p> + +<p>Gleichzeitig schlug mit gellendem Schrillen die Etagenklingel +an, und gegen das Holz der Flurtür hämmerten +matte Schläge, wie von einem zarten Kinderhändchen. +Und wie ein Schrei klang draußen das wimmernde Flehen +einer Frauenstimme:</p> + +<p>»Herr Pilgram — tun Sie's nicht, Herr Pilgram!«</p> + +<p>Mit halbem Blick nur überflog Valentin Pilgram die +hervordrängende Schar der einstigen Korpsbrüder ... +dann, als sei er noch allein mit dem Gegner Aug' in Auge, +wandte er sich wieder zu ihm und wiederholte:</p> + +<p>»Also noch einmal: Gibst Du es zu, daß Du ein elender +Schelm bist? unwürdig des Bandes, das Du trägst?«</p> + +<p>Mit eisiger Festigkeit hielt Hans Thumser des Feindes +haßsprühenden Blick aus.</p> + +<p>»Geh!« sagte er, »das weitere findet sich morgen.«</p> + +<p>In derselben Sekunde hatte Valentin Pilgram dem +Gegner das Korpsband von der Brust gerissen und es zu +Boden geschleudert. Nun holte seine Rechte weit aus, um +ihm die Mütze vom Kopf zu schlagen. Im selben Augenblick +aber warfen sich die Korpsburschen mit lauten Entsetzensschreien +auf beide Gegner von hüben und drüben, +trennten sie, alles schrie wie toll durcheinander:</p> + +<p>»Pilgram, Du bist wohl wahnsinnig!«</p> + +<p>»Zurück, haltet Ruhe, zum Teufel!«</p> + +<p>»Was fällt Euch ein?!«</p> + +<p>»Wir sind auf Korpskneipe!«</p> + +<p>»Schmeißt ihn hinaus, er hat hier nichts mehr zu +suchen!«</p> + +<p>»Laß gut sein, Thumser, er wird Dir Satisfaktion +geben, morgen findet sich alles — morgen!«</p> + +<p>Volkner, der Senior, brach sich Bahn durch die dicht +zusammengekeilte Schar der jungen Männer.</p> + +<p>»<i lang="la">Silentium!</i>« schrie er. »Ich bin hier der Herr im +Haus. Tritt vor, Pilgram, was soll das, was fällt Dir +ein? Dich hier einzudrängen und Dich an einem von uns +zu vergreifen? Du weißt, Du hast kein Recht mehr, hier +zu sein!«</p> + +<p>Die Zucht vieler Semester, die eiserne Disziplin des +Korps rief Pilgram zur Besinnung zurück.</p> + +<p>»Du hast recht, Volkner,« sagte er. »Habt die Freundlichkeit +mich loszulassen ... es wird nichts weiter passieren, +verlaßt Euch drauf.«</p> + +<p>Und ruhig und gemessen trat er vor den Senior:</p> + +<p>»Verzeih mir — ich hatte mich vergessen. Ich denke, +Ihr verzichtet wohl alle auf eine weitere Aufklärung ... +dafür ist ja das Ehrengericht da.«</p> + +<p>»Allerdings,« sagte Volkner, »dafür ist ja wohl das +Ehrengericht da.«</p> + +<p>»Gut,« sagte Pilgram. »Ich bitte das Korps also nochmals +feierlichst um Entschuldigung — ich bin morgen vormittag +bis ein Uhr in meiner Wohnung. Guten Abend.«</p> + +<p>Alles wich zur Seite. Noch einmal maß Valentin Pilgram +mit kurzem Blick der Todfeindschaft seinen Gegner, +der schwer atmend, mit rotunterlaufenen Augen, doch völlig +gefaßt inmitten seiner Korpsbrüder stand ... schritt zur +Tür, riß sie auf.</p> + +<p>Da bot sich ein unerwartetes Schauspiel: Auf der +Schwelle kniete, tränenüberströmt, zusammengekauert, ein +Mädchen im grauen Pelzjackett. Nun sprang sie auf die +Füße, starrte mit angstverzerrten Zügen, blöden Blicks in +den Korridor hinein, in dem Kopf an Kopf Grünbemützte +sich drängten, warf sich dann jählings herum und floh wie +gejagt die Treppe hinunter.</p> + +<p>Und langsam, schwerfälligen Schritts ging Valentin +Pilgram von dannen und ließ die Tür ins Schloß fallen.</p> +</div> + +<div> +<h2>14.</h2> + +<p class="start-chapA">Asta hatte nicht schlafen können. Das Fieber hatte in +dem zierlichen, doch kerngesunden Körperchen rumort +— doch der Gedankensturm, der ihr Hirn durchbrauste, +der Drang zu leben, zu helfen, ihr armes bißchen Sein +dafür einzusetzen, daß nicht unsagbar Entsetzliches geschähe +— dies inbrünstige Wollen hatte die heraufbrauende +Krankheit niedergeworfen. Und früh um neun schon +klopfte sie an Jucunda Buchners Tür.</p> + +<p>Frau Kanzleirätin, noch in Nachtjacke und Unterrock, +hatte hoch und teuer geschworen, Jucunda sei noch nicht +zu sprechen. Asta Thöny hatte sich nicht abweisen lassen.</p> + +<p>»Sie wird mir's danken, gnädige Frau!«</p> + +<p>Aber Jucunda Buchner dankte nicht.</p> + +<p>Aus unruhigen Morgenträumen voll ehrgeiziger Hoffnungen +und ahnungsvoller Beklemmungen hatte das +Pochen der Kollegin sie aufgeschreckt. Nun saß sie aufrecht +im Bett, sehr ungnädiger Laune, kaum, daß sie der +Besucherin einen Stuhl anbot. Sie liebte es nicht, sich +unvorbereitet überraschen zu lassen.</p> + +<p>Mit fliegenden Worten berichtete Asta: ihren Spaziergang +an der Pleiße verschwieg sie allerdings, um so genauer +aber erzählte sie von dem Renkontre zwischen Pilgram +und Thumser auf der Frankenkneipe und sparte nicht +an grellen Farben. Sie war überzeugt gewesen, Jucunda +würde alsbald um Hans Thumsers willen mit allen Anzeichen +des Entsetzens aus dem Bette springen und Hals +über Kopf zu dem Geliebten wollen, um ihm nicht von +seiner Seite zu weichen, bis die Gefahr an ihm vorübergegangen +war ...</p> + +<p>Statt dessen sah Jucunda sie stillschweigend mit spöttisch +zusammengebissenen Lippen an, als sie hocherglühend +ihren Bericht geendet.</p> + +<p>»Nun?« fragte Asta ganz erstaunt.</p> + +<p>»Mir fällt etwas auf an Deiner Erzählung, liebes +Kind,« sagte Jucunda. »Du erzählst mir da von einem +Auftritt, der sich auf der Frankenkneipe zugetragen hat ... +und zwar wenn ich recht verstanden habe, hast Du nicht +nur vom Hörensagen berichtet, sondern Du warst selber +dabei gewesen — stimmt's oder stimmt's nicht?!«</p> + +<p>Astas Wangen, vom heftigen Gang durch den Schnee +gerötet, glühten noch höher auf.</p> + +<p>»Ja ... ich habe alles ... selbst mit angehört ...« +gestand sie.</p> + +<p>»Hm — dann darf ich mir wohl die Frage gestatten: +wie kommst denn Du auf die Frankenkneipe?«</p> + +<p>Astas Hände zupften unstet an den Falten ihres +Rockes.</p> + +<p>»Ja, wie soll ich Dir das ... erklären? Es ist ja +auch ... eigentlich gleichgültig ... wie ich hingekommen +bin — ich war eben ... da.«</p> + +<p>»Nun, so gleichgültig kann ich das eigentlich nicht +finden,« meinte Jucunda. Sie lehnte sich zurück in die +Kissen, stützte sich auf die Ellbogen und fixierte die niedliche +Kollegin mit überlegen spöttischem Blick. »Na, also lassen +wir das einstweilen mal dahingestellt. Aber: zu welchem +Zweck teilst Du mir denn das alles mit?«</p> + +<p>»Ja, aber um Gottes willen, Jucunda, das geht doch +nicht, das darf doch nicht sein, daß die zwei guten Jungens +sich totschießen Deinethalb!«</p> + +<p>»Meinethalb?« Jucunda hatte sich hochaufgerichtet. +»Wieso meinethalb? Erkläre mir das!«</p> + +<p>»Ja, aber Jucunda — das ist doch ganz klar! Uebrigens, +um Gottes willen, der eine, der Pilgram, der wohnt +doch hier nebenan, gelt, kann der uns auch nicht etwa +hören?«</p> + +<p>»Beruhige Dich, liebes Kind, meine Mutter hat mir +schon mitgeteilt, daß er heut nacht nicht nach Hause gekommen +ist. Also bitte, wie kommst Du auf diesen Einfall?«</p> + +<p>»Aber begreifst Du denn das noch immer nicht?! Der +Pilgram ist doch nur eifersüchtig auf den Thumser, weil +Du ihn hast abfallen lassen und den andern — —«</p> + +<p>»Und den andern?!« fragte Jucunda scharf. »Na, was +denn! Bitte, was denn?!«</p> + +<p>»Nun, der andere ... ist denn der andere nicht gestern +nachmittag bei Dir ... bei Dir gewesen —?«</p> + +<p>»Er war gestern nachmittag zum Tee bei mir, nu! Und +was weiter?«</p> + +<p>»Zum — Tee —?!« fragte Asta mit einem halb wehmütigen, +halb verschmitzten Lächeln. »Nur zum Tee —?«</p> + +<p>»Na! zu was denn sonst, bitte?!« fragte Jucunda +heftig.</p> + +<p>»Na, wir wollen nicht streiten,« meinte Asta. »Also: +ob die zwei braven Kerle sich Löcher in den Leib schießen +Deinethalb, Dir ist's rund herum egal, scheint's?!«</p> + +<p>»Meinethalb? Ich weiß nicht, ob sie's meinethalb tun, +mir haben sie's nicht gesagt. Und übrigens — ich möchte +wissen, was ich daran ändern kann, wenn die zwei sich's +in den Kopf gesetzt haben, aufeinander loszuknallen. Ich +habe sie nicht geheißen, ich kann sie nicht hindern!«</p> + +<p>Asta Thöny spielte mit den Zipfeln ihres Pelzjacketts +und sann angestrengt nach mit zusammengekniffenen +Brauen. Dabei stieg eine helle Freude, ja ein lustiger +Uebermut langsam, aber immer mächtiger in ihr empor. +Das war ja eigentlich wunderschön, was sie da erfuhr. +Sieh da, Hanschen! Viel Glück scheinst du mit deinem +Teebesuch bei der großen Jucunda ja nicht gehabt zu +haben! Und für das bißchen Ehre auch noch totgeschossen +zu werden — nein, das wollen wir doch mal sehen, ob +wir das nicht hintertreiben können. Aber dazu brauchen +wir ja wohl nicht die große Jucunda — das können wir +uns schließlich auch allein verdienen ...</p> + +<p>»Verzeih, liebe Jucunda,« sagte sie. »Ich habe mir +eingebildet, Du hättest was übrig für Hans Thumser, +da habe ich mich also anscheinend geirrt. Nun dann +freilich —«</p> + +<p>»Allerdings, mein Kind, da hast Du Dich geirrt. Vielleicht +erinnerst Du Dich daran, daß Herr Thumser zwanzig +Jahr und ein Student ist. Es mag ja Kolleginnen geben, +die sich aus derartig — ungaren jungen Herren was +machen. Ich für meine Person — ich lege auf derartige +Bekanntschaften keinen Wert.«</p> + +<p>Ach so, die Großartige willst du spielen! Na warte —!</p> + +<p>»Wenigstens nicht, wenn's ein x-beliebiger Bürgerlicher +ist, willst Du sagen, nicht wahr? Wenn's freilich ein Prinz +wäre — das ist was andres, gelt, Jucunderl, denn kann +er so ungar sein wie er will, hab' ich recht?«</p> + +<p>Da fuhr Jucunda Buchner so heftig in die Höhe, daß +Asta Thöny unwillkürlich aufstand und einen halben +Schritt zurückwich. Die schönen Hände krallten sich, das +majestätische Gesicht verzerrte sich zum Ausdruck einer +Medusa, die stahlblauen Augen funkelten Wut gleich den +Lichtern einer gereizten Katze:</p> + +<p>»Was fällt Dir ein, was erlaubst Du Dir?!« Doch +rasch glätteten sich ihre Züge zum Ausdruck eiskalter Verachtung, +sanken die schönen Schultern nachlässig in die +Kissen zurück, und mit einer Handbewegung, gleich jener, +mit der eine Königin eine unbotmäßige Kammerfrau entläßt, +befahl sie:</p> + +<p>»Verlassen Sie mein Zimmer, mein Fräulein!«</p> + +<p>Asta Thöny lächelte ihr boshaftes Spitzbubenlächeln. +Sie sank in einem tiefen Hofknix zusammen:</p> + +<p>»Zu Befehl, Frau Marquise, wünsche gute Karriere.« +Und schon war sie hinaus.</p> + +<p>Während sie die Katharinenstraße hinunterschritt und +den Marktplatz überquerte, dessen Schneedecke grell im +duftumschleierten Lichte des frühen Wintermorgens +gleißte, fühlte sie sich fast erstickt von der Seligkeit, die +verhaßte Rivalin einmal bis aufs Blut geärgert zu haben.</p> + +<p>So eine Hundeschnauze! so eine eiskalte! Tut, als hätte +sie keine Ahnung, daß sie es doch allein ist, die all den +Unfug angestiftet hat in den Brauseköpfen hüben und +drüben — Gott! und wer weiß, was für Dummheiten sie +sonst noch alles auf dem Gewissen hat! Ist nicht dies +ganze Nest wie verrückt nach ihr? Aber das ist das Blödsinnige +an dem Ruhm: hat unsereins sich erst mal durchgesetzt, +dann liegt die Welt vor ihr auf dem Bauch, und +das verrückte Mannsvolk bringt sich um für das Glück, +von ihr mit Füßen getreten zu werden ...</p> + +<p>Aber jetzt — jetzt ist sie wild. Jetzt faucht sie zu +Hause, jetzt hat sie einmal gespürt, daß auch noch andere +Katzen Krallen haben —!</p> + +<p>Aber schau — wer war denn das? Da kamen aus der +Kleinen Fleischergasse zwei grüne Mützen heraus, zwei +Franken-Korpsburschen, sehr feierlich. Der eine, der +ältere, trug den Paletot nachlässig geöffnet, und man sah +darunter den bis hoch hinauf zugeknöpften Bratenrock ... +Handschuhe trugen sie, gestreifte Hosen und Gummigaloschen. +Der ältere, den kannte sie, den hatte ihr Hans +einmal von ihrem Fenster aus gezeigt, es war Volkner, +der jetzige Häuptling des Frankenbundes. Ingrimmigen +Ernst auf den jungen Gesichtern, steuerten die zwei über +den Marktplatz, bogen in die Katharinenstraße und verschwanden +in der Tür, die sie selber soeben verlassen.</p> + +<p>O Gott — sie wußte, was die zwei zu suchen hatten +bei Valentin Pilgram da droben ... sie wußte: die sollten +ihm Hans Thumsers Forderung überbringen ... das +waren die Kartellträger ...</p> + +<p>Daß Hans Thumser kein Glück gehabt bei Jucunda ... +und daß sie selber es der verhaßten Rivalin einmal gründlich +gegeben — über dieses doppelte Glück hatte Asta völlig +den blutigen Ernst der Situation vergessen ... Sie +wußte: Kavaliere — und waren sie auch erst seit ein paar +Semestern flügge geworden, wie die Herren Korpsstudenten +— die fackeln nicht lange mit dem Austrag +solcher Händel. Und wenn erst die Pistolen geladen sind, +dann kommt guter Rat zu spät ... und dabei mußte sie +ja doch in die Probe. Morgen abend war ja Abschiedsvorstellung +— »Wallensteins Tod« — und wenn sie auch +nur ein winziges Röllchen hatte, das Fräulein von Neubrunn, +Theklas Gesellschafterin und Vertraute — die +Probe versäumen, das hätte sie sich doch nicht getraut. +Der stramme Pflichtgeist, der das Meininger Ensemble beseelte, +ließ einen solchen Gedanken selbst in höchster Not +niemals aufkommen. Schon dreiviertel zehn, also höchste +Zeit! Asta sprang in eine Droschke, befahl »Zum Carolatheater!« +und drückte sich fröstelnd in den verschlissenen +Plüsch. All ihr Uebermut war verweht. Was auf den +starren, korrekten Amtsgesichtern der zwei jungen Gesellen +da gestanden hatte, das legte sich wie eisig umklammernde +Knochenfinger um ihr Herz.</p> + +<p>Die zwei suchten Pilgram ... und wenn er jetzt noch +nicht daheim war, er würde kommen, sie würden ihn +finden, würden ihre Botschaft ausrichten ... Und dahinter +lauerte ein Schreckensbild: das Bild einer tiefverschneiten +Waldblöße, die in unberührter, weiter Fläche +daliegt im ersten Morgenschein ... Nun rollen von hüben +und drüben zwei Wagen heran, lautlos ... ein paar junge +Männer entsteigen ihnen, rüsten sich zu geheimnisvoll +grausigem Tun — nun treten sie alle rechts und links zur +Seite, und zweie nur bleiben inmitten stehen, wenige +Schritte nur voneinander, sie heben blitzende Läufe — +einer zielt nach des andern Herzen ... und der eine von +ihnen heißt Hans Thumser ...</p> + +<p>Was tun? o Gott, was tun?!</p> + +<p>Da, ein rettender Gedanke: Franz Burg ... der war +doch einmal akademischer Bürger ... Wenn einer der +Meininger nicht mehr ein noch aus wußte, ging er ja +immer zu Franz Burg ...</p> + +<p>Ja, das war's! Franz Burg mußte Rat schaffen. +Aber wie den Gestrengen erreichen? Wenn sie auf die +Bühne kam, würde die Generalprobe bereits begonnen +haben — und bis die beendigt war, durfte man dem +Szenenleiter mit nichts anderm kommen, aber auch mit +gar nichts. Solange gehörte er nur seinem Werk. Und +jeder Versuch, ihn mit andern Dingen zu befassen, würde +höchstens eine erstaunliche Grobheit eingetragen haben.</p> + +<p>Und darüber würde es drei Uhr werden ... Gott, +was konnte inzwischen alles geschehen! So lange war man +machtlos, war man im Dienst ... war man »Fräulein +von Neubrunn, Hofdame der Prinzessin«.</p> + +<p>Und die Prinzessin? — Selbstverständlich Jucunda +Buchner ... die große Jucunda ...</p> + +<p class="start-chapD space-above">Drei Uhr nachmittags.<br /> +Auf der Kneipe des Korps Misnia tagte das S. C. +Ehrengericht zur Entscheidung über die hängende Pistolenforderung +des Korpsburschen eines wohllöblichen C. C. +der Franconia Thumser wider den früheren C. B. +Pilgram.</p> + +<p>Der Kneipsaal, sonst nur »zu den festlichen Gelagen« +bestimmt, war nun zu verhängnisschwerer Tagung eingerichtet. +An den hufeisenförmigen Tischen saßen die +Ehrenrichter, je zwei von jedem der fünf Leipziger Korps, +und von dem präsidierenden Korps Misnia noch ein dritter +Korpsbursch als Protokollführer.</p> + +<p>Wie um das feierlich Eindrucksvolle des Femgerichts +zu unterstreichen, waren die Schlagläden heruntergelassen, +und die gelben Flammen der Gaslichtkrone warfen +zuckende Reflexe auf die bunten Mützen, die dreifarbenen +Bänder, die blinkenden Scheiben der Klemmer und +Monokels, die schmißdurchsetzten Jugendwangen, die in +feierlich offizielle Falten gelegt waren.</p> + +<p>Hans Thumser, als der Beleidigte, wurde zuerst gehört.</p> + +<p>Mit knappen Worten berichtete er den Vorfall, der sich +am gestrigen Abend auf der Kneipe seines Korps zugetragen. +Als er geendet, fragte der Vorsitzende, Graf +Schmettow, der Erste der Meißner, ein über die Maßen +patenter, hagerer Gesell, dessen linke Wange eine furchtbare +Säbelnarbe von der Schläfe über den Mundwinkel +bis ins Kinn hinein durchzog:</p> + +<p>»Danke, Herr Thumser. Ihre Erzählung ist natürlich +so, wie sie da vorgetragen worden ist ... äh ... nicht +so recht verständlich ... offenbar ist doch zwischen Ihnen +beiden ... äh ... noch irgend etwas andres vorgekommen +...? Wollen Sie uns auch darüber Auskunft geben, +oder wünschen Sie, daß zunächst sich Ihr Herr Gegner ... +äh ... über den von Ihnen vorgetragenen Tatbestand +erklärt?«</p> + +<p>Hans Thumser sann einen Augenblick nach. Astas +Bild, Jucundas tauchte einen Augenblick vor seinem Geiste +auf. Hatte es einen Zweck, diese Erlebnisse in die Verhandlung +mit hineinzuziehen? — Es war ja schließlich +ganz gleichgültig, wie das alles geworden war ... wie +es hatte kommen können, daß der einstige Korpsbruder +ihm das Band von der Brust gerissen ... das war nun +einmal geschehen. Die Tat lag vor, nackt und unerbittlich +... Für sie hatte er Sühne zu fordern — sie zu erklären +war allenfalls des andern Sache, nicht die seine ...</p> + +<p>»Ich habe vorläufig nichts weiter mitzuteilen, Herr +Vorsitzender.«</p> + +<p>Damit war er entlassen.</p> + +<p>Und mit angespannter Neugier hingen nun die Blicke +der jugendlichen Ehrenrichter an der Reckengestalt des +Jünglings, der so lange als der Besten einer in ihrer Mitte +gestanden hatte, dessen scharfe Klinge nicht nur, dessen +scharfes Wort, dessen ganzes vorbildliches Wesen einem +jeden stets den vollkommensten Respekt abgezwungen. +Da war keiner im Leipziger S. C., der nicht den Fall Pilgram +mit brennendem Interesse, mit aufrichtiger Sympathie +verfolgt hätte. Und jeder hatte Gelegenheit gehabt +zu beobachten, wie Franconias einstiger Senior schon gar +bald nach seinem Ausscheiden aus dem Korps wie unter +der Last eines grundstürzenden Erlebnisses förmlich in +sich zusammengesunken war, verändert, verwildert, tiefster +Verbitterung anheimgefallen.</p> + +<p>Nun schien er wieder der Alte, zum mindesten in seiner +äußeren Erscheinung. Korrekt gescheitelt und gekleidet, +in tadellosem Gehrock und Lackschuhen stand er vor dem +Ehrengericht, nur um seine Brust fehlte das Band und +auf seinem Gesicht das alte trotzig-heitere Selbstbewußtsein ...</p> + +<p>»Herr Pilgram,« begann der Vorsitzende, »ich brauche +Ihnen nicht zu sagen, worum es sich handelt. Herr +Thumser Franconiae hat Ihnen eine Pistolenforderung +auf fünfzehn Schritt Barriere und Kugelwechsel bis zur +Kampfunfähigkeit übersandt wegen eines Renkontres, +das Sie mit ihm gestern abend gegen neun Uhr auf der +Frankenkneipe gehabt haben. Entsinnen Sie sich der +Ausdrücke, die Sie gebraucht haben, und ist es Ihnen +auch bewußt, daß Sie ihm das Korpsband von der Brust +gerissen, dann zum Schlage ausgeholt haben, und nur +durch das Dazwischentreten der Herren Korpsbrüder des +Herrn Thumser verhindert worden sind, Herrn Thumser +noch weiter tätlich anzugreifen?«</p> + +<p>»Allerdings,« erklärte Pilgram ruhig. »Ich entsinne +mich des Vorfalls genau. Ich war vollständig Herr +meiner Sinne und übernehme für meine Handlungsweise +die volle Verantwortung.«</p> + +<p>»Sie sind also bereit, Herrn Thumser die standesübliche +Genugtuung mit der Waffe zu geben? Und haben +andrerseits nicht die Absicht, irgendwelche andere Formen +der Sühne in Vorschlag zu bringen?«</p> + +<p>»Nein!« sagte Valentin Pilgram.</p> + +<p>Einer der Ehrenrichter bat ums Wort. Herr ten +Brink, der Erste Chargierte der Guestphalia, ein langer, +semmelblonder, sommersprossiger Sohn der roten Erde.</p> + +<p>»Es ist mir was aufgefallen in der Erzählung des +Herrn Thumser,« sagte er. »Herr Thumser hat erzählt, +Sie hätten ihm einen Brief zu lesen gegeben, dessen Inhalt +ihm vollständig unbekannt gewesen sei. Wollen Sie sich +über diesen Punkt vielleicht auslassen?«</p> + +<p>»Darf ich mir die Frage gestatten, Herr Vorsitzender,« +erwiderte Pilgram, »ob Herr Thumser über diesen Punkt +bereits nähere Erklärungen gegeben hat?«</p> + +<p>»Nein!« sagte Graf Schmettow. »Wir haben vorläufig +darauf verzichtet, uns überhaupt mit der Frage +zu beschäftigen, was für ... äh ... Motive hinter dem ... +Renkontre vorhanden gewesen sein mögen.«</p> + +<p>»Dann —« sagte Valentin Pilgram, »dann würde ich +für meine Person vorziehen, diese Seite der Sache ebenfalls +unerörtert zu lassen, vorausgesetzt, daß ein hohes +Ehrengericht nicht seinerseits darauf besteht.«</p> + +<p>»Ich verstehe,« sagte der Vorsitzende. »Die Herren +scheinen also einig darüber zu sein, daß der Tatbestand +der Beleidigungen lediglich an und für sich hier zum +Gegenstand der Verhandlung gemacht werden soll, ohne +daß auf ihre Veranlassung weiter einzugehen sein würde +— aus Gründen der Diskretion vermutlich, nicht wahr?«</p> + +<p>Pilgram nickte stumm.</p> + +<p>»Wenn ich recht verstehe,« fuhr der Vorsitzende fort, +»so stellen die beiden Herren Gegner sonach den Sachverhalt +übereinstimmend dar. Danach würde wohl eine +Vernehmung von Zeugen und jede weitere Aufklärung +des Sachverhalts erübrigen, nicht wahr, meine Herren?!«</p> + +<p>Zustimmend nickten die Ehrenrichter, und der Vorsitzende +entließ den Beleidiger.</p> + +<p>Die Beratung war nur kurz. Der Fall lag ganz klar: +es handelte sich um eine tätliche Beleidigung, die zur +Ausführung gekommen war, und um eine solche, deren +Ausführung nur durch das Eingreifen Dritter verhindert +worden war. Die erstere, das Abreißen des Korpsbandes, +kam an Schwere der zweiten, vereitelten mindestens gleich. +Neben diesen Realinjurien spielen die vorgefallenen wörtlichen +Beleidigungen nur eine nebensächliche Rolle. Der +Beleidiger hatte zugegeben, bei klarem Verstande und +wohlüberlegt vorgegangen zu sein. Unter diesen Umständen +war es vollkommen klar, daß die Forderung genehmigt +werden mußte, und zwar ohne daß ein Anlaß +vorlag, die sehr scharfen Bedingungen zu ermäßigen.</p> + +<p>Schon neigte sich die Verhandlung ihrem Ende, da +erbat Herr ten Brink Guestphaliae Erster noch einmal +das Wort:</p> + +<p>»Ich weiß nicht, meine Herren, die Sache kommt mir +eigentlich ein bißchen merkwürdig vor. Die Geschichte +mit dem Brief will mir nicht aus dem Kopf, ich habe das +Gefühl, da steckt ein Mißverständnis hinter. Ich meine, +das Ehrengericht ist doch schließlich nicht bloß dazu da, +über eine Forderung zu entscheiden — ich meine, unter +Umständen wäre es doch unsere verdammte Pflicht und +Schuldigkeit, Mißverständnisse aufzuklären ... kurz, +zwischen den Parteien zu vermitteln. Ich meine, wir +sollten in diesem Fall doch ein wenig genauer auf die +Vorgeschichte des Renkontres eingehen. Um so mehr, als +meines Erinnerns Herr Thumser geäußert hat, der fragliche +Brief sei von einer Dame geschrieben gewesen. Na, +meine Herren, wir wissen doch alle, wenn die Weiber in +so 'ne Affäre hineinspielen, dann ist es meistens halb +so schlimm.«</p> + +<p>Ein kurzes, verständnisinniges Schmunzeln auf allen +Gesichtern, das aber schnell der gewohnten, feierlichen +Korrektheit wich. Der Vorsitzende meinte:</p> + +<p>»Ich halte uns nicht für befugt, in die persönlichen +Angelegenheiten der Kontrahenten einzudringen, wenn +diese nicht selbst Wert darauf legen. Ich glaube — der +Versuch einer Vermittlung zwischen den Herren würde ... +äh ... eine Ueberschreitung unserer Kompetenz sein ... +und zugleich ein Eingriff in die Verfügungsfreiheit der +Herren, den sie sich nicht gefallen zu lassen brauchten. +Aber ich weiß nicht, wie die anderen Herren darüber +denken? Bitte sich zu äußern!«</p> + +<p>Es stellte sich heraus, daß ten Brink mit seiner Auffassung +ganz allein stand. So wurde denn die Forderung +mit den Stimmen aller Ehrenrichter gegen die seinige +genehmigt und dies den beiden Parteien mitgeteilt.</p> + +<p>Das Schicksal war gefallen.</p> + +<p>Gleich nach dem Ehrengericht traten die Sekundanten +der beiden Parteien zusammen. Volkner für Thumser +und Herr Borgmann Neo-Borussiae Erster für Pilgram. +Sie verabredeten als Platz für das Duell die Heiderwiese, +eine Waldlichtung im Ratsholz, südwestlich von Connewitz, +unfern des linken Pleißeufers, am Reitwege nach +Gautzsch, und als Zeit für die Austragung punkt sechs +Uhr am folgenden Morgen.</p> + +<p>Hiervon benachrichtigten sie ausschließlich den Grafen +Schmettow und ersuchten ihn, als Senior des derzeit +präsidierenden Korps das Amt eines Unparteiischen zu +übernehmen.</p> + +<p>Dann wurden die Korpsdiener unter Hinweis +auf ihre Pflicht zu absoluter Verschwiegenheit ins +Vertrauen gezogen und angewiesen, den Pistolenkasten +instandzusetzen, Wagen zu bestellen. Den Vertrauensarzt +des S. C. in derartigen Fällen, den Sanitätsrat +Dr. Collwitz, einen Alten Herrn der Neo-Borussia, übernahm +Herr Borgmann zu bestellen.</p> + +<p>Diese Vereinbarungen hatten im Konventszimmer der +Misnia stattgefunden, welches den Herren für diesen +Zweck zur Verfügung gestellt war. Nun verabschiedete +man sich voneinander mit dem üblichen Händedruck bei +hochgehobenen, eingewinkelten Ellenbogen und zeremonieller +Verbeugung.</p> + +<p>Volkner begab sich in eine gegenüberliegende Konditorei, +in der Hans Thumser seine Mitteilungen abwartete, +und benachrichtigte ihn vom Geschehenen.</p> + +<p>Das alles geschah in kurzen, formelhaften Wendungen. +Kein Wort wurde gesprochen zwischen den beiden jungen +Leuten, das über das sachlich absolut Notwendige hinausging. +Jeder mußte die letzte Kraft aufwenden, Haltung +zu bewahren angesichts des Grauens, das von diesem +Unabwendbaren ausging, von diesem Unabwendbaren, +das nun herankroch mit dem schleichenden Schritt der +Sekunden und Minuten; das sich vollenden mußte, bevor +es abermals Tag geworden.</p> + +<p class="start-chapI space-above">Nach Schluß der Probe mußte Asta lange warten, +bevor sie den Oberregisseur für sich allein bekam. +Tausend Geschäfte, tausend Bitten drängten sich noch an +ihn heran. Schließlich wurde es ihm zu toll:</p> + +<p>»Kinder, ich bin auch nur ein Mensch und muß heut +abend den Wallenstein spielen. Jetzt schert Euch gefälligst +alle zum Teufel! Ich will schlafen.«</p> + +<p>Asta schoß hinter ihm drein.</p> + +<p>»Meister, eine Bitte, Sie müssen mich anhören, es +geht um Tod und Leben!«</p> + +<p>»Und wenn's um sechsundzwanzig Paar Regensburger +Würschte geht, ich kann nicht mehr.«</p> + +<p>»Helfen Sie mir, Meister, oder soll ich hier auf dem +Korridor einen Kniefall tun?«</p> + +<p>»Nützt Ihnen auch nichts, kommt alle Tage vor. Lassen +Sie mich in Frieden!«</p> + +<p>Asta brach in Tränen aus und hängte sich an des +Davonhastenden Arm.</p> + +<p>»Pah!« brummte der, »auch noch flennen! nützt Dir +auch nichts, kommt auch alle Tage vor!«</p> + +<p>Aber er schüttelte sie doch nicht ab, als sie sich an seinen +Arm hing und das feuchte Gesichtchen an seiner Schulter +barg — als sie sich hinter ihm in seine Garderobe drängte.</p> + +<p>»Also in drei Teufels Namen, was gibt's? Aber kurz, +bitte!«</p> + +<p>Er ließ seine lange Gestalt mit einem Grunzen halb +des Grimms, halb des Behagens auf das schminkfleckige +Sofa fallen. Wies der Besucherin mit Handwink den +Frisierstuhl als Sitzgelegenheit. Asta drehte den Stuhl +herum, hockte auf seiner vordersten Kante, erzählte stockend, +befangen, verwirrt ...</p> + +<p>Als sie schwieg, tippte Franz Burg mit dem Mittelfinger +der Rechten auf seine Brust und zuckte ein paarmal +langsam die Schultern. Seine Brauen waren hochgezogen, +um die schmalen Lippen spielte in tausend Fältchen ein +Mephistoschmunzeln.</p> + +<p>»Sie sollen mir raten, was ich tun soll, Meister!«</p> + +<p>»Ja, Kindchen, soweit ich aus der Geschichte klug geworden +bin, handelt es sich also um zwei Studenten, und +einer von ihnen ist momentan Quartiergast in dem Kämmerchen +da drüben unter Ihrem Pelzjackett, das freilich, +soviel mir bekannt ist, häufig seinen Mieter wechselt. +Aber, wat sall ick dorbi dauhn?«</p> + +<p>»Einen Rat — einen Rat will ich, lieber Herr Burg. +Sie sind doch Student gewesen — was fängt man nur +an, um die zwei wieder auseinanderzukriegen? Was soll +ich tun, sagen Sie mir, was soll ich tun?!«</p> + +<p>»Die Karre laufen lassen, wie sie laufen will! Ich +bitt' Sie — die jungen Leute müssen doch was erleben ... +Sehen Sie sich doch um in der Welt! da geht ja heute +alles so verflucht ehrbar, korrekt und vorschriftsmäßig zu, +es passiert nichts — und passieren muß doch was in der +Welt ... wovon sollen wir denn sonst leben, wir armen +Komödianten, und die Poeten, die für uns Komödie +schreiben! Ist ja 'n wahrer Segen, daß wenigstens auf +deutschen Hochschulen noch manchmal 'n bißchen gerauft +und geknallt wird. Ich freue mich immer, wenn ich sehe, +daß noch Leidenschaft in der Jugend drin steckt ... daß +noch Tragödien passieren. Das wäre ja doch ein wahrer +Jammer, wenn man so was hintertreiben wollte.«</p> + +<p>»Aber wenn nun ein Menschenleben dabei zugrunde +ginge, bedenken Sie doch, Meister! So ein blühendes, +herziges, junges Studentenleben!«</p> + +<p>»Na — wenn schon!« knurrte Burg, »Studenten gibt's +doch weiß Gott genug auf der Welt. Eine große Sensation +... eine — na, einen Stoff — das ist wahrhaftig +so'n Allerweltsstudentenleben wert!«</p> + +<p>»Herr Burg, Sie sagen Allerweltsstudentenleben ... +das stimmt hier aber nicht; der eine, das ist kein Allerweltsstudent, +das ist was ganz Besonderes —«</p> + +<p>»Der eine? Also <em class="gesperrt">Ihrer</em> selbstverständlich, nicht +wahr?«</p> + +<p>»Gott ja, meiner, wenn Sie wollen.«</p> + +<p>»Nun, was ist denn so Besonderes an ihm?!«</p> + +<p>»Er ist ein Dichter! Ach, so wundervolle Gedichte +macht er. Wenn ich doch nur eins bei mir hätt'!«</p> + +<p>»Sieh, sieh!« schmunzelte der Oberregisseur. »Also +ein zukünftiger Bühnenlieferant. Na, dann soll er sich +erst recht schießen!«</p> + +<p>»Aber Herr Burg ... um Gottes willen!«</p> + +<p>»Ja gewiß soll er. Entweder er geht drauf — na, in +Gottes Namen: er ist der erste nicht. Wie mancher Homer +ist blind geworden, <em class="gesperrt">ehe</em> er Zeit gehabt hat, die Welt, +das Leben so tief in sich hineinzusaugen wie der alte +Griechenbarde ... Wie mancher Aeschylos mag in der +Seeschlacht gefallen sein, wie mancher Schiller auf der +Karlsschule in Verzweiflung und Verblödung hineingeknutet +... Das ist Kismet ... Wenn er aber übrig +bleibt, glauben Sie nicht, daß er dann ein ganz andrer +Kerl ist wie vorher, wenn er mal dem Tode ganz nahe +ins Gesicht gesehen hat? Glauben Sie nicht, daß er Ihnen +nachher noch viel schönere Verse machen wird; daß er noch +'ne ganz andere Nummer von Tragödie zustandebringt, +wenn er erst mal erlebt hat, wie einem zumute ist, der die +Nase hinhalten muß, wenn's drüben blitzt und knallt?«</p> + +<p>Asta sprang auf, rannte schluchzend zum Fenster.</p> + +<p>»Das ist entsetzlich, Herr Burg, das ist grausam!«</p> + +<p>»Ne, das ist klug, das ist weise, Kindchen!«</p> + +<p>»Also gut!« schrie die Kleine, warf sich herum, stand +mit geballten Fäusten vor dem Oberregisseur, das reizende +Gesicht von Grimm und Haß verzehrt. »Also gut! Sie +sollen sich schießen ... einer soll auf dem Platze bleiben, +alle beide — was kommt dabei heraus?! Nur eine neue +Reklame für sie, für die große Jucunda! Was wird's +heißen? Zwei Studenten haben sich geschossen ... wegen +ihr, wegen Jucunda Buchner! Das ist's ja auch, was +sie will, darauf hat sie's ja auch angelegt mit allem +Raffinement, die Katze, die verdammte! Der ist's recht, +wenn ein paar so fesche junge Kerle zum Teufel gehen +ihretwegen — das paßt ihr grad in ihren Kram, dem +hundeschnauzenkalten Weibsbild, das an nichts denkt — +nur an sich, nur an sich!«</p> + +<p>»Ach so!« lächelte Franz Burg. »Da zielt's hinaus! +Mag sein, Sie haben recht, Kindchen ... Vielleicht ist +unsere große Jucunda wirklich eine ganz haarsträubende +Egoistin — aber ich wollte zu Ihrem Besten, Kleine, Sie +selber wären's auch. Wenn Sie das erfreuliche +Temperament, das Sie anscheinend im Leben besitzen, +ein bißchen mehr zusammenhielten und auf Ihre Kunst +losließen, statt auf Ihre ... auf die Mieter Ihres Herzenskämmerleins +— glauben Sie mir, Sie wären eine größere +Künstlerin, als Sie's leider sind. Sagen Sie mir nichts +gegen die Jucunda, die ist ganz gut so wie sie ist. Die +ist, was Sie nicht sind: eine Komödiantin. Die fühlt +und weiß, wozu sie auf der Welt ist: nämlich zum +Komödienspielen! Lieben und sich lieben lassen — schöne +Sache, o ja, für die andern, für die Alltagsweiber — aber +nicht für Euch. Zusammenhalten sollt Ihr Eure +Glut, kalt wie Hundeschnauzen sollt Ihr meinetwegen sein +im Leben, wenn Ihr nur abends, sobald der Lappen in +die Höhe fliegt, Vulkane seid, wie die Jucunda einer ist! — +Na, haben Sie noch weiter Schmerzen, Kleine?«</p> + +<p>Gesenkten Blickes, mit zuckendem Kinn hatte Asta die +Standrede des Meisters über sich ergehen lassen. Nun +warf sie den Kopf trotzig in den Nacken, stampfte mit +dem Fuß auf:</p> + +<p>»Ich will aber nicht, ich will nicht, daß der lange +Pilgram mir meinen süßen Jungen totschießt! Wollen +Sie mir helfen, wollen Sie mir einen vernünftigen Rat +geben?! Oder soll ich meiner Wege gehen?«</p> + +<p>»Hm ... also das sage ich Ihnen, Astachen, gehen +Sie weg vom Theater, aus Ihnen wird niemals was. — +Also, wenn's denn absolut sein muß, die Sache ist doch +entsetzlich einfach: Wenn Studenten Dummheiten machen, +dann steckt man sich hinter ihre Eltern. Leben die +respektiven Herren Väter noch?«</p> + +<p>»Beide, soviel ich weiß.«</p> + +<p>»Na also, und wo wohnen sie denn, die würdigen +Erzeuger der beiden Hitzschädel?«</p> + +<p>»Der eine wohnt da hinten im Rheinland irgendwo, +soviel ich weiß.«</p> + +<p>»Welcher? Ihr moralischer Schwiegerpapa oder der +andere?«</p> + +<p>»Nein, der <em class="gesperrt">eine</em>,« sagte Asta, und das alte Schelmenlächeln +blitzte durch Grimm und Tränchen wieder hindurch.</p> + +<p>»Also an den wird bis morgen nicht dranzukommen +sein — und der andere?«</p> + +<p>»Der andere, der ist, soviel ich weiß, irgendein hohes +Tier in Dresden!«</p> + +<p>»Teufel, das trifft sich ja glänzend! Also, setzen Sie +sich auf die Bahn, Kindchen, und rücken Sie dem Alten — +wie heißt er? — dem alten —?«</p> + +<p>»Pilgram,« half Asta ein.</p> + +<p>»Also, rücken Sie dem alten Pilgram auf die Bude +und petzen Sie ihm, daß sein wackerer Sprößling seinen +Monatswechsel dazu mißbraucht, statt hinter seinen +Büchern zu hocken, andern jungen Leuten Löcher in den +Bauch zu schießen. Ich wette, dann entwickelt sich alles +weitere historisch.«</p> + +<p>Asta sprang auf den Oberregisseur zu, der noch immer +langhingestreckt auf dem schminkfleckigen Sofa lag, fiel +ihm um den Hals und küßte ihn stürmisch.</p> + +<p>»Ach, Franzel, Sie sind doch der Allerbeste! Das +wird gemacht, das ist die Rettung!«</p> + +<p>»Aber bitte, erst nach dem 'Lager' — die kleine Oerzen +ist krank geworden. Sie spielen heut abend die Gustel +von Blasewitz. Nachher reisen Sie meinetwegen, wohin +Sie wollen.«</p> + +<p>»Ich danke Ihnen, oh, ich danke Ihnen tausendmal, +Sie Goldiger!«</p> + +<p>»Es ist ein Skandal,« knurrte Franz Burg. »Da hat +unser Herrgott endlich mal wieder eine richtiggehende +Tragödie angelegt, und so ein dummes, kleines Gör +zerreißt ihm das Konzept und macht eine Posse draus!«</p> +</div> + +<div> +<h2>15.</h2> + +<p class="start-chapW">Wenige Minuten nach halb zwölf stieg Asta Thöny am +Böhmischen Bahnhof in Dresden aus dem Leipziger +Schnellzuge. Sie hatte schon in Leipzig das Dresdener +Adreßbuch eingesehen und festgestellt, daß der Senatspräsident +am Oberlandesgericht Heinrich Pilgram in der +Marschallstraße Nummer zweiundzwanzig wohnte.</p> + +<p>In dem milderen Klima der Residenzstadt war der +Neuschnee des gestrigen Tages schon geschmolzen und hatte +das Pflaster mit einer zähen Schlammkruste überzogen. +In den Straßen war schon alles Leben erstorben. Trübselig +spiegelte sich der Schein der Straßenlaternen in den +Kotlachen der überschwemmten Rinnsteine. Trübselig +klapperte der Gaul durch die physiognomielosen Straßen +der Vorstadt und durch die kaum angebauten Alleen an +der Grenze der Altstadt.</p> + +<p>Eigentlich doch ein wahnsinniger Plan: um Mitternacht +einer wildfremden Familie auf die Bude zu rücken! +Aber schließlich, man hatte doch wohl alle Veranlassung, +ihr dankbar zu sein. — Endlich: da stand sie vor der Pforte +einer vierstöckigen Mietskaserne, und während der Wagen +von dannen rollte, riß sie sich schier die Hände ab in dem +Bemühen, den Portier zu alarmieren.</p> + +<p>Ein Tattergreis, der hastig Hose und Rock über sein +Nachtgewand gezogen, mit wirrem Graukopf und schlampigen +Pantoffeln empfing sie, bösartig knurrend, und war +nur durch etliche Markstücke so weit zu bezähmen, daß er +sie bei der schwankenden Beleuchtung einer schwelenden +Handlaterne bis zum dritten Stock hinaufbegleitete, wo +ein Porzellanschild mit der Aufschrift »Pilgram« an einer +breiten, mit Vorhängen abgeblendeten Glastür den Eingang +wies.</p> + +<p>Drinnen alles finster.</p> + +<p>Wahnsinnige Situation! Aber was half's! Die Klingel +schrillte, und zu Astas freudiger Ueberraschung erschien +schon nach wenigen Minuten ein verschlafenes Dienstmädchen, +das entsetzt zurückprallte, als es der fremden, +eleganten Dame ansichtig wurde.</p> + +<p>Die Herrschaften seien in Gesellschaft, würden aber +wohl bis ein Uhr wieder zurück sein ...</p> + +<p>Den unbekannten Besuch in die Wohnung einzulassen, +dazu war das Mädchen nicht zu bewegen, und so mußte +Asta unter Führung des Tattergreises abermals die drei +Stiegen hinunter, um draußen auf der ganz verlassenen +Straße in Schlamm und Tauwind auf und ab zu patrouillieren, +wie sie abends vorher im Schnee auf der +Kleinen Fleischergasse auf- und abpatrouilliert war ...</p> + +<p>Endlich nach einer Stunde Wartens nahten von der +Altstadt her vier vermummte Gestalten: ein Herr im +Zylinder, den Rockkragen hochgeschlagen, und drei Damen, +eine kugelrunde und zwei schlanke, hochgewachsene, in +Abendmänteln und Kapuzen.</p> + +<p>Im Augenblick, als der alte Herr den Schlüssel einschob, +um zu öffnen, trat Asta auf ihn zu:</p> + +<p>»Um Verzeihung! Ich habe wohl die Ehre, Herrn +Präsidenten Pilgram ...«</p> + +<p>Der alte Herr richtete sich aus seiner gebückten Stellung +auf, stand völlig verblüfft, musterte die Fragerin.</p> + +<p>Im selben Augenblick sah Asta durch goldgefaßte +Brillengläser hindurch zwei scharfe, klare Augen mit durchdringendem +Blick auf sich gerichtet.</p> + +<p>»Allerdings! Ich heiße Pilgram — Sie wünschen?!«</p> + +<p>Inzwischen waren die Damen herangekommen, starrten +völlig verblüfft und verständnislos auf die zierliche Gestalt +im silbergrauen Jackett, deren Züge ein grauer Schleier +fast ganz verbarg.</p> + +<p>»Entschuldigen Sie gütigst, Herr Präsident, könnte ich +Sie wohl einen Moment allein sprechen?«</p> + +<p>»Was für eine Angelegenheit, bitte, meine Dame? Es +ist ein Uhr!«</p> + +<p>»Eine sehr dringende Angelegenheit,« stammelte Asta, +»ich komme aus Leipzig, es handelt sich um Ihren Sohn.«</p> + +<p>Ein noch schärferer Augenblitz traf das Mädchen.</p> + +<p>»Hm ...« sagte er nur, dann bückte er sich aufs neue, +schloß auf und sagte zu seinen Damen:</p> + +<p>»Ihr seid wohl so freundlich und geht schon hinauf +solange.«</p> + +<p>Mit angstvoller Neugier musterten die drei Damen +die Fremde, aber ein scharfes: »Also bitte!« veranlaßte +sie, dem Wunsche des Familienoberhauptes Folge zu +leisten. Die Tür fiel ins Schloß.</p> + +<p>»Also zuvörderst, wer sind Sie?« fragte der alte Herr.</p> + +<p>»Ich bin die Herzoglich Meiningische Hofschauspielerin +Asta Thöny.«</p> + +<p>»Hm ... und Sie wünschen?«</p> + +<p>»Ihr Sohn Valentin wird sich morgen früh mit einem +andern Studenten schießen.«</p> + +<p>Die buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen, der +graue Fransenschnurrbart zuckte.</p> + +<p>»Und dieser andere Student ist wer?«</p> + +<p>»Ein Herr Hans Thumser.«</p> + +<p>»Hans Thumser?! Das ist ja ein Korpsbruder meines +Sohnes!«</p> + +<p>»Ihr Herr Sohn ist schon vor Wochen aus dem Korps +ausgetreten ...«</p> + +<p>»Was ist das?!«</p> + +<p>Der Präsident richtete sich straff auf:</p> + +<p>»Das müßte ich denn doch wohl wissen, mein +Fräulein!«</p> + +<p>»Es ist aber so, Herr Präsident.«</p> + +<p>»Hm ... lassen wir's zunächst einmal dahingestellt, ob +Sie recht haben. Was veranlaßt Sie, mir diese Mitteilung +zu machen?«</p> + +<p>Asta war auf diese Frage vorbereitet und hatte sich +ihre Antwort zurechtgelegt.</p> + +<p>»Ich bin ... mit Herrn Thumser ... nahe befreundet.«</p> + +<p>»Hm — mit Herrn Thumser? Sie machen mir also +Ihre Mitteilungen weniger im Interesse meines Sohnes +als vielmehr in dem des Herrn Thumser, wenn ich recht +verstanden habe?«</p> + +<p>»Nein, das doch nicht, Herr Präsident. Allerdings ... +vor allem doch wohl Herrn Thumser zuliebe ... Aber +Ihren Herrn Sohn kenne ich auch, zwar nur sehr flüchtig, +aber ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet, er hat +mich ... er hat mir gestern ... das Leben gerettet.«</p> + +<p>Der alte Herr sah das erregte Mädchen mit einem +Blick an, in dem ganz deutlich zu lesen war, er zweifle +an ihrem Verstand.</p> + +<p>»Darf ich Sie bitten, meine Gnädigste, Ihren Schleier +zu heben, damit ich sehe, wen ich eigentlich vor mir habe?!«</p> + +<p>Mit zwei raschen Bewegungen streifte Asta Thöny den +Schleier in die Höhe. Sie fühlte sich mit scharfer Prüfung +gemustert. Aber das Ergebnis mußte wohl nicht ungünstig +sein, denn erheblich liebenswürdiger als zuvor fuhr der +alte Herr fort:</p> + +<p>»Darf ich Sie bitten, mein gnädiges Fräulein, sich mit +mir hinauf in meine Wohnung zu bemühen: Sie werden +mir erzählen.«</p> + +<p>Er entzündete ein Wachsstreichholz und leuchtete dem +seltsamen Gast die Treppe hinauf. Der Hausflur war nun +hell erleuchtet. An einer halboffenen Tür drängten sich +drei weibliche Köpfe, die hastig verschwanden, als der +Präsident mit seinem Besuch eintrat. Sehr höflich nahm +er dem Gaste den Regenschirm ab und geleitete ihn in ein +dunkles Zimmer zur Rechten, entzündete zwei Gasflammen, +bat, ihn einen Moment zu entschuldigen.</p> + +<p>Einen raschen Blick warf Asta in dem Zimmer umher. +Die übliche, gutbürgerliche Einrichtung der sechziger +Jahre: Mahagonimöbel, grüner Plüschbezug, an den +Wänden ehrwürdige Familienbilder in Oel mit Darstellungen +von Priestern und Gelehrten aus den beiden +letzten Jahrhunderten. Am Fenster ein Mahagonisekretär +mit Rolljalousie, darauf zahlreiche Photographien in +Ständerrahmen, unter denen Asta sofort die eines schlanken +Studenten in Mütze und Band herauserkannte.</p> + +<p>Der Präsident kam zurück, bat, auf dem Sofa Platz +zu nehmen, und setzte sich ihr gegenüber in einen Plüschsessel. +Er hatte abgelegt. Auf der linken Brust seines +Fracks schimmerte eine blinkende Ordenreihe.</p> + +<p>Und abermals mußte Asta die Geschichte des gestrigen +Abends erzählen. Der Präsident lauschte gespannt, ohne +sie mit einem Wort, mit einer Frage zu unterbrechen. +Als sie geendet, trat er auf sie zu, streckte ihr die Hand hin:</p> + +<p>»Ich danke Ihnen, meine Gnädigste. Das war sehr +gescheit von Ihnen, daß Sie gekommen sind. Ich fahre +mit Ihnen nach Leipzig. Ich habe schon nachgesehen, um +drei Uhr vierzig fährt der Zug, um halb sechs sind wir +drüben. Darf ich Sie inzwischen meinen Damen zuführen?«</p> + +<p>»Sehr gütig, Herr Präsident. Und was wird werden, +was wollen Sie tun?«</p> + +<p>»Den beiden jungen Herren klar machen, daß ihre +Eltern sie nicht deshalb großgezogen haben, damit sie sich +untereinander als Zielscheibe benutzen.«</p> + +<p>»Aber werden wir auch nicht zu spät kommen? Wollen +Sie nicht vielleicht vorher noch ein dringliches Telegramm +an Ihren Sohn ablassen?«</p> + +<p>»Liebes Fräulein, ich war selbst einmal Student — +bin sogar Alter Herr des Korps Franconia —, wie ich die +Buben kenne, scheren sie sich in solchen Fällen den Teufel +um ein väterliches Telegramm. Im Gegenteil: wenn +sie erst wittern, daß wir ihnen auf der Spur sind, dann +kriegen wir sie morgen früh überhaupt nicht mehr zu +fassen. Um halb sechs Uhr sind wir dort, vor sechs Uhr +wird's ja überhaupt nicht hell um diese Jahreszeit; inzwischen +werden wir überlegen, was zu tun ist. Darf +ich Sie jetzt bitten, zu meiner Frau und zu meinen +Töchtern hinüberzukommen?«</p> + +<p>»Verzeihung, Herr Präsident, würden Sie es nicht für +besser halten, wenn Sie zunächst Ihre werten Damen +über den Zweck meines Besuchs aufklärten?«</p> + +<p>»Da haben Sie recht, liebes Fräulein. Wenn Sie mich +also einen Augenblick beurlauben wollen ...?«</p> + +<p>Nur wenige Minuten blieb Asta allein. Dann flogen +zwei schlanke Mädels herein, in Balltoilette, mit glühenden +Backen, glänzenden Augen, in denen die Angst um den +Bruder und dabei doch auch brennende Neugier und gespannte +Erregung standen, und stellten sich mit befangenen +Knixen vor. Achtzehn und zwanzig mochten sie sein, die +ältere dem Vater und Bruder wie aus den Augen geschnitten; +die jüngere, ein munteres, molliges Ding, das +Ebenbild der Mutter, wie sich alsbald herausstellte, als +nun auch die rundliche Frau Präsidentin auf der Bildfläche +erschien. Und alsbald saß Asta mit Valentin Pilgrams +Mutter und Schwestern unter der Hängelampe +eines altmodisch-behaglichen Speisezimmers. Man stopfte +sie mit Butterbrot und Süßigkeiten, man fragte sie aus +nach tausend Dingen, von denen sie keine Ahnung hatte.</p> + +<p>Während dessen hatte sich der Präsident entfernt, kam +nach ein paar Minuten zurück.</p> + +<p>»So, mein gnädiges Fräulein, ich habe mir die Sache +überlegt. Ich werde jetzt gleich zum nächsten Telegraphenamt +gehen und eine dringliche Depesche an die Leipziger +Polizei aufgeben. Hören Sie, was ich aufgesetzt habe:</p> + +<blockquote> + +<p>'Königl. Kreishauptmannschaft Leipzig! Morgen +früh soll dort Pistolenduell zwischen meinem Sohn +Valentin und Stud. Hans Thumser stattfinden. Ort +und Zeit unbekannt. Abreise sofort, um selbes zu verhindern. +Ankomme 5.29 dort Dresdener. Erbitte +Unterstützung, womöglich berittenen Gendarmen, am +Bahnhof. +</p> +<p class="right"> +<span style="margin-right:7em">Pilgram,</span><br /> +<span style="margin-right:1em">Senatspräsident am Oberlandesgericht.'</span> +</p> +</blockquote> + +<p>So, ich nehme an, daß man einem königlichen Beamten +meines Ranges in angemessener Weise entgegenkommen +wird. Wenn die Polizei einigermaßen ihre Pflicht und +Schuldigkeit tut, so kommen die jungen Herren morgen +früh überhaupt nicht aus ihrer Bude heraus, sondern +werden gleich mit Beschlag belegt. Sollte aber wider alles +Erwarten die Sache nicht klappen, so sind wir ja da!«</p> + +<p>»Ja, aber um Gottes willen, Herr Präsident,« meinte +Asta, »wir haben doch keine Ahnung, wo die schreckliche +Geschichte eigentlich vom Stapel gehen soll — wie wollen +Sie das denn herauskriegen?«</p> + +<p>»Ja, Papachen, wie willst Du das nur herauskriegen?« +echoten die Töchter.</p> + +<p>»Liebe Kinder, ich war doch selbst mal in dem Geschäft. +Gebt acht: Wenn man sich schlagen will, geht man +nicht zu Fuß heraus, sondern bestellt sich einen Wagen. +Wenn man aber Korpsstudent ist, so hat man für diesen +Wagen eine ganz bestimmte Bezugsquelle: das Korps +nimmt nämlich seinen Wagen immer bei ein und demselben +Fuhrwerksbesitzer, der ihm Vorzugspreise gewährt. +Den Namen aber des Wagenlieferanten der Franconia, +den kenne ich leider nur zu genau. Oder soll ich jetzt sagen: +glücklicherweise? Ich habe nämlich am Schluß des vorigen +Semesters für unseren guten Valentin noch eine ganz +erkleckliche Wagenrechnung berappen müssen ... Der +gute Mann wohnt in der Nähe des Bayrischen Bahnhofs, +an ihn also wenden wir uns zunächst und versuchen +herauszubekommen, wohin die Fahrt gehen soll.«</p> + +<p>»Aber wird er's auch verraten?« meinte Asta, »das +könnte das Korps ihn doch teuer entgelten lassen?«</p> + +<p>»Ich glaube, wenn ich mit der Polizei drohe und +darauf aufmerksam mache, daß man ihn wegen Beihilfe +zum Zweikampf mit tödlichen Waffen am Schlafittchen +kriegen könnte, dann wird er wohl mit sich reden lassen!«</p> + +<p>»Ach, Papachen, wie klug Du bist!« riefen die Töchter, +strahlend vor Entzücken über das unerwartete Abenteuer. +Himmel, wie interessant endete der Abend, der so langweilig, +ganz nach dem Schema F verlaufen war.</p> + +<p>»Nun aber müssen Sie schlafen, liebes Fräulein,« +meinte die Präsidentin, nachdem ihr Gatte sich entfernt +hatte, um das Telegramm aufzugeben. »In einer Stunde +müssen Sie schon wieder zum Bahnhof, die sollen Sie +wenigstens zur Ruhe benutzen.«</p> + +<p>Aber Asta dankte. Sie könne nachher in der Eisenbahn +noch genug schlafen, sie würde jetzt doch kein Auge +zutun. Nur Hunger habe sie noch, wenn sie's denn schon +sagen solle, und Durst auch.</p> + +<p>Und die vier Frauen schwatzten und lachten zusammen +wie alte Freundinnen ... und nur selten einmal ging's +einer von ihnen durch den Kopf, was für morgen auf dem +Spiele stand.</p> + +<p>Papachen würde schon alles machen. Wenn Papachen +eine Sache in die Hand genommen hatte, dann konnte es +ja nicht schief gehen!</p> + +<p class="start-chapA space-above">Als Asta und der Präsident fast als einzige Passagiere +dem Frühzuge entstiegen, trat ein behäbiger Herr in +einem undefinierbaren Räuberzivil auf den alten Herrn zu.</p> + +<p>»Verzeihen Sie gütigst, ich habe wohl die Ehre, Herrn +Senatspräsidenten Pilgram ... Mein Name ist Gensel, +Königlicher Kriminalkommissar. Stelle mich im Auftrage +der Kreishauptmannschaft zu Ihrer Verfügung.«</p> + +<p>»Ah, charmant, Verehrtester. Haben Sie auch einen +Gendarmen zur Hand?«</p> + +<p>»Der wartet draußen mit seinem Gaul.«</p> + +<p>»Nun, und was ist sonst geschehen?«</p> + +<p>»Ja, Herr Präsident, wir haben unser Möglichstes +getan. Wir haben sofort zwei Kriminalschutzleute zu den +Wohnungen der beiden jungen Leute geschickt und feststellen +lassen, ob sie zu Hause wären. Ihr Herr Sohn hat +seine bisherige Wohnung bei dem Kanzleirat Buchner seit +gestern ganz aufgegeben und ist ins Hotel übergesiedelt, +in welches, das wußten die Leute nicht. Und der andere, +Herr Thumser heißt er ja wohl, der ist heut nacht nicht +nach Hause gekommen.«</p> + +<p>»Teufel! Das ist scheußlich — was nun?!«</p> + +<p>»Ja, was nun, Herr Präsident? Ich weiß auch nicht, +was ich machen soll!«</p> + +<p>Der Jurist sann eine Weile nach, dann erklärte er dem +Polizeibeamten seinen Plan, durch den Fuhrwerksbesitzer +den Duellanten auf die Spur zu kommen.</p> + +<p>Der Kommissar war völlig einverstanden. Man stieg +in eine Droschke und rollte durch die hier noch immer mit +kotigem Schnee bedeckten Straßen zum Bayrischen +Bahnhof.</p> + +<p>Im trüben Laternenschein huschten hastige Fußgänger +vorüber, das Leben der großen Stadt erwachte — die +Arbeit begann.</p> + +<p>Die Herren berieten eifrig während der kurzen Fahrt. +Der Präsident im Rücksitz, der Kriminalkommissar ihm +gegenüber. Asta lehnte in ihrer Ecke, fröstelnd, übernächtig, +von Angst geschüttelt, und lauschte der halblauten +Unterhaltung der Herren.</p> + +<p>Der Gendarm war vorausgetrabt. Als man vor dem +Fuhrhof ankam, hielt er bereits an dem Portal mit dem +Geschäftsinhaber, einem grobknochigen Mann in Flausrock +und Holzpantoffeln.</p> + +<p>Schnell kletterte der Kommissar aus dem Wagen und +inquirierte sofort den Fuhrherrn:</p> + +<p>»Ist der Wagen für das Korps Franconia schon fort?«</p> + +<p>»Weeß Knebbchen, ja, Herr Kommissar, schon seit zehn +Minuten is er weg ... tut mir sähre leid.«</p> + +<p>»Und wohin geht die Fahrt?«</p> + +<p>»Das kann ich Sie nich sagen, uff mei Ehrenwort nich. +Der Wagen is bestellt für um den Herrn Volkner abzuholen, +Kleine Fleischergasse fünfe ... aber da wird er +nu ja woll ooch schon nich mehr sinn.«</p> + +<p>Der Präsident war ebenfalls ausgestiegen und fragte: +»Na, lieber Herr, Sie werden ja doch wohl eine Ahnung +haben, wohin es geht?! Wo fahren denn die jungen +Herren gewöhnlich hin, wenn sie was Besonderes vorhaben, +he?!«</p> + +<p>»Nu, mei gutester Herr, wenn ich's ehrlich sagen soll, +gewehnlich machen se doch so was im Ratsholz ab, un +da gibt's eigentlich nur een' Weg: Kaiser-Wilhelm-Straße +'runter, dann Kaiserin-Augusta-Straße, am alten Wasserwerk +vorbei und ins Streitholz hinein. Freilich, was für +ä Plätzchen se sich dasmal haben ausgesucht, davon habe +ich Sie natierlich de leiseste Ahnung nich, mei gutester +Herr.«</p> + +<p>»Also, Herr Robolski,« sagte der Kriminalkommissar, +»ich mache Sie darauf aufmerksam: Wenn sich's herausstellt, +daß Sie uns nicht die reine Wahrheit gesagt haben, +dann krieg' ich Sie bei die Hammelbeene, verstehen Sie +mich?!«</p> + +<p>»Mein Ehrenwort,« sagte der Fuhrherr, »mein +heiligstes Ehrenwort, Herr Kommissar, das, was ich gesagt +habe, ist alles, was ich weeß.«</p> + +<p>»Schön! Also, Gendarm Mehlhorn, Sie haben gehört: +sitzen Sie auf, traben Sie was haste was kannste nach +dem Streitholz. Wir kommen nach. Sie reiten bis zum +Schnittpunkt der 'Neuen Linie' und der 'Linie', meinetwegen +auch die 'Linie' hinauf, bis zum Flußgraben, dann +zurück bis zum Wegekreuz, dort warten! Merken Sie +inzwischen was von den Duellanten, so greifen Sie selbständig +ein, verstanden?!«</p> + +<p>»Zu Befehl, Herr Kommissar!« sagte Mehlhorn dienstlich, +schwang sich auf seinen Braunen und klapperte die +Bayrische Straße hinunter.</p> + +<p>Die beiden anderen Herren verabschiedeten sich mit +flüchtigem Gruß und Dank von dem Fuhrwerksbesitzer, +wiesen den Kutscher an, hinter dem Gendarmen drein zu +fahren, stiegen ein, und die Gäule zogen an.</p> + +<p>Die drei im Wagen schwiegen und sannen.</p> + +<p>Vom Bayrischen Bahnhof blinkten grelle Signallichter, +schrillten Lokomotivenpfiffe, ratterten mit dumpfen +Stößen ausfahrende Züge über die Schienen. Drüber +stand schon heller Tagesglast. Auf der matt erleuchteten +Kreisscheibe der Bahnhofsuhr standen die beiden Zeiger +in einer geraden, senkrechten Linie ...</p> + +<p>O Gott, wenn man zu spät kam! Es konnte sich ja +nur um Minuten handeln.</p> +</div> + +<div> +<h2>16.</h2> + +<p class="start-chapI">Hans Thumser erwachte. Oben an der Decke war irgend +etwas, das blendete ihn. Mit verschlafenen Augen +blinzelte er hinauf und sah, daß es Laternenschein war, +der, von drunten herauffallend, das Lichtbild eines +Fensters auf die weiße Tünche zeichnete. Teufel ja, wo +kam das denn her? Das war sonst doch nicht so?!</p> + +<p>Mit einem Mal fiel's ihm ein: er war ja gar nicht in +seinem eigenen Zimmer, lag nicht in seinem Bett ... +aber wo nur? Richtig, er war ja doch auf Volkners Bude +— aber warum nur, was war denn eigentlich los?</p> + +<p>Mit einemmal krampfte sich sein Herz zusammen in +siedendem Schreck: o Gott, morgen früh —!</p> + +<p>Eigentlich doch eine sehr vernünftige Idee von Volkner, +ihn nicht allein zu lassen in dieser Nacht, in dieser vielleicht +... letzten Nacht. Und auch sonst war alles sehr vernünftig +gewesen, was der Senior gesagt und geraten:</p> + +<p>»Weißt Du, Thumser, vor einer solchen Affäre ist das +einzig Richtige, sich so zu betragen, als sei gar nichts Besonderes +los. Um Gottes willen, bloß sich nicht hinsetzen +und ein halbes Dutzend Abschiedsbriefe schreiben: an die +Eltern, an den Schatz, an die Erbtante, und wer weiß +an wen sonst noch. Das hat ja gar keinen Zweck. — +Mein Gott, so'n bißchen Knallerei! Ja, wenn Du jedesmal +Dein Testament machen wolltest, wenn Du Dich in +Lebensgefahr begibst, dann müßtest Du es von Rechts +wegen machen, so oft Du vor die Tür gehst! Ueberall kann +Dir ein Dachziegel auf den Schädel fallen. Und wenn +Du in Deiner Bude und im Bette bleibst, kann schließlich +die Decke einstürzen ...«</p> + +<p>Des Korpsbruders rheinischer Leichtsinn hatte Hans +Thumser über die Abendstunden hinweggeholfen. Man +war auf der Kneipe gewesen, hatte Quodlibet gespielt und +den blödesten Bierulk betrieben. Dann hatte Volkner ihn +mit auf seine Bude geschleift, ihm großmütig sein Bett +abgetreten und sich dann selber auf dem Kanapee einlogiert. +Von dort herüber drang jetzt sein melodisches +Schnarchen. Na ja, der hatte gut schnarchen!</p> + +<p>Vorher aber, vor dem Einschlafen, hatten die zwei +noch einen besonderen Trall ausgeheckt: Volkner hatte +seine Geige genommen, und beide waren sie vor die +Kammertür von Volkners bejahrter Hauswirtin gezogen +und hatten ihr ein Ständchen gebracht, indem sie zu sanft +hinschmelzender Violinbegleitung das schöne Lied gesungen +hatten:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">Seh ich ein Haus von weitem,<br /></span> +<span class="i0">Wo ein lieb Mädel träumt,<br /></span> +<span class="i0">Sing ich zu allen Zeiten<br /></span> +<span class="i0">Ein Lied ihr ungesäumt.<br /></span> +<span class="i0">Und wird's im Fenster helle,<br /></span> +<span class="i0">Sei es auch noch so spat:<br /></span> +<span class="i0">So weiß ich auf der Stelle<br /></span> +<span class="i0">Wieviel's geschlagen hat.<br /></span> +</div></div> + +<p>Erst als die Pantoffeln der Alten von drinnen gegen +die Tür knallten, hatten sie Ruhe gegeben und waren +dann beide auch sofort eingeschlafen.</p> + +<p>Volkners Bude befand sich im ersten Stock des Hauses, +das an der Kleinen Fleischergasse dem Cafébaum direkt +gegenüber lag. Und der Lichtschein der Laterne, die neben +dem Eingang des Restaurants stand, war es, der Hans +Thumser geweckt hatte. Er tastete nach seiner Taschenuhr +und stellte im matten Reflex des Deckenlichts fest, daß es +zwei Uhr war.</p> + +<p>Auf halb fünf war der Korpsdiener zum Wecken, auf +viertel sechs der Wagen bestellt. Um viertel sieben sollte +der erste Schuß fallen ... also noch zwei und eine halbe +Stunde Schlaf und vielleicht noch vier und eine viertel +Stunde zu leben ...</p> + +<p>Die ganze vorige Nacht hindurch hatte Hans Thumser +wie ein Sack geschlafen. Die nötige Bettschwere hatte er +sich ja schon vor dem Zusammenstoß mit Pilgram angezecht. +Der gestrige Tag war in beständiger Unrast +hingegangen, und so kam jetzt in nächtlicher Stille zum +erstenmal Ordnung in den Wirrwarr der Gedanken, +die um das Schicksal der kommenden Morgenstunde +flatterten.</p> + +<p>Also sterben vielleicht ... und warum denn eigentlich? +Nun, die Antwort war sehr einfach: Ein anderer war +Hansens Ehre zu nahe getreten, hatte ihn tätlich aufs +schwerste beleidigt, dafür galt es eben die standesübliche +Sühne zu fordern.</p> + +<p>Schön! Das klang ja ganz vernünftig. Aber schließlich +... eine Beleidigung hatte doch irgendeinen Grund, +ein Motiv. Was hatte er Pilgram denn eigentlich +zuleide getan? Was hatte er begangen, daß Pilgram ihn +wie einen ehrlosen Buben behandelt hatte? Nun, das eine +war ja klar: Pilgram war eifersüchtig, er bildete sich ein, +er selber, Hans Thumser, sei sein Nebenbuhler bei Jucunda, +und zwar ein begünstigter. Ein begünstigter? Ach, du +lieber Gott ...!</p> + +<p>Freilich, an ihm selber hatte es ja nicht gefehlt ... +Und wer weiß, was geschehen wäre, wenn nicht im +Augenblick, als Jucunda anfing, gnädig zu werden, sehr +gnädig — — wenn nicht der andere dazu gekommen wäre, +dieser fade Laffe, über dessen blasiertem Geckenschädel der +Nimbus einer Fürstenkrone schwebte?</p> + +<p>Aber schließlich, es war doch ein Irrtum, wenn Pilgram +sich einbildete, Thumser sei glücklicher gewesen als er selber.</p> + +<p>Also ein Mißverständnis! Ein Wahn!</p> + +<p>Aber da war noch etwas andres, das nicht stimmte: +Was das nur mit dem Brief gewesen war, den Pilgram +ihm vorgehalten? Offenbar ein Brief von Jucunda, ein +Brief, in dem sie sein Eintreten für ihre Ehre mehr oder +weniger verblümt abgelehnt hatte. Und dieser Brief +hatte auf einem Briefbogen gestanden, der seine, Hans +Thumsers, Initialen trug. Wie kam der Brief auf dieses +Papier? Erst jetzt in der Stille der Nacht fand Hans +Zeit, um über dies Phänomen nachzugrübeln ...</p> + +<p>Und plötzlich stand ihm der Augenblick vor der Seele, +wie er Jucunda und ihrer Mutter sein Zimmer zur Verfügung +gestellt hatte, um sich auszusprechen. Natürlich, +das war's ja! Da hatten die Frauen das Uriasbrieflein +ausgeheckt und das liebliche Plänchen gleich realisiert. Sie +hatten genommen, was gerade zu erreichen war, das +Briefpapier des Mannes, der ihnen vertrauensvoll seine +Behausung zur Verfügung gestellt ...</p> + +<p>Pilgram aber, der hatte natürlich für die sonderbare +Erscheinung sich eine ganz andere Erklärung in den Kopf +gesetzt. Er mußte sich eingebildet haben, der Korpsbruder +sei mitschuldig an der Abfassung des Briefes, habe ihn +vielleicht sogar redigiert ...</p> + +<p>Also Mißverständnis Numero zwei.</p> + +<p>Schön! Zwei grobe Irrtümer in der Rechnung. Wenn +man sich aber einmal in Pilgrams vermutliche Auffassung +hineinzudenken versuchte, so konnte man ihm schließlich +nicht so unrecht geben, wenn er bis aufs Blut gereizt war, +wenn er den einstigen Korpsbruder infamer Gesinnung +und Handlungsweise verdächtigte.</p> + +<p>Und darum Mord und Totschlag! Darum zwei junge +Leben vor die Mündung geladener Pistolen gestellt! War +das nicht Wahnsinn? War es nicht noch in diesem Augenblick +Pflicht, eine offene Aussprache herbeizuführen, den +Irrtum aufzuklären?!</p> + +<p>Aber bei dem Irrtum war es nicht geblieben. Er hatte +eine schreckliche Folge gehabt: die rasche Tat, eine Tat, die +nicht milder war denn ein Schlag mitten ins Angesicht +des Feindes. Und auch zu diesem Schlag wär's ja gekommen, +wenn nicht die Korpsbrüder dazwischen getreten +wären.</p> + +<p>Mißverständnisse und Irrtümer ließen sich aufklären — +die Tat war nicht ungeschehen zu machen. Der Kavalier, +der von einem Kavalier einen Schlag erhält, muß blutige +Sühne fordern. Das war das eiserne Gebot des Ehrenkodex, +daran war nicht zu deuteln noch zu rütteln.</p> + +<p>Und dann — wer mochte den ersten Schritt tun? +Machte der sich nicht verdächtig, als sei es nur die Angst +vor der blauen Bohne, die ihn zur Aussöhnung geneigt +machte? Würde man ihn nicht der Kneiferei zeihen?</p> + +<p>Der Kneiferei? Nun, wer vierzehn Schlägermensuren +mit Ehren bestanden hatte, brauchte der sich vor dem Verdacht +der Kneiferei zu fürchten?</p> + +<p>Halt! So eine Knipserei, das war doch was andres +als das bissel Bestimmungsmensur mit Binden und +Bandagen.</p> + +<p>Nein, da war nichts zu wollen, dafür war man Korpsstudent! +Der andere, der war an allem schuld. Der hätte +die Aussprache herbeiführen müssen vor der Tat. Daß er +dem Freund, dem Korpsbruder aus drei Semestern eine +ehrlose Gesinnung überhaupt zugetraut, das war die +eigentliche Beleidigung, das war die Schmach, die nur +mit Blut abgewaschen werden konnte. Die Worte, die +Handlungen, die aus dieser abscheulichen Unterstellung +erwachsen waren, die waren schließlich nichts anderes als +der zufällige Ausdruck für einen Verdacht, der auch ohne +Wort und Schlag ins Herz der Ehre traf.</p> + +<p>Nein, es gab keinen anderen Ausweg — und so würde +man morgen früh aufeinander losknallen »bis zur Kampfunfähigkeit«.</p> + +<p>Und nun kamen die Gedanken an daheim. An Eltern +und Geschwister — nein, das ging ja doch nicht, einen +solchen Gang zu tun, ohne sich vorher von den liebsten +Menschen verabschiedet zu haben. Wenn er nun fiel — +wie sollten sie diese wirre, dunkle Geschichte verstehen? +Sie würden doch nachforschen, würden wissen wollen, was +denn eigentlich geschehen war, wie es hatte so weit kommen +können — und dann war's zu spät. Dann war sein +Mund, der allein Licht in die Wirrnis hätte bringen +können, verstummt. Sein Tod würde den Lieben ein +düsteres, grauenhaftes Rätsel bleiben.</p> + +<p>Also das geht nicht. Hans wird aufstehen und einen +langen, langen Brief an die Geliebten daheim schreiben. +Ihnen alles erzählen, ohne Verschweigen, auch das Glück +— die landläufige Moral nannte es ja wohl ein sündiges +Glück —, das er in Asta Thönys Armen genossen, auch +die verworrenen Dränge, die ihn zu Jucunda getrieben. +Alles, alles wird er berichten, und so wird wenigstens +Klarheit liegen über seinem schauerlichen Ende ...</p> + +<p>Ob sie ihn verstehen werden daheim? Mein Himmel, +der Vater ist doch auch einmal jung gewesen ...</p> + +<p>Und in Gedanken entwarf Hans Thumser den Wortlaut +seiner Beichte. Immer eindringlicher, immer inbrünstiger +vertiefte er die Schilderung seines Seelenzustandes, +immer heißer und drängender formte er seine +Bitte um Verständnis, um Vergebung, um ein Gedenken +ohne Groll. Und über all dem Sinnen und Grübeln war +er plötzlich versunken und verschwunden und wachte erst +wieder auf, als Volkner ihn wach rüttelte, und die schlampige +Alte, die sie beide gestern abend angeserenadet, in +Nachthaube und Nachtjacke, grimmigen Gesichts und +knurrenden Mundes den Kaffee auf den Tisch setzte.</p> + +<p>Nun war's zu spät, nach Hause zu schreiben. Nun +blieb's doch bei Volkners Theorie.</p> + +<p>Die trockenen Semmeln von gestern wollten nicht in +die Kehle, der glühheiße Bliemchenkaffee blieb fast unberührt. +Ein Glück, daß Volkner mit ein paar Tafeln +Schokolade und einem besseren Schnaps versehen war.</p> + +<p>Geschäftig bediente er den Korpsbruder, wie man um +einen Kranken, um einen Sterbenden sich müht. Und +dabei fühlte Hans Thumser ganz deutlich, daß der andere +sich im tiefsten Innern höchst mollig fühlte bei dem Gedanken: +Gott sei Dank, daß ich selber nicht derjenige +welcher bin!</p> + +<p>Um Punkt halb sechs knallte drunten die Peitsche des +Kutschers. Die jungen Männer machten sich bereit.</p> + +<p>Im Schauer des dämmrigen Morgens fuhr Hans +Thumser fröstelnd zusammen, als sie vor die Tür traten, +als sein Blick auf die eingeschnurrte Gestalt des Korpsdieners +fiel, der übernächtig auf dem Bock neben dem +Kutscher hockte und auf den Knien einen schmalen, schwarzpolierten +Kasten trug ...</p> + +<p>Nebeldurchdunstet lagen die Straßen. Das Weiß des +frischen Schnees war längst in ein kotiges Braun verwandelt, +das der Frost der jüngsten Nacht mit tausend +Rauhreifkristallen überzogen hatte. Ringsum erwachte das +Leben der großen, fleißigen Stadt der Arbeit.</p> + +<p>Den Rockkragen hochgeschlagen, dampfenden Atems +schritten die Männer, huschten die Frauen einher, jeder +an sein Geschäft. Schwarz und finster reckten sich die +Fronten der alten Straßen, deren Häuser sich im Laufe +der Jahrhunderte aus eleganten Wohnpalästen in dumpfe, +mit Affichen überladene Geschäftshäuser verwandelt +hatten.</p> + +<p>Aber die Nebel sanken, von Osten wuchs die junge +Tageshelle. Erste, schüchterne Sonnenstrahlen spielten +droben um die Giebeldächer, ein Tag voll winterlicher +Herrlichkeit flammte herauf.</p> + +<p>Nun wurden die Anlagen durchquert. Weißleuchtend +zackte sich das Gewirr der umreiften Aeste ins junge Blau.</p> + +<p>Ivo Volkner aber und Hans Thumser studierten eifrig +den S. C.-Pistolen-Komment, der in einem handschriftlichen +Exemplar auf ihren Knien lag, und zündeten eine +Zigarette an der anderen an.</p> + +<p>Ganz kühl und geschäftsmäßig sprachen sie immer und +immer wieder den vorgeschriebenen Gang der Mensur durch, +um später auch nicht den leisesten Schnitzer zu begehen.</p> + +<p>Endlich aber hielt es Hans Thumser nicht mehr aus. +Er schob das schwarzgebundene Heft zurück, riß das frostbeschlagene +Wagenfenster auf, atmete in tiefen Zügen die +Morgenfrische und sog mit brennenden Augen das Bild +der Morgenwelt in sich hinein.</p> + +<p>Und eine wilde Sehnsucht kam über ihn — Sehnsucht +nach all dem Unsagbaren, das von da draußen in seine +Seele hineinflutete, nach all dem unendlich Schönen des +Lebens, das er doch kaum mit erstem Erwachen des Begreifens +gegrüßt ... und das doch schon tausend Vorahnungen +künftiger Glücksmöglichkeiten in ihm geweckt +hatte. Ach, Glücks­<em class="gesperrt-in">möglich­keiten</em>?! Nein, er <em class="gesperrt">war</em> +ja schon glücklich gewesen!</p> + +<p>Asta Thöny! klagte es in seiner Seele. Gott! so undankbar +konnte man sein? An sie hatte er noch gar nicht +gedacht ... Daß er von ihr sich verabschieden mußte, das +war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen ... Und +doch — wieviel hatte sie ihm geschenkt! Wie unsäglich +gut war sie zu ihm gewesen, und er ... er hatte sie achtlos +beiseite geschoben. Und das letzte, das er von ihr gesehen, +waren bittere Tränen gewesen.</p> + +<p>Zu spät ... Nun mußte das Schicksal seinen Gang +gehen. Nun blieb nur noch eins: der Feindeskugel die +Brust zu bieten und die Stirn dem wahllosen Walten des +Geschicks.</p> + +<p>Und doch, wie schön die Welt! Wie reich, was sich +barg hinter den weißen Nebelschwaden, die das Kommende +verhüllten. Wie selig selbst dieser Augenblick ahnungsvollen +Grauens ...</p> + +<p>Und Hans Thumsers Seele fühlte sich leben in diesem +Augenblick. Leben, wie sie nie zuvor gelebt ... In +langen, schmerzvollen Zügen trank sie das Glück des +Augenblicks hinein. Das Glück, noch da zu sein, noch ein +paar schmerzvoll süße Minuten lang die tiefe Wonne des +Daseins atmen zu dürfen.</p> + +<p class="start-chapI space-above">In einem billigen Zimmer des Hotel de Russie — +dritter Stock nach hinten hinaus — hatte Valentin +Pilgram sich einquartiert und die halbe Nacht mit Briefeschreiben +zugebracht. Erst nach Mitternacht hatte er sich +aufs Bett gestreckt und ein paar Stunden hingedämmert ...</p> + +<p>Nun marschierte er auf dem Reitweg, der erst rechts, +dann links der »Neuen Linie« durch das Streitholz führte, +dem Kampfplatz entgegen, ein einsamer Wanderer ...</p> + +<p>Er hatte sich nicht entschließen können, die letzten +Augenblicke in Gesellschaft seines ihm tief unsympathischen +Sekundanten Borgmann zuzubringen, mit dem er zweimal +die Klinge und noch viel öfter in hitzigen Debatten des +S. C. das Schwert des Wortes gekreuzt.</p> + +<p>Um nicht mit dem Wagen zusammenzutreffen, war er +vom Fahrdamm abgebogen, auf den Reitweg hinüber, +auf dem um diese Morgenstunde noch keine Begegnung +zu befürchten war. Er sah nicht die Pracht des jungen +Tages, fühlte nicht die Schönheit des Daseins, die ringsum +tausend Wunder winterlicher Herrlichkeit erblühen ließ. +Er fühlte nichts als seinen Haß — sah nichts als die Gestalt +des Gegners, wie sie nun gleich vor ihm stehen würde, +ein sicheres Ziel dem stählernen Druck seiner Hand, dem +unbeirrbaren Blick seines Auges.</p> + +<p>Da ließ ein Geräusch ihn aufschauen, ein Geräusch, +das rasch sich näherte. Pferdegetrappel war's, gedämpft +durch den Schnee — nur wenn die Hufe ab und an gegen +die harte Eiskruste stießen, die den Boden überzog, dann +gab's einen klirrenden Ton. Der hatte ihn geweckt.</p> + +<p>Da vorne, in den silbernen Nebeln, die noch über der +Pleißeniederung lagerten, tauchten, schattenhaft abgehoben +vom umgoldeten Himmel, zwei Reitersilhouetten auf: ein +Herr und eine Dame. In raschem Trabe näherten sich +die schnaubenden Gäule.</p> + +<p>Valentin Pilgram konnte keines Menschen Blick ertragen +in diesem Augenblick. Er trat rasch hinter den +mächtigen Schaft einer Eiche und ließ die Reiter vorüberflitzen. +Im letzten Augenblick erkannte er sie: es waren +Jucunda und der Erbprinz.</p> + +<p>Es war ihm, als hätte er einen Stoß vor die Brust +erhalten. Er taumelte, starrte ein paar Sekunden wie ein +Blödsinniger hinter den enteilenden Schatten her. Noch +klang Jucundas übermütiges Lachen, des Prinzen +näselnde Stimme in sein Ohr:</p> + +<p>»... mal sehen, ob der Generalintendant meines +alten Herrn für ein Gastspiel in diesem Winter ...«</p> + +<p>Das waren die Worte, die er aufgefangen ...</p> + +<p>Ha ha! — ha ha ha ha ha —!! Das also war das +Ende! Darauf lief es hinaus!</p> + +<p>Während er zum Todesgange schritt mit jenem andern, +der ihm der Glückliche gewesen war bis zu diesem Augenblick +... In derselben Stunde ... pfui Deubel! pfui Deubel!</p> + +<p>In dumpfer Betäubung trottete er weiter.</p> + +<p>Wo war der blindwütende Haß, der ihm den Nacken +gestählt, die Sehnen gestrafft? Verweht — verflattert, +wie die weißen Nebelschwaden um die rauhreifumsilberten +Kronen der Bäume zerwehten.</p> + +<p>Und plötzlich ward er sich des grausamen Wahnsinns +bewußt, der in all den Geschehnissen lag, die er selbst ins +Rollen gebracht, und die nun abschwirrten, wie ein gräßlich +zermalmender Mechanismus, unhemmbar, unwiderstehlich.</p> + +<p>Da blinkte schon der Lauf der Pleiße ... da vorn +tauchte aus den Morgendünsten der Umriß eines Wagens +auf, der sich im Schritt gen Süden bewegte, und hinter +ihm klang das Rollen eines zweiten Wagens.</p> + +<p>Er beschleunigte den Gang, er mochte sich nicht überholen +lassen, weder von seinem Sekundanten noch von +der ... andern Partei.</p> + +<p>Nun hatte er die »Linie« erreicht, verfolgte sie einige +hundert Schritte weit gen Osten ... und sieh, da öffnete +sich rechts eine weite Lichtung: die Heiderwiese ...</p> + +<p>Am Wegekreuz hielt der Wagen, der vor ihm gefahren +war. Er sah, wie drei männliche Gestalten ihm entstiegen +und durch den Schnee ins Innere der Lichtung hinein +wateten. Das waren die andern: Hans Thumser, Volkner, +der Korpsdiener.</p> + +<p>Valentin Pilgram blieb am Chausseerand stehen und +wartete auf seinen Sekundanten. Nach wenigen Minuten +war der Wagen heran. Ihm entstiegen Herr Borgmann +im grellkarierten Winterpaletot, sehr zeremoniös, platzend +vor Feierlichkeit, und Graf Schmettow, der Meißner-Senior, +der als Unparteiischer zu fungieren hatte, verkatert, +die Scherbe im Auge. Und ferner der alte Sanitätsrat +Dr. Collwitz, der sich als zweiten Paukarzt einen +seiner Assistenten mitgebracht hatte. Einen jüngeren, bebrillten +Herrn mit langflutendem blonden Vollbart. +Dieser wurde als Doktor Köllicker vorgestellt.</p> + +<p>Pilgram dankte den Aerzten für ihr Erscheinen, die +üblichen Redensarten wurden getauscht in gezwungen +nachlässigem Tone, den der Ernst der Stunde mit frostigem +Schauer durchzitterte. Dann stapften die Herren der +Gegenpartei nach gen Süden.</p> + +<p>Hinter ihnen schritt der Korpsdiener der Neo-Borussia, +er trug einen mit gelben Messingknöpfen benagelten +Koffer, der Instrumente und Materialien für die Aerzte +enthalten mochte.</p> + +<p>Valentin Pilgrams Blicke suchten den Gegner und +erkannten die schlanke, geschmeidige Gestalt. Aber wohin +war der Haß geschwunden, der ihn durch Wochen gemartert, +wenn er Hans Thumsers bloß gedachte?! Er +sah nur noch den Freund, den Korpsbruder aus drei +Semestern.</p> + +<p>Thumser hatte seinen Paletot abgelegt und stand mit +offenem Jackett, über der Weste blitzte das grün-gold-rote +Band.</p> + +<p>Und dahin sollte man nun zielen, dahin das Todesblei +entsenden?!</p> + +<p>Und doch, es gab kein Zurück ... Und ob er wollte +oder nicht, die grausame Farce mußte nun mit Anstand +zu Ende gespielt werden ...</p> + +<p>Und rasch und vorschriftsmäßig wickelte sich nun der +Gang der Dinge ab. In genauestem Anschluß an den +Wortlaut des Komments wurden nun die Plätze bestimmt, +so daß das Licht gleichmäßig verteilt war; wurden die +Waffen geladen, die Duellanten instruiert. Der Unparteiische +schritt selber mit Riesensätzen seiner langen +Storchbeine die Barriere ab und bezeichnete sie durch zwei +niedergelegte Spazierstöcke, hüben und drüben. Noch zehn +Schritt weiter jenseits wurden durch Kreuze, die in den +Schnee geritzt wurden, die Plätze für die Duellanten festgelegt, +die sonach durch fünfunddreißig reichlich bemessene +Schritte voneinander getrennt waren.</p> + +<p>Zuletzt nahmen die Sekundanten ihren Fechtern noch +Brieftasche, Uhr und Geldbörse ab und geleiteten sie dann +zu ihrem Platze. Dort übergaben sie ihnen die Waffen +und traten dann jeder zwanzig Schritt zur Seite.</p> + +<p>Der Unparteiische nahm seinen Stand zwanzig Schritte +seitwärts von der Mitte der Schußlinie.</p> + +<p>»Meine Herren!« sprach er mit schallender Stimme, +»ich wiederhole noch einmal: ich zähle bis vier. Wenn +ich eins! gezählt habe, dürfen Sie avancieren bis an die +Barriere, bis vier müssen Sie abgeschossen haben. Herr +Thumser, als der Beleidigte, hat den ersten Schuß. — +Bin ich verstanden?«</p> + +<p>Mit stummem Nicken antworteten die Gegner.</p> + +<p>Hochaufgerichtet stand Hans Thumser und sah übers +schneeblinkende Feld. Endlos schien ihm die Entfernung, +die ihn von dem Feinde trennte. Aber er wußte, daß sie +sich rasch verringern würde, zusammenschrumpfen zu +einem schrecklichen Aug' in Auge ...</p> + +<p>Ein jähes Frösteln rann durch seine Gestalt, kaum +konnte er das Klappern seiner Zähne bemeistern, kaum +den Hahn der Pistole spannen ... Und nun noch ein Blick +in die goldige Morgenwelt hinaus. Ein Blick in die +Zukunft, die vor ihm versinken wollte wie der Tau einer +Nacht. Und da überfiel ihn eine jähe, ingrimmige Wut +auf den, der ihm das alles rauben wollte. Nein, sich +wehren ... sich wehren bis zum letzten Atemzug! Ins +Herz den Gegner treffen — ins Herz! Wenn einer fallen +soll, gut, so sei's der andere!!</p> + +<p>»Eins!« scholl da schneidend scharf das Kommando des +Unparteiischen.</p> + +<p>Und nun war alles versunken, alles bis auf die hagere, +starr emporgereckte Gestalt da drüben, die einst geliebte, +nun bis in den Tod gehaßte ...</p> + +<p>Wie fern sie war, wie klein ... und nun, nun kam sie +heran, nun wuchs sie ... wuchs und wuchs ... und nun +blieb sie stehen ... bot sich zum Ziel ...</p> + +<p>Da raffte auch Hans Thumser sich zusammen. Mit +hastigen Schritten schoß er vorwärts, bis seine Fußspitzen +den Spazierstock berührten, der die Barriere bezeichnete.</p> + +<p>»Zwei!« klang des Unparteiischen Stimme.</p> + +<p>Hans Thumser hob die Waffe bis in die Augenhöhe, +zielte auf des Gegners Brust, sah ganz deutlich, wie über +dem Visier die breiten Schultern standen, das fahle Gesicht.</p> + +<p>»Drei!«</p> + +<p>Da drückte er los ...</p> + +<p>Er sah den Gegner wanken, sah, wie die Rechte, +welche bisher die Waffe gesenkt gehalten, eine rasche, +zuckende Bewegung nach der linken Schulter machte. Dann +aber fand der Taumelnde Halt, hob nun ebenfalls den +Lauf, aber hoch bis über die Stirn, und schoß — schoß hoch +in die Luft ...</p> + +<p>»Vier!« klang das Kommando des Unparteiischen.</p> + +<p>In diesem Augenblick ließ Valentin Pilgram die +Pistole fallen und griff mit der Rechten krampfhaft in das +linke Schultergelenk hinein.</p> + +<p>Doktor Köllicker sprang zu, riß Pilgrams Rock auf, +das weiße Hemd wies Blutflecken, er zertrennte es mit +raschem Zerren, untersuchte das verletzte Gelenk. Dann +winkte er dem Sanitätsrat, der hinzutrat.</p> + +<p>Auch Borgmann, der Sekundant, und Graf Schmettow +eilten zu dem Verwundeten heran.</p> + +<p>Der lächelte mit schmerzverzerrtem Munde. »Viel +scheint's nicht zu sein, meine Herren. Von mir aus kann's +weiter gehen!«</p> + +<p>Aber der linke Arm hing kraftlos herunter, ein Versuch, +ihn zu bewegen, mißlang.</p> + +<p>Die Herren steckten in flüsternder Beratung die Köpfe +zusammen. Die Forderung lautete bis zur Kampfunfähigkeit +... und die lag wohl nicht vor, obwohl das Schultergelenk +schwer verletzt schien.</p> + +<p>Hans Thumser trug's nicht länger. Der andere hatte, +obwohl getroffen, seinen Schuß verloren gegeben. Was +konnte das bedeuten? Doch nur dies eine: die Erkenntnis +begangenen Unrechts.</p> + +<p>Hans winkte seinen Sekundanten heran.</p> + +<p>»Ich kann nicht mehr, Volkner — geh und biete Satisfaktion +an ...«</p> + +<p>In derselben Sekunde scholl auf der Chaussee ein +hastiges Hufegeklacker, und eine atemlose Männerstimme +keuchte:</p> + +<p>»Halt! Im Namen des Gesetzes: halt, meine Herren!«</p> + +<p>Zwischen den Büschen des Wiesenrandes tauchte ein +goldblinkender Helm auf, ein grüner Waffenrock, der +braune Bug eines Pferdes, in rasendem Galopp gestreckt. +Fünf Minuten später preschte der Reiter an der Gruppe +der Herren vorüber, die sich um den Verwundeten zusammengeballt +hatten, warf den Gaul herum, versuchte den +Flankenzitternden, Schäumenden zum Stehen zu bringen.</p> + +<p>Hans Thumser hielt sich nicht länger. In langen +Sätzen übersprang er die fünfzehn Schritt, die ihn von +dem Verwundeten trennten, streckte ihm die Hand hin:</p> + +<p>»Komm, Pilgram — das geht ja doch nicht mehr!«</p> + +<p>Die Herren, die den Verwundeten umdrängten, hatten +ihm Platz gemacht.</p> + +<p>Aug' in Aug' standen die einstigen Freunde einander +gegenüber, tauschten einen Blick, in dem mehr als Versöhnung +lag ... Genesungsglück schimmerte darin, neue +Hoffnung, neues Leben ...</p> + +<p>Mit der heilen Rechten schlug Valentin Pilgram in +Hans Thumsers Hand ein ... und auf einmal lagen die +Jünglinge sich in den Armen.</p> + +<p>Da klangen wiederum Hufschläge auf der Chaussee. +Und sieh, ein Wagen hielt am Wiesenrand, ihm entstiegen +zwei Herren und eine Dame, die mit hastigen Schritten +über den schneebedeckten Wiesengrund herankamen.</p> + +<p>Nun löste sich aus der Gruppe der drei die hagere +Gestalt eines alten Herrn in Gehpelz und Zylinder los, +der mit langen Sätzen über die klirrenden Schollen voranstelzte. +Immer hastiger ward sein Gang ... ward zum +Lauf ...</p> + +<p>»Donnerwetter!« schrie da Volkner plötzlich, »sieh doch +nur, Pilgram — Dein alter Herr!«</p> + +<p>Die Aerzte hatten sich ins Mittel gelegt und die Umarmung +der wiedergefundenen Freunde getrennt, um sich +ihres Patienten zu bemächtigen und die verletzte Schulter +genauer zu untersuchen.</p> + +<p>Nun hob Valentin Pilgram den Kopf, alles wich zurück, +so daß die Gruppe der Herankommenden frei wurde — +und Pilgram erkannte seinen Vater ...</p> + +<p>Schon war der Präsident heran, ergriff mit beiden +Händen die Rechte des Sohnes, die sich ihm entgegenstreckte. +Mit zuckenden Augen, mit zuckenden Lippen +standen Vater und Sohn einander gegenüber.</p> + +<p>»Ihr verfluchten Bengels!« sagte der alte Herr, »was +macht Ihr für Geschichten?«</p> + +<p>»Etwas zu spät bist Du doch gekommen, lieber Papa — +Du siehst, der Fall ist bereits erledigt!«</p> + +<p>»Ich wollt's Euch auch geraten haben! Schlimm genug, +daß es so weit gekommen ist! Na, was hat's denn abgesetzt?«</p> + +<p>»Ach, nicht der Rede wert,« lachte der Junge und zwang +den grimmigen Schmerz nieder, der von dem verletzten +Gelenk aus durch den ganzen Oberkörper fraß.</p> + +<p>»Nun, und Du wunderst Dich gar nicht, daß ich hier +bin?!«</p> + +<p>Valentins Blicke hatten die Gestalt des jungen Weibes +erkannt, das nun herankam in Begleitung eines dicken +Herrn. An diesen ritt der Gendarm heran und machte +ihm in dienstlicher Haltung eine Meldung, während das +Mädchen mit glühenden Backen und strahlenden Augen +nähertrat, um dann ein paar Schritt vor den Herren plötzlich +tiefbefangen stehen zu bleiben.</p> + +<p>»Die da, nicht wahr?« fragte Valentin den Vater.</p> + +<p>»Jawohl, die da ... zum Dank für ... vorgestern!«</p> + +<p>»Ach, ich glaube, es war ihr weniger um mich zu +tun ...« sagte Valentin Pilgram und suchte das Auge +des wiedergefundenen Freundes.</p> + +<p>Aber der hatte keinen Blick für ihn. In tiefer Erschütterung, +regungslos starrte er zu der hellen Gestalt +hinüber, die über die weißen Schollen herangeschwebt +kam wie ein Frühlingshauch. Als sie nun aber stehen +blieb, da sprang er ihr entgegen, die Hände weit ausgestreckt. +Da hob auch sie ihm die Hände entgegen, und +er ergriff sie und drückte sein glühendes Gesicht hinein.</p> + +<p class="start-chapI space-above">Erbprinz Heribert hatte nach seiner Rückkehr vom +Morgenritt wie gewöhnlich von neun bis zwölf das +Kolleg besucht und war dann in seine Wohnung im Hotel +Hauffe zurückgekehrt, um mit Major von Gorczynski zu +frühstücken.</p> + +<p>»Nun, Durchlaucht, wie war's?« Der Major hob das +Portweinglas.</p> + +<p>»Danke, ganz nett.«</p> + +<p>»Nur ganz nett?!«</p> + +<p>»Ach, wissen Sie, lieber Gorczynski, ich glaube, das ist +eine von den ganz Gerissenen ... die sichert sich <em class="gesperrt">vorher</em> +— verstehen Sie?«</p> + +<p>Der aufwartende Lakai brachte auf silbernem Brett +eine Besuchskarte. Der Prinz las:</p> + +<p class="center"> +<em class="gesperrt">Pilgram</em><br /> +Senatspräsident am Königlichen Oberlandesgericht<br /> +<span style="margin-left: 12em;">Dresden.</span><br /> +</p> + +<p>»Haben Sie gesagt, daß wir beim Frühstück sind?«</p> + +<p>»Zu Befehl, Durchlaucht, aber der Herr bittet dringend +um eine Unterredung.«</p> + +<p>»Schön — ins Empfangszimmer.«</p> + +<p>Als der Bediente verschwunden war, reichte der Erbprinz +seinem Erzieher die Karte hinüber.</p> + +<p>»Vermutlich der Vater meines ... äh ... meines +Kollegen!«</p> + +<p>»Kollegen?! Wieso?«</p> + +<p>»Na, weil der auch auf die Buchner reingefallen ist. +Kommen Sie mit, lieber Gorczynski — für alle Fälle.«</p> + +<p>Hoch aufgerichtet, die Ordensrosette im Knopfloch +seines Ueberrocks, erwartete der alte Herr den jungen +Fürsten. Des Umgangs mit hochgestellten Persönlichkeiten +gewohnt und seiner guten Sache sicher, neigte er sich mit +gemessenem Selbstbewußtsein.</p> + +<p>»Sehr erfreut — Herr Präsident, was verschafft mir +die Ehre? Darf ich bekannt machen? Herr Major +von Gorczynski — Herr Präsident Pilgram. — Stört Sie +die Gegenwart meines Begleiters, Herr Präsident?«</p> + +<p>»Ich bitte, Durchlaucht.«</p> + +<p>»Bitte Platz zu nehmen, meine Herren.«</p> + +<p>»Durchlaucht, ich komme im Interesse meines Sohnes +Valentin, den Sie kennen!«</p> + +<p>»Ich habe die Freude.«</p> + +<p>»Durchlaucht wissen, daß mein Sohn aus dem Korps +Franconia ausgetreten ist, um Ihnen gegenüber für eine +Dame eintreten zu können, von der er annahm, daß Sie, +Durchlaucht, ihr — —«</p> + +<p>»Hm ...« machte der Erbprinz, »ich weiß.«</p> + +<p>»Durchlaucht haben die Güte gehabt, diese Angelegenheit +in ritterlicher Weise beizulegen. Trotzdem hat das +Korps Franconia aus Rücksicht auf Durchlaucht davon +Abstand genommen, meinen Sohn in die Reihen seiner +Mitglieder wieder aufzunehmen.«</p> + +<p>»Allerdings ...« sagte der Erbprinz. »Das habe ich +mir wohl so gedacht — aber wenn ich mir eine Zwischenbemerkung +erlauben darf, Herr Präsident: die Geschichte +war mir höchst fatal ... und ich habe mich seitdem vom +Verkehr bei dem Korps fast völlig zurückgezogen ... Es +war mir kolossal peinlich ... verstehen Sie, Herr +Präsident?«</p> + +<p>»Ich begreife sehr wohl,« sagte der Präsident ruhig. +»Die jungen Herren haben wohl eine zu geringe Meinung +von Euer Durchlaucht wohlwollendem Verständnis für die +korpsstudentische Auffassung gehabt, sonst hätte sich doch +wohl ein Ausweg finden lassen, um meinem Sohn die +wohlverdiente Ehre der Zugehörigkeit zu dem Korps — +zu dessen Alten Herren ich, beiläufig bemerkt, auch selber +zähle — wiederum zu verschaffen. Oder täusche ich mich, +Durchlaucht?«</p> + +<p>»Ne, ne, mein verehrter Herr Präsident. Sie haben +in der Tat vollkommen recht ... Wenn's nach mir gegangen +wäre ... aber man hat mich ja gar nicht gefragt. +Mir für meine Person wär's ja doch zehnmal angenehmer +gewesen, wäre die ganze Geschichte diskret behandelt +worden. Aber man hatte ja die Sache dermaßen übers +Knie gebrochen ... ich stand vor einem <i lang="fr">fait accompli</i> ... +und da hielt ich's für das beste, mich um gar nichts mehr +zu bekümmern. Das werden Sie begreifen, nicht wahr, +Herr Präsident?«</p> + +<p>»Ich begreife vollkommen, Durchlaucht. Ich sehe aber +auch, daß ich mich in meinen Vermutungen über Eurer +Durchlaucht Ansichten von der Sache in keiner Weise getäuscht +habe: und darum komme ich jetzt mit der formellen +Bitte, die der Zweck meines Besuches ist: wollen Durchlaucht +die große Güte haben, durch meinen Mund dem Korps +Franconia mitteilen zu lassen, daß einer Rückgabe des Bandes +an meinen Sohn Ihrerseits nichts im Wege steht?«</p> + +<p>»Aber mit dem größten Vergnügen, Herr Präsident! +Ich bin ja höchst erfreut, daß die fatale Geschichte endgültig +aus der Welt kommt ...«</p> + +<p>»Ich danke ehrerbietigst für diese Gnade, Durchlaucht. +Ich glaube, sie ist an keinen Unwürdigen verschwendet! +Da Sie nun aber in so überaus verständnisvoller Weise +meinem Vorschlage entgegengekommen sind, so darf ich +wohl auch noch eine andere Begebenheit erzählen, die mit +der besprochenen nicht ganz ohne Zusammenhang ist, und +die glücklicherweise ebenfalls eine Wendung zum Besseren +genommen hat?«</p> + +<p>Und nun erzählte der Präsident in knappen Worten +von dem Renkontre der beiden einstigen Korpsbrüder +und seinem blutigen Austrag. Die Motive des Zusammenstoßes +ließ er unberührt. Er konnte sich wohl +vorstellen, daß der Erbprinz den Zusammenhang auch so +durchschauen würde ... und darin hatte er sich nicht getäuscht. +Als er geschlossen hatte, erhob sich der Erbprinz +und streckte seinem Besucher die hagere Hand hin:</p> + +<p>»Ich danke Ihnen, Herr Präsident, Ihre Geschichte soll +mir eine Lehre sein ... gewisse Leute sind anscheinend ... +äh ... mit Vorsicht zu genießen. Was meinen Sie, lieber +Gorczynski? Na, ich werde mir's merken!«</p> + +<p>»Gestatten Durchlaucht nochmals meinen ehrerbietigsten +Dank.«</p> + +<p>»Aber ich bitte, mein verehrter Herr Präsident — nur +ich habe zu danken, nur ich ... Sie haben mir einen +größeren Dienst geleistet, als Sie vielleicht ahnen. Grüßen +Sie Ihren Sohn, oder noch besser: sagen Sie ihm, ich +hoffe heute abend auf der Frankenkneipe mit ihm auf gute +Freundschaft anzustoßen ... Doch halt! Vorher müssen +wir noch einmal ins Theater ... Nicht wahr, lieber +Major? Heut ist ja die Abschiedsvorstellung der Meininger, +das dürfen wir uns doch nicht entgehen lassen ... +Aber nachher, nicht wahr, Herr Präsident, dann treffen +wir uns im Cafébaum!«</p> + +<p>»Ich hatte gleichfalls vor, das Theater zu besuchen, +Durchlaucht, wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf +— und zwar mit meinem Sohn und unserm Korpsbruder +Thumser. Die Verletzung meines Sohnes ist ja freilich +nicht ganz unbedeutend: das linke Oberarmbein ist in +Höhe des unteren Ansatzes des Oberarmkopfes getroffen, +die Kugel ist im Knochen stecken geblieben, konnte aber +mit Leichtigkeit entfernt werden.«</p> + +<p>»Sehr erfreulich zu hören, Herr Präsident. Also auf +Wiedersehen heut abend, nicht wahr?«</p> + +<p class="start-chapI space-above">Um zwölfeinhalb Uhr fuhr der alte Pilgram am Cafébaum +vor, stieg die Stufen zur Frankenkneipe hinan +und wurde vom Korpsdiener in das Konventszimmer geführt, +wo Franconias Korpsburschen bereits zum C. C. +versammelt waren.</p> + +<p>Ehrerbietig begrüßte die Schar der Studiosen den +Alten Herrn, der sofort beim Eintreten eine grüne Mütze, +die der Korpsdiener ihm dargereicht, auf seinen grauen +Schädel gestülpt hatte.</p> + +<p>Volkner bat Platz zu nehmen und eröffnete den C. C. +Er erteilte dem Alten Herrn Pilgram das Wort. Dieser +berichtete über seinen Besuch bei dem Prinzen und entledigte +sich seiner Mission.</p> + +<p>Mit strahlenden Gesichtern vernahmen die Korpsburschen +die frohe Botschaft.</p> + +<p>Unmittelbar, nachdem der Alte Herr geendigt, sprach +der Senior:</p> + +<p>»Ich stelle den Antrag, dem früheren C. B. Pilgram, +gewesenen Zweiten, Ersten, Ersten das Band zurückzugeben. +Wünscht jemand zu dem Antrage das Wort?«</p> + +<p>Alles schüttelte den Kopf, aus jedem Auge strahlte +helles Glück. Hans Thumser aber schämte sich nicht, daß +ihm zwei Tränen über die frischen Wangen rollten. Unfähig +jeden Wortes, reichte er dem Präsidenten über den +Tisch hinüber die Hand.</p> + +<p class="start-chapI space-above">Und nun saßen sie im Carolatheater, auf einer der vordersten +Parkettreihen. Präsident Pilgram inmitten +der beiden jungen Gesellen, zur Rechten sein Sohn: er +trug den linken Arm in der schwarzen Binde, fest im Gipsverband +verschient, den Rock nur lose über die linke Achsel +gehängt, den Aermel leer. Ueber die rechte Schulter aber, +über die Weste und die schwarze Binde zog sich das grün-gold-rote +Band.</p> + +<p>Hans Thumser saß zur Linken. Ueber den alten Herrn +hinweg aber schauten die Freunde sich immer und immer +wieder in die Augen. Sie fühlten: so hatten sie sich noch +nie gehört, so sich noch nie geliebt. Und diese Liebe, die +würde nun bleiben fürs ganze Leben ...</p> + +<p>Oft aber flogen ihre Blicke auch nach der zweiten +Proszeniumsloge des Parketts vorn rechts hinüber. Da +saß der Erbprinz, die Scherbe im fahlen Gesicht, und +hinter ihm verschwanden die groben Züge, der wehende +Schnurrbart des Majors im Dämmer des Logenhintergrundes.</p> + +<p>Aber auf den blasierten Zügen des jungen Fürsten lag +heute ein seltsames Leuchten, das noch niemand an ihm +gekannt hatte. Und wenn sein Blick den Augen des alten +und der beiden jungen Franken da unten im Parkett +begegnete, dann lachte sein ganzes Gesicht so knabenhaft +fröhlich, so jung und gut, als sei auch er ein x-beliebiges +junges Studentlein und nicht der Erbe eines deutschen +Fürstenthrones.</p> + +<p>Ringsum aber drängte sich ganz Leipzig und füllte das +Haus bis zum letzten Stehplatz droben auf der Galerie. +Eine festlich dankbare Stimmung lag über der erregten +Versammlung.</p> + +<p>Fünf Wochen lang war dies Haus ein Tempelhaus gewesen. +Fünf Wochen lang hatte man hier den höchsten +Offenbarungen gelauscht, welche die edelste Blüte der zeitgenössischen +Bühnenkunst geschaffen hatte im Bunde mit +den erhabensten Genietaten der großen Szenenbeherrscher +des Dramas der Weltliteratur. Und nun wollte man am +letzten Tage noch einmal mit voller Seele, mit allen +Sinnen genießen, wollte in sich aufnehmen die gigantischste +Schöpfung der deutschen Tragödie: »Wallensteins +Tod«.</p> + +<p>Das Spiel begann.</p> + +<p>Inmitten der Bilder seiner Gestirne stand der einsam-stolze +Mann, über dessen Haupte schon die schwarzen +Fledermausschwingen des Verbrechens, die Rabenfittiche +des Todes rauschen. Am nächtlichen Himmel suchte er den +Stern seines Lebens, der sich nun so bald verfinstern +sollte ... Und in raschen, unfehlbaren Schlägen vollzog +sich sein Geschick.</p> + +<p>Der alte Herr aber da vorn im Parkett und seine +beiden jungen Gefährten harrten ungeduldig des Augenblicks, +da der Vorhang sich zum dritten Akt heben und die +beiden Mädchengestalten auftauchen würden, die so tiefe +Furchen in die Herzen, in die Geschicke der jungen Männer +gezogen.</p> + +<p>Und sieh — nun erfüllte sich's.</p> + +<p>Die Gardine rauschte empor; und es erschloß sich ein +dunkler wuchtiger Saal mit Kamin, Gobelins, gepolsterten +Bänken an den Wänden. Nach hinten stieg eine Treppe +empor, im Bogen geschweift aus massivem, dunkelgebeiztem +Eichenholz mit schwerem Renaissance-Geländer. +Sie führte zu einer langen Galerie, die gegen die Bühne +zu von einem riesigen, aus zahllosen kleinen Scheiben bestehenden +Glasfenster abgeschlossen war.</p> + +<p>Und wie verloren in dem weiten, angstdurchschauerten +Raum saßen vorn rechts auf der Bank zwei Frauengestalten +mit weiblichen Arbeiten beschäftigt, während eine +dritte oben auf der Galerie stand und aus den Fenstern +nach drunten spähte — Wallensteins Schwägerin, die +Schwester seiner Seele ...</p> + +<p>Die zwei da unten aber — die beiden jungen Franken, +die kannten sie.</p> + +<p>Scheu und wesenlos wie ein gutes, dienstbares Geistlein +hockte Asta Thöny als Fräulein von Neubrunn neben +der jungen, schönheitsstrahlenden Herrin.</p> + +<p>Die aber saß weiß und blaß, den adligen Kopf in +schmerzvoller Starrheit zurückgelehnt an die braune +Täfelung.</p> + +<p>Sie war die Schönheit, die versinken muß unterm +erbarmungslosen Schritt des Schicksals, sie war die +Tugend, die zermalmt wird von den geifernden Kinnbacken +des Verbrechens, sie war die leuchtende Seele des gigantischen +Gedichts, sie war ... das Ideal ...</p> + +<p>Und alles vollendete sich nun.</p> + +<p>Mit unerhörter Wucht stampfte das Fatum daher und +ließ den Lügenbau der friedländischen Größe zusammenkrachen. +Blatt um Blatt sank hernieder von dem ragenden +Baum, bis er einsam stand, entlaubt, doch herrlich in +seinem starren Trotz.</p> + +<p>Und nun kam jene gewaltigste aller Szenen, die Valentin +Pilgram und Hans Thumser als Pappenheimer +Kürassiere mitprobiert hatten, und der sie nun als Zuschauer +nur lauschen durften, wie damals, als Hans, ein +scheuer Primaner, sie zum erstenmal erschaut, dahinten, +weit in der Heimat — im Barmer Stadttheater, auf dem +Eckplatz des zweiten Ranges.</p> + +<p>Zwischen den zwei eisengeharnischten Männern, dem +fürstlichen Vater rechts, dem ritterlich prangenden Geliebten +links stand das unglückselige, geopferte Mädchen. +Vor die grausame Pflicht gestellt, zu wählen zwischen Gehorsam +und Liebe.</p> + +<p>Und sie wählte den Gehorsam ... Mit den unschuldig +reinen Händen riß sie die Liebe aus ihrem Herzen +und stieß sie von hinnen ... in den unerbittlichen +Schlachtentod ...</p> + +<p>War das Jucunda Buchner? War's das junge Ding +von achtzehn Jahren, mit dem die zwei schlanken Burschen +da unten an einem Tisch gesessen, in einer Stube? Um +derentwillen sie heut morgen in der Frühe des leuchtenden +Wintertages einander mit der Pistole in der Hand +gegenüber gestanden hatten, während sie mit einem gefürsteten +Knaben über Feld ritt, nur von dem einen Gedanken +erfüllt, ein Gastspiel am Hoftheater in Nassau-Dillingen +für den nächsten Winter herauszuschlagen?</p> + +<p>Nein, sie war es nicht. Ihre sterbliche Hülle war's! +Und doch auch die nicht mehr. Auch die verwandelt, erhöht, +durchleuchtet, durchseelt von der geheimnisvollen +Flamme, die tief drinnen in ihr loderte, unerklärlich, unbegreifbar +... der heiligen Flamme, die, solange sie loderte, +alles überstrahlte, alles verzehrte, alles verklärte, was +irdisch, was menschlich, was gewöhnlich, was häßlich war +an ihr ...</p> + +<p>Horch, schon brandete von draußen der Schwall der +Pappenheimer heran ... Schon klang die wilde Feuerweise +des Reitermarsches, der zu Kampf und Tode lud ...</p> + +<p>Und nun — nun tobte der rasselnde Schwall die +Stiegen hinauf, stapfte in die Galerie hinein, daß die +Scheiben klirrend barsten, strudelte die Treppe hinunter, +überschwemmte in immer erneuten Güssen blinkender +Wogen die ganze Bühne ... entblößte Schwerter, haßflammende +Blicke ...</p> + +<p>Und inmitten die zwei jungen Menschen, — neben dem +todgeweihten Manne das todgeweihte Weib, die weiße, +unschuldig leuchtende Gestalt, das tief gesenkte, sterbensmatte +Haupt.</p> + +<p>Und nun, nun ist der grausame Kampf zu Ende gekämpft. +Aus dem Arm der Geliebten reißt Oberst Max +sich los.</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Bedenket, was Ihr tut. Es ist nicht wohlgetan,<br /></span> +<span class="i0">Zum Führer den Verzweifelten zu wählen.<br /></span> +<span class="i0">Ihr reißt mich weg von meinem Glück, wohlan,<br /></span> +<span class="i0">Der Rachegöttin weih' ich Eure Seelen!<br /></span> +<span class="i0">Ihr habt gewählt zum eigenen Verderben,<br /></span> +<span class="i0">Wer mit mir geht, der sei bereit, zu sterben!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Und mit hochgereckten Armen stürzt er sich hinein in +die eisenschäumende Woge. Die brüllt hell auf, schäumt +gischtend empor, schlingt ihn hinunter, reißt ihn von +hinnen. Die Treppe hinauf strudelt der gärende Schwall +— noch einmal taucht der wehende Helmbusch, der silberne +Harnisch auf ... versinkt aufs neue in den gleißenden +Fluten. In den wütenden Jubel der todestrunkenen +Schar gellen die wirbelnden, erzenen Rhythmen des +Reitermarsches ...</p> + +<p>Da unten, da vorn, bricht das verlassene Kind vor des +starren Vaters eisenumschienten Knien zusammen ... es +erfüllt sich das tragische Los des Schönen auf der Erde ... +Das Edle sinkt ... Das Ideal verweht ...</p> + +<p>Vorbei ... vorbei ...</p> + +<p>Während die Gardine niederrauschte, legte der alte +Präsident seine beiden Hände um die Schultern der +jungen Männer zu seiner Rechten und seiner Linken:</p> + +<p>»Kinder ... <em class="gesperrt">jetzt</em> versteh' ich Euch ...!«</p> + +<p class="start-chapA space-above">Am andern Morgen begleitete Hans Thumser seine +Asta im Wagen zum Bayrischen Bahnhof. Das Leipziger +Gastspiel der Meininger war zu Ende — weiter +rollte der Thespiskarren ... Schon übermorgen abend +würde man im Gärtnerplatz-Theater in München mit +»Jungfrau« eröffnen ...</p> + +<p>Auf dem Bock thronte ein riesiger Reisekoffer. Vier +Kisten mit Kostümen waren schon als Eilgut vorausgegangen.</p> + +<p>Drinnen aber im Wagen lachten die zwei und machten +die tollsten Witze. Das Herz war ihnen gar zu voll und +gar zu schwer.</p> + +<p>»Asta ...« sagte Hans mit einem Male im tiefsten +Ernst, »— ich bin ein dummer, grüner Junge ... und ein +Habenichts dazu ... sonst sagte ich zu Dir: Laß uns zusammenbleiben ...«</p> + +<p>»Du Dummerle!« schalt Asta heftig und gab ihm einen +derben Klaps auf die Backe — »Du bist doch wirklich +ein riesengroßes Dummerle! So etwas darf man nicht +einmal denken ... so ein feiner, nobler Junge wie Du ... +und eine ... eine Landstreicherin wie ich ...«</p> + +<p>Aber ihre Lippen zuckten bitter und sehnsüchtig dabei, +und in den Augen schimmerte es verdächtig ...</p> + +<p>»Pfui, Asta! Abscheulich, so von Dir zu sprechen! Von +meiner ... meiner süßen Asta —!«</p> + +<p>»Sag's noch einmal!« bat Asta. »Es klingt so schön ... +und ich werd's ja doch niemals wieder hören ...«</p> + +<p>»Niemals wieder?! So oft Du willst, Süße, so oft Du +willst ... und so oft ... ich ... kann ...«</p> + +<p>»Da hast Du's ja ... Du wirst nicht können, mein +armes Dummerle ... und ich ... ich werde auch nicht +wollen ... Es war so schön ... nun ist's zu Ende ... +und das ist gut so. Für uns beide ... für mich auch ... +Denn wenn's noch länger gedauert hätte ... dann ... +dann wär ich am Ende doch nicht mehr von Dir los gekommen ...«</p> + +<p>»Asta ... Asta ... So viel hast Du für mich +getan ...«</p> + +<p>»Ja siehst Du — da hast Du wieder so recht mein +ganzes Pech: alles, was ich für Dich hab' tun wollen, ist +beim guten Willen geblieben ... Ich hab' Dich glücklich +machen wollen ... und Du bist zur Jucunda gelaufen ... +Ich hab' Dir das Leben retten wollen ... und bin zu spät +gekommen ... Eh wir dazwischen kamen, hattet Ihr +Euch schon vertragen ... So geht mir's immer — —«</p> + +<p>»Asta ... mein Mädchen ... ich ... ich hab' Dich ja +so lieb ... so unsagbar lieb ... ich laß Dich nicht fort ... +ich ... ich brenne durch ... Ich geh' mit nach München ... +Ich frage Euren Herrn Burg, ob er einen Volontär +brauchen kann ... Ich sollte meinen, zu einem Komödianten +müßt' es doch auch bei mir reichen ...«</p> + +<p>Asta tupfte die Augen mit ihrem Spitzentüchelchen, +und die zuckenden Mundwinkel lachten schon wieder ihr +lieblichstes Spitzbubenlachen.</p> + +<p>»Ne, Hanserl — das glückt Dir nicht ... Das können +wir vor Deinen Herren Eltern nicht verantworten! Bleib +Du, was Du bist ... ein Jurist ... oder ... werd' einmal +ein Dichter, wenn Du kannst ... ich glaube, Du +kannst — — und dann, in zehn oder zwanzig Jahren +schreibst Du einmal ein Stück, das über alle Bühnen geht +— mit einer wunderhübschen Rolle für die komische Alte +darin ... Und wenn Du dann auf Reisen zufällig einmal +nach Krotoschin oder nach Stallupönen kommst und siehst +an irgendeiner Bauernkneipe oder Scheune den Theaterzettel +einer Schmiere kleben, die Dein Stück spielt, und +hinter der Rolle der komischen Alten findest Du den Namen +Asta Thöny ... dann setz Dich irgendwo unter das 'verehrliche +Publikum' ... aber ganz, ganz weit hinten ... +daß ich Dich nicht etwa erkenne ... und denk' daran, daß +das alte, häßliche Weiblein da oben einmal in Deinen +Armen gelegen hat ... vor langer, langer Zeit ... als Du +noch jung warst und unberühmt und nichts weiter als ein +Korpsstudent in Leipzig ... Gelt, Hans, Das tust Du —?«</p> + +<p>Hans Thumser konnte nicht sprechen. Er küßte nur +immer wieder die rosige, weiche Hand, die er zwischen +seinen harten, waffengestählten Tatzen eingepreßt hielt, +als wollte er sie zerdrücken.</p> + +<p>Der Wagen hielt vor dem Abfahrtportal des Bayrischen +Bahnhofs. Es war zehn Uhr morgens. In grellem +Weiß standen die beschneiten Dächer gegen das satte Himmelsblau, +das gleißende Sonnenlicht.</p> + +<p>Auf dem Bahnsteig hielt bereits der Münchener +Schnellzug. Für das Ensemble der Meininger waren auf +Bestellung ein paar Extrawagen angehängt worden. Im +Kassenflur, unter der Halle, wimmelte es von glattrasierten +Männergesichtern, von lebhaften mit betonter Eleganz +gekleideten Frauen. Riesige Koffermassen wurden in die +Gepäckwagen verstaut ...</p> + +<p>Daß Asta Thöny sich auf dem Bahnhof in Begleitung +eines grünbemützten Studenten einfand, erregte keinerlei +besondere Sensation unter ihren Kollegen und Kolleginnen. +Derartiges war man von ihr gewohnt. Sonst +war's meist eine Uniform ...</p> + +<p>Die große Jucunda schritt mit spöttischem Naserümpfen +an dem Paare vorüber, einen ungeheuren Strauß der +wunderbarsten Rosen in der Hand, den ihr soeben ein +prinzlicher Lakai überbracht hatte. Ja ... den Rosenstrauß +hatte sie wohl ... aber keinen herzlieben Jungen +zur Seite, der bei ihr hatte bleiben wollen bis zum letzten +Augenblick ... Nur ihre Eltern gaben ihr das Geleit, +Mutter Doris aufgedonnert im unglaublichsten Staat — +Vater Kanzleirat im abgeschabten Winterpaletot und zerbürsteten +Zylinder, ein armseliger, hüstelnder Schatten +neben den beiden mächtigen Frauengestalten.</p> + +<p>Die übrigen Kollegen gingen mit diskret abgewandten +Gesichtern an Asta und ihrem schmucken Begleiter vorüber.</p> + +<p>Nur Franz Burg trat grüßend heran:</p> + +<p>»Guten Morgen, Kleine ... Na — ist das Ihr +Dichter?«</p> + +<p>»Ja, liebster Freund — das ist er ...«</p> + +<p>Burg lüftete lächelnd seinen Hut, nannte seinen +Namen, streckte dem Studenten die Hand hin:</p> + +<p>»Nun, ich sehe, Sie sind noch sehr lebendig ... Höchst +erfreulich das.«</p> + +<p>Mit korrekt eingewinkeltem Arm schlug Hans Thumser +ein in Franz Burgs Händedruck und zog höchst offiziell +die Mütze.</p> + +<p>»Hm,« machte der Oberregisseur und musterte ungeniert +das feierlich zurechtgefaltete Jugendgesicht — »vorläufig +ist noch nicht viel zu lesen auf der Physiognomie +da ... aber wer weiß ... vielleicht stehen wir uns noch +einmal an anderer Stelle gegenüber, und Sie legen mir +ehrfurchtdurchfröstelt das Manuskript Ihres ersten Dramas +in die Hand ... wer weiß! Dann wollen wir uns dieses +Augenblicks erinnern ...«</p> + +<p>»Und ich werde mich Ihres 'Wallenstein' erinnern, +Meister — — einstweilen lassen Sie mich Ihnen dafür +danken ...« sagte der Student ... und Franz Burg sah +auf einmal mit Staunen, wie auf dem jungen Gesicht die +feierlich korrekten Falten sich auflösten, wie aus den dunklen +Augen eine heiße Flamme sehnsüchtiger Leidenschaft schlug. +Da leuchtete auch sein Blick dem jungen Gesellen freundlich +und ermunternd ins Gesicht.</p> + +<p>»Also — auf dereinstiges Wiedersehen, junger +Freund —! Jetzt aber sollt Ihr zwei die paar letzten +Augenblicke noch füreinander haben, Kinder ...«</p> + +<p>Die paar letzten Augenblicke — —</p> + +<p>Hans Thumser und Asta Thöny senkten die Häupter +und die Blicke ... Hoben sie dann und ließen die Augen +lange, lange ineinander ruhen ... Dabei schwiegen die +Lippen, Unsagbares quoll auf in ihren Herzen.</p> + +<p>»Bitte Platz nehmen!« schnarrten da die Stimmen der +Schaffner.</p> + +<p>Da warf Asta die Arme um Hans Thumsers Nacken. +Es kümmerte sie nicht, daß die Kollegen vom Fenster aus +mit Grinsen und halblautem Scherz den Abschied beobachteten +...</p> + +<p>»Leb wohl ... mein Hanserl ... auf ewig ... leb +wohl ...«</p> + +<p>»Nein ... nicht auf ewig ... das ist ja unmöglich ... +das ertrag ich ja nicht —«</p> + +<p>»Ach, Hanserl — wie gut Du das ertragen wirst ... +aber Du ... von Zeit zu Zeit einmal an mich denken ... +gelt? an ... Dein ... erstes Glück ... gelt, Hanserl?!«</p> + +<p>Aus der finstern Halle polterte der Zug in die sonnige +Morgenhelle hinaus. Grell im Sonnenlichte leuchtete der +weiße Rauchschwaden, den der enteilende Schlot der Maschine +hinter sich herzog. Und ein großes Abschiedwinken +ging aus den Fenstern des Zuges, ging auf dem Bahnsteig, +wo in ganzen Rudeln die Freunde und Verehrer +standen, welche die scheidende Künstlerschar bis zum letzten +Augenblick begleitet hatten ...</p> + +<p>Ein Tüchlein aber wehte länger als alle andern ... +und Hans Thumser blickte ihm nach, winkte ihm nach, bis +alles vorbei war.</p> + +<p>Dann wandte er sich rasch und schritt gesenkten Hauptes +aus der Halle. Einen Korpsstudenten in Couleur sollte +niemand weinen sehen.</p> +</div> + +<div class="reference"> +<p class="center">Von <em class="gesperrt">Walter Bloem</em> sind früher +erschienen:</p> + +<p class="tit2">Sonnenland</p> + +<p>Eine Fahrt in die Schönheitswelt Griechenlands, +in die Märchenstädte des Orients an +Bord eines schmucken Lloyd-Schiffes, auf dem +der Zufall eine bunte Reisegesellschaft zusammenwürfelt. +Ein munterer Kreis meist +humoristisch gesehener Gestalten und im +Hintergrund ein leuchtender Reigen von +Kultur- und Landschaftsbildern aus den gesegneten +Zonen des sonnigen Südens.</p> + +<p class="center">Preis 1 Mark</p> + +<p class="tb">*</p> + +<p class="tit2">Das lockende Spiel</p> + +<p>Ein Buch vom Theater, von seiner berauschenden +Magie, die keinen aus ihrem Zauberkreis +entläßt, der ihr einmal verfiel. Wer es +einmal gespielt hat das »lockende Spiel«, er +kann es nimmer lassen. Eine neue Theatergründung +in Berlin wird zum Mittelpunkt +für ein fröhliches Ringen um die Palme +des Bühnendichters, Schauspielers, Regisseurs. +In diesen Kampf verkettet sich ein zweites +»lockendes Spiel«, das Spiel und Gegenspiel +der Liebe bei zwei jungen Menschenpaaren.</p> + +<p class="center">Preis 1 Mark</p> + +<p class="center">Verlag Ullstein & Co / Berlin-Wien</p> +</div> + +<div class="figcenter" style="width: 100px;"> +<img src="images/signet.png" width="100" height="200" title="Ullstein & Co Berlin SW 68" alt="Ullstein & Co Berlin SW 68" /> +</div> +<div class="transnote covernote"> +<p> +The cover image was created by the transcriber and is placed in the public domain. +</p> +</div> + +<div class="transnote"> +<p class="tn-header">Anmerkungen zur Transkription</p> +<p> +Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originaltextes wurden übernommen, +nur offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. +</p> +<p> + Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt, fremdsprachliche Passagen, + die im Original in Antiqua gesetzt sind, sind <i>kursiv</i> dargestellt, + für Abkürzungen, wie C. C. und Regentenzahlen wie XIV wurde dies + nicht gemacht. +</p> +</div> + + + + + + + + +<pre> + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Komödiantinnen, by Walter Bloem + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KOMÖDIANTINNEN *** + +***** This file should be named 44647-h.htm or 44647-h.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/4/4/6/4/44647/ + +Produced by Tor Martin Kristiansen, Jan-Fabian Humann, +Norbert Müller and the Online Distributed Proofreading +Team at http://www.pgdp.net + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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It exists +because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from +people in all walks of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the +assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's +goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will +remain freely available for generations to come. In 2001, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure +and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. +To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation +and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 +and the Foundation web page at http://www.pglaf.org. + + +Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive +Foundation + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit +501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the +state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal +Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification +number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at +http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent +permitted by U.S. federal laws and your state's laws. + +The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. +Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered +throughout numerous locations. Its business office is located at +809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email +business@pglaf.org. 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