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+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44647 ***
+
+ Komödiantinnen
+
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+
+ Ullstein-Bücher
+
+ Eine Sammlung
+ zeitgenössischer Romane
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+ [Illustration Verlagslogo]
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+ Ullstein & Co / Berlin und Wien
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+ Komödiantinnen
+
+ Roman von
+ Walter Bloem
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+ [Illustration Verlagslogo]
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+ Ullstein & Co / Berlin und Wien
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+ Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung
+ vorbehalten. -- Copyright 1914 by Ullstein & Co
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+ 1.
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+
+Aus tiefdunklem Jugendschlummer fuhr Hans Thumser mit einem Ruck in die
+Höhe. Teufel auch! das nenn' ich dachsen! Und diese Pestbeule von einem
+Korpsdiener hatte mich doch wecken wollen? Wieviel mag's denn sein? Uhr
+steht natürlich -- Skandal! schon wieder mal das Aufziehen verbummelt!
+Und schon ganz hell! Jeden Augenblick muß der Wagen kommen mit Pilgram,
+dem gestrengen Senior, der so verdammt ungemütlich werden kann ... und
+mit Durchlaucht, dem fürstlichen Konkneipanten eines wohllöblichen
+C. C. der Franconia ... und dann warten lassen?! Herrgottsakra -- rin'
+in die Buchsen --!
+
+Durchs offene Fenster schwamm herbstlicher Frühnebel in das schummrige
+Studentenbudchen. Matt flimmerten an den Wänden die dreifarbenen
+Wappenschilde, die gekreuzten Schläger, die langsam einstaubenden Mützen
+und Bänder -- weit matter noch vom Schreibtisch her die Goldtitel des
+_corpus iuris_, der spärlichen Lehrbücher der Rechtswissenschaft ...
+Und weiß blinkte nun der gertengeschmeidige Körper des jungen Studenten:
+Hals und Nacken wurden mit raschen, scharfen Güssen erfrischt, und dann
+wusch der Jüngling sorgsam das dichte braune Haar mit schäumendem
+Bay-Rum durch, um alle septischen Stoffe zu entfernen und der
+Säuberungsarbeit des Paukarztes vorzuarbeiten ... Denn heute bekam Hans
+Thumser Prügel, das stand in den Sternen geschrieben. Herr Borgmann,
+Neo-Borussiae gewesener Zweiter, Erster _ad interim_ war der S. C.
+Fechter ... gegen den konnte der schlanke Fuchsmajor der Franken nicht
+an. Da galt es nur, sich gegen die unvermeidliche Abfuhr zu wehren,
+solange Faust und Klinge hielten ... Schade, daß es gerade der Borgmann
+sein mußte, der einen unterkriegte -- dieser üble Geselle, den man nicht
+riechen konnte, mit seinem suffisanten Gesicht, seinem fatzkigen
+Lächeln, den frostigen Froschaugen -- dem mal einen Streicher über die
+Ohrfeigenvisage ziehen, von der Temporalis bis ins Kinn -- aber nee,
+nich dran zu denken, er konnte zu viel, der Affe, der miserablichte!
+
+So -- die Toilette wäre beendigt! Noch einen Blick in den Spiegel --
+ade, du große schmale Nase, vielleicht auf Nimmerwiedersehen -- na, und
+auf Stirn und Wange ist ja auch noch eine ganze Menge Platz, zwischen
+den alten Abfuhren aus Heidelberg und denen vom Sommer, und nun statt
+der grünen Mütze für heute den weichen Knockabout auf die Stirn gestülpt
+-- denn in jener Stadt, in der das Reichsgericht saß, die erleuchtete
+Körperschaft, welche die Schlägermensur für einen Zweikampf mit
+tödlichen Waffen im Sinne des Strafgesetzbuches erklärt hatte -- im
+guten biedern Leipzig waren Staatsanwaltschaft und Polizei nach der
+Mahnung jenes schönen Würzburger Studentenverses tätig:
+
+ »Darum auf, ihr Wächter des Gesetzes,
+ Hüter des Studentenpaukgehetzes --
+ Lauscht überall
+ Auf Waffenschall
+ Und seid stets der Mensur
+ Auf der Spur!«
+
+Auch das dreifarbene Band wanderte zusammengerollt in die Tasche -- erst
+draußen im braunen Herbstwalde bei Knauthain würde es sich um die junge
+Brust schlingen dürfen ... und nun hinaus ... das Frühstück mußte man
+sich für heut verkneifen, denn Frau Marie Wehe, genannt Mutter Ach,
+stand um fünf Uhr noch nicht auf aus ihrem keuschen Witwenbette ...
+
+Als Hans Thumser im dunklen Korridor an der Tür zu der Nachbarbude
+vorüberschritt -- der Nachbarbude, die dies Semester zu Mutter Achs
+bittrem Schmerz unvermietet geblieben war -- da stolperte er plötzlich
+über etwas Zierliches, Weiches ... was Teufel -- also doch noch
+Nachbarschaft gekommen --?!
+
+Hans Thumser bückte sich und hob ein Etwas auf, das nur ... ein
+Lackschuh sein konnte ... und zwar ein winziger ... mit knisternder
+Seidenschleife besetzter ... ein feiner, geheimnisvoll irritierender
+Duft entstieg ihm ... Hans Thumser trat mit seinem seltsamen Fund an
+die Mattscheibe der Korridortür, die ein falbes Licht einfallen ließ,
+und betrachtete mit der naiven Andacht seiner unverwöhnten zwanzig Jahre
+das zierliche Wunder. Gott, welch eine Wirrnis von Träumen stieg empor
+aus diesem schmalen Kahn der Sehnsucht ... Mit einem tiefen Seufzer,
+von fröstelnden Schauern überrieselt setzte der Jüngling seine Beute
+sacht und herzklopfend wieder vor die Tür, die nun auf einmal ein Eden
+barg. Ein weißes Viereck schimmerte matt vor dem des Dämmers nun
+gewöhnten Blick, als der Student sich wieder zu seiner ganzen Länge
+aufgerichtet ... in unzähmbarer Neugierde tastete er nach seiner
+Zündholzschachtel und las im zuckenden Flackerlichte die
+lithographischen Schriftzüge:
+
+ Asta Thöny
+ Herzoglich Meiningische Hofschauspielerin
+
+Was ... war das?!
+
+Hans Thumser hatte auf eines jener Dämchen geraten, die sich wohl
+bisweilen im _Quartier latin_ einnisteten, um Jugendglut und
+Monatswechsel der akademischen Bürger zu brandschatzen ... und nun --?!
+
+Eine Künstlerin ... ein Mitglied jener erlauchten Komödiantengilde,
+deren Siegeszug dem staunenden Deutschland, nein der Kulturwelt erst
+erschlossen die ganze Herrlichkeit des klassischen deutschen, des
+klassischen germanischen Dramas --?!
+
+Hans Thumser sah sich in der Heimatstadt, auf einem Platze des zweiten
+Ranges, den er vom Taschengeld abgeknausert, abgebettelt dem gütigen
+Vater, der so schlecht nein sagen konnte -- sah sich sitzen als
+ahnungsvollen Primaner und lauschen -- lauschen in Verzückung und
+Tränen ... schauen voll seliger Gier und ungläubig-gläubigen
+Ueberschwangs in eine Wunderwelt hinein, da alle seine Träume die
+Erfüllung fanden ... und sah sich am andern Tage auf der Schulbank,
+stumm und stumpf bei jeder Frage der Lehrer, gleichgültig gegen ihren
+Zorn und den Spott der Mitschüler, die nicht ahnen konnten, was mit dem
+Primus vorgegangen ... was ihm die flinke Zunge, das unfehlbare
+Gedächtnis lähmte ...
+
+Und nun --?! Eine Meiningerin -- und seine Zimmernachbarin?
+
+Was konnte das bedeuten --?
+
+Etwa dies: daß die Meininger in Leipzig wären -- gastierten drüben im
+Carolatheater --?
+
+Und davon -- davon hatte man nichts erfahren?
+
+Freilich -- unmöglich wär's nicht -- wie man so dahinlebte, das
+Gladiatorendasein des aktiven Korpsstudenten ...
+
+Asta Thöny? Nein -- den Namen Asta Thöny verzeichnete seine Erinnerung
+nicht -- das mußte wohl ein neues Mitglied sein, schlank und ... duftig
+wie die Schuhchen, von denen nun, im wachsenden Tageslicht, ein paar
+Lichtpünktchen aufgleißten aus dem Dämmer des Korridors ...
+
+Aber ein anderer Name stieg nun auf, ein weißleuchtendes Mädchenbild
+tauchte glorienumstrahlt aus der Tiefe seiner Visionen: Jucunda Buchner,
+die kaum Sechzehnjährige, die Thekla der Meininger ...
+
+Sie sah er, im dritten Akt der »Piccolomini«, einsam im finstern
+Schloßgemach, mit der Laute hineingeschmiegt in einen faltenstarren
+rotsamtenen Vorhang, scharf abgehoben die weiße Gestalt vom riesigen
+Fenster, durch dessen hundert kreisrunde Scheiben die sternlose Nacht
+hineinglotzte ... und wie ein Kind im Finstern singt, die
+Herzensbangigkeit zu betäuben, so verloren, so verlassen, so
+angstumschauert hatte das junge Weib seine schmachtende Weise vor sich
+hingelallt:
+
+ Der Eichwald brauset, die Wolken ziehn --
+ Das Mägdlein wandelt an Ufers Grün --
+ Das Auge von Weinen getrübet ...
+
+ Du Heilige, rufe Dein Kind zurück --
+ Ich habe genossen das irdische Glück --
+ Ich habe gelebt und geliebet ...
+
+O Erinnerung ... o Ahnung ... o Kunst, du mächtige Weckerin, Vorschule
+des Lebens, Tummelplatz der werdenden, in Werdeschauern erzitternden
+Seele --!
+
+Gelebt und geliebet ... und du, junges Studentlein im finstern Korridor
+-- aus dessen Dunkel die weißen Lichtpünktchen glitzern von Asta Thönys
+Lackschuhchen -- --?!
+
+Hans Thumser schrak zusammen. Ihm war's, als hätte er aus weiter Ferne,
+ungeduldig, seinen Namen rufen gehört ...
+
+Und richtig:
+
+»Thumser! Thumser! Zum Donnerwetter, wenn Du jetzt nicht kommst, fahren
+wir ohne Dich!«
+
+Ach so ... ach ja ... die Stunde, die heischende ... die Stunde des
+Burschenkampfes ...
+
+Hans Thumser fuhr auf, reckte sich -- kein Abschiedsblick mehr zurück zu
+den Lichtpünktchen drunten, dem weißen Kärtchen an der Pforte des
+Geheimnisses -- fort -- hinaus --!
+
+Er flog die krachenden Stiegen hinunter, der mächtige Haustürschlüssel
+knarrte im Schloß -- und draußen auf der morgenstillen, morgenleeren
+Sophienstraße empfing ihn ein Durcheinander von Begrüßung und Vorwurf --
+
+»Na, Du Schlafratze -- endlich ausgepennt?« zürnte der Senior vom
+Rücksitz aus. Und:
+
+»Hatten schon alle Hoffnung aufgegeben, Sie noch unter den Lebenden
+begrüßen zu dürfen!« schnarrte der Major von Gorczynski, dessen kantige
+Reiterfigur sich noch immer nicht in das elegante Zivil des
+Prinzenbegleiters eingewöhnen mochte.
+
+Erbprinz Heribert aber, der durchlauchtigste Konkneipant der Franken,
+zog nur stumm und mit indignierter Miene den steifen grauen Filzhut.
+Also man ließ warten! na ja, an einer deutschen Hochschule funktioniert
+der Betrieb nun einmal nicht wie am herzoglichen Hofe zu
+Nassau-Dillingen ... man mußte Nachsicht üben ...
+
+Mit einem Ruck saß Hans Thumser neben seinem Korpsbruder auf dem
+Rücksitz, dem Prinzen gegenüber, der ihn durch sein Monokel mit
+kühl-durchdringendem Blick niederzuschmettern suchte, was ihm freilich
+nicht gelang.
+
+»Also wenn Durchlaucht gestatten, fahren wir ab!« sagte Valentin Pilgram
+mit korrektem Gesicht. Er war auch nicht sehr erbaut von der Ehre, einen
+prinzlichen Mitkneipanten im Korps durch das Semester schleppen zu
+müssen, zumal einen solchen faden Burschen, der nicht warm wurde unter
+den Kommilitonen, deren Mütze er wie zum Maskenscherz die wenigen Male
+aufsetzte, wenn er gelangweilt und verständnislos an den offiziellen
+Veranstaltungen des Korps teilnahm ... indessen das gehörte nun einmal
+dazu ...
+
+»Also los, Kutscher und lassen Sie gefälligst die Gäule loofen, sonst
+fällt der erschte Hieb, ehe wir draußen sind!«
+
+»I herrjemerschnee, Herr Pilgram, das kann Sie ja gar nich passier'n --
+de Allererschten wär'n mer sein am Platze, da genn' Se sich drauf
+verlass'n!« ...
+
+Als der Wagen anzog, fiel der Blick der Abfahrenden auf eine lange
+Kolonne riesiger Möbeltransportwagen -- drüben waren sie aufgefahren vor
+der nüchternen Häuserfront, deren Erdgeschoß die Einfahrt zum
+Carolatheater durchstieß. Das Theater selber lag verborgen und
+schmucklos dahinter im Hofe. Um die Wagen aber sammelte sich eine Rotte
+herkulischer Blusenmänner und begann sie zu entladen. Was kam da alles
+zum Vorschein!
+
+Das erste, was das Auge der Wageninsassen entdeckte, war der riesige
+Körper eines schwarzen Pferdes, in liegender Stellung, in der Stellung
+des Todes ausgestopft ... Unter derben Späßen hoben die untersetzten
+Arbeiter die Bestie aus dem Finstern des Wagens und trugen sie in die
+Dämmerung des Flurs. Und im schnellen Davonfliegen des Wagens erfaßte
+der Blick der Enteilenden noch ein Chaos von Gegenständen, die bereits
+ausgepackt an den Hauswänden lehnten: ein ganzes Arsenal eiserner
+Rüstungen, Schwerter, Hellebarden, Federhelme ... und noch allerhand
+Dinge, seltsam durch ihre Lage und Zusammenstellung: einen prunkvollen
+gotischen Altar, einen mächtigen Eichbaumstumpf, dessen papierene
+Blätter im Herbstmorgenhauche gespenstisch raschelten -- und endlich ein
+kolossales Renaissance-Büfett, das Hans Thumser auf den ersten Blick
+wiedererkannte: es hatte im Bankettsaal des Grafen Terzky gestanden, der
+Zecherrausch der Friedländischen Generale hatte es umbrandet -- damals,
+im Barmer Stadttheater, als Hans Thumser in Fieberschauern den
+»Wallenstein« erlebte ...
+
+»Die reine Trödelbude --« sagte Valentin Pilgram, der Senior, und zog
+die Winkel des schmalen Mundes verächtlich herab. »Ooch 'n Geschäft,
+sich Abend für Abend die Visage zu beschmieren, sich vor so'ne Lappen
+hinzustellen und mit Armen und Beinen zu fuchteln ...«
+
+Die blassen, matten Züge des Erbprinzen hatten sich plötzlich belebt.
+»Sie vergessen, lieber Pilgram, daß diese Fuchtelei mit Armen und Beinen
+doch manchmal ganz niedlich anzusehen ist ... namentlich wenn diese Arme
+und Beine -- halten Sie sich mal die Ohren zu, Herr Major! -- na also,
+wenn sie schlank, jung und ... _feminini generi_ sind ...«
+
+»-- _gener=is=_, Durchlaucht!« erlaubte sich der Erzieher zu bemerken.
+
+»Echauffieren Sie sich nicht, lieber Major -- als Sprachlehrer sind Sie
+nicht engagiert -- Sie haben nur für meine Moral zu sorgen -- wenn's
+auch schwer fällt ... aber nun sagen Sie mal, Sie Alleswisser -- was
+bedeutet denn dieser Apparat da vor dem ollen muffigen Carolatheater?«
+
+»Die Meininger, Durchlaucht, beginnen in fünf Tagen ein vierwöchiges
+Gastspiel in Leipzig,« sagte der Major.
+
+»Und das haben Sie mir bis jetzt unterschlagen, Sie Cerberus?«
+
+»Ich habe nicht gewußt, daß Durchlaucht sich auch für =ernste= Kunst
+interessieren ...«
+
+»Ah bah -- Theater ist Theater ... und wo kann der Thronfolger eines --
+na sagen wir mal eines Staates von mäßigem Umfang -- wo kann ich mich
+besser auf meinen künftigen Beruf vorbereiten als im Theater? Mein
+Hoftheater, das ist doch der einzige Platz, wo ich später ...
+gewissermaßen ... wirklich mal was zu sagen haben werde ...«
+
+»Durchlaucht ... ich darf wohl bitten ...« warf der Major ein.
+
+»Na, jedenfalls ist das meine Auffassung!« lachte der Erbprinz, »--
+können Sie meinetwillen nach Dillingen berichten! Und das bitte ich mir
+aus, Herr Major: bei den Meiningern belegen Sie heut abend sofort die
+vorderste Proszeniumloge! Ich sehe mir die ... Kunst ... gern aus der
+nächsten Nähe an! Lieber Pilgram -- zur Eröffnungsvorstellung sind Sie
+mein Gast, nicht wahr?«
+
+»Sehr gütig, Durchlaucht ...« sagte Valentin Pilgram und sann nach.
+»Das wäre, soviel ich weiß, am nächsten Mittwoch ... da haben wir
+allerdings offizielle Kneipe, und ich als Erster Chargierter dürfte
+eigentlich nicht ... und dann ... habe ich auch nicht allzuviel fürs
+Theater übrig ...«
+
+»Philister Sie! Na und Sie, Herr Thumser -- wie wär's mit Ihnen?«
+
+Hans Thumser wurde glühendrot ... halb in Glück, halb in Befangenheit
+... er hatte sich bereits schmerzlich bewegt ausgerechnet, daß es gegen
+Ende des Monats gehe, und sein Wechsel ihm einen Besuch der Meininger
+wohl schwerlich vor dem ersten November gestatten würde ... also das
+fiel ja geradezu vom Himmel ... andererseits ... mit diesem blasierten,
+schwunglosen Menschen zusammen -- wie würde er's ertragen, in seine
+Andacht hinein solche Reden vernehmen, gar ihnen ehrerbietig lauschen zu
+müssen?
+
+Dennoch ... besser als gar nichts ...
+
+»Ich nehme mit Freuden an, Durchlaucht ...«
+
+»Also abgemacht! Was gibt's denn, Herr Major?«
+
+»Jungfrau von Orleans ...«
+
+»Ausgerechnet --!« schnarrte der Prinz -- »Schiller --! Gymnasium in
+Wiesbaden -- verfluchten Angedenkens! Schiller! Was ist Schiller? Eine
+Serie von Aufsatzthemen --!!«
+
+»Stimmt!« rief Pilgram. »Keine zehn Pferde ziehen mich ins Theater, wenn
+Schiller gespielt wird! 'Die tragische Schuld der Maria Stuart' --
+'Wallenstein, ein tragischer Charakter' -- 'Die poetische Gerechtigkeit
+in der Braut von Messina' -- pfui Deuwel! um junge Hunde zu kriegen --!«
+
+Wie bin ich unter diese Menschen geraten? dachte Hans Thumser. Warum
+trage ich die gleiche Mütze und die gleichen Farben wie sie? Kein Takt
+des Herzschlags, kein Gefühl, kein Wort ist mir mit ihnen gemeinsam ...
+
+Und derweil rollte der Wagen seitwärts durch die nüchternen,
+morgenleeren, hallenden Straßen der Südstadt, dem fernen Kampfplatz
+entgegen, wo Hans wieder einmal seine Zusammengehörigkeit mit seinen
+Korpsbrüdern, seine Zugehörigkeit zum Frankenbunde mit seinem Herzblut
+besiegeln sollte ...
+
+»Vergessen Sie nicht, Durchlaucht, daß Jucunda Buchner die Jungfrau
+spielt ...«
+
+»Jucunda Buchner? Ist -- wer?«
+
+»Nun, der jugendliche Stern der Meininger -- einfach Sehenswürdigkeit --
+gewissermaßen das deutsche Mädchen in Reinkultur --«
+
+»Schön -- also abgemacht!« sagte der Erbprinz. »Aber halten Sie mich
+fest, lieber Major, sonst mach' ich Dummheiten...«
+
+»Buchner?« sagte der Senior, »hm -- da fällt mir was ein. Mein Hauswirt,
+der Kanzleirat Buchner, der hat ja, soviel ich weiß, irgendwo 'ne
+Tochter beim Theater ... das wäre doch ulkig ... soviel ich weiß, wurde
+ihre Ankunft erwartet ... und ich mein' auch, daß sie in Leipzig spielen
+sollte, hätte die Alte erzählt -- ich hab' aber nicht recht hingehört --
+was geht mich das Theater an ...«
+
+»Herrgott, Mensch -- das Theater!« platzte Thumser heraus. -- »Hier
+handelt sich's doch um die Meininger! Hast Du davon überhaupt eine
+Ahnung, was dieses -- dieses Theater bedeutet? Die Entdeckung der
+Klassiker, ihre Eroberung für die Bühne unserer Zeit, die Entbindung all
+der tausend köstlichen Sinnlichkeiten, die im Drama unserer Großen
+schlummern -- bist Du denn solch ein Barbar, solch ein Banause, daß Du
+von all dem nichts weißt -- daß all das für Dich nicht existiert?«
+
+»Na, entschuldige schon, daß ich existiere!« schnarrte der Erste. »Ne
+wirklich, teures Thumserherz, das alles ist mir schnuppe, schnupper, am
+schnuppesten! Ich halt's mit meinem Vater, der nie in seinem Leben ins
+Theater gegangen ist und doch Senatspräsident am Oberlandesgericht in
+Dresden geworden ist, und jedenfalls noch ein Endchen weiter kommen wird
+im Leben, eh er Schluß macht! Kunst ist Spielzeug für charakterlose
+Müßiggänger -- unsere Zeit aber braucht Arbeiter, Charaktere -- Männer,
+verstehste?!«
+
+»Bumm, bumm, bumm! Tusch!« sagte der Prinz. »Sie sind zum
+Landtagsabgeordneten qualifiziert, lieber Pilgram ...«
+
+»Verzeihung, Durchlaucht, es muß auch -- Landtagsabgeordnete geben! Ne,
+lieber Thumser, lauf Du nur immer ins Theater und laß Dir -- wie hast Du
+so schön gesagt? -- laß Dir Deine tausend köstlichen Sinnlichkeiten
+entbinden -- mein Bedarf ist mit Fechtboden, Kneipe und Windscheids
+Drogenweltkolleg vollkommen gedeckt!«
+
+»Und so was hat nun das Glück, mit Jucunda Buchner unter einem Dache zu
+wohnen ...« seufzte Erbprinz Heribert.
+
+»Das weiß ich noch nicht, das ist nur eine Vermutung von mir,
+Durchlaucht ... Uebrigens ist die Sache wirklich ohne Interesse für
+mich. Mit einer Komödiantin möcht' ich noch nicht mal eine Poussage
+haben ... man kann ja doch nie wissen, ob sie einem nicht was vormimt
+und einen innerlich auslacht ...«
+
+»Na, teurer Pilgram, nu sei'n Se aber friedlich!« schmunzelte der
+Erbprinz. »Davon versteh'n Sie nu wirklich nischt -- det haben Sie noch
+nich gehabt!«
+
+»Sie doch auch nicht, wie ich hoffe, Durchlaucht!« sagte der Major
+und blinzelte seinem jungen Herrn unter grimmig zusammengezogenen
+Brauen verschmitzt zu. Und Erzieher und Zögling wechselten ein
+Augurnlächeln ...
+
+Der Wagen rollte. Niederer wurden die Häuser, die beiderseits die
+Connewitzer Landstraße umsäumten. Und bald wurde die Bebauung offener,
+ländlicher. Dann bog die Fahrt nach rechts, und in die braunen
+Schattenhaine des Streitholzes ging's hinein, die Pleiße wurde
+überschritten auf knarrender Holzbrücke, unter der sich die gelben
+Fluten träge hinwälzten, noch angeschwollen von den ersten Herbstregen,
+welche die vergangene Woche gebracht. Aber heut rang sich aus
+Nebelbrodem die verschlafene Morgensonne mühsam durch, umgoldete das
+rötliche Buchenlaub zu Häupten der Dahinrollenden, verhieß einen lustig
+blanken Fechtertag, den letzten unter freiem Himmel für dies Jahr: der
+nächste würde schon im benachbarten Halle, richtiger im Vorort
+Cröllwitz, steigen müssen, an der murmelnden Saale, gegenüber den
+reckenhaften Trümmern des Giebichenstein.
+
+Allmählich wandte sich das Gespräch von dem strittigen Thema des
+Theaters zum minder kontroversenreichen des nahen Bestimmtages hinüber.
+Daß der Fuchsmajor der Franken heute seine todsichern Senge bekommen
+würde, galt als ausgemachte Sache, über die niemand Worte zu verlieren
+brauchte. Es fragte sich bloß, ob Hans Thumser auf seine notorische
+vielgeprüfte Quartblöße oder auf Borgmanns allgefürchteten Durchzieher
+abgestochen werden würde -- von dem Valentin Pilgrim, der Senior, im
+Gesicht bereits ein stattliches Exemplar trug, welches Ohrläppchen und
+Mundwinkel mit einem linealgraden breiten Strich verband ...
+
+Aber während man also über Hans Thumsers nächste Zukunft verhandelte,
+das Schicksal seiner linken Gesichtshälfte sachverständig abtaxierte
+-- -- war Hans Thumsers Inneres auf geheimnisvolle Weise in
+Gleichgültigkeit und Fernsein untergetaucht.
+
+Jungfrau von Orleans ... sang es in seinem Herzen ... Jucunda Buchner
+... das war wie eine leuchtende, gnadenvolle Nähe, wie ein offener
+Himmel, aus dem eine lichte Madonna sich neigt, gegenwärtig und doch
+unnahbar, bekannt und doch undurchdringlich ...
+
+Und zwischen die Choralmelodien, die Harfenarpeggien, welche das
+Heiligenbild umschauerten, kicherte und schwirrte es hinein wie
+Flötentriller, wie kecke Geigenpizzicati:
+
+Asta Thöny ... Asta Thöny ...
+
+Und ein paar neckische, blinkende Lackschuhchen tanzten auf und nieder,
+aus denen zwei schlanke, seidenbestrumpfte Knöchel guckten -- was
+darüber war, verschwand in rosigen Schleiern, aus denen es lachte und
+girrte wie Taubengurren:
+
+Asta Thöny ... Asta Thöny ...
+
+Ernsthaft und aufrecht saß Valentin Pilgram, der gestrenge Senior des
+Korps Franconia. Als läge die Regierungslast eines Millionenstaates auf
+seinen Schultern, so pflichtdurchdrungen, so würdeumbauscht saß er und
+übersann das Programm des Tages ... Ob Heinz Hartwig, das muntre,
+taprige, ewig korkende Füchslein, wohl heute endlich eine einwandfreie
+Mensur liefern würde und daraufhin ins engere Korps rezipiert werden
+könnte? Und Ivo Volkner, der leichtblütige Rheinländer aus Düsseldorf,
+dessen letzte Mensur auch keineswegs tadelsfrei gewesen war -- ob er
+wohl sein unstätes Musikantentemperament heute so weit im Zaume halten
+würde, um sich herausreißen zu können?
+
+Und was sollte der C. C. auf den merkwürdig schnoddrigen Brief unseres
+lieben Kartellkorps Pomerania zu Göttingen antworten? Ob es nicht doch
+besser war, das alte Kartellverhältnis zu lösen und ein
+frisch-fröhliches P. P. zu fechten?! Aber was würden die gemeinsamen
+Alten Herren sagen?
+
+Und ob man den Rektor zur C. C.-Antrittskneipe einladen mußte --
+anläßlich der hohen Ehre, daß ein richtiggehender Prinz und Thronfolger
+zu den Konkneipanten des Korps zählte?
+
+Ja, man hatte schon seine Sorgen ... Der Reichskanzler war am Ende auch
+nicht viel schlimmer dran als der Erste Franconiae-Leipzig ...
+
+Der Erbprinz aber träumte von einer fernen Zukunft ... noch war der alte
+Herr ja ... hm, hm! -- erheblich rüstig ... und seine Altersgenossen,
+die Leutnants des Sophien-Regiments, hatten ihm gelegentlich in später
+Stunde, wenn der Sekt die Zungen gelöst, das Gefühl der Distanz ein
+wenig gemildert hatte -- na ja, dann hatten sie ihm gelegentlich etwas
+gesteckt von all dem Gemunkel, das in der Residenzstadt umlief über die
+zarten Beziehungen des hohen Herrn zu der weiblichen Elite des
+Hoftheaters ...
+
+Er, Heribert Hans Herwig, würde sich das erlauchte Vorbild seines
+gnädigsten Vaters zum Muster nehmen, wenn er einmal als Heribert XIV.
+das Thrönchen seiner Väter bestiegen haben würde.
+
+Inzwischen hielt man sich studienhalber in Leipzig auf und würde auch da
+auf seine Rechnung zu kommen wissen ...
+
+Jucunda Buchner ... das klang recht verheißungsvoll ... und Jungfrau von
+Orleans ... Himmel, es gibt allerhand Arten von Jungfrauen ...
+
+Nun war man »draußen«. Mitten im tiefschattigen Buchenwald ein
+wuchtender Eichbaum, sonst von tiefem Dämmerfrieden umwirkt, heut
+umbraust von einem bunten, farbentollen Leben. Die wilden
+Völkerschaften, die inmitten moderner Gesittung ein mittelalterliches
+Reckendasein führten bei Waffenklirren, rauhem Sang und schäumenden
+Kannen, die Franken und die Neo-Borussen, die Westfalen und Meißner und
+Thüringer, hier hatten sie sich Stelldichein gegeben zur
+allwöchentlichen feierlichen Rauferei. Und diesmal, als am ersten
+Bestimmtage des Semesters, war alles in besonders gehobener Stimmung.
+Die alten Bekannten in den verschiedenen Korps begrüßten sich hinüber
+und herüber, mit besonderer Herzlichkeit jene, die bereits einmal oder
+gar mehrmals die Klinge gekreuzt hatten -- wesentlich zeremonieller
+schon jene, denen heute der blutige Gang bevorstand. Alles war in Wagen
+gekommen, die nun als langer Park auf der Chaussee aufgefahren waren,
+stets bereit, mit den Paukanten in Windesschnelle davonzusausen, wenn
+die weithin aufgestellten Schnarrposten die Annäherung von Pickelhauben
+und grünen Waffenröcken melden sollten. Alles war im »Bummel« gekommen,
+das heißt im Hut, die Couleur in der Tasche; nun wurden schleunigst
+Mützen und Bänder angelegt: gar lustig flimmerten auf dem bunten Tuch,
+der dreifarben-gestreiften Seide, die Sonnentupfen, die durchs braune
+Laubdach sich niederringelten. Und bald stand das erste Paar bereit:
+Pilgram, Franconiae Erster, gegen den stämmigen Zweitchargierten der
+Meißner.
+
+Und nun -- heiho! Gellende Kommandorufe hinein in die lauschende Stille,
+widerhallend an den schlanken, weißleuchtenden Buchenstämmen ... und
+nun: klirr, klirr der helle Klang, wenn Eisen scharf auf Eisen traf, im
+Wechsel mit dem dumpfen Knall der flachen Hiebe, die über Stulp und
+Schädel krachten -- heiho! uralte Reckenlust am tollen Raufen, am harten
+Widereinander der jugendlichen Kräfte ...
+
+Jähes Halt der Sekundanten, Pause, Blut rinnend hüben über die schmalen,
+herrischen Züge des Frankenseniors, drüben über die feisten Speckbacken
+des Fechtchargierten der Meißner ... und wiederum Kommandos, hageldichte
+Hiebe, Stahl auf Stahl ...
+
+Und dann war's plötzlich aus: der Meißner hatte seine Abfuhr weg, eine
+lange Quart, fast unpariert, überm linken Ohr. Und in die
+blutbeschmierte Bandage mußte nun Hans Thumser hinein.
+
+Schon stand er dem verhaßten Borgmann gegenüber, schon faßten die Gegner
+einander fest ins Auge, schon flogen die Klingen in die Auslage,
+kauerten die Sekundanten wie sprungbereite Katzen zu ihrer Kämpfer
+Seiten -- da entstand eine Bewegung unter der lauschenden Korona. Auf
+dem weichen Waldboden scholl ein dumpfes Klackern wie von Huftritten,
+und auf dem schmalen Pfade, der am Wiesensaum entlang sich zog, flitzten
+zwei Reiter heran -- aber nicht die Grünröcke der Gendarmen --
+Zivilisten waren's, ein Herr und eine Dame. Hans Thumser sah, wie alle
+Köpfe sich wandten -- doch ihm blieb nicht Zeit -- nur einen grauen
+Schleier sah er wehen von einem hohen, schwarzglänzenden Seidenhut; sah
+etwas Lichtes, Klares darunter, hell abgehoben vom dämmernden Waldgrund
+-- und dann --
+
+»Auf die Mensur -- bindet die Klingen!«
+
+»Gebunden sind --!«
+
+»Los!«
+
+Und nun alles Leben in Aug und Handgelenk hinein sich krampfend -- und
+ein Wille nur -- sich wehren -- und treffen! treffen --!!
+
+»Halt!«
+
+»Halt --!!«
+
+Und auch hier schon nach dem ersten Gange helle rote Bäche rinnend über
+weiße Stirnen, zernarbte Wangen ...
+
+Und während der Paukarzt mit dem Wattebausch in Hansens klaffende
+Stirnwunde tupft, vernimmt des Fechters Ohr ganz deutlich aus der Mitte
+der Umstehenden die Worte:
+
+»Das ist die Buchner!«
+
+Und eine andere Stimme fragt:
+
+»Und der Herr -- wer ist das?«
+
+»Das ist Franz Burg -- der Heldenspieler ...«
+
+Inzwischen hat der Paukarzt seine Untersuchung beendigt; er lächelt:
+
+»Weiter!«
+
+»Herr Unparteiischer -- von unserer Seite kann's weitergehen ...«
+
+Aber drüben bei den Neo-Borussen scheint man noch nicht so recht im
+Klaren ... na, wenn Hans Thumser auch schließlich wird dran glauben
+müssen: auch Herr Borgmann hat sein Teil bekommen, scheint's!
+
+Er lugt umher: dort halten sie, die Reiter, unterm Eichbaum und spähen
+neugierig hinüber ... Ja, das glaub' ich, ihr Komödianten -- so etwas
+bekommt ihr nicht alle Tage zu sehen -- hier schwingt man die Waffe
+nicht nur zum Spiel -- und was hier Stirn und Wange färbt, ist
+wirkliches Blut, nicht Schminke ...
+
+Und dies schmale, feine junge Gesichtchen -- das ist ... Thekla -- das
+ist Johanna von Arc?!
+
+Nun werden auch die Neo-Borussen wieder munter:
+
+»Herr Unparteiischer, von unserer Seite kann's weitergehen!«
+
+»_Silentium_ -- Pause _ex_!«
+
+»Auf die Mensur -- bindet die Klingen!«
+
+Jucunda! betet irgend etwas in Hans Thumsers Seele. Er fühlt, wie alle
+Sehnen sich straffen.
+
+»Gebunden sind!«
+
+»Los!«
+
+Und zweimal, dreimal schmettert Hieb auf Hieb -- und:
+
+»Halt!«
+
+»Halt!«
+
+»Herr Unparteiischer, bitte drüben nachzusehen und einen Blutigen zu
+konstatieren!« ruft Valentin Pilgram, Hansens Sekundant, wilden Triumph
+in der Stimme -- sich aufrichtend, zischt er seinem Paukanten ins Ohr:
+
+»Du -- das ist Rest!!«
+
+»Rest? Bei wem? Bei mir?« fragt Hans Thumser ganz verdutzt.
+
+»Ne -- da drüben -- bei Borgmann! Teufel auch, Thumser -- der
+Durchzieher -- so was darfste öfters schlagen!«
+
+Was? Er -- Hans Thumser -- er hätte den S. C. Fechter -- --?
+Donnerwetter!
+
+An des Gegners Stirn klaffte ein breiter roter Spalt, aus dem zwei feine
+warme Strahlen spritzten --
+
+»'raus!« sagt drüben der Paukarzt.
+
+»Herr Unparteiischer, wir erklären die Abfuhr!«
+
+Borgmann stampfte vor Wut mit dem Fuß, als der Paukarzt von hinten mit
+kräftigem Griff seine Stirn zusammenpreßte und ihn herumdrehte. Was
+half's?
+
+»_Silentium_ -- Neo-Borussia erklärt Abfuhr nach anderthalb Minuten!«
+
+Als Hans Thumser sich aus dem Schwall der Glückwünsche seiner
+Korpsbrüder losmachte und Ausschau hielt -- war das Reiterpaar
+verschwunden.
+
+»Gratuliere!« sagte Erbprinz Heribert. »Fabelhaft, lieber Thumser, meine
+vollste Bewunderung! Haben Sie übrigens die Buchner gesehen?! Vollkommen
+tadelloses Mädchen ...«
+
+
+
+
+ 2.
+
+
+Wenn Hans Thumser auf ein Glück wartete, so machte die Ungeduld ihn
+krank, verdarb ihm jede Minute mit zehrender Sehnsucht. So war es schon
+immer gewesen, solange er sich seiner erinnern konnte. Die letzten
+Wochen vor dem Weihnachtsfest, vor dem Beginn der Sommerfrische waren
+ihm stets eine endlose Tortur gewesen ... Und als er später begonnen
+hatte zu empfinden, daß nur die Stunden wahrhaft lebenswert seien, in
+denen er mit einem gewissen braunbezopften Menschenkind unter einem
+Dache weilen durfte ... da war alles, was zwischen diesen Stunden lag,
+nur wie ein unermeßlich langer, böser, dumpfer Traum und Alpdruck
+gewesen ...
+
+Und so bedrückend, so angstumschnürt wälzten sich auch die Tage dahin,
+die Hansens Mensurtriumph noch von der Eröffnungsvorstellung des
+Meininger Gastspiels schieden. Er saß inmitten seiner Korpsbrüder,
+schwatzte und trank mit ihnen wie immer, ließ ihre Lobesbezeigungen mit
+der gleichen Gelassenheit über sich ergehen wie den boshaften Spott der
+Neider, es sei nur ein »Schweinedusel« gewesen, daß er den S. C.
+Fechter hinabgetan habe ... Er ließ auf offizieller Kneipe seine Füchse
+in die Kanne steigen, daß sie quietschten, und schrieb morgens bei
+Windscheid und Binding im Kolleg mit einem ganz ungewohnten,
+krampfhaften Eifer nach, als steure er auf ein Prädikatexamen los -- --
+und all dies Tun blieb seiner Seele so fern, so fern ...
+
+Manchmal fragte er sich, ob er wohl bei ganz gesundem Verstande sei --
+ob es nicht eine fixe Idee, ein krampfhaftes Wahngebilde sei, das ihn so
+grenzenlos hungern ließ nach -- nach einem Nichts, einem Spiel, dem
+flüchtigen Schattenbilde eines Dichtertraums ... Und dann wieder genoß
+er mit einer phantastischen Seligkeit sein Wesen, das ihn vom wachen
+Leben hinweg so unwiderstehlich in luftige Spukwelten drängte ...
+
+Nur die Stunden zählten wenigstens halb, die er am Fenster seiner Bude
+verbrachte, hinüberstarrend zur nüchternen Front jener Gebäude an der
+langweiligen Sophienstraße, hinter denen der kahle Bau des
+Carolatheaters sich barg. Dort war um die Vormittagsstunden ein
+lebhaftes Kommen und Gehen. Früh um neun begannen die Proben, natürlich
+nur für die neuangeworbene Statisterie, denn für die Solo-Rollen
+»standen« selbstverständlich alle Stücke des Repertoires. Aber die
+stattliche Schar des »Volkes«, die in jeder Stadt aufs neue
+zusammengebracht und gedrillt werden mußte, die wimmelte heran, füllte
+die sonst stille Straße mit Lachen und Geschwätz ... braunäugige Töchter
+kleiner Bürgersleute, stellungslose Ladenfräulein und Kommis,
+Stadtreisende und Konservatoristen -- vor allem aber Studenten,
+Studenten von jener Sorte, die der Waffenstudent eigentlich nicht
+mitrechnete, und die trotzdem die weitaus überwiegende Mehrzahl der
+akademischen Bürgerschaft bildete: die »Finken«, auch »Bummler« genannt,
+obwohl sie natürlich weit weniger bummelten als die jungen Herren in
+Mützen und Bändern ... gar zu gerne hätte Hans Thumser sich mit ins
+Gewühl der Statisten gemengt, um als »Volk« oder »Friedländischer
+Soldat« oder als römischer Quirite sich an den großen, festlichen
+Unternehmungen zu beteiligen, die da drüben vorbereitet wurden ... Und
+eines Tages hatte er sich's getraut, vor den Ersten hinzutreten mit der
+Bitte:
+
+»Sag' mal, Pilgram, wie ich höre, wirken eine ganze Menge Studenten in
+den Vorstellungen der Meininger als Statisten mit -- hättest Du was
+dagegen, wenn ich da ebenfalls mittäte?«
+
+Der Erste sah den Fuchsmajor mit einem Blick an, als bäte dieser um
+Erlaubnis, silberne Löffel zu stehlen.
+
+»Hör mal, Du, Dein Kopfschmiß von Sonnabend eitert wohl nach innen,
+he?!«
+
+Also damit war es nichts ... und so mußte man sich denn begnügen, von
+weitem zuzuschauen, wie die glücklicheren Kommilitonen, frei des
+korpsstudentischen Zwanges, nach Schluß der Probe froh erregt, mit
+glühenden Köpfen, lebhaft diskutierend dem Eingangstor des Theaters
+entströmten, um die namenlosen Kneipen aufzusuchen, in denen sie nach
+eigener Wahl und entsprechend der Rücksicht auf die Dimensionen ihres
+Monatswechsels verkehrten. Und inmitten dieser Beneidenswerten kamen
+auch die Helden und Heldinnen aus der Probe -- natürlich mußten ja auch
+sie wenigstens die Massenszenen immer wieder aufs neue mit probieren ...
+
+Und noch ein andres heimliches Fest blühte für Hans Thumser innerhalb
+seiner bescheidenen vier Wände, die glücklicherweise so dünn waren, daß
+sie manch ein Geräusch durchließen von jener geheimnisvoll lockenden
+Welt, die hinter ihnen sich barg: das Klappern zierlicher Pantöffelchen,
+das Rascheln seidener Röcke, keckes Mädchenlachen und halblautes
+Geschwätz, wenn Kolleginnen drüben zum Besuch kamen ... Aber noch immer
+war's ihm nicht geglückt, seine Nachbarin von Angesicht zu Angesicht zu
+sehen.
+
+Inzwischen baute Hans in seinem Herzen ein seltsam Kirchlein auf: droben
+war ein feierliches gotisches Heiligtum, in dem Jucunda Buchners weiße
+Gestalt auf ernstem Altare stand, von Weihrauch und Kerzengeflacker
+umspielt ... darunter aber, tief unter der Erde, barg sich eine dämmrige
+romanische Krypta, in der tolle Orgien verbotener, heidnischer Kulte
+nächtens gefeiert wurden vor einem üppig lächelnden Götzenbild -- seine
+Züge waren nicht genau erkennbar -- verschwammen im hüpfenden
+Fackellicht, das durch den Raum dunstete ...
+
+Aber Hänschen Thumser war nicht der Mann des tatenlosen Zuwartens. Es
+mußte etwas geschehen, die dumpfe Qual dieser sehnsüchtigen Tage zu
+verkürzen. Aber was? Immer wieder mündeten seine Pläne in die
+Erkenntnis, daß man einem jungen verwöhnten Mädchen -- und eine
+Schauspielerin konnte man sich ja doch nicht anders vorstellen als jung
+und verwöhnt, nicht wahr? -- daß man solch einem Liebling der Götter und
+Menschen nur nahen könne mit gebenden Händen ... und seine Hände waren
+leer ... der Monatswechsel heidt -- knapp noch das Nötigste für die
+letzten Tage vorhanden ...
+
+Auf einmal -- welch glorreicher Gedanke! Hänschen Thumser konnte ja
+etwas, das am Ende doch nur die wenigsten unter Asta Thönys Verehrern --
+gewiß hatte sie unzählige -- reiche Bankiersöhne und Gardeleutnants und
+-- na und solche Leute mit unerschöpflichen Portemonnaies -- aber gewiß
+konnten solche Leute meistens eines nicht, oder wenigstens nicht so gut
+wie Hänschen Thumser -- nämlich =dichten=!
+
+Juchhe! Hänschen hat kein Geld, um kunstvolle Blumenarrangements zu
+kaufen -- aber wunderschöne Verse kann er machen! -- Also los! ein Blatt
+aus dem Kollegheft gerissen und gereimt auf Deuwel komm heraus!
+
+ »Ich bin ein junger Korpsstudent,
+ Die Schuhe Lack, der Rock patent --
+ Korrekt und schick an mir ist alles --«
+
+lauter unbestreitbare Wahrheiten! aber nun kommt der Haken.
+
+ »-- im Portemonnaie nur haust der Dalles --«
+
+So -- immer frisch heraus mit dem sauren Bekenntnis, dann weiß Asta auch
+gleich, wie sie mit mir dran ist -- was sie von mir zu erwarten hat --
+und was nicht ...
+
+ »Doch da das Schicksal über Nacht
+ Zu Budennachbarn uns gemacht --«
+
+(Ach du liebes, gnädiges Schicksal du!)
+
+ »-- müßt' ich Dich eigentlich begrüßen,
+ Und Rosen legen Dir zu Füßen --
+ Wie gerne würd' ich mich erdreisten --
+ Doch leider --«
+
+Alle Wetter: das wird ja ein prachtvoller Reim:
+
+ »-- kann ich mir's nicht leisten ...«
+
+Nun ein zweites offenes Bekenntnis:
+
+ »Noch kenn' ich Dich, Du Schelmin, nicht,
+ Sah nicht einmal Dein Angesicht --
+ Nur --«
+
+Gott, bleiben wir doch schon bei der Wahrheit:
+
+ »-- hab' ich morgens früh gesehn
+ Vor Deiner Tür zwei Schuhchen stehn --
+ So winzig, duftig, elegant --«
+
+Hans! du imponierst mir! So viel edle Dreistigkeit hätt' ich dir gar
+nicht zugetraut -- aber freilich: auf dem Papier, und mit einer
+schützenden Scheidewand dazwischen -- -- Aug' in Auge würde das Debüt
+wohl etwas kümmerlicher ausfallen, wie? -- Aber weiter, weiter -- einen
+Reim auf »elegant« -- pah, Spielerei!
+
+ »-- daß gleich mein Herz in Flammen stand --«
+
+-- nein, das ist doch zu billig, zu abgeschabt:
+
+ »Da gab es Funken -- Flammen -- Brand!«
+
+Ja, es ist eine alte Sache: Verse werden immer am besten, wenn man ganz
+geradezu ausspricht, was wirklich passiert ist:
+
+ »Und seitdem träum' ich wahnbetört,
+ Von dem, was da hineingehört --«
+
+Ist das nicht ... doch ... gar zu unverschämt?! Ach was, mehr wie hauen
+kann sie schließlich nicht!
+
+ »Willst Du mir's auf den Nacken setzen,
+ Mir wär's ein sklavisches Ergetzen --«
+
+-- ne, das ist ein falscher Ton -- von der Sorte sind wir doch nicht! --
+
+ »Ach, dürft' ich's einmal -- einmal küssen --
+ Wirst mir's schon noch -- erlauben müssen --
+ O welche süße Phantasie --
+ Und ach -- probiert hab ich's noch nie -- --«
+
+Hans überlas das Geschriebene. Himmel, ist das schnurrig, wenn's auf
+einmal so in einem zu dichten anfängt! Ein ganz andrer Mensch kommt da
+plötzlich zum Vorschein als der, den man so im Leben darstellt ...
+
+Hatte er das wirklich geschrieben, er, der wohlerzogene Beamtensohn, der
+geschniegelte, korrekte Korpsstudent, der künftige Richter des Volkes?!
+
+Ach, und es gefiel ihm so gut -- daß er's ganz hastig und mit fliegenden
+Fingern ins Reine schrieb und kuvertierte ... dann stülpte er die grüne
+Mütze auf, lauschte, ob seine Nachbarin daheim sei ... und da er
+keinerlei Geräusch hörte, klinkte er im Vorbeigehen sachte die Tür zum
+Nebenstübchen auf und sah --
+
+Sah durch den Spalt eine zierliche Mädchengestalt in weißem Unterrock
+und weißem Frisiermantel schlafend aufs Sofa hingestreckt ... ein
+schwarzes Wuschelköpfchen ... und über den Rand des Sofas guckten ein
+paar schwarzbestrumpfte Füße, an denen zierliche rote Halbpantöffelchen
+baumelten ...
+
+Und schon hatte er mit einem Ruck den Briefumschlag mit seinen
+unverschämten Versen mitten in die Stube geschleudert, die Tür mit
+hartem Knall zugeklinkt -- und flog nun die Stufen hinunter -- die grüne
+Mütze war ihm in den Nacken gerutscht, seine Wangen brannten, und
+draußen zog er mit seinem spanischen Rohr einen Durchzieher durch die
+Luft, daß es nur so pfiff.
+
+
+Wie in Hans Thumsers unoffiziellem Herzen, so war auch in Valentin
+Pilgrams korrekter Chargiertenseele Revolution ausgebrochen, und auch
+die um einer Zimmernachbarschaft willen. Aber diese Revolution war doch
+von einer ganz anderen Sorte und gipfelte in der Erklärung, die der
+Senior in energischem Tone an die Frau Kanzleirat Buchner abgab: er
+kündige hiermit seine Bude und werde sofort ein andres Quartier suchen,
+wenn man den ruhestörenden Lärm und groben Unfug da nebenan nicht
+abzustellen die Mittel finden würde ...
+
+Und das war so gekommen:
+
+Valentin Pilgram stand im sechsten Semester. Er war bereits zwei
+Semester in Berlin inaktiv gewesen und nur nach Leipzig zurückgekehrt,
+weil er als Königlich sächsischer Untertan sein Referendarexamen in
+Sachsen ablegen mußte. Er war auf dringendes Bitten des C. C. zu Anfang
+des Semesters noch einmal wieder aktiv geworden und hatte die erste
+Charge interimistisch übernommen, weil kein anderer geeigneter
+Korpsbursch für diesen Posten da war, und der Vertreter des Marburger
+Kartellkorps, der die erste Charge später definitiv bekommen sollte,
+doch erst einmal in Leipzig und im Korps warm werden mußte.
+Interimistisch bekleidete dieser junge Herr die zweite Charge. Und so
+teilte Pilgram mit seiner ganzen feierlichen Gewissenhaftigkeit seine
+Zeit zwischen dem Korps und der Vorbereitung fürs Examen. Und in der
+letzteren war er nun plötzlich und gründlich unterbrochen worden durch
+ein grollendes Getöse, das aus der Nachbarkammer in seinen
+Studienfrieden hinüberklang, aus der Nachbarkammer, in der, wie er
+gelegentlich mit halbem Ohr vernommen hatte, die Tochter seiner
+Hauswirte, die herzoglich meiningische Hofschauspielerin Jucunda
+Buchner, für die Dauer des Gastspiels ihres Ensemble einquartiert
+worden war. Mitten in die Lektüre der Windscheidschen Drogenweltweisheit
+war da plötzlich eine sonore Altstimme hineingeklungen, zunächst in
+sachtem, murmelndem Repetieren, dann aber in selbstvergessen wildem
+Ausbruch:
+
+ »Und =einer= Freude Hochgefühl entbrennet,
+ Und =ein= Gedanke schlägt in jeder Brust --«
+
+Da war der reckenhafte _candidatus iuris_ mit einem Wutknurren
+aufgefahren ... aber umsonst: die sonore Stimme drinnen grollte weiter
+-- sänftigte sich nun zu herzbeklommener Klage:
+
+ »Doch mich, die all dies Herrliche vollendet,
+ Mich rührt es nicht, das allgemeine Glück,
+ Mir ist das Herz verwandelt und gewendet,
+ Es flieht von dieser Festlichkeit zurück ...«
+
+Aber bald schrillte sie wieder auf mit jähem Wehlaut, daß sich vor Wut
+und Entsetzen dem Rechtskandidaten die Gedärme umkehrten.
+
+ »Sollt' ich ihn tö--öten? Konnt' ich's, da ich ihm
+ Ins Auge sah? I--h--n tö--ö--öten? Eher hätt' ich
+ Den Mordstahl auf die eig'ne Brust gezückt!«
+
+Das war zuviel! Der Student riß einen seiner Lederpantoffeln von den
+Füßen und pfefferte ihn krachend gegen die Nachbartür.
+
+Einen Augenblick verblüffte Stille -- doch o weh -- sein Warnsignal war
+offenbar nicht verstanden worden -- schon nach wenigen Sekunden setzte
+das Gegroll und Gewimmer drüben wieder ein:
+
+ »Und bin ich strafbar, weil ich menschlich war?
+ Ist Mitleid Sünde?«
+
+»Nee!« brüllte Valentin Pilgram. »Mitleid is keene Sinde nich! Haben Sie
+ruhig Mitleid mit mir und halten Sie den Mund -- ich muß lernen!!«
+
+Einen Augenblick war drüben alles stumm -- todesstarres Schweigen. Und
+plötzlich fauchte ... ja fauchte, anders war's nicht zu nennen -- keifte
+-- ja man muß schon sagen, keifte die sonore Stimme von nebenan:
+
+»So? Lernen müssen Sie? Na -- ich auch ... stopfen Sie sich Watte in die
+Ohren!« Und noch dreimal mächtiger und markerschütternder grollte nun
+der majestätische Alt:
+
+ »Ist Mitleid Sünde? Mitleid! Hörtest Du
+ Des Mitleids Stimme und der Menschlichkeit
+ Auch bei den andern, die Dein Schwert geopfert?!«
+
+Da sprang Valentin Pilgram wütend auf, riß den Klingelzug, daß es
+schrill durch den Flur gellte, und als die stattliche runde Frau
+Kanzleirätin ganz entsetzt ins Zimmer schoß, schnauzte er sie an:
+
+»Was ist das für ein gottverfluchter Spektakel daneben? Wenn das nicht
+in fünf Sekunden aufhört, zieh' ich!«
+
+»Erlooben Se mal, mei gutester Herr Pilgram!« entrüstete sich die
+behäbige Dame im geblümten Morgenrock sehr energisch. »Se wissen,
+scheint's, nich so recht, mit wäm Se's zu tun ha'm! Das is Se nämlich
+meine Tochter, die große Jucunda Buchner von die Meininger -- die
+Jungfrau von Orleans!«
+
+»Und wenn je die Jungfrau Maria selber wär' -- hier verlang' ich meine
+Ruhe, versteh'n Se mich, Frau Kanzleirat?! Ich hab' diese Bude
+gefälligst zum Studieren gemietet -- versteh'n Se? Wir sind Se hier nich
+im Theater!!«
+
+»Se sollten Ihn' was schämen, Herr Pilgram, daß Se nich mal kenn'n
+bißchen Ricksicht nähm' auf Studium von eener gottbegnadeten Ginstlerin,
+wo ganz Leipz'g stolz drauf is!«
+
+»Wenn eener ä Vierteljahr vor'm Examen steht, dann hört die
+Rücksichtnahme ergebenst auf!« brüllte Pilgram. »Ich muß ooch studieren,
+aber mei Studium is wenigstens geräuschlos! Wenn Se e gottbegnadetes
+Mädchen zur Tochter haben, die beim Studieren einen Schkandal macht, wo
+die Mauern von Jericho von könnten einstürzen, dann vermieten Se
+gefälligst keene Buden an Studenten nich!«
+
+»Herr Pilgram -- wenn ich gewußt hätte, was für e ungeschliffener Mensch
+Sie sein kenn' -- nie wär'n Se mir ieber de Schwell gekomm', weeß
+Knebbchen!«
+
+»Mamaa!« tönte da plötzlich der sonore Alt aus dem Nebenzimmer, »rege
+Dich doch bitte ja nicht auf, Mamaaa! Der Herr mag ruhig ziehen -- ich
+komme Deiner Haushaltungskasse für den Schaden auf!«
+
+Frau Kanzleirat musterte den Studenten von oben bis unten mit einem
+Blick tiefster Verachtung. »Da heer'n Se's, Herr Pilgram! So benimmt
+sich e wahrhaft vornähmer Mensch! -- Also wenn Se zieh'n woll'n, ich hab
+Sie nich das mindeste dagegen -- lieber heut als morgen! Adieu, Herr
+Pilgram -- ziehen Se glicklich!«
+
+Und die stattliche Dame rauschte hinaus mit der Würde einer Königin. Die
+Schleppe des geblümten, nicht mehr ganz saubern Morgenrockes waberte
+hinter ihr drein.
+
+Valentin Pilgram aber blieb etwas benommen an seinem einsamen
+Studiertisch. Es war doch höchst fatal, nun so mitten in den
+Examensvorbereitungen das lieb gewordene Quartier gegen ein noch
+unbekanntes eintauschen zu müssen ... am Ende hätte er auch ein bißchen
+weniger hitzig sein können ... vielleicht mit einem guten Wort hätte
+sich die Sache viel besser einrenken lassen ... Aber das machte diese
+verfluchte Kandidatenstimmung, das Bangen vor diesem fahlen Gespenst,
+das am Ende der Studentenzeit hockte mit stieren Augen und sich ganz,
+ganz unmerklich immer näher heranschob ... da sollte der Teufel nicht
+nervös werden ... Was keine sausende Säbelklinge fertiggebracht hatte:
+das Schreckbild der drei Männer hinterm grünen Tisch hatte es erreicht:
+Valentin Pilgram hatte Angst ... und dieser Zustand, so ungewohnt, so
+unmöglich, der hatte ihn toll gemacht ... Eigentlich hatte er sich ja
+doch wirklich unqualifizierbar benommen ... es waren doch weibliche
+Wesen, beinahe Damen, mit denen er so gröblich umgesprungen ... zwar ein
+Kanzleirat war ein Subalternbeamter, und seine Frau gehörte nicht zur
+Gesellschaft ... und vollends eine Komödiantin ... aber wenn auch ...
+wenn auch ... Valentin Pilgram, ich glaube, dein Benehmen war durchaus
+nicht auf der Höhe der berühmten korpsstudentischen Direktion ... deren
+eifriger Hüter du selber so lange im C. C. gewesen ...
+
+Valentin wartete mit Spannung, ob nicht alsbald da drinnen wieder der
+dunkeltönige Alt mit dröhnendem Jambenschwall einsetzen würde ... er
+wartete mit Spannung und Verlangen ... das Fortdauern der Störung wäre
+wie eine nachträgliche halbe Entschuldigung seiner Hitze gewesen ...
+aber er wartete umsonst. Alles blieb still darinnen. Er hätt' also
+triumphieren, den ertrotzten Arbeitsfrieden eifrig büffelnd genießen
+können ... aber seltsam ... die richtige Streberstimmung wollte nicht
+wiederkommen ...
+
+Teufel auch, Valentin Pilgram, du hast doch nicht etwa einen
+»Moralischen«?
+
+Franconias Senior stand langsam auf und räumte Drogenweltlehrbuch und
+Repetitorien zusammen. Er stülpte die grüne Mütze auf den strohblonden
+Schädel und stieg sinnend die altehrwürdigen Holzstiegen hinab auf die
+»Kleine Fleischergaß«. Drüben im ersten Stockwerk des »Cafébaums« winkte
+über dem in Sandstein gemeißelten Amor, der schon seit Jahrhunderten
+einem gleichfalls sandsteinernen Türken »e Schälchen Heeßen« kredenzte,
+winkte Franconias Wappenschild, lockte, unter den morgendlich geöffneten
+Fenstern des Kneipzimmers, im Morgengolde sich bauschend, das
+grün-gold-rote Banner ... aber der Erste stieg nicht hinauf. Er ging
+auch nicht auf Wohnungsuche: er tat etwas, was er im Leben noch nicht
+getan hatte: er ging zur Universität und kämpfte inmitten eines
+Massenandranges von Kommilitonen, ganz gewöhnlichen Nichtinkorporierten,
+um ein Studentenbillett zur morgigen Eröffnungsvorstellung der Meininger
+-- zur »Jungfrau von Orleans« ...
+
+
+Ecke Roßplatz, und Roßstraße, vor dem Hotel Hauffe, in dessen erstem
+Stockwerk der _studiosus iuris et cameralium_ Heribert Hans Herwig
+Erbprinz von Nassau-Dillingen mit seinem militärischen Begleiter und
+seiner Dienerschaft die ganze Zimmerflucht an der Straßenfront inne
+hatte, harrten frühmorgens um sechse zwei Reitknechte in Livree mit drei
+prächtigen Gäulen. Sie plauderten mit dem galonierten Portier.
+
+»Nanu?« meinte der Hotelgestrenge, »schon wieder? Ihr seid ja
+Frühuffsteher geworden uff eemal?«
+
+»Was will mer mache?« meinte der ältere der herzoglich nassauischen
+Pferdepfleger. »Unser junger Herr hat widder mal e funkelnagelneies
+Veegelche g'fange ...«
+
+»Ei herrjemerschnee!« machte der Portier. »Was das nur zu bedeiten hat?
+Das is doch ganz unnatierlich fier so 'n jungen Herrn -- Morgen fier
+Morgen drei Stunden durch den Wald zu flitzen un sich den Schlaf um die
+Ohr'n zu schlagen ...«
+
+»Ich glaub, ich weeß, was da derhinner steckt!« meinte der jüngere
+Bursche. »Ich hab' neilich so ebb's uffg'schnappt, wie se beim Reite
+g'sproche habe. Er und der Major!«
+
+»Da wär' ich Ihn' aber doch wahrhaft'g neigierig!« kicherte der Portier
+und schob sich von seiner Treppe hinunter auf den Bürgersteig.
+
+»Nu -- e Weibsbild steckt da derhinner!« triumphierte der Reitknecht.
+»Ich hann's neilich ganz g'nau geheert: Lasse mer heemreite, hat der
+Major g'sagt -- heit morge finne mer se doch nit -- hat er g'sagt!«
+
+»I nee so was!« staunte der Portier. »Un dann sind se wärklich alle zwee
+heemgeritten?«
+
+»Ja -- ganz wahrhaftig sinn se heemg'ridde!«
+
+»Wer das bloß sinn mag?« meinte der Portier. »Gewiß ganz was Vornähmes
+-- sonst tät der gnädige Herr doch gewiß nich so viel Umstände dann
+machen um so e Weibsbild!«
+
+»Pscht -- die Herre komme!«
+
+Der Erbprinz federte mit dem natürlichen Schwung seiner einundzwanzig
+Jahre in den Sattel -- der Major mit der wohlkonservierten, doch
+immerhin etwas gewollteren Elastizität seiner zweiundvierzig. Und im
+Schritt ging's die gutgepflasterten Straßen der erwachenden Großstadt
+hinab, am massiven Bau und klobigen Rundturm der Pleißenburg vorüber bis
+zu den Anlagen jenseits des Flüßchens, wo man antraben konnte.
+
+»Wenn Sie ahnten, Durchlaucht, wie komisch Ihnen die Maske eines
+schmachtenden Toggenburg steht -- Sie würden sich selber erheblich
+auslachen!« meinte Herr von Gorczynski.
+
+»Gott, wenn mir's doch Vergnügen macht, lieber Major -- lassen Sie mir
+schon den kindlichen Spaß!«
+
+»Ich versteh' Sie nicht, Durchlaucht -- Sie benehmen sich wie ein
+Sekundaner von einem Kleinstadtpennal und nicht wie ein Fürst ... So'n
+Theatermädel ... der schickt man doch einfach ein Rosenarrangement und
+seine Visitenkarte -- und das Weitere findet sich!«
+
+Ueber das blasierte Knabenantlitz des Erbprinzen flog ein flüchtiges
+Rot. »Wenn ich glaubte, bei der Buchner ginge das auch so, dann pfiff'
+ich auf das ganze Abenteuer. Die Nummer kenn' ich nun allmählich! Die
+Weiber, die sich kommandieren lassen, die hab' ich satt! Ich möchte
+einmal ein Erlebnis haben -- ein richtiggehendes Erlebnis!«
+
+»Na, auf Ihre Manier werden Sie's höchstens bis zu einem richtiggehenden
+Korbe bringen!« meinte der Major. »Ein Mann, der schmachtet, hat von
+vornherein alle Chancen verloren! Selbst wenn er der Erbprinz von
+Nassau-Dillingen wäre!«
+
+»Ich will aber diesmal überhaupt nicht der Erbprinz von Nassau-Dillingen
+sein! Versteh'n Sie mich, Herr Major?! Es paßt mir nicht, immer nur auf
+das Prinzenkonto geliebt zu werden! Schließlich bin ich doch ganz
+simplement als junger Mann nicht zu verachten, wie? Sehen Sie -- und das
+möcht' ich mal ausprobieren! Ich hab' mir's nun mal in den Kopf gesetzt!
+Und gestern hab' ich der Buchner ein Rosenarrangement geschickt mit
+einem Kärtchen, auf das ich nichts weiter geschrieben habe als: Herbert
+von Dillingen, _studiosus iuris et cameralium_!«
+
+»Na, ich sag's ja, Durchlaucht! Sie sind auf dem besten Wege, einen
+hahnebüchenen Unsinn aufzustecken! Aber was ich Ihnen sage: Ich habe
+Ihnen viel durch die Finger gesehen -- aus unerschütterlicher Liebe zu
+Ihnen --«
+
+»Na ja, aus unerschütterlicher Liebe zu mir. Und weil Ihnen Ihr gesunder
+Menschenverstand sagt, daß Sie aller Voraussicht nach unter Bernhard dem
+Sechzehnten noch zehn Jahre, unter Heribert dem Vierzehnten aber, will's
+Gott, den ganzen Rest Ihrer Erdenlaufbahn abzuleisten haben werden!«
+
+»Oh -- aber Durchlaucht!« sagte der Major und legte mit pathetischer
+Bewegung seine Hand auf jene Stelle seines Busens, unter der man den
+Sitz seiner unerschütterlichen Liebe zu seinem jungen Herrn und Zögling
+annehmen mußte.
+
+»Bitte, lieber Gorczynski -- stürzen Sie sich nicht in Unkosten -- ich
+denke, wir beide kennen uns!« lachte Erbprinz Heribert.
+
+»Ernsthaft gesprochen, Durchlaucht!« sagte der Major etwas verärgert,
+indem er seinen Gaul in Schritt fallen ließ, »ich lasse Ihnen jede
+harmlose Affäre durchgehen -- wenn sich aber etwas Ernsthaftes anspinnt,
+berichte ich _a tempo_ nach Dillingen! Ihr erlauchter Herr Vater hat
+mich kategorisch dahin instruiert: keine Weibergeschichten! Und ich
+glaube diese Instruktion ganz im Sinne meines gnädigen Herrn
+aufzufassen, wenn ich --«
+
+»Wie kann man sich nur so sinnlos aufregen, mein Teuerster! Also weil es
+mir Vergnügen macht, mal ein paar Vormittage im Leipziger Ratsholz
+spazieren zu reiten, und weil ich dabei gelegentlich die Hoffnung
+ausgesprochen habe, einen gewissen grauen Schleier noch einmal wehen zu
+sehen, wittern Sie bereits allerlei Tragödien!«
+
+»Ich gestatte mir, Durchlaucht, mich auf meine Menschenkenntnis zu
+berufen. Es ist wider die Natur, wenn ein von seinem gnädigen Herrn
+Vater mit überaus auskömmlicher Apanage ausgestatteter und dank meiner
+überaus riskierten Nachsicht bereits einigermaßen erfahrener junger
+Prinz einer Theatermamsell wegen, die er ein einziges Mal von weitem
+gesehen hat, an drei nacheinanderfolgenden Tagen um fünf statt um neun
+Uhr aufsteht. Wenn ich das nach Dillingen berichte, gibt's eine
+Katastrophe! Hab' ich nicht recht?«
+
+»Von weitem gesehen?« schmunzelte der Prinz. »Ich habe mir bereits
+eingehenderes Material verschafft!« Und er holte einen großen Umschlag
+aus seiner Rocktasche, reichte ihn von Schimmel zu Rappen zum Major
+hinüber. Dem fielen beim Oeffnen drei Bilder in die Hand: es waren
+Darstellungen eines jungen Mädchens; zunächst im Straßenkleide --
+Pelzjäckchen, Barett, Muff -- und dann im Eisenharnisch mit bloßem
+Haupt, aufgelösten Haaren, ein Schwert und eine Fahne in Händen --
+und endlich im Samt, mit riesigen Puffenärmeln, das Gesicht von
+langen Ringellocken umwallt und von einem starren weißen Rundkragen
+eingesäumt ...
+
+»Kreuzmillionen --!« entfuhr es dem Major. »Das ist --?!«
+
+»Das ist -- =sie=,« sagte der Erbprinz, und über seinem fahlen
+Lebemannsangesicht lag eine Sekundanerröte, die dem Major völlig fremd
+war an seinem Zögling. Er starrte den jungen Mann an, als sehe er ihn
+zum erstenmal.
+
+Verdammt -- also so stand die Sache?! Nun hieß es aber wahrhaftig
+aufpassen ...
+
+Der Major reichte die Bilder zurück. »Na ja,« sagte er im Tone völliger
+Wurstigkeit, »die Buchner ... Gott, warum nicht? Wenn Sie sich auf die
+nun mal kaprizieren, Durchlaucht -- von meiner Seite aus steht nichts im
+Wege! Nur fangen Sie's vernünftig an und halten Sie sich nicht zu lange
+bei der Vorrede auf! Also wir werden sie auf -- na sagen wir auf morgen
+abend, heut nach der Premiere wird sie schwerlich abkömmlich sein -- wir
+werden sie auf morgen abend zum Souper einladen -- sie mag noch eine
+Kollegin mitbringen -- und dann entwickelt sich alles weitere glatt und
+prompt historisch!«
+
+Der Erbprinz antwortete nicht. Er gab dem Gaul die Schenkel, und zwar so
+heftig, daß das rassige Tier ganz erschrocken zusammenfuhr und dann in
+tollen Sätzen von dannen raste. Der Major flitzte hinterdrein und
+überlegte im Hinsausen, ob er das als eine Zustimmung zu seinem
+Vorschlage aufzufassen habe.
+
+Auf jeden Fall -- geschehen mußte es. Und wenn sein Schützling, ein
+wenig verspätet allerdings -- na, wie nannte man das noch -- hm, hm!
+sein -- sagen wir also: Herz entdeckt hätte -- dann möglichst schnell
+diese kleine Entgleisung auf den Normalweg zu dem üblichen, gefahr- und
+schmerzlosen Ausgang leiten ... So befahl es Pflicht und Instruktion ...
+
+Und in Gedanken redigierte er folgendes Billett, das er heut abend bei
+der Premiere mit einer aufmunternd luxuriösen Blumenspende auf die Bühne
+lancieren wollte -- heut abend? Nein -- da würde die Aktion vermutlich
+ihren Effekt verfehlen -- würde untergehen in einem Wust und
+Ueberschwall ... nein, morgen früh zum Frühstück -- das wird das
+richtige sein! Also ungefähr folgendermaßen würde er schreiben:
+
+
+ »Mein sehr verehrtes _etcaetera_! Zwei aufrichtige und hingerissene
+ (gerissen ist sehr gut!) Verehrer Ihrer Kunst würden es sich zur
+ höchsten Ehre und Freude rechnen, Ihre nähere Bekanntschaft _etcaetera
+ etcaetera_. Wir wagen deshalb die dreiste Bitte, daß es Ihnen,
+ Verehrungswürdige, gefallen möge, morgen, Donnerstag abend, nach der
+ ersten Wiederholung der »Jungfrau« mit uns im Hotel Hauffe zwanglos zu
+ soupieren ... Sollten Sie unter Ihren liebenswürdigen Kolleginnen eine
+ nähere Freundin haben, die es nicht verschmähen würde, eine Stunde in
+ harmlos vergnügter Gesellschaft _etcaetera_, so würde uns das eine
+ ganz besondere _etcaetera_ ... In Voraussetzung Ihrer Zustimmung
+ werden wir uns erlauben, nach Schluß der Vorstellung ein Coupé zur
+ Verfügung der Damen am Bühneneingange _etcaetera_. Mit der
+ Versicherung unserer vollkommensten Bewunderung Ihre aufrichtigen
+ Verehrer
+
+ v. Dillingen. v. Gorczynski.«
+
+Na ja -- das übliche Schema -- das nie versagende ... pöh ... eine
+Komödiantin ... wenn's weiter nichts ist ...
+
+Und schließlich die Hauptsache: zwei blaue Lappen hinein -- für jede
+einen -- damit die guten Kinder auch gleich merken, daß man ernsthafte
+Absichten hat -- nicht wahr?
+
+
+
+
+ 3.
+
+
+Am Mittwoch nachmittag um fünf war der allwöchentliche Seniorenkonvent:
+die Zusammenkunft der Korpsburschen sämtlicher Leipziger Korps. Sie fand
+auf der Kneipe des präsidierenden Korps statt: zurzeit war's
+Neo-Borussia, die ihr Heim in nächster Nähe der Franken aufgeschlagen
+hatte, im ersten Stock eines gleich uralten, verräucherten,
+verwahrlosten Kneiphauses, wie der altberühmte Cafébaum eins war, in dem
+Franconia residierte. Es stand irgendeine der welterschütternden Fragen
+auf der Tagesordnung, um welche sich ein hoher S. C. an jedem Mittwoch
+Nachmittag die Köpfe zu zerbrechen pflegte. Diesmal lag vor -- na was
+noch? -- lag vor ein Antrag von Misnia und Thuringia, ein wohllöblicher
+S. C. wolle beschließen, daß die Klingen der Mensurspeere an der Spitze
+in Zukunft nicht mehr rechtwinklig und scharfkantig abgeschliffen
+würden, wie es bisher üblich war, sondern abgerundet ... Infolge des
+eckigen Schliffs waren nämlich an den letzten Bestimmtagen ein paar so
+hahnebüchene Knochensplitter herausgekommen, daß die Paukärzte
+kategorisch Wandel verlangten: die Klingen sollten in Zukunft an der
+Spitze halbkreisförmig geschliffen werden ... Das war natürlich ein
+Problem von fundamentaler Bedeutung, und so erhitzten sich die Gemüter
+immer mehr und mehr, immer stärker wurde der Bierkonsum, immer massiver
+der Zigarren- und Zigarettenqualm ... und immer hastiger rückte der
+Zeiger jener Stunde zu, da im Carolatheater das Gastspiel der Meininger
+beginnen sollte ... Theater -- pah! Wer hat Zeit, ans Theater zu denken,
+wenn der bittre Ernst des Lebens einen im Bann hält?
+
+Einer hatte Zeit: der schlanke Fuchsmajor der Franken natürlich -- er
+saß auf Kohlen und hätte sich mit Vergnügen bereit erklärt, sich am
+Sonnabend auf Mensur mit einem kantig geschliffenen Speer ein halbes
+Dutzend Knochensplitter aus dem Schädel hauen zu lassen, wenn er dadurch
+diese entsetzliche Debatte hätte abkürzen und den Anschluß an den Beginn
+der Vorstellung hätte erreichen können ...
+
+Endlich wagte er ein Aeußerstes. Er ging leise zum Ersten hinüber,
+neigte sich und flüsterte ihm -- der mit aller Nervenanspannung der
+hitzigen Rede seines Gegenpaukanten vom vergangenen Sonnabend, des
+Meißner Zweiten, folgte -- flüsterte ihm ins Ohr:
+
+»Pilgram, ich darf Dich vielleicht daran erinnern, daß Durchlaucht mich
+auf heut abend in seine Loge eingeladen hat -- da darf ich doch
+keinesfalls zu spät kommen ... würdest Du wohl gestatten, daß ich den
+S. C. verlasse?«
+
+»Du bist verrückt!« knurrte Pilgram halblaut. »S. C. geht doch vor allem
+andern vor! Du siehst, ich muß ja auch aushalten!«
+
+»Du --?! Ja, wie soll ich das verstehen, Pilgram? Gehst Du ... denn auch
+... ins ...«
+
+Der Erste errötete tief. Es war ihm herausgefahren, das Geheimnis,
+dessen er sich vor allen Korpsbrüdern schämte: daß der traditionelle
+Feind aller neun Musen sich ein Theaterbillett erstanden hatte -- und
+noch dazu eine Studentenkarte zu einer Mark und zwanzig Pfennigen, um
+gänzlich unstandesgemäß -- selbstverständlich im Bummel, also im
+tiefsten Inkognito -- zwischen allerhand proletigen Kommilitonen, das
+Parterre, ganz hinten, zu bevölkern -- sintemalen und alldieweilen es
+auch bei ihm am Monatsschluß nicht mehr zu dem für das Korps
+vorgeschriebenen Platz im ersten Rang hatte reichen wollen ...
+
+»Allerdings -- ich geh' auch!« zischte Pilgram. »Wir gehen nachher
+zusammen -- aber im S. C. wird ausgehalten, und wenn uns die ganze
+Affenkomödie durch die Lappen gehen sollte!«
+
+Vor solchem Pflichteifer verstummte Hans Thumser -- völlig erschüttert
+... Freilich, was galt diesem Banausen die Versäumnis eines, zweier,
+dreier Akte Schiller! Wie mochte der bloß auf die Idee gekommen sein,
+ins ... Hallo -- sollte da am Ende ein ... trotz allem ... erwachtes
+Interesse für seine berühmte _filia hospitalis_?! Alle Wetter -- das war
+am Ende doch wohl die einzige Erklärung!
+
+Und während ein wohllöblicher S. C. sich weiterhin über krummen oder
+geraden Schliff der Klingenspitzen aufregte, griff Hans Thumser alle
+fünf Minuten heimlich nach seiner Taschenuhr ... halb sieben -- --
+sieben Uhr jetzt -- verflucht! War denn diese verdammte Zwiebel rasend
+geworden? Und nun -- nun war es auf einmal halb acht -- in diesem
+Augenblick hob sich da unten fern in der Südstadt, in der Sophienstraße,
+der Vorhang zum Prolog, und der biedere Thibaut d'Arc verlobte seine
+zwei ältesten Töchter ... Nun stand sie auf der Bühne -- sie, die
+Madonna aus der oberen Kirche seines Herzens ... noch im schlichten
+Kleide der Bäuerin, doch schon überlagert vom tragischen Schatten ihrer
+göttlichen Sendung ...
+
+»Meine Herren,« sagte der Vorsitzende, Herr Borgmann, Neo-Borussiae, die
+linke Stirnseite noch immer von mächtigem Wattebausch unter schwarzer
+Kompresse bedeckt, da, wo Hans Thumsers kecker Durchzieher ihm wider
+alle Vorsicht Schwarte, Knochenhaut und alle Aeste der Temporalis
+durchgesäbelt -- »meine Herren, meiner Ueberzeugung nach würden wir uns
+vor sämtlichen Glocke schlagenden S. C. eines hohen Kösener unsterblich
+blamieren, wenn wir als einziger S. C. den allgemein üblichen
+scharfkantigen Schliff abschaffen wollten -- und zwar aus einer
+Anwandlung von Humanitätsdusel heraus, der für mein Empfinden einen
+bedenklichen Beigeschmack von Kneiferei hat --«
+
+»Ich bitt' ums Wort!«
+
+»Ich auch! Ich auch!« so scholl's heftig aus der Korona.
+
+»Silentium für Herrn von Schubart, Misniae!« sagte Borgmann gelassen.
+
+»Ich muß mir aufs entschiedenste verbitten,« schrie Herr von Schubart,
+der Zweite der Meißner, in den Zigarrenbrodem hinein, »daß der Herr
+Erste Chargierte des präsidierenden Korps von einer Maßregel, die mein
+C. C. befürwortet, erklärt, sie habe einen Beigeschmack von Kneiferei!
+Ich verlange, daß der Herr Vorsitzende diese Aeußerung mit dem Ausdruck
+des Bedauerns zurücknimmt -- andernfalls behält sich mein C. C. weitere
+Schritte vor, sowohl gegen einen wohllöblichen C. C. des präsidierenden
+Korps als auch gegen Herrn Borgmann persönlich!«
+
+Dreiviertel acht --! wimmerte Hans Thumsers sehnsüchtige Seele -- und in
+seinem Herzen klang's:
+
+ »Nichts von Verträgen! nichts von Uebergabe!
+ Der Retter naht, es rüstet sich zum Kampf --
+ Vor Orleans soll das Glück des Feindes scheitern,
+ Sein Maß ist voll, er ist zur Ernte reif!«
+
+Thuringia schloß sich den Erklärungen Misnias an; Guestphalia schwankte,
+während Franconia und Neo-Borussia gemeinschaftlich gegen den Antrag auf
+Abänderung des Klingenschliffs auftraten. Unter allgemeiner Erregung
+schritt der Vorsitzende endlich um zehn Minuten vor acht zur Abstimmung,
+und nun fiel Guestphalia definitiv zur Partei des runden Schliffs.
+Franconia und Neo-Borussia waren überstimmt: die holde Menschlichkeit
+oder, wie Herr Borgmann Neo-Borussiae es nannte, der Geist der Kneiferei
+hatte gesiegt ... Und mit dem Zigarrenrauch hingen unzählige P. P.
+Suiten und Säbelforderungen in der Luft ... Morgen früh zum Frühschoppen
+würden sie explodieren ...
+
+»Nu aber raus!« zischte Pilgram seinem Korpsbruder zu. »Weh Dir, wenn Du
+den andern was davon sagst, daß ich ins Theater geh -- offiziell büffle
+ich heut abend!«
+
+Drunten wartete des Ersten Chargierten der Korpsdiener mit Hut und
+Regenschirm. Pilgram riß ihm beides aus der Hand, zog Mütze und Band ab
+und übergab sie dem Getreuen. Thumser, der vornehm in der
+Proszeniumsloge sitzen würde mit dem Erbprinzen, blieb natürlich in
+Couleur. Und in rasendem Tempo hasteten nun die beiden Studenten die
+kleine Fischergasse hinab.
+
+Auf dem Alten Markt standen Droschken aufgefahren. Die Wanderer warfen
+einen wehmütigen Blick hinüber:
+
+»Wenn's doch schon der Erste wäre!« knirschte Hans Thumser.
+
+»Beine in die Hand!« knurrte Pilgram.
+
+
+Als Hans Thumser sich auf Zehenspitzen in die Proszeniumsloge schob,
+hatte der erste Akt bereits begonnen. Der Erbprinz und der Major wandten
+kaum zu flüchtiger Begrüßung die Köpfe -- schon waren sie im Bann. Und
+hinter den schwarzen Silhouetten der Vordermänner sah Hans nur mit einem
+flüchtigen Blick die von der Bühne her matt erleuchteten vordersten
+Reihen des Publikums im Parkett -- lauter Gesichter, im Lauschen und
+Schauen erstarrt. Und schon schlugen auch über ihm die Wogen zusammen.
+
+Ein hoher gotischer Saal am Hoflager König Karls von Frankreich. Düstere
+pfeilergetragene Holzdecke, die Wände eichengetäfelt, darüber Gobelins
+mit steifen Reihen buntgewandeter Ritter und Edeldamen. Und ganz
+tief hinten ein buntes Fenster, durch das sich ein paar verirrte
+Sonnenstrahlen stehlen. Und mit zweien Getreuen der unglückliche
+weichherzige König, dessen Knabenhand wohl seine Agnes Sorel zu kosen
+vermag, nicht aber die Zeit, die aus den Fugen gegangen, wieder
+einzurenken ... drei Ratsherren knien vor ihm, seine vielgetreuen Bürger
+von Orleans, und flehen um Hilfe, um Entsatz ihrer hartbedrängten Stadt
+... Verzweiflungsvoll ringt der König die kraftlosen Arme:
+
+ »Kann ich Armeen aus der Erde stampfen?
+ Wächst mir ein Kornfeld in der flachen Hand?«
+
+Doch sieh: ein Lichtstrahl zittert in das Dunkel der Szene: Die Geliebte
+kommt: Sie bringt opfermutig all den blinkenden kostbaren Tand, den ihr
+König in süßen Stunden ihr um den Nacken gewunden ... Ein
+schwarzlockiges, schmiegsames, kätzchenweiches Geschöpfchen ... Ihre
+Augen schimmern in koketten Tränen, ihre Hände, weich und rosig wie
+Frühlingswolken, umschmeicheln den Freund, noch in der Angst der
+Verzweiflung liebeheischend, sehnsuchtsweckend ...
+
+ »Agnes Sorel ... Asta Thöny«
+
+sagt der Theaterzettel. Herrgott ... das ist sie ...
+
+Und einen Moment ist Hans Thumser wieder Hans Thumser ... Er tastet nach
+seiner Brusttasche, wo ein etwas zu stark parfümiertes rosa Billetchen
+steckt: Die Worte, die es enthält, ach, die kann er auswendig, im
+Träumen, von vorn und von hinten:
+
+ »Nach zierlichen Schuhchen und dem, was drin steckt,
+ Liegt mancher Fuchs auf der Lauer --
+ Eintritt verboten! Hier wird nicht geschleckt!
+ Füchschen, die Trauben sind sauer!«
+
+Also -- das ist sie ... das ... Füßchen werden nicht vorgezeigt, nur
+zwei zierliche Goldspitzen lugen im Schreiten ab und an für einen
+winzigen Moment unterm schweren Brokat des gotisch starren Gewandes
+vor ... dafür aber läßt dies neidische Gewand einen Hals frei ... einen
+Hals ... o Gott, o Gott ...
+
+Einen Augenblick ist Hans Thumser Hans Thumser -- der sehnsüchtige Knabe
+an der Schwelle des Lebens ... nur einen Augenblick ... und schon wieder
+ist er ... niemand und alles ... nur Auge, nur weitgeöffnet schauendes
+Gottesauge -- nur Seele, alliebende, alldurchdringende Weltseele ...
+
+Höher schwillt die Flut des Entsetzens um den verlorenen Königsknaben
+und sein zitterndes Lieb ... Eine Hiobspost jagt die andere, das Maß des
+Ertragens ist voll, sein Land und seine Ehre gibt der Schwache preis,
+und empört fallen die letzten seiner Getreuen von ihm ab ... Verlassen
+steh'n die beiden Kinder ...
+
+Da auf einmal ... kommt einer der Entwichenen zurück ... auf seinem
+zuckenden Gesicht, seinen stammelnden Lippen glüht ein Wort ... ein
+Wort, das längst ins Fabelland entschwunden schien ... das Wort:
+=Sieg= ...
+
+Und sieh -- da führen die edlen Herren aus des Königs Gefolge einen
+riesigen Krieger heran: einen Ritter im zerhauenen, blutbekrusteten
+Harnisch: ein blutiger Fetzen windet sich um seine kampfglühende Stirn,
+aus seinem blutunterlaufenen Auge lodert das gleiche Zauberwort: das
+unfaßbare: Sieg ... Sieg ...
+
+Und atemlos, stockend oft und nun in wahnwitzigen Jubel ausbrechend,
+kündet er die phantastische Mär:
+
+Das Wunder ist herabgestiegen vom Himmel ... Ein weißes Mädchen ist in
+die Mitte der umzingelten Franzosen getreten -- hat dem Fahnenträger das
+Banner entrissen und an der Reisigen Spitze sich in den Feind gestürzt!
+
+ »Ein Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen!«
+
+Und daß fassungsloser Unglaube kniebeugender Glaube werde -- -- wird sie
+selber kommen! wird kommen -- hierher, an diese Stelle, auf der wir
+stehen, harrend, bis ins Mark erschüttert und dennoch zweifelnd ...
+
+Und horch! Schon kündet sich's an: Da draußen, in den fernen Gassen der
+Stadt, hören wir den Lärm eines jäh triumphierenden Empfangs ... Näher
+und näher kommt das festliche Getös ...
+
+Und da -- da fangen ja die Glocken von allen Türmen plötzlich an zu
+schwingen ... und heller tönt draußen das tolle Jauchzen der
+Begeisterung ... und nun stürzen sie alle, die in der dumpfen, ragenden
+Kammer weilen, in kindischer Hast ans Fenster da hinten und beugen sich
+hinaus, und sieh, sie sehen's schon, das Wunder, das Unmögliche -- sie
+schreien und winken und schreien --
+
+Und horch, nun stürmt's da draußen die Stufen hinauf, nun stürzt, nun
+strömt es herein. Ratsherren und Rittersleute und Bürger und Weiber und
+Soldknappen und Kindervolk und ... eben Menschen, schreiende, tobende,
+vor Erlösungstaumel sinnlose Menschen ... Vor dem König, der mit der
+Geliebten, zitternd, schwindelnd, da vorn geblieben, werfen sie sich auf
+die Knie, in den Staub, heulen und jauchzen: Sieg! Sieg! Sieg!
+
+Und nun -- nun öffnet sich auf einmal, wie die Flut des Roten Meeres vor
+dem Durchzug der Kinder Israel, so klaffend öffnet sich durch die
+Menschenflut eine Gasse ... und durch die Gasse ... schwebenden
+Schrittes ... kommt ... sie ...
+
+Kommt ein weißes Mädchen, nein, kein Mädchen, kein Mensch ... ein
+Gedanke, ein Gottgedanke, der Gedanke der Erlösung, der Gerechtigkeit,
+der Freiheit, des Vaterlandes ...
+
+Und steht so vor dem König ... das Ewige, das Heilige, das Unendliche
+selbst ...
+
+Und doch ... nur ein Mädchen ... ein junges, weißes Weib ...
+
+
+In der winzigen Garderobe, rechts vom Schauspieler, auf der Frauenseite,
+wartete Mutter Buchner ihrer berühmten Tochter. Sie hatte es sich zwar
+nicht versagen können, sich von einem Eckplatz des Parketts aus an
+Jucundas Spiel, den neidisch-ehrfurchtsvollen Blicken der Bekannten, dem
+Jubelsturm des Publikums zu weiden; aber am Anfang des zweiten Aktes,
+das wußte sie, trat Jucunda nicht auf, und da drängte es sie in die
+Garderobe ihres Kindes, um ihr Zofendienste zu leisten. Ach, am liebsten
+wäre sie ja von Ort zu Ort mitgereist ... Wenn ein Mädchen so ungeheuer
+viel Talent hatte ... und so gut gewachsen war -- na, man wußte ja, von
+wem sie das hatte! -- und so heißblütig -- ach Himmel, man war ja selber
+auch mal jung gewesen! -- Das war ja ganz selbstverständlich, daß die
+Mannsbilder hinter so einer her waren wie verrückt -- da hätte man ja
+doch als Mutter eigentlich auf Schritt und Tritt aufpassen müssen ...
+Aber da war ihr Alter, der Herr Rat ... der konnte ja nicht leben ohne
+seine Doris ... Na, solange das Kind in Leipzig war, sollte es
+wenigstens fühlen, was man an einer Mutter hat ... Und kaum war der
+Vorhang nach dem ersten Akt gefallen, da flog -- während das Publikum
+noch immer tobte, die Gardine auf und nieder tanzte, die Darsteller sich
+immer und immer wieder süß lächelnd verneigten -- flog Mutter Doris aus
+dem Zuschauerraum zu dem bekannten Pförtchen, das nur denen vom Bau sich
+öffnet, hastete die steinerne Treppe hinauf in das winzige, von
+Schminke, Puder und Menschendunst geschwängerte Kämmerchen und wendete
+das gewärmte Hemd, das auf der Heizung bereit hing ... Denn wie ihre
+Jucunda schwitzte bei so'ner großen Szene, das war schon nicht mehr
+schön ... Von Kopf bis zu Füßen mußte sie die Unterwäsche wechseln
+jedesmal, wenn irgend Zeit blieb ... Freilich, wie das Mädchen sich auch
+ins Zeug legte ...
+
+Und nun kam sie -- kochend, dampfend, wie aus dem Backofen ... fiel in
+den Frisierstuhl und streckte alle Viere von sich ... Frau Doris umarmte
+sie zärtlich und drückte ihr einen begeisterten Mutterkuß auf die
+triefende Stirn ...
+
+»Schinderei, verfluchte!« pustete Jucunda. »Wie aus dem Wasser gezogen
+ist man -- und das schon nach dem ersten Akt! Schnell, Muttel, die
+Lappen runter und frische Wäsche! Ich komm' ja um!«
+
+In der Tür der Garderobe drängten ein paar Kollegen nach, der Heldin des
+Abends die Hand zu drücken. Alle mochten sie das stramme junge Ding
+leiden, das mit seinen achtzehn Jahren so resolut durch diese
+schminkestarrende Welt stapfte, als sei sie darinnen geboren und nicht
+in einem engbrüstigen Leipziger Spießermilieu ...
+
+»'raus!« befahl Mutter Doris. »Alles 'raus! Meine Tochter wünscht
+alleene zu sein!«
+
+Und rasch vollzog sich die Verwandlung. In kräftiger Frische,
+schweißgebadet, stieg der derbe Mädchenleib aus den klatschnaß
+zusammensinkenden Hüllen, wurde von sorglicher Mutterhand mit lauen
+Güssen überspült und in die frischen gewärmten Unterkleider gesteckt.
+Die Garderobiere, ein verknittertes, verhutzeltes Weiblein, stand müßig
+daneben und träumte von der goldenen Zeit, als auch sie einmal am
+Stadttheater zu Stallupönen erste Naive gewesen und von den Leutnants
+der Garnison mit billigen Buketts und falschen Schmucksachen
+überschüttet worden war ... Dann aber mußte sie eingreifen, denn über
+das weiße Gewand des Bauernmädchens wurde nun die wuchtige Rüstung
+geschnallt und mit einem Dutzend Riemen und Oesen befestigt -- darauf
+verstand Mutter Doris sich denn doch nicht. Inzwischen aber schwatzten
+die Frauen ohn' Unterlaß:
+
+»Gott, war das ein Spektakel zum Aktschluß! Namentlich da hinten im
+Parterre!« sagte Jucunda und warf das langflutende braune Gelock über
+die Rüstung zurück.
+
+»Natierlich -- das gloob' ich ooch!« erwiderte die Mutter und strich mit
+glättendem Kamme bedächtig durch die krause Mähne der Tochter. »Da
+sitzen doch die Herren Studenten! Was die trampeln kenn'! Gott soll mich
+bewahren! 's ganze Parkett war Dir doch eene Staubwolke! Und =unserer=
+is ooch dabei -- wirscht mer's glauben?«
+
+»Wer? Der unverschämte Mensch aus dem Eckzimmer?«
+
+»Freilich, der! Un gezogen is er noch lange nich!«
+
+»I nee so was!« lachte Jucunda.
+
+»Eegentlich is mer'sch ganz lieb, daß er noch nich weg is,« sagte Mutter
+Doris. »Immerhin er is der Erste Scharschierte vons älteste und
+angesehenste Korps in Leipz'g ... Un so lang als ich denken kann, hab'
+ich immer Korpsstudenten bei mir wohnen gehabt -- 's wär doch sehr
+unangenehm für mich gewäsen, wenn er wär' mit'n großen Krach von mir
+fortgegangen -- leicht hätt's kenn' passieren, daß die ganzen Korps mich
+hätt'n in'n Verruf getan -- damit sin se immer sehr fix bei der Hand,
+wenn ma een' von ihn' mal schief angekuckt hat ... Unser Nachbar
+Wunderlich, der Mützenmacher, der kann e Wertchen davon erzählen ... Der
+hat mal een' von die Korpsstudenten, der absolut nich wollt' zahl'n, nu,
+dem hat er en groben Brief geschrieben -- und iebermorgen war er schon
+im S. C. Verruf -- das kost'n an sechshundert Mark jährlich!«
+
+»I herrjemerschnee!« lachte Jucunda, »das hätt' ich wissen sollen, daß
+unser Student so ein großes Tier ist! Da hätt' ich durch meine Grobheit
+ja beinahe Deinen Geschäftsbetrieb ganz bösartig geschädigt! Na,
+hoffentlich kommst Du noch mal mit 'nem blauen Auge davon! Uebrigens,
+Muttel, wenn ich mich recht erinnere, so hast Du den einflußreichen
+Jüngling auch nicht gerade mit Glacéhandschuhen angefaßt ...«
+
+»Nu, ich hab' mich eben lassen hinreißen,« sagte Frau Doris. »Weeßte,
+wenn eener mir mit mein' Goldkinde tut anbinden -- hernach weeß'ch mich
+nich zu beherrschen -- reinweg wie ene Furie werd' ich Dir dann!«
+
+»Muttel!« sagte Jucunda zärtlich und legte einen Augenblick lang das
+lockenumflutete Haupt an den mächtig wallenden Mutterbusen.
+
+In diesem Augenblick trat Franz Burg herein, der Oberregisseur, in der
+klirrenden Rüstung des englischen Oberfeldherrn, in einer Maske so voll
+schrecklichen Ingrimms, daß Jucunda hell auflachte:
+
+»Donnerwetter, lieber Freund -- mit Ihrem Konterfei kann man ja die
+Pferde scheu machen!«
+
+»Himmel -- für die guten Leipziger muß man eben ein bißchen dick
+auftragen ...«
+
+»Schön,« sagte Jucunda, »werd' ich mir merken. Passen Sie mal auf,
+Meister, wie ich jetzt loslegen werde!«
+
+»Aber gefälligst mit einem vernünftigen Stimmansatz, und nicht wieder so
+aufs Organ loswüsten wie im ersten Akt! Ihnen geht's zu gut, Kindchen,
+Sie werden mir zu üppig ... In einem Alter, wo andre Kolleginnen froh
+sind, wenn sie einmal ein Servierbrett mit Kaffeegeschirr hereinbringen
+dürfen, toben Sie schon abendfüllend durch ganz Deutschland -- da muß ja
+so ein achtzehnjähriger Verstand aus dem Leim gehen ...«
+
+»Ach, lassen Sie mich doch ...« Jucunda reckte den herrlichen Körper,
+daß alle Niete und Scharniere der Rüstung knackten ... »Lassen Sie mich
+doch, lieber Freund ... Es ist ja so schön ...«
+
+Franz Burgs Augen schimmerten hinter den grimmigen, rotgrauen Brauen in
+einem ganz seltsam weichen Licht ... Sie glitten über die schlanke,
+waffenblanke Gestalt, wie ein Streicheln.
+
+»Schön ist's, das glaube ich -- Sie sind eben ein Sonnenkind,
+Langbeinchen!« So nannte er sie noch immer, aus jener Zeit, wo sie als
+blutige Novize wegen ihres knabenhaften Wuchses immer die Pagen hatte
+spielen müssen ... Jetzt freilich wäre das nicht mehr zu machen gewesen
+-- sie war ein Weib geworden ...
+
+»Na also -- Sie sind fertig ... Nun halten Sie aber Ruhe, bis Sie geholt
+werden ... Und nicht zu toll mit dem Organ aasen, verstanden? Adieu,
+Langbeinchen!«
+
+»Adieu, Sie Bester!«
+
+Ein Blick so voll dankbarer Zärtlichkeit, daß der grimme Talbot rasch
+das Visier herunterklappte ... Und durch die Augenlöcher klang sein
+Knurren:
+
+»Also fang'n mer an!«
+
+Er rasselte von dannen. Jucunda warf ihm ein halbes Dutzend Kußhände
+nach.
+
+»Aber Jucunda!« rief die Mutter ganz entsetzt.
+
+»Ach laß doch, Muttel! Einmal ein Mensch beim Theater, ein einziger,
+der selbstlos gütig ist -- einen lehrt, einem vorwärts hilft, ohne
+gleich -- --«
+
+
+Der zweite, der dritte Akt waren vorübergebraust, mit Schlachtgetöse und
+Siegesjubel und Sterbegrauen ... und hatten geendet mit der
+naiv-gewaltigen Szene, in der Johannas tragisches Geschick sich wendet:
+der Fluch ihrer übernatürlichen Sendung sich wider sie kehrt. Das Herz
+der Jungfrau hat mit Entsetzen sein Mädchentum empfunden ...
+
+Große Pause nun -- alles strömte hinaus in die schmalen,
+schlechtbeleuchteten Gänge, das dürftige Foyer des dumpfen winkligen
+Hauses ...
+
+Und da oben fanden sich die beiden Franken, ihr fürstlicher Konkneipant
+und sein Erzieher. Die Herren begrüßten einander mit dem gewohnten starr
+offiziellen Gesicht, dem korrekten Händeschütteln der hoch gewinkelten
+Arme ... Keiner mochte verraten, wie sehr er gepackt war.
+
+»Ganz nett -- wie?« näselte der Erbprinz.
+
+»Na ja ... Aber immer dies ewige eintönige Pathos, das hält kein Pferd
+auf die Dauer aus!« schnarrte Pilgram.
+
+»Wie fanden Sie die Buchner?« fragte nachlässigen Tones der Prinz.
+
+»Na -- mein Himmel -- spielt eben Schiller!« erwiderte der
+Rechtskandidat.
+
+Hans Thumser blieb stumm. Ihm standen Erregung und Entzücken bis an den
+Hals -- die Tränen, die er mühsam hatte unterdrücken müssen, preßten ihm
+die glühenden Augen. O Gott -- so Erhabenes, so Ungeheures erlebt zu
+haben ... Und dann den gelassenen Weltmann mimen zu müssen mit zwanzig
+Jahren ... Was war das für eine Jugend? Sie schämte sich aller
+jugendlichen Empfindungen ... der Begeisterung, des Glaubens an das
+Große, das Weltbezwingende ...
+
+
+Und schnell vollendete sich's nun. Wie ward es Valentin Pilgram zumut,
+als er nun im festlich geputzten Saale zu Reims die Verse erklingen
+hörte, die er neulich so schmählich unterbrochen?
+
+ »Sollt' ich ihn töten? Konnt' ich's, da ich ihm
+ Ins Auge sah? Ist Mitleid Sünde?!«
+
+Was war denn das, was so heiß und fremd unter der linken Westentasche
+zuckte und hüpfte? Was war dieser geheimnisvolle Schmerz, dieser
+brennende, der durch Hirn und Glieder rumorte, wenn dieses Mädchen
+seine stählernen blauen Augen verloren in den dunklen Raum
+hinausschweifen ließ, in dem er saß, inmitten der proletigen Finken
+ringsum, die er verachtete, wie er alles verachtete, was nicht zu den
+Angehörigen eines hohen Kösener S. C. Verbandes zählte?! War es die
+Scham, daß er dies Mädchen, diese weiße, stolze Weibesgestalt da hinten,
+gekränkt, gestört in ihrem Studium -- sich benommen gegen sie wie ein
+Rauhbein, ein Knote ohne Kinderstube und Direktion!
+
+Ja, das mußte es sein, das und nichts andres ... Er wird morgen früh
+seinen Bratenrock anziehen und seine beste Mütze aufsetzen -- wird sich
+feierlich durch die Frau Kanzleirätin anmelden lassen und förmlich und
+devotest um Verzeihung bitten ... Es ist männlich, begangenes Unrecht
+einzusehen und zu sühnen, und durch Revokation und Deprekation einer
+Dame gegenüber vergibt auch Franconiae gewesener Erster, Erster, Erster
+_ad interim_ sich nichts -- nein, ganz gewiß nicht!
+
+Also das mach' ich! Gesegnet meine wüste Laune, gesegnet meine
+Examensnervosität ... So hab' ich doch wenigstens einen anständigen
+Grund, mich ihr vorzustellen, sie zu sehen, mit ihr zu sprechen ... Und
+ich werde mich dermaßen kavaliermäßig benehmen ... Ich werde ...
+Ueberhaupt ... Ich werde -- hol' mich der Teufel -- Eindruck werd' ich
+machen, so wahr ich Valentin Pilgram bin, Franconiae gewesener Erster,
+Erster, Erster _ad interim_!
+
+
+Hans Thumsers Seele war aber zwiegeteilt, wie fast immer -- fast immer
+... Noch einmal, in der zweiten Szene des vierten Aktes, kam die andere
+-- nach der er ein geheimes, lästerliches und süßes Schmachten verspürt
+hatte, nun sie so lange verschwunden war ... kam Agnes Sorel, stand
+neben der herrischen Gestalt Jucundas in ihrer kätzchenhaften
+Holdseligkeit ... schmiegte an Jucundas gepanzerten Busen die
+unverhüllte, die rosige lockende Brust ... O Hans Thumser, und denken zu
+müssen, daß diese Himmelswonne Nacht für Nacht neben deinem
+Knabenstübchen schläft, nur durch eine dünne Ziegelmauer von dir
+getrennt, in der es gar noch eine Tür gibt, die freilich verschlossen
+ist und mit einem Kleiderschrank verstellt ... O Hans Thumser, wie wirst
+du dies Bewußtsein ertragen, nun du sie kennst, sie gesehen hast mit
+deinen scheuen, brennenden Augen, ihr Bild hineingesogen in deine
+lechzende, lebenshungrige Seele ... Wie wirst du's ertragen?
+
+Füchschen, die Trauben sind sauer ... So hat sie geschrieben. Ach, du
+Schelm, du böser, neckender Traumspuk du -- du warmes, weiches, nahes,
+fernes, weltenfernes Menschenkind -- --!
+
+Still -- es erfüllt sich Johannas Geschick ... Vor dem Bannspruch des
+Vaters, der sie höllischer Blendekünste zeiht, verstummt sie ...
+verstummt vor dem Donner des Himmels ... flieht in Einsamkeit und
+Verzweiflung -- fällt stumm und wehrlos in die Hand der Feinde ...
+
+Doch dann, in letzter, höchster Not, kommt noch einmal über sie die
+alte, magische Kraft: Sie zerreißt ihre Ketten, entrafft sich den
+entsetzten Feinden, trägt noch einmal das Banner der Jungfrau zum
+Kampf ... und dann, die Todeswunde in der Brust, von Siegesbannern
+überbauscht, läßt sie ihre reine Seele ins All hinüberströmen ...
+
+O Dichter! Dichter! betet Hans Thumser -- großer, herrlicher mit Deiner
+wunderbaren Cherubseele -- einen Tropfen von Deinem Geist in mein
+junges Herz -- einen Flammenfunken von Deinem Himmelsfeuer!
+
+ »Wie wird mir? -- leichte Wolken heben mich --
+ Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide --
+ Hinauf -- hinauf -- die Erde flieht zurück --
+ Kurz ist der Schmerz, und ewig ist die Freude!«
+
+
+Ein heftig gestammelter Dank an den Prinzen, ein feierliches Schütteln
+der korrekt eingewinkelten Hände mit ihm und dem Major, und dann hinaus
+-- hinaus in die herbstliche Abendluft ... O glühende Stirn, o glühendes
+Herz ...
+
+Und nun -- warten -- sie noch einmal sehen, sie, »die alles Herrliche
+vollendet« ... nicht jene andre, das Kätzchen, den Spukgeist ... Nein,
+die eine, die weiße, die königliche ...
+
+Warten auf sie -- sie warten ja alle ... Eine dichtgedrängte Schar,
+lauter blutjunges Volk. Konservatoristinnen und Ladenmamsellchen
+untermischt mit Primanern und Studenten ... Sie warten vor dem Portal,
+vor dem ein einziger Wagen noch hält, ein einziger, während all die
+andern mit ihrer Fracht schleierumhangener, kapuzenverhüllter
+Weiblichkeit von dannen donnern -- ein einziger Wagen, in dem, hüstelnd
+und frierend, ein bebrilltes Männlein hockt mit grauem Kragenbart: der
+Kanzleirat Buchner ...
+
+Es dauert lange, dies Warten ... Aber Hans Thumser wartet nicht allein:
+An seiner Seite, geduldig fröstelnd, harrt der gestrenge Senior, ganz
+gegen jede Wahrscheinlichkeit und Psychologie ...
+
+»Ne, Pilgram, wie =Du= mir heute vorkommst!«
+
+»Na, was denn? Wieso denn?« knurrt der Erste. »Denkste vielleicht, Du
+hast die Kunstbegeisterung alleene gepachtet?!«
+
+Und endlich -- endlich -- -- am Bühneneingang fliegen die Hüte, die
+Mützen von den Köpfen --
+
+»Jucunda Buchner -- hoch! hoch!«
+
+Voran schiebt sich eine derbe Matrone in uraltmodischer
+schleifenbesetzter Kapuze -- und dann kommt -- sie -- so mädchenhaft auf
+einmal, so spießbürgerlich schlicht ... Wie ein Backfisch schaut sie
+aus, so menschlich, so nahe ...
+
+»Hoch! hoch!« brüllen die Studenten, juchzen die Mädels -- sie huscht
+vorüber, kopfnickend, so lieb, so einfach, so -- so fabelhaft nett --
+sie schlüpft in die Wagentür, nickt noch einmal vom Fensterrand -- neuer
+Jubel --
+
+Ach was -- längst nicht genug!
+
+Eine neue, eine würdige Huldigung dem wundervollen Menschenkind!
+
+»Kommilitonen!« ruft Hans Thumser und schwenkt die grüne Mütze,
+»Kommilitonen! Wir spannen ihr die Pferde aus, wir fahren sie im Triumph
+nach Hause!«
+
+Ein Beifallsgeheul ist die Antwort. Und auf die Gäule stürzt sich
+der Schwall -- im Nu sind die Scheuenden, Schäumenden abgesträngt,
+der fluchende, peitschenschwingende Kutscher entwaffnet und vom Bock
+gezerrt ...
+
+»Verrickt seid 'r! Alle mitenander seid 'r übergeschnappt! Der Deifel
+soll Euch hol'n!«
+
+Und hundert Hände packen zu, langen nach der Deichsel, den Zugscheiten,
+den Strängen -- hundert Hände greifen in die Speichen -- hurra! Der
+Wagen rollt, rollt mit seiner vielgeliebten Fracht ... Und allen voran
+als Führer, den Hut auf dem Stock balancierend, den Stock im Takt
+schwingend wie ein Tambourmajor schreitet einer, der den Weg kennen
+muß: Franconiae gewesener Erster, Erster, Erster _ad interim_!
+
+Und der Wagen rollt die Sophienstraße entlang, umdröhnt vom Jauchzen
+schönheitstrunkener, größeberauschter Jugend ... Rollt die Zeitzer
+Straße, den Peterssteinweg hinab, der Altstadt zu ... Und immer
+zahlreicher wird das Huldigungsgefolge hinter dem Triumphzug, den Jugend
+der Jugend, der Schönheit, der Kunst bereitet, immer betäubender
+schwillt der allgemeine Jubel:
+
+»Jucunda Buchner -- hoch -- hoch Jucunda -- unsre Jucunda!«
+
+
+
+
+ 4.
+
+
+Als der Triumphwagen endlich in der Katharinenstraße hielt, zog der alte
+Buchner den riesigen Hausschlüssel aus der Tasche und stieg als erster
+aus. Ein hundertstimmiger Jubel empfing ihn ...
+
+»Das ist der Vater -- Jucundas Alter ist das -- Papa Buchner hoch!
+hoch!«
+
+Ein Dutzend Hände waren ihm behilflich, hoben ihn über die Bordschwelle,
+ganz betäubt humpelte er durch die Gasse, die sich vor seinen Schritten
+öffnete, fand die Tür seines Hauses zu seiner Verwunderung bereits
+geöffnet und schlüpfte hinein, wie erlöst, daß er dem Getös entronnen
+...
+
+Und nun schob sich Mama Buchners massives Gestell aus der Droschke.
+
+»Achtung, jetzt kommt Mamachen!« schrien kecke Stimmen. »Platz für
+Mamachen!« Geblendet vom grellen Licht der Gaslaterne, dicht neben dem
+finstern Hauseingang, verwirrt vom Stimmengewirr, dem Glanz blitzender
+Augen, dem Durcheinander winkender Hände, flatternder Tücher verfehlte
+Mutter Doris mit unbehilflich suchendem Fuß den Wagentritt und wäre
+gestürzt, hätte nicht ein sehniger Arm sie gefaßt und ihre schwerfällige
+Gestalt mit sicherem Griff aufs Trottoir, auf die Beine gestellt. Und
+gleich darauf fühlte sie ihre Hand in diesen sehnigen Arm hineingezogen,
+fühlte sich sicher und ritterlich der Haustür zugeführt -- sah dankbar
+zu ihrem Beschützer empor und -- sah in das verlegenheitglühende Gesicht
+ihres Mieters ...
+
+»Gnädige Frau --« stammelte Pilgram.
+
+Gnädige Frau --?! Es war das erstemal, daß ihr Student diese Anrede für
+die Frau Kanzleirätin fand ... sie war direkt erschüttert ...
+
+»Herr Pilgram -- nee heer'n Se, das is aber hibsch von Ihn' ...«
+
+»Darf ich Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch zu dem Riesenerfolge
+Ihres Fräulein Tochter -- gnädige Frau? und zugleich auch meine Bitte um
+Entschuldigung wegen meines unqualifizierbaren Benehmens von vorgestern
+morgen --«
+
+»Ach sei'n Se still, Herr Pilgram -- scheen war's ja grade nich ... Aber
+Sie haben's ja gut gemacht ... Also woll'n mer uns wieder vertragen!
+Aber wo bleibt denn 's Kind?«
+
+'s Kind war noch nicht abkömmlich. Sie mußte draußen die Dutzende von
+Händen schütteln, die sich ihr entgegenstreckten ... Und dabei liefen
+ihr die hellen Tränen nervöser Seligkeit über die Backen ...
+
+»Dank ... tausend, tausend Dank!« Das war das einzige, was sie nur immer
+wieder stammeln konnte ...
+
+Und endlich fiel die Pforte denn doch ins Schloß, während die
+begeisterte Jugend draußen weiter jubelte und tobte. Kanzleirat Buchner
+wollte abschließen, aber Valentin Pilgram kam ihm zuvor. Und dann
+entzündete er ein Wachsstreichholz und geleitete Mama Doris mit der
+Galanterie eines Oberhofmarschalls die knackenden Treppen des
+altehrwürdigen Baues hinan, der einstmals ein feierlich elegantes
+Patrizierhaus gewesen war ... Der Kanzleirat und die Heldin des Abends
+folgten.
+
+Oben wollte sich Valentin verabschieden, um in seinem Zimmer zu
+verschwinden, aber Jucunda rief:
+
+»Was? Sie wollen schon schlafen? Nee, gibt's nich! Muttel, mach' Licht
+in der guten Stube! Wir schwatzen noch eins! Und Du, Alter, rück' mal
+ein paar Pullen Gose heraus! Ich hab' einen Pferd'sdurst!«
+
+Und sieh -- nach wenigen Minuten war's hell und mollig in der
+behaglichen Wohnstube, und während Mutter Buchner drinnen Bemmchen
+schmierte und Papa Kanzleirat Zigarren und Aschenbecher bereit stellte,
+sorglich aus den dickbauchigen Goseflaschen das bernsteingelbe
+bitterliche Naß in die hohen Stangengläser plätschern ließ, stand
+Valentin Pilgram voll nie gefühlter Empfindungen am Fenster, hinter
+Jucundas hoher Gestalt, die noch immer hinaus auf die Straße winkte und
+Kußhände warf, während von drunten, vom Straßendamm empor ohn' Ermatten
+das Begeisterungsgebrüll der Burschen tönte, die Taschentücher der
+Mädels flatterten ...
+
+»So, Kind,« sagte Mutter Doris endlich, »nu mache schon Schluß, daß Du
+was zu essen und zu trinken kriegst ... Bitte, Herr Pilgram, nehmen Sie
+Platz!«
+
+Valentin und Jucunda traten vom Fenster zurück. Jetzt erst fand das
+Mädchen Zeit, den jungen Gesellen zu mustern.
+
+»Sie sind wohl einen halben Kopf größer als ich,« sagte sie anerkennend.
+
+»Aber Sie -- Sie sind ... etwas ganz Besonderes ... eine ganz andre
+Sorte von Mensch als ... nu als wir gewöhnlichen Leute, wir simplen
+Rechtskandidaten ... und so was.«
+
+»Erlauben Sie mal -- Sie sind doch auch was Besonderes ... Erster
+Chargierter des ältesten und angesehensten Korps in Leipzig ...« Sie
+wies auf einen Stuhl.
+
+»Gott -- gnädiges Fräulein ... Wie können Sie so was überhaupt ... das
+sind doch Kindereien, wenn man's mit ... mit Ihrer Kunst vergleicht ...«
+
+O Valentin Pilgram -- wer dir das gestern prophezeit hätte ... daß du so
+zu einer Komödiantin sprechen würdest ... daß die Heiligtümer deiner
+Seele so schnell verbleichen würden ...
+
+»Na, nu nähmt mal gefälligst ä bißchen Platz, Kinder!« rief der
+Kanzleirat ...
+
+Kinder --?! Es durchfuhr die beiden jungen Menschen ... ein seltsames,
+ahnungsvolles Gefühl ... Mit einem Male war Jucunda Buchner nicht die
+glückverwöhnte, reichbegnadete Künstlerin, sondern ein Backfisch von
+achtzehn Jahren ... und Valentin Pilgram nicht der Sohn des
+Senatspräsidenten am Dresdener Oberlandesgericht, nicht der Erste
+Chargierte eines wohllöblichen C. C. der Franconia, sondern ein Knabe
+von vierundzwanzig, in all seiner senioralen Würde doch noch immer ein
+junger, lebensunkundiger Novize des Daseins ...
+
+Zwei blutjunge Menschen ... zwei Kinder ... beide gewachsen wie ein paar
+Tannen, beide jung, stark und heiß ...
+
+»Kinder!« hatte der alte Mann gesagt ... Wie seltsam das die Seele traf
+...
+
+Beider Augen waren gesenkt, beider Stirnen glühten, als sie sich setzten
+...
+
+Man stieß mit den langschäftigen Gosengläsern an, Jucunda tat einen
+tiefen, herzhaften Schluck und biß dann nicht minder herzhaft in ihre
+Butterbemme.
+
+»Donnerkiel!« sagte sie, »das tut aasig gut ...«
+
+»Nu sagen Se, Herr Pilgram, wie sind Sie denn bloß in's Theater
+gekommen? Ich hab' gedacht, Sie haben gar nischt iebrig für die Kunst?«
+erkundigte sich Mama Buchner.
+
+»Ja ... Frau Rätin,« sagte Valentin, »wie soll ich Ihnen das erklären?
+Sie haben nämlich recht ... Ich hab' wirklich nicht viel Sinn für die
+Kunst ... Ich -- nu ich war eben ... neugierig war ich -- auf meine
+Budennachbarin ...«
+
+»Sehr schmeichelhaft!« lachte Jucunda und zündete sich eine Zigarette
+an. »Na und -- und was sagen Sie nu?«
+
+»Gar nischt sag' ich --« bekannte der Student. »Wissen Sie ... zum
+Komplimente machen ... bin ich nicht maulgewandt genug ... ich kann nur
+sagen: dies war der schönste Tag meines Lebens.«
+
+»Hehe -- da siehst es, Jucunda, was fier ä Kerle Du bist!« schmunzelte
+der Kanzleirat.
+
+»Ach -- das geht doch nicht auf mich!« wehrte Jucunda ab. »Herr Pilgram
+ist eben von Schillers großer Dichtung so ergriffen gewesen ...«
+
+»Ne, gnädiges Fräulein, das könnt' ich nu gerade nich sagen,« erklärte
+Valentin. »Ich bin eben doch, wie mein Korpsbruder Thumser sagt, ich bin
+doch ein Banause. Schiller? Ich weeß nich ... es ist mir doch zu viel
+Schmalz an der Brühe ... Wenn Sie nicht gewesen wären, gnädiges
+Fräulein, ich glaube nicht, daß ich wäre bis zum Ende dageblieben ...«
+
+»Schämen Sie sich!« zürnte das Mädchen.
+
+»Ja -- 's tut mir selber leid, daß ich so wenig Verständnis habe für die
+sogenannte Kunst ... Sehen Sie ... ich stamme aus einer alten Juristen-
+und Beamtenfamilie ... bei uns zu Hause ist nie von was anderm die Rede
+gewesen wie von Dienst und Vorgesetzten und Karriere machen und Orden
+kriegen und Gesetzesnovellen ... und das Theaterspielen und Musikemachen
+und Bilderklexen und Verseschmieren -- nee, davon hat man bei uns nie
+was wissen wollen. Aber was Arbeit und Pflicht und Gehorsam ist und
+Gewissenhaftigkeit und Treue ... das ist mir eingepaukt worden von
+Kindesbeinen an ... und nicht nur mit der Moralpredigt, sondern mit dem
+guten Beispiel, dem nachahmungswürdigen Vorbild ...«
+
+»Das is sähr scheen, wenn man das von sein' Elternhause kann sagen --«
+meinte der Kanzleirat. »Prost, Herr Pilgram -- Ihre Herren Eltern sollen
+leben.«
+
+Andächtig tat Pilgram Bescheid. Aber Jucunda war des trockenen Tones
+satt:
+
+»Erzählen Sie mir lieber von heut abend -- erzählen Sie mir, wie ich
+Ihnen gefallen habe! Sie können's ruhig ein bißchen dicke machen ... Sie
+haben ja gar keine Ahnung, wieviel Honig und Weihrauch unsereins
+vertragen kann nach so einer gewonnenen Schlacht ...«
+
+»Aber Jucunda -- so schäme Dich doch! Was soll denn Herr Pilgram von Dir
+denken?«
+
+»Na -- nichts als was wahr ist! Daß ich eine ganz eitle, verwöhnte
+Komödiantin bin! Nicht wahr, Herr Pilgram, so denken Sie doch! Nur
+heraus damit ...«
+
+»Gnädiges Fräulein, ich denke an nichts andres als an den Augenblick, wo
+Sie zuerst herauskamen ... Wir waren zu spät gekommen, aus dem S. C.,
+wissen Sie? da muß man aushalten -- und als wir kamen, hatte der erste
+Akt schon angefangen ... und ich langweilte mich und dachte: na ja,
+Schiller ... und überlegte, was für ein Aufsatzthema mein alter
+vermickerter Professor auf Prima in Dresden wohl aus diesem ersten Akt
+herausgeschlagen hätte: Würde Johanna d'Arc ihr Vaterland auch errettet
+haben, wenn Karl der Siebente anstatt mit den Engländern mit den
+Deutschen Krieg geführt hätte? oder so ähnlich ... Und da -- da kamen
+Sie -- und auf einmal wurde alles wahr und richtig und interessant und
+... na ja eben schön ... mit einem Wort ...«
+
+»Ich seh's kommen, daß se Dich noch ganz närr'sch werden machen, Jucunda
+--« kicherte der Kanzleirat.
+
+»Ach ja ... macht mich nur ruhig närrisch, Kinder -- es ist ja so schön,
+gefeiert zu werden ... und begraben zu werden unter Lorbeer und Rosen --
+und die Pferde ausgespannt zu kriegen ... hören Sie, Herr Pilgram -- die
+Idee, die war wohl von Ihnen?«
+
+»Ehrlich gestanden, nein -- so leid mir's tut -- aber den glorreichen
+Einfall, den hat mein Korpsbruder Thumser gehabt ...«
+
+»Schade -- sonst hätten Sie wahrhaft'gen Gott 'nen Kuß gekriegt dafür
+--«
+
+Der Kanzleirat drohte der Tochter lächelnd mit dem Finger.
+
+»Säh'n Se, Herr Pilgram, wie se Ihn' schon überschnappt?«
+
+Und er ließ frische Gosefluten in die Gläser kluckern.
+
+Aber allmählich fielen dem alten, hageren Männchen, das sein ganzes
+Leben in der muffigen, überhitzten Luft der Königlichen Justizbureaus
+zugebracht hatte, die geröteten Aeugelchen zu. Er verabschiedete sich
+und humpelte ins Schlafzimmer.
+
+Auch Mutter Doris fiel allmählich ab.
+
+»Nu, Herr Pilgram, wie denken Sie über's Schlafengehen?«
+
+»Gibt's nich!« erklärte Jucunda. »Wenn Du müde bist, Mamachen, kriech in
+Gottes Namen in die Posen ... Ich bin noch nicht fällig, und Herr
+Pilgram wird mir Gesellschaft leisten, bis meine Nerven ausgezappelt
+haben ...«
+
+Und die jungen Menschen waren allein. Es wurde still, ganz still
+ringsum. Von der Katharinenstraße klang ab und an noch das schläfrige
+Geklapper eines heimwärts trottenden Droschkengauls ... Vom nahen
+Rathausturme meldeten die Glocken mit hallenden Schlägen Viertelstunde
+um Viertelstunde ... sonst nichts mehr. Leipzig schlief.
+
+»Erzählen Sie mir mehr von sich!« sagte Jucunda und legte sich mit
+behaglichem Gähnen in die gestickten Schoner des grünen Plüschsofas
+zurück. »Aber nicht so was Langweiliges vom Korps und von Ihren
+Fechtereien und vom Examen und so! Was Schönes ... was Interessantes!«
+
+»Ach, gnädiges Fräulein -- ich bin ein schrecklich uninteressanter
+Mensch ... ich schäme mich ordentlich, ich werde ganz klein, wenn ich
+mein Leben mit Ihrem vergleiche.«
+
+»Na, aber Sie müssen doch irgend was Besonderes erlebt haben ... Waren
+Sie denn nie verliebt? Haben Sie nie ein Mädchen geküßt?« Sie zündete an
+dem Rest ihrer Zigarette eine frische an, pustete eine dicke Rauchwolke
+zu Valentin hinüber und schielte durch den Qualm hindurch neckisch
+blinzelnd zu ihm hin.
+
+Valentin Pilgram wurde verlegen. »Hm ... ich weiß nicht recht, was ich
+da antworten soll ... als Künstlerin wissen Sie doch jedenfalls schon
+manches vom Leben ... und wissen, was wir jungen Männer, Studenten und
+so -- wie soll ich mich nur ausdrücken?«
+
+»Na, daß Ihr gerade keine Tugendspiegel seid ... Euch mit Kellnerinnen
+und ... so 'ner Sorte von Weibsbildern herumtreibt ... Herr Pilgram, ich
+bin ein Leipziger Kind, das alles ist mir nichts Neues. Aber -- sowas
+zählt doch hoffentlich nicht?«
+
+»Nein -- Sie haben ganz recht ... es zählt nicht ... Sehen Sie, man
+betrinkt sich ja auch zuweilen mal ganz stumpfsinnig ... so ähnlich ist
+das ...«
+
+»Und -- sonst? Sonst haben Sie noch gar nichts ... erlebt? Niemals eine
+richtige ... eine Leidenschaft ... ein Gefühl, daß Sie so richtig die
+Zügel aus der Hand verloren haben? Daß es mit Ihnen durchgegangen ist
+wie ein wildes Pferd, so zuck, zuck, hoppla, hopp, über Stock und Stein,
+nur vorwärts, ins Weglose, ins Nichts -- nur vorwärts ... komme was
+wolle?!«
+
+Hingerissen hing Valentins Blick an den flackernden Augen, dem zuckenden
+Munde des Mädchens. »Ach nein ... gnädiges Fräulein ... so was hab' ich
+nie erlebt ... ich glaube auch, so was kann mir nie passieren ... dazu
+sind wir Pilgrams viel zu korrekt ... viel zu gewissenhaft ...«
+
+»Schade --« sagte Jucunda. »Ich denke mir, das müßte schön sein ...«
+
+»Das ... glaube ich auch ...« sagte Valentin langsam. »Schön ... und
+schrecklich ...«
+
+»Wie wär's, wenn wir nun schlafen gingen? Ich fange doch allmählich an,
+abzufallen ...«
+
+»Schade!« sagte nun der Student. Seine Augen überflogen noch einmal die
+weiße Gestalt, die sich in so fester, straffer Leiblichkeit abhob von
+dem verschlissenen Samt, auf dem sie ruhte, beide Ellbogen nach vorn
+emporgewinkelt, die Hände nach rücklings um die Lehne des Sofas
+geklammert.
+
+»Gott, war das ein Tag!« sagte das Mädchen. »Ein Schlachten war's, nicht
+eine Schlacht zu nennen! Aber das Hübscheste daran war doch, daß ich Sie
+nun kenne, Nachbar ... daß ich Sie Grobian doch ein bißchen gebändigt
+habe ... nicht wahr? Und daß wir zwei nun allein noch übrig sind von all
+dem Trubel und Trara ... was? Ist das nicht nett? Aber Sie sagen ja gar
+nichts?«
+
+»Was ... soll ich sagen?« stotterte der Student. »Ich ... sehe Sie
+an ... und denke, daß morgen ... morgen das alles vorbei ist ... daß Sie
+morgen wieder die allgefeierte Jucunda Buchner sind ... und ich ...
+irgendein simpler, gleichgültiger Rechtskandidat ... der Ihnen nichts
+sein kann ... nichts für Sie tun ... Ihnen nichts bedeutet als eben ein
+Stück Publikum ... einer von den Tausenden, die Ihnen allabendlich
+zujubeln, ohne daß Sie sie kennen, mehr für sie übrig haben als ein
+geschäftsmäßiges Lächeln, wenn der Vorhang sich noch einmal hebt ...«
+
+»Wer weiß!« sagte Jucunda mit einem gnädigen Blick. »Vielleicht, daß ich
+doch einmal einen ... einen Ritter brauchen kann ... dann will ich mich
+an diese Stunde erinnern ... und Sie rufen ... Soll ich?«
+
+»Gnädiges Fräulein ...« sprach Valentin Pilgram heiser ... »Das wäre
+mehr Gunst vom Schicksal, als ich Mut habe zu hoffen ...«
+
+Sie reichte ihm die feste, warme Hand. Er küßte sie ... ehrfurchtsvoll,
+als sei es einer Fürstin Hand ... und ging.
+
+Als er die Tür zu seinem Kämmerchen hinter sich geschlossen, stand er
+einen Augenblick im tiefen Dunkel, regungslos. Ihm war's, als drehe sich
+alles um ihn im Wirbel. Und der reckenhafte Gesell, der
+zweiundzwanzigmal dem Schläger und fünfmal dem Säbel Stirn und Brust
+geboten, fühlte ein rätselhaftes Grauen vor etwas Kommendem, dem er
+keine Deutung wußte ... das im Dunkel hockte und ihn ansah mit den
+blauen, hellen, befehlenden Augen, von denen er fühlte, daß er ihnen
+gehorsam sein müßte, was immer sie ihm gebieten würden.
+
+
+
+
+ 5.
+
+
+Die zwölf halben Liter Tucher, die Hans Thumser nach dem Jucunda-Rummel
+auf der Kneipe noch in seine ausgepichte Fuchsmajorskehle gepumpt,
+hatten die Erregung der zappelnden Nerven untergekriegt und für die
+nötige Bettschwere gesorgt -- zum Anfang wenigstens. Aber dennoch -- als
+der Student plötzlich aus dumpfen, wirbelnden Träumen in die Höhe fuhr,
+so daß der kaum verheilte Schädel krachend gegen die Rückwand seines
+Bettes bumste -- da war es noch stockfinster, und wie er ein Streichholz
+entzündete, wies die Uhr halb vier ...
+
+Und wieder Dunkelheit und Schweigen, und im Herzen schwirrend und
+rumorend viel hundert Bilder, viel tausend Farben und Klänge ...
+
+Wo soll es hin, das alles?! Was will's von dir, dies tolle, glühende
+Leben?!
+
+Da horch ... ein seltsamer Laut ... ein zager, verzitternder ... von
+irgendwoher aus dem Dunkel ... und wieder ... und wieder ... derselbe
+bang verschwebende Klageton ...
+
+Weinen ... Weinen einer Frauenstimme -- ganz leise, mühsam unterdrückt
+... von Tränen umschleiert ... erschütternd ...
+
+Nun scheint's zu verstummen ... horch -- kein Laut mehr ... doch nein --
+nur heftiger jetzt die wimmernde Klage ...
+
+Um Gott -- das ist -- da nebenan -- das ist ... Asta Thöny ...
+
+Tränen ... Tränen in Frauenaugen -- entsetzlicher Gedanke für einen
+Jüngling, einen tatensehnsüchtigen, weltgläubigen -- wer konnte
+glücklich sein, ach nur ruhig sein, nur schlafen -- wenn ein Mensch, ein
+Mädchen weinen mußte?!
+
+Himmel -- vielleicht ist sie krank geworden -- Agnes Sorel, die
+kätzchenweiche, mit dem süßen, rosigen Hals, den dunklen, flirrenden
+Augensternen ... windet sich in Schmerzen ... und niemand hört sie,
+niemand steht ihr bei, denn sie ist nicht ein gehegtes, umsorgtes
+Haustöchterlein wie Hansens Schwestern daheim -- sie ist ganz allein auf
+der Welt -- einsam, schutzlos, hilflos ...
+
+Gott, wenn das doch enden wollte! Das ist ja nicht zu ertragen, diese
+hilflose Klage ... Aber was kann man tun?
+
+Sich melden -- seinen Beistand anbieten ...
+
+Aber -- könnte das nicht -- mißverstanden werden? Nachdem er nun einmal
+die dummen, zudringlichen Verse hinübergeschickt? Und einen so
+wohlverdienten, ach, eigentlich noch viel zu schmuck bebänderten Korb
+gekriegt?
+
+Aber -- wenn sie nun wirklich leidend wäre -- Hilfe brauchte -- gewiß,
+sie würde nicht böse werden ...
+
+Oder -- wenn man Mutter Ach weckte -- und ihr mitteilte, das Fräulein
+scheine nicht wohl zu sein?
+
+Aber -- wenn's nun gar nichts Ernstes wäre -- vielleicht nur eine Laune,
+eine kindische Gereiztheit -- was weiß ich -- dann hätte man um nichts
+und wieder nichts den schnarchenden Schlummer der ehrsamen Wittib
+gestört ... und es gäbe gar noch eine Szene, nachts um halb vier ...
+
+_Enfin_ -- was geht's mich an? Decke über die Ohren und weiter dachsen!
+
+Ja, wenn das so ginge! Die Phantasie hebt an zu spielen -- dringt durch
+die Finsternis, die Tapetenwand und malt in rosigen Farben das Bild des
+einsam weinenden Kindes da drinnen ... und ach, das bange Schluchzen
+dringt auch zum verbarrikadierten Ohr ...
+
+Mut! Es muß!
+
+»Gnädiges Fräulein --?« ganz leise, kaum geflüstert ...
+
+Das Weinen geht weiter, still und bitter ...
+
+»Gnädiges Fräulein --?«
+
+Auf einmal ist's still da drüben -- Finsternis und lastende Stille
+ringsum ...
+
+»Verzeihen Sie, mein gnädiges ... Fräulein ... ich ... hörte ... ich
+ängstige mich ... Sie möchten nicht wohl sein ... Hilfe brauchen ...
+darum hab' ich mir die Freiheit genommen ...«
+
+Noch immer alles still ... offenbar ist man böse ...
+
+»Gnädiges Fräulein ... ich ... ich will nicht weiter beschwerlich fallen
+... Sie wissen nun, daß jemand zur Hand ist, wenn's not sein sollte ...
+Wenn Sie also nichts weiter von sich hören lassen -- dann -- na dann
+darf ich ja wohl annehmen, daß ... daß alles in Ordnung ist ... und dann
+werd' ich also in Gottes Namen weiterschlafen!«
+
+Auf einmal ein Laut ... kein Weinen ... auch kein Wort ... etwas
+andres ... etwas Silbern-Zwitscherndes -- ein ganz feines, ersticktes
+Kichern ...
+
+»Ach so --!« sagte der Student völlig beruhigt. »Na, denn gut' Nacht,
+mein gnädiges Fräulein, und sei'n Sie nicht böse!«
+
+Und krachend warf er sich auf die rechte Seite, fest entschlossen, nun
+aber auch _a tempo_ --
+
+Da horch! Noch einmal ein Lachen, nun aber hell, übermütig -- und dann
+die Stimme, die girrende, die streichelnde der Agnes Sorel:
+
+»Aber bitte ... ich muß ja doch danken für die gute Meinung! Aber sei'n
+Sie ganz ruhig -- mir fehlt wirklich nix -- ich hab' nur so ein bissel
+für mich geweint -- das kann doch vorkommen -- gelt?«
+
+»Na -- wenn's weiter nichts ist ... ich hab' ja solch einen Schrecken
+bekommen ...«
+
+»O -- das tut mir leid -- ich hab' Sie so friedlich -- na ja, so
+friedlich schnarchen gehört -- da hab' ich gedacht: den störst du
+nicht ... und da hab' ich halt ein bissel geweint ... Nehmen Sie's nicht
+übel, es soll nicht wieder passieren ...«
+
+»Aber bitte -- von meinetwegen -- ich weiß ja jetzt, daß es nichts
+weiter zu bedeuten hat, wenn Sie einmal nachts weinen -- da werd' ich
+mich also künftig auch nicht mehr drum aufregen ...«
+
+»Ach du lieber Gott -- zu bedeuten hat's schon was ...«
+
+»Hm ... also doch?! -- -- Können Sie mir's nicht sagen?«
+
+»Ach ... so durch die Tür hindurch ...«
+
+Jetzt fingen Hans Thumsers Hände denn doch ein bißchen an zu zittern. Er
+suchte nach einer Antwort ... fand keine ... Himmel! Meine unsterbliche
+Seele für einen Einfall ...
+
+»Ja ... so durch die Tür ... das geht natürlich nicht recht ...«
+
+Endlich ... das erlösende Wort: da ist's:
+
+»Aber ... wenn ich Ihnen ... morgen früh ... einmal ... meine
+nachbarliche ... Aufwartung machen dürfte ...«
+
+»Hm ... morgen früh?!« Es klang so gedehnt ... so ... nach einem leisen
+Bedauern ... ach nein ... das war ja doch ... da mußte Hans Thumser sich
+doch wohl ... verhört haben ...
+
+»Morgen früh? Da hab ich ja Probe von zehn bis zwei ... Da müssen Sie
+schon morgen nachmittag kommen ... zum Tee um fünf, wenn Sie mögen --
+gelt?«
+
+O Gott ... solch eine Einladung ... zum erstenmal in diesem jungen Leben
+einem so schönen ... so ... verlockenden ... Mädchen gegenüber ... mit
+ihr allein ... Gibt's denn so etwas?! Ist das denn möglich?!
+
+»Nu -- Sie antworten ja gar nicht?« klang's ganz leise. »Sind Sie am
+Ende gar -- schon wieder eingeschlafen?«
+
+»Aber mein gnädiges Fräulein -- wie können Sie nur denken ...«
+
+»Also Sie kommen? Das ist schön. -- Na, nu wollen wir aber auch ... gut
+Nacht, Sie -- Sie Füchschen Sie!«
+
+»Bitte -- Fuchsmajor!« rief Hans Thumser fast laut vor Selbstbewußtsein.
+»Also ... wenn's denn sein muß -- gut Nacht, Agnes Sorel!
+
+ Auch jenseits der Loire liegt noch ein Frankreich,
+ Wir gehen in ein glücklicheres Land,
+ Da lacht ein milder, nie bewölkter Himmel,
+ Und schöner blüht das Leben und die Liebe!«
+
+Ja! Wenn man so ein phänomenales Versgedächtnis hat! Und seinen Schiller
+_intus_!
+
+»Donnerwetter -- allerhand Achtung!« kicherte es von drinnen. »Da möchte
+man ja wahrhaftig -- aber nein -- jetzt wird geschlafen -- gut Nacht,
+Herr Fuchs=major=!«
+
+Tiefe Stille ... Dunkelheit ... und zitternde Sehnsucht ... zitternde
+Hoffnung ...
+
+Hans Thumser fand keinen Schlaf. Zu toll rumorte die Jugendbangigkeit in
+seinen Gliedern ...
+
+Er lauschte, ob er wohl noch einen Laut vernähme von da drüben ... aus
+der Märchenwelt der Träume ... aber alles blieb stumm ... und endlich
+vernahm er durch den lastenden Frieden der Nacht geruhig schwellende,
+leise Atemzüge ...
+
+Sie schlief ...
+
+Da streckte sich auch Hans Thumser mit einem langen Seufzer ... und
+versank.
+
+
+
+
+ 6.
+
+
+Valentin Pilgram war erst spät aufgestanden. In wüstem Halbschlaf, von
+tollen Träumen gequält, hatte er die Nacht verbracht. Nun saß er über
+seinem Drogenwelt-Geruch und knuffte die vier Klassen der
+Gradualerbfolge der Novelle 118 in den schmerzenden Schädel hinein.
+
+Da klopfte es heftig an die Tür seiner Bude, und im selben Augenblick,
+noch eh er: herein! hatte rufen können, schoß auch schon die Frau
+Kanzleirätin herein, im geblümten Morgenrock, dessen Schleppe hinter ihr
+drein waberte, in schleifenbesetztem Häubchen, unter dem die grauen
+Strähnen des ungeordneten Haares hervorlugten:
+
+»Ach herrjeses, Herr Pilgram, Herr Pilgram, kommen Se doch nur mal
+schnell -- 's Kind hat ja en Weinkrampf -- ach es is gräßlich! Kennten
+Se nich gehn und en Doktor holen? Ich hab ja keen' Menschen nich im
+Hause ...«
+
+Valentin schoß in die Höhe. »Einen Weinkrampf? Um Gottes willen, was ist
+denn passiert?«
+
+»Ä Rosenbukett is gekommen, groß wie ä Turm ... un dabei ä Brief, ne, so
+was von einer Unverschämtheit is überhaupt noch gar nich dagewäsen ...«
+
+»Ist sie denn ohnmächtig? Kann ich vielleicht helfen? Darf ich zu ihr
+hinein?«
+
+»I du mein Himmel, Herr Pilgram, se is noch im Neglischee ... na aber, ä
+Kinstlerin -- ä Kinstlerin sieht ja schließlich ooch im Neglischee ganz
+anständ'g aus ... kommen Se nur, Herr Pilgram, helfen Se!«
+
+Aus der geöffneten Tür kam ein warmer Strom von Rosenduft ... und Rosen
+überall, ein Rosenschwall, ein Rosenwald ... betäubend duftende, schon
+leise welkende Rosen ... dazwischen die eigentlichen Blumen der Saison:
+Dahlien, Astern, Erika ... und inmitten, auf eine Chaiselongue
+hingeworfen, in leidenschaftlichem Schluchzen -- sie ...
+
+Ein riesiges Arrangement von Rosen und Chrysanthemen, in Manneshöhe,
+lag umgestürzt auf dem Boden -- daneben ein aufgerissenes Kuvert
+mit aufgeprägtem Wappen, ein zerknitterter Bogen schweren
+Elfenbeinbriefpapieres, und -- -- zwei Hundertmarkscheine ...
+
+Auf dem Tisch aufgereiht die Karten der Spender der übrigen
+Blumenherrlichkeiten -- Jucunda war offenbar eben beschäftigt gewesen,
+den Gebern zu danken, prompt und akkurat, wie es zu den geschäftlichen
+Pflichten einer vielgefeierten Künstlerin gehört ... da war =das da=
+gekommen ...
+
+Frau Buchner hob das Briefchen auf, glättete es und hielt es Pilgram
+hin. »Da läsen Se's -- und sagen Se, ob so was meeglich is -- so eene
+Gemeinheit --!«
+
+Jucunda hatte sich beim Klang der Stimme ihrer Mutter aufgerichtet ...
+nun tupfte sie rasch mit dem nassen Tüchlein die Tränen von den
+glühenden Augen, ordnete das wirre Haar und verfolgte mit gierigen
+Blicken Valentins Gesichtsausdruck, während er das Briefchen durchflog
+...
+
+Valentin Pilgram las ... und eine dunkle Zornesflamme schlug über sein
+feierliches Gesicht.
+
+»Halunken!« knurrte er.
+
+Er las weiter -- nun wendete er das Blatt und sah nach der Unterschrift
+... und plötzlich wurden seine Züge ganz starr, und seine Hände ballten
+sich zur Faust. Dann las er zu Ende ... ließ das Blatt sinken und
+starrte die Schauspielerin an mit Augen, in denen Schreck, fassungs- und
+ratlose Bestürzung stand.
+
+»Sie ... kennen, scheint's, die Herren --?« fragte die Kanzleirätin.
+
+»Es scheint, fast -- ja ... entsetzlich fatal ...«
+
+»Am Ende gar -- Korpsbrüder von Ihnen --?«
+
+»Hm -- wenn's richtige Korpsbrüder von mir wären -- denen wollt ich die
+Flötentöne schon beibringen!! -- aber so ...«
+
+»Aber -- Sie kennen die Absender?«
+
+»Ich ... fürchte ... ich kenn' sie ... von Dillingen ... von Gorczynski
+...« Und mit heftig stammelnden Worten erklärte er den Damen, wer es
+sei, den er hinter diesen Namen vermuten müsse ... und in wie naher
+Beziehung diese Herren zu seinem Korps, zu ihm selbst standen ...
+
+»Da sehen Sie's!« sagte Jucunda. »Ein Erbprinz! Ein Fürst! das muß man
+eben einstecken ... nicht mal verklagen kann man so 'n großes Tier --
+sonst engagiert einen kein Hoftheater mehr ... ganz wehrlos und
+schutzlos ist man ...«
+
+Und wiederum flossen die Tränen über das weiße, herrische Gesicht ...
+und auch die Mutter, vom herzbrechenden Weinen der Tochter angesteckt,
+schluchzte nun los. Um die Wette weinten die Frauen.
+
+Es arbeitete heftig in Valentin Pilgrams festem, offenem Gesicht.
+
+»Nein,« sagte er plötzlich hart und stand mit einem Ruck auf.
+»Schutzlos? Das sind Sie nicht. Guten Morgen, meine Damen.«
+
+»Wohin, Herr Pilgram? Was haben Sie denn? Was ist Ihnen?« rief Jucunda
+und hielt den Studenten am Aermel seines Bratenrockes fest.
+
+»Ich werde Ihnen Genugtuung verschaffen!«
+
+»Sie -- mir? Nein, Herr Pilgram, das ... das geht nicht ... Sie werden
+ja die entsetzlichsten Unannehmlichkeiten haben ... werden sich
+womöglich gar um meinetwillen -- nein, das will ich nicht -- das sollen
+Sie nicht, Herr Pilgram!«
+
+»Nee, nee, Herr Pilgram!« sprudelte auch die Frau Kanzleirätin, »das
+dürfen Se nich machen! Das kenn' wir ja gar nich von Ihn' verlangen! Das
+dürfen wir ja gar nich von Ihn' annähm'!«
+
+»Seien Sie ohne Sorge meinetwegen!« sagte Valentin und reckte sich zu
+seiner ganzen Länge. »Ich bin Manns genug, so eine Affäre standesgemäß
+zu erledigen.«
+
+»Nein, Herr Pilgram, das dulde ich unter keinen Umständen! Wie kämen Sie
+denn dazu, sich für mich ... ich bitte Sie, was gehe ich Sie denn
+überhaupt an?«
+
+Da sah der Student das schöne Mädchen mit einem Blick an, vor dem sie
+die Augen niederschlagen mußte in Schreck und stolzem Machtgefühl
+zugleich. Gott, war das entsetzlich ... war das berauschend schön ...
+was sie da so jäh, so unerwartet erlebte ...
+
+»Erinnern sie sich noch an ... gestern abend?« sagte der Jüngling. »Was
+Sie mir da versprochen haben?«
+
+»Ach ... das war so leichtsinnig daher geredet ...«
+
+»Von =mir= nicht!«
+
+Ach ... wie süß das war ... dies Bewußtsein, daß ein Starker, ein Kühner
+sich einsetzt für dich ...
+
+Aber nein ... das durfte nicht sein ... mit Blitzesschnelle flogen die
+Bilder von hundert schrecklichen Möglichkeiten an ihrem Geiste vorbei.
+Er war doch wohl Jurist -- seine Karriere würde er sich ruinieren --
+sein Examen zunächst ... und wer weiß -- zwar Prinzen -- die schlugen
+sich ja wohl nicht -- aber der Major ... ein Offizier ... ein Duell ...
+Himmel, und der junge Mensch hatte ja doch Eltern daheim ... und
+schließlich -- auch sie selber konnte eigentlich keinen Skandal
+gebrauchen ... was wohl Franz Burg dazu sagen würde ... und ihr
+gnädiger, gütiger Herr daheim in Meiningen ...
+
+»Herr Pilgram -- das darf nicht sein! Ich bitte Sie, wenn Sie wüßten,
+wie oft unsereine so etwas erleben muß -- wenn man da jedesmal Krach
+machen wollte! Die Herren haben's ja wahrscheinlich gar nicht so schlimm
+gemeint -- haben sich wohl gar nichts dabei gedacht --«
+
+»Sie haben ... weinen müssen ...« sagte Valentin Pilgram durch die Zähne
+... »das sollen sie mir bezahlen ... die zwei.«
+
+Und mit sanftem Druck machte er die große, schlanke Hand los, die seinen
+Rockärmel noch immer gefaßt hielt, küßte sie ehrerbietig und ging zur
+Tür.
+
+»Ach -- die dummen Tränen --« rief Jucunda -- »das macht nichts, die
+sitzen einem Mädchen ja so lose ... sehen Sie, ich lache ja schon wieder
+... ich lache ja doch --«
+
+Und sieh: da liefen ihr wirklich aufs neue die heißen, hellen Tropfen
+über die glühenden Backen ... sie schluchzte wie ein Kind:
+
+»Ich will aber doch nicht -- Sie sollen nicht, Herr Pilgram --!«
+
+Der war schon aus der Tür, schritt in seine Bude hinüber, riß die neuste
+grüne Mütze vom Nagel und stülpte sie auf den Schädel. Nahm sein
+silberbeschlagenes spanisches Rohr und ging zum Flur ... klinkte mit
+hartem Ruck die Pforte auf und stieg mit hallenden Tritten die Treppen
+hinab. Aus der steinumschnörkelten Pforte des altersgeschwärzten
+Barockhauses trat er auf die belebte Katharinenstraße, ging den Markt
+hinunter am Ladengewimmel des Rathausparterres vorbei und stolzierte
+grimmigen Schrittes die Grimm'sche hinab.
+
+Und dabei sann er, was zu tun. Also jetzt werde ich die beiden Burschen
+ankontrahieren müssen -- nicht auf Pistolen, bah! Vor die Klinge sollen
+sie mir, vor die krumme! Freilich, der Prinz wird sich wohl hinter seine
+Hausgesetze verkriechen und mir einen Ersatzmann präsentieren ... aber
+der Major, dieser aalglatte Streber -- der muß 'ran! Hat ja auch wohl
+jedenfalls den saubern Wisch verfaßt -- denn des Prinzen kindliche Pfote
+war das nicht, die kenn' ich doch! Na, und dann wollen wir dem mal
+zeigen, was 'ne Prim ist!
+
+Hm ... aber ... wie stellt sich das Korps dazu? Der Prinz ist
+Konkneipant unseres Bundes, trägt offiziell seine Farben ... also ...
+ich werde austreten müssen ... und nicht nur _pro forma_, denn sie
+können mir ... nach dem Skandal können sie mir niemals das Band
+zurückgeben ...
+
+Teufel auch, da hab' ich mir ja eine schöne Suppe eingerührt ...
+
+Aber was kann das helfen ... Ritterpflicht ist Ritterpflicht ... kein
+Mädchen, und wär's zehnmal eine Komödiantin -- keine soll klagen, daß
+ihre Ehre schutzlos sei, solange Valentin Pilgram noch eine Klinge
+führen kann ... Hatte er sich nicht ihrem Dienste gelobt -- gestern
+abend? Und wie rasch war das nun gekommen, daß dies Gelöbnis ihn zu
+Taten rief!
+
+Geld hatte man ihr zu bieten gewagt ... ihr, die ganz Deutschland
+vergötterte ... ihr, die vor seinen Augen dastand in so stolzer
+Reinheit, wie eine Heilige ... die hatte man kaufen wollen wie eine ...
+wie eine aus den dunklen Gäßchen der Stadt, durch die am hellsten Tage
+niemand gehen mochte --?! Das forderte Blut -- nur mit Blut war das zu
+sühnen --!
+
+Aber ... du selber, Valentin Pilgram --?
+
+Hm ... ist das nun nicht eigentlich doch ein Narrenstreich? Hat sie
+nicht doch recht gehabt, als sie sagte: was geh' ich Sie an --?!
+
+O Valentin Pilgram, Rechtskandidat im achten Semester -- greif' in deine
+Brust und frage dich: geht sie dich an -- diese -- diese da?!
+
+Ja -- wenn eine in der Welt, dann geht diese da dich an ... denn,
+Valentin Pilgram, so närrisch das auch klingen mag ... Du bist ...
+diesem Mädchen bist du verfallen seit dem Augenblick, als sie durch die
+Gasse des jauchzenden Volkes vor Karl den Siebenten trat ... und
+zugleich in dein Leben, Valentin Pilgram, schicksalsgewaltig ... für
+immer -- für alle deine Tage --!
+
+Nun lag vor dem Schreitenden, herbstsonnenübergoldet, der Augustusplatz:
+zur Rechten flimmerten die Wasser des Mendebrunnens, reckte sich die
+finsterblinkende Front des Museums; zur Linken stieg in heiterer Anmut
+der köstliche Bau des Neuen Theaters ins duftige Blau. Dorthin strebte
+Franconias Senior, denn er wußte zu dieser Stunde das Korps im
+Restaurant auf der Theaterterrasse zum Frühschoppen versammelt. Vor ihm
+wanderte noch eine andere grüne Mütze: Pilgram ließ den Frankenpfiff
+schallen: da fuhr der Kopf unter der grünen Fuchsmütze herum:
+
+»Ah ... Pilgram --«
+
+Ehrerbietig zog das blonde Füchschen vor dem gestrengen Ersten den
+Deckel und sprang heran.
+
+»Also, Hartwig, geh' zum Frühschoppen und sage dem Fuchsmajor, er möge
+sofort die Korpsburschen zum außerordentlichen Korpskonvent
+zusammenbitten! Ich erwarte die Herren im Flügelzimmer des Restaurants
+-- verstanden?«
+
+»Gewiß, gewiß, Pilgram -- ich laufe ...«
+
+Und vom muntern Frühtrunk weg, von der sonnüberglühten Terrasse, wo bei
+rauschender Musik die Korps ihren offiziellen Frühschoppen hielten
+inmitten neugierig beobachtender Fremden, verschwand ein wohllöblicher
+C. C. der Franconia unter dem Rundbogen, der zum inneren Lokal führte,
+und versammelte sich in einem kühlen, abseitigen Gastzimmer zum Konvent
+-- gespannt, was diese unerwartete Ladung zu bedeuten haben möge.
+
+Die Franken waren's gewohnt, daß ein Ausdruck beklemmender Feierlichkeit
+sich über das hagere Gesicht ihres Ersten legte, wenn er den
+Korpskonvent eröffnete: aber so ... so unheimlich offiziell hatten sie
+ihn doch noch niemals gesehen.
+
+»Ich habe dem C. C. von einer persönlichen Angelegenheit Mitteilung zu
+machen, die -- zu meinem größten Bedauern -- mich in einen Widerspruch
+mit den Interessen des Korps bringt. Unser Konkneipant, Seine
+Durchlaucht der Erbprinz, und dessen Begleiter Major v. Gorczynski haben
+sich einer schweren Beleidigung gegen eine Dame schuldig gemacht. Diese
+Dame ... diese Dame steht unter meinem Schutze ... und deshalb sehe ich
+mich genötigt, diesen Herren eine schwere Forderung zu übersenden. Ich
+kann natürlich nicht erwarten, daß das Korps den Erbprinzen zur
+Verantwortung zieht ... und deshalb bleibt mir nichts übrig, als den
+C. C. zu bitten, mir die Entlassung ohne Farben zu gewähren, damit ich
+den Ehrenhandel mit einem Herrn, der offiziell zu den Angehörigen des
+Korps zählt, zum Austrag bringen kann. Wünscht jemand zu meinem Antrage
+das Wort?«
+
+In stummer Verblüffung hatten die jungen Herren den Vortrag ihres
+Häuptlings angehört -- angesteckt von seiner Erregung, seinem fiebernden
+Ernst. Nun baten fast sämtliche Korpsburschen ums Wort und verlangten
+nähere Erklärungen. Man fragte, wie es möglich sein könne, daß der junge
+Prinz mit einer Dame, welche der nächsten Verwandtschaft ihres
+Korpsbruders angehörte -- denn nur um eine solche Dame konnte es sich
+doch handeln -- überhaupt in Berührung gekommen sein könne?
+
+»Die Dame, für die ich einzutreten habe, ist keine Verwandte von mir ...
+es handelt sich um ein junges Mädchen, das außer seinem Vater, einem
+älteren, gebrechlichen Herrn, keinen männlichen Schutz zur Seite hat --
+und für das einzutreten mir deshalb als die Pflicht eines Ehrenmannes
+erscheint, zumal diese junge Dame zugleich eine berühmte und gefeierte
+Künstlerin ist ... es handelt sich um die herzoglich meiningische
+Hofschauspielerin Jucunda Buchner.«
+
+Ein unwillkürlicher Laut des Staunens, der tiefsten Ueberraschung
+entfuhr jedem der jungen Herren. Keiner konnte sich den Zusammenhang
+erklären ... wußte doch außer Hans Thumser noch nicht ein einziger von
+ihnen, daß ihr Erster, der notorische Verächter alles dessen, was Kunst
+und Künstler hieß, überhaupt gestern abend bei den »Meiningern« gewesen
+war ...
+
+»Ich bitt' ums Wort!« rief Ivo Volkner, der temperamentvolle
+Rheinländer, und als der Erste dem Konvent Silentium für Volkner
+anbefohlen: »Ja, lieber Pilgram -- ohne uns in Deine persönlichen
+Angelegenheiten hineinmischen zu wollen -- aber Deine Erklärungen sind
+doch für uns alle dermaßen -- überraschend, daß wir doch wohl um etwas
+genauere Auskunft bitten müssen ... was ist der ... jungen Dame ... denn
+eigentlich passiert ... und wie kommst Du -- gerade Du dazu, Dich zu
+ihrem Ritter aufzuwerfen?«
+
+»Ich will ... zuerst diese letzte Frage beantworten. Oder vielmehr nicht
+beantworten. Liebe Korpsbrüder, Ihr kennt mich und wißt: ich weiß im
+allgemeinen, was ich tue ... Und wenn ich Euch sage, das, was ich zu tun
+vorhabe, das muß sein -- na, dann darf ich vielleicht von Euch erwarten,
+daß Ihr mir das glaubt. Hab' ich recht?«
+
+Allgemeines Gemurmel der Zustimmung.
+
+»Also noch einmal: ich halte mich für verpflichtet, für die Dame
+einzutreten ... und bitte den C. C. ... von einer näheren Darlegung
+meiner Motive ... Abstand zu nehmen.«
+
+Volkner bat ums Wort und fragte:
+
+»Ohne weiter in Dich dringen zu wollen, Pilgram: wir hören doch alle in
+diesem Augenblick zum ersten Male, daß Du die Dame überhaupt kennst.
+Sollten wir dann nicht wenigstens erfahren, wann und ... unter welchen
+Umständen Du ... ihr denn eigentlich dermaßen nähergetreten bist, daß Du
+-- hm! daß Du nun dermaßen für sie in die Verlängerung springen willst?«
+
+»Das kann ich Euch mitteilen ... aber zur Erklärung meiner ... meines
+Entschlusses wird's Euch wenig nützen ... ich muß da schon an ... an
+Euer korpsbrüderliches Vertrauen appellieren ... ich kenne Fräulein
+Buchner erst seit gestern abend ... sie ist die einzige Tochter des
+Kanzleirats Buchner ... bei dem ich zur Miete wohne.«
+
+»Also sozusagen -- _filia hospitalis_!« sagte Volkner, und ein kurzes,
+verständnisvolles Schmunzeln ging über die erregten Gesichter der
+Korpsbrüder.
+
+»Nun, ich denke, ich habe Euch zu diesem Punkte mitgeteilt, was ... was
+sich irgend mitteilen läßt. Und zweitens -- was wolltest Du ferner noch
+wissen, Volkner?«
+
+»Ja -- was denn der Erbprinz eigentlich gemacht hat ...«
+
+»Er hat sie durch seinen Begleiter zum Souper einladen lassen -- na, das
+möchte ja allenfalls gehen ... aber er hat dieser Einladung dadurch
+einen nicht mißzuverstehenden Charakter gegeben -- daß er ... daß er
+zwei Hundertmarkscheine beigefügt hat ...«
+
+Das Lächeln, das bei Erwähnung der Soupereinladung um die Lippen der
+jungen Herren aufgezuckt hatte, erlosch ... Rufe wurden laut:
+
+»Geschmacklosigkeit!«
+
+»Donnerwetter, der geht aber aufs Ganze!«
+
+»Na ja -- ein Förscht -- der denkt eben, er braucht bloß auf'n Knopp zu
+drücken ...«
+
+»Ich denke, liebe Korpsbrüder, Ihr seht ein, daß eine solche infame
+Beleidigung -- einem anständigen Mädchen gegenüber -- Fräulein Buchner
+=ist= ein anständiges Mädchen, und wenn sie zehnmal eine Komödiantin ist
+-- was sagst Du, Thumser? Du kennst sie ja auch?«
+
+Hans Thumser hatte mit einem wahren Toben der Gefühle die Verhandlung
+verfolgt, ohne selbst das Wort zu nehmen. Mein Gott, wie war aus dem
+strahlenden Spiel von gestern so rasch ein grotesker, tragikomisch
+grinsender Ernst geworden! Und was war doch dieser offizielle,
+banausische Pilgram für ein Prachtkerl, daß er sich für ein jählings
+erwachtes Gefühl gleich so ganz und rückhaltlos in die Schanze warf!
+
+Ach, und du, Hans Thumser? was soll denn heut nachmittag werden? Mit was
+für Träumen, was für Begehrnissen, Hans Thumser, trägst du dich?!
+
+»Ein anständiges Mädchen?« rief er zur Antwort auf die Frage des Ersten.
+»Eine Königin ist sie ... eine Göttin ... Pilgram, ich beneide Dich um
+das Glück, für sie vom Leder ziehen zu dürfen!«
+
+»So überschwenglich brauchen wir das gar nicht mal auszudrücken,« sagte
+der Erste. »Aber ein anständiges Mädchen ist sie ... und da ich nun mal
+zufällig das Pech oder ... das Glück habe, mit ihr unter einem Dache zu
+wohnen ... und der erste honorige Mensch zu sein, dem sie sich
+anvertraut hat ... so bleibt ja wohl nichts andres übrig, als die
+Konsequenzen zu ziehen ...«
+
+Bei diesen so nüchtern klingenden Worten schwoll's in all den jungen
+Burschenherzen. Es war der romantische Glanz, der diese Tat ihres
+Korpsbruders, ihres Führers, umwob, der ihnen allen Sinne und Urteil
+blendete. Wenn auch der Idealismus, den das Gymnasium in ihnen erzogen,
+durch die Formen blasierten, kaltschnäuzigen Lebemannstums verdeckt, ja
+stellenweise überwuchert sein mochte -- noch lebte in ihnen allen etwas
+von dem Adelsgeiste, unter dessen Herrschaft ihre ganze Jugend, die
+Formung ihrer Seelen gestanden ... Wohl stieg in manchem von ihnen das
+Gefühl auf, als hätte sich doch am Ende ein Kompromiß finden lassen ...
+noch bedächtigere Seelen bedachten gar insgeheim, daß eine solche
+Katastrophe, auch wenn Pilgram vorher offiziell aus dem Korps
+ausschiede, doch nicht ohne Folgen für die Beziehungen des Korps zu dem
+Erbprinzen und damit vielleicht überhaupt zu den deutschen Fürstensöhnen
+bleiben könne ... In weiter Ferne dämmerte gar hie und da etwas wie der
+Gedanke an verpfuschte Karriere, verspielte Zukunftsaussichten ... aber:
+
+ »Wer die Folgen ängstlich zuvor erwägt,
+ Der beugt sich, wo man die Tiefquart schlägt --
+ Frei ist der Bursch!«
+
+-- das galt auch heute noch, das galt, das sang man nicht nur, so
+handelte man auch -- hol's der Teufel!
+
+Einstimmig ging Pilgrams Antrag durch, ihm die ehrenvolle Entlassung
+ohne Band zu erteilen ... Aber durch jedes Herz ging's wie ein schriller
+Riß, als nun Valentin Pilgram stumm das grün-gold-rote Band von der
+Brust zog, es stumm auf die Mütze legte, die auf dem Tische lag, sich
+mit schweigendem Händedruck von den ... ehemaligen Korpsbrüdern
+verabschiedete ... und, mit einem Handwink im Kreise, an ihnen
+vorüberschritt ...
+
+Er ging durch den Schenkraum des Theaterrestaurants, schritt barhaupt
+quer über den Augustusplatz, kaufte sich in der Passage für seinen
+letzten Taler (Gott sei Dank, morgen ist der Erste!) einen einigermaßen
+schäbigen Filzhut und kehrte dann zur Theaterterrasse zurück. Grüßend
+schritt er am Frankentisch vorbei, wo die harrenden Füchse in stummer
+Verwunderung ihre Mützen zogen, lüftete flüchtig den Hut zu den Tischen
+der übrigen Korps und trat auf den Neo-Borussentisch zu, an dessen
+Spitze der Erste, Herr Borgmann, mit dem gewohnten süffisanten Lächeln
+präsidierte.
+
+»Herr Borgmann -- kann ich Sie einen Moment sprechen?«
+
+»Mit dem größten Vergnügen, Herr Pilgram ...«
+
+Die beiden jungen Herren traten abseits an den Rand der Terrasse, von
+der der Blick hinschweifte zum zitternden Spiegel des Schwanenteiches,
+auf das braune, rieselnde Laub der Anlagen auf dem alten
+Umwallungsgebiet.
+
+»Zunächst gestatte ich mir, Ihnen anzuzeigen, daß ich aus dem Korps
+Franconia ausgeschieden bin ...«
+
+»Herr Pilgram --!«
+
+»Sie werden den Grund sogleich erraten: Ich bitte einen wohllöblichen
+C. C. der Neo-Borussia um Waffenschutz und zugleich Sie persönlich um
+die große Liebenswürdigkeit, Seiner Durchlaucht dem Erbprinzen von
+Nassau-Dillingen und Herrn Major von Gorczynski je eine Forderung auf
+schwere Säbel ohne Binden und Bandagen auf fünfundzwanzig Minuten bis
+zur Abfuhr zu überbringen.«
+
+
+In ratloser Verblüffung waren Mutter und Tochter zurückgeblieben, als
+ihr Student sich so unerwartet und kategorisch zu Jucundas Ritter
+aufgeworfen. Nun sie allein waren, wich die erste Rührung und
+Ergriffenheit bald einem kaltblütigen Erwägen.
+
+»Das gibt weeß Knebbchen än richt'gen Schkandal!« platzte Mutter Doris
+heraus. »Gucke, das hast Du nu davon, daß Du Dich so hast vergessen
+kenn'! Schließlich -- so gefährlich war doch am Ende die ganze
+Geschichte nu nich! Man hätte den Herrn ihr Geld einfach sollen
+wiederschicken -- mit Abzug von's Porto nadierlich -- un den Korb zum
+Gärtner zurück, un all's war in Ordnung! Statt dem wird der nun hingehn
+und wird'n fordern, den Erbprinz, un der Krach is fertig! Un
+schließlich, was wer'n die Leite sagen? Die Buchner hat's mit ä
+Studenten, wer'n se sagen!«
+
+Eine Flut von wirren Gedanken wirbelte durch Jucundas Hirn. Da
+war so unendlich Vieles, was beglückte, erregte, schmeichelte,
+stachelte, berauschte! Welch eine Macht ging von ihr aus -- trieb den
+langen Jungen, einen Sohn aus gutem Hause, den Ersten Chargierten
+des ältesten und angesehensten Korps in Leipzig -- sie war ihren
+Kindheitserinnerungen noch nahe genug, fühlte sich noch immer als
+Tochter eines Hauses, das jahraus, jahrein nur Korpsstudenten
+beherbergte -- wußte das als eine Ehre zu schätzen ... ihn trieb sie in
+tolle, aberwitzige Abenteuer, diese unheimliche Macht, die von ihr
+ausging ... Achtzehn Jahre, und schon der Mittelpunkt von Tragödien und
+Katastrophen ...
+
+Aber da war noch eine andere Stimme: die Stimme der kalt rechnenden
+Vernunft, die Stimme der kleinbürgerlichen Gerissenheit, die das früh
+gewitzigte Töchterchen einer engbegrenzten Spießerwelt auf ihrem Anstieg
+in lichte Höhen des Daseins bisher so sicher geleitet hatte: die warnte
+vor dem Skandal ... mahnte zur Ruhe, zur Vorsicht ...
+
+»Wenn ich nur wüßte, was Hoheit in Meiningen zu so einer Geschichte
+sagen würde ...«
+
+»Nu, ich glaub' nich, daß der gnädigste Herr sähre entzickt mechte sinn,
+wenn's Geschichten gibt wegen en Prinzen aus fürstlichem Hause ...«
+meinte die Mutter.
+
+Jucunda sann, an wen sie sich wohl um Rat wenden könnte. Franz Burg!
+schoß es ihr durch den Sinn. Der wackere, selbstlose Freund und Förderer
+hätte es wohl verdient, daß sie sich überhaupt zuerst an ihn gewandt
+hätte ... Und das hätte sie ja auch sicherlich getan, wenn nicht ihre
+Nerven, noch nachzitternd von den gestrigen Fiebern, ihr den Streich mit
+dem Weinkrampf gespielt hätten ... ja, und da war's eben alles so von
+selbst gekommen, das Andre, das Unwahrscheinliche, das süß Berauschende
+und Erschreckende ...
+
+Mutter Doris war natürlich sehr einverstanden ... Und alsbald war
+Jucunda auf dem Wege zu Franz Burg ... wie sie immer zu Franz Burg
+gegangen war, wenn sie nicht mehr aus noch ein wußte ... es gingen
+sehr viele Menschen zu Franz Burg, wenn sie nicht mehr aus noch ein
+wußten ...
+
+Ach, wie ging sie gern zu Franz Burg! Erstens war es ein behagliches
+Bewußtsein, daß er verheiratet war -- sehr glücklich verheiratet.
+Zweitens war's ein sehr behagliches Bewußtsein, daß -- nun daß er
+trotzdem heftig für sie schwärmte -- so was merkt man doch, nicht wahr?
+-- daß sich hinter seiner trockenen, reservierten Freundschaft eine
+Empfindung versteckte, die gewaltsam gebändigt werden mußte ...
+
+Gott, ist das entzückend, so zu fühlen, zu wissen, daß man wie eine
+allvergötterte Königin durchs Leben schreitet ... Ihr fiel ein, daß sie
+einmal von den Indianern gelesen hatte, sie sammelten die Skalpe ihrer
+erlegten Feinde ... O Jucunda -- wenn du die Skalpe deiner zur Strecke
+gebrachten Verehrer sammeln würdest ... was für ein Museum käme da
+zusammen!
+
+So sann Jucunda, während sie hastig die Petersstraße hinabschritt, den
+Weg, den man sie gestern im Triumphzug heimwärtsgeführt ... Unter dem
+Torweg kaufte sie sich die Morgenzeitungen, außer dem Tageblatt, das
+sie daheim zum Frühstück schon verschlungen, und las die Kritiken ...
+eitel Hosianna über den ganzen Abend, und sie natürlich der Mittelpunkt
+... und hier ein Bericht über ihre Heimkehr, feuilletonistisch
+zurechtgestutzt -- brav so, brav, na ja, so was macht eine bildschöne
+Reklame, das darf öfter passieren!
+
+Erst während sie die Anlagen am Roßplatz kreuzte, den Königsplatz
+überschritt, kam ihr wieder in den Sinn, weshalb sie sich eigentlich
+heut morgen zum Theater aufgemacht hatte, wo sie doch auf Rechnung
+der gestrigen Strapaze von der Probe dispensiert war. Nein, dieser
+gute Pilgram -- so ein Starrschädel! Eigentlich rührend ... und doch
+ein bißchen zum Lachen, daß er sich ihretwegen ... des lumpigen Billetts
+wegen, das doch wahrhaftig nicht das erste gewesen war und auch nicht
+das letzte sein würde ... daß er sich deswegen mit Tod und Teufel
+schlagen wollte -- sich sein Leben verpfuschen reineweg! Also solche
+Männer gab es doch auch ... eigentlich eine Wohltat, wenn man so
+inmitten dieses marklosen, irrlichtelierenden, an großen Worten sich
+betrinkenden und vor jeder Tat mit eingekniffenem Schwanz abseits
+schleichenden Künstlervolks lebte ... Franz Burg war ja eine Ausnahme
+... aber ob er sich ihretwegen auch nur einem Schnupfen ausgesetzt
+hätte statt einer Degenklinge -- das bezweifelte Jucunda denn doch
+eigentlich ...
+
+Da war das Carolatheater ... Jucunda schritt durch den Eingang,
+überquerte das schmale Höfchen, den Kassenflur, in dem sich bereits
+wieder das Publikum um die Abendplätze prügelte -- Gott, wie wird Hoheit
+sich über die Kassenrapporte freuen! -- schlüpfte durch die knarrende
+Eisentür in den Bühnenumgang und horchte am Pförtchen, das zur Bühne
+führte. Burg arrangierte eben das »Lager« ...
+
+»Kinder,« hörte sie seine Stimme, »faßt Eure Kriegsknechte man recht
+feste um 'n Hals -- Ihr seid jetzt keine höheren Töchter mehr, Ihr seid
+Lagerdirnen des Friedländers, die hatten etwas weniger etepetetige
+Umgangsformen als die Leipzigerinnen von 1888! Und wenn's aus Versehen
+mal 'nen handfesten Kuß absetzt -- na, für die Kunst muß man eben Opfer
+bringen können!«
+
+Ja -- das konnte natürlich bis zur Erschlaffung so weitergehen ... und
+dabei war doch Eile not ... Es half nichts, sie mußte unterbrechen ...
+obschon sie wußte, daß er das auf den Tod nicht leiden konnte ... Sie
+trat in den halbdunklen Bühnenraum, den nur die offenen Gasflammen der
+Proberampe matt erhellten. Da stand Franz Burg neben dem Regietisch,
+umringt von der andächtig lauschenden Schar des »Volkes«.
+
+»Suchen Sie mich, Buchner?«
+
+»Wenn Sie einen Moment Zeit für mich hätten, Meister ... es ist dringend
+...«
+
+Jucunda störte nicht ohne Grund -- dafür kannte er sie. Aber allzu
+gnädig klang es nicht, wie er drinnen im Konversationszimmer ein kurzes
+»Also los!« hervorstieß.
+
+Und Jucunda berichtete. Ausführlich entschuldigte sie sich, daß sie sich
+nicht zuerst an ihn gewandt ... ließ deutlich durchblicken, daß ihr die
+ganze Geschichte nur so über den Kopf gekommen ...
+
+Ein sardonisches Schmunzeln zog über's ausgearbeitete Gesicht des
+Oberregisseurs, in seinen dunklen, tiefliegenden Augen tanzten tausend
+Teufelchen.
+
+»Un wat sall ick dorbi dauhn?«
+
+»Helfen sollen Sie, lieber Freund! Das darf doch nicht geschehen!«
+
+»Ganz im Gegenteil, Kindchen -- einer von den dreien muß auf der Strecke
+bleiben -- noch besser alle! Die Schädel sollen sie sich spalten --
+einander auffressen wie die beiden Löwen in dem berühmten Liede:
+
+ Zwei Löwen gingen einst selband
+ In einem Wald spazoren,
+ Und haben da, von Wut entbrannt,
+ Einander aufgezohren!«
+
+»Das -- kann Ihr Ernst nicht sein!«
+
+»Aber blutiger! Was liegt an einem Rechtskandidaten, einem Erbprinzen,
+einem Stabsoffizier! Hin müssen sie allesamt werden, damit Jucunda
+Buchner im Triumph über ihren Leichnamen zum Tempel des Ruhms
+emporwandelt!«
+
+»Ach -- mir ist wirklich nicht nach Späßen zumut!«
+
+»Denken Sie, mir?! Merken Sie nicht, Kindchen: alles, was nicht zum Bau
+gehört, ist Publikum, das heißt, einzig und allein dazu da, uns zu
+bewundern, zu feiern, zu erhöhen ... Gestern abend haben sie Ihnen die
+Pferde ausgespannt und Sie im Wagen nach Hause gezogen: geben Sie mal
+acht, wenn Ihr Student und Ihr Erbprinz sich Ihretwegen gegenseitig
+aufgespießt haben -- was die Leute dann erst mit Ihnen aufstecken! Auf
+Händen werden Sie dann nach Hause getragen!«
+
+»Und ... was wird Hoheit zu der Geschichte sagen?«
+
+»Hm ... Hoheit ...« Burg sann einen Augenblick nach. Allerdings, das war
+zu erwägen ... An Hoheit durfte so eine kindische Affäre natürlich nicht
+herankommen ...
+
+Aber ... würde es denn überhaupt eine Affäre werden? Franz Burg kannte
+die Welt und wußte, daß in ihr nichts so heiß gegessen wird, wie
+jugendlicher Ueberschwang es kochen möchte ...
+
+»Na ... so weit sind wir ja noch lange nicht!« lachte er. »Vorläufig
+wollen wir mal ruhig zusehen, wie das Rummelchen sich historisch
+entwickelt ... Is ja ganz nett, auch mal Zuschauer spielen zu dürfen!
+So, und nun muß ich wieder Affen dressieren -- komm her, Langbeinchen,
+gib mir 'n Kuß!«
+
+
+Als Jucunda auf der Straße stand, sah sie ihre Kollegin Thöny drüben in
+einem Fenster des ersten Stockes liegen. Sie winkte ihr zu.
+
+»Was haben Sie denn da drinnen gemacht, Buchner? Kommen Sie 'nauf, wir
+schwatzen ein bissel!«
+
+Die beiden Rivalinnen kamen rasch ins Gespräch. Plötzlich fiel's Jucunda
+ein, daß ihre Mutter daheim mit dem Mittagessen wartete: Na, dem ließ
+sich abhelfen -- es war nicht alle Tage so nett -- nicht alle Tage
+vertrug man sich so gut mit seinen Kolleginnen -- das mußte man
+auskosten. Sie pfiff sich einen barfüßigen Jungen von der Straße herauf
+und schickte ihn mit einem Markstück und einem Stadttelegramm zum
+nächsten Postamt.
+
+ »Muß probieren, nicht zum Essen erwarten. Jucunda.«
+
+Die Mädchen teilten das frugale Mittagsmahl, das Mutter Ach ihrer
+Pensionärin gekocht hatte, und schwatzten, küßten sich, schworen sich
+ewige Freundschaft ... und Asta Thöny hatte ganz vergessen, daß sie noch
+heut nacht so heiß geweint hatte, weil man Jucunda Buchner die Pferde
+ausgespannt hatte und ihr nicht ...
+
+Und Jucunda Buchner dachte nicht mit einem Sterbensgedanken mehr daran,
+daß um ihretwillen ein junger, wackerer Gesell im Begriff war, seine
+Zukunft und sein Leben auf ein tolles Spiel zu setzen ...
+
+
+Erbprinz Heribert und sein Mentor waren beim Dessert ... Zwei junge
+Leutnants vom hundertsiebenten Regiment, Söhne verarmter
+Nassau-Dillingenscher Adelsfamilien, deren alte Herren nur
+Infanteriezulage erschwingen konnten, waren zu Tische geladen. Man trank
+Pommery und beklatschte Hofskandäler der benachbarten Fürstenhöfe -- da
+wurde in dringlicher, persönlicher Angelegenheit Herr Studiosus Borgmann
+Neo-Borussiae gemeldet.
+
+»Hm ... dringliche, persönliche Angelegenheit? Also bitte ins
+Empfangszimmer ... Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, meine
+Herren ...«
+
+Sporenklirrend ging der Prinz -- den militärischen Gästen zu Ehren war
+er heut in der Uniform seiner Sophiendragoner -- in den Salon hinüber,
+dessen konventionelle Hoteleleganz durch ein paar erlesene Stücke aus
+dem erbprinzlichen Schloß Beauregard eine Art persönliche Note empfangen
+hatte.
+
+Herr Borgmann verneigte sich tief. Unter seiner schwarzen Kompresse
+waren Stirn und Nase erblaßt vor feierlicher Erregung.
+
+»Durchlaucht ... ich bedaure unendlich ... furchtbar peinliche Mission
+...«
+
+»Darf ich bitten, Platz zu nehmen?«
+
+Stotternd entledigte sich Herr Borgmann seines Auftrages.
+
+»Hören Sie mal, mein Verehrtester -- das ist ein Witz ... aber ein
+fader!« sagte der Erbprinz. »Einen Augenblick ... ich werde Herrn von
+Gorczynski rufen lassen, der ist ebenfalls beteiligt ...«
+
+Er klingelte und befahl, den Major zu bitten.
+
+»Nehmen Sie mir die Frage nicht übel, Herr Borgmann -- ist bei Ihrem
+Herrn Auftraggeber vielleicht eine Schraube los?«
+
+»Ich bedaure, als Kartellträger eine Kritik an dem Inhalt meines
+Auftrages ... weder selbst ausüben noch ... entgegennehmen zu dürfen
+...«
+
+»Sehr korrekt!« lobte der Erbprinz. »Sie haben ganz recht -- verzeihen
+Sie. Aber ich bin einstweilen dermaßen baff ... So was hab' ich denn
+doch nicht für möglich gehalten.«
+
+Und zu dem eintretenden Major mit einem boshaften Schmunzeln:
+
+»Nun sagen Sie mal, mein Verehrtester -- was haben Sie uns da denn
+eigentlich eingebrockt? Wir werden gefordert! Wir sollen uns prügeln --
+weil wir den perversen Wunsch geäußert haben, mit der Jungfrau von
+Orleans zu soupieren!«
+
+Der Major begriff nicht -- mußte erst völlig aufgeklärt werden -- und
+dann platzte er hell heraus ... Der Prinz stimmte ein, auch Borgmann
+glaubte aus schuldiger Höflichkeit mitlachen zu müssen ...
+
+»In der Tat, die Sache ist zum Wälzen,« sagte der Prinz -- »aber Teufel
+auch, wie bringen wir diesen rabiaten Burschen, den guten Pilgram, zur
+Ruhe? Wie die ganze verfahrene Karre wieder ins Gleis? Ich danke für
+einen Skandal ... die Sache muß unbedingt in aller Stille arrangiert
+werden.«
+
+»Durchlaucht,« sagte der Major, »ich bin natürlich schuld. Ich habe
+unsre ... hm, hm ... unsre vollkommen harmlose Soupereinladung scheinbar
+doch ein bißchen zu herausfordernd stilisiert ... ich übernehme
+selbstverständlich jede Verantwortung. Zunächst werde ich zu Fräulein
+Buchner hinfahren, mich als den Schreiber des ... verhängnisvollen
+Zettels bekennen ... und für mich, als den allein schuldigen Teil -- die
+Verzeihung dieser ... nun der jungen Dame erbitten. Damit dürfte dann
+wohl die Angelegenheit vollkommen erledigt sein -- nicht wahr, Herr
+Borgmann?«
+
+»Hm ... ich will's hoffen,« meinte Herr Borgmann etwas kleinlaut. »Wenn
+ich den Fall richtig taxiere, ist mein Herr Auftraggeber in ... na, in
+gewissen ... heiligen ... Gefühlen gekränkt ... die bei etwas
+temperamentvollen jungen Leuten leicht eine ... etwas explosive Form
+annehmen ...«
+
+»Ach so -- Koller nennt man das ja wohl,« näselte der Erbprinz. »Ja ...
+aber wenn ein solcher -- hm ... pathologischer Zustand gemeingefährlich
+wird, dann muß eben eine Radikalkur versucht werden. Aeh -- die Sache
+ödet mich ... Ich wünsche, lieber Herr von Gorczynski, daß Sie die
+Angelegenheit völlig ins Reine bringen, verstehen Sie mich?«
+
+»Gewiß, gewiß, Durchlaucht, ich werde es an nichts fehlen lassen ...«
+hastete der Major beflissen.
+
+»Und Sie, Herr Borgmann? Ich rechne auf Ihre Mitwirkung zu einer absolut
+geräuschlosen Beilegung!«
+
+»Durchlaucht wollen versichert sein, daß ich mein möglichstes tun
+werde!«
+
+Mit kurzer Verneigung schritt der Prinz an den beiden Herren vorüber und
+überließ sie ihrer Ratlosigkeit. Auf dem Wege zum Speisesalon brach er
+in ein schallendes Gelächter aus.
+
+So eine gerissene Katze -- bringt's fertig, einen Prinzen, einen
+Prinzenbegleiter und einen langen Laban von Schlagetot vor ihren
+Reklamewagen zu spannen ... und sowas ist achtzehn Jahre alt und spielt
+weißgewaschene Tugendengel dermaßen überzeugend, daß einem ganz
+kniefällig dabei zumute wird ... Na, warte Du, Dich zähm' ich mir noch
+mal, Du süße, weiße Bestie Du -- das lohnt doch noch der Mühe!
+
+»Sie, lieber Aldringen, geben Sie mal 'n Glas Pommery -- aber etwas
+lebhaft, bitte!«
+
+
+
+
+ 7.
+
+
+Major von Gorczynski hatte beschlossen, den Stier bei den Hörnern zu
+packen. So etwas Blödsinniges war ihm in seinem ganzen Leben noch nicht
+passiert! Eine Soupereinladung an eine Bühnenprinzessin, die mit einer
+Säbelforderung seitens eines Korpsstudenten beantwortet wird! Und noch
+dazu eines Korpsstudenten, von dem man mit positiver Bestimmtheit weiß,
+daß er allem, was Theater und Theaterweiber heißt, weltenfern steht! Das
+war zu abgeschmackt ... Was konnte nur vorgegangen sein, das diese
+ausgefallene Konstellation ermöglicht hatte! Das mußte man
+herausbekommen ... Und das Einfachste war, man ging gleich vor die
+rechte Schmiede ... Mit dem Mädel war jedenfalls noch am ehesten fertig
+zu werden ... Absolut geräuschlose Erledigung hatten Durchlaucht
+verlangt? Herr von Gorczynski kannte sich jedenfalls mit Mädeln noch
+besser aus als mit dieser rauf- und trinkfesten Männerjugend in Band und
+Mütze, deren Begriffe und Sitten so was mittelalterlich
+Unkontrollierbares an sich hatten ... Also auf zu Jucunda!
+
+Frau Kanzleirätin Buchner öffnete selbst die Tür und war nicht wenig
+entsetzt, als ein nicht mehr ganz junger, höchst eleganter und --
+hm! -- pikfein parfümierter Herr in Gehrock, Zylinder, hechtgrauen
+Glacés an der Entreetür stand und Fräulein Jucunda Buchner zu sprechen
+wünschte ...
+
+»Fräul'n Buchner is aus -- tut m'r unendl'ch leid ... Aber wenn ich was
+kennte bestell'n -- ich bin die Mutter.«
+
+Herr von Gorczynski musterte die stattliche, rundliche Frau mit
+Kennerblick. Es war nachmittags um vier, aber die ... Dame war noch
+immer in Morgentoilette ... geblümter Schlafrock und Schleifenhäubchen
+... Also aus so einem ... Milieu entstammte das Dämchen, für das der
+Sohn eines hohen sächsischen Justizbeamten Korpsband und Karriere in den
+Wind schlug ... Hm ... Das vereinfachte die Situation allerdings
+außerordentlich. Herr von Gorczynski war auf eine feingebildete Familie
+gefaßt gewesen ... Vielleicht Justiz, Universität, ein Predigerhaus ...
+Und nun ... Na, wenn man mit so etwas nicht geräuschlos fertig werden
+sollte ...
+
+»So ... Sie sind die Mutter ... Na da ist es vielleicht am besten, ich
+unterhalte mich erst mal ein wenig mit Ihnen ... Major von Gorczynski
+ist mein Name.«
+
+Frau Doris fühlte, wie ihr das Herz in die flanellenen Unterhosen
+rutschte. »Ja, aber ... Sie sehen, Herr Major ... Ich bin Sie ja doch
+gar nich angezogen ...«
+
+»Bitte, das macht nichts ... Was ich Ihnen zu eröffnen habe, das können
+Sie auch unangezogen hören. Also wenn ich bitten darf -- oder wünschen
+Sie meine Erklärungen auf dem Hausflur entgegenzunehmen?«
+
+»Ach nee ... Aber gewiß nicht, Herr Major ... Bitte treten Sie ein ...
+in die gute Stube ...«
+
+Herr von Gorczynski überflog mit demonstrativer Geringschätzung die
+verschlissene Herrlichkeit des Buchnerschen Salons. Dann setzte er sich
+mit einer gewissen Vorsicht, als fürchte er, der Samtfauteuil könne
+unter ihm zusammenbrechen, in den grünen Plüsch und sah die vor Erregung
+fiebernde Frau mit durchdringendem Blick an.
+
+»Sie werden sich wohl ungefähr vorstellen können, weswegen ich komme,
+Frau -- Buchner!« begann er scharf. »Nicht wahr?«
+
+Frau Doris' Kinnbacken schlotterten. Da hatte man die Bescherung!
+Und ihr Rat war fern ... Und das Kind ... Und sie mußte den ersten
+Ansturm des Schicksals ganz allein aushalten, von Gott und aller Welt
+verlassen ...
+
+»Nu ja, nu nee ... denken ... kann ich mersch am Ende ...«
+
+»Na also: Um's kurz zu machen: Ihr Fräulein Tochter hat eine Einladung,
+wie sie in der ganzen Welt Abend für Abend an tausend und abertausend
+Kolleginnen Ihrer Tochter ergeht -- die hat sie damit beantwortet, daß
+sie mir und ... meinem jungen Freunde, in dessen Namen ich mit
+unterzeichnet hatte, eine Forderung auf schwere Waffen hat überbringen
+lassen. Darf ich mich zunächst erkundigen, in welchen Beziehungen der
+... junge Herr, der sich zum Beschützer Ihrer Familienehre aufgeworfen
+hat, zu Ihrer Tochter steht?«
+
+»Aber ich bitt' Ihn', Herr Major -- in gar keener Beziehung. Er wohnt
+hier im Haus ... zur Miete ... un da is er ... ganz zufäll'g is er dazu
+gekommen, wie meine Tochter een Weinkrampf hat gekriegt, als das Bukett
+ist angekommen ... un der Brief ... un ... un das Geld ...«
+
+Hm ... das Geld ... und ... ein Weinkrampf ... verdammt peinliche
+Vorstellung ... aber was war zu machen ... man mußte oben bleiben.
+
+»So ... also in gar keinen Beziehungen ... verehrteste Dame, Sie haben
+keinen dummen Jungen vor sich, dem Sie Lederstrumpfgeschichten
+aufbinden können. Ich will also mal annehmen, der junge Herr ist der ...
+Bräutigam Ihrer Tochter ...«
+
+»Ne, ne, wahrhaft'gen Gott nich -- aber gar keene Ahnung ... e junger
+Student, ne, ne, wie kenn' Se nur so was denken ... So was hat meine
+Jucunda wahrhaft'gen Gott nich neetig!«
+
+»Hm ... also nicht ... Na dann wollen wir's dahingestellt sein lassen,
+welcher Art das ... Verhältnis zwischen den beiden jungen Leuten ist
+...«
+
+Jetzt hatte Frau Doris sich denn doch gefunden. Die Ehre ihres Hauses,
+ihres Mädchens --? Ne, ne, damit durfte man denn doch nicht spaßen ...
+
+»Heer'n Se, Herr Major,« rief sie zitternd, doch mit Entschiedenheit,
+»das muß ich mir denn doch ganz ergäbenst verbitt'n! Meine Tochter hat
+kein ... kein Verhältnis nich!«
+
+»In dem Sinne, in dem Sie das Wort verstanden zu haben scheinen, habe
+ich es durchaus nicht gebraucht ... und verbitte mir meinerseits eine
+derartige Auslegung meiner Worte! Nun aber zu Ihrem Fräulein Tochter!
+Hat sie -- und haben Sie als Mutter -- oder wenn Ihr Mann noch unter den
+Lebenden ist --«
+
+»Allerdings -- mein Mann ist der Kanzleirat Buchner -- ein königlicher
+Beamter ...« warf Frau Doris ein, »Ritter des Albrechtkreuzes zweiter
+Klasse ...« Sie richtete sich ordentlich auf an all diesen ehrenvollen
+Tatsachen.
+
+»Na also! Haben Sie alle zusammen sich denn eigentlich nicht klar
+gemacht, was ein so ... rabiates Vorgehen denn eigentlich für Ihre
+Tochter ... vielleicht auch für Ihren Mann ... bedeutet? Ich nehme an,
+daß Sie bereits in Erfahrung gebracht haben, wer wir eigentlich sind --
+wer sich hinter dem Namen von Dillingen versteckt -- hä? Wissen Sie das,
+Frau Kanzleirat Buchner?«
+
+»Ja, ja, ich weeß -- ich weeß,« stammelte die geängstigte Frau und fuhr
+mit dem Rücken der fleischigen Hand über die feucht gewordene Stirn.
+
+»Na also! Bilden Sie sich denn im Ernste ein, ein solcher Herr werde
+sich wegen ... wegen einer Lappalie von einem x-beliebigen jungen
+Menschen zur Rechenschaft ziehen lassen? Nee, verehrte Dame, die Sache
+kommt anders: Es möchte Ihrer Tochter vielleicht doch peinlich sein,
+wenn an ... eine gewisse Stelle ein Bericht über das ... eigentümliche
+Interesse erginge, dessen Ihre Tochter sich in -- hm! Studentenkreisen
+erfreut! Und wenn Ihre Tochter sich überlegt, daß ihr Kontrakt doch
+am Ende noch nicht lebenslänglich und unkündbar ist, und daß es sich
+wenig empfiehlt, sich die Gunst eines jungen Fürsten zu verscherzen,
+der einmal der Brotherr eines der größeren deutschen Hoftheater sein
+wird ... dann wird ihr am Ende klar werden, daß es ein bißchen übereilt
+von ihr war, eine kleine Unbedachtsamkeit -- ich gebe ja zu, daß es
+eine Unbedachtsamkeit war, Ihre Tochter ohne weiteres in eine Linie mit
+der Mehrzahl ihrer Kolleginnen zu setzen ... Aber deshalb gleich nach
+Blut -- nach Fürstenblut zu lechzen -- das scheint mir doch einigermaßen
+kindisch!«
+
+Völlig zerschmettert hatte Frau Buchner die Suada ihres vornehmen
+Besuchers über sich ergehen lassen. Vor ihrem Auge tanzten hundert
+gräßliche Bilder ... Der gnädigste Herr in Meiningen hatte Jucunda seine
+Gunst entzogen -- ihr Vertrag war gekündigt ... Vergebens klopfte sie an
+die Pforten aller deutschen Bühnen ... Als »schwieriges Mitglied« wurde
+sie überall abgelehnt ... Das Elend lauerte, der Hunger ...
+
+»Ne ... ne ... das is ja äne schreckliche Geschichte ...« stammelte sie.
+
+»Nun, Sie scheinen ja Vernunft annehmen zu wollen. Ich empfehle Ihnen
+also, unverzüglich mit Ihrer Tochter Rücksprache zu nehmen: Sie soll
+ihren ... ihren jugendlichen Beschützer veranlassen, seine höchst
+törichte und kindische Herausforderung zurückzuziehen ... Damit dürfte
+die Angelegenheit eine für alle Beteiligten befriedigende Erledigung
+finden. Sind Sie dazu bereit?«
+
+»Aber mit dem greeßten Vergniegen -- 's wird sich doch am Ende noch
+alles lassen ins reine bringen!« ächzte aufatmend die geängstigte Frau.
+
+»Na also --« der Major erhob sich -- »ich rechne darauf, daß Sie Ihren
+mütterlichen Einfluß in diesem Sinne geltend machen. Meine Empfehlung
+an Ihr Fräulein Tochter ... und ... böse ... braucht sie uns nicht zu
+sein ... Die ganze Sache war vollkommen harmlos gemeint ... also ...
+adieu, Frau Kanzleirätin!«
+
+Frau Buchner knixte ein übers andre Mal, während sie den Gast zur
+Entreetür geleitete.
+
+Auf der Schwelle wandte der Major sich noch einmal um.
+
+»Apropos -- soweit ich unterrichtet bin, hat man bei Ihnen besonders
+daran Anstoß genommen, daß meinem Briefchen ein ... ein kleines Geschenk
+... in barem Gelde ... beigelegt war. Vermutlich haben Sie diese ...
+diese kleine Aufmerksamkeit ... in Verwahrung genommen?«
+
+»Allerdings ... das hab' ich ... in meine Wirtschaftskasse hab' ich die
+Scheine eingeschlossen ... Jucunda wollte sie zur Post bringen, aber ...
+sie wollte sich erscht noch nach Ihrer ... genaueren ... Adresse
+erkundigen ... Na un von dem Wege, da is se noch nich zurück ...«
+
+»Na, dann kann ich ihr ja den Gang ersparen ... Wenn Sie's mir gleich
+aushändigen wollten ... und vielleicht --« ganz harmlos, nachlässig
+wurde das hingelegt -- »vielleicht händigen Sie mir auch gleich das
+Briefchen mit aus, das die Gemüter so sehr erregt hat -- und damit wäre
+ja dann alles in schönster Ordnung ...«
+
+»Gewiß, gewiß, Herr Major -- das hab' ich ooch ... alles kenn' Se
+kriegen -- ich bin ja froh, wenn ich's aus 'm Hause hab ...«
+
+
+Teufel auch ... das war mehr, als ich gehofft habe! schmunzelte der
+Major, als er mit seinem Raube die halbdunkle Stiege hinunterknarrte.
+
+Unten im Hausflur zog er den Brief hervor, entzündete ein Streichholz
+und ließ das _corpus delicti_ in Flammen auflodern. Die beiden Scheine
+aber, die er beim Empfang nur nachlässig in die Westentasche geschoben,
+barg er nun sorgfältig in seinem Portefeuille. Es waren immerhin
+zweihundert bare Mark ...
+
+Und dann ging er zu Aeckerlein hinüber und bestellte eine Flasche
+Heidsieck.
+
+
+
+
+ 8.
+
+
+Als Hans Thumser inmitten seiner Korpsbrüder das Theaterrestaurant
+verließ und über den sonnenflimmernden Augustusplatz, die mittäglich
+durchhastete Grimmaische Straße nach dem Baarmannschen Lokal am Markt
+hinüberspazierte, wo das Korps speiste -- da wirbelte ihm der Kopf
+dermaßen vom Fieber des Erlebens, daß die erregten Gespräche der Freunde
+nur wie aus weiter Ferne zu ihm herüberklangen. Und doch disputierte er
+selber eifrigst mit ... Es war ja kein Ende zu finden des Ueberlegens
+und Projektierens -- wie alles kommen würde -- ob man sich nicht
+übereilt, ob Pilgram, ob das Korps richtig gehandelt, ob sich nicht eine
+minder schroffe Lösung des Konflikts hätte finden lassen ... Wie der
+Erbprinz sich stellen würde ... und schließlich doch auch der Hof in
+Nassau-Dillingen ... was der für Weisungen erteilen würde ... und was
+all der welterschütternden Schicksalsfragen mehr noch waren.
+
+Und dabei immer der heimlich bohrende, süß erregende, wonnesam
+beklemmende Hintergedanke an ... heut nachmittag ...
+
+Und so in Wirrnis und Ahnung verrannen die Stunden ... Jetzt ward alles
+andre verdrängt durch das Mitgefühl mit Valentin Pilgrams Schicksal, des
+Korpsbruders, der so ganz anders geartet war, mit dessen Wesen das
+eigene niemals harmonisch hatte zusammenklingen wollen ... und dessen
+starkgemute Jungmännlichkeit dennoch die lebenshungrige Seele fest in
+ihren Bann geschlagen hatte -- längst eh dies opferstolze Einsetzen
+seines ganzen Daseins für ein fremdes Mädchen, das Kind einer andern
+Welt ... eh' diese Tat sein Bild in eine fast heroische Sphäre
+emporgehoben ...
+
+Und dann wieder schwirrten mit scheuem Flügelschlage die Gedanken um das
+eigene Hoffen und Bangen ...
+
+Und seltsam: Astas und Jucundas Bilder, sie rannen zusammen in der Seele
+... Wer war's eigentlich, der ihn erwartete heut um fünf? War's nicht
+jener Dämon, der in seines Korpsbruders Leben so verhängnismächtig
+hineingegriffen? Jucunda! Jucunda! Der Name klang aus allen Gesprächen,
+die in der Runde hin und wider flogen ... Daß es überhaupt eine Asta
+Thöny gab, das wußte ja nur einer von seinen Freunden, und dieser eine
+-- der war fern ... war ausgeschieden aus dem Bunde, dem sein ganzes
+Herz gehörte, für dessen Farben er in siebenundzwanzig Waffengängen sein
+junges Herzblut vergossen ... ausgeschieden um jener andern willen ...
+und selbst dieser eine hatte sie doch nur auf der Bühne gesehen -- ahnte
+nicht, daß sie mit Hans Thumser unter einem Dache wohnte ... konnte
+nicht ahnen, daß sie heimlich nächtens in ihre Kissen weinen und dann
+plötzlich lachen konnte, so girrend, so atemversetzend.
+
+Nach dem Mittagessen blieb das Korps beim Kaffee noch lange zusammen.
+Die Füchse wurden fortgeschickt, und immer und immer wieder in heftigen
+Disputen drehten und wendeten die Korpsburschen das Ereignis des Tages.
+Hans aber zog von Zeit zu Zeit heimlich die Uhr und zählte, wie eine
+Viertelstunde um die andere verrann von jenen, die ihn noch von dem
+größten Erlebnis seines jungen Daseins trennten ... Und einmal zog er
+heimlich auch sein Portemonnaie und stellte fest, daß er heute, am
+einunddreißigsten Oktober, noch fünfundachtzig Pfennige sein eigen
+nannte ...
+
+Teufel auch! Wenn man die Farben eines Korps trägt, kann man unmöglich
+ohne ein bescheidenes Blümchen in der Hand bei einer Dame zum Tee
+antreten ... Und Hans Thumser pumpte sich von Volkner, der immer Geld
+hatte, eine Mark ...
+
+Und endlich war's dreiviertel fünf ... Und wie ein Träumender strich
+Hans Thumser die Petersstraße hinunter, einen Busch rosa Dahlien, in
+Seidenpapier gewickelt, in der Hand ... Zu wem ging's? Zu Asta? Zu
+Jucunda? Er wußte es nicht ... es ging ... zu =ihr= ...
+
+Und so war's fast eine Selbstverständlichkeit, daß er sie nun =beide=
+fand ...
+
+Die Stube schwamm von Zigarettenrauch ... Und auf dem Sofa, eng
+aneinandergelehnt, zwei Mädchen ... die, die er zu suchen kam -- und die
+andere ...
+
+»Ach Gott ...« lachte Asta in komischem Entsetzen auf, »Herr ... na wie
+heißen Sie noch? Herr ...«
+
+»Thumser,« stotterte Hans und blieb ganz verdonnert an der Tür stehen.
+
+»Richtig, Herr Thumser -- mein Zimmernachbar -- nicht wahr, Sie sind's
+doch? Mein Gott, Sie hatt' ich wahrhaftig total vergessen --«
+
+»O bitte, dann will ich nicht stören,« sagte Hans und griff zur Tür.
+
+Ein Kübel Eiswasser, einem glutgedörrten Saharawanderer jählings über
+den Nacken gegossen ...
+
+»Aber nein! Stören! Weglaufen! Gibt's nicht!« Und das weiche Figürchen
+in der nicht ganz tadellos frischen Batist-Matinee sprang auf, stand vor
+dem schlanken Studenten, eine Hand, zart und warm wie ein
+sonnendurchglühtes Rosenblatt, legte sich auf die seine und zog ihn ins
+Zimmer.
+
+»Nicht böse sein! Meine Kollegin ist mich besuchen gekommen, und da
+haben wir uns verschwatzt ... Ist's denn schon fünf Uhr? Himmel -- und
+wie's hier ausschaut! Frau Wehe! Frau Wehe! Schnell kommen Sie mal her
+und räumen S' ab! Gestattest Du, Jucunda? Mein Zimmernachbar, Herr
+Studiosus Dummler --«
+
+»Thumser,« verbesserte Hans etwas pikiert.
+
+»Pardon -- Thumser -- meine Kollegin Buchner -- die große Buchner,
+wissen S'!«
+
+Jucunda grüßte stumm und königlich. Sie hatte die grüne Mütze, die drei
+Farben um die Brust des jungen Mannes wiedererkannt ...
+
+»Ich weiß ...« sagte Hans. »Ich war gestern abend in der 'Jungfrau' ...
+und ich bin auch unter denen gewesen, die --«
+
+»-- ihr die Pferde ausgespannt haben -- natürlich! Das nächste Mal, Sie
+Schlingel, spannen Sie mir die Pferde aus -- verstanden? Sonst ist's aus
+mit der guten Nachbarschaft!«
+
+»Wird gemacht!« sagte Hans, der sich wiederfand. »Inzwischen darf ich
+wohl als bescheidene Entschädigung diese Blümchen ...«
+
+»Ach -- das ist famos! Sehen Sie, Jucunderl, es wachsen heuer doch nicht
+alle Blumen bloß für Dich ...« Und sie drückte den Studenten in einen
+der verschlissenen, fettigen Damastfauteuils, welche Mutter Achs beste
+Bude verherrlichten.
+
+Einen raschen Blick warf Hans Thumser in der Bude umher. Wild sah's
+aus ... auf dem Tisch noch die Reste des bescheidenen Mittagsmahls,
+Aepfelschalen und die zerknautschten Mundstücke abgerauchter Zigaretten
+trieben sich auf dem fleckigen Tischtuch herum ... und drüben auf dem
+Bette aufgestapelte Mullröcke und Spitzenhöschen, auf dem Schreibtisch
+ein zusammengerolltes Korsett, dazwischen unsaubere Hefte mit
+ausgeschriebenen Rollen und zerflederte Reclambändchen ...
+
+Asta war diesem Blick gefolgt und sah den Ausdruck von Mißbehagen, der
+ununterdrückbar das schmissebedeckte tadellos rasierte Gesicht des
+korrekten und gepflegten Jünglings überzog.
+
+»Bös schaut's aus da drin, gelt? Aber warten S' nur, ich schaff' schon
+eine Ordnung! Faß an, Jucunderl, Du bist ja schuld, daß ich so einen
+feschen, jungen Herrn in so einer Schlamperei muß empfangen! Und Sie,
+Frau Wehe« -- die noch immer hübsche, kugelrunde Wittib stand mit
+nachmittagschlafgeröteten Augen in der Tür -- »hinaus mit dem Abfall da!
+Und ein' Tee kochen S' uns, und Kuchen will ich seh'n und Schlagsahn'
+und was sich sonst gehört! Da haben S' ein Geld!« Und wie ein Irrlicht
+fegte das dunkellockige Mädchen in der Stube umher, hob den Bettbezug
+aus gewebter, leidlich defekter Spitze, das Ueberbett in die Höhe,
+stopfte die herumliegenden intimen Kleidungsstücke drunter und deckte
+mit einem Spitzbubenlächeln wieder zu, griff in die Nachttischschublade
+und warf ein paar Markstücke auf den Tisch, daß zwei, drei in die Stube
+kollerten und Hans Thumser sich bücken mußte, um sie wieder aufzulesen;
+griff dazwischen in die Zigarettenschachtel, schob ihren beiden
+Besuchern, sich selbst und schließlich auch der verlegen grinsenden
+Wittib eine Zigarette zwischen die Lippen:
+
+»Da, Herr Dummser -- haben S' Feuer?«
+
+Und da flimmerten auch die feuchten Lippen, die dunklen, flackernden
+Augen dicht vor Hansens Gesicht, loderten ihn an, während sie mit ihm
+zugleich am nämlichen Zündholz ihre Zigarette anbrannte ...
+
+Inzwischen saß Jucunda stumm und königlich auf dem Sofa, ohne eine Hand
+zu rühren, und ließ ihre runden blauen Augen von einem zum andern
+leuchten. Und auch Hans Thumsers Blicke gingen hin und her, von dem
+Schalk zu der jungen Königin, von der jungen Königin zu dem rastlosen
+Schelm ...
+
+Und endlich gab's Ruhe und so etwas wie Ordnung, und mit einem tiefen
+Aufseufzen warf Asta Thöny sich in das Sofa, kuschelte sich an Jucundas
+kräftige Schulter ... und nun sahen zwei Augenpaare, das blaue, das
+schwarze, den braunäugigen Studenten an ...
+
+»So, Herr Dummser, nu erzählen S' uns was!«
+
+Hans Thumser war des Umgangs mit weiblichen Wesen wenig gewohnt. Seine
+Schwestern waren um vier und fünf Jahre jünger als er, die zählten, samt
+ihrer Freundinnenschar, noch nicht mit, waren Gören, oder wie man daheim
+sagte, Blagen ... unfähig, die erhabene Größe eines Studenten, eines
+Korpsstudenten, eines Fuchsmajors richtig einzuschätzen. Und das Korps?
+Es lebte außerhalb der Leipziger Gesellschaft, war völlig durch Mensur
+und Kneipe absorbiert und kam höchstens auf dunklen und verschwiegenen
+Pfaden einmal mit verachteten Parias der Weiblichkeit in Berührung ...
+
+Aber ... er war ein werdender Poet ... und der Zauber der Situation
+löste ihm die Zunge, gab ihm Worte, wie sie gesellschaftliche Routine
+nicht kennt ...
+
+»Erzählen soll ich Ihnen ... meine Damen? Ach ... ich hab' nichts
+erlebt, was des Erzählens wert wär' in solch einem Augenblick ...
+aber ... das darf ich ja wohl sagen, nicht wahr? daß ich sehr glücklich
+bin ... Ich denke an gestern abend ... ich habe Sie beide gesehen und
+bewundert und beneidet um das Glück Ihres Berufs ... den Menschen das
+Schöne zu offenbaren ... und nun sitz' ich hier ... Ihnen gegenüber ...
+seien Sie mir nicht böse, wenn das mir zu Kopf steigt und ... mich dumm
+und stumm macht ... Sie nennen mich noch immer Dummser, gnädiges
+Fräulein ... und das stimmt, ich bin auch ein dummer Bub, das fühl' ich,
+jetzt, wo ich mit Ihnen zusammensitzen darf ... Nein, ich kann Ihnen
+nichts erzählen ... ersparen Sie es mir, mich mit Konversationmachen
+abzuquälen ... erlauben Sie mir nur ... da zu sein ... und Sie
+anzuschauen ... und zu fühlen, ja bis ins Tiefste zu fühlen, wie schön
+das ist ... was für ein Glück das ist!«
+
+»Aber warum machen Sie sich selber so schlecht?« sagte Jucunda und sah
+ihn groß an -- »Sie sprechen gar nicht übel ... im Gegenteil -- ich
+meine, ich hätte noch niemals einen Menschen so sprechen gehört ...«
+
+»Du --?« sagte Asta, »daß Du mir dem Jungen nicht zuviel Komplimente
+machst! Das ist =meiner=, verstehst Du mich? Aber Du mußt immer alles
+für Dich haben ... die Blumen -- die Kränze -- die ausgespannten Pferde
+-- die Verehrer, alles muß sie allein haben! Und so was redet von
+Freundschaft und Kollegialität! Schämen sollten S' Ihnen, mein
+Fräulein!«
+
+Hans wurde glühendrot. »Ach, meine Damen, machen Sie sich nur immer über
+mich lustig ... ich weiß ganz genau, wie wenig ich Ihnen sein kann. Nur
+das eine muß ich Ihnen sagen: Sie ahnen gar nicht, was dieser Tag für
+mich bedeutet ... Sie können sich wohl nicht vorstellen, wie barbarisch
+und rauh dies Leben ist, das wir jungen Dächse so führen auf deutschen
+Hochschulen ... Und seit gestern ist's auf einmal bunt und licht und ...
+groß und ... schön um mich her ... seit ich Sie beide kenne ...«
+
+»Gott, wie süß er ist -- gelt, Jucunda?« sagte Asta und streichelte dem
+Studenten mit einer raschen, zärtlichen Bewegung ganz leise und flüchtig
+die glühende, narbenzerrissene Wange. »Nur mehr so Schönes, nur mehr! So
+was kann man gar nicht genug hören!«
+
+»Ach -- Sie scherzen wieder, Gnädigste --« sagte Hans. »Sie sind weit
+schönere Worte gewohnt ... Sie verkehren am Hof -- inmitten von Geist
+und Grazie ... die Dichter, deren Werke Sie verkörpern, huldigen Ihnen
+...«
+
+»Der hat Ahnung, gelt?« lachte Asta halb verschmitzt halb schmerzlich zu
+ihrer Kollegin hinauf, in deren Arm sie sich drückte.
+
+»Nein, Herr Thumser,« sprach Jucunda langsam, »Sie haben doch wohl eine
+etwas -- na sagen wir mal zu ideale Vorstellung von unserm Leben ...
+Glauben Sie mir nur, es gibt nicht viel Männer, die so zu reden wissen,
+daß es einem wohltut ...«
+
+»Gewiß, ich glaub's -- so verwöhnt, so anspruchsvoll wie Sie sein müssen
+... denn so jung wie Sie sind, Sie sind berühmt, alles liegt Ihnen zu
+Füßen, Sie kommen wie das Schicksal ... wehe dem, der Ihnen verfällt
+...«
+
+Ein Schatten war bei diesen Worten über die enthusiastischen Züge
+geflogen, die flammenden Augen hatten sich verdunkelt.
+
+Jucundas Stirn hatte sich langsam zusammengezogen.
+
+»Wie das Schicksal?« fragte sie, »wie meinen Sie das?«
+
+»O ... ich dachte an ... eine gewisse Geschichte ... eine sonderbare,
+aufregende Geschichte ... von der Sie doch wohl auch wissen müssen ...«
+
+»Sie ... meinen ... die Sache ... mit Herrn Pilgram? Von der wissen Sie
+also auch schon?«
+
+»Ich weiß ... selbstverständlich weiß ich ... wir sind ja doch
+Korpsbrüder ...«
+
+»Eine ... Sache?« fragte Asta ganz erstaunt. »Was hat's gegeben? Hast
+mir ja doch gar nichts davon erzählt, daß es was gegeben hat? Heraus mit
+der Geschichte!«
+
+»Ich möchte ... eigentlich überhaupt nicht davon sprechen ...« meinte
+Jucunda.
+
+»Und ich ... ich halte mich ebenfalls nicht für berechtigt ...« setzte
+Hans befangen hinzu.
+
+»Schöne Sachen sind mir das!« zürnte Asta. »Ich bring' Euch zwei
+zusammen, und schon habt Ihr Geheimnisse miteinander, und ich werd'
+ausgesperrt und hab 's Zuschau'n! Na wartet -- jetzt kommt der Tee mit
+dem Kuchen, hernach setz' ich Euch vor die Tür und ess' alles alleinig!«
+
+Jucunda hatte einen Moment sinnend den Rauchwölkchen ihrer Zigarette
+nachgestarrt. Es war dämmrig im Zimmer geworden. Frau Wehe kam mit dem
+Tee, dem Gebäck, zündete die Petroleum-Hängelampe über dem Tische an,
+und hell gleißten nun die drei jungen Gesichter auf dem Hintergrunde der
+abgenutzten Stube, die rasch in völliges Dunkel versank.
+
+Als die Wirtin gegangen, sagte Jucunda langsam: »Ich verstehe, daß Sie
+sich über die ... Angelegenheit ... die bewußte ... nicht gern
+aussprechen. Aber Sie werden begreifen: ich bin ziemlich gespannt. Sie
+wissen schon drum ... also die Sache kommt doch, scheint's, wirklich an
+die große Glocke. Ich bin ja schließlich doch ein bißchen beteiligt ...
+Wollen Sie mir nicht sagen, was inzwischen eigentlich passiert ist?«
+
+»Hm ... wenn unsre ... gütige Gastgeberin gestattet, daß wir uns in
+ihrer Gegenwart über ... eine Sache unterhalten, die sie nicht ... in
+die wir sie nicht einweihen dürfen?« »Na macht schon, macht schon ...«
+maulte Asta, »Ihr brennt ja darauf, Eure Geheimnisse auszutauschen ...
+ich ess' Kuchen.« Und wütend bissen ihre blinkenden Zähne in einen
+braunlächelnden Mohrenkopf.
+
+»Also kurz ... Er ... ist aus dem Korps ausgetreten ... und hat die ...
+die bewußten beiden Herren auf Säbel ohne ohne gefordert ... Genügt
+Ihnen diese Andeutung?« fragte Hans.
+
+»Hm ... und mehr ... wissen Sie also noch nicht?«
+
+»Noch nicht.«
+
+»Immerhin ... also der Skandal ist fertig. Schöne Bescherung ...«
+
+»Hol Euch der Satan, Kinder, Ihr macht eins aber wirklich neugierig wie
+eine Ziege!« sagte Asta und ließ die kuchenstopfenden Finger sinken.
+»Säbelforderung -- Skandal ... und dabei habt Ihr Euch vor einer halben
+Stunde erst kennen gelernt vor meinen sehenden Augen ...«
+
+»Gott, warum soll man's ihr schließlich nicht erzählen?« meinte Jucunda.
+»Morgen weiß es ganz Leipzig ...«
+
+»Hast einmal wieder was, womit Du Dich kannst int'ressant machen,
+Jucunderl? Gott, das Mädel hat einen Dusel! Daß es um Dich geht, soviel
+hab' ich schon heraus ... Also es werden zwei sich die Köpf'
+entzweischlagen Deinetwegen ... hernach schauen die Leut' unsereins
+überhaupt nicht mehr an ... und so ist's in allem! Schon wie's heißt --
+Jucunda! Wie kommt bloß ein Vater auf die Idee, so ein Wurm 'Jucunda' zu
+taufen? Als ob er damals schon geahnt hätt', daß das Kind einmal wird
+unters Theater gehen! Sag' doch, Mädel -- wo kommst an so einen Namen,
+so ein' ausgefall'nen?«
+
+»Ach -- das ist einfach genug ... da war eine alte Tante, die eine
+Beamtenpension zu verzehren hatte und so schöne uralte Möbel und Bilder
+gehabt hat aus der Goethezeit ... um die sind alle Verwandte herum
+gewesen erbschleichen ... aber meine Eltern haben den Vogel abgeschossen
+und mich nach ihr getauft ... das hat sie so erschüttert, daß sie mir
+den ganzen Krempel vermacht hat ...«
+
+»Ach -- und nun hast Du das ganze schöne Zeugs?«
+
+»I Gott bewahre -- verkauft hat's mein Vater und für mich in einem
+Sparkassenbuch angelegt ... und davon sind mein Studium und meine
+modernen Kostüme bezahlt worden -- paar Groschen werden wohl auch noch
+da sein, denk' ich ...«
+
+»Ja schaust, was Du für ein Glückskind gewesen bist ...« Astas Augen
+irrten in die Ferne, ein ganz fremder Ausdruck von Bitterkeit und Ekel
+umschattete das pfirsichweiche Oval. -- »So eine Tante wenn ich gehabt
+hätt', meinetwegen hätten s' mich Eulalia mögen taufen! Ich hab' das
+alles allein müssen schaffen, so gut oder -- so hundsfött'sch wie's hat
+gehen mögen ... Dabei wird man ein armes, gerissenes, mit allen Hunden
+gehetztes Wildkatzerl allenfalls ... und wenn man ein bisserl Talent
+hat, hernach wurschtelt sich eins am End' auch noch rechtzeitig in die
+Höh' ... aber eine Priesterin, vor der die Menschen sich platt auf den
+Bauch schmeißen, eine Jungfrau von Orleans wird man nicht auf die Art!«
+
+Mit herablassender Zärtlichkeit streichelte Jucunda die zierliche
+Kollegin. »Ich sollte meinen, Asta, Du könntest noch ganz zufrieden sein
+mit Dir -- nicht wahr, Herr ... Gott, dieser lächerliche Name -- schon
+wieder hab' ich ihn verschwitzt --«
+
+»Herr Dummerle!« half Asta ein, und um die schmerzlich verzogenen Lippen
+huschte schon wieder der Schalk.
+
+Hans Thumsers Blicke wanderten rastlos von einer zur andern. Welches
+Glück, daß er den goldenen Apfel des Paris nicht zu vergeben hatte!
+
+Und Valentin Pilgram? Und die Affäre? Schon längst wieder versunken ...
+kaum die Oberfläche des Gesprächs hatte sie gekräuselt, die Geschichte
+von dem wackren Gesellen, der um dieses achtzehnjährigen Weibes willen
+sein Blut, sein Schicksal aufs Spiel gesetzt hatte -- als Dank für ein
+paar freundliche Worte, die sie ihm geschenkt ...
+
+Dieser Gedanke tauchte dann und wann flüchtig auf in Hans Thumsers
+Denken -- aber die Gegenwart, die nie erlebte, der beiden jungen,
+blutjungen und doch schon aller Machtmittel ihres Geschlechtes kundigen
+Geschöpfe verdrängte das Bild des Korpsbruders, das heut morgen in so
+lichtem Heroenglanze gestrahlt hatte.
+
+»Sagen Sie, Herr Thumser, was studieren Sie eigentlich?« fragte Jucunda.
+
+»Gott, was studier' ich? Die Geheimnisse des S. C. Paukkomments -- die
+Kunst, eine Tiefquart unter der steilsten Auslage hindurch in die
+Nasenspitze des Gegners zu dirigieren ...«
+
+»Das glaub' ich nicht ... so sehen Sie nicht aus, als ob das alles wäre,
+was Sie treiben ...«
+
+»Na ... meine kümmerlichen Versuche, mich mit der Juristerei
+anzufreunden, werden Sie mir doch wohl kaum am Gesicht ansehen können?«
+
+»Das nun schon gar nicht! Nein, es steckt noch etwas andres hinter Ihnen
+--«
+
+»Soll ich's verraten?« fiel Asta ein -- »ich weiß es nämlich ...«
+
+Und mit ihrem Spitzbubenlächeln, das Köpfchen tief auf die weiche
+Schulterlinie geneigt, fing sie an zu rezitieren:
+
+ »Ich bin ein junger Korpsstudent,
+ Die Schuhe Lack, der Rock patent,
+ Korrekt und schick an mir ist alles --
+ Im Portemonnaie nur --«
+
+»Halt! Gnade!« rief Hans und legte seine Hand beschwörend auf Astas
+runden Unterarm -- von dessen Wärme süße Schauer in seine Fingerspitzen,
+seine Arme, sein Blut hinüberströmten.
+
+»Ach -- sieh da -- Verse -- und von Ihnen?« fragte Jucunda. »Also ein
+junger Schiller -- oder Goethe? Sieh da!«
+
+»Ach Gott -- diese elenden Knittelreime -- wenn man nichts Besseres
+könnte ...«
+
+»Oh -- das ist aber nicht hübsch von Ihnen, daß Sie sich meinetwegen so
+wenig angestrengt haben --« sagte Asta. »Na, was können Sie denn
+Besseres? Heraus damit!«
+
+»Jawohl, Herr Poet, eine Probe Ihrer Kunst!«
+
+Hans Thumser ließ sich nicht lange bitten. Er sann einen Augenblick
+nach. Dann richtete er sich unwillkürlich etwas auf, ein feierlicher,
+strahlender Ausdruck kam in seine Züge; und in tiefinnerer Bewegung
+sprach er:
+
+ »Abgründe klaffen rechts und links
+ Von meinem schwindelschmalen Pfade,
+ Und hinter mir schleicht stumm die Sphinx --
+ Doch über mir geigt Engelsgnade.
+ Ich aber will nachtwandlerkühn
+ Den Gratgang bis ans Ende wagen,
+ Und hell durchsonnt von Morgenglühn
+ Der Harfe gold'ne Saiten schlagen!«
+
+»Ah ... bravo ... das ist wirklich ein Gedicht ...« sagte Jucunda. »Sieh
+da -- wer hätte das hinter diesem wandelnden Modejournal gesucht ...«
+
+»Oh ... seh' ich aus wie ein wandelndes Modejournal?«
+
+»Na, so seht Ihr Korpsstudenten doch alle aus ...«
+
+»Gott ja -- es braucht ja nicht jeder Poet auszusehen wie die Jünglinge
+aus dem Café Größenwahn -- von denen mir ein Berliner Korpsbruder
+neulich erzählt hat.«
+
+»Nein, da haben Sie recht,« sagte Jucunda. »Die Sorte kenn' ich auch --
+aus der Zeit unseres Gastspiels am Viktoriatheater ... ich denke mir,
+der junge Goethe ist hier in Leipzig auch so etwa wie ein wandelndes
+Modejournal herumgelaufen, während seine Kollegen lange fettige Haare
+und schmutzige Hemdkragen trugen ... Sieh da -- also so schaut ein
+junger Dichter aus ... alte kenn' ich ja schon diesen oder jenen, aber
+das waren alles sehr verschlissene, sehr diplomatische, sehr nüchterne
+und ... ernüchternde Herren ... Sie sind nicht nüchtern, Herr Thumser,
+Sie laufen wie in einem ewigen Rausch herum -- wenn Sie auch noch so
+schneiderelegant aufgemacht sind ...«
+
+»Ja, das ist wahr!« sagte Hans lebhaft. »Ewiger Rausch! Sie haben recht!
+Ich bin immer wie betrunken von ... von all dem Herrlichen um mich her
+-- von all dem Neuen und Gewaltigen, das jede Stunde bringt! Ist nicht
+die Welt ein einziges, ungeheures Wunder? Und so ein armes Menschenherz
+viel zu klein und eng, um das alles zu fassen? Und wenn man's nun so
+erleben darf, die Schönheit, die Kunst, die Poesie leibhaftig vor sich
+zu sehen ... wie in Ihnen, Jucunda Buchner ...«
+
+Die braunen Augen hingen an den blauen, die blauen an den braunen -- mit
+hochaufgerichteten Leibern saßen die jungen Menschen einander gegenüber,
+und Ströme des Lebens rauschten von einem zum andern.
+
+Jucunda fühlte sich wachsen in dieser naiven Bewunderung eines Menschen,
+in dem ihr weiblicher Instinkt die gärenden, schäumenden Kräfte witterte
+... und Hans Thumsers gläubiges Märchenherz erblickte in dem weißen, vom
+Schöpfer in einer Künstlerlaune so edel ausgeformten Gesicht die
+fleischgewordene Schönheit, herabgestiegen vom Himmel, um ihm, dem
+Werdenden, die Fülle zu offenbaren ...
+
+Auf einmal fuhren beide herum: ein Ton, ein erstickter, war in ihre
+Versunkenheit gedrungen -- ein Ton, den Hans schon einmal vernommen zu
+haben meinte: der Ton eines bittren, unbezwinglichen Weinens ...
+
+Asta Thöny hatte den Kopf in die Finger gedrückt, die Hände auf die Knie
+gepreßt ... ganz in sich zusammengekauert saß sie da, die zierlichen
+Schultern zuckten, aus dem Nest der schwarzen Flechten hatten sich ein
+paar glänzende Locken gelöst und rollten über den weißen Nacken ...
+
+»Aber Kind -- was ist Dir nur?« fragte Jucunda und legte den Arm um die
+Hüften der Kollegin.
+
+Aber die schüttelte die Umschlingung ab, sprang auf, eilte zum Fenster
+hinüber und lehnte den hochgehobenen Arm, die tiefgesenkte Stirn an die
+Scheiben ...
+
+»Aber ... was ist Ihnen denn nur, gnädiges Fräulein?« stammelte Hans
+Thumser.
+
+»Ach, geht mir doch -- laßt mich doch in Ruh, Ihr zwei! Poussiert doch
+miteinander, so viel Ihr Lust habt -- aber nicht in meiner Gegenwart!«
+
+»Aber Kind!« sagte Jucunda, stand auf, sah Hans an mit einem Blick, der
+für die Kollegin um wohlwollende Nachsicht zu bitten schien, wie für ein
+törichtes, verzogenes Kind, und trat zu ihr ans Fenster.
+
+»Ach, gehen Sie doch, Buchner -- lassen Sie mich! Es ist ja immer
+dieselbe Geschichte! Alles müssen Sie für sich haben, alles belegen Sie
+mit Beschlag -- alles muß zu Ihren Füßen liegen, keiner andern gönnen
+Sie was! Den Jungen da, den hab' ich nun entdeckt -- und kaum hab' ich
+ihn eingeladen, schon sind Sie da, als wenn Sie's gewittert hätten --
+und gleich geht's los, das alte Spiel -- nur Jucunda Buchner redet, man
+sieht nur sie, man hört nur sie, man vergafft sich nur in sie, nichts
+existiert auf Gottes weiter Welt, nichts und gar nichts, als einzig und
+immer wieder Jucunda Buchner!«
+
+»Herr Thumser, ich bitte Sie um Ihr unparteiisches Zeugnis!« sagte
+Jucunda ruhig, ganz beherrschte Weltdame -- »ist das nun gerecht, wie
+diese Dame mich behandelt? Habe ich auch nur den geringsten Versuch
+gemacht, Sie -- wie hat sie gesagt? -- mit Beschlag zu belegen? Haben
+wir nicht vollkommen harmlos geplaudert alle drei? Und auf einmal aus
+heitrem Himmel diese Explosion? Habe ich das verdient, Herr Thumser?
+Bitte, sprechen Sie.«
+
+In tödlichster Verlegenheit hatte Hans Thumser diesen Ausbruch, dieses
+Zwiegespräch der Kolleginnen über sich ergehen lassen. Er suchte
+vergebens nach der rechten Antwort auf Jucundas Frage.
+
+»Gnädiges Fräulein ...« stammelte er zuletzt, »verzeihen Sie, wenn ich
+auf Ihre Frage nicht antworte. Wir sind beide Fräulein Thönys Gäste ...
+Ich bin untröstlich, daß ich Ihr Mißfallen erregt habe, Fräulein Thöny
+... ich darf Ihnen zwar versichern, daß es keineswegs meine Absicht war,
+Sie irgendwie zu ... wie soll ich sagen? ... zu vernachlässigen ... Wenn
+ich dennoch ... es an der schuldigen Rücksicht habe fehlen lassen -- so
+bitte ich tausendmal um Entschuldigung ...«
+
+Asta Thöny antwortete nicht. Sie stand noch immer am Fenster ... der
+Schein der Straßenlaternen von drunten umrandete ihre dunkle Silhouette
+mit einem silbernen Streif -- den weißen Batist, den zarten Flaum des
+Armes, die Flimmerlöckchen des schwarzen Haars. Wie das Kabinettstück
+eines der holländischen Kleinmeister sah das aus.
+
+Jucunda und Hans blickten einander an -- der Jüngling in ratloser
+Befangenheit, das Mädchen gelangweilt, mit verdrossenem Achselzucken ...
+
+In diesem Augenblick erklang draußen eine heftige, erregte Stimme, die
+Jucunda auffahren machte:
+
+»Na, Gott sei Dank und Lob -- endlich also! G'sucht hab' ich das Mädchen
+durch die halbe Stadt ... nee so was, nee so was!«
+
+Die Tür sprang auf, und eine massive Frauengestalt füllte den Rahmen --
+Frau Wehe verschwand fast ganz hinter dem roten, schwitzenden Gesicht,
+das von den Samtschleifen, den Seidenbändern eines schwarzen Kapothutes
+eingesäumt war -- hinter den mächtigen Schultern unterm perlbesetzten
+Samtcape ...
+
+»Jucunda -- endlich ... Wenn Du wüßtest, was ich hab' müssen aussteh'n
+diesen Nachmittag Dir zuliebe ... Daß mich der Schlag nicht hat
+gerührt, das is mir ä blaues Wunder ...«
+
+»Mutter -- Du?« sagte Jucunda langsam und ungnädig. Sie empfand dunkel,
+daß diese Erscheinung in schroffem Widerspruch stand zu dem mystischen
+Glanz, der, sie wußte es, von ihr ausging, wenn sie wollte, und wenn der
+Glückliche, der in diesem Glanze stand, die nötige Naivität besaß.
+
+»Was ist denn passiert? Darf ich zunächst bekannt machen? Meine Kollegin
+Fräulein Asta Thöny -- Herr Studiosus -- na wie war's doch noch?
+Dummser, nicht wahr?«
+
+»Thumser,« sagte Hans.
+
+»-- meine Mutter, Frau Rat Buchner. Also was steht Dir zu Diensten,
+Mama?«
+
+»Nu nee -- ich weeß nich recht, ich mecht wohl mal e Wertchen mir Dir
+alleene sprech'n, Jucunda ... Entschuldigen Se nur, meine Herrschaft'n
+-- aber kannste nich e bißchen mit mir uff de Straße 'nunter kommen,
+Kind?«
+
+»O bitte, gnädige Frau, wenn Sie mit Ihrem Fräulein Tochter etwas unter
+vier Augen zu besprechen haben« -- fiel Hans Thumser ein -- »meine Stube
+ist nebenan, die steht Ihnen mit Vergnügen zur Verfügung -- darf ich
+Mutter Ach -- Frau Wehe, wollt' ich sagen, darf ich ihr Auftrag geben,
+daß sie Licht macht?«
+
+Jucunda dankte mit einem Lächeln, kühl und hoheitsvoll, wie nie zuvor,
+als gälte es, den etwas befremdlichen Eindruck, den das Erscheinen ihrer
+Mutter gemacht, durch doppelt königliches Wesen wettzumachen. Und Hans
+und Asta blieben allein zurück.
+
+Stumm war's im Zimmer, während jenseits der Tür, jenseits der beiden
+Kleiderschränke, die sie hüben und drüben verbarrikadierten, ein
+erregtes Flüstern anhob. In weißen Schwaden lag der Zigarettenqualm über
+dem Tisch, wob um die Hängelampe, ward von Wärmestrudeln in ihren Schirm
+hineingesogen und stieg um ihren Zylinder steil wie aus einem Schlot
+empor.
+
+Ein weiches, brüderliches Gefühl zog Hans zu dem Mädchen hin, das noch
+immer schweigend am Fenster stand, vom Laternenlicht umsilbert, von
+stoßweis zuckendem Schluchzen den schlanken Leib geschüttelt.
+
+»Fräulein Asta!« sagte er und trat ein paar Schritte auf sie zu; das
+Herz schlug ihm bis in den Hals. Nun war es da: er war zum erstenmal in
+seinem Leben mit einem Mädchen allein.
+
+Sie antwortete nicht, nur heftiger flossen ihre Tränen beim Klang der
+gedämpften Stimme, die so erregt, so gütig ihren Namen sprach.
+
+»Fräulein Asta,« sagte Hans noch einmal, »so wahr ich lebe, ich habe
+nicht daran gedacht, daß mein Benehmen Sie kränken könnte. Und Sie
+müssen mir's glauben, wenn ich Ihnen sage: es war reiner Zufall, daß
+ich ... daß ich mich mehrmals hintereinander mit meinem Gespräch
+nur an Fräulein Buchner gewendet habe -- ich weiß wohl, daß ich
+gesellschaftlich noch nicht sehr gewandt bin ... aber ... Fräulein
+Buchner ... Ihnen ... vorziehen ... daran hab' ich ja mit keinem
+Sterbensgedanken gedacht ... ich wäre doch auch ein Narr ... Sie ...
+Sie sind ja so ein ... so ein wundervolles Geschöpf ... Sie ahnen ja gar
+nicht, wie ich ... hingerissen gewesen bin ... gestern, wie ich Sie auf
+der Bühne sah ...«
+
+Er lauschte, ob eine Antwort käme ... aber regungslos stand das Mädchen,
+Arm und Stirn an die Scheiben gepreßt, die von der Wärme ihrer Glieder
+mit einem feinen Nebel beschlugen. Und wie Hans sich zage, Schritt um
+Schritt, der Fensternische näher schob, fiel sein Blick auf die
+Sophienstraße: drüben, vorm Eingang des Carolatheaters, drängte sich
+schon wieder, noch weit über eine Stunde vor Beginn der Vorstellung, ein
+dichter Menschenhauf, des Augenblicks wartend, da die Kasse sich zur
+ersten Wiederholung der »Jungfrau« öffnen würde. Noch nicht
+vierundzwanzig Stunden waren vergangen, seit er Asta Thöny zum ersten
+Male gesehen ...
+
+Aber ihre Tränen waren versiegt: sie harrte, ohne sich zu rühren ... es
+war, als lausche sie ... als lechze sie, mehr zu hören ... mehr ...
+
+Hans Thumser fühlte, wie alle seine Glieder nur ein einziges banges,
+verlangendes Beben wurden ... auch seine Stimme bebte heftig, als er
+weitersprach, ohne zu wissen, was er sagte ...
+
+»Asta ... ich habe noch nie ... noch nie ein Mädchen berührt ... ich bin
+ein ganz dummer, dummer Bub ... Sie ... Sie müssen Geduld mit mir haben
+... Wenn Sie ahnen könnten, wie mir zumut ist ... wie ich mich sehne ...
+ach, wie namenlos ich mich sehne ... ach, und ich hab' mich ja schon so
+gesehnt ... seit ich Sie gesehen hab' da drüben ... in Ihrer Schönheit
+... und heut nacht, o Mädchen, wie haben meine Gedanken, meine Träume
+sich an Dich gedrängt ... hast Du das denn nicht gefühlt? nicht geahnt?
+Seien Sie doch nicht so stumm, sagen Sie mir doch, daß Sie mir verziehen
+haben ... mir ist ja so bang, so namenlos bang ist mir nach Dir ...«
+
+Da wandte das junge Weib sich um ... Ihre duftenden Arme warf sie dem
+Knaben um den Nacken und überflutete ihm die Lippen, die Augen, den Hals
+mit dem schäumenden Strom ihrer Küsse.
+
+
+»Also, Jucunda, Du weeßt nu, was die Glocke geschlagen hat ...« beendete
+drüben in Hans Thumsers Studentenbudchen Mutter Doris ihren Bericht über
+die schwerste Stunde ihres Lebens -- wie sie den Nachmittagsbesuch des
+Herrn vom Nassau-Dillingenschen Hofe genannt hatte. Sie thronte auf dem
+Kanapee unter den gekreuzten durchbohrten Mützen, den staubigen,
+verblichenen Bändern in ihrer ganzen schnaubenden, dampfenden
+Leiblichkeit ... Die Korsettstangen knackten unter den keuchenden
+Atemstößen der eingepreßten Lungen, die fleischige Hand wedelte ohn'
+Unterlaß mit dem feuchten Taschentuch den beperlten Hängebacken
+Erfrischung zu. Jucunda saß stumm in einem der geblümten Fauteuils, mit
+zusammengepreßten Lippen, das stolze Haupt ein wenig zurückgeneigt, die
+blauen Augen starr zur Decke gerichtet. Sie schwieg auch, als die Mutter
+ihren Bericht geendet und erwartungsvoll an den Zügen der Tochter hing.
+
+»Nu rede Du aber gefälligst ooch en Ton!« polterte Mutter Doris
+schließlich heraus. »Ich mein', ich hätte mich nu genügend abgerackert
+für Dich!«
+
+»Na, wenn Du meine Meinung denn wirklich hören willst, Mutter: Du
+scheinst mir eine märchenhafte Dummheit begangen zu haben.«
+
+»I herrjemersch nee ... nu wird mer'sch aber doch zu tolle! Und was wär'
+das fier ä Dummheit, wenn's gefällig wär?«
+
+»Wie Du den Brief hast herausgeben können, Mutter, das versteh ich
+einfach nicht ... das Geld, mag sein, obgleich mir's schon lieber wäre,
+ich hätte einen Postquittungsschein in Händen ... aber den Brief --
+unglaublich einfach!«
+
+Sie sprang heftig auf, stieß den Fauteuil mit einem Ruck zur Seite, daß
+er in seinen Grundfesten krachte, und rannte zum Fenster -- starrte
+hinaus, wie drüben vorher die zierliche Kollegin ...
+
+Ach ... da drunten drängten sich die Massen -- eben war der Kassenflur
+geöffnet worden -- stießen sich, balgten, prügelten sich um den Vorrang
+... wem galt das alles als ihr? Die alle da unten, hatten die einen
+anderen Gedanken als -- Jucunda Buchner?
+
+Und nach der Tortur dieser letzten Viertelstunde, nach all dem Ekel, der
+Zukunftsbangigkeit, die in ihr aufgequollen war beim Bericht der Mutter
+-- kam da auf einmal eine wunderbare Gelassenheit über das Mädchen. Pah
+-- was konnte ihr geschehen?!
+
+Inzwischen hatte Mutter Doris sich von ihrem ersten Schreck erholt.
+
+»Nee, weeßte, Jucunda, ich versteh Dich nich, wahrhaft'gen Gott, ich
+versteh Dich nich. Erscht stellst Du Dich an wer weeß wie sähre, daß De
+so än Brief kriegst, un ... un das andre ... un nu kommt der, der Dir's
+geschickt hat, und holt sich's wieder ab -- un nu is ooch wieder nicht
+recht -- -- un ich hab' Dir doch bloß die scheißliche Geschichte woll'n
+vom Halse halten ... nee, nee, so was! Das hätt' ich wissen sollen, dann
+hätt' ich dem dicknäsigen Herrn ganz einfach gesagt: kommen Se
+gefälligst wieder, wenn Fräulein Jucunda Buchner derheeme is -- mich
+geht's nischt an!«
+
+»Hättest Du das man getan, Mutter ... Ich hätte dem Herrn schon
+beigebracht, wie man mit Jucunda Buchner spricht -- das kannst mir
+glauben! Ach -- aber es ist ja alles egal ...«
+
+Sie reckte sich ... ein harter Glanz kam in ihre Augen ... Noch eine
+knappe Stunde, und die Rampenlichter flammten auf, und sie tauchte
+hinein in ihren blendenden Schimmer -- und von jenseits, aus dem dunkel
+gähnenden Zuschauerraum, dampfte die Vergötterung der anderthalb Tausend
+ihr entgegen ...
+
+»Was wirscht De denn nu anfangen?« fragte Mutter Doris ganz halblaut.
+»Wo der Herr Major doch verlangt hat, Du sollst machen, daß der ... der
+Herr Korpsstudent seine ... seine Aufforderung zum Duell ... daß er die
+zurück tut nähm'!«
+
+Jucunda versank in einen Wirbel der Gedanken. Das Bild des jungen
+Gesellen stieg in ihr auf, der so viel für sie getan ... aus einem
+ritterlichen Empfinden heraus, das so einfach, so natürlich war, daß
+Jucunda es wohl verstehen mußte, würdigen konnte in seiner schlichten,
+starken Mannhaftigkeit ... Und nun sollte sie selber von ihm verlangen,
+daß er den kühnen, verhängnisvollen Schritt, den er zu ihrem Schutze
+getan -- rückwärts tun sollte ... Sie war in einer Luft groß geworden,
+in die immerfort, aus den Stübchen der Mieter ihrer Eltern in die gute
+Stube da hinten mit den grünen Plüschmöbeln, in die Träume ihres eigenen
+Mädchenkämmerleins hinein -- die romantischen Vorstellungen und Begriffe
+von korpsstudentischem Schneid, von Burschenehre hineingeweht waren ...
+
+O sie wußte ganz genau, was es für den weiland Ersten Chargierten der
+Franconia bedeutete, aus dem Korps auszutreten, um einen Prinzen, der an
+offiziellen Kneipabenden die grüne Mütze anlegte, zum Säbelduell fordern
+zu können ... und was es nun erst bedeuten mußte, wenn sie ihm
+zumutete, seine Forderung zurückzunehmen, ohne daß eine Sühne erfolgt
+war ... ohne selbst eine formelle Bitte um Entschuldigung ... denn als
+eine solche konnte doch der Besuch des Majors, seine unverblümten
+Drohungen, die Erlistung des Briefes und des Geldes aus der Hand der
+hilf- und ahnungslosen Mutter unmöglich aufgefaßt werden ...
+
+Immerhin -- hier war der Ansatzpunkt. Die Sache mußte dem Studenten so
+dargestellt werden, als habe der Major den Auftrag gehabt, eine Bitte um
+Verzeihung im eigenen Namen und im Namen seines prinzlichen Zöglings
+zu überbringen ... als ob er diese Bitte auch tatsächlich überbracht
+habe ... und wenn sie, die Beleidigte, sich mit dieser Genugtuung
+einverstanden erklärte, dann war ja doch wohl für ihren Beschützer kein
+vernünftiger Grund mehr, seine Forderung aufrecht zu erhalten ... und
+alles in schönster Ordnung ...
+
+Alles in Ordnung? Nein ... Jucunda war ein viel zu klarer Kopf, als daß
+sie die Folgen des Geschehenen nicht zu Ende gedacht hätte ...
+
+Also er zieht seine Forderung zurück, und dann? Nun dann ist er, auf gut
+deutsch gesagt, der unrettbar Blamierte ... Er ist aus dem Korps
+ausgetreten und hat ein Mitglied des Korps gefordert -- die Forderung
+ist zwar nicht zum Austrag gekommen, aber die unsühnbare Feindschaft
+zwischen den beiden jungen Männern besteht -- sie können nicht mehr auf
+der Kneipe zusammensitzen, nicht mehr die gleichen Farben tragen ... Und
+da das Korps seiner ganzen Tradition nach, um seiner Beziehungen zu Hof,
+Behörden, Gesellschaft willen den Prinzen nicht fallen lassen kann, so
+wird eben Pilgram dran glauben müssen ... Er hat sein Band verloren,
+ist ausgeschieden aus dem Kreise der Freunde seiner Jugend ... All das
+tapfere Ringen, Mensuren, Chargen, verbummelte Semester umsonst ...
+
+Das alles wußte Jucunda und wurde sich im angestrengten Nachsinnen
+weniger Minuten über all diese Folgen klar, mitleidslos gegen sich und
+ihn ...
+
+Und wieder meinte sie sein hartes, herrisches Gesicht zu sehen, wie es
+weich, selbstlos, opferfreudig aufglühte um ihrer Ehre willen ...
+
+»Sie haben weinen müssen -- -- -- das sollen sie mir bezahlen, die zwei
+...«
+
+Wie gut, wie tapfer, wie ... heldenhaft seine Worte, seine Tat ... und
+nun?!
+
+Hieß das nicht ... ihn schmählich verleugnen ... wenn sie nun
+zurückwich, sie ... und dadurch seiner Tat den ritterlichen Glanz
+raubte ... sie zu einer Narrensposse, zu einem Dummenjungenstreich
+erniedrigte?
+
+Aber ... ihre eigene Zukunft? Ihre Karriere? War das nicht alles, alles
+das, was der Major ihrer Mutter angedeutet hatte ... waren das nicht
+alles Wahrheiten?!
+
+Einen Augenblick lang war sie geneigt, das alles in den Wind zu schlagen
+... Pah ... Engagement in Frage gestellt ... Bericht gegen sie beim Hof
+in Meiningen ... War sie nicht Jucunda Buchner? Brauchte sie die
+Hoftheater? Oder brauchten die Hoftheater -- sie?!
+
+Ach nein ... So stand es doch nicht ... Man war nicht immer achtzehn
+Jahre, nicht immer eine neue Entdeckung, eine Sensation, eine Mode ...
+Jucunda wußte schon viel, viel zu viel von den brutalen Gesetzen der
+Macht, der Laune, des Glücks, des Wechsels, welche die schillernde Welt
+regierten, in der es ihr bislang so herrlich, so unverdient und
+unfaßbar glänzend gegangen ... sie dachte an ihre alte, verknitterte
+Garderobiere, die auch einmal eine vergötterte junge Liebhaberin gewesen
+war -- freilich nur am Stadttheater in Stallupönen, aber je höher der
+Anstieg, um so grimmiger die Gefahr, um so steiler und zerschmetternder
+der Sturz ... Nein, beim Theater konnte sich niemand erlauben, nur auf
+sein Talent, seine eigene Kraft und Persönlichkeit zu bauen und die
+Gunst der Mächtigen, der Brotgeber leichtsinnig zu verscherzen ...
+Niemand konnte sich das erlauben, auch Jucunda Buchner nicht ...
+
+Er ... oder ich -- -- so stellte sich schließlich die Frage ... und
+waren da die Chancen nicht doch zu ungleich? Schließlich ... ersparte
+sie nicht auch ihm durch ihren Entschluß, ihn fallen zu lassen, das
+größere Opfer, das noch ausstand? Das Risiko eines, nein zweier
+Zweikämpfe mit schweren Waffen, unter den schärfsten Bedingungen?
+Ersparte sie ihm nicht den definitiven, den viel größeren, gar nicht
+wieder gut zu machenden Skandal?!
+
+Eine ... Enttäuschung ... eine schmerzliche Wunde für sein jugendlich
+enthusiastisches Empfinden bedeutete es ihm, wenn sie sich zurückzog ...
+mehr doch nicht ... Für sie aber stand ihre ganze Zukunft, ihre Zukunft
+als Künstlerin wie ihre materielle Existenz auf dem Spiele ...
+
+Gab es da eine Wahl?
+
+Und letzten, allerletzten Endes: Hatte er das alles nicht sich selber
+zuzuschreiben? Hatte sie ihn um seinen Schutz -- gebeten?! Nein, das
+hatte sie nicht getan, mit keinem Wort, keinem Blick ... Er hatte sich
+zum Verteidiger ihrer Ehre aufgeworfen ... Hatte sich eigentlich, wenn
+man es einmal mit einem etwas scharfen Ausdruck bezeichnen wollte,
+aufgedrängt ... Und hatte sie nicht alles Mögliche versucht, ihn von
+diesem unerbetenen Opfer abzuhalten?! Aber er war ja fortgestürmt, als
+ging's um seine eigene Ehre, um sein Leben ...
+
+Jucunda stand am Fenster, noch immer regungslos. Und hinüber, herüber
+schossen die Gedanken, anklagend und entschuldigend ...
+
+Mutter Doris saß ganz still und gedrückt in ihrem Kanapee ... Daß sie
+eine furchtbare Dummheit gemacht, als sie das verhängnisvolle Briefchen
+aus der Hand gegeben ... das war ihr nun völlig klar ... Ihre
+spießbürgerliche Verschlagenheit sagte ihr ja nun selber, daß man aus
+solchen Beweisstücken Kapital hätte schlagen müssen ...
+Selbstverständlich nicht im materiellen Sinne -- o nein, so etwas hatte
+man ja gottlob nicht nötig ... Aber man kann doch nie wissen, wozu man
+ein solches Zettelchen einmal gebrauchen kann ... So etwas läßt man sich
+doch nicht ganz umsonst aus den Fingern drehen ...
+
+Und dies Bewußtsein: die einzige Waffe, die ihre Tochter besaß, blöde,
+gedankenlos aus der Hand gegeben zu haben -- das machte sie klein und
+stumm ...
+
+Jucunda schloß unterdessen ab. Ganz kühl, ganz klar hatte sie alles
+abgewogen. Nein, es ging nicht ... Sie konnte sich nicht, wider ihre
+innersten Lebensinteressen, von dem Don-Quichotte-Streich des jungen
+Burschen durch dick und dünn fortschleppen lassen ... Losketten mußte
+sie das Schiff ihres Glücks von der toll und steuerlos dahinrasenden
+Fahrt des überheizten Dampfers, der sie so mir nichts dir nichts ins
+Schlepptau genommen ...
+
+Und doch ... und doch ...
+
+'Sie haben weinen müssen ... Das sollen sie mir bezahlen ... die
+zwei ...'
+
+Wenn man -- diesen Ton, diesen Blick nur los werden könnte ...
+
+Pah ... Es =mußte= sein ...
+
+Und schließlich und endlich -- wer war Herr Pilgram?! Ein gleichgültiger
+junger Mensch, von dem sie nichts wußte, als daß er sie einmal sehr grob
+in ihrer Arbeit gestört ... sich für diese Grobheit dann freilich sehr
+manierlich entschuldigt ... und eine Abendstunde mit ihr geplaudert
+hatte ... in der sie, das wußte sie ganz genau, ihm nicht die leiseste
+Andeutung einer Sympathie gemacht hatte, die sie ja auch nie empfunden
+hatte ... Denn schließlich, sie machte sich ja doch nicht das mindeste
+aus ihm ... Er war ein kreuzbraver, aber doch durchaus alltäglicher
+Geselle ... Ja, wenn noch etwas in ihrem Herzen sich geregt hätte bei
+dem Gedanken an ihn ... die Ahnung von etwas Besonderem ... wie sie es
+eben, vor einer halben Stunde, so deutlich gefühlt hatte im Gespräch
+mit ... jenem andern grünbemützten Studenten, in dessen Zimmer sie jetzt
+stand ... der so schöne Verse machen konnte und so seltsam verhaltene
+Worte reden... in dem irgend etwas gärte und brodelte, das ihrem eigenen
+Wesen und Wollen auf eine geheimnisvolle Weise verwandt war ...
+
+Nein ... Herr Pilgram war ... irgendein Herr Pilgram ... war nichts und
+niemand ... Herr Pilgram hatte sich in ihr Leben eingedrängt ... man
+würde ihn mit möglichster Schonung, doch unmißverständlich wieder
+hinauskomplimentieren müssen ...
+
+»Es ist gut, Mutter ...« sagte Jucunda und wandte sich ruhig um. »Ich
+will Herrn Pilgram schreiben ... jetzt gleich ... er soll seine
+Forderung zurückziehen ... Den Brief kannst Du ihm hernach -- wenn wir
+aus dem Theater nach Hause kommen -- dann kannst Du ihm den Brief auf
+die Stube legen ... Hoffentlich ist er nicht zu Hause, wenn wir kommen
+-- sonst -- na sonst mußt Du ihm den Brief eben geben.«
+
+»Na, das is verninft'g von Dir, Mädchen!« seufzte die stattliche Frau
+und atmete tief auf, daß die Korsettstangen knackten. »Hier, mache nur
+schnell ... Da is ja der Schreibtisch, und Briefpapier liegt ooch genug
+herum -- gleich setz' Dich und schreib'! Kannst Dich ja hernach bei dem
+Herrn entschuld'gen ...«
+
+Jucunda ging zum Schreibtisch des Studenten hinüber, fand Briefbogen,
+entdeckte aber, daß sie sämtlich oben in der linken Ecke den Zirkel des
+Korps Franconia und darunter das Monogramm des Eigentümers trugen. Da
+drehte sie kurz entschlossen einen Bogen herum und schrieb auf die
+Rückseite:
+
+ »Leipzig, den 31. Oktober 1888.
+
+ Sehr geehrter Herr!
+
+ Ihr ritterliches Eintreten für mich hat den gewünschten Erfolg gehabt:
+ die beiden Herren, die mir diesen abscheulichen Brief geschickt haben,
+ haben mündlich bei mir um Entschuldigung gebeten. Ich bin über diese
+ Lösung hocherfreut und danke Ihnen innigst für Ihren gütigen Beistand,
+ ich weiß wohl, daß Sie mir ein großes Opfer gebracht haben. Nun ist
+ der Zweck Ihres Handelns erreicht. Bitte tun Sie mir nun auch den
+ Gefallen und nehmen Sie so bald als möglich Ihre Herausforderung zum
+ Duell zurück, damit nicht noch weitere Unannehmlichkeiten entstehen.
+
+ Ich bin mit der nochmaligen Versicherung meines aufrichtigen Dankes
+
+ Ihre ganz ergebene
+ J. B.«
+
+In einem Zuge, ohne Besinnen, hatte Jucunda geschrieben: Nun überlas
+sie die Zeilen und wunderte sich, wie klar und einfach und
+selbstverständlich das alles klang. Und darum wunderte sie sich noch
+viel mehr, weshalb ihr nur so übel dabei zumute war. Sie hatte ja doch
+recht, tausendmal recht ... Es war eine so klare vernünftige Lösung --
+es konnte ja doch schlechterdings nicht anders gemacht werden ...
+
+'Sie haben weinen müssen ... Das sollen sie mir bezahlen, die zwei ...'
+
+Das war ja doch eigentlich ein Unsinn ... Was gingen ihn, den fremden
+jungen Mann, ihre Tränen an? Was berechtigte ihn, für diese Tränen Sühne
+zu fordern? Da war irgend etwas, das stimmte nicht ... ein Fehler, ein
+Gedankenfehler ... Und aus diesem Fehler war alles entstanden ...
+
+Dennoch ... Sie fühlte es ganz deutlich: Um das törichte, unbesonnene
+Handeln des Jünglings war etwas Leuchtendes, etwas, das den Taten des
+Mädchens von Orleans verwandt war ... Und es war wie in Talbots Worten,
+des eisigen Vernünftlers, dessen hundeschnäuzige Kriegsmathematik vor
+dem frommen Wahn der Jungfrau zusammenbrach:
+
+ »Unsinn, du siegst ... und ich muß untergehn ...«
+
+Und während Jucunda Buchner den Brief kuvertierte und die Adresse darauf
+schrieb:
+
+ »Herrn Stud. Pilgram«
+
+-- seinen Vornamen entsann sie sich auf der Visitenkarte gelesen zu
+haben, die er an seine Tür genagelt hatte, aber er wollte ihr nicht
+einfallen -- als sie so schrieb, da empfand sie es ganz deutlich, ganz
+unabweisbar, daß sein Tun gut und groß gewesen war ... und ihres frostig
+und häßlich und gemein ...
+
+»Da, Mutter, steck den Brief in Deinen Pompadour ... und jetzt« -- sie
+zog die Uhr -- »sieben bereits!« Donnerwetter! Jetzt revidierte der
+Inspizient drüben schon die Garderoben! Teufel auch -- höchste Zeit ins
+Theater -- »Vorwärts, Mutter!«
+
+»Willste nich Deine Kollegin daneben abholen?«
+
+»Na -- die wird wohl schon hinüber sein -- aber ich kann ja mal
+nachsehen ...«
+
+Sie klopfte an die Tür des Nachbarstübchens, und da keine Antwort kam,
+klinkte sie auf. Die kleine Kammer lag dunkel und still. Nur durch die
+Fenster fiel der Schein der Gaslaternen von der Straße durch die
+Gardinen, malte ein paar große Rechtecke an die weißgetünchte Decke.
+Also Asta Thöny warf sich drüben bereits wieder in den steiflinigen
+Brokat der Agnes Sorel ...
+
+»Sie ist schon hinüber -- und kommt doch erst im ersten Akt -- und ich
+muß schon zum Prolog 'raus ... Glücklicherweise nur das Bauernkleid ...
+Vorwärts, Mutter ...«
+
+Das hatte sie freilich nicht sehen können oder wenigstens nicht gesehen
+in der Finsternis, daß auf dem Sofa noch einsam und regungslos der
+junge Student gesessen hatte, das Poetlein, um dessen »schwindelschmalen
+Pfad Abgründe klafften rechts und links ...«
+
+Daß er noch immer da saß, seitdem das Mädchen sich aus seinen Armen
+gerissen ... Alle Glieder und das Herz wie mit Blei beschwert vor
+trunkener Zärtlichkeit, sein ganzes Wesen durchschauert von
+Erfüllungsglück ...
+
+Jucunda schritt über den Hof, der mit Dekorationsstücken vollgepfropft
+war, die zum Schutze gegen den Regen mit Wachsleinwand verhangen waren
+-- stolperte über die Beine des ausgestopften schwarzen Pferdes, dessen
+Leichnam im dritten Akt so überzeugend die Stimmung des blutgedüngten
+Schlachtfeldes heraufbeschwor -- nahm dies Stolpern für ein gutes Omen,
+hastete weiter, so schnell, daß Mutter Doris in weitem Abstande hinter
+ihr drein schnaufte ... Und als sie nun das schmale Pförtchen aus
+Eisenblech öffnete, das zum Bühnenraum führte, als ihr der vertraute
+Dunst von Schminke, wirbelndem Staub und Menschenbrodem entgegenschlug,
+als sie den schlechterleuchteten Korridor, den halbdunklen Bühnenraum
+kreuzte, auf dem die Arbeiter eben den Prospekt zum Prolog anbohrten ...
+als sie dann die hallende Steintreppe hinanflog, in ihr Kämmerchen
+schoß, wo die zerknitterte Krausen herzklopfend ihrer harrte -- (»Ach
+Gottchen nee, gnäd'ges Fräulein, daß Se nu endlich kommen! Der
+Inspizient und der Herr Oberregisseur sind schon sechsmal mind'stens
+dagewäsen nach Ihn' fragen!«) als ihr weißes Gewand, als das blanke
+Eisen ihrer Rüstung, ihres Helmes aufgleißten im hellen Licht der
+Spiegellampen --
+
+-- da fühlte sie, wie alles, alles abfiel, was dieser Tag ihr Fremdes,
+Verworrenes, unheimlich Störendes gebracht. Fühlte, daß sie noch
+dieselbe war wie gestern abend um diese Stunde -- dieselbe, die sie
+immer sein würde, so oft der Rausch des Komödienspiels, des
+Im-Spiele-Gestaltens über sie kam.
+
+Sie riß die Taille ihres Straßenkleides ab, reckte die herrlichen Arme,
+schmetterte durch den Raum, daß die Wände wankten:
+
+ »Ins Kriegsgewühl hinein will es mich reißen,
+ Es treibt mich fort mit Sturmes Ungestüm,
+ Den Feldruf hör' ich mächtig zu mir dringen,
+ Das Schlachtroß steigt, und die Trompeten klingen!«
+
+Ja, es parierte, das erzene Organ ... vor dem sogleich die anderthalb
+Tausend da drunten erzittern würden ... Ja, sie war es noch, um
+derentwillen die alle da draußen vor allem doch gekommen waren -- die
+Heldin des Stückes, die Heldin dieses Abends ...
+
+Kaum stand sie im Bäuerinnengewand, die braunen Haare zu schlichtem
+Flechtenbau um das runde Haupt gelegt, da trat Franz Burg ein, im
+ledernen Koller bereits, doch noch ohne das rasselnde Blech drüber, noch
+ohne Maske:
+
+»Nun, Langbeinchen? Das kennt man ja gar nicht von Ihnen, daß Sie mal zu
+spät kommen! Wie ist die Stimmung?«
+
+»Prima prima!« lachte sie und leuchtete den Freund an.
+
+»Nichts Neues in der Affäre?« fragte er leise.
+
+»Nichts von Belang ... Ich denke, es renkt sich ein.«
+
+»Oh!« Franz Burg zog die tiefschattenden Augenbrauen hoch -- »das wäre
+aber jammerschade ... Können Sie denn nichts dazu tun, daß die
+Geschichte mit dem nötigen Theaterdonner zum Klappen kommt?«
+
+»Ach ... Ich bin froh, wenn sie aus der Welt ist ... Ich muß freien Kopf
+haben, freie Arme zum Arbeiten, zum Schaffen ...«
+
+»Soll ich Ihnen mal was verraten? -- Ihr Erbprinz ist im Theater -- hat
+noch vor einer halben Stunde einen Levkoyen geschickt und eine Loge
+bestellen lassen ... Da alles futsch war, hat der Intendant die
+Direktionsloge zur Verfügung gestellt ...«
+
+»Hm ... Das ist ja interessant ... Werde mir den jungen Herrn doch mal
+anschaun ...«
+
+»Sie kennen ihn noch gar nicht?«
+
+»Keine Ahnung ...«
+
+»Na -- die Hauptsache ist: Er ist da -- jedenfalls ein Beweis, daß man
+nicht ungnädig ist ... Na, die Reklame haben Sie verscherzt, nun halten
+Sie sich wenigstens den hochgeborenen Verehrer warm ...«
+
+Der Inspizient steckte den Kopf zur Tür herein:
+
+»Fräulein Buchner -- bitte auf die Szene!«
+
+»Also, Langbeinchen, wieder mal: Hals- und Beinbruch!«
+
+»Danke, Meister!«
+
+Mit Wohlgefallen sah Franz Burg der weißen, stolzen Gestalt nach.
+Künstlerblut! dachte er, kennt nichts als sich und ihre Arbeit ... Alles
+andre ist Dreck ...
+
+Und Jucunda schritt die Treppe hinunter. Alles grüßte mit vertraulicher
+Höflichkeit, wenn sie vorüberging: die Friseure, die Bühnenarbeiter, die
+Statisten, die Volontäre ...
+
+Und in ihrer Seele schwoll die unbändige Lust des Schaffens. Es schwang
+und klang in ihr von dröhnendem Jambenstrom und schmelzender
+Trochäenklage ... »Frommer Stab, o hätt' ich nimmer mit dem Schwerte
+dich vertauscht« ... Kaum konnte sie das Maß, die scheue, entrückte
+Gebärde für die Stimmung des Anfangs finden, da sie noch ein schlichtes
+Hirtenmädchen ist, von geheimen Stimmen, phantastischen Visionen
+geängstigt, doch ihrer Sendung noch ahnungsvoll unbewußt ...
+
+Und endlich rauschte die Gardine empor, wogte drunten das Gebraus, das
+wohlbekannte, von Zettelknistern und Räuspern und Zurechtrücken,
+klappten die Sitze der Zuspätkommenden, tönte das leise Zischen der
+Gestörten ... Und all dies wirre Durcheinander verebbte nach und nach,
+und die große schaurige Stille ward, in die ihrer Partner Verse
+hineinklapperten, wie eine belanglose Ouvertüre, ein gleichgültiger
+Auftakt des Augenblicks, da sie die ersten Worte zu sprechen haben würde
+... Ach, aber wie endlos lang dieser Auftakt! Die kamen ja heut wohl gar
+nicht vom Fleck, der alte Thibaut, ihre Schwestern, die Bräutigame --
+biedre Chormitglieder, die heute ein paar Verse zu lallen hatten ...
+
+Gesenkten Hauptes, stumm stand das Hirtenmädchen im Hintergrund ... Nur
+zuweilen hob sie zaghaft und scheu die großen Augen, ließ sie von einem
+zum andern flattern, als verstände sie die Sprache ihrer nächsten
+Menschen nicht mehr ... Und aus den verträumten Augen Johannas d'Arc
+spähte Jucunda Buchners ganz wacher, lauernder Sinn in den
+Zuschauerraum, dorthin, wo dicht an der Rampe links die Direktionsloge
+lag ... Die Lichter blendeten abscheulich -- dennoch konnte sie
+allmählich ganz vorn, matt angestrahlt vom Widerschein des hellen
+Bühnentages, zwei Gesichter erkennen: ein fahles, junges mit der
+blinkenden Scherbe im Auge -- und daneben ein verwettertes,
+tiefgebräuntes mit flatterndem Schnurrbart ... Also das waren die zwei
+-- »von Dillingen -- von Gorczynski« -- das waren die Schreiber des
+verhängnisvollen Briefchens -- die Spender des Rosenturms und der ...
+beiden ... blauen ... Lappen ...
+
+Achtung jetzt! Bertrand kommt, den blinkenden Helm in der Hand, den »ein
+Bohemerweib« ihm aufgedrungen im Gewühl ... Gleich wird das Stichwort
+kommen ... Horch ... Die letzten Verse rannen hin:
+
+ »Da war das Weib mir aus den Augen schnell --
+ Hinweggerissen hatte sie der Strom
+ Des Volkes, und der Helm blieb mir in Händen.«
+
+In diesem Augenblick versank alles, alles ... Jucunda Buchner versank,
+und nichts mehr war als Johanna von Orleans ... Die schoß nun wie ein
+Meteor aus der scheuen Zurückgezogenheit vor, riß dem alten Bauern den
+Helm aus der Hand:
+
+ »Gebt mir den Helm!«
+
+Erschrocken fragt der Alte:
+
+ »Was frommt Euch dies Gerät?
+ Das ist kein Schmuck für ein jungfräulich Haupt!«
+
+Und wie eine Fanfare jauchzt es aus der endlich entfesselten Brust der
+jungen Heldin:
+
+ »Mein ist der Helm -- und mir gehört er zu!«
+
+Alles -- alles ist versunken -- nur eines wirkt und wogt: der große
+Rausch des Schaffens ...
+
+Und Johanna wurde erst wieder Jucunda, als nach dem ersten großen
+Monolog die Gardine sank und gleich darauf, wie hinweggerissen vom Orkan
+des Beifalls, wieder emporrauschte ... als tausendstimmiger Jubelruf sie
+umbrandete ...
+
+Da war Jucunda wieder da -- ganz wach, ganz klar ... Und sie neigte sich
+... neigte sich zuerst mit tiefem Hofknix nach der Direktionsloge.
+
+
+
+
+ 9.
+
+
+Als Herr Borgmann Neo-Borussiae das Hotel Hauffe verließ und verloren,
+ziellos nach dem Augustusplatz hinüberschlenderte, kam er sich
+entsetzlich dumm vor. Was sollte er nun seinem Auftraggeber und
+Doppelgegenpaukanten ausrichten? Man hatte seine Forderung nicht
+angenommen, aber auch nicht abgelehnt ... Ein Witz ... aber ein fader
+... Ist bei Ihrem Auftraggeber eine Schraube los? Rabiater Bursche --
+ich danke für einen Skandal ... Koller ... Pathologischer Zustand ...
+Verlange absolut geräuschlose Erledigung ... Rechne dabei auf Ihre
+Mitwirkung ... Das waren so ungefähr die Schlagworte, die Herrn Borgmann
+noch im Gedächtnis hängen geblieben waren und nun in der korrekten
+Chargiertenseele einen tollen Tanz vollführten ... Ja, was sollte man
+auch einem Prinzen antworten, der von korpsstudentischer Direktion und
+Haltung keinen Schimmer hatte? Der eine so blutig ernste Sache wie eine
+Säbelforderung einfach behandelte ... wie ... na wie einen
+Hanswurststreich ... wie einen faulen Kalauer?!
+
+Und das hatte man sich gefallen lassen? Man hatte Ja und Amen gesagt zu
+der ungeheuerlichen Zumutung, nach solch einem Affront auch noch an
+einer ... hm, hm! geräuschlosen Beilegung mitzuwirken?!
+
+Herr Borgmann nahm die weiße Mütze mit dem weiß-schwarz-weißen
+Randstreifen ab und tupfte die von weißblonden, seltsamerweise schon
+etwas gelichteten Haaren umsäumte Stirn. Was konnte man seinem
+Auftraggeber nun eigentlich berichten? Hatte der Prinz irgend eine
+Erklärung zur Sache selbst abgegeben? Eine Entschuldigung bei der
+beleidigten jungen Dame in Aussicht gestellt? Nicht das mindeste ... Er
+hatte nichts weiter geäußert als Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des
+Mandanten -- und das kategorische Verlangen, die Sache müsse aus der
+Welt geschafft werden!
+
+Na, und du, Wilhelm Borgmann, Neo-Borussiae gewesener Zweiter, Erster?!
+Was für eine Antwort hast du gefunden?
+
+Gar keine! Völlig aus dem Konzept hat man dich gebracht, verblüfft,
+verhohnepiepelt ... Schindluder hat man mit dir getrieben, ganz einfach!
+
+Und warum? Warum hast du nicht aufgemuckt? Warum hat deine ganze
+mühevoll erworbene korpsstudentische Direktion, deine Haltung, dein
+Schimmer dich verlassen? Weil dies junge hagere Herrchen im hellblauen
+Dragonerüberrock mit den silberblinkenden Knöpfen ein ... Prinz von
+Geblüt war ... Da war von deiner Spießbürgerseele der dünne Firnis des
+Kavaliers abgefallen, den man dir in einer Dressur von fünf Semestern
+aufgepinselt -- und du warst in Lakaiendevotion submissest
+zusammengeknickt!
+
+Und drüben im Theaterrestaurant sitzt der unglückselige Pilgram, weiland
+Franconiae, und wartet auf Antwort ... Wartet auf das Schicksal ...
+
+Ja, was sagt man ihm nur? So wie die Geschichte in Wirklichkeit
+abgelaufen ist, so kann man sie ja gar nicht erzählen -- der rabiate
+Bursche schlägt sonst Krach! Das muß man sich erst ein bißchen
+zurechtlegen ...
+
+Herr Borgmann suchte einen Zufluchtsort. Café Felsche? Viel zu viel
+Betrieb jetzt da, wahrscheinlich auch ein Tisch voll Neo-Borussen -- --
+
+Ein Einfall! Das Museum! Das war zu dieser Stunde vielleicht noch
+geöffnet ...
+
+Und Studiosus Borgmann tat etwas, was ihm in seinen fünf Semestern, die
+er in Leipzig zugebracht, noch niemals passiert war: Er ging ins Museum
+hinein, stieg die prächtige Marmortreppe hinan, schritt gleichgültig
+durch die Säle voll bemalter Lappen in goldenen Rahmen und versank in
+einem Plüschsofa des großen Oberlichtsaales ... Und sann, wie er die
+Sache deichseln könne, ohne seine Blamage eingestehen zu müssen.
+
+Inzwischen saß Valentin Pilgram in regungslosem Warten in einer dunklen
+Ecke des Theaterrestaurants. Was werden würde? Nun das war ja ganz klar:
+Sowohl der Major als auch der Erbprinz, der die Charge eines
+Rittmeisters bekleidete, würden die militärisch korrekte Erklärung
+abgeben, daß sie die Tatsache der erfolgten Forderung ihrem zuständigen
+Ehrenrat unterbreiten würden ... Der würde dann einen formellen
+Ausgleichsversuch machen -- wenn dieser, wie selbstverständlich,
+gescheitert wäre, würde der Erbprinz einen Ersatzmann stellen, einen
+möglichst fechtgewandten Offizier eines Gardekavallerieregiments ... Und
+dann stiegen eben die beiden Partien ... Na Himmel, das hatte man ja
+doch schon fünfmal durchgemacht -- zwar nicht unter ganz gleich schweren
+Bedingungen ... Aber -- na ja, Eisen ist Eisen, und fechten haben wir ja
+gottlob gelernt ...
+
+Und dann ...
+
+Valentin Pilgram versank in Träume ... Dann mußte irgend etwas kommen,
+etwas Schönes, von dem man sich keine rechte Vorstellung machen konnte.
+So ganz ohne Dank und Lohn würde man ihn doch nicht laufen lassen ...
+
+Dank und Lohn? Aber wie?
+
+Valentin Pilgram hatte bewiesen, daß er bereit war, sich jeden vors
+krumme Messer zu langen, der an dies Mädchen anders dachte denn an eine
+Heilige ... Und Heilige ... Wie belohnen sie denn?
+
+Mit ihrer Gnade ... Mit Fürsprache im Himmel ...
+
+Sie belohnen von ferne ... Mit Gaben, für die man sich auf Erden
+verdammt wenig kaufen kann ...
+
+Na, und das wird ja auch wohl dein Fall sein, mein guter Valentin --
+nicht wahr?!
+
+Na -- und wenn auch! Wir haben eben getan, was wir mußten ...
+
+Ein alter Reckenspruch aus den goldenen Tagen des Rittertums klang ihm
+durch den Sinn:
+
+ _A Dieu mon âme,
+ Ma vie au roi,
+ Mon coeur aux dames,
+ L'honneur pour moi._
+
+_Pour moi_ ... Na eben, das war's: das Bewußtsein: So gehört sich's --
+und so hab' ich's gemacht ...
+
+Endlich! Da kam sein Kartellträger ...
+
+»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Borgmann ...«
+
+»Gewiß, gern ... Herr Ober, eine Schale Schwarz ...«
+
+»Also ... Angenommen?«
+
+»Hm ... Die Herren haben Erklärungen abgegeben, die vielleicht ... als
+befriedigend gelten könnten ...«
+
+»Was! sie kneifen?!«
+
+»Hm ... Doch wohl etwas zu schroffer Ausdruck ... Der Prinz hat den
+Major beauftragt, die Angelegenheit in Güte zu arrangieren ... Ich nehme
+also an, daß er Familie Buchner im beiderseitigen Namen um Verzeihung
+bitten wird ... Was macht's, Ober? Fünfundzwanzig? Schön -- ziehen Sie
+fünfunddreißig ab ...«
+
+Valentin Pilgram war wie vor den Kopf gestoßen.
+
+In Güte arrangieren ... Fräulein Buchner um Verzeihung bitten ... Hm ...
+Verteufelt einfache Lösung ... Und das hatte man sich nicht mal im
+Traume vorgestellt, daß es so kommen würde ... kommen ... müßte ...
+
+Himmel ja -- man war eben Korpsstudent -- trat für alles, was man gesagt
+und getan -- selbst in der Hitze gesagt und getan -- für das trat man
+eben stramm und rücksichtslos ein mit Waffe und Blut, mit Schädeldach
+und Nase, mit Brustbein und Armknochen -- konnte sich gar nicht
+vorstellen, daß jemand auswich -- revozierte und deprezierte -- den
+Schwanz einzog und ... na eben kniff.
+
+Und ... jeden andern Kneifer durfte man einen Kneifer schimpfen ...
+Dieser aber stand außerhalb der Lebensgesetze der akademischen Welt --
+der er _pro forma_ doch angehörte ... Der konnte sich eine Kneiferei
+leisten, obwohl er doch auch Student, offiziell sogar Korpsstudent war
+...
+
+Was für ein Hohn ... Was für eine blöde Farce!
+
+»Hm ... Und Sie meinen, Herr Borgmann -- mit diesen Erklärungen müsse
+ich mich begnügen?«
+
+»Ich ... glaube wenigstens nicht, daß ... nach diesen Erklärungen ...
+das Ehrengericht Ihre Forderung noch genehmigen würde, wenn Sie darauf
+bestehen wollten ... Selbst ein S. C. Ehrengericht nicht ... Aber vor
+das kommt die Sache ja überhaupt nicht ... Die kommt vor den
+Offiziersehrenrat ... Na und der wird eben selbstverständlich die Sache
+für erledigt erklären unter diesen Umständen ...«
+
+Ach so ... Also alles in schönster Ordnung ... Die Ehre der
+angegriffenen jungen Dame _in integrum_ restituiert durch die
+Deprekation ... und nur er selber ... er selber um sein Korpsband
+gekommen ... und eigentlich ... der ... Blamierte ...
+
+Hm ... es stimmte ... Da war nichts zu machen ... Aber auch gar nichts
+...
+
+Ja ... Wie war denn das aber möglich? Hatte er denn irgend einen ...
+Fehler gemacht?
+
+Nein ... Er hatte den Geboten der Ehre, der Ritterlichkeit gefolgt ...
+Und was sich da wider ihn aufreckte ... das war etwas, was er bis dahin
+noch nicht geahnt hatte -- der Unsinn des Daseins ... die Tragikomödie
+des Idealismus ... dieses phantastischen romantischen Idealismus, der
+den eigenen Adel, die eigene heroisch-naive Auffassung von Pflicht und
+Ehre noch für das Gesetz des Weltganges hält ...
+
+Valentin Pilgram stand auf ... stumm ... stieren, korrekten Antlitzes.
+
+»Ich danke Ihnen verbindlichst für Ihren gütigen Beistand, Herr Borgmann
+... Nun, dann wird sich die Sache ja wohl in aller Güte und Freundschaft
+erledigen ... zwischen den ... =Nächstbeteiligten= ... Adieu, Herr
+Borgmann ...«
+
+Donnerwetter -- dachte Wilhelm Borgmann -- das hat besser gegangen, als
+ich mir's träumen ließ ...
+
+Valentin Pilgram irrte durch die Straßen ... Dies Menschengewoge, der
+Spätherbstglanz über der Welt, die Wagen, die klingelnde Pferdebahn, das
+alles machte ihn rasend. Er floh ins Rosental, strich ziellos durch die
+Laubgänge ...
+
+Jucunda! Das war sein einziger Trostgedanke ... Jucunda würde zu ihm
+stehen ... ihm danken, ihn belohnen ... irgendwie ... für alles, was er
+ihr geopfert ...
+
+Er rannte immer weiter, immer tiefer ins Holz hinein -- über die Elster
+hinüber, kreuzte die sumpfigen Wiesen jenseits der Marienbrücke, verlor
+sich in den braunen Forsten des Leutzscher Holzes. Es kam die frühe
+Dämmerung, es wurde feucht und frostig unter dem Laubdach, von dem
+langsam Blatt um Blatt niederrieselte im melancholischen Schweigen des
+windstillen Herbstabends -- Valentin Pilgram bemerkte es nicht. Und wie
+die Fledermäuse, die lautlos um die schattenhaften Säume der Gebüsche
+schwirrten, über den perlmuttfarbenen Spiegeln der Sumpfteiche huschten,
+so flatterten durch des wackern Gesellen Hirn die aberwitzigen
+Gedanken.
+
+Er hatte doch recht getan -- gehandelt wie ein Mann und Kavalier ... Und
+eine lächerliche Blamage war die Folge ... Das Korpsband, das geliebte,
+war von seiner Brust hinweggeweht, wie ein klagender Abendhauch die
+ziehenden Nebelstreifen dort auf den Wiesen hinwegstreifte ...
+
+Das konnte doch das Ende nicht sein -- so dummejungenmäßig beiseite
+geschoben werden, das war doch kein Abschluß für Valentin Pilgrams
+stolze, prangende Burschenherrlichkeit ...
+
+Nein ... Es mußte noch irgend etwas kommen -- die Ahnung irgend eines
+süßen oder schrecklichen Ereignisses düsterte durch die Seele des
+einsamen Wanderers.
+
+Es war schon Nacht, sternüberflimmerte Spätherbstnacht, als er vor sich
+die dunklen Umrisse des Leutzscher Bahnhofes auftauchen, die
+grellfarbigen Lichter des Bahnkörpers flimmern sah. Eine dumpfe
+Sehnsucht nach der Stadt zurück überkam ihn plötzlich, nach wogenden
+Menschenmassen, nach Wagenlärm und glitzernden Schaufenstern. Er
+erkundigte sich: der nächste Zug fuhr erst in einer halben Stunde. In
+dem schmutzigen Bahnhofsrestaurant schüttete er hastig, gedankenlos ein
+paar Glas Bier in die brennende Gurgel. Als der Zug herannahte und er
+die Börse zog, bemerkte er, daß er an seiner Uhrkette noch den
+Bierzipfel trug, ein Stück des grün-gold-roten Korpsbandes mit goldenen
+Beschlägen ... Da hakte er mit einem bitteren Zucken der Mundwinkel den
+blanken Zierat ab und barg ihn in seiner Brieftasche.
+
+Als er auf dem Thüringer Bahnhof ankam, war es gegen neun Uhr. Er
+hastete heimwärts. Jetzt war Jucunda im Theater -- spielte abermals die
+Jungfrau ... An allen Anschlagsäulen hing der Theaterzettel, der ihren
+Namen trug ... Es trieb ihn nach Hause, dahin, wo sie geboren und groß
+geworden war, eine seltene, phantastische Wunderblume, in einem
+abgezirkelten, banalen Spießergärtchen erblüht ...
+
+Alles war still und finster in dem engen, muffigen Korridor, als er die
+Entreetür öffnete. Natürlich, die Eltern waren ja mit im Theater, ihr
+Goldkind zu bewundern ...
+
+Er suchte seine Zündholzschachtel, fand sie, aber sie war leer.
+Vergebens tappte er nach Licht. Die Tür zur Wohnstube war angelehnt, ein
+matter Lichtreflex von der Straßenbeleuchtung fiel heraus. Valentin
+konnte der Versuchung nicht widerstehen und trat ein. Stumm und dunkel
+und dumpfig lag das Zimmer. Dort am Fenster hatte er mit ihr gestanden
+-- wann doch nur? Vor einer Ewigkeit?! Pah -- es war noch nicht
+vierundzwanzig Stunden her ... Und hier auf dem verschlissenen Plüsch
+hatte sie gesessen, das weiße Königinnenhaupt zurückgelehnt ... und --
+wie hatte sie nur gesagt? 'Vielleicht kann ich doch einmal einen Ritter
+gebrauchen -- dann will ich an diese Stunde denken und Sie rufen ...'
+Und jetzt? Hatte sie ihn nicht gerufen? -- Nein -- das eigentlich wohl
+nicht ... Aber hatte sie nicht geweint?! Sie ... sie ... und hatte
+geweint um einer bübischen Kränkung willen ...
+
+Und da hatte er getan, was er genau so rasch, so selbstverständlich und
+geradezu getan hätte für seine Schwesterchen daheim in Dresden ... Und
+morgen würde ganz Leipzig über ihn lachen ...
+
+Hastig trat er auf den stockfinstern Korridor zurück und tappte nach
+seiner Stube hinüber. Zufällig bekam er die Klinke zu Jucundas
+Kammertür in die Hand ... Er drückte sie nieder, und ein Duft wehte ihm
+entgegen, der ihn mit einem Schwall stummer, wirrer Sehnsuchtswünsche
+bedrängte. Das Zimmer lag nach einem Seitengäßchen hinaus und war fast
+völlig finster. Nur aus einem gegenüberliegenden Fenster fiel ein ganz
+matter Lichtschein hinein. In diesem Schein leuchtete das weiße Bett,
+schon aufgeschlagen, für die Nachtruhe der Künstlerin ...
+
+Ein Grausen des Verlangens schnürte dem reckenhaften Burschen die Kehle
+zusammen. Er schloß hastig die Tür und stand einen Augenblick lang in
+der Dunkelheit. Alle Glieder bebten, seine Kinnbacken schlugen im Frost
+zusammen. Dann übergoß ihn glühende Scham. Er war der Mann nicht, sich
+an dem Dunste der Geliebten verstohlen schnüffelnd zu erletzen. Er
+rannte hinaus, fand endlich die Tür seiner Bude und saß lange mit
+fiebernden Gliedern in der Finsternis, auf seinem Sofa. Endlich fuhr er
+auf, schwankte zu seinem Nachttischchen hinüber, machte Licht, zündete
+die Petroleumlampe an und sah die aufgeschlagenen Repetitorien liegen,
+wie er sie morgens verlassen hatte, als die Kanzleirätin in sein Zimmer
+gestürzt war ...
+
+Und eine stumpfe Ruhe kam über ihn. Arbeiten! Arbeiten! Er wühlte sich
+in die schematisch öde Zusammenstellung der elementaren Grundbegriffe
+seiner Wissenschaft hinein. Seiner Wissenschaft -- ah bah! Die Quelle
+des Wissens, die hell in seiner Nähe sprudelte, hatte er ängstlich
+gemieden sieben Semester lang und nur dem Korps gedient ... Nun galt es
+hastig und mechanisch einen Haufen seelenloser Notizen in sich
+hineinzustopfen, um den toten Popanz, die pappdeckelne Attrappe einer
+fadenscheinigen Examensweisheit aufzurichten ...
+
+Immerhin ... wenigstens Vergessen wirkte dies stumpfsinnige Büffeln ...
+
+Und eine Stunde verrann -- zwei Stunden ... Plötzlich draußen auf dem
+Flur die Stimmen der heimkehrenden Familie Buchner. Valentin lauschte
+angestrengt ... Ob sie ihn denn nicht noch zu sprechen wünschte? Ihm zu
+danken für die ... glückliche Lösung, die sein Eingreifen doch
+herbeigeführt?
+
+Und wirklich -- es pochte an seine Tür ...
+
+»Herein!«
+
+Mutter Kanzleirätin stand auf der Schwelle. Ein wenig rot und verlegen
+... In der schleifenbesetzten Kapuze, dem altmodischen Abendmantel,
+genau wie gestern, als er sie aus dem Wagen gehoben ...
+
+»Sie wär'n entschuld'gen, Herr Pilgram -- hier is Sie nämlich ä
+Briefchen von meiner Tochter ...«
+
+Ein -- Brief? Und warum konnte sie denn nicht selber --?!
+
+So deutlich stand diese Frage in des jungen Mannes starr aufgerissenen
+Augen, daß Frau Buchner die unausgesprochene beantwortete:
+
+»Nämlich, Se dürfen's ihr nich iebel nähm', selber kann se's Ihn' nich
+sagen, sie is Ihn' nämlich gar zu sähre angegriff'n von der Vorstellung
+... Gut Nacht, Herr Pilgram, wünsch' gute Ruh ...«
+
+Und hastig war die massive Gestalt aus der Tür ... Nur der Brief blieb
+zurück, lag weiß und fremd auf dem fleckigen, grellgemusterten
+Tischtuch.
+
+Mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge nahm Valentin das Kuvert und
+studierte die großen, fahrigen Züge der Aufschrift:
+
+ »Herrn Stud. Pilgram ...«
+
+Weder Fakultät noch Vorname ...
+
+Was steht darin? Nun, es kann doch nur eins sein: Dank und abermals
+Dank, feuriger, inniger Dank ...
+
+Er riß den Umschlag auf und las:
+
+ »Sehr geehrter Herr ...«
+
+Er las und las ... »erwünschte Erfolg« -- »Herren haben mündlich bei mir
+um Entschuldigung gebeten« -- »danke Ihnen innigst« -- »großes Opfer« --
+»Zweck erreicht« -- »nehmen Sie Ihre Herausforderung zurück, damit
+nicht noch ... weitere ... Unannehmlichkeiten entstehn ...« -- »mit
+der nochmaligen Versicherung meines aufrichtigsten Dankes Ihre ganz
+ergebene ...«
+
+Na ja ... na also ...
+
+Völlig korrekt das alles ... Nichts fehlte, was man so erwarten und
+verlangen konnte ...
+
+Nichts fehlte ... gar nichts ...
+
+Valentin Pilgram sah lange und regungslos in den hellen Lichtkegel der
+Petroleumlampe, bis die Augen ihn zu schmerzen anfingen.
+
+Na ja ... na also ...
+
+Und endlich klappte er den Brief zusammen. Wollte ihn in den Umschlag
+schieben ... Da auf einmal blieben seine Augen an etwas hängen, das er
+nicht begriff. Auf der letzten Seite des Bogens, am unteren Rande und
+mit dem Kopfe nach unten, fand sich ein Monogramm aus den Buchstaben T
+und H und darüber der Zirkel eines wohllöblichen C. C. der Franconia zu
+Leipzig.
+
+Was war das?!
+
+T. H.? Oder ... H. T.? Und darüber der Frankenzirkel?
+
+Kein Name der verflossenen Korpsbrüder fing mit einem H an, aber mit
+einem T? Thumser? Hans ... Thumser ... Das ... stimmte ...
+
+Was war das? Wie kam Jucunda Buchner zu einem Briefbogen von Hans
+Thumser?! Teufel --
+
+Hatte der am Ende den Makler gespielt? Und geholfen, ihm diese ungeheure
+Blamage einzubrocken?!
+
+Valentin Pilgram dachte nach. Nun, der kleine Thumser war ein Faselhans,
+hatte den Kopf voll konfuser Ideen, voll unvorschriftsmäßiger,
+inkorrekter, umstürzlerischer Gedanken über allerhand heilige,
+unantastbare Dinge, Dinge, die immer so gewesen waren und immer so
+bleiben sollten ... Sah ein bißchen von oben herab auf alle Menschen und
+Zustände -- aber eine Gemeinheit, eine heimtückische Verräterei und
+Niedertracht -- die war ihm denn doch nicht zuzutrauen ...
+
+Aber -- wie war dies -- Unfaßbare da -- zu erklären?!
+
+War denn irgendeine Möglichkeit, daß Jucunda und der versedrechselnde,
+kunstsimpelnde Korpsbruder in Berührung hätten kommen können?
+
+Gestern abend -- so viel stand fest -- kannte Thumser die Künstlerin
+noch nicht persönlich -- hatte zwar die Idee gehabt mit dem
+Pferdeausspannen, aber nicht ein Wort mit dem Mädchen gewechselt ...
+
+Aber -- hatte nicht er selber, Valentin, gestern abend im Gespräch mit
+der Familie Buchner den Namen Thumsers genannt als desjenigen, der den
+glorreichen Einfall mit der Pferdeausspannerei ausgeheckt ...
+
+'Dafür hätten Sie 'nen Kuß gekriegt,' hatte Jucunda gesagt ... Noch ganz
+deutlich entsann sich Valentin einer dunklen Regung von Eifersucht ...
+
+Wär's möglich -- sie hätte sich vielleicht an den gewandt um ... um
+einen Ausweg aus der Verlegenheit, in die Valentin Pilgrams rasche
+Ritterschaft sie hineingestürzt?!
+
+Oder?! Hatte er -- Hans Thumser -- die Bekanntschaft eingeleitet? Er
+wußte aus dem C. C., was vorgefallen war ... Er war sehr schweigsam
+gewesen im C. C. ... Sollte er diese ... Gelegenheit ... seine
+Wissenschaft um die Situation -- sollte er die benutzt haben, um sich
+bei Jucunda lieb Kind zu machen?!
+
+Wie es auch sein mochte -- es war etwas geschehen zwischen den beiden
+... Hans Thumser hatte seine Hand im Spiel -- in dem falschen,
+ränkevollen Spiel, an dessen Ende seine, Valentins, hilflose Blamage
+stand ...
+
+Himmel und Hölle! Da stand ja auf einmal ein neuer Feind auf -- ein
+Feind, der eine harmlos grinsende Freundesmaske trug ... und einer, der
+nicht unangreifbar war, wie die andern -- nicht geschützt wie diese
+Jucunda durch ihr Geschlecht -- nicht durch Rang, durch Pflichten der
+Rücksichtnahme, durch die Ausnahmegesetze der militärischen
+Standesordnung -- wie das fürstliche Käsegesicht mit der Scherbe im Auge
+oder sein schnurrbärtiger Begleiter ...
+
+Einer, den man sich langen konnte!
+
+Ein Korpsbruder?! Pah ... er selber war ja nicht mehr Korpsstudent ...
+Konnte ramschen, mit wem es ihm beliebte ... Seine Rache kühlen an dem
+ersten besten, der seinem Grimm in den Weg lief ...
+
+Ja, seinem Grimm -- der besinnungslosen Wut, die ihm nun auf einmal in
+die Augen stieg mit blutrotem Schimmer, ihm Blick und Fassung trübte --
+daß er aufsprang, die Halsbinde, den Kragen aufriß, um nicht zu
+ersticken ...
+
+Nebenan raschelten Kleider, klapperten die leisen Tritte müder
+Mädchenfüße ...
+
+Sie -- und nur eine dünne Wand zwischen ihm und seinem Schicksal ...
+
+Er lauschte ... flüsternde Frauenstimmen klangen: Mutter Kanzleirätin
+brachte wohl das Goldkind schlafen ... Nun knarrte die Tür, nun
+schlürften die Pantoffeln der Alten über den Korridor, zum ehelichen
+Schlafgemach hinüber ... Und ein herzhaftes, langgezogenes Gähnen ...
+Und nun krachte das Bett, rauschten die Kissen ...
+
+Valentin Pilgram saß noch immer steif und regungslos an seinem
+Schreibtisch und starrte in den Lichtkegel der Petroleumlampe ... Und in
+der Faust hielt er den halbzerknüllten Briefbogen, der vorne Jucunda
+Buchners Brief und hinten Hans Thumsers Monogramm und den Frankenzirkel
+trug ...
+
+Na ja ... Na also -- -- --!!
+
+
+
+
+ 10.
+
+
+Die Franken hatten C. C. gehabt und Chargenwahl vollzogen. Ivo Volkner
+aus Düsseldorf war Erster geworden an Pilgrams Statt. Hartwig, der
+Vertreter des Marburger Kartellkorps, hatte die zweite Charge bekommen,
+und der eben erst rezipierte Jungbursch Feldmann die dritte. Volkner
+Senior -- das bedeutete einen Wechsel des Regimes. Statt des zähen,
+wortkargen, sparsamen und fechtgewaltigen Sachsen der leichtsinnige,
+wohlhabende, lebenslustige Rheinländer -- das war ein wahrer Umschwung
+für den Geist des Frankenbundes ...
+
+Hans Thumser säumte nicht, von diesem Umschwung zu profitieren. Alle
+paar Tage bat er um Dispens zum Besuch der Konzerte, des Theaters,
+schwänzte regelmäßig Sonnabends das gemeinsame Mittagessen, um der
+Motette des Knabenchors in der Thomaskirche zu lauschen ...
+
+Und eines Morgens erlangte er gar die Erlaubnis, bei den Meiningern zu
+statieren ...
+
+Die Meininger ... sie hielten ihn völlig im Bann. Er versäumte keine
+Premiere. Drama auf Drama reckten sich die genialen Machtschöpfungen der
+erhabensten Meisterwerke des germanischen Theaters vor dem
+schönheitshungrigen Auge des jungen Studenten auf ...
+
+Und all die heiße Inbrunst, die solch aufrüttelnde, seelenentzückende
+Schau in ihm entflammt hatte, die küßte er der zierlichen Asta Thöny auf
+den feuchten, bebenden Mund ... Es war ein toller Märchenrausch von
+Begeisterung und Liebe, in dem die Tage, die Nächte dahinrasten. Und so
+ganz versunken war alles, was sich nicht der Erinnerung aufdrängte, daß
+er nicht ein einziges Mal auf den Einfall gekommen war, sich nach dem
+armen Valentin Pilgram umzusehen, mit dem er doch drei Semester lang die
+gleichen Farben getragen -- der aus dem Korps geschieden war um eines
+Entschlusses willen, den er heiß bewunderte wie alle Korpsbrüder ... Er
+wußte, die andern pflegten eifrig den Verkehr mit dem ausgeschiedenen
+Freunde -- er nahm sich täglich vor, ihn aufzusuchen, und täglich vergaß
+er's in seinem Taumel von Sehnsucht und Erfüllung, Erfüllung und
+Sehnsucht ...
+
+Ja, Erfüllung ... und Sehnsucht ... Denn wenn Hans Thumsers flaumige
+Jugend in Asta Thönys schimmernden Armen lag, dann am heißesten
+verlangte seine Seele nach der andern, die Abend für Abend die ganz
+großen, ganz lichten Visionen der Dichter verkörperte, statt jener
+kleinen, sündigen, irdischen Geschöpfe, die Asta Thönys Kunst umspannte
+...
+
+Aber außerhalb der Bühne hatte er sie niemals wieder zu sehen bekommen
+-- Jucunda, die allvergötterte. Es war ein förmliches Jucundafieber
+ausgebrochen unter der Leipziger Jugend, der männlichen wie der
+weiblichen, der akademischen wie der Philisterwelt ... Allabendlich
+schritt die Künstlerin durch ein jubeltrunkenes Spalier ihrer Verehrer
+zu ihrem Wagen -- nach jeder Premiere wiederholte sich die gleiche
+Komödie. -- Der Kutscher strängte die Gäule schon vorher ab und stellte
+sie auf Seite und sich daneben, damit ihm die Tiere nicht ganz verrückt
+wurden und er selber ohne blaue Flecke vom Bock herunterkäme ...
+
+Und Liebesbriefe ohne Zahl, voll ungelenker Gedichte, stammelnder
+Mädchenverzückung und kecker Jungmännerwerbung flatterten in das
+bescheidene Kämmerchen an der Katharinenstraße ...
+
+Selbst die Waffenstudenten, deren Gesichtskreis doch sonst mit ihren
+Couleurangelegenheiten völlig ausgefüllt war, wurden in den allgemeinen
+Theatertaumel mit hineingezogen. Wenn Jucundas Triumphwagen mit seiner
+keuchenden, brüllenden Bespannung durch die Straßen südlich des
+Königsplatzes der Altstadt zurollte, dann blinkten in der Schar der
+Ziehenden und der Geleitenden die Mützen der Korps neben denen der
+Burschenschaften, der Turner neben denen der Landsmannschaften -- Arion
+und Paulus wetteiferten mit dem heiligen Wingolf im Dienste der
+Jucundabegeisterung ... Es war wie im Paradiese, da das Lämmlein bei dem
+Tiger weidete ...
+
+Und der regelmäßigste Besucher war der Gast der fest abonnierten
+Proszeniumsloge vorn links vom Schauspieler, neben der Direktionsloge
+... war der Erbprinz von Nassau-Dillingen. Zu jeder Premiere schleppten
+die herzoglichen Leibdiener ein kostbares Blumenarrangement von
+schier unermeßlichen Dimensionen auf die Bühne, daran ein Kuvert mit
+geprägtem Wappen hing ... Es enthielt des Erbprinzen Visitenkarte,
+darauf immer nur die Worte: »In Verehrung« ... geschrieben in einer
+unausgeschriebenen Knabenschrift. Niemals aber hatte sich Jucunda
+künftighin über den leisesten Versuch einer Annäherung zu beklagen
+gehabt.
+
+Und Jucundas Dank beschränkte sich stets auf den Hofknix vor der ersten
+Parkettloge links ...
+
+»So ist's recht, Langbeinchen,« sagte Franz Burg mehr als einmal zu der
+jungen Freundin -- »so muß man's machen: hübsch in Distanz halten die
+hochgeborenen Verehrer -- aber keinesfalls wegöden ... das hat keinen
+Sinn -- immer warm halten -- man kann nie wissen, wozu man so etwas
+einmal brauchen kann ...«
+
+Und Jucunda begriff. Es blieb doch nicht nur bei dem Hofknix. Wie jeder
+andre Spender einer Blumengabe bekam auch Erbprinz Heribert ein paar
+Dankesworte auf goldgerändertem Kärtchen ... Anfangs waren's nur drei
+konventionelle, schematische Zeilen ... Bei der dritten Spende aber
+stellte sich ein Zusatz ein:
+
+ »Sie beschämen mich, Durchlaucht, -- ich weiß nicht, wodurch ich
+ soviel gnädige Anteilnahme verdient habe.«
+
+Das nächste Mal enthielt das wappengeprägte Kuvert an der riesigen
+Seidenschleife, die in den Nassau-Dillingenschen Landesfarben von einem
+riesigen Lorbeerrade niederrauschte -- enthielt das Kuvert ein Briefchen
+von zwanzig Zeilen:
+
+ »... Sie sind mir böse gewesen, und ich muß leider zugeben, nicht ganz
+ ohne Grund, obwohl ich für die geschmacklose Form der Huldigung, die
+ Ihnen in meinem Namen überreicht wurde, nichts kann. Sind Sie wieder
+ gut? Ich bitte Sie um ein Zeichen ...«
+
+In der Premiere des »Wintermärchens«, die kurz auf dies Briefchen
+folgte, lockte der tumultuarische Applaus nach der Gerichtsszene die
+eben hinter den Kulissen gestorbene Hermione-Jucunda auf die Bühne ...
+Und wieder schleppten livrierte Diener eine weißleuchtende Kaskade von
+rieselnden Chrysanthemen heran ... Da zog Hermione aus dem Blütenschwall
+eine ganze Handvoll der märchenhaften, hundertstrahligen Blumensterne
+und steckte sie an ihre Brust, um sich dann erst mit feierlichem Lächeln
+im tiefen Hofknix zu neigen gegen die Proszeniumsloge vorn links vom
+Schauspieler ...
+
+
+Also Hans Thumser durfte statieren -- mit hoher Genehmigung des Herrn
+Ersten Chargierten. Er ging sonach eines Morgens um zehn nach dem
+Fechtboden zum Bureau des Carolatheaters und meldete sich als Statist
+für »Wallensteins Tod«. Er wurde sofort und freundlich angenommen. Denn
+es war hier wie immer und überall: Nach den ersten Tagen der
+Begeisterung waren von den angeworbenen und mühsam eingedrillten
+Komparsen viele Dutzende abgefallen, hatten sich schriftlich
+entschuldigt oder waren einfach weggeblieben. Er mußte gleich in die
+Probe. Es handelte sich nur um zwei Szenen: die große Kürassierszene am
+Schluß des dritten Aktes und die Mordszene am Ende des fünften.
+
+Vom Bureau aus schickte man Hans Thumser auf die Bühne. Aber den Weg
+mußte er sich selber suchen und erfragen. Er wurde durch sechs bis acht
+verschiedene Türen gewiesen, kam sechs- bis achtmal an das weglose Ende
+dunkler, verschlossener Korridore, stieß sich die Schienbeine wund an
+allerhand unbeschreiblichen, geheimnisvollen Gegenständen, welche in der
+Finsternis herumstanden ... Endlich fand er ein eisernes Pförtchen, an
+dem in Weiß die Aufschrift stand: Zur Bühne ... und voll Ehrfurcht trat
+er in einen hohen, frostigen Raum, in dem im halben Tageslicht ein
+Gewirr von hölzernen Lattenrahmen, mit grauer Leinwand überspannt,
+erkennbar war. An diesen Wänden war vielfach die aufgepinselte Inschrift
+zu erkennen: »W. T. III. Saal.«
+
+Man wies ihn an, eine hohe bretterne Treppe hinanzuklimmen, auf deren
+oberem Podest er plötzlich ein seltsames Schauspiel sah: eine Wand wie
+ein riesiges, aus zahllosen kleinen Scheiben bestehendes Fenster, hinter
+dem der Treppenpodest wie eine lange Galerie sich hinzog. Das
+Glasfenster lief jenseits der Treppe in eine eichene Tür aus, von der
+aus dann eine andere Treppe zum Bühnenpodium hinunterführte ... Diese
+Treppe aber war im Bogen geschweift und aus massivem, dunkelgebeiztem
+Eichenholz mit schwerem Renaissancegeländer -- wenigstens sah sie so
+aus. Unten ein dunkler, wuchtiger Saal mit Kamin, Gobelins, gepolsterten
+Bänken an den Wänden, und da standen an siebenzig jüngere Männer und
+lauschten andächtig der Instruktion des Oberregisseurs Burg.
+
+»Aha -- noch 'n Kürassier?« unterbrach dieser seinen Vortrag. »Kennen
+Sie 'n Wallenstein?«
+
+»Auswendig ...«
+
+»Um so besser ...
+
+ »Geselle Dich zu uns -- komm hier!
+ Es ist ein pudelnärrisch Tier ...«
+
+Also bitte weiter zu hören, meine Herren. Ihr wollt Euren geliebten
+Oberst Max -- hier steht er, Barthel ist sein Name, Alexander Barthel,
+na, Ihr werdet doch unsern großen, schönen Alexander kennen?«
+
+»Ja! ja!« murmelten die Kürassiere mit Begeisterung.
+
+»Also den wollt Ihr dem Friedländer -- das heißt mir! -- entreißen ...
+Ihr bildet Euch nämlich ein, ich hielte ihn in Gefangenschaft. Einzeln,
+truppweise strömt Ihr herein, und wie Ihr in den Saal kommt, seht Ihr
+etwas ganz Unerwartetes: Euer Kommandeur ist nicht gefesselt, sondern
+frei: nicht ich halte ihn, sondern etwas anderes, der stärkste Magnet,
+den es gibt, natürlich ein Frauenzimmer: die da, meine Tochter Jucunda,
+ich wollte sagen Thekla ...«
+
+Ein weißer Schatten im halbdunklen Raum: sie, die Erträumte, von tausend
+Sehnsuchtsgedanken Umschwärmte, die Verkörperung des Mädchenideals
+deutscher Jugend im neunten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts ...
+da stand sie im fußfreien grauen Rock, eine schlichte graue Bluse um den
+festen Oberkörper ...
+
+»Nun stutzt natürlich jede Gruppe,« fuhr der Oberregisseur in seiner
+Instruktion fort, »und es verstummen die Rufe, mit denen Ihr einander
+angefeuert ... Die erstaunten Blicke gehen von ihm zu mir, von mir zu
+ihr -- befangen flüstert einer dem andern zu, was er sich bei der Sache
+denken mag ... und so steht Ihr schweigend, mit gesenkten Schwertern ...
+nichts ist vernehmbar, als das leise Rascheln der eisernen Rüstungen --
+bis Euer Führer sich an Euch wendet und Euch warnt, ihm zu folgen. --
+Schlagen Sie an, Barthel!«
+
+Und der schöne Alexander trat einen halben Schritt vor, sprach lächelnd,
+mit halber Stimme:
+
+ »Bedenket, was ihr tut! Es ist nicht wohlgetan,
+ Zum Führer den Verzweifelten zu wählen --
+ Ihr reißt mich weg von meinem Glück -- wohlan,
+ Der Rachegöttin weih' ich Eure Seelen ...«
+
+»Bitte halt!« unterbrach Burg. »In diesem Augenblick richtet sich jeder
+auf, die Augen blitzen mutig den Führer an: Herr befiehl! Wir sind Dein
+-- führ' uns in die Schlacht, führ' uns in den Tod, wir folgen Dir ...
+Das geht wie ein Ruck durch die ganze eisenstarrende Gesellschaft durch,
+versteht Ihr? Und nun weiter, Barthel!«
+
+ »Ihr habt gewählt zu eigenem Verderben --
+ wer mit mir geht, der sei bereit zu sterben!«
+
+so schmetterte der schöne Barthel heraus, berauscht von der klingenden
+Herrlichkeit seines erzenen Organs.
+
+»So -- und auf dies Wort wirft er sich herum und stürzt sich in Eure
+Mitte -- mit einem einzigen Aufschrei des Jubels, des wilden,
+todbereiten Jubels umringt Ihr ihn, so daß die Eisenmasse ihn
+gewissermaßen einschluckt, die Schwerter schießen in die Höhe wie eine
+schäumende Flut, die über seinem Helmbusch zusammenschlägt ... Noch
+einmal taucht er auf, als er in Eurer Schar die Treppe hinaufstürzt, Ihr
+hinter ihm drein; der Schwall wälzt sich durch die Galerie, im Gedränge
+werden ein paar Glasscheiben eingestoßen und klirren schneidend in das
+Getös des Sterbejauchzens, der Hörner hinein, die von drunten zum
+letzten Kampfe werben -- und denn Vorhang und aus!«
+
+Mit sprühenden Augen, mit langhin malenden Gesten seiner hageren Arme
+hatte der Oberregisseur die ganze ungeheure Szene aufgebaut vor den
+Augen der lauschenden Statistenlehrlinge ... die brachen nun in lauten
+Beifall aus, als ihr Meister aus der hinreißenden Beredsamkeit in einen
+trockenen Ulkton am Schluß fiel ...
+
+»So, Herrschaften, nun zählt mal von vorne nach hinten ab, und jeder
+merke sich genau seine Zahl!«
+
+Dann wurden die zweiundsiebenzig in sieben Gruppen eingeteilt nach der
+Nummer, und jede bekam ihr Stichwort zugeteilt ... »Scheidet -- Gott!«
+hieß dasjenige für die erste Gruppe -- »Dein ewig teures und verehrtes
+Antlitz« das für die zweite -- und so fort. Und dann mußten sie alle
+über die breite Renaissancetreppe zurück -- »damit Ihr Euch an die
+Stufen gewöhnt,« -- und draußen in der Dunkelheit wurden sie vom
+Inspizienten zu einzelnen Klumpen zusammengeballt und aufgestellt ...
+
+»Sind Sie fertig, Ruperti?« klang dann Burgs Stimme von drinnen. »Ja? Na
+dann bitte -- ich fange an: Dreiundzwanzigster Auftritt, ich komme mit
+Illo und Buttler die Treppe hinunter --«
+
+Und nun herrenhaft, mit grollendem Erzklang in der Stimme. »Terzky!«
+
+»Mein Fürst!« antwortete drinnen eine andere Stimme, erregt, geschmeidig
+--
+
+ »Laß unsre Regimenter
+ Sich fertig halten, heut noch aufzubrechen,
+ Denn wir verlassen Pilsen noch vor Abend ...«
+
+Und auf einmal war alles im Fluß. Der Zauber wirkte, der ungeheure, dem
+einst der zitternde Knabe erlegen war, im Barmer Stadttheater, auf dem
+Eckplatz des zweiten Ranges ... nur daß der Jüngling nun hineinschaute
+in das Innere des komplizierten Mechanismus, der das Wunder wirkte ...
+und eine dumpfe Sehnsucht sprang auf -- diesen geheimnisvollen Apparat
+einmal aus eigener Machtvollkommenheit heraus zum Funktionieren zu
+bringen ...
+
+Gott ... welch ein Gedanke ... selbst einmal etwas zu schaffen aus der
+Magie des eigenen Innern heraus ... etwas, das die hundert Geister
+dieses dunklen Heerbannes zur Tat, zur Heeresfolge zwingen könnte ...
+
+Scheuer Knabentraum, bist du mehr als nur ein Traum -- bist du die
+mystische Vorahnung kommender Kraft, der Vorklang künftigen Schicksals?!
+
+Und Gruppe auf Gruppe der jungen Männer wurde vom Inspizienten
+losgelassen, tobte die Treppe hinauf, erstarrte droben in staunender
+Verständnislosigkeit, schob sich dann scheu und verhalten drüben die
+breite Treppe hinunter in den Saal, wo Max Piccolominis todgeweihte
+Liebe ihren letzten Verzweiflungskampf mit dem Dämon der Eidespflicht
+ausfocht ...
+
+Freilich, manchesmal empfing sie drunten ein Hohngelächter des
+Spielleiters.
+
+»Ne, Kinder, so geht das nicht -- Ihr seid ja keine Verbrecherbande ...
+Ihr macht ja auf einmal Gesichter, als hättet Ihr alle einen Sack
+silberne Löffel gestohlen! Ihr seid Soldaten, wüste Kerle, schlichte
+Burschen, die nicht recht verstehen, weshalb man eines Mädels wegen
+soviel Umstände macht ... dazu ein Rest von Scheu vor dem geliebten,
+gefürchteten Auge Eures Feldherrn, 'das Eure Sonne war in heißer
+Schlacht' -- aber vor allem doch Trotz, Empörertrotz, verhalten,
+verbissen, gedämpft, aber Entsetzen einflößend, Schauer aushauchend,
+kalt wie das blanke Eisen in Eurer Faust -- so will ich's haben, so hat
+der Schiller sich's gedacht!«
+
+Das alles klang nur durch die bemalten Lappen hindurch an Hans Thumsers
+Ohr. Denn er gehörte ja zur allerletzten Gruppe ... er würde nicht viel
+mehr zu sehen bekommen ... und er ahnte nur die Gegenwart des Mädchens,
+um dessen Bild all seine Gedanken kreisten, ihr Bild, das ihm die Seele
+dieser wundersamen Kunst erschien, die aus Schein und Flitter das
+ungeheure Widerspiel des Lebens webt, wahrer als alle Wirklichkeit,
+tiefer als alles reale Erdengeschehen ...
+
+Als er so in stummem Lauschen den Gang der gigantischen Maschine
+verfolgte, die das werdende Werk schuf -- da sah er plötzlich aus der
+Gruppe sechs ein Augenpaar mit hartem, feindlichem Ausdruck zu sich
+herüberblitzen. Es waren Valentin Pilgrams Augen ...
+
+Im Nu war er an der Seite des einstigen Korpsbruders.
+
+»Pilgram, Du? Also endlich ... endlich seh' ich Dich mal wieder ...«
+
+»Hm ... hat Dir wohl wenig dran gelegen -- sonst hättest Du das
+Vergnügen früher haben können ...«
+
+»Hast ganz recht, es ist meine Schuld ... es ist ein Skandal, daß ich
+mich so gar nicht um Dich gekümmert habe ... Aber wenn Du wüßtest ...
+ich will mich auch bessern, sei mir nicht bös ... Und nun sag' nur, wie
+kommst Du hierher?«
+
+»Das könnte ich Dich fragen,« sagte Pilgram hart.
+
+»Nu -- ich ... Du weißt doch, daß ich Dich selber seinerzeit schon um
+Erlaubnis gebeten hatte -- Du wolltest nicht ... Na, nun haben wir den
+Volkner, der ... denkt ein bißchen anders über solche Sachen ...«
+
+»Jawohl ... und seid mich glücklich los ... gratuliere.«
+
+»Aber Pilgram! Du weißt doch, wie furchtbar leid es uns allen getan hat
+...«
+
+»Dir auch?!« fragte Pilgram finster.
+
+»Ich versteh Dich nicht, Pilgram ... so wie Du und ich doch immer
+miteinander gestanden haben ...«
+
+»Hm ... wenn Deine korpsbrüderlichen Gefühle für mich ... echt gewesen
+wären ... dann hätten sie sich wohl ein bißchen besser gehalten ...«
+
+»Aber Pilgram --!«
+
+»Ruhe, meine Herren!« fuhr der Inspizient dazwischen. »Sie da, Sie
+gehören doch überhaupt zur Gruppe sieben -- nu bleiben Sie gefälligst
+aber auch bei Ihrem Haufen! Ausquatschen können Sie sich ja genügend,
+wenn's hier aus geworden ist!«
+
+»Wir sprechen uns noch!« sagte Thumser und trat zu seiner Gruppe zurück.
+
+Himmel -- was hatte der Pilgram nur? Und wie schrecklich er sich
+verändert hatte in den wenigen Tagen seit seinem Austritt aus dem
+Korps ... Die Augen, tiefumrändert, waren in ihre Höhlen gesunken ...
+der sonst so peinlich korrekte Anzug vernachlässigt ... die früher
+straffen und sicheren Bewegungen unruhig und zerfahren ...
+
+Und Valentin Pilgram fragte sich: Wie ist es möglich, daß ich es bis
+heute ausgehalten habe, diesen falschen Hund nicht zu stellen? -- Es
+kann ja nur sein böses Gewissen sein, das ihn von mir ferngehalten
+hat ... alle die Tage, die zwei Wochen seit ... damals ...
+
+Ha, warum hatte er's nicht getan? Aus Furcht vor ... einer neuen
+Uebereilung ... einer neuen Blamage ...
+
+Daß Thumser seine Hand in dem schändlichen Spiele gehabt haben müsse,
+das man ihm gespielt, das war ja klar. Der Briefbogen mit dem
+Frankenzirkel und dem H. T. auf der Rückseite und mit Jucundas
+Absagebrief auf der Vorderseite -- das war ja doch ein untrüglicher
+Beweis. Mit Jucundas Absagebrief! Ja, ein Absagebrief, das war's, und
+nichts andres! Die glatten, gleißnerischen Dankesworte, ihn, den
+Desillusionierten, blendeten sie nicht mehr. Er verstand, sie hatte ihn
+verleugnet, er hatte sie verloren. Aber wie kam der andere dazu? Welche
+Rolle hatte er gespielt in dem Gewirr von Ränken und Tücken, von denen
+Valentin Pilgram sich umstrickt sah? Das war nicht zu erraten und nicht
+zu erfahren ... Und aufs Geratewohl abermals unbedacht zufahren mit
+einem züchtigenden Wort, einem rächenden Schlag -- Valentin Pilgram
+besaß nicht mehr die frühere Sicherheit des Handelns, seit sein Instinkt
+ihn so schmählich in die Irre, in die Wirrnis, in die lächerliche
+Don-Quichottiade hineingestoßen hatte. So hatte er von einem zum andern
+Tage gewartet und gewartet in der dumpfen Hoffnung, daß irgend etwas
+sich ereignen würde, das ihm Klarheit gäbe ... Er hatte auf ein
+Wiedersehen mit Jucunda, auf einen Besuch Thumsers gehofft, auf eine
+Aussprache mit ihr und mit ihm, in deren Verlauf er brüsk und
+kategorisch die Frage hätte stellen können: Wie war das möglich? Wie ist
+dieser Brief auf dieses Blatt geraten? Erklärt mir den Zusammenhang,
+zerstreut meinen grausamen Verdacht und bekennt, bekennt und empfangt
+den Lohn, den Euer Verrat verdient!
+
+Aber nichts von alledem war geschehen. So häufig er den teilnahmsvollen
+Besuch seiner ehemaligen Korpsbrüder erhielt, so oft er mit ihnen am
+dritten Orte zusammentraf -- der schlanke Fuchsmajor blieb aus. Und
+Jucunda? Sie war wie aus der Welt verschwunden. Wohl hörte er abends ihr
+Heimkommen aus dem Theater, ihr herzhaftes Gähnen, den energischen
+Plumps, mit dem sie sich arbeitsmüde auf ihr krachendes Bettchen warf,
+und nachts, wenn er sich schlaflos auf seinem Lager wälzte, ihr
+geruhsames, selbstzufriedenes Schnarchen ... denn bei Gott, sie
+schnarchte wie ein Mann ... Und morgens vernahm er wohl, wie sie leise
+ihre Rollen repetierte. Ach, wie gern hätte er noch einmal den sonoren
+Alt in seinem vollen Glanze von da drüben schmettern gehört! Aber sie
+hatte einen Flor über ihr Organ gebreitet, und er fühlte, das war die
+Scheu vor ihm. Und die gleiche Scheu mußte es sein, unter deren Druck
+sie es darauf anlegte, ihm um jeden Preis aus dem Wege zu gehen. Es war,
+als überwache sie sein Gehen und Kommen und richte ihre eigenen
+Ausgänge, ihre Rückkunft danach ein. Oft legte er es geradezu darauf an,
+mit ihr im Korridor, auf der Treppe zusammenzutreffen, aber wie ein
+Geist war sie dann von hinnen gehuscht, hinter irgend einer Tür
+verschwunden, die Treppe hinuntergeschnurrt ...
+
+Der tolle Wirrwarr von Wut und Sehnsucht, von Ekel und Hingebung, in dem
+seine Tage, seine Nächte dahinrannen, trieb ihn immer und immer wieder
+ins Theater. Und dann sah und hörte er nichts von dem Stück -- er sah,
+er fühlte, er träumte nur Jucunda. In welcher Gestalt, welcher Maske,
+welchem Gewande sie auf der Bühne stand, ihm galt es gleich. Er sah
+nicht die Künstlerin, er sah nur das Mädchen, dem seine Seele wie sein
+Leben verfallen war. Fiebernd, stumpfsinnig harrend ließ er die
+Auftritte an sich vorübergehen, bis sie erschien. Von folternden
+Schmerzen zermartert und doch an ihr Bild gebannt, weit vorgebeugten
+Oberkörpers, verfolgte er jeden Schritt, jede Bewegung, bis sie wieder
+die Bühne verließ oder der Vorhang fiel -- er hätte seinen Nachbarn an
+die Kehle fahren können, wenn sie fanatisch Beifall trampelten, wenn sie
+wie toll ihr »Buchner! Buchner!« riefen ... Und wenn's zu Ende war, dann
+stand er draußen unter der harrenden Rotte der Verehrer, den Kragen
+seines Paletots hoch aufgeklappt, den Hut tief in die Stirn geschoben,
+sah sie vorüberschweben und mit königlicher Gnade ein Lächeln rechts,
+ein Lächeln links verteilen, atmete tief und stöhnend auf, wenn der
+Wagenschlag klappte, die Pferde anzogen ... Wenn aber nach der Premiere
+die schäumende Begeisterung der Jugend abermals den gewohnten Triumphzug
+entfesselte, dann stellte sich Valentin Pilgram inmitten derer auf, die
+von hinten Jucundas Wagen schoben, und arbeitete im Schweiße seines
+Angesichts. Dann war ihm am wohlsten, dann fühlte er sich ihr am
+nächsten ...
+
+Und als er eines Tages auf den Anschlagsäulen ersah, daß der
+»Wallenstein« in Vorbereitung sei, da fiel ihm Thumsers Bitte ein,
+in diesem Stücke mit statieren zu dürfen. Damals hatte er als Senior
+diese Bitte abgeschlagen, nun nickte er sich selbst ein bitter
+lächelndes Ja, als eine Stimme in ihm befahl, er solle sich in die Schar
+der Pappenheimer Kürassiere mischen, um den Geliebten aus Theklas Armen
+und in den Schwertertod hineinzureißen ... Und so war er nun hier, in
+dieser pappdeckelnen, bretternen Trödelwand. Nie hätte er sich's träumen
+lassen ... Nun war er, der weiland Erste Franconias, ein Statist in
+Gruppe sechs ...
+
+Die Probe ging ihren Gang.
+
+Wie eines Meisters Hände den bildsamen Ton, so knetete Franz Burgs
+zielsichere Regie die Schar der zweiundsiebenzig jungen und älteren
+Männer in eine Horde entfesselter Pappenheimscher Soldateska um. Immer
+und immer wieder wurde eine Gruppe nach der andern die Treppe hinauf-
+und hinuntergejagt, jedes Knurren der Wut, jedes Aufheulen der
+Begeisterung wurde einstudiert, jede Bewegung, jeder Blick festgelegt
+und in das tausendmaschige Gewebe des farbenleuchtenden Teppichs
+eingefügt, den der Szenenmeister vor dem lauschenden Publikum zu
+entrollen gedachte. Und immer klarer, immer überzeugender modellierte
+sich das Bild des kurzen, erschütternden Vorganges heraus, wie die
+todestrunkene Schar der Kürassiere sich ihren Führer aus den
+Verstrickungen der Liebespflicht herausholt und ihn auf schäumender Woge
+hinwegreißt in Tod und Vernichtung. Keiner spürte Ermüdung, keiner nahm
+Anstoß am derbsten Poltern, am spitzigsten Spotte des eisernen Mannes,
+der diese Zweiundsiebzig am Drahte seines Willens zappeln ließ wie
+ebensoviel Marionetten.
+
+Und endlich schien's getan: tief aufatmend lachte Franz Burg: »So,
+Herrschaften, ich denk', nun könnt Ihr's, jetzt kommt der Tragödie
+zweiter Teil: Rüstungen verpassen! Also Pause zum Verschnaufen und dann
+gefälligst gruppenweise hinauf zur Rüstkammer, dort laßt Ihr Euch die
+klapprigen Konservenbüchsen um den Leib hängen, holt Euch Euren
+Eisentopf und Eure Bratspieße -- und denn geht's wieder von vorne los!«
+
+Da leuchteten die ermüdeten Augen der abgejagten Schar wieder hell auf.
+Das hatte ja nur noch gefehlt, das Kostüm, das vollendete die
+Verwandlung, das brachte das Letzte an Stimmung, was noch fehlte ... Und
+während die Gruppen zwei bis sieben sich plaudernd und lärmend in dem
+dunklen Hintergrunde des schwarzgähnenden Bühnenraumes verloren,
+kletterte Gruppe eins unter Führung des Inspizienten lachend und
+prustend die hallenden Steintreppen hinauf, um droben das Eisengewand
+der Pappenheimer anzulegen.
+
+Hans Thumser hatte sich vergebens den Kopf zerbrochen, weshalb wohl der
+Korpsbruder so maßlos gereizt auf ihn sein könne. Himmel ja, er hatte
+ihn ja unverantwortlich vernachlässigt in der letzten Zeit -- aber
+schließlich war das doch kein Grund, ihn dermaßen hundemiserabel zu
+behandeln. Na, man würde nochmals um Entschuldigung bitten, und dann
+müßte der arme Kerl doch schließlich Vernunft annehmen. Also, wo steckt
+er denn bloß?
+
+Gruppe sechs -- wo ist Gruppe sechs? jawohl -- alles durcheinander
+gewürfelt, alles wie verschluckt von der schwarzen Finsternis dahinten
+jenseits des Prospekts.
+
+Hans Thumser drängte sich durch die Gruppen der »Kürassiere«, rief hin
+und wieder halblaut Pilgrams Namen, aber umsonst, der Freund ließ sich
+nicht sehen -- schließlich postierte er sich unten an der Treppe, die
+zur Rüstkammer hinaufführte. Aber selbst als Gruppe sechs, der er
+angehörte, vom Inspizienten zum Empfang der Rüstungen geführt wurde, war
+Valentin Pilgram nicht darunter. Es schien, er wolle sich nicht sehen
+lassen ... und schließlich konnte Hans das am Ende begreifen: er war
+eben böse, weil Hans ihn so schnöde vernachlässigt hatte. Nun, das ließ
+sich am Ende nachholen ...
+
+Und mit ganz wunderlichen Empfindungen ließ sich auch Hans Thumser den
+rasselnden Eisenharnisch der Pappenheimer Kürassiere um die
+geschmeidigen Glieder schnallen. Es war ja nur Spiel, nur Mummenschanz
+-- und doch, welch sonderbare Macht lag in diesem starren Eisengewand,
+lag überhaupt im Kostüm! Hans meinte ordentlich zu fühlen, wie er ein
+anderer wurde, wie schlichte, rohe und starke Gefühle aus
+jahrhundertfernen Tiefen sich an die Oberfläche seiner Seele drängten,
+wie er verschmolz mit der gepanzerten Schar seiner Gefährten ...
+
+Und nun hinunter! Die matt erhellten Korridore, der stockfinstere Raum
+hinter dem Prospekt war nun von geheimnisvollem Rascheln und Klirren
+erfüllt. Es war, als sei der Geist der Wallensteinschen Soldateska über
+die ganze junge Schar gekommen: rauher und härter klangen die Stimmen,
+derber und knapper die Scherze, das Gelächter.
+
+Und von neuem begann die Probe. Teufel! war das schwer, sich in diesem
+niederwuchtenden Gewand, in den kolossal steifen Stulpenstiefeln zu
+bewegen, den mächtigen Pallasch mit dem breit ausladenden Stahlkorb
+nicht zwischen die Beine zu bekommen! Und nun gar die Treppen hinauf,
+hinunter! Da verhedderte sich mancher in den handlangen stählernen
+Sporen, stolperte, krachte zu Boden und mußte schwerfällig, wie eine
+Schildkröte, von den Kameraden aufgerichtet werden.
+
+Und unten auf dem Podium inmitten des Schloßsaales stand Franz Burg und
+hielt sich beide Seiten vor Lachen ... und neben ihm im Halbkreis
+gruppiert: Thekla, Terzky, Illo, Buttler, Max Piccolomini -- und alle
+lachten sie sich schier zu Tode über die stolpernde, prustende,
+schwitzende Kürassiergarde.
+
+Und doch, allmählich klärte sich auch dies neue Chaos. Und endlich sagte
+Franz Burg:
+
+»So, meine Herrschaften, nun fangen wir richtig zu probieren an! Also
+bitte, Kürassiere von der Bühne, die Soloherrschaften an ihre Plätze!«
+
+Und abermals stand die harrende Schar der Eisenreiter im Hintergrunde zu
+Füßen der schmalen Holztreppe versammelt -- und abermals klang's von
+drinnen herrenhaft in grollendem Erzklang:
+
+ »Terzky!«
+ »Mein Fürst!«
+ »Laß unsre Regimenter
+ Sich fertig halten, heut noch aufzubrechen,
+ Denn wir verlassen Pilsen noch vor Abend.«
+
+Und Gruppe auf Gruppe erhielt ihr Stichwort, Gruppe auf Gruppe klirrte
+die Treppe hinauf, strudelte die Galerie entlang, ergoß sich in den Saal
+hinab ...
+
+Als aber Gruppe sechs aus dem Finster der Bühnentiefe die Treppe
+hinanstieg, sah Hans Thumser, daß Pilgram doch noch vorhanden war. Seine
+riesige Gestalt, sein hartes Herrengesicht standen vortrefflich zu der
+blanken Wehr -- aber kein Blick für den einstigen Korpsbruder ...
+
+Was er nur haben mochte? -- Das war doch Kinderei, so offiziell zu tun.
+
+»Also Gruppe sieben!« zischte der Inspizient. »Los! Los!«
+
+Und Hans Thumser keucht die schmalen Stufen empor, stößt wie die
+Kameraden rauhe gurgelnde Töne aus, stutzt droben am Treppenrande,
+stutzt und verstummt ...
+
+Aber nicht nur, weil es so probiert ist ... Im gelben Lichte
+der Proberampe sieht er drunten Jucunda Buchners schmales
+Prinzessinnengesicht ... aber jetzt nicht mehr wie vorhin, von Lachen
+und Schelmerei gerötet -- nein, nun ist sie plötzlich Thekla,
+das verzweifelnde Kind, das Liebe, Glück, Leben versinken sieht in
+den eisenschäumenden Wogen des Schicksals. So abgrundtief, so
+herzdurchbohrend der Ausdruck des Schmerzes auf ihren tränengefurchten
+Wangen -- Hans Thumser kann den Blick nicht lassen von diesem Bild
+adligen Grams ...
+
+Aber die Masse der Kameraden schiebt ihn vorwärts -- und plötzlich fühlt
+er keinen Boden mehr unter seinen Füßen, er strauchelt, schlägt krachend
+nach vorn, alle Glieder knacken -- tausend Feuerräder kreiseln in seinem
+Hirn -- ein lauter Aufschrei übertönt das Knacken und Klirren der
+hundert Eisenringel, die seine Glieder umschlossen halten und im Sturz
+in Schulter und Schienbein sich hineinzwängen -- und dann nichts mehr.
+
+Eine hilflose Masse, so war des Studenten Körper die fünfundzwanzig
+Stufen der Freitreppe hinuntergekollert, anfangs noch ein wenig
+aufgehalten durch die Schienbeine seiner Vordermänner, dann aber, als
+alles instinktiv zur Seite sprang, ganz hemmungslos. Nun lag er bleich,
+mit geschlossenen Augen am Fuß der Treppe. Die Sturmhaube war ihm vom
+Kopf gefallen und in weiten Sprüngen ihm voran in den Saal
+hineingehüpft. Einen Augenblick hatte alles vor Schrecken erstarrt
+gestanden, nun sprangen fünf, sechs der nächststehenden Kürassiere zu
+und richteten den schwerfälligen Körper auf.
+
+Durch den Wall der Geharnischten aber drängte sich Jucunda Buchner
+hindurch. Sie hatte den Jüngling straucheln und vornüber stürzen gesehen
+und in dem Augenblick sein Gesicht erkannt, ohne daß sie gleich wußte,
+woher. Nun kniete sie neben dem aufgerichteten Oberkörper des Studenten
+nieder, umfaßte seine Schultern und legte seinen zerschundenen Kopf
+behutsam auf ihr Knie. Und da schlug Hans Thumser die Augen auf -- und
+in diesem Augenblick wußte Jucunda, wo sie diesen leuchtenden Blick
+schon einmal gesehen hatte -- der junge Poet ... er, neben dessen
+»schwindelschmalem Pfade Abgründe klafften rechts und links« -- nun, in
+einen dieser Abgründe war er nun glücklich hineingeplumpst ... freilich,
+es schien ihm ganz gut bekommen zu sein, denn mit einem zufriedenen
+Lächeln schloß er die erstaunten Augen, reckte sich ganz behaglich und
+machte sich's ordentlich bequem auf dem weichen Kissen, auf das er sich
+gebettet fühlte.
+
+Und nun löste sich der allgemeine Schreck in ein befreites Aufatmen. Da
+schlug der Student die Augen abermals auf, und nun schien ihm das
+Komische seiner Situation bewußt geworden zu sein: mit einem Ruck
+richtete er den Oberkörper auf, sprang auch sofort auf die Beine und
+reckte die Knochen.
+
+»Na? Kein edlerer Teil entzwei?« fragte der dröhnende Baß des
+Szenenleiters. Hans Thumser versuchte sich diejenige Stelle seines
+Körpers zu reiben, welche bei dem Fall am meisten in Mitleidenschaft
+gezogen war, aber das gelang ihm nicht -- sie war zu gut gepanzert ...
+
+Nun brach ein endlos dröhnendes Gelächter aus, dazu rasselten die
+Rüstungen der Pappenheimer, die sich die eisenbewehrten Bäuche hielten.
+Am hellsten aber lachte Jucunda. In einer raschen Wallung trat sie auf
+den jungen Burschen zu und klopfte ihm mit beiden Händen die glühenden
+Backen.
+
+»Dunnerwetter!« tönte da aus den Reihen der Kürassiere eine neiderfüllte
+Stimme. »Ich wär' nächstens ooch mal de Treppe 'nunner purzeln!«
+
+»Na, ich dächte, nach diesem kleinen Zwischenfall probieren wir weiter!«
+rief Burg, »also alles zurück, meine Herrschaften, und noch einmal von
+vorne!«
+
+Hans Thumser war's nun aber doch zumut, als klapperten alle seine
+Knochen einzeln und lose in dem großen Blechtopfe durcheinander, der sie
+einschloß -- und er bat um die Erlaubnis, sie wieder zusammenzusuchen.
+
+Als dies gewährt worden war, trat er vorn an die Proberampe und kam
+neben Jucunda zu stehen. Die lachte ihn an und flüsterte ihm zu:
+
+»Ich habe ja so lange nichts mehr von Ihnen gehört -- warten Sie nach
+der Probe auf mich -- ich möchte wissen, wie es Ihnen inzwischen
+ergangen ist!«
+
+Da wurde es Hans Thumser klar, daß er wieder mal mehr Glück als Verstand
+gehabt hatte ...
+
+Noch eine weitere halbe Stunde voll schwitzenden Bemühens -- dann war's
+geschafft. Und nun harrte der Student am Bühnenpförtchen seiner Göttin.
+Er drückte sich in den dunklen Schatten der Donnermaschine und ließ den
+Schwall der Geharnischten an sich vorüber strudeln. Und endlich kam sie
+-- kam nicht allein, sondern am Arm der majestätischen Kollegin Frau
+Anna Cederlund, welche die Gräfin Terzky spielte. Im ersten Augenblick
+verließ den Studenten der Mut ... Als aber die beiden ragenden
+Frauengestalten an ihm vorüberschritten, ohne ihn zu bemerken, da
+sprach's in ihm: Sei kein Narr! Und er schoß aus seiner Finsternis
+hervor, daß die Frauen ordentlich zusammenschraken.
+
+»Gnädigste haben mich zu sprechen befohlen!«
+
+»Ah, sieh da, Herr Dummerle! Nun? Was macht die Poesie? Gestatten Sie,
+Annerl -- Herr Studiosus Dummerle, dichtet -- hat immer die Nase in der
+Luft und purzelt deswegen mit Vorliebe die Treppen hinunter -- meine
+Kollegin, Frau Cederlund. Ja, also was fang' ich nun mit Ihnen an?
+Wissen Sie was? Sie könnten ja auch mal zu mir zum Tee kommen -- wollen
+Sie?«
+
+»Darf es heute sein?« antwortete Hans Thumser.
+
+»Aber warum denn nicht? Also um fünf -- soll's gelten?«
+
+Hans Thumser konnte sich nur stumm verneigen -- tief, tief auf die
+schlanke Hand, die sich ihm entgegenstreckte -- und dann war's vorbei
+...
+
+Und wie ein Begnadeter stolperte Hans Thumser die hallenden Steintreppen
+zur Rüstkammer hinauf, um sich aus einem Pappenheimer wieder in einen
+Fuchsmajor zu verwandeln. Zwei Minuten aber, nachdem das Eisenpförtchen,
+das vom Bühnenraum zum Garderobenumgang führte, hinter ihm zugeklappt
+war, löste sich aus dem Dunkel der Kulissen noch eine zweite
+Kürassiergestalt los. Die einsame Glühbirne, die am Inspizientenpulte
+brannte, beleuchtete ein finstres, verzerrtes Jungmännergesicht unter
+dem tiefschattenden Doppelschirm der Sturmhaube: es war das Gesicht des
+weiland Ersten der Franconia.
+
+
+
+
+ 11.
+
+
+Asta Thöny war ein wenig eingenickt nach dem bescheidenen Mittagsmahl,
+das Frau Wehe ihr aufgetischt. Nun fuhr sie empor, flog ans Fenster,
+steckte den glühenden Kopf hinaus und klatschte jubelnd in die Hände,
+als sie die ersten Schneeflocken durch das mürrische Grau der
+Sophienstraße wirbeln sah ...
+
+Köstlich! köstlich! Würde das ein fröhliches Streifen werden mit dem
+geliebten Jungen durch dies wattige Weiß hindurch an der graulich
+gurgelnden Pleiße entlang! Sie wußte, wie gut ihr die prachtvolle
+Sealskingarnitur stand, das splendide Andenken ihres Rittmeisters in
+Gera ... Und nun schmückte sie sich nach Herzenslust für den Leipziger
+Freund. Ob er wohl schon daheim war? Sie klopfte an die Wand -- keine
+Antwort. Na, er würde schon nicht auf sich warten lassen, um vier Uhr
+hatte er ja versprochen sie zum Spaziergang abzuholen. -- Aber es wurde
+vier -- und kein Hans Thumser! Na, vielleicht war er schon längst zu
+Hause und lag drüben auf seinem Kanapee in den geliebten
+Nachmittagsschlaf versunken. Sie hatte eine Tüte Pralinees für ihn
+gekauft, sie kannte seine schwache Stelle. Die steckte sie in die
+Jackettasche, hüpfte zur Tür hinaus und pochte an die seine; da keine
+Antwort kam, klinkte sie auf -- und richtig -- da lag er auf dem Sofa,
+lang hingestreckt, in Hemdsärmeln, das blinkende Korpsband über der
+Weste. Auf Zehen schlich sie heran und hielt ihm die duftende Tüte unter
+die Nase. Da schlug er blinzelnd die Augen auf, lachte sie fröhlich an
+und breitete die Arme aus -- mit einem leisen Jauchzen warf sie sich
+hinein.
+
+Nachdem sie sich satt geküßt, richtete sie sich stramm auf und befahl:
+
+»So, nun antreten zum Spaziergang!« (Die militärischen Allüren ihrer
+jüngsten Vergangenheit saßen ihr noch in den Gliedern.)
+
+Aber statt des erwarteten Entzückens trat in Hans Thumsers Züge
+plötzlich eine peinliche Befangenheit, und ein Erröten stieg ihm langsam
+in die Augen.
+
+»Nun, was ist Dir?«
+
+»Liebes Kind, ich bin trostlos ... Spaziergang ist nicht.«
+
+»Was ist das? Was fällt Dir ein!«
+
+»Ja ... ich ... ja ... ich ... es tut mir entsetzlich leid ... aber ...
+wir haben heute nachmittag C. C. ...«
+
+»Das ist abscheulich, Hans! Wie kommt denn das, was ist denn los?! Und
+ich hatte mich doch so gefreut, habe mich so hübsch für Dich gemacht,
+das hast Du Ungeheuer überhaupt noch gar nicht bemerkt!«
+
+»Ob ich das bemerkt habe! ... aber -- es tut mir riesig leid, Du weißt,
+das Korps spaßt nicht.«
+
+Asta sah, daß er ihren Blick vermied -- lügen hatte er noch nicht
+gelernt.
+
+»Du, das mit dem C. C. das ist geschwindelt, da steckt was andres
+dahinter! Beichte!«
+
+»Aber nein ... ganz wahrhaftig, Kind, wir haben C. C., Du kannst Dich
+drauf verlassen.«
+
+»Sieh mich an, Hans --! Siehst Du, Du kannst es nicht --«
+
+»Aber ja ... ich kann's.«
+
+Nein wahrhaftig, er konnte es nicht.
+
+»Also heraus damit! Was ist los?«
+
+Sie stampfte mit den zierlichen Füßen auf, die in mächtigen
+pelzbesetzten Boots steckten.
+
+Hans kämpfte einen Augenblick, dann sah er ihr gerade ins Gesicht mit
+dem Ausdruck eines trotzigen Buben, der sich auf einer Schandtat ertappt
+sieht:
+
+»Die Buchner hat mich zum Tee geladen.«
+
+»Das ist nicht wahr! Das darf nicht wahr sein!«
+
+»Aber warum soll ich denn nicht auch mal zur Buchner zum Tee gehen?«
+
+»Weil Du mir gehörst. Das gibt's nicht. Da wird nichts draus.«
+
+»Ich hab's versprochen.«
+
+»Dann bleibst Du eben einfach weg. Die Buchner weiß ganz genau, daß Du
+mein bist. Es ist eine Niedertracht von ihr -- ich laß mir's nicht von
+Dir gefallen!«
+
+»Und ich laß mir's nicht von Dir gefallen, daß Du über mich verfügst,
+wie über ein Spielzeug.«
+
+»Hans, so darfst Du nicht zu mir sprechen, das weißt Du auch, daß Du
+das nicht darfst! Du hast auch ein böses Gewissen dabei!«
+
+Hans Thumser ging mit drei raschen Schritten ans Fenster und trommelte
+an die Scheiben. Wahrhaftig, sie hatte recht -- es war ihm hundeelend
+zumute -- nichts als Liebes hatte sie ihm getan, weit über Hoffen und
+Träumen hinaus hatte sie ihn glücklich gemacht ... und er -- er hatte
+immer über sie hinweg geträumt von der andern.
+
+»Nun, hast Du Dich besonnen -- kommst Du mit mir?«
+
+»Ich kann's nicht ... ich hab's versprochen.«
+
+»Und mir? -- Wem hast Du's zuerst versprochen, mir oder ihr?«
+
+»Aber Kindchen, das mußt Du doch einsehen ... daß das für mich -- wie
+soll ich sagen -- daß das für mich eine große Sache ist ... schließlich
+ist sie doch ... die Buchner.«
+
+»Ach so -- und ich, ich bin nur die Thöny, die kleine Thöny, und sie die
+große Jucunda! Hansel, das wird Dir noch mal leid tun!«
+
+Laut aufweinend stürzte sie hinaus ... die Schleppe ihres Pelzjacketts
+fegte die Pralineetüte vom Tisch, und alles kollerte in die Stube. Hans
+Thumser mußte aufsammeln. Dabei glühten seine Backen vor Scham. Es war
+wirklich hundsgemein von ihm, das herzliebe Mädel so ruppig zu versetzen
+-- er fühlte, er hatte sie bis ins Tiefste gekränkt. Mit hundert
+Gewalten zog's ihn hinüber, die Tränen von den schönen Augen
+wegzuküssen, die ihm so manche Stunde durchsonnt hatten ... und dann
+fiel sein Blick auf Jucundas Bild, auf das bronzene Heroinenprofil, das
+unterm Helm der Jungfrau so sieghaft leuchtete. -- Und er wußte, daß
+zehn Astas diese Stunde nicht aufwiegen würden, die ihm bevorstand.
+
+Er lauschte -- wieder wie in jener ersten Nacht klang da drüben jenseits
+der Doppeltür und der beiden Kleiderschränke, die sie verbarrikadierten,
+das herzerschütternde Weinen ... aber diesmal nicht verhalten wie damals
+-- nein -- in wilder leidenschaftlicher Empörung. -- Und diese, diese
+Tränen hatte er auf dem Gewissen ...
+
+Und das war so niederträchtig, so infam: daß man im tiefsten Grunde
+seiner Seele sogar noch etwas wie eine Genugtuung empfand über diese
+Tränen, die man selbst verschuldet hatte. War es nicht eigentlich ein
+verdammt stolzes Gefühl, daß man ein Kerl war, um den so heiße
+Mädchentränen fließen konnten?
+
+Hans Thumser warf einen Blick in den Spiegel: also so sieht so ein
+verfluchter Gesell aus, um den ein Mädchen wie Asta Thöny -- Tausende
+würden ihn beneiden um so einen süßen Kameraden! -- um den so ein
+himmelsüßes Geschöpf sich quält?
+
+Und mit einem verwegenen Ruck stülpte er die grüne Franken-Mütze auf den
+braunen Schädel und ging zu Jucunda Buchner.
+
+
+War's nicht eigentlich toll? Hans Thumser war in einer ganz
+niederträchtig vergnügten Stimmung, als er durch das wirbelnde
+Flockengestiebe den Peterssteinweg, die Petersstraße hinanschlenderte.
+Jedem Mädel guckte er verwegen, wie er's nie getan, unters Pelzbarett:
+Ja, wenn ihr wüßtet, ihr Leipziger Gänschen --! Eben hab' ich die Asta
+Thöny geküßt ... die von den Meiningern, ihr wißt doch! Und nun -- nun
+gehe ich zur Buchner ... und wer weiß -- wer weiß! So ein Kerl bin ich,
+verflucht nich noch mal!
+
+Als er den schneebepuderten Marktplatz überquerte und in die
+Katharinenstraße einbog, fiel ihm plötzlich ein, daß er ja nun endlich
+den Weg zu Valentin Pilgrams Wohnung gefunden habe. Der arme Junge! Ob
+der wohl auch schon mal von Jucunda Buchner zum Tee geladen worden war?
+Wohl schwerlich -- und doch, was alles hatte der an dies Mädchen gesetzt
+... und er --? Er hatte nichts getan, und alles fiel ihm in den Schoß.
+Teufel auch -- man war eben ein Poet, ein Götterliebling --! nischt wie
+verdammte Pflicht und Schuldigkeit vom Schicksal!
+
+Ob er den armen Burschen wohl mal aufsuchte? Eigentlich hätte sich's
+gehört ... daß er gekränkt war, lag ja auf der Hand nach seinem Benehmen
+von heut morgen ... aber freilich ... erst zu Pilgram gehen und dann
+sich von ihm verabschieden mit der Erklärung, man sei zu Jucunda Buchner
+zum Tee geladen -- das war doch wahrhaftig mehr eine Kränkung, wie die
+Dinge nun einmal lagen, als die Erfüllung der längst geschuldeten
+Freundschaftspflicht. Also lassen wir's doch lieber ...
+
+Glücklicherweise, im letzten Augenblick, fiel's ihm ein, daß er ja noch
+ohne Blumen war. Er fand eine Gärtnerei, wählte die herrlichsten Rosen,
+die es gab, und erschrak nicht im mindesten, als die Verkäuferin ihm
+fünf Mark abverlangte. Denn diesmal war's ja in der ersten Hälfte des
+Monats und nicht Ultimo, wie damals, als er mit dem gepumpten Markstück
+ein Dahliensträußchen für Asta erstand ... Und so bewaffnet bis an die
+Zähne kletterte er die wohlbekannten Stufen im dunklen Treppenhause
+empor und zog die gellende Klingel an der Korridortür des Kanzleirats
+Buchner.
+
+Eine stattliche Frau öffnete ihm. Er erkannte in ihr sofort Jucundas
+Begleiterin von jenem ersten Triumphzuge wieder. Alle Wetter ja, seine
+Idee von damals hatte Schule gemacht ... das blitzte ihm so durch den
+Kopf, als er seiner Führerin durch den dunklen Korridor folgte, bis sie
+haltmachte und anklopfte.
+
+»Bist Du es, Mutter?« tönte von drinnen die wohlbekannte Stimme ... die
+Stimme, die durch sein Wachen und seine Träume klang. So hatte sein
+junges Herz noch niemals an die Rippen gehämmert ... auch nicht bei
+Beginn des Abiturienten-Examens ... auch nicht vor der ersten Mensur.
+
+»Hier ist der Herr, wo Du zum Tee hast eingeladen!«
+
+»Herein -- nur herein!«
+
+Die Tür sprang auf, und als dunkle Silhouette gegen die schimmernd
+weißen Vorhänge abgehoben, stand Jucunda. Mit ausgestreckten Händen kam
+sie ihm entgegen:
+
+»Wie freue ich mich! -- Die Poesie bei mir zu Gast ... das ist das
+erstemal. Laß uns allein, Mutter.«
+
+Hans warf einen Blick in der Stube umher. Tausend ja, hier sah's anders
+aus als damals bei Asta. Jucunda, das sah er sofort, hatte nicht
+vergessen, daß sie sein Kommen gewünscht -- alles war sorgfältig für
+seinen Empfang vorbereitet, der Tisch zierlich gedeckt und mit Rosen
+bestreut, die Teemaschine dampfte, Zigaretten, Zigarren standen bereit,
+eine gehäufte Schüssel Gebäcks. Und ringsum herrschte Ordnung,
+Sauberkeit, noch mehr: Schönheit ... oder doch wenigstens die deutliche
+Absicht sie hervorzuzaubern ... überall Blumenarrangements und Körbe
+lebender Pflanzen, an den Wänden die welkenden Lorbeerkränze mit
+riesigen langflutenden goldbedruckten, goldbefransten Atlasschleifen.
+Uebers Bett aber war ein hermelinbesetzter Mantel von Purpursamt
+königlich hingebreitet, und ein frischer Strauß tiefdunkelroter Rosen
+lag oben drauf. Alles war abgetönt mit einem naiven Sinn für Eleganz und
+Repräsentation.
+
+Hans Thumser sah nicht, daß die Möbel abgeschabt, die Bezüge
+verschlissen waren, fühlte nicht, daß der Stuhl wackelte, auf den
+er sich setzte, der Tisch, auf dem das Teegeschirr brannte ... auch
+nicht, daß die Tassen gesprungen waren, und hier und da gar ein Henkel
+fehlte ... ihm war zumut, als sei er in einem Königsschloß, in einem
+Märchenpalast. Und wie eine Königin erschien ihm auch Jucunda. Sie
+trug ein lang hinschleppendes Spitzenkleid, das ihm vorkam wie eine
+märchenhafte Kostbarkeit -- er konnte ja nicht beurteilen, daß es
+maschinengewebte Spitzen waren, nur bestimmt auf die Entfernung zu
+wirken -- er war im Bann, im Traum. Und nur die eine Empfindung
+durchdrang ihn mit wohligen Schauern: hier war er erwartet, hier hatte
+man Staat für ihn gemacht, hier wollte man ihn ehren, ihn entzücken.
+
+Er saß ganz still, als Jucundas große, schlanke Hände den Tee
+bereiteten, und sah nichts als das anmutige Spiel der elfenbeinfarbenen
+Arme, die aus den Spitzenärmeln hervorlugten:
+
+»Erinnern Sie sich noch, daß wir schon einmal beim Tee zusammengesessen
+haben?«
+
+»Wie können Sie fragen, gnädigstes Fräulein! Ich habe seitdem von nichts
+geträumt, als daß dies einmal kommen könnte ... dies, was jetzt ist.«
+
+Jucunda stellte den dampfenden Tee vor ihn hin, sah ihn von oben her mit
+ironischem Lächeln an und fragte:
+
+»Und Asta?! Haben Sie die Courage gehabt, ihr zu verraten, daß Sie heute
+bei mir sind?«
+
+»Warum sollte ich nicht? Das ist doch nicht verboten!«
+
+»Nun, und was sagte sie?«
+
+Hans wurde rot. Ob Asta geschwatzt hatte? Ob Jucunda wußte, wie er mit
+ihr stand?
+
+»Sehen Sie wohl,« lachte das Mädchen, »Sie können nicht antworten -- Sie
+haben Schelte bekommen --! Dacht' ich mir's doch.«
+
+»Ich wüßte nicht, daß irgend jemand das Recht hätte mich zu schelten,«
+sagte der Student etwas kleinlaut und trotzig.
+
+»Sagen Sie das nicht!« sagte Jucunda. »Wohltun verpflichtet -- oder ist
+die ... Episode schon zu Ende?«
+
+»Welche Episode?«
+
+»Fragen Sie nicht so dumm!«
+
+Hans Thumser sah sich durchschaut. Aber wenn Jucunda doch wußte, daß
+Asta immerhin doch gewisse ... Ansprüche geltend machen konnte ... warum
+hatte sie ihn geladen, was wollte sie von ihm? Er richtete sich auf:
+
+»Gnädiges Fräulein, ich glaube nicht, daß Sie mich zu sich gebeten
+haben, um mir klar zu machen, daß ich eigentlich wo anders hingehörte.«
+
+»Da haben Sie recht,« lachte die Schauspielerin, »Sie sind nun einmal
+hier, nun seien Sie's auch ganz. Asta ist tot, es lebe Jucunda, nicht
+wahr?«
+
+Sie streckte ihm die Fingerspitzen hin, er neigte sich darüber.
+
+»Nun, blaue Flecke von heute morgen?«
+
+»An allen Gliedern!« gestand Hans. »Na, irgend etwas muß der Mensch doch
+schließlich tun, um eine solche Stunde zu verdienen.«
+
+»O, seien Sie nur ruhig, man wird von Ihnen vielleicht noch mehr
+verlangen!«
+
+»Verlangen Sie.«
+
+»Was macht Ihr Korpsbruder Pilgram?«
+
+»Mein ... früherer Korpsbruder, wollten Sie sagen.«
+
+»Hm ... er tut mir so leid, aber ich habe ihm nicht helfen können, er
+hatte es gar zu eilig, sich in die Bredouille zu stürzen -- also, was
+treibt er? Erzählen Sie!«
+
+»Ja, haben Sie ihn denn heute morgen nicht bemerkt?«
+
+»Wo? doch nicht etwa auch unter den Kürassieren?«
+
+»Gewiß! der Längste und Schönste unter den Pappenheimern.«
+
+»Nein wahrhaftig -- er ist mir nicht aufgefallen! Er hat sich ja auch
+nicht so bemerkbar gemacht wie Sie!«
+
+»Ja, es hat eben nicht jeder den Dusel, über fünfundzwanzig
+Treppenstufen Ihnen geradewegs vor die Füße zu kollern.«
+
+»Wie denkt er denn über mich und -- über die ganze Affäre?«
+
+»Das weiß ich nicht. Ich schäme mich es zu gestehen, aber ich sah ihn
+seitdem nicht mehr -- meine Schuld -- doch was will ich machen? Wenn ich
+nicht Franke bin, so bin ich Meininger, in jeder Stunde, Tag und Nacht.
+Ach, gnädigstes Fräulein, ich habe nie gedacht, daß es so etwas gäbe,
+daß man sich so ganz verlieren, so ganz vergessen kann! Ich lebe wie im
+Fieber -- mir ist, als hätte ich Flügel -- ich möchte tausend Augen,
+tausendfache Sinne haben, um all das festzuhalten, was in mir strudelt
+und braust. Was für Hexenmeister seid Ihr: alles, was ich ahnte, wenn
+ich in meinem Knabenstübchen die großen Dichter las, ist Leben geworden,
+Wirklichkeit, Erfüllung ... Und damit nicht genug, ich selber, ich
+schaue nicht nur, ich selber stehe mitten drin, in all dem Schwall --
+ein Strom von Glück und Sehnsucht braust unter mir und wirbelt mich auf
+und nieder. Wo soll ich hin mit all dem Drang -- wo soll ich hin?!«
+
+Lächelnd hob Jucunda die Hand und streichelte die glühenden Wangen des
+Jünglings, wie sie es heut morgen im Theater getan.
+
+»Sie Dichter!« sagte sie, »Sie Dichter --! Lassen Sie es doch brodeln
+und gären, lassen Sie's doch! Machen Sie Gedichte daraus, schön wie das,
+welches Sie mir damals sprachen ... so schön und schöner noch!«
+
+»Ja,« sagte er, »das will ich tun ... später einmal, später, wenn alles
+das vorüber ist ... denn ich weiß ja, es währt nicht ewig ... acht Tage
+noch, dann zieht Ihr fort ... und ich bin wieder, was ich war -- ein
+armes Studentlein, Franconiae Fuchsmajor, einer von Tausenden -- und um
+mich ist wieder nichts als Bier und klirrende Speere und Drogenwelt und
+die Dutzendgesichter meiner Kommilitonen -- o Gott! wie soll ich das
+ertragen! Ich weiß, ich werde irgendeine Dummheit machen -- ich laufe
+fort, in die weite Welt, dahin, wo Ihr seid -- wo Sie sind, Sie
+wunderbarer Mensch -- Sie Zauberin!«
+
+»Das werden Sie nicht tun!« sagte Jucunda. »Ich weiß, daß Sie das nicht
+tun werden -- ich weiß, Sie werden dann stille Stunden der Besinnung
+haben ... es wird Ihnen werden, wie es denen gewesen ist, deren Verse,
+deren Szenen wir abends sagen und gestalten. Sie werden dichten --
+glauben Sie's mir.«
+
+»Ach, wenn das wahr wäre -- wenn das möglich sein könnte!«
+
+»Es wird so sein,« sagte Jucunda. Ihre Stimme war weich, ihre blauen
+Augen hingen an den braunen des Knaben. Soviel lebendige Dichter
+hatte sie nun schon gesehen in ihrem Leben: was waren das alles für
+reservierte, verbrauchte, zermürbte, grauköpfige Herren gewesen --
+wie hatten sie gezittert hinter den Kulissen, wenn ihre Stücke vom
+Stapel gingen, da draußen -- wie hatten sie ängstlich auf den Applaus
+gelauert, wenn der Vorhang sank, wie hilflos sich hinausziehen lassen
+ins blendende Rampenlicht, um sich linkisch und schweratmend nach dem
+schwarz gähnenden Zuschauerraum hin zu verneigen, wo das Publikum über
+das Schicksal ihrer Schöpfungen entschied! -- Dieser hier war noch ganz
+Poet, er wußte noch nichts von all dem Gräßlichen, das auf ihn wartete
+hinter den grauen Schleiern, die seine Zukunft verhüllten, ihn trennten
+von diesem schauderhaften Leben des angstvollen Ringens um Erfolg,
+um Gold und Lorbeer, in das sie selbst, die Achtzehnjährige, schon so
+tiefe Blicke hineingetan. In ihm sprudelten noch ganz ungetrübt die
+heiligen Quellen der Phantasie, darinnen Sonn' und alle Sterne sich
+spiegelten ...
+
+Einen Augenblick war's ganz still im Zimmer -- der Tee wurde kalt in den
+Tassen, und sein Duft mengte sich mit dem Rosenhauch, mit den blauen
+Wölkchen der Zigaretten, die durch die Stube kräuselten. Von der Straße
+her fiel der erste Laternenschein in die umdunkelte Stube und ließ die
+goldigen Schriften der Kranzschleifen matt aufglimmern. -- Mit langsamen
+Bewegungen stand Jucunda auf, um Licht zu machen.
+
+»Nicht doch,« wehrte Hans -- »nicht Licht machen ... es ist so schön
+so.«
+
+»Aber anders ist es besser!« sagte Jucunda mit leisem Lächeln und
+entzündete die Lampe. Und wieder ließ sie sich in das Sofa fallen und
+neigte den flechtenbeschwerten Kopf auf die Lehne zurück.
+
+Wie seltsam das doch war --! Sie kannte so viel Männer von Geist und
+Rang ... wie kam's, daß ihr heut zumut war wie nie zuvor --? War's die
+Kraft, die ungebrochene, die ihrer selbst noch unbewußte, die sie ahnte
+in den Tiefen dieser empor sich ringenden Seele? War's die edlere Rasse,
+die sie witterte, sie, das Kind einer enggebundenen Welt, einer Welt
+ohne Schwung und Größe? Sie war Künstlerin genug, dies alles zu ahnen,
+was in dem jungen Menschen da vor ihr wirkte und wallte ...
+
+Und Hans fragte sich immer wieder im stillen, ob das denn wahr, ob das
+denn möglich sei ... ob das Leben wirklich so schön sein könne, so
+maßlos reiche Gaben spende ...
+
+Still war's. Von der Katharinenstraße heraus klapperten behäbig
+trottende Pferdehufe, der Schritt der Fußgänger, die von ihrer Arbeit
+heimwärts steuerten.
+
+»Wie gut,« sagte Jucunda, »daß ich heut abend mal ausnahmsweise nicht
+spiele, so gehört uns diese Stunde wenigstens ganz!«
+
+»Und wehe dem, der kommen wollte sie uns zu stören -- Sie wissen das
+alles ja gar nicht -- Sie wissen nicht, was das alles mir bedeutet, was
+Sie mir bedeuten -- ich weiß es selber erst seit wenig Augenblicken. Ich
+denke zurück an zwei Abende meiner Jugend, die der Wendepunkt waren, ich
+fühle es nun. Ihr spieltet daheim, in dem alten engen Stadttheater an
+der Rathausbrücke -- Sie waren eben entdeckt worden, ein märchenhaft
+aufleuchtender Stern -- und ich, ein sehnsüchtiger Primaner droben auf
+dem zweiten Rang im »Wallenstein« -- Sie drunten als Thekla mit der
+Laute in den rotsamtnen Vorhang geschmiegt, weißleuchtend abgehoben von
+dem riesigen Glasfenster, durch das die sternlose Nacht hineingähnte.
+Sie sangen Ihr Lied, Sie wissen's ja -- Sie singen's übermorgen wieder
+-- Und wissen Sie, wie ich Sie empfand? Sie waren die leuchtende Seele
+des gigantischen Gedichts, Sie waren die Schönheit, die versinken muß
+unterm erbarmungslosen Schritte des Schicksals -- Sie waren die Tugend,
+die zermalmt wird von den geifernden Kinnbacken des Verbrechens, Sie
+waren ... das Ideal, das waren Sie ... ach! und Sie sind's mir
+geblieben. Jetzt fühl' ich's, daß Sie immer mit mir gegangen sind in den
+zwei Jahren -- und nun, ist's möglich! Nun sitze ich Ihnen gegenüber,
+könnte Ihre Hand erreichen, wenn ich's wagte, darf in Ihre Augen sehen
+und fühlen: das Geschick meines Lebens ist über meinem Haupt.«
+
+Seine Stimme zitterte -- die braunen Augen leuchteten, der Atem flog.
+
+»Und dennoch --« sagte Jucunda langsam, großäugig -- »und dennoch haben
+Sie Asta Thöny geküßt.«
+
+»Ja, Jucunda, ich habe Asta Thöny geküßt. -- -- Wie soll ich Ihnen das
+erklären -- sie war die erste, die kam, damit ist alles gesagt. Sie hat
+mich genommen, weil alles in mir nach der Erfüllung lechzte, die nur
+Jucunda heißen durfte. Ach! so ist's wohl stets im Leben, daß man sich
+bescheiden muß und dankbar sein, wenn man Kupfer bekommt für Gold. Das
+andere, das ganz große Glück, das gibt's ja nicht, das darf's ja gar
+nicht geben -- denn gäb' es das, wir wären Götter und nicht Menschen ...
+und Götterschicksal erträgt sie ja wohl nicht, diese arme, irdische
+Seele, dieser schwache, tönerne Leib. -- Und doch, ich fühl's: daß ich
+das habe tun können, daß ich, Ihr Bild im Herzen, die andere umarmt
+habe, das hat mich Ihrer unwert gemacht und unwert auch all dessen, was
+ich mir an eigenem Wert und Werden erträumt habe. Ja, Jucunda, ich habe
+Asta Thöny geküßt -- und nun muß ich ja wohl auch gehen, nicht wahr?«
+
+Er war aufgestanden, gesenkten Auges stand er neben ihr. Da griff sie
+nach seiner Hand:
+
+»Du lieber, süßer, dummer Junge, Du ... Hans Thumser, kleiner dummer
+Bub, komm, sei vernünftig, setz' Dich mal her zu mir aufs Sofa. Ja, es
+ist schade, lieber Freund, daß Sie so zu mir kommen -- aus den Armen der
+andern. Aber vielleicht bin ich selber dran schuld ... warum habe ich
+Sie nicht erkannt beim erstenmal, da wir uns sahen? Ich, ich bin in
+Ihrer Schuld, ich war in Wirklichkeit die Dumme ... die Blinde ... Doch
+was tut's, das alles? Ich will, daß es nicht gewesen sein soll -- und es
+ist fort -- ich wisch' es aus, ich streiche den Namen Asta Thöny von der
+Tafel Deines Lebens ... Und nun ist nichts mehr da als ich, nicht, mein
+Hans?!«
+
+»O nichts, nichts als Du --!« stammelte er und sank neben dem Sofa in
+die Knie. Seine glühende Stirn sank in ihren Schoß, ihre weißen Hände
+glitten über seine braunen Locken. -- Da richtete er sich auf, irren
+Auges, die Wangen feucht, und sah sie an, so ganz Inbrunst, Ergebung und
+Verlangen, daß es sie niederzog zu ihm. Sie umschlang seinen Nacken,
+ihre Lippen hingen über den seinen.
+
+In diesem Augenblick wurde heftig an die Tür geklopft. Die beiden jungen
+Menschen fuhren empor -- das war nicht wahr, das durfte nicht sein ...
+aus solchem Traume gibt's kein Erwachen, eh er zu Ende geträumt ist. Und
+doch -- es klopfte abermals.
+
+»Jucunda, darf' ich 'rein kommen?« klang Frau Buchners fette Stimme.
+
+Die beiden Kinder richteten sich auf. Die mühevoll eindressierte
+Haltung, sie versagte nicht in diesem trauervollsten Augenblick. Im Nu
+saß Hans Thumser auf seinem Stuhl, ganz Korpsstudent, ganz korrekter
+junger Gentleman -- und sie, ihm gegenüber, auf dem Sofa, ganz Dame,
+ganz Komödiantin:
+
+»Bitte, Mama ...«
+
+Frau Buchner trat ein, mit einem Lächeln des Triumphs auf den Lippen.
+Ein wenig stutzig sah sie von einem zum andern, doch ihr prüfender
+Mutterblick fand keine Spur, die Besorgnis erregt hätte.
+
+»Nu, Jucunda, was sagste nu?« Mit spitzen Fingern hielt sie eine
+Visitenkarte in den Bereich der Lampe, eine vielzackige Krone darauf und
+darunter die Worte:
+
+Heribert Hans Herwig, Erbprinz von Nassau-Dillingen
+
+»Was?« rief Jucunda, »er ist draußen?«
+
+»Ei, herrjemerschnee! Ne so was -- ne so was ... Natierlich ist er
+draußen -- in höchsteigener Person! Soll ich 'n 'rinlassen?«
+
+Mit einem Blick hatte auch Hans Thumser die Schrift auf der Karte
+entziffert, der zweite flog mit schreckhafter Spannung zu Jucunda
+hinüber.
+
+Und -- sie? Das Gesicht, das ihm eben geleuchtet hatte wie der Genius
+seines Lebens selbst, es hatte den Ausdruck völlig gewandelt: ein dünnes
+Lächeln befriedigter Eitelkeit spielte um die schmalen, herrischen
+Lippen, die Augen flackerten einen Augenblick in unstetem Sinnen, die
+Stirn hatte sich gekraust. Aber schon war der kurze Kampf zu Ende:
+
+»Selbstverständlich, Mama. Sie haben ja wohl nichts dagegen, Herr
+Thumser, wie? Der Herr ist ja doch ein Korpsbruder von Ihnen.«
+
+Mit einem Ruck war Hans Thumser emporgeschnellt:
+
+»Dann verzeihen Sie wohl, wenn ich mich empfehle, mein gnädigstes
+Fräulein -- ich wünsche nicht zu stören.«
+
+»Aber ich bitte Sie, was heißt stören? Wir könnten ja so nett zu dreien
+...«
+
+Starr und förmlich verneigte sich der Student:
+
+»Adieu, meine Damen.«
+
+Er griff nach seiner grünen Mütze, die auf einem Stuhl an der Tür lag,
+dem spanischen Rohr mit Silberbeschlag, das daneben lehnte, und schritt
+hinaus.
+
+Im engen Korridor stand der Erbprinz, in Ueberrock und spiegelnden
+Lackschuhen, den Zylinder in der Hand, die Scherbe im Auge. Sein Gesicht
+wies den Ausdruck blöder Verblüffung. Mit einer kurzen Verneigung
+stürmte Hans Thumser an ihm vorüber und ließ die Korridortür ins Schloß
+fallen.
+
+
+
+
+ 12.
+
+
+Vor ihrem Bett war Asta Thöny in die Knie gesunken und hatte geweint,
+wie nie zuvor in ihrem Leben -- und doch, wieviel Tränen waren schon
+über ihre vergangenen Tage geflossen ... Wie teuer hatte sie die
+flüchtigen Augenblicke des Glücks erkaufen müssen, zwischen denen nichts
+gewesen war als Kampf -- Kampf mit zusammengebissenen Zähnen -- Hunger
+und Verzicht -- Abschied und Sehnsucht ... Und nun war's wieder einmal
+tief, tief dunkel geworden um sie her ...
+
+Sie sprang in die Höhe. Die eingeschlossene Luft in dem engen Stübchen
+preßte ihr die Brust zusammen -- sie riß das Fenster auf: da draußen auf
+der Sophienstraße noch immer das Flockentreiben und all die Fenstersimse
+der schwarzen Häuserzeilen schon weiß überlagert, die Straßen drunten
+wie versunken unter der weißen Last -- die aufgespannten Regenschirme
+bestäubt, die Hutkrempen, die Mäntel schneebepudert. Da hinein, in dies
+wehmütig tolle Treiben hatte sie mit dem Liebsten schwärmen wollen -- da
+hinein zog's sie nun, die glühenden Augen zu kühlen, die schneidende
+Luft in tiefen Atemzügen in die schmerzende Brust zu saugen.
+
+Einen kurzen Blick warf sie in den Spiegel und sah ihre Lider, ihr
+ganzes Gesicht fieberisch gerötet. Sie suchte den dichtesten Schleier,
+den sie hatte, und knüpfte ihn fest ums Gesicht. Dabei fiel ihr Auge auf
+die schönen neuen pelzgefütterten Glacéhandschuhe. Sie waren ganz
+verdorben vom Strom ihrer Tränen ... ach, wie gleichgültig das war.
+
+Nun war sie drunten auf der Straße -- wie dunkel es schon war um diese
+frühe Nachmittagsstunde -- wie sie emporblickte, lag's über den Dächern
+wie eine graue Decke, aus der es unablässig niederrieselte. Im Nu trug
+auch sie die Livree des Winters.
+
+Den wirbelnden Flockenschauern entgegen stapfte sie gen Westen, kreuzte
+die Zeitzer Straße und überschritt auf schmalem Brückchen den Mühlgraben
+... In den Wald hinaus, nur fort von den Menschen, fort aus der Stadt --
+in die Einsamkeit, dahin, wo sie hatte einsam sein wollen mit ihm.
+Nun dehnte sich zur Rechten die endlose Schneefläche der Rennbahn, und
+vor ihr stand der Wald, ein schwarzer Saum, weiß überzackt. Unter
+der Schleußiger Brücke gurgelten gelb und angeschwollen die trägen
+Pleißefluten -- ohn' Unterlaß sanken die leuchtenden Flocken in die
+schmutzigen Gewässer und wurden eingeschluckt -- wie der Schwall des
+Lebens Wesen um Wesen verschluckt. Den schmalen Pfad schlug sie ein, der
+hart am Ufer drüben aufwärts führte zu den graulich aufragenden
+Eichenschäften, dem Gewirr des Ufergestrüpps, dran jedes Zweiglein
+schon seine feuchte weiße Last trug ... Und wirr durcheinander, wie
+die stäubenden Flocken, jagten ihre Gedanken. Gott, wie grenzenlos
+allein sie doch war auf der Welt: Tochter eines kleinen Gerichtsbeamten
+in München, war sie von der strengen katholischen Rechtgläubigkeit und
+engen Spießbürgersittsamkeit ihrer Eltern um jener ersten Liebschaft
+willen, die sie einem schmucken Leutnant von den Chevauxlegers in
+die Arme geweht hatte, aus Haus und Heimat verstoßen worden. Das
+Gräflein hatte brav an ihr gehandelt. Ihre berufliche Ausbildung, ihren
+ersten Schatz an Kostümen verdankte sie seiner Freigebigkeit. Und
+dennoch hatten am Ende der Abschied, die Tränen, die Verlassenheit
+gestanden ...
+
+Und nun: die kleinen Engagements in Nürnberg, in Regensburg, in
+Augsburg. Immer umringt von einer Verehrerrotte, die nichts von ihr
+wollte als immer das gleiche -- das eine -- für die sie niemals eine
+Seele, ein Mensch, eine Künstlerin gewesen war, sondern immer nur eine
+hübsche Schale, ein Spielzeug, ein Zeitvertreib, eine Sklavin ... Und
+endlich das große Glück: ein einziges Mal ein Mensch, der sie ernsthaft
+nahm, Franz Burg, der Meininger Oberregisseur, der sie entdeckte ganz
+hinten im Ensemble eines Mittelstadtbühnchens. Und nun: Engagement,
+kleine Rollen, mittlere Rollen, Erfolg -- Karriere. Karriere? Ach, du
+lieber Gott! Bis zu den Sternen war man nicht gekommen -- immerhin, man
+war geborgen, man konnte sich ausruhen, konnte arbeiten -- stand
+inmitten eines großen, künstlerischen Treibens, brauchte sich nicht mehr
+wegzuwerfen, zu verkaufen.
+
+Aber ach, verdorben war man nun doch einmal, konnte nicht mehr leben
+ohne Küsse, ohne Rosen, ohne Liebesbriefe, ohne Zärtlichkeiten ... Und
+so flog man doch auch jetzt immer noch aus einem Arm in den andern,
+blieb ein Spielzeug -- blieb der rasch vergessene Kamerad flüchtiger
+Taumelstunden ...
+
+Da war der eine gekommen, dies grasgrüne Studentlein, das so ganz, ganz
+anders war als alle die frühern ... Was war's eigentlich gewesen, was
+ihn von ihnen unterschied? Er hatte sie genommen, sie hatte sich ihm
+gegeben, genau wie's immer gewesen war -- nur eines war anders gewesen
+-- ach, sie wußte es wohl, der Klang seiner Rede war's, die schäumende
+Flut von klingenden, schwingenden Worten, in denen seine Zärtlichkeit,
+sein Rausch sich ausströmte über sie hin -- ach nein -- auch noch ein
+andres. All die andern, die sie gekannt hatte, waren erfahrene,
+abgebrühte, blasierte Burschen gewesen -- diesem einen, sie wußte es,
+hatte sie das erste Glück des Lebens gebracht. Sie hatte träumen dürfen,
+ihm etwas zu sein, etwas, das nicht verfliegen könnte mit dem Rausch der
+flüchtigen Erfüllungsstunden ... Und nun, nun war auch das ein Trug, ein
+Wahn gewesen ...
+
+Tief gesenkten Hauptes schritt das einsame Mädchen fürbaß. Und wie ein
+fernes Brausen klang weit, weit hinten das Treiben der großen Stadt,
+gedämpft durch die rastlos niedersinkenden Flockenmassen. Und in der
+Nähe schien jeder Schall des Lebens erstorben -- nur der eigne Schritt
+knirschte leise im lockren Teppich, der die Welt überzog. Und zur Linken
+glucksten die gelben Wasser. Unter der nassen Last lösten sich die
+letzten gelben Blätter von den Wipfeln und sanken schwer und matt wie
+dunkle Schattengebilde inmitten des weißen Geriesels nieder, lagen ein
+paar Sekunden als schwarze Flecken auf dem leuchtenden Grund und wurden
+dann schnell verschüttet und begraben ... Und Asta sann in die Zukunft
+-- was hatte sie noch zu hoffen? Zu den höchsten Höhen der Kunst,
+dorthin, wo die strahlende Rivalin stand, ach, dorthin würde sie sich
+niemals emporschwingen. Nur die Niederungen waren ihr bestimmt, die
+wenigen Jahre, bis Jugend und Anmut verweht sein würden -- und was dann?
+-- Und was inzwischen? -- Immer nur Neid und Enttäuschungen ... Ab und
+an, wenn einmal eine neue Rolle neue Hoffnung brachte, ein verzweifeltes
+Emporraffen, ein neues zähneknirschendes Einsetzen der ganzen Kraft --
+dem, ach, doch immer wieder das Versagen, das Ermatten, die Erkenntnis
+der Begrenztheit des eigenen Wesens und Könnens folgen müßten, wie noch
+stets bisher.
+
+Und wo war dann Trost als in neuen Umarmungen, in neuen Tändeleien, ohne
+Glauben, ohne Hoffnung, ohne Sinn?
+
+Nein, wenn sie nicht einmal diesen einen dauernd hatte fesseln können,
+wenn selbst dieser eine, in dessen Leben sie am Anfang der Liebe
+gestanden, wenn sie nicht einmal ihn länger hatte binden können denn auf
+ein paar Wochen, dann war sie doch wohl gar nichts wert. Nicht einmal
+als Liebchen, nicht einmal als Weibchen! Und das nun immer und immer
+wieder erleben müssen, hatte das einen Zweck? -- Ließ sich das ertragen?
+
+Und doch, etwas in ihr bäumte sich auf gegen diese Verneinung ihres
+ganzen Daseins. War sie denn wirklich so ein Nichts, so ein Püppchen
+ohne Existenzberechtigung, ohne Lebenswert? Ach nein ... nur den
+falschen Weg war sie gegangen -- nein -- nicht gegangen: gestoßen war
+sie worden von dem aberwitzigen Schicksal. Damals, als sie sich von dem
+blinkenden Rock, der gleißenden Grafenkrone ihres ersten Galans hatte
+blenden lassen, als sie ihren einzigen Besitz, ihr Mädchentum, einem
+eitlen, egoistischen Jungen hingeworfen hatte, ohne zu denken, ohne zu
+fragen wohin, wozu -- damals war sie aus dem Gleise geworfen worden ...
+Irgendwo in der Welt lebte doch gewiß ein braver, schlichter Mensch
+ihres eigenen Standes, des Standes, in dem alle ihre Instinkte
+wurzelten, dem hätte sie in Bescheidenheit und Treue Gesellin und
+Helferin werden müssen. Das wäre dann ein Leben gewesen, für das ihre
+Kräfte gereicht hätten, in das sie Sonne, Glücksgenügen hätte zaubern
+können für ein ganzes Erdendasein. -- Nun hieß sie eine Künstlerin, ohne
+ein Künstlermensch zu sein ... Nun sollte sie gestalten, ohne in sich
+die Fülle der Gesichte zu tragen ... Sollte die Schöpfungen von
+Dichtern verkörpern, ohne selbst ein Stück Dichterin zu sein ...
+
+Die Dämmerung kam. Immer schauriger ängstete die Stille um sie her, und
+lichtlos wie die nebelverhangene Waldeinsamkeit ringsum lagen Zukunft
+und Leben. Eine grenzenlose Müdigkeit kam über das verlassene Kind --
+eine Sehnsucht nach Schlaf ohn' Erwachen. Und in der lastenden Stille,
+in die sie sich hineingesogen fühlte, war nun ein Laut nur noch: das
+einlullende Rieseln und Rauschen der gelben Gewässer neben ihrem Pfad,
+die so erbarmungslos die weißen Flocken einschluckten in ihren
+gurgelnden Schwall. Ach! wer auch so eine weiße Flocke wäre, so rasch
+und völlig versinken, zergehen könnte ...
+
+Aber schreckhafte Gesichte drängen sich vor -- wie schauervoll müßte das
+Ende sein, wären diese Flocken nicht fühllos, wären sie nicht der Flut
+wesensgleich, die sie verschlang? Du aber, Asta, du bist ein junges,
+heißes Menschenkind, du wirst nicht leicht und sanft dich auflösen und
+verschmelzen mit den Gewässern, die meerwärts rollen da unten. Du wirst
+dich quälen müssen, alles in dir wird im letzten verzweifelten Ansturm
+noch einmal nach dem Leben in Glanz und Licht verlangen, dem du verwandt
+bist, in dem du dich umgetrieben, zwar oft in Tränen und Verzweiflung,
+doch bisweilen auch in Schauern von Seligkeit ...
+
+Und dennoch, eine Stille wird kommen nach der kurzen Qual -- eine lange,
+tiefe, wunschlose Stille.
+
+Und noch ein Gedanke kam, der Furcht und Grauen schuf: Asta war in
+römischer Frömmigkeit erzogen, der Kinderglaube war nie ganz versiegt in
+ihrer unbewehrten Seele. Wenn's nun wahr wäre, was man sie gelehrt
+hatte von ewiger Verdammnis, von einem Wiedererwachen zu unnennbarer,
+unendlicher Qual? Ach nein, das war doch wohl nur Märchen und
+Kinderschreck -- ach nein -- wenn erst die Glut hier drinnen verloschen
+war, wenn die Glieder, die so heiß gefiebert hatten im Ueberschwang der
+Daseinswonne -- wenn sie erst so kalt und leblos geworden waren wie
+drunten die strömende Flut, dann war's aus und vorbei, dann kam nichts
+mehr -- kein Glück mehr und kein Schrecknis.
+
+Da stieg aus den falben Nebeln, die mählich den Fluß überlagerten, ein
+niedres Gebäude empor, eine hölzerne Wirtschaftsbaracke, grau
+gestrichen, hart bis an die Strömung des Flüßchens herangeschoben, mit
+einer Galerie, die über das Ufer vorsprang. »Zum Wassergott« lautete die
+Inschrift auf dem getünchten Wirtshausschild. Im Sommer mochte hier zur
+Abendstunde muntres Treiben herrschen, friedliche Philisterbehaglichkeit
+-- nun lag das kleine Anwesen kläglich verödet, ganz versunken in
+trostloses Schweigen.
+
+Asta trat ans Geländer und sah, wie die gelbe Flut in quirlenden
+Strudeln um die schneeverwehte Treppe rauschte, an der sonst das
+Fährboot anlegen mochte. Und nun zu denken, daß man morgen so gefunden
+würde, weit, weit unten irgendwo, entstellt, zerzaust, aufgedunsen -- --
+Aber ... das ging einen ja dann nichts mehr an, das fühlte man ja doch
+nimmer. Dann mochte die Welt laufen, wie sie wollte. Dann mochte der
+kleine Hans Thumser vor Jucunda Buchner auf den Knien rutschen und um
+die Gunst betteln, die Asta ihm, ach, allzu wohlfeil, allzu willfährig
+gewährt. Dann mochten sie Komödie spielen, solange es ihnen noch Spaß
+machte, sich abzuquälen für die undankbare Bande im dunkeln Parkett --
+ach! und wie dankbar war man doch gewesen, wenn die mal ein bißchen
+mitgegangen waren, wenn man ab und an sich hatte vorlügen dürfen, man
+sei auch wer, man habe auch die Kraft in sich, die da hinten zu packen
+und durch und durch zu rütteln, wie die paar es konnten, die paar
+Echten, die paar Großen ... Ja, spielt nur, spielt nur Komödie -- auf
+den Brettern und im Leben. Lügt Euch Gefühle vor und laßt Euch welche
+vorlügen, glaubt daran oder tut doch wenigstens so, als glaubtet Ihr.
+Denn auch Du hast ja gelogen, kleiner Hans Thumser, als Du unter Küssen
+und Tränen mir schwurst, ich habe Dir das Glück geschenkt. Ich weiß es
+ja nun, Du hast in meinen Armen immer nur an die andre gedacht. Ob Du's
+bei ihr finden wirst, das Glück, das sogenannte Glück? Ob Du es
+überhaupt jemals finden wirst im Leben? Ich will Dir's gönnen, kleiner
+Hans, denn ich habe Dich sehr lieb gehabt -- ich will Dir's gönnen,
+kleiner Hans -- ich aber -- ich tu nicht mehr mit, ich habe genug ...
+
+Einen spähenden Blick noch warf Asta in die Runde. Es war nun fast ganz
+dunkel geworden und nichts ringsum, als das sachte Sinken der weißen
+Kristalle, hinter denen die schwarzen Stämme ragten, finster und stumm.
+-- Ob es wohl lange dauern würde? Ob es sie noch einmal emportragen
+würde an die Oberfläche? Hoffentlich würden die nassen Kleider sie rasch
+in die Tiefe ziehen. Es war nicht schade drum, sie hatte sich für einen
+Fußmarsch im Schnee zurecht gemacht. Das bissel Flitter, was daheim
+herumlag, dafür würde sich schon irgendeine Verwendung finden: nur das
+schöne Sealskinjackett und das Barett und der Muff dazu, das war doch zu
+schade für die Pleiße! Irgendein Armes mochte das hier finden und es
+verkaufen und sich einen guten Tag dafür machen ... Sie zog die
+kostbaren Hüllen ab und legte sie sorgfältig zusammengefaltet unter das
+weitvorspringende Holzdach der Wirtschaftsveranda, wo sie einigermaßen
+vor dem Schnee geschützt waren. Nun schauerte sie fröstelnd zusammen im
+Nebelhauch der Waldtiefe. Gott -- und daß nun niemand, niemand morgen
+weinen wird, wenn sie's hören, wenn's in der Zeitung steht, wenn zum
+letzten Mal von Asta Thöny was in der Zeitung steht -- ach, allzu viel
+Schönes hat nie dringestanden über Asta Thöny -- und keiner wird weinen,
+nicht ein einziger von all den vielen, vielen, die mich geküßt und mir
+von Liebe geschwatzt haben, nicht einer. Auch Du nicht, Hans Thumser,
+ach, auch Du nicht ...
+
+Und sachte wie die weißen Flocken in die träge ziehenden Fluten
+niederglitten, so sachte ließ Asta Thöny sich niedergleiten von der
+schneeverwehten Treppe an der Holzveranda des Restaurants »Zum
+Wassergott« ...
+
+
+Valentin Pilgram war nachmittags gegen halb vier von dem Repetitor nach
+Hause gekommen, um sich in das gewohnte, besinnungslose Arbeiten
+hineinzustürzen, mit dem er nun schon seit Wochen sich zu betäuben
+gewohnt war.
+
+Als er durch den dunklen Korridor schritt, kam die Frau Kanzleirätin aus
+der Küche mit einem Brett voll Teegeschirr und ging zu Jucundas Stube
+hinüber. Verlegen erwiderte sie seinen Gruß; wie die Tochter, so wich
+auch die Mutter dem Zimmerherrn aus, wo irgend möglich, seit jenem
+verhängnisvollen Morgen ...
+
+Als sich die Tür zu der Stube der Schauspielerin öffnete, sah Valentin
+Pilgram mit einem Blick, daß dort Vorbereitungen für den Empfang eines
+Besuches getroffen wurden: festlich gedeckt glänzte der Tisch,
+sorgfältig waren die Blumenspenden der letzten Abende arrangiert, kurz,
+alles verriet ein nahes Fest.
+
+Wer mochte erwartet werden? Ein paar Kolleginnen oder Kollegen ... oder?
+-- Valentin wußte, daß der Erbprinz keine Vorstellung versäumte, in der
+Jucunda auftrat, er hatte bei jeder Premiere unter den Riesenschleifen
+der Lorbeerkränze die Farben von Nassau-Dillingen erkannt. Also zum
+mindesten war Seine Durchlaucht nicht mehr in der Ungnade ...
+
+Merkwürdig: der gewohnte Arbeitsfriede wollte heute nicht kommen. Immer
+lauschte der Kandidat auf Stimmen da drüben, in der ingrimmigen,
+quälenden Hoffnung, sie möchten recht behalten, jene ekelhaften
+Vermutungen, die sich immer deutlicher in ihm emporreckten: der
+Erwartete möchte der Erbprinz sein ...
+
+Und endlich schlug die Glocke im Hausflur an. Valentin Pilgram fuhr in
+die Höhe, schlich zur Tür und lauschte. Dabei überkam ihn brennende
+Scham: was war aus ihm geworden, daß er das Tun und Treiben anderer
+Menschen zu beschnüffeln und zu bespitzeln gelernt hatte? Das war doch
+früher nie gewesen ...
+
+Und horch -- die Stimme eines jungen Mannes ... aber das näselnde,
+gequetschte Organ des Prinzen war's nicht, es war eine frische,
+klangvolle Stimme ... es war ... Hans Thumsers Stimme ... Ach -- also
+der!
+
+Er hörte ganz genau, wie Mutter Kanzleirätin den Besuch zur Stube der
+Tochter führte, wie sie anklopfte, wie des Mädchens volltöniger Alt das
+Herein ertönen ließ, wie sie lebhaft und freudig den Besucher begrüßte,
+wie jener verbindlich und bewegt erwiderte.
+
+Das Blut stieg dem Lauscher ins Hirn, in die Augen -- die Gedanken
+quirlten einander überstürzend empor und machten ihn schwindeln. Also er
+--! Wundervoll! wundervoll! Wie das alles sich zusammenfand, wie die
+vagen Vermutungen, die greulichen Phantasien der letzten Wochen sich nun
+zu festen, zweifelsbaren Schlüssen zusammenfügten! Nun freilich -- nun
+war's ja klar, wie der Frankenzirkel und Hans Thumsers Initialen auf
+jenen Bogen geraten waren, der Jucundas Absagebrief trug! Man hatte es
+verstanden, ihn beiseite zu schieben -- hatte seine schnelle
+Ritterschaft lächerlich zu machen gewußt, um seine eigenen Chancen zu
+verbessern! Freilich, daß man mit einer solchen Gemeinheit auf dem
+Gewissen den Mut nicht gefunden hatte, den Hintergangenen, den an die
+Wand Gedrückten in seiner Einsamkeit zu besuchen -- kein Wunder
+schließlich! Und auch heute hatte man den Weg zur Tür des einstigen
+Korpsbruders nicht gefunden, obwohl man unter einem Dache mit ihm war!
+Also so etwas gab's -- so viel Infamie barg sich hinter der zur Schau
+getragenen Besonderheit, der phantastischen Eigenart des
+Reimedrechslers! -- -- Na warte, Bursche!
+
+Valentin Pilgram hatte kein Talent zum Lauscher an der Wand. Er schlich
+an seinen Schreibtisch zurück, vergrub den Kopf in den Händen und wühlte
+sich in das krause System des römischen Erbrechts hinein. Aber die
+Buchstaben hüpften vor seinen Augen, die Sätze verwirrten sich, führten
+sinnlose Tänze auf, und etwas Unwiderstehliches zog ihm immer wieder die
+geballten Fäuste von den Ohren ... Da drüben klapperten die Tassen,
+plätscherte munteres Gespräch ... kein Satz zu verstehen, höchstens
+einmal ein einzelnes Wort. Nun ein erregtes Lachen, nun Schritte durchs
+Zimmer, nun in raschem Wechsel Geplauder, ein Hinüber und Herüber von
+Scherz und Neckerei jetzt und nun von Rede, deren Sinn man nicht
+verstand, deren Klang aber deutlich genug von wachsender
+Vertraulichkeit, von innigem Austausch redete ... Ja freilich, der wußte
+besser, wie man mit Frauen, mit Künstlerinnen reden muß, um Eindruck zu
+machen!
+
+Valentins Gedanken verwirrten sich. Es war ihm nun, als müsse Hans
+Thumser das alles mit diabolischem Raffinement ausgeheckt haben, was
+sich vollzogen hatte. Gewiß war er schon längst hinter Jucunda her --
+war er's nicht gewesen, der die Idee mit dem Pferdeausspannen ausgeheckt
+-- und war er nicht an jenem Abend als des Erbprinzen Gast an seiner
+Seite im Theater gewesen? Gewiß hatte er auch in Erfahrung gebracht, mit
+welch geschmackloser Zudringlichkeit der Erbprinz und der Major sich bei
+Jucunda einführen wollten, und hatte schon damals sein Plänchen
+geschmiedet ... Alle Wut und Qual der letzten Wochen knäuelte sich
+zusammen zu einem einzigen, alles verdrängenden Gefühle der Empörung,
+des Ingrimms, der Rachelust ... ihn, diesen glatten Lächler, diesen
+geschmeidigen Buben, stellen ... züchtigen!
+
+Aber nein -- das war nicht länger zu ertragen, dieser Zusammenklang der
+zwei Stimmen da drüben, der gehaßten und der ach ... in tausend
+Schmerzen geliebten! War er denn verdammt, all jenes Glückes Ohrenzeuge
+zu sein, das er für sich selbst nur in fernen Träumen zu ersehnen gewagt
+hatte? Und das dem Buben da drüben in den Schoß fiel. Nein, das nicht,
+das doch nicht! Fort, hinaus, in das Schneegetriebe da draußen, weg aus
+diesem dumpfen Zimmer, dessen Luft bis zum Ersticken angefüllt war mit
+vergangener und gegenwärtiger Gedankenqual!
+
+Valentin Pilgram stand auf. Er warf seinen Winterpaletot um, stülpte den
+weichen, zerknüllten Filzhut auf den unfrisierten Kopf, nicht achtend,
+daß beide Kleidungsstücke seit Tagen nicht gebürstet, von dickem Staub
+umlagert waren. Er, der sonst so peinlich gestriegelte Korpsstudent,
+hatte seit Wochen sein Aeußeres schlimmer vernachlässigt als der
+armseligste Prolet unter den Kommilitonen ... Er griff nach dem wüsten
+Knotenstock, den er sich für fünfzig Pfennig in irgend einem Kram
+gekauft, seit er das silberbeschlagene spanische Rohr mit der Dedikation
+seines Leibburschen nicht mehr führen durfte ... und nun hinaus -- nur
+hinaus!
+
+In der kurzen Stunde, seit der Jungschnee sich eingestellt, waren
+Bürgersteig und Straße mit fußhohen Schneemassen überschüttet. Mühsam
+bahnten sich die Fußgänger ihren Weg, trübselig stapften die
+Droschkengäule daher, wie schwarze Silhouetten schoben Menschen, Tiere,
+Gefährte einander vorüber, die ersten Laternen äugelten mit trübem
+Blinzeln durch den Flockennebel, der ohn' Unterlaß herniederwogte. Von
+weißen Kanten eingesäumt, reckten sich die finstern Fronten der alten
+Barockpaläste zu beiden Seiten der engen Straße. Jedes Geräusch war
+eingesogen von den weichen Polstern des Grundes, den stiebenden
+Flockenmassen, welche die Luft verhängten.
+
+Der junge Gesell, der mit aufgeschlagenem Rockkragen, die Hände in den
+Manteltaschen vergraben, verloren und ziellos durch die Straßen
+pendelte, hielt es nicht aus inmitten des lautlosen Lebens, das sich
+schattenhaft an ihm vorbeidrängte. An der Thomaskirche vorüber, deren
+schwarzer Giebel sich droben in dem weißen Dunst verlor, pendelte er auf
+den Ring hinaus, wo die Zweige der Baumreihen, des Gebüschs unter der
+Wucht ihrer weißen Last sich bogen und knackten. Zur Linken stieg das
+finster dräuende Massiv der Pleißenburg in die silbernen Schwaden, das
+Rund des Turmes hob sich als riesiger Schattenriß von den Lichtfluten um
+den Roßplatz und Königsplatz ab. Und nun der winterstille, menschenleere
+Johannispark! Hier ließ sich aufatmen, hier wurde die Brust freier. Hier
+klärte sich das Gedankenchaos ...
+
+Ja, es mußte gehandelt werden. Die ganze Fülle der verhängnisvollen
+Ereignisse, die Valentin Pilgram aus seines Lebens sicher
+vorgezeichneter Bahn so jählings hinausgeschleudert in ein uferloses
+Nichts, das alles drängte zu einer entladenden, entlastenden Tat. Und
+diesmal würde seinem Vorsatz Erfüllung werden -- diesmal würde er nicht
+wie Don Quichotte gegen die Windmühlenflügel anrennen, um alsbald
+entsattelt an der Erde zu zappeln, ein Spott der Welt ... Diesmal würde
+er den waffengeübten Arm zum sicher treffenden Schlag zu brauchen
+wissen, mitten in des Feindes Fratze!
+
+Des Feindes! -- es gab ja nur den einen! In ihm schien dies aberwitzige
+Schicksal der letzten Wochen Gestalt angenommen zu haben -- in jenem
+jungen Burschen, der sich jetzt gewiß von Jucundas Lippen den Dank holte
+für eine ganze Kette von Niederträchtigkeiten und Bübereien. Ihn
+züchtigen -- ja das war's! Das forderte die Stunde!
+
+Und dann? Was kam dann?! Dann würde man sich gegenüberstehen, Aug'
+in Auge, den Lauf der Waffe auf des Feindes Herz gerichtet ... das war
+dann das Gottesgericht ... Dann würde sich's zeigen, wer von ihnen
+beiden weichen müsse von dieser Welt, die nicht Raum mehr hatte für sie
+beide ...
+
+Und ... dann?!
+
+Hans Thumser sollte fallen. Er wollte es. All die eiserne Willenskraft,
+die bis zu dieser Stunde sein junges Leben vorwärts getrieben, er würde
+sie in das kleine Stückchen Blei hineinlegen, das des Feindes Herz
+finden sollte. Das war dann die Sühne, das war die Wiederherstellung
+der heiligen Weltordnung, welche von den Gesetzen der Ehre regiert wird,
+der Ehre, deren Ritter er gewesen war, und die jener andere mit Füßen
+getreten hatte ... jener andere, der heut noch das dreifarbene Band
+um die Brust trug, das er, der Getreue, eingebüßt hatte dank jenem
+sinnlosen Schicksal, dem er unterlegen war bis heut. Aber dies
+stumpfsinnige, brutale Schicksal, es sollte nicht Meister bleiben
+in der Welt, solange er noch Kraft hatte, den Hahn einer Pistole
+abzudrücken ...
+
+Und dann?! Er wußte den Gesetzesparagraphen zu nennen, dem er dann
+verfallen war; die Höhe der Strafe, welche seiner wartete. Das war ja
+wiederum der groteske Unsinn dieser Zeit, daß die Gesetze des Staates
+das Recht der Selbsthilfe dem Manne versagten, der am Heiligsten seines
+Lebens gekränkt war: an seiner Ehre ... Dieselben Gesetze, die den
+Beleidiger der Ehre mit Strafen von kindischer Winzigkeit bedrohten ...
+
+Immerhin -- lieber zwei Jahre lang als Gefangener auf dem Königstein,
+lieber das, was liberale Zeitungsschmierer einen Duellmord nannten,
+lieber das alles, als dieses zermürbende Gefühl der Ohnmacht, der
+Wehrlosigkeit gegen menschliche Infamie und den Aberwitz des Fatums!
+
+Schon war des einsamen Wanderers Hutkrempe von einem dichten Schneekranz
+umlagert. Nasse Schauer sprühten ihm um die glühenden Wangen, eisige
+Tropfen rieselten ihm über Hals und Nacken. Er achtete es nicht. Den
+Kopf tief in den Schultern vergraben, stolperte er fürbaß. Schon lag der
+Park hinter ihm, mechanisch verfolgte er den nächsten Pfad, der hart am
+Saume des rechten Pleißeufers zwischen den reckenhaften Schäften der
+hochstämmigen Eichen und dem dürren Gestrüpp der Erlen entlang führte.
+Als sein Blick zufällig die gelben Fluten der gurgelnden Pleiße
+streifte, stieg mitten in sein finsteres Brüten hinein ein lachendes
+Bild heiterer Jugendlust:
+
+Die S. C.-Kahnfahrt nach Connewitz, welche die Leipziger Korps in jedem
+Sommersemester gemeinsam unternommen hatten ...
+
+Wann war doch das gewesen? Vor einer Ewigkeit ... in einem andern,
+versunkenen Leben ... Damals hatte die Welt in tausend Farben
+geleuchtet, hatten bunte Mützen und grellfarbige Bänder geblinkt, heiter
+abgehoben vom dunklen Grün der Ufersäume, vom Blau des klaren Himmels,
+das sich in den freundlichen Wellen des Flusses spiegelte ... Flüchtig,
+wie es herangeweht, zerstob das Bild, und wieder war nichts als der
+schneestarrende Wald und drunten die blaugraue Flut und ringsum
+Dämmerung und lastende Einsamkeit. Nur drüben, am jenseitigen Ufer, wohl
+zwanzig Schritte vor Pilgram, ging noch ein anderer einsamer Mensch,
+ein schwarzer, formloser Schatten, vorüberhuschend vor dem silbernen
+Reif, der den ganzen Wald, der alle Welt überflitterte.
+
+Und wieder tauchte Valentin Pilgram tief in den schaurigen Abgrund
+seiner Grübeleien.
+
+Wie, wenn es nun anders kam? Wenn das Gottesgericht gegen ihn entschied?
+Nun dann war eben alles aus -- und er brauchte doch wenigstens nicht
+mehr zu leben auf einer Welt ohne Sinn ...
+
+Aber -- die daheim --?! Die Eltern, deren Stolz er war, er wußte das ...
+Der eifrige Vater, der in rastloser Arbeit zu einer der obersten
+Stellungen in der Königlich sächsischen Rechtspflege emporgestiegen war
+und in den zwanzig Jahren rüstiger Arbeit, die noch vor ihm liegen
+sollten, noch höher zu steigen hoffte? Er, in seiner starren
+Rechtlichkeit, seiner tadellosen Korrektheit der Art des Sohnes so innig
+verwandt? Nie hatten Vater und Sohn voreinander Worte zu machen
+gebraucht von dem, was sie beide längst wußten: daß sie Menschen einer
+Rasse, eines Wesens waren, würdige Glieder einer uralten Familie
+hochangesehener Gelehrten, Geistlichen, Beamten, die stets eine Zierde
+der Stadt, des Staates gewesen waren ... und die gute Mutter, ein
+Mensch, so recht zur Ergänzung dieses Schlages geschaffen, ohne starke
+Persönlichkeit, voll tiefsten Respekts gegenüber dem Gatten und dem
+Sohne, denen sie sich allzeit als freudige und nützliche Dienerin
+untergeordnet hatte, entsprechend den Traditionen der ehrbaren
+Geschlechter, aus denen auch sie entsprossen war, und die allzeit
+aufrechte Säulen der Ordnung und Tüchtigkeit gewesen waren. Die
+Schwestern, von der Mutter nach ihrem Vorbilde erzogen zu braven
+Gattinnen für diese ehrenfeste Art Männer, wie das Vaterland sie immer
+gebraucht hatte und, will's Gott, immer brauchen würde ... und nun --
+ein Sohn im Duell gefallen ... in einem Duell, in dem eine Rolle, eine
+wenn auch noch so entfernte Rolle immerhin ... eine Schauspielerin ...
+gespielt hatte? War das nicht wider den Stil der Familie? wider alle
+Gewohnheit ihrer Daseinsführung?
+
+Nein, das war es nicht. Untadelig war, was immer er getan, seit Jucunda
+Buchners Bild emporgetaucht war in seinem jungen Leben, das nichts als
+Ehre gewesen war. Untadelig ... Und so würde er's vor jenem ernsten
+Gange für die Lieben daheim aufzeichnen, würde für jeden seiner Schritte
+die Motive, die Handlungen angeben, die Zeugen benennen. Und so würden
+die Seinen des Gefallenen mit tiefer und reiner Trauer ohne Groll und
+ohne Scham gedenken können, ja mit Stolz als eines Menschen, der auch
+diesem absurden Spiel dämonischer Mächte gegenüber geblieben, was er
+stets gewesen: ein Mensch ihrer Art ...
+
+In diesem Augenblick trieb ein Windstoß dem einsamen Wanderer einen
+heftigeren Guß prickelnden Schnees ins Gesicht und scheuchte ihn aus
+seiner Versunkenheit auf. Es war fast völlig finster geworden, und
+Valentin Pilgram entschloß sich zur Stadt zurückzukehren. Seine
+Entschlüsse waren gefaßt, klar vor ihm lag der Weg, den seine Pflicht
+ihn gehen hieß. Zu was noch länger ziellos durch die Einsamkeit
+streifen? Daheim waren die Bücher ... und in wenig Tagen würde das
+Examen beginnen ... und Ruhe würde ja nun auch geworden sein daheim.
+Heut abend waren wieder die »Piccolomini« -- Jucunda würde schon im
+Theater sein ...
+
+Schon war Valentin Pilgram im Begriff kehrtzumachen, da fiel sein Blick
+zum jenseitigen Ufer, und er sah im letzten Dämmerschein etwas
+Unbegreifliches:
+
+Kaum noch in matten Umrissen erkennbar, lag drüben die Sommerwirtschaft
+»Zum Wassergott«. Dort hatte er nach manchem Spaziergange mit
+Korpsbrüdern die Hitze des Marsches an einer Gose gekühlt und dem
+munteren Treiben der sonntäglichen Kähne auf dem Flusse zugeschaut. Und
+seitlich, an der Treppe, wo die Fähre anzulegen pflegte, stand ein
+Mensch, eine Frau. Auch sie nur ein grauer Schatten vor dem Dunkel, das
+unter der Galerie lastete. Und dieser Mensch tat nun etwas ganz
+Sonderbares: dieses Weib legte seine Kopfbedeckung ab -- es schien eine
+Pelzmütze zu sein -- und zog das Jackett aus, schob beides
+zusammengefaltet nach hinten in das Dunkel und stieg nun die Treppe
+hinunter bis dicht ans Wasser. Und nun -- -- in jähem Schrei entlud sich
+Valentins Entsetzen!
+
+Schon in der nächsten Sekunde aber reagierte ganz automatisch sein
+Instinkt auf das grauenhafte Schauspiel, das sich bot. Mit einem Ruck
+riß er die Knöpfe seines Paletots und seines Rockes auf, schleuderte
+beide Kleidungsstücke mit einer jähen Bewegung in den Schnee und war mit
+einem Satz am Ufersaum, mit einem zweiten schoß er in die gelbe Flut
+hinaus. -- Die markerschütternde Kälte des Wassers lähmte eine Sekunde
+lang seine Glieder wie sein Hirn, im nächsten Augenblick aber durchschoß
+ihn ein siedender Feuerstrom. Jeder Nerv, jeder Muskel spannte sich an
+wider das eisige Grauen -- Arme und Beine strafften sich, mit heftigen,
+ruckartigen Stößen setzte er sich zur Wehr gegen die zähe Umklammerung
+des kalten Elements, in dem er trieb. Er schwamm, er wußte sein Ziel.
+Ueber der fernen Stadt lag ein roter Schwaden, dessen Widerschein sich
+in den träge hingleitenden Fluten spiegelte. In diesem matten
+Perlmutterglast glitt eine dunkle Masse, auf die schwamm er zu. Wenig
+Stöße, dann war's getan. Er griff in ein nasses Bündel Kleider hinein,
+fühlte warme Menschenglieder, umspannte eine schlanke Gestalt. Kaum
+spürte der wehrlose Körper die fremde Berührung, da zuckte er in
+aufbäumendem Entsetzen zusammen, krümmte sich, warf sich hin und her in
+den Eisstrudeln, welche die hintreibenden Leiber umquirlten. Doch nicht
+umsonst hatte der Student seine Muskeln in der harten Zucht des
+Fechtbodens gestählt und ihre Kraft in mehr denn zwanzig Waffengängen
+erprobt. Mit eisernem Griff umschlang er das zarte Figürchen, rang die
+strampelnden Arme nieder und lenkte mit heftigen Beinstößen dem nahen
+Ufer zu. Die nassen Kleider legten sich wie stählerne Klammern um seine
+Beine, der Druck der Schuhe machte die Füße schwer und hilflos, doch mit
+wildem Ungestüm zwang der Wille jedes Hemmnis nieder, den Frost, den
+Verzweiflungskampf der zuckenden Glieder, die er mit seinen Armen
+umschloß. Nach wenigen Sekunden fühlten die Füße Grund, Schlammgrund,
+doch er hielt. Nun packten beide Arme mit unwiderstehlichem Griff das
+leichte Körperchen um Hüften und Knie -- noch ein kurzes, heftiges
+Ringen, dann griff die Linke einen tiefniederhängenden Weidenast, die
+Rechte schleifte die zappelnde Last durch die gurgelnden Wellen. Nun
+spannten beide Arme noch einmal sich an und hoben mit hartem Ruck den
+gefangenen Leib in die knackenden Büsche der Uferböschung hinein. Nun
+klang ein wimmerndes Stöhnen, nun keuchten klagende Laute wie eines
+kranken Kindes Stimme:
+
+»Lassen Sie mich doch ... o bitte ... bitte, lassen Sie mich doch los!«
+
+»Ne -- gibt's nich!« keuchte der Student. Mit letzter versagender Kraft
+würgte er sich selber durch die schneeüberstäubten Zweige des
+Ufergestrüpps hindurch, zog den Körper der Geretteten vollends hinauf
+und ließ ihn in den lockeren Schnee gleiten, weil die ausgepumpten
+Muskeln nichts mehr hergaben. Schwarze Finsternis ringsum -- nichts
+hörte Valentin, als das raschelnde Keuchen der eigenen Lungen, das
+ratternde Hämmern des eigenen Herzschlages und dazu aus der
+geheimnisvollen Dunkelheit zu seinen Füßen das wimmernde Schluchzen
+einer Mädchenstimme -- immer nur dies wimmernde Schluchzen, dies
+hilflose Greinen.
+
+»Lassen Sie mich doch los ... o bitte, bitte ... lassen Sie mich doch!«
+
+»Ne,« keuchte Valentin Pilgram, »das können Sie nun wirklich nich ...
+von mir ... verlangen, Verehrteste ... ich hab' mich dermaßen für Sie
+... abgeschunden ... jetzt lass' ich Sie nich wieder ... in die nasse
+Sauce da!«
+
+Mit der Ueberwindung der Gefahr war ein grimmiger Humor über ihn
+gekommen. Er richtete sich auf, reckte die stählernen Glieder, schlug
+ein paar mal die Arme über der Brust mit kräftigem Ruck zusammen, um
+sich gegen die Frostschauer zu wehren, die sich in seine Haut einfraßen.
+Dann bückte er sich zu der Geretteten, bekam das schlanke Figürchen um
+die Taille zu fassen und setzte es mit einem energischen Hub auf die
+Beine.
+
+»So, nun bleiben Sie gefälligst stehen ... aber nein, kommen Sie mit
+mir, wir rennen zum »Wassergott« zurück ... das macht warm ... Sie
+haben ja da meines Wissens Ihre Oberkleider gelassen, die holen wir ...«
+
+Dabei versuchte er die Dunkelheit zu durchdringen, um etwas von den
+Zügen der Gesellin dieser seltsamen Begebenheit zu erkennen. Umsonst --
+nur etwas Nasses, Zitterndes hielt er in seinen Armen, dessen Wärme
+langsam die eisige Nässe der Hüllen durchdrang, die um ihre Glieder
+schlotterten. Die zarte Gestalt wollte wieder in die Knie sinken, aber
+er raffte sie empor, zog sie herzhaft an seine Seite und zwang sie, in
+raschem Schritt durch den lockeren Schnee mit ihm den Fußpfad
+pleißeaufwärts zu verfolgen.
+
+Dabei redete er ohn' Unterlaß auf das junge Menschenkind ein, das
+wankend und noch immer leise wimmernd an seiner Seite schritt.
+
+»Nun sagen Sie bloß, meine Gnädigste, wie sind Sie auf die verrückte
+Idee gekommen, bei so schauderhaftem Wetter Schwimmversuche in der
+Pleiße zu machen? -- Dabei können Sie sich ja einen Schnupfen holen, den
+Sie in diesem Leben nicht mehr los werden. Denken Sie bloß, wenn ich
+nicht zufällig des Weges gekommen wäre ... Und noch dazu in Kleidern,
+das bringt ja nicht einmal ein Mann fertig, geschweige denn so ein
+kleines zartes Mädel wie Sie. -- Oder sind Sie gar eine junge Frau? Dann
+sagen Sie's mir, damit ich Sie richtig anrede ... kommen Sie, wir müssen
+schneller laufen ... damit wir warm werden, Sie zittern ja
+gottserbärmlich. Schade, daß der »Wassergott« zugemacht hat, ich wäre
+kolossal für einen Grog oder auch deren mehrere, Sie nicht auch?«
+
+So schwatzte er drauf los, allerhand banales Zeug, was ihm gerade in den
+Kopf kam, und nahm mit Befriedigung wahr, daß das Wimmern schwächer und
+schwächer ward und schließlich ganz verstummte.
+
+Und dann kam eine wilde Lust an dem unerwarteten Abenteuer über ihn, das
+in seine verzweifelte Stimmung hineingeplatzt war wie ein Weckruf zu
+neuem Leben ... Und immer brennender wurde in ihm die Neugierde, die
+Züge der Unbekannten zu sehen, in deren Schicksal er hatte eingreifen
+dürfen wie vom Himmel gefallen.
+
+Als die beiden einen Augenblick verpusteten, griff er in seine
+Hosentasche und zog die Zündholzschachtel hervor, sie war ganz trocken.
+Die wenigen Sekunden, die er in dem nassen Element zugebracht, hatten
+nicht genügt, um seine Kleidung gänzlich zu durchfeuchten. Da ließ er
+ein Hölzchen aufflammen und sah mit jähem Entzücken, welchen holdseligen
+Fang er gemacht. Dabei weckte ihm das triefende, glühende Gesicht, von
+langen dunklen Haarsträhnen überhangen, unbestimmte Erinnerungen ...
+
+Aber eine Scheu verbot ihm zu fragen ...
+
+Und das Flämmchen verlosch, das angstvolle Gesicht, die hilflos
+blickenden Augen versanken wieder in der Finsternis. Nein, jetzt nicht
+fragen -- wie wund mußte diese arme flüchtige Seele sein ...
+
+Da war der »Wassergott«. Valentin stapfte in die schneeverwehte Galerie
+hinein, aber die Gerettete ließ er dabei nicht los.
+
+»Ne, ne, kommen Sie ruhig mit, Gnädigste, ich habe Angst, Sie möchten zu
+viel Geschmack an Ihren Schwimmkünsten gefunden haben ... und ob ich Sie
+zum zweiten Male da herausbrächte? Ich weiß wirklich nicht.«
+
+In der Finsternis fand er die weichen, duftigen Pelzhüllen, ahnte voll
+Respekt, daß es sich um Kostbarkeiten handeln müsse, und hüllte seine
+Gefangene sorglich hinein. Sie wehrte sich nicht ...
+
+Und nun der Heimweg. Durch das schneebepuderte Gitterwerk des dürren
+Waldes am jenseitigen Ufer leuchtete der Widerschein der fernen Stadt,
+der einen gelblichen Lichtbogen wie eine matte Aureole in die
+niederwallenden Schneenebel hineinzeichnete. Perlmutterfarben
+widerleuchtete sein Schein auf den friedlich meerwärts gleitenden
+Pleißefluten.
+
+Das junge Blut, vom raschen Gang, von der fiebernden Erregung der Herzen
+aufgepeitscht, besiegte mählich die Frostschauer, die von den nassen
+Kleidern her die Glieder überrieselten. Und mit einem geheimnisvollen
+Gefühl brüderlichen Stolzes hielt der Student das zarte Figürchen
+umschlungen, preßte es an sich, wie um ihm abzugeben von der Siedeglut,
+die ihn durchpulste.
+
+Noch immer schwieg sie, und wie ein Wasserfall redete Valentin auf sie
+ein:
+
+»Das hätt' ich mir weiß Gott auch nicht träumen lassen, daß ich meinen
+Spaziergang in so angenehmer Gesellschaft beenden würde. -- Und Sie?
+Finden Sie es nicht doch viel netter, zu zweit hier im Schnee zu waten,
+als einsam da unten in der dreckigen Pleiße zu paddeln? -- Sehen Sie
+mal, wie hübsch sich drüben das Gezweige von dem roten Himmel abhebt! Da
+kann man's wahrhaftig sehen, wie helle die Leipziger sind -- sogar der
+ganze Himmel ist hell über dem guten alten Biernest ... Aber nu sagen
+Sie doch auch mal was, Fräulein! oder haben Sie Ihre Stimme da unten im
+Wasser gelassen? Das wäre doch schade. Ich denke mir, Sie müssen sehr
+niedlich plaudern können ... Soll ich Sie vielleicht noch einmal
+erleuchten und mich auch, damit Sie sehen, daß Sie es mit einem ganz
+ordentlichen Kerl zu tun haben? Sie haben doch am Ende nicht gar Angst
+vor mir?«
+
+Und horch!
+
+Da klang's auf einmal aus der Dunkelheit neben seiner Schulter, leise
+wie ein Taubengirren:
+
+»Angst ... ach nein -- wie könnte ich Angst vor Ihnen haben, Sie sind ja
+so gut zu mir --«
+
+»Hurra! sie kann wieder reden!« jauchzte der Bursch. »Herrlich!
+herrlich! Und nun -- nun sagen Sie mir's mal gleich, wohin ich Sie
+bringen darf? Denn nach so einer Strapaze gehören kleine Mädchen ins
+Bett ... Auch ein Glühwein könnte nicht schaden. Also -- wohin soll's
+gehen? Heraus damit!«
+
+Leise nannte das Mädchen seine Adresse. Unwillkürlich schmiegte sie sich
+fester in den führenden, schützenden Arm. Ihr war, als sei ihr noch nie
+so wohl gewesen, so geborgen wie in diesem Augenblick. Das Dasein, das
+ihr vor einer Viertelstunde noch schal und wertlos erschienen war, nun
+glomm es wieder auf in ihr voll Sehnsucht nach neuem Erleben, voll
+Dankbarkeit, noch da zu sein, die eigene Wärme siegen zu fühlen über die
+eisige Nässe, der sie sich anvertraut -- das ferne Leuchten zu sehen
+über der Stadt, wo die Menschen hausten, wo das Leben brandete, wo man
+Komödie spielte -- aß und trank, lachte und küßte ... Gott, welch ein
+Wahn, welch eine Raserei war doch nur über sie gekommen und hatte sie da
+hinuntergetrieben --?
+
+Ach leben -- nur leben. Besser, sich prügeln lassen vom Schicksal,
+besser, sich auf und ab wirbeln lassen zwischen Glückseligkeit und
+Tränen, Tränen und Glückseligkeit, als dies kalte Nichts da unten.
+
+»Ich danke Ihnen,« stammelte sie. »Ich danke Ihnen!«
+
+Und lustig schwatzend von den gleichgültigsten, törichtsten Dingen, als
+seien sie zwei alte Bekannte, die sich beim Spaziergang begegnet,
+stapften die zwei Menschen fürbaß durch den knietiefen Schnee.
+
+»Haben Sie warme Backen?« fragte der Student. »Au! Teufel ja, die
+brennen ja wie ein Oefchen -- und die Hände? Ziehen Sie doch die nassen
+Handschuhe aus, das gibt ja Rheumatismus -- richtig, die sind wie zwei
+Eiszapfen. Da weiß ich Rat, wir werden uns schneeballen. Los! Greifen
+Sie zu, ich laufe voraus. Daß Sie mir aber nicht wieder auskneifen und
+in die Pleiße spazieren!«
+
+Nein -- Asta hatte keine Sehnsucht mehr nach der Pleiße. Sie bückte
+sich, griff mit den erstarrten Händen in die lockere Masse, die alles
+überlagerte -- und klatsch, da flog ein raschgeformter Ball dem riesigen
+Begleiter vor die Brust, daß es nur so knallte ... Und lachend, rennend,
+prustend, wie zwei Kinder, tollten die zwei den Weg entlang.
+
+Schon schatteten die dunklen Fronten der Vorstadthäuser in das silberne
+Flockengeflitter hinein. Nun galt's sittsam und verständig nebeneinander
+durch die Straßen zu schreiten, in denen nur wenige schneebepuderte
+Gestalten unter weißbezuckerten Regenschirmen hastig und lautlos ihren
+Behausungen zustrebten.
+
+Als aber der erste Laternenschein dem wandelnden Paar die Gestalt des
+Partners zeigte, schrie das Mädchen plötzlich auf:
+
+»Um Gottes willen, Sie sind ja in Hemdärmeln! Sie werden sich den Tod
+holen!«
+
+»Ach! keine Spur!« lachte der Student. »Ich glühe nur so! vorwärts, nur
+vorwärts!«
+
+Jeder Vorüberwandelnde stutzte, als er das seltsame Schauspiel sah, daß
+ein junger Mann barhäuptig und hemdärmelig neben einer elegant bepelzten
+Dame herschritt.
+
+Rasch war Valentin des Anstarrens, des Stehenbleibens satt. Auf der
+Zeitzer Straße rief er eine Droschke an, deren schneebepackter Gaul
+mühselig und dampfend dahin keuchte. Und nun war nach wenigen Minuten
+die Sophienstraße erreicht, die Hausnummer, die das Mädchen angegeben.
+
+Es kostete Mühe, in den nassen Kleidern die Treppe hinan zu kommen, den
+Korridorschlüssel zu finden.
+
+Mit Ueberraschung bemerkte der Student, daß es die wohlbekannte Wohnung
+war, in der Mutter Ach schaltete, sie, die ganze Generationen von
+Franken beherbergt hatte. Sie, bei der jetzt jener andere wohnte, dem
+Valentin Pilgram in ingrimmiger Einsamkeit eine fürchterliche Vergeltung
+geschworen ...
+
+Starr vor Entsetzen stand die behäbige Witwe, als im matten Schein des
+Flurlämpchens ihre Mieterin vor ihr stand:
+
+»Ei, herrjemerschnee! ne so was -- ne so was ... Was hab'ns denn nur
+gemacht, Freilein? ... Und wer is denn das? -- Weeß Knebbchen, das is
+Sie ja der Herr Pilgram! Herr Pilgram, is es meeglich?! Nu komm' Se doch
+bloß mal in die Stube 'nein -- ich wer' gleich Feier machen -- und Tee
+wer' ich 'n kochen, i nee so was, nee so was.«
+
+Bei dem Namen Pilgram hatte das Mädchen gestutzt. Höher noch flammte ihr
+glühendes Gesicht. Stumm klinkte sie ihre Stubentür auf und huschte
+hinein. Die Tür ließ sie offen in dem dunklen Gefühl, daß ihr Retter
+einen Anspruch auf die behagliche Wärme habe, die ihr von drinnen
+entgegenschlug.
+
+Doch der folgte ihr nicht -- starr hingen seine Augen an dem weißen
+Kärtchen, das an der Stubentür befestigt war.
+
+»=Das= -- sind Sie?« fragte er mit zusammengebissenen Zähnen.
+
+»Ja, das bin ich -- kommen Sie doch herein -- wärmen Sie sich.«
+
+Zögernden Schrittes trat der Student näher. In scheuem Staunen musterten
+sich die beiden jungen Menschen, das Hirn von wirren Gedanken
+durchkreuzt ...
+
+Frau Wehe hastete herein, rannte geschäftig zum Feuer, um frische Kohlen
+aufzuschütten.
+
+»Nu sagen Se bloß, Herr Pilgram, was haben Se denn angefangen alle zwei?
+Wer looft denn bloß in so en' Wetter hemdärmlig 'rum und mit bloßem
+Koppe?! Und naß wie de Katzen seid 'r alle zwee! Da soll wer anders
+draus klug wer'n!«
+
+»Das Fräulein ist spazierengegangen an der Pleiße, hat im Dunkeln den
+Weg verfehlt, ist ins Wasser gefallen, ich habe sie herausgezogen,«
+erklärte Pilgram hastig.
+
+»Gott soll mich bewahr'n!« schrie Frau Wehe. »Nu aber mal schnell ins
+Bett mit dem Kind! -- Und Sie, Herr Pilgram, Sie gehen nebenan zum Herrn
+Thumser und nehm' sich Wäsche und Kleider, versteh'n Se mich?! Am besten
+wär's schon, Sie legten sich einfach da nebenan ins Bette! Herr Thumser
+wird schon nich beese sinn! Und dann koch' ich Euch Tee oder Grog, 'ne
+paar Wärmepullen unter de Decke, ich wer' schon machen!«
+
+»Nein!« schrie da Asta Thöny. »Herr Thumser, nein -- das geht nicht --
+der darf nichts davon wissen ... der auf keinen Fall!«
+
+»Ach Quatsch!« rief die stämmige Wirtin. »Ihr holt Euch ja den Tod alle
+zwee, da gibt's nischt zu reden -- machen Se fort, Herr Pilgram, in's
+Bette mit Ihn' --!«
+
+Mit angstvollen, flehenden Blicken hingen des Mädchens Augen an den
+erstarrten Zügen ihres Retters, seiner finster zusammengekrausten Stirn.
+-- Sie schwieg, sie wußte, daß sie nicht länger bitten durfte, wo es um
+seine Gesundheit ging, vielleicht um sein Leben ...
+
+Heiser fragte da Valentin Pilgram:
+
+»Thumser? Warum darf der nicht wissen --? Kennen Sie Thumser?«
+
+Tief senkte das Mädchen den Kopf, stand regungslos, schauerte plötzlich
+in Frösten zusammen. Auch der Student schwieg. In wirrem Grübeln, in
+finstrem Forschen gingen seine dunklen Blicke zwischen dem zitternden
+Mädchen, der hilflos, verständnislos dreinglotzenden Frau hin und wider.
+
+»Kennen Sie Hans Thumser, gnädiges Fräulein?« fragte er noch einmal,
+hart und befehlend. Ein Verdacht reckte sich dräuend in ihm auf. So
+phantastisch, so aberwitzig, daß der Verstand sich sträubte, ihn zu
+formulieren ...
+
+Asta antwortete nicht. Sie sank immer tiefer in sich zusammen. Und
+plötzlich knickte sie in die Knie, ihre Arme fielen auf einen Stuhlsitz,
+das Köpfchen mit den triefenden, zerzausten Flechten glitt in die
+silbernen Falten des Pelzwerks, das sich um ihre Glieder schmiegte, und
+ein jähes Schluchzen durchrüttelte die hingeworfene Gestalt.
+
+Valentin Pilgram begriff ... Das fehlte noch, das war das letzte ... Und
+die ganze, kochende sinnverwirrende Wut, die den Nachmittag über sein
+Inneres verwüstet, schlug in roter Lohe aus den Tiefen seines Wesens
+empor, stieg ihm in die Augen, in die Stirn, in die Fäuste. --
+
+»Der Hund --! Ah, der Hund!« knirschte er. »Sorgen Sie mir gut für das
+Fräulein, Frau Wehe! Adieu!«
+
+Er stürzte hinaus. Die Stubentür, die Korridortür krachten hinter ihm
+ins Schloß.
+
+Asta Thöny war emporgefahren. Blitzschnell schloß sich die
+Gedankenkette: Also der da, ihr Retter, das war Valentin Pilgram -- er,
+den sie kannte aus Hansens Erzählungen, von dem sie wußte, wie er in
+jähem Zorn sich zur Sühne für eine Schmach gedrängt, die ihrer großen
+Kollegin widerfahren ... Und nun, nun stürmte er von hinnen,
+unvollkommen bekleidet wie er war, schäumend vor Wut, wie sie ihn mit
+einem letzten Blick gesehen. Und sein letztes Wort war eine gräßliche
+Drohung für Hans Thumser gewesen. Für ihn, von dem er nicht einmal in
+dieser Not trockene Kleider hatte annehmen wollen.
+
+Das bedeutete Gefahr -- Todesgefahr für den geliebten, den treulosen
+Jungen --!
+
+Todesgefahr --! Noch meinte sie den stählernen Druck des Armes zu
+fühlen, der sie aus dem kalten Flutengraus gerissen, der sie so sicher
+und brüderlich heimgeleitet.
+
+Wehe dem, der diesem Arm verfiel.
+
+Nein, nein ... das nicht, das nicht! Um diesen Preis gerettet zu sein,
+nein, das nicht ... o Gott, das nicht --!
+
+»I herrjemerschnee, Fräulein Thöny, was hat er denn nur, der Herr
+Pilgram, was hat er nur?« stammelte Frau Wehe.
+
+»Still, still!« winkte Asta ab. »Lassen Sie mich einen Augenblick.« Und
+hastig sann sie, wo Hans Thumser nur stecken könne in diesem Augenblick
+...
+
+Ach so -- Mittwoch -- offizielle Kneipe ... Ach, sie kannte den
+Wochenkalender des Korps in- und auswendig. Also im Cafébaum, auf der
+Frankenkneipe ... Und da ... da würde ja auch der Rächer ihn suchen ...
+nein -- das nicht ... o Gott, das nicht --
+
+Und mit einem Ruck stülpte sie das Barett wieder auf, klappte den Kragen
+des Pelzjacketts in die Höhe, und triefend und schlotternd, wie sie war,
+rannte sie an der verblüfften Wirtin vorüber, flog die halbdunkle Stiege
+hinunter, stand auf der Sophienstraße ...
+
+Drüben fluteten dichte Menschenströme, vom Glast der Laternen des
+Carolatheaters überstrahlt, vom Flockengestiebe silbern umflittert, in
+die dunkel gähnenden Pforten des Kassenflurs hinein.
+
+Gott sei Dank, »Piccolomini« --! Asta war dienstfrei. In die erste
+Droschke, die drinnen ihre Fracht abgeladen hatte und aus der dunklen
+Ausfahrt herausrumpelte, sprang Asta hinein, rief im Einsteigen dem
+Kutscher zu:
+
+»Kleine Fleischergasse, Cafébaum, so schnell das Pferd laufen kann --
+einen Taler Trinkgeld sollen Sie haben, wenn's rasch geht!«
+
+Der Wagenschlag klappte, der Kutscher schlug die Peitsche dem Gaul um
+die dampfenden Flanken, und durch die dunklen, schneeverwehten Straßen
+schwerfällig von dannen rollte das Gefährt.
+
+
+
+
+ 13.
+
+
+Auf der Sophienstraße geriet Valentin Pilgram in den Schwall der
+Theaterbesucher hinein, der zum Carolatheater drängte.
+
+Ach so -- ha, ha! natürlich, da spielte man ja Komödie, heut' wie alle
+Abende!
+
+Und Jucunda Buchner natürlich wieder der Stern des Abends, der Zielpunkt
+aller Blicke, die Sehnsucht aller Herzen! Ja gewiß: wie er sich durch
+die Menge schob, auf allen Lippen das leise, andächtig hingesprochene:
+Die Buchner ... die Buchner ...
+
+Der lange Gesell, der im tollen Schneetreiben hemdärmelig und barhaupt
+sich durch die Menge zwängte, machte alles stutzen, alle Hälse sich
+wenden.
+
+»Nanu, was hat denn der? Das is wohl ä Verrickter am Ende! Schutzmann!
+he, Schutzmann! Nähmen Se'n doch feste, den Langen da!«
+
+Nein -- so ging's nicht weiter. Er erwischte eine Droschke, warf sich
+hinein, befahl Katharinenstraße zweiundzwanzig. Er konnte ja auch
+unmöglich so auf Korpskneipe erscheinen, sie hätten ihn da wohl auch für
+wahnsinnig gehalten -- hätten sein Rächeramt, seine heilige Mission, die
+beleidigte Ehre des grün-gold-roten Bandes wiederherzustellen, für einen
+Ausfluß des Aberwitzes genommen. Und dann: es schüttelte ihn. Fieberglut
+und Frostschauer tobten abwechselnd durch seine Reckenglieder.
+
+Herrgott! Dieser alte Klepper wollte gar nicht vom Fleck.
+
+Und doch -- es wurde geschafft. Er flog die Treppe hinauf, langte
+keuchend oben an. Als er den Schlüssel suchte, taumelte er -- das
+Fieber verwirrte sein Hirn. Kaum gelang es ihm, den Schlüssel
+einzustecken -- so leise er konnte, drehte er um, schlich sich auf
+Zehenspitzen durch den dunklen Flur, machte drinnen Licht -- erschrak,
+als er sein fahles Gesicht im Spiegel sah mit den stieren Augen, den
+rotfleckigen Wangen.
+
+Einerlei -- nur fort, nur es zu Ende bringen!
+
+Er riß die triefenden, dunstigen Kleider vom Leibe, die schweißnasse
+Wäsche, zog sich vom Kopf bis zu Füßen frisch an, schauerte zusammen in
+der Siedeglut, die ihn durchrann. Er fühlte sich plötzlich müde zum
+Sterben -- das aufgeschlagene Bett zog ihn magnetisch an. War's nicht
+das beste, da hineinzukriechen, die Decke über die Ohren zu ziehen und
+unterzusinken in bleiernes Vergessen ...?
+
+Aber nein -- das ging ja nicht. Die Mission! die Mission ... Abrechnung
+mußte gehalten werden. -- Sauber mußte die Welt wieder werden ... Der
+Schandfleck mußte weg ... Und mit fliegenden Händen kleidete er sich an.
+Taumelte abermals, als er die Stiefel anziehen wollte, biß die Zähne
+zusammen, bezwang die todgleiche Erschlaffung.
+
+Als er vor dem Spiegel die Halsbinde zu schlingen versuchte, versagten
+die Hände. Da knüpfte er nur die Enden in einen wüsten Knoten, stülpte
+statt des Hutes, der draußen an der Pleiße geblieben, eine
+schwarzseidene Mensurmütze auf, hing statt des Winterpaletots, den er
+ebenfalls im Schnee gelassen, einen dünnen Sommerhavelock um ... und nun
+fort -- fort ...
+
+Er warf einen Blick auf die Uhr -- dreiviertel neun, gerade recht. Die
+offizielle Kneipe mußte eben begonnen haben, und bis zur Kleinen
+Fleischergasse waren's ja nur zwei Minuten.
+
+Halt! Einen Stock brauchte man noch, man konnte nicht wissen ...
+
+Nun, so mochte es schon das silbern beschlagene spanische Rohr sein, die
+Dedikation seines Leibburschen. Daß er kein Recht mehr hatte, dieses
+Stück zu führen, das mit dem Zirkel Franconias geschmückt war, was
+verschlug's in dieser Stunde --?! Es war eben doch ... ein Stock ...
+
+
+Noch einer war an diesem Nachmittage bis tief in den endlosen
+Novemberabend hinein draußen im Schnee umhergeirrt: Hans Thumser.
+
+Als er aus Jucundas Zimmer gestürzt, an dem verblüfften Erbprinzen
+vorüber, da war es auch ihm unmöglich gewesen, es auszuhalten zwischen
+den hastenden Menschen, den keuchenden, dampfenden Droschkengäulen, in
+den engen, finstern Straßen, unter den blinzelnden Laternen.
+
+Er war ins Rosental geraten und stundenlang durch die schweigende
+Einsamkeit des schneeverwehten Parks geirrt.
+
+Ha! ha! Also so lief die Karre! Freilich, freilich! Wenn Fürstengnade
+winkte, was galten da ein paar armselige Studentlein ...? Denen spielte
+man eine nette kleine Komödie vor: Hilflose, beleidigte,
+schutzbedürftige Unschuld dem einen, glühendes Verständnis, tiefinnige
+Seelenharmonie dem andern ... Und dann -- dann ließ man einfach im
+rechten Augenblick den Vorhang fallen, und ein neues Stück fing an.
+
+Komödie -- Komödie -- jedes Wort, jeder Blick, nichts als Reminiszenzen
+aus abgespielten Stücken, nichts als der Nachhall erlogenen,
+erheuchelten Gefühls ... Komödie ... Komödie ... Komödie --!
+
+War das nicht Strafe? War dieser Abfall, diese Blamage, die fressende
+Scham -- da drinnen -- war das alles nicht verdient?! Hatte nicht auch
+er selber leichtherzig den Vorhang fallen lassen über einem lieblichen
+Spiel voll erster Seligkeit, voll flammender Glut und reizender
+Tändelei, das die vergangenen Wochen seinem jungen Leben beschert
+hatten?
+
+War er besser als jene Jucunda? Er, der danklos und roh die Gesellin so
+köstlicher Entzückungen beiseite geschoben, um diesem gleißenden Phantom
+nachzujagen, das heute vor seinen entsetzen Augen die Larve hatte fallen
+lassen?
+
+Asta! Asta! Dich hatte ich. Du hast dich mir geschenkt ... und ich ließ
+dich los und rannte einem Irrwisch nach ...
+
+Ja, Hans Thumser ging streng mit sich ins Gericht. Er kam sich so klein
+vor, so dummejungenhaft, so unwert alles dessen, was die vergangenen
+Wochen ihm in den Schoß geworfen. Eine jähe Sehnsucht kam über ihn, sich
+in Astas Arme zu flüchten, die Stirn an ihre Knie zu drücken und um
+Verzeihung zu betteln.
+
+Und doch -- Knabentrotz und Knabenscham jagten ihn immer tiefer in die
+Schneewildnis hinein. Jetzt vor Asta hintreten und bitten: vergiß --?!
+
+Sie würde sogleich begreifen, daß er -- nun, daß er eben ... abgefallen
+war bei Jucunda. Und würde sie dann nicht triumphieren, sich bedanken
+für das Vergnügen, ihn über seinen Abfall trösten zu sollen?
+
+Nein -- das ging nicht. Das mußte man allein hinunterwürgen. Ha ha!
+Gab's nicht ein Mittel, die Qual dieser Beschämung, dieser
+fürchterlichen Blamage abzukürzen? Wozu war man denn Student --
+Korpsstudent -- Fuchsmajor?! Und wozu heut abend offizielle Kneipe?
+
+Ganz recht: besaufen werden wir uns! einen Eimer Bier in uns
+hineinpumpen, bis wir mitsamt der ganzen Corona der Füchse unterm Tisch
+liegen und den Himmel für 'nen Dudelsack ansehen. Hol' der Teufel die
+Weiber --!
+
+Und morgen früh auf dem Fechtboden -- Filzmaske aufgesetzt, drauflos
+gedroschen, solange Arm und Schädel halten wollen --!
+
+Kaum konnte Hans die Stunde der offiziellen Kneipe erwarten. Als er zum
+Cafébaum schlenderte, grinsten ihm von allen Anschlagsäulen die riesigen
+Lettern entgegen:
+
+ »Wallensteins Lager«
+ »Die Piccolomini«
+
+Pah! was für Hieroglyphen waren das eigentlich?! Was ging das alles ihn
+an? Pah, die Meininger! Pah! Schiller --!
+
+Komödie ... Komödie!
+
+Damit war man fertig, das mußte versunken sein und vergessen. -- Und was
+stand ganz unten am Rande des Zettels?
+
+ »Freitag: Wallensteins Tod« --?!
+
+Ja, hatte man gestern nicht selbst probiert, sollte morgen früh wiederum
+probieren für die Komödie von übermorgen? Hatte man nicht im Eisenwams
+der Pappenheimer Kürassiere gesteckt und sich als Friedländischer
+Reitersknecht gefühlt, eine Stunde lang?
+
+Lüge, alles Lüge ... äffisches Spiel mit längst verpulster Glut, längst
+verschütteter Leidenschaft -- Komödie das alles! Unwürdig des jungen
+sehnenden Menschentums, das man in allen Knochen fühlte, das leidend
+sich aufkrampfte gegen die Not der Stunde -- das nach wildem Rausch,
+nach taumelnder Betäubung sich sehnte, das sich selbst vergessen wollte
+und vergessen alles um sich her --!
+
+Nein -- Hans Thumser wird niemals wieder Komödie spielen ...
+
+Hans Thumser wird mehr nicht sein wollen, als er ist: ein ungarer,
+unfertiger Mensch, dessen verdammte Pflicht und Schuldigkeit das eine
+nur ist: zu lernen, zu arbeiten, sich zu stählen für die kommenden
+Kämpfe des wahren, des wachen Lebens. Morgen, morgen soll's beginnen --
+heut aber: Bier her! Saufen bis zum Umsinken! Vergessen ... vergessen
+... vergessen ...
+
+Da war der »Cafébaum«. Da winkte vom Sims des ersten Stockwerks das
+dreifarbene Schild, schneeüberlagert. Und der steingemeißelte riesige
+Türke, der sich von dem feisten kleinen Putten die Mokkaschale kredenzen
+läßt, trug über seinem steinernen Turban einen doppelt so hohen aus
+Schnee ...
+
+Nun die enge, muffige Stiege hinauf, nun die Klingel gezogen. Drinnen
+lärmten schon die Korpsbrüder, die sich zum gewohnten Zechgelage
+versammelten. Als der Korpsdiener öffnete, empfing den Ankömmling schon
+auf dem Korridor, wo rings die grünen Kneipjacken mit den rot und
+goldenen Schnüren an den Wänden hingen, lautes Hallo.
+
+Volkner, der Senior, hatte geschwatzt: er war Hans Thumser begegnet, als
+dieser mit einem mächtigen, seidenpapierumhüllten Rosenstrauß in das
+Haus Katharinenstraße zweiundzwanzig hineingegangen war. Daß dieser
+Besuch nicht etwa dem früheren Korpsbruder Pilgram gegolten habe, das
+hatte der Blumenstrauß verraten. Wo also konnte Thumser gewesen sein als
+bei Jucunda Buchner? Halb mit Ulk und halb mit Neid empfing man den
+Glücklichen. Der Name Jucundas war ein bißchen verdächtig von dem Fall
+Pilgram her. Obwohl der weiland Senior sich bei den Besuchen der
+früheren Korpsbrüder hartnäckig über seine Beziehungen zu der Diva
+ausschwieg, hatten die Korpsbrüder doch allmählich herausbekommen, daß
+jenem sein ritterliches Eintreten für das gekränkte Mädchen wenig Dank
+eingetragen hatte ...
+
+Sich mit Jucunda Buchner einzulassen, das hatte also beinahe schon einen
+Beigeschmack von Komik und drohendem Hereinfall ...
+
+Und dennoch ... der Duft des Lorbeers, der eine ganze Stadt berauschte,
+zog wie lichter Weihrauchdunst auch durch die Hirne, welche die grünen
+Mützen bedeckten ...
+
+Der Schwall der Neckereien, die sich über Hans Thumser ergossen, ging
+ihm heiß in das siedende Blut -- immer wilder schwoll die sinnlose
+Saufstimmung in ihm empor.
+
+»Füchse, _ad loca_!« brüllte er und nahm am unteren Ende der Kneiptafel
+Platz, auf dem hochlehnigen Stuhl, der in Eichenschnitzerei die
+Märchengestalt eines aufrechtstehenden Fuchses zeigte, in Cerevis,
+Couleurband und Kanonenstiefeln, den Vorderlauf mit einem Schläger
+bewehrt. Und um ihren jungen Herrn und Meister zur Rechten und zur
+Linken scharte sich die Fuchscorona, sieben junge Bürschlein, darunter
+vier Krasse, die erst seit ein paar Wochen der Zucht ihres
+Schulmeisters entronnen waren, um der noch viel gestrengeren des
+Fuchsmajors zu verfallen -- und drei Brander, Wangen und Nasen schon mit
+den ersten Dokumenten bewährten Mensurschneids verziert.
+
+»Füchse, ich komm Euch den ersten und den zweiten Halben!« rief Hans
+Thumser und schüttete das volle Glas hinunter, das der Korpsdiener vor
+ihn hingesetzt.
+
+Gleichzeitig beschied auch der Senior Volkner alles, was der Fuchtel des
+Fuchsmajors bereits entwachsen war, an das obere Ende der Kneiptafel:
+die Korpsburschen, die Inaktiven der Kartell- und befreundeten Korps,
+die sich in Leipzig studienhalber aufhielten und beim Korps verkehrten,
+und einzelne Alte Herren aus der Stadt, die sich dann und wann zu den
+Zusammenkünften des Korps einfanden.
+
+Und nun entwickelte sich das altvertraute Bild: von allen Wänden
+schauten die Wappenschilder, die gekreuzten Fahnen und Schläger, die
+Ehrenhumpen und silberbeschlagenen Trinkhörner, die zahllosen
+jahrzehntealten Gruppenbilder, Silhouetten, Porträte der einstigen
+Mitglieder des Bundes auf die zechende und lärmende Schar herunter.
+
+Mit zeremoniellem Anstand erhob sich der Erste:
+
+»_Silentium!_ Wir trinken zur Eröffnung einer fidelen, offiziellen
+Kneipe unser Glas in Gestalt eines Schoppens Salamander! _Ad exercitium
+salamandri_ -- eins, zwei, drei!«
+
+In langen Güssen kollerte der erste Ganze in die zechbereiten Mägen,
+rasselnd wirbelte der Salamander und endete mit einem krachenden
+Aufklappen aller Gläser auf die massive Eichenplatte der Kneiptische.
+
+»_Silentium!_« klang da wieder die Stimme des Präsidenten: »Wir singen
+als erstes offizielles Lied auf Seite 159: Brüder, zu den festlichen
+Gelagen ...«
+
+In rauhem, taktfestem Unisono schwoll das Lied durch den niedern Raum,
+in dem das Brandopfer der Pfeifen und Zigarren sich mystisch über der
+Sängerschar emporkreiselte:
+
+ »Brüder, zu den festlichen Gelagen
+ Hat ein guter Gott uns hier vereint,
+ Allen Sorgen laßt uns jetzt entsagen,
+ Trinken mit dem Freund, der's redlich meint.
+ Da, wo Nektar glüht,
+ Holde Lust erblüht,
+ Wie den Blumen, wenn der Frühling scheint.«
+
+Und Hans Thumser fühlte beglückt, wie die dumpflastende Beklemmung der
+einsamen Spätnachmittagstunden von ihm abfiel, und in grimmigem Behagen
+stürzte er sich hinein in den schäumenden Strudel des Gelages, spürte,
+wie alles, was ihn so im Tiefsten erschüttert, verschwamm, versank,
+verflog -- und nichts mehr war, als der tolle Rausch der Stunde.
+
+»Füchse! Ich komme Euch den elften und zwölften Halben!«
+
+ »Lasset nicht die Jugendkraft verrauchen,
+ In dem Becher winkt der goldne Stern!
+ Honig laßt uns von den Lippen saugen,
+ Lieben ist des Lebens süßer Kern!
+ Ist die Kraft versaust,
+ Ist der Wein verbraust,
+ Folgen, alter Charon, wir Dir gern!«
+
+-- so verscholl das hellaufrauschende Lied ...
+
+»_Silentium_ -- schönes Lied _ex_! Ein Schmollis den Sängern!«
+
+Da trat der Korpsdiener ein. Das glänzende Bemmchengesicht verstört,
+fassungslos. Er schlich sich zu dem ragenden Stuhl des Ersten heran,
+flüsterte mit vorgehaltener Flosse seinem jungen Herrn etwas ins Ohr,
+das diesen stutzen und auffahren machte. Einen Augenblick sann Volkner
+nach -- dann flüsterte er dem Korpsdiener zu:
+
+»Es ist gut -- sagen Sie's Herrn Thumser -- er mag hinausgehen.«
+
+Mit scharfen Blicken verfolgte Volkner den Gang des Korpsdieners, der
+sich nun mit so lächerlicher Behutsamkeit, als tripple er auf Eiern,
+hinter den Stühlen seiner Herren entlang zum Fuchsmajor schob und auch
+diesem seine Botschaft zuraunte:
+
+»Entschuld'gen Se, Herr Thumser -- da draußen is Sie nämlich der Herr
+Pilgram -- der läßt Ihn' bitten, ob Se nich mächten so freindlich sinn
+und gomm'n een Augenblickchen auf'n Flur -- er hat 'n ä wicht'ge
+Mitteilung zu machen!«
+
+Ganz deutlich sah Volkner, wie Thumser zusammenschrak, hastig aufsprang,
+einen Augenblick nachsann, dann mit einem fragenden Blick die Erlaubnis
+erbat, die Kneiptafel zu verlassen. Nachdem Volkner Gewährung genickt,
+bat Thumser den ihm zunächst sitzenden Korpsburschen, ihn in seinem Amt
+als Vorsitzender der Fuchsentafel eine Weile zu vertreten. Dann raffte
+er sich zusammen und schritt aufrecht, doch blaß, mit zusammengezogenen
+Brauen zur Tür hinaus.
+
+Als er mit dem Korpsdiener durch das anstoßende Konventszimmer schritt,
+flüsterte der Alte ihm zu:
+
+»Se missen nämlich wissen, Herr Thumser, es is Sie schon vor eener
+Viertelstunde eene sähre hiebsche, junge Dame dagewesen und hat mich
+gefragt, ob der Herr Pilgram mächte uff der Kneipe sinn. Nu, da hab'ch
+ihr natierlich nur kennen sagen, daß der Herr Pilgram ieberhaupt nich
+mehr wirde uff Kneipe komm' -- und da is se denn wieder abgemacht. Ich
+kann Ihn' nur sagen, Herr Thumser, sähr ä hiebsche Dame is es gewesen!
+Nobel, püh, ich kann Ihn' sagen, Herr Thumser --!«
+
+Hans Thumser war einen Augenblick stehengeblieben. Wirre Vermutungen
+schossen hin und wider. Pilgram --? Und eine Dame, die nach Pilgram
+fragte? Was für unwahrscheinliche Begebenheiten -- auch nicht den
+Schimmer eines Verständnisses fand Hans.
+
+Wer konnte die Dame sein, die Pilgram auf der Frankenkneipe vermutete
+--? Was wollte Pilgram von ihm selber --?!
+
+Nun -- man würde ja hören ... Und abermals straffte Hans den Nacken und
+öffnete die Tür zum Korridor.
+
+
+Herzklopfend, von Glut und Frost hin und wider geschüttelt, war Asta
+Thöny vor dem Cafébaum aus der Droschke in den weichen Schnee
+gesprungen, der nun schon fußtief Bürgersteig und Fahrdamm der schmalen
+Gasse überzog. Ob ihr Retter wohl schon drüben sein mochte?
+
+Hell erleuchtet glänzten die Fenster des ersten Stocks in das
+schummerige Dunkel der Straße hinaus, während die ragenden Fronten der
+geschwärzten Gebäude ringsum nur noch wenige matte Lichtspuren zeigten.
+Auf der Kleinen Fleischergasse wohnte nur bescheidenes Bürgertum, da
+ging man früh zur Rast.
+
+Asta trat auf das jenseitige Trottoir und spähte hinauf. Ab und an
+huschte droben schattenhaft der Umriß einer jungen bemützten
+Männergestalt vorüber. Durch die verschlossenen Doppelfenster drang
+Lachen, vielstimmiges Gespräch, Tabakwolken kräuselten zur Decke,
+Wappenschilder, Schläger blinkten an den Wänden -- sonst war nichts zu
+erkennen.
+
+Es blieb nichts übrig: Asta mußte sich in das dunkle jahrhundertalte
+Gebäude hineinwagen, mußte fragen, ob droben Herr Pilgram schon
+eingetroffen. Mit versagendem Herzschlag kletterte sie die winklige,
+dunstige Stiege hinan, hielt einen Augenblick vor der Tür still, an der
+ein grün-gold-rotes Farbenschild angebracht war und ein längliches
+Porzellanschildchen mit der Aufschrift:
+
+ »Corps Franconia.«
+
+Drinnen klang lauter nun Lärm und Gelächter. Was half's -- sie mußte es
+wagen ...
+
+Eine schrille Klingel schlug an, Schritte tappten heran, ein ältliches,
+gerötetes, glattrasiertes Männergesicht lugte durch den Spalt und
+blinzelte befremdet, als es des ungewohnten Besuches ansichtig ward.
+
+Mit stammelnden Lippen fragte Asta, ob Herr Pilgram schon angekommen.
+Verblüfft grinste der Türhüter und erklärte: Herr Pilgram gehöre nicht
+mehr zum Korps, er komme überhaupt nicht mehr.
+
+Gottlob -- also jedenfalls noch nicht zu spät gekommen ...
+
+Und Asta huschte wieder die Treppe hinunter, stapfte in den Schnee
+hinaus und patrouillierte auf dem jenseitigen Bürgersteig,
+frostgeschüttelt, erwartungfiebernd.
+
+Ab und zu kam noch eine grünbemützte Jünglingsgestalt und bog in den
+schlechterleuchteten Flur des Cafébaums ein. Von Pilgram keine Spur! --
+Ob er seinen Vorsatz aufgegeben hatte? Sie wußte ja nicht, was er
+eigentlich geplant hatte, aber etwas Grausames, etwas Wildes, etwas
+Schauerliches mußte es gewesen sein! Davon hatten seine Züge deutlich
+genug gesprochen. Und geduldig trippelte das Mädchen auf und ab, ohne
+einen Blick von dem schmalen Lichtspalt zu wenden, der durch die
+angelehnte Tür des Restaurants auf die Straße lugte.
+
+Der Schneefall hatte aufgehört. In winterlicher Schwermut gähnte die
+menschenleere Straße. Und in die lautlose Stille, welche die abendliche
+Stadt überlagerte, klang nun von drüben ein munterer Burschensang,
+gedämpft durch die Doppelfenster, doch deutlich vernehmbar. Die Weise
+meinte Asta zu kennen, aber Worte dazu wußte sie nicht. Ach, da oben war
+er, der liebe, böse Junge ...
+
+Schau! zur Rechten, vom Marktplatz her glitt lautlos ein riesiger
+Schatten heran, scharf abgezeichnet von dem weißen Grunde der Straße,
+vom gelben Lichthof, den die Laternen in die Nebel der Nacht zeichneten.
+
+Er war's! Mit raschen Schritten steuerte er dem »Cafébaum« zu. Da schoß
+Asta über den schmalen Straßendamm, traf hart an der Tür auf Pilgram:
+
+»Herr Pilgram -- ach, Herr Pilgram!«
+
+Gesenkten Blickes war jener geschritten, nun schrak er zusammen bei der
+unerwarteten Begegnung.
+
+»Ah -- Sie, mein gnädiges Fräulein? -- Ja, um Gottes willen, sind Sie
+denn toll? Warum nicht im Bett -- warum hier -- was soll das heißen?!«
+
+»Ich hatte solch entsetzliche Angst, Herr Pilgram!«
+
+»Angst? Was fällt Ihnen ein! Angst? Um wen?«
+
+»Um Sie, Herr Pilgram, um Sie und ... ach! Sie wissen's ja ... um wen --
+um wen noch. Herr Pilgram, ich bitte Sie -- ich flehe Sie an, was haben
+Sie vor gegen Herrn Thumser?«
+
+Flehend hatte sie mit beiden Händen den linken Arm des Studenten
+umklammert.
+
+»Aber Verehrteste ... ich begreife faktisch nicht ... wie kommen Sie auf
+derartige Vermutungen?«
+
+»Ach, ich weiß ... ich weiß ... Sie wollen sich rächen an Herrn Thumser!
+Ich weiß alles -- alles weiß ich ... Fräulein Buchner, meine Kollegin --
+Sie sind für sie eingetreten damals ... und dann ... dann hat sie sich
+schlecht gegen Sie benommen ... und Sie, Sie hatten doch so viel für sie
+dahingegeben, nicht wahr, so war's doch? Und heut -- heut ist Herr
+Thumser bei Fräulein Buchner zum Tee gewesen, nicht wahr? ... Und Sie,
+Sie haben das gehört und sind wütend auf ihn -- weil Sie denken, er hat
+mehr Glück bei Fräulein Buchner als Sie nicht wahr? O, gestehen Sie's
+nur, es ist ja keine Schande -- und dann, dann haben Sie mich gefunden
+da draußen und denken, er hat mich auf dem Gewissen ... Sie sehen, ich
+weiß, ich weiß alles. Und nun, nun wollen Sie ihn -- ich weiß nicht, was
+Sie mit ihm machen wollen, aber etwas Schreckliches ist's gewiß. Sehen
+Sie -- Sie schweigen -- sehen Sie, ich habe alles begriffen, alles!
+Ist's nicht so?«
+
+Mit zusammengekniffenen Lippen, die Augen fast geschlossen, regungslos
+hatte Valentin Pilgram den Schwall dieser bebenden Fragen über sich
+dahinschauern lassen. Mit grimmiger Scham fühlte er sich durchschaut,
+fühlte den geheimsten Trieb seines Wollens bloßgelegt, den er vergeblich
+mit dem lügnerischen Pomp eines Rächers verratener Ehre verhüllt hatte,
+und der doch nichts anderes war im letzten Grunde als der Neid des
+Verschmähten gegen den Glücklichen, als Eifersucht -- ganz ordinäre,
+banale Eifersucht ...
+
+Doch nein, das war ja nicht wahr -- das durfte ja nicht wahr sein! Da
+oben klang der muntere Burschensang -- da oben tafelte die Runde derer,
+die sich Mitglieder des ältesten Korps der Hochschule nennen durften,
+die das grün-gold-rote Band tragen durften, das nur den Makellosen
+schmücken soll. Und in ihrer Mitte saß einer, der doppelten Verrats
+schuldig war: an dem Gefährten dreier Semester und an der Gesellin
+glückseliger Liebesstunden.
+
+Und er --? Er hatte auf all das verzichtet, verzichten müssen um der
+Ehre willen. Hatte das einen Sinn? Durfte das so bleiben? Nein, beim
+Himmel, das sollte es nicht, solange es einen Valentin Pilgram gab. Wenn
+er denn schon selber die geliebten Farben nicht mehr tragen durfte,
+deren er doch wahrhaft würdig war wie einer, sollte dann der andere sich
+mit ihnen brüsten dürfen, der das Recht auf sie schmählich verscherzt
+hatte ...?!
+
+»Herr Pilgram,« klang's da in schmelzendem Flehen neben ihm, »so
+sprechen Sie doch! Bitte, bitte, so sprechen Sie doch, habe ich nicht
+recht?«
+
+»Mein verehrtes Fräulein,« sagte der Student, indem er seinen linken
+Arm der flehenden Umschlingung entzog, »ich bedaure, Ihnen über mein
+Tun und Lassen keine Rechenschaft ablegen zu können. Es mag sein, daß
+ich etwas Aehnliches, wie Sie denken -- nun, daß ich ... das gewollt
+habe ... und noch will. Wenn es so ist, so dürfen Sie überzeugt sein:
+ich weiß genau, was meine Pflicht ist ... Und darum muß ich Sie schon
+bitten, mich gewähren zu lassen.«
+
+Da trat ihm das Mädchen in den Weg, legte beide Hände auf seine
+Schultern, brennende Augen starrten zu ihm empor, aus denen Tränen
+rannen, hell aufblitzend im matten Lichtstreifen, der aus der Flurtür in
+den Schnee der Gasse fiel:
+
+»Nein -- nein, das dürfen Sie nicht! Mir zuliebe dürfen Sie's nicht ...
+Ja, es ist wahr, wegen dem da oben hab' ich heute das Leben wegwerfen
+wollen -- nun haben Sie mich gerettet -- aber wenn Sie ihm etwas zuleide
+tun, dann ist alles aus, dann hätten Sie mich nur lieber gleich da unten
+in der Pleiße lassen sollen ... Ich will nicht, daß ihm ein Leids
+geschieht um meinetwillen -- ich will's nicht -- und Sie, Sie dürfen's
+nicht -- Sie dürfen mich nicht wieder dahin zurückstoßen, woher Sie mich
+heut abend geholt haben -- nein! Herr Pilgram, das dürfen Sie nun und
+nimmermehr.«
+
+»Gnädiges Fräulein,« sagte Valentin, »wenn es Sie beruhigen kann, so
+will ich Ihnen versichern: das, was jetzt gleich geschehen wird, war
+beschlossene Sache schon ehe ich Sie ... da draußen ... fand. Ich kann
+mich nicht darauf einlassen, Ihnen das alles so auseinanderzusetzen. Was
+Sie von mir denken mögen oder nicht denken mögen -- ich kann's bedauern,
+aber ich kann's nicht ändern. Das alles muß nun seinen Lauf gehen.
+Versuchen Sie nicht mich aufzuhalten, es hat keinen Zweck.«
+
+Es sollte wohl nur ein sanfter Druck sein, mit dem die hageren Hände des
+weiland Frankenseniors die runden Gelenke der Schauspielerin von seinen
+Schultern lösten, doch er war unwiderstehlich, wie das Zupacken
+stählerner Zangen. Mit der gleichen unerbittlichen Gewalt, mit der er
+vor wenig Stunden des Mädchens Glieder der Flutenumschlingung entrissen,
+schob er sie nun zur Seite, wie ein willenloses Püppchen, und war mit
+zwei raschen Schritten im gähnenden Toreingang verschwunden.
+
+Asta taumelte, als der Druck der gewaltigen Hände plötzlich nachließ.
+Dabei trat sie unversehens einen halben Schritt rückwärts, geriet mit
+dem Fuß in den lockeren Schneeaufwurf über dem Rinnstein, sank tief ein,
+strauchelte, fiel in die Knie, stieß einen Schmerzenslaut aus: sie mußte
+sich den Fuß verstaucht haben. Aber die heiße Angst um das, was werden
+mochte, jagte sie wieder empor. Sie humpelte mit schmerzverzogenem
+Gesicht zur Tür, stieß sie auf, lauschte hinein. Droben auf der Treppe
+waren Pilgrams Schritte schon verhallt. Nur das Burschenlied brauste
+noch immer weiter, klang und schwang durch das ganze altersmüde Gebäude.
+In dem kleinen Restaurant des Erdgeschosses zur Linken das schläfrige
+Stammtischgeschwätz, das Auftrumpfen der Karten, das Klappern der
+Biergläser. Asta schlich durch den Hausflur, hinkte mühsam die Treppe
+hinauf, stand wieder an der Tür mit dem Porzellanschildchen: Corps
+Franconia, legte das Ohr an die dünne Holzwand und lauschte.
+
+Ganz deutlich dröhnte nun ein neuer Vers des feierlichen Liedes da
+drinnen, dazwischen halblaute Stimmen, es schien Pilgram zu sein,
+welcher im Flur mit dem alten Mann verhandelte, der sie vorhin an der
+Pforte beschieden. Aber dies leise Gespräch blieb unverständlich,
+dagegen war der Text des Liedes Wort für Wort zu verstehen. In frohem
+Trotz scholl die alte Jugendweise daher:
+
+ »Lasset nicht die Jugendkraft verrauchen,
+ In dem Becher winkt der gold'ne Stern!
+ Honig laßt uns von den Lippen saugen,
+ Lieben ist des Lebens süßer Kern!
+ Ist die Kraft versaust,
+ Ist der Wein verbraust,
+ Folgen, alter Charon, wir Dir gern!«
+
+Und nun plötzlich war das Lied zu Ende, ein paar unverständliche,
+kommandoartige Worte klangen von drinnen, ein lustiger Aufschrei von
+vielen Stimmen, dann munter durcheinander schwirrendes Stimmengewirr.
+Einige Sekunden verflossen so: dann hörte Asta ganz deutlich, wie
+drinnen eine Tür heftig aufgerissen wurde und jemand in den Flur trat --
+und jetzt klang drinnen gedämpft, doch klaren, festen Klanges des
+geliebten Jungen Stimme:
+
+»Guten Abend, Pilgram -- Du hast mich zu sprechen gewünscht? Bitte, was
+steht zu Deinen Diensten?«
+
+Da fühlte Asta, wie der Puls ihres Herzens aussetzte. Ganz fest preßte
+sie ihr Ohr an das glatte, ölgestrichene Holz, ihre froststarren Hände
+umklammerten krampfhaft den messingenen Türgriff, und in schlotterndem
+Lauschen vernahm sie jedes Wort, das drinnen gesprochen wurde, vernahm
+sie alles, was drinnen geschah ...
+
+
+Hochaufgerichtet standen die zwei schlanken Jünglingsgestalten einander
+drinnen gegenüber in dem schmalen Flur, den nur eine schwelende
+Petroleumlampe erleuchtete. Rechts und links hingen Kneipjacken und
+Garderobenstücke an den Regalen, welche die Wände umzogen -- ein fader
+Dunst von altem Tabak und Bierneigen füllte den dumpfen Raum. Hinter der
+mittleren Tür, die zum Kneipzimmer führte, klang heftiges Stimmengewirr,
+das stiller und stiller ward. Offenbar war man drinnen aufmerksam
+geworden, daß hier draußen sich Ungewöhnliches vollziehe, wartete man
+gespannt, wie das wohl werden möchte.
+
+Hans Thumser hatte Pilgram die Hand hingestreckt. Der übersah sie, griff
+stumm in die Brusttasche seines Rockes und reichte Hans Thumser einen
+Brief hin.
+
+»Lies!« sagte er.
+
+Hans ließ die erstaunten Blicke hin und wider gleiten zwischen dem
+Schreiben und dem, der es ihm gereicht, dann trat er in den Lichtbereich
+des mattglänzenden Flurlämpchens und erkannte, daß der Brief mit
+fahrigen, steilen Schriftzügen einer Frauenhand bedeckt war:
+
+ »Sehr geehrter Herr! Ihr dankenswertes Eintreten für meine Ehre hat
+ schnell den gewünschten Erfolg gehabt. Die beiden Herren, welche mir
+ zu nahe getreten waren, haben mündlich bei mir um Entschuldigung
+ gebeten. Ich danke Ihnen innigst für das große Opfer, das Sie mir
+ gebracht haben ...«
+
+Verblüfft ließ Hans den Brief sinken:
+
+»Was soll ich damit?« fragte er, »was geht das mich an?!«
+
+»Dreh doch gefälligst einmal den Bogen um!« befahl Pilgram in
+ingrimmiger Ruhe.
+
+Hans wandte den Bogen um und entdeckte mit grenzenlosem Staunen rechts
+an der unteren Ecke der vierten Seite, auf dem Kopfe stehend, seine
+Initialen und darüber den Frankenzirkel. Er drehte den Bogen um, und
+richtig: es war kein Zweifel, das war einer von seinen eigenen
+Briefbogen. Völlig verdutzt sah er den einstigen Korpsbruder an, um
+dessen festgeschlossene Lippen ein mattes Lächeln des Triumphes irrte.
+
+»Von wem ist der Brief?« fragte Hans Thumser mit unsicherer Stimme.
+
+»Spiel' mir gefälligst keine Komödie vor!« brauste Pilgram auf.
+
+»Aber ich versichere Dir, ich habe nicht den leisesten Schimmer.«
+
+»Pfui Deubel -- nicht mal den Mut hast Du ... Gib her den Brief! Und nun
+weiter! Warst Du heut' nachmittag bei Fräulein Buchner?«
+
+»Aber ich verstehe faktisch nicht,« stammelte Hans. »Wenn ich Dir sage,
+daß ich auch nicht die entfernteste Ahnung habe --!«
+
+»Ich frage Dich, ob Du heut nachmittag bei Fräulein Buchner warst? Gib
+Antwort -- oder ich mache kurzen Prozeß mit Dir!«
+
+Nun richtete sich Hans denn doch aus der unsicheren Haltung verlegenen
+Staunens zu seiner ganzen Größe auf. Zwar reichte er nicht an die
+riesige Länge des einstigen Freundes, aber gleich straff emporgereckt
+stand er ihm gegenüber, sah ihm von unten frei und trotzig ins Gesicht,
+und funkelnd, wie zwei Säbelklingen in der Auslage, so blitzten das
+braune, das blaue Augenpaar einander an.
+
+»Ich frage Dich,« sprach er kalt gemessen, »was Dich berechtigt, mich in
+einem derartigen Ton zur Rede zu stellen?«
+
+»Das weißt Du.«
+
+»Nein, ich weiß es nicht. Ich wünsche es von Dir zu hören.«
+
+»Ich verzichte darauf, Dir Aufklärung zu geben. Ich wiederhole Dir meine
+Frage -- willst Du antworten?!«
+
+»Wer mich in diesem Tone fragt, bekommt keine Antwort!«
+
+»Schön! Was wirst Du nun aber sagen, wenn ich Dir mitteile, daß in
+derselben Stunde, in der Du bei Jucunda Buchner warst, Fräulein Asta
+Thöny am 'Wassergott' in die Pleiße gesprungen ist --?!«
+
+Da wurde Hans Thumsers fester Blick plötzlich stier und starr. Die
+Kinnbacken klappten herunter, langsam schob sich seine Rechte an der
+Brust empor, glitt tastend nach dem Achtzentimeterkragen.
+
+»Das ist ... das ist nicht wahr!«
+
+»Mein Ehrenwort, daß es wahr ist ... und Du weißt, scheint's, auch, wer
+sie hineingetrieben hat?!«
+
+Da umklammerte Hans Thumser plötzlich mit beiden Händen des ehemaligen
+Korpsbruders Arm und stammelte, schlotternd vor Entsetzen:
+
+»Sie ist tot?!«
+
+Valentin Pilgram machte sich frei, trat einen halben Schritt zurück.
+
+»Ich hatte das Glück sie zu retten ... bedank' Dich also bei mir, daß Du
+nicht als Mörder vor mir stehst.«
+
+Ein stöhnender Laut, ein Jauchzen halb und halb ein Schluchzen brach aus
+Hans Thumsers Brust zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor:
+
+»Erzähl' doch -- so erzähl' mir doch.«
+
+»Nein,« sagte Valentin Pilgram hart, »Du hast Fräulein Thöny von Dir
+gestoßen -- es mag Dir genügen, daß sie lebt -- alles weitere geht Dich
+nichts mehr an.«
+
+»Also was willst Du von mir?« schrie Hans Thumser, »sag' mir endlich,
+was Du von mir willst?!«
+
+»Du sollst bekennen, daß Du ein elender, wortbrüchiger Bube bist ... Du
+sollst das Korpsband da abziehen ... Du verdienst nicht mehr, es zu
+tragen. Willst Du? Oder soll ich Dich dazu zwingen?«
+
+Da straffte sich Hansens Gestalt aufs neue. Seine Fäuste ballten sich,
+als erwarteten sie den Angriff des Feindes -- ja, des Feindes, denn was
+in den blauen Augen drüben düster flammte, war Feindschaft --
+Todfeindschaft ...
+
+»Versuch's!« sagte er nur.
+
+In diesem Augenblick ward die Tür zum Kneipzimmer hastig von drinnen
+aufgerissen, blendender Lichtglanz quoll hervor, und hinter der Tür,
+Kopf an Kopf, drängte sich das Korps: ein zu Tode erschrockenes
+Jungmännergesicht hinter dem andern, ganz hinten stand man auf Stühlen
+und Tischen, um das entsetzenerregende Schauspiel zu erreichen, wie da
+zwei Jünglinge, die einst die gleichen Farben getragen, auf Leben und
+Tod einander gegenüberstanden.
+
+»Pilgram! Thumser!« schrie alles durcheinander, »um Gottes willen, was
+habt Ihr nur?!«
+
+Gleichzeitig schlug mit gellendem Schrillen die Etagenklingel an, und
+gegen das Holz der Flurtür hämmerten matte Schläge, wie von einem zarten
+Kinderhändchen. Und wie ein Schrei klang draußen das wimmernde Flehen
+einer Frauenstimme:
+
+»Herr Pilgram -- tun Sie's nicht, Herr Pilgram!«
+
+Mit halbem Blick nur überflog Valentin Pilgram die hervordrängende Schar
+der einstigen Korpsbrüder ... dann, als sei er noch allein mit dem
+Gegner Aug' in Auge, wandte er sich wieder zu ihm und wiederholte:
+
+»Also noch einmal: Gibst Du es zu, daß Du ein elender Schelm bist?
+unwürdig des Bandes, das Du trägst?«
+
+Mit eisiger Festigkeit hielt Hans Thumser des Feindes haßsprühenden
+Blick aus.
+
+»Geh!« sagte er, »das weitere findet sich morgen.«
+
+In derselben Sekunde hatte Valentin Pilgram dem Gegner das Korpsband von
+der Brust gerissen und es zu Boden geschleudert. Nun holte seine Rechte
+weit aus, um ihm die Mütze vom Kopf zu schlagen. Im selben Augenblick
+aber warfen sich die Korpsburschen mit lauten Entsetzensschreien auf
+beide Gegner von hüben und drüben, trennten sie, alles schrie wie toll
+durcheinander:
+
+»Pilgram, Du bist wohl wahnsinnig!«
+
+»Zurück, haltet Ruhe, zum Teufel!«
+
+»Was fällt Euch ein?!«
+
+»Wir sind auf Korpskneipe!«
+
+»Schmeißt ihn hinaus, er hat hier nichts mehr zu suchen!«
+
+»Laß gut sein, Thumser, er wird Dir Satisfaktion geben, morgen findet
+sich alles -- morgen!«
+
+Volkner, der Senior, brach sich Bahn durch die dicht zusammengekeilte
+Schar der jungen Männer.
+
+»_Silentium!_« schrie er. »Ich bin hier der Herr im Haus. Tritt vor,
+Pilgram, was soll das, was fällt Dir ein? Dich hier einzudrängen und
+Dich an einem von uns zu vergreifen? Du weißt, Du hast kein Recht mehr,
+hier zu sein!«
+
+Die Zucht vieler Semester, die eiserne Disziplin des Korps rief Pilgram
+zur Besinnung zurück.
+
+»Du hast recht, Volkner,« sagte er. »Habt die Freundlichkeit mich
+loszulassen ... es wird nichts weiter passieren, verlaßt Euch drauf.«
+
+Und ruhig und gemessen trat er vor den Senior:
+
+»Verzeih mir -- ich hatte mich vergessen. Ich denke, Ihr verzichtet wohl
+alle auf eine weitere Aufklärung ... dafür ist ja das Ehrengericht da.«
+
+»Allerdings,« sagte Volkner, »dafür ist ja wohl das Ehrengericht da.«
+
+»Gut,« sagte Pilgram. »Ich bitte das Korps also nochmals feierlichst um
+Entschuldigung -- ich bin morgen vormittag bis ein Uhr in meiner
+Wohnung. Guten Abend.«
+
+Alles wich zur Seite. Noch einmal maß Valentin Pilgram mit kurzem Blick
+der Todfeindschaft seinen Gegner, der schwer atmend, mit
+rotunterlaufenen Augen, doch völlig gefaßt inmitten seiner Korpsbrüder
+stand ... schritt zur Tür, riß sie auf.
+
+Da bot sich ein unerwartetes Schauspiel: Auf der Schwelle kniete,
+tränenüberströmt, zusammengekauert, ein Mädchen im grauen Pelzjackett.
+Nun sprang sie auf die Füße, starrte mit angstverzerrten Zügen, blöden
+Blicks in den Korridor hinein, in dem Kopf an Kopf Grünbemützte sich
+drängten, warf sich dann jählings herum und floh wie gejagt die Treppe
+hinunter.
+
+Und langsam, schwerfälligen Schritts ging Valentin Pilgram von dannen
+und ließ die Tür ins Schloß fallen.
+
+
+
+
+ 14.
+
+
+Asta hatte nicht schlafen können. Das Fieber hatte in dem zierlichen,
+doch kerngesunden Körperchen rumort -- doch der Gedankensturm, der ihr
+Hirn durchbrauste, der Drang zu leben, zu helfen, ihr armes bißchen Sein
+dafür einzusetzen, daß nicht unsagbar Entsetzliches geschähe -- dies
+inbrünstige Wollen hatte die heraufbrauende Krankheit niedergeworfen.
+Und früh um neun schon klopfte sie an Jucunda Buchners Tür.
+
+Frau Kanzleirätin, noch in Nachtjacke und Unterrock, hatte hoch und
+teuer geschworen, Jucunda sei noch nicht zu sprechen. Asta Thöny hatte
+sich nicht abweisen lassen.
+
+»Sie wird mir's danken, gnädige Frau!«
+
+Aber Jucunda Buchner dankte nicht.
+
+Aus unruhigen Morgenträumen voll ehrgeiziger Hoffnungen und
+ahnungsvoller Beklemmungen hatte das Pochen der Kollegin sie
+aufgeschreckt. Nun saß sie aufrecht im Bett, sehr ungnädiger Laune,
+kaum, daß sie der Besucherin einen Stuhl anbot. Sie liebte es nicht,
+sich unvorbereitet überraschen zu lassen.
+
+Mit fliegenden Worten berichtete Asta: ihren Spaziergang an der Pleiße
+verschwieg sie allerdings, um so genauer aber erzählte sie von dem
+Renkontre zwischen Pilgram und Thumser auf der Frankenkneipe und sparte
+nicht an grellen Farben. Sie war überzeugt gewesen, Jucunda würde
+alsbald um Hans Thumsers willen mit allen Anzeichen des Entsetzens aus
+dem Bette springen und Hals über Kopf zu dem Geliebten wollen, um ihm
+nicht von seiner Seite zu weichen, bis die Gefahr an ihm vorübergegangen
+war ...
+
+Statt dessen sah Jucunda sie stillschweigend mit spöttisch
+zusammengebissenen Lippen an, als sie hocherglühend ihren Bericht
+geendet.
+
+»Nun?« fragte Asta ganz erstaunt.
+
+»Mir fällt etwas auf an Deiner Erzählung, liebes Kind,« sagte Jucunda.
+»Du erzählst mir da von einem Auftritt, der sich auf der Frankenkneipe
+zugetragen hat ... und zwar wenn ich recht verstanden habe, hast Du
+nicht nur vom Hörensagen berichtet, sondern Du warst selber dabei
+gewesen -- stimmt's oder stimmt's nicht?!«
+
+Astas Wangen, vom heftigen Gang durch den Schnee gerötet, glühten noch
+höher auf.
+
+»Ja ... ich habe alles ... selbst mit angehört ...« gestand sie.
+
+»Hm -- dann darf ich mir wohl die Frage gestatten: wie kommst denn Du
+auf die Frankenkneipe?«
+
+Astas Hände zupften unstet an den Falten ihres Rockes.
+
+»Ja, wie soll ich Dir das ... erklären? Es ist ja auch ... eigentlich
+gleichgültig ... wie ich hingekommen bin -- ich war eben ... da.«
+
+»Nun, so gleichgültig kann ich das eigentlich nicht finden,« meinte
+Jucunda. Sie lehnte sich zurück in die Kissen, stützte sich auf die
+Ellbogen und fixierte die niedliche Kollegin mit überlegen spöttischem
+Blick. »Na, also lassen wir das einstweilen mal dahingestellt. Aber: zu
+welchem Zweck teilst Du mir denn das alles mit?«
+
+»Ja, aber um Gottes willen, Jucunda, das geht doch nicht, das darf doch
+nicht sein, daß die zwei guten Jungens sich totschießen Deinethalb!«
+
+»Meinethalb?« Jucunda hatte sich hochaufgerichtet. »Wieso meinethalb?
+Erkläre mir das!«
+
+»Ja, aber Jucunda -- das ist doch ganz klar! Uebrigens, um Gottes
+willen, der eine, der Pilgram, der wohnt doch hier nebenan, gelt, kann
+der uns auch nicht etwa hören?«
+
+»Beruhige Dich, liebes Kind, meine Mutter hat mir schon mitgeteilt, daß
+er heut nacht nicht nach Hause gekommen ist. Also bitte, wie kommst Du
+auf diesen Einfall?«
+
+»Aber begreifst Du denn das noch immer nicht?! Der Pilgram ist doch nur
+eifersüchtig auf den Thumser, weil Du ihn hast abfallen lassen und den
+andern -- --«
+
+»Und den andern?!« fragte Jucunda scharf. »Na, was denn! Bitte, was
+denn?!«
+
+»Nun, der andere ... ist denn der andere nicht gestern nachmittag bei
+Dir ... bei Dir gewesen --?«
+
+»Er war gestern nachmittag zum Tee bei mir, nu! Und was weiter?«
+
+»Zum -- Tee --?!« fragte Asta mit einem halb wehmütigen, halb
+verschmitzten Lächeln. »Nur zum Tee --?«
+
+»Na! zu was denn sonst, bitte?!« fragte Jucunda heftig.
+
+»Na, wir wollen nicht streiten,« meinte Asta. »Also: ob die zwei braven
+Kerle sich Löcher in den Leib schießen Deinethalb, Dir ist's rund herum
+egal, scheint's?!«
+
+»Meinethalb? Ich weiß nicht, ob sie's meinethalb tun, mir haben sie's
+nicht gesagt. Und übrigens -- ich möchte wissen, was ich daran ändern
+kann, wenn die zwei sich's in den Kopf gesetzt haben, aufeinander
+loszuknallen. Ich habe sie nicht geheißen, ich kann sie nicht hindern!«
+
+Asta Thöny spielte mit den Zipfeln ihres Pelzjacketts und sann
+angestrengt nach mit zusammengekniffenen Brauen. Dabei stieg eine helle
+Freude, ja ein lustiger Uebermut langsam, aber immer mächtiger in ihr
+empor. Das war ja eigentlich wunderschön, was sie da erfuhr. Sieh da,
+Hanschen! Viel Glück scheinst du mit deinem Teebesuch bei der großen
+Jucunda ja nicht gehabt zu haben! Und für das bißchen Ehre auch noch
+totgeschossen zu werden -- nein, das wollen wir doch mal sehen, ob wir
+das nicht hintertreiben können. Aber dazu brauchen wir ja wohl nicht die
+große Jucunda -- das können wir uns schließlich auch allein verdienen
+...
+
+»Verzeih, liebe Jucunda,« sagte sie. »Ich habe mir eingebildet, Du
+hättest was übrig für Hans Thumser, da habe ich mich also anscheinend
+geirrt. Nun dann freilich --«
+
+»Allerdings, mein Kind, da hast Du Dich geirrt. Vielleicht erinnerst Du
+Dich daran, daß Herr Thumser zwanzig Jahr und ein Student ist. Es mag ja
+Kolleginnen geben, die sich aus derartig -- ungaren jungen Herren was
+machen. Ich für meine Person -- ich lege auf derartige Bekanntschaften
+keinen Wert.«
+
+Ach so, die Großartige willst du spielen! Na warte --!
+
+»Wenigstens nicht, wenn's ein x-beliebiger Bürgerlicher ist, willst Du
+sagen, nicht wahr? Wenn's freilich ein Prinz wäre -- das ist was andres,
+gelt, Jucunderl, denn kann er so ungar sein wie er will, hab' ich
+recht?«
+
+Da fuhr Jucunda Buchner so heftig in die Höhe, daß Asta Thöny
+unwillkürlich aufstand und einen halben Schritt zurückwich. Die schönen
+Hände krallten sich, das majestätische Gesicht verzerrte sich zum
+Ausdruck einer Medusa, die stahlblauen Augen funkelten Wut gleich den
+Lichtern einer gereizten Katze:
+
+»Was fällt Dir ein, was erlaubst Du Dir?!« Doch rasch glätteten sich
+ihre Züge zum Ausdruck eiskalter Verachtung, sanken die schönen
+Schultern nachlässig in die Kissen zurück, und mit einer Handbewegung,
+gleich jener, mit der eine Königin eine unbotmäßige Kammerfrau entläßt,
+befahl sie:
+
+»Verlassen Sie mein Zimmer, mein Fräulein!«
+
+Asta Thöny lächelte ihr boshaftes Spitzbubenlächeln. Sie sank in einem
+tiefen Hofknix zusammen:
+
+»Zu Befehl, Frau Marquise, wünsche gute Karriere.« Und schon war sie
+hinaus.
+
+Während sie die Katharinenstraße hinunterschritt und den Marktplatz
+überquerte, dessen Schneedecke grell im duftumschleierten Lichte des
+frühen Wintermorgens gleißte, fühlte sie sich fast erstickt von der
+Seligkeit, die verhaßte Rivalin einmal bis aufs Blut geärgert zu haben.
+
+So eine Hundeschnauze! so eine eiskalte! Tut, als hätte sie keine
+Ahnung, daß sie es doch allein ist, die all den Unfug angestiftet hat in
+den Brauseköpfen hüben und drüben -- Gott! und wer weiß, was für
+Dummheiten sie sonst noch alles auf dem Gewissen hat! Ist nicht dies
+ganze Nest wie verrückt nach ihr? Aber das ist das Blödsinnige an dem
+Ruhm: hat unsereins sich erst mal durchgesetzt, dann liegt die Welt vor
+ihr auf dem Bauch, und das verrückte Mannsvolk bringt sich um für das
+Glück, von ihr mit Füßen getreten zu werden ...
+
+Aber jetzt -- jetzt ist sie wild. Jetzt faucht sie zu Hause, jetzt hat
+sie einmal gespürt, daß auch noch andere Katzen Krallen haben --!
+
+Aber schau -- wer war denn das? Da kamen aus der Kleinen Fleischergasse
+zwei grüne Mützen heraus, zwei Franken-Korpsburschen, sehr feierlich.
+Der eine, der ältere, trug den Paletot nachlässig geöffnet, und man sah
+darunter den bis hoch hinauf zugeknöpften Bratenrock ... Handschuhe
+trugen sie, gestreifte Hosen und Gummigaloschen. Der ältere, den kannte
+sie, den hatte ihr Hans einmal von ihrem Fenster aus gezeigt, es war
+Volkner, der jetzige Häuptling des Frankenbundes. Ingrimmigen Ernst auf
+den jungen Gesichtern, steuerten die zwei über den Marktplatz, bogen in
+die Katharinenstraße und verschwanden in der Tür, die sie selber soeben
+verlassen.
+
+O Gott -- sie wußte, was die zwei zu suchen hatten bei Valentin Pilgram
+da droben ... sie wußte: die sollten ihm Hans Thumsers Forderung
+überbringen ... das waren die Kartellträger ...
+
+Daß Hans Thumser kein Glück gehabt bei Jucunda ... und daß sie selber es
+der verhaßten Rivalin einmal gründlich gegeben -- über dieses doppelte
+Glück hatte Asta völlig den blutigen Ernst der Situation vergessen ...
+Sie wußte: Kavaliere -- und waren sie auch erst seit ein paar Semestern
+flügge geworden, wie die Herren Korpsstudenten -- die fackeln nicht
+lange mit dem Austrag solcher Händel. Und wenn erst die Pistolen geladen
+sind, dann kommt guter Rat zu spät ... und dabei mußte sie ja doch in
+die Probe. Morgen abend war ja Abschiedsvorstellung -- »Wallensteins
+Tod« -- und wenn sie auch nur ein winziges Röllchen hatte, das Fräulein
+von Neubrunn, Theklas Gesellschafterin und Vertraute -- die Probe
+versäumen, das hätte sie sich doch nicht getraut. Der stramme
+Pflichtgeist, der das Meininger Ensemble beseelte, ließ einen solchen
+Gedanken selbst in höchster Not niemals aufkommen. Schon dreiviertel
+zehn, also höchste Zeit! Asta sprang in eine Droschke, befahl »Zum
+Carolatheater!« und drückte sich fröstelnd in den verschlissenen Plüsch.
+All ihr Uebermut war verweht. Was auf den starren, korrekten
+Amtsgesichtern der zwei jungen Gesellen da gestanden hatte, das legte
+sich wie eisig umklammernde Knochenfinger um ihr Herz.
+
+Die zwei suchten Pilgram ... und wenn er jetzt noch nicht daheim war, er
+würde kommen, sie würden ihn finden, würden ihre Botschaft ausrichten
+... Und dahinter lauerte ein Schreckensbild: das Bild einer
+tiefverschneiten Waldblöße, die in unberührter, weiter Fläche daliegt im
+ersten Morgenschein ... Nun rollen von hüben und drüben zwei Wagen
+heran, lautlos ... ein paar junge Männer entsteigen ihnen, rüsten sich
+zu geheimnisvoll grausigem Tun -- nun treten sie alle rechts und links
+zur Seite, und zweie nur bleiben inmitten stehen, wenige Schritte nur
+voneinander, sie heben blitzende Läufe -- einer zielt nach des andern
+Herzen ... und der eine von ihnen heißt Hans Thumser ...
+
+Was tun? o Gott, was tun?!
+
+Da, ein rettender Gedanke: Franz Burg ... der war doch einmal
+akademischer Bürger ... Wenn einer der Meininger nicht mehr ein noch aus
+wußte, ging er ja immer zu Franz Burg ...
+
+Ja, das war's! Franz Burg mußte Rat schaffen. Aber wie den Gestrengen
+erreichen? Wenn sie auf die Bühne kam, würde die Generalprobe bereits
+begonnen haben -- und bis die beendigt war, durfte man dem Szenenleiter
+mit nichts anderm kommen, aber auch mit gar nichts. Solange gehörte er
+nur seinem Werk. Und jeder Versuch, ihn mit andern Dingen zu befassen,
+würde höchstens eine erstaunliche Grobheit eingetragen haben.
+
+Und darüber würde es drei Uhr werden ... Gott, was konnte inzwischen
+alles geschehen! So lange war man machtlos, war man im Dienst ... war
+man »Fräulein von Neubrunn, Hofdame der Prinzessin«.
+
+Und die Prinzessin? -- Selbstverständlich Jucunda Buchner ... die große
+Jucunda ...
+
+
+Drei Uhr nachmittags.
+
+Auf der Kneipe des Korps Misnia tagte das S. C. Ehrengericht zur
+Entscheidung über die hängende Pistolenforderung des Korpsburschen eines
+wohllöblichen C. C. der Franconia Thumser wider den früheren C. B.
+Pilgram.
+
+Der Kneipsaal, sonst nur »zu den festlichen Gelagen« bestimmt, war nun
+zu verhängnisschwerer Tagung eingerichtet. An den hufeisenförmigen
+Tischen saßen die Ehrenrichter, je zwei von jedem der fünf Leipziger
+Korps, und von dem präsidierenden Korps Misnia noch ein dritter
+Korpsbursch als Protokollführer.
+
+Wie um das feierlich Eindrucksvolle des Femgerichts zu unterstreichen,
+waren die Schlagläden heruntergelassen, und die gelben Flammen der
+Gaslichtkrone warfen zuckende Reflexe auf die bunten Mützen, die
+dreifarbenen Bänder, die blinkenden Scheiben der Klemmer und Monokels,
+die schmißdurchsetzten Jugendwangen, die in feierlich offizielle Falten
+gelegt waren.
+
+Hans Thumser, als der Beleidigte, wurde zuerst gehört.
+
+Mit knappen Worten berichtete er den Vorfall, der sich am gestrigen
+Abend auf der Kneipe seines Korps zugetragen. Als er geendet, fragte der
+Vorsitzende, Graf Schmettow, der Erste der Meißner, ein über die Maßen
+patenter, hagerer Gesell, dessen linke Wange eine furchtbare Säbelnarbe
+von der Schläfe über den Mundwinkel bis ins Kinn hinein durchzog:
+
+»Danke, Herr Thumser. Ihre Erzählung ist natürlich so, wie sie da
+vorgetragen worden ist ... äh ... nicht so recht verständlich ...
+offenbar ist doch zwischen Ihnen beiden ... äh ... noch irgend etwas
+andres vorgekommen ...? Wollen Sie uns auch darüber Auskunft geben, oder
+wünschen Sie, daß zunächst sich Ihr Herr Gegner ... äh ... über den von
+Ihnen vorgetragenen Tatbestand erklärt?«
+
+Hans Thumser sann einen Augenblick nach. Astas Bild, Jucundas tauchte
+einen Augenblick vor seinem Geiste auf. Hatte es einen Zweck, diese
+Erlebnisse in die Verhandlung mit hineinzuziehen? -- Es war ja
+schließlich ganz gleichgültig, wie das alles geworden war ... wie es
+hatte kommen können, daß der einstige Korpsbruder ihm das Band von der
+Brust gerissen ... das war nun einmal geschehen. Die Tat lag vor, nackt
+und unerbittlich ... Für sie hatte er Sühne zu fordern -- sie zu
+erklären war allenfalls des andern Sache, nicht die seine ...
+
+»Ich habe vorläufig nichts weiter mitzuteilen, Herr Vorsitzender.«
+
+Damit war er entlassen.
+
+Und mit angespannter Neugier hingen nun die Blicke der jugendlichen
+Ehrenrichter an der Reckengestalt des Jünglings, der so lange als der
+Besten einer in ihrer Mitte gestanden hatte, dessen scharfe Klinge nicht
+nur, dessen scharfes Wort, dessen ganzes vorbildliches Wesen einem jeden
+stets den vollkommensten Respekt abgezwungen. Da war keiner im
+Leipziger S. C., der nicht den Fall Pilgram mit brennendem Interesse,
+mit aufrichtiger Sympathie verfolgt hätte. Und jeder hatte Gelegenheit
+gehabt zu beobachten, wie Franconias einstiger Senior schon gar bald
+nach seinem Ausscheiden aus dem Korps wie unter der Last eines
+grundstürzenden Erlebnisses förmlich in sich zusammengesunken war,
+verändert, verwildert, tiefster Verbitterung anheimgefallen.
+
+Nun schien er wieder der Alte, zum mindesten in seiner äußeren
+Erscheinung. Korrekt gescheitelt und gekleidet, in tadellosem Gehrock
+und Lackschuhen stand er vor dem Ehrengericht, nur um seine Brust fehlte
+das Band und auf seinem Gesicht das alte trotzig-heitere
+Selbstbewußtsein ...
+
+»Herr Pilgram,« begann der Vorsitzende, »ich brauche Ihnen nicht zu
+sagen, worum es sich handelt. Herr Thumser Franconiae hat Ihnen eine
+Pistolenforderung auf fünfzehn Schritt Barriere und Kugelwechsel bis zur
+Kampfunfähigkeit übersandt wegen eines Renkontres, das Sie mit ihm
+gestern abend gegen neun Uhr auf der Frankenkneipe gehabt haben.
+Entsinnen Sie sich der Ausdrücke, die Sie gebraucht haben, und ist es
+Ihnen auch bewußt, daß Sie ihm das Korpsband von der Brust gerissen,
+dann zum Schlage ausgeholt haben, und nur durch das Dazwischentreten der
+Herren Korpsbrüder des Herrn Thumser verhindert worden sind, Herrn
+Thumser noch weiter tätlich anzugreifen?«
+
+»Allerdings,« erklärte Pilgram ruhig. »Ich entsinne mich des Vorfalls
+genau. Ich war vollständig Herr meiner Sinne und übernehme für meine
+Handlungsweise die volle Verantwortung.«
+
+»Sie sind also bereit, Herrn Thumser die standesübliche Genugtuung mit
+der Waffe zu geben? Und haben andrerseits nicht die Absicht,
+irgendwelche andere Formen der Sühne in Vorschlag zu bringen?«
+
+»Nein!« sagte Valentin Pilgram.
+
+Einer der Ehrenrichter bat ums Wort. Herr ten Brink, der Erste
+Chargierte der Guestphalia, ein langer, semmelblonder, sommersprossiger
+Sohn der roten Erde.
+
+»Es ist mir was aufgefallen in der Erzählung des Herrn Thumser,« sagte
+er. »Herr Thumser hat erzählt, Sie hätten ihm einen Brief zu lesen
+gegeben, dessen Inhalt ihm vollständig unbekannt gewesen sei. Wollen Sie
+sich über diesen Punkt vielleicht auslassen?«
+
+»Darf ich mir die Frage gestatten, Herr Vorsitzender,« erwiderte
+Pilgram, »ob Herr Thumser über diesen Punkt bereits nähere Erklärungen
+gegeben hat?«
+
+»Nein!« sagte Graf Schmettow. »Wir haben vorläufig darauf verzichtet,
+uns überhaupt mit der Frage zu beschäftigen, was für ... äh ... Motive
+hinter dem ... Renkontre vorhanden gewesen sein mögen.«
+
+»Dann --« sagte Valentin Pilgram, »dann würde ich für meine Person
+vorziehen, diese Seite der Sache ebenfalls unerörtert zu lassen,
+vorausgesetzt, daß ein hohes Ehrengericht nicht seinerseits darauf
+besteht.«
+
+»Ich verstehe,« sagte der Vorsitzende. »Die Herren scheinen also einig
+darüber zu sein, daß der Tatbestand der Beleidigungen lediglich an und
+für sich hier zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden soll, ohne
+daß auf ihre Veranlassung weiter einzugehen sein würde -- aus Gründen
+der Diskretion vermutlich, nicht wahr?«
+
+Pilgram nickte stumm.
+
+»Wenn ich recht verstehe,« fuhr der Vorsitzende fort, »so stellen die
+beiden Herren Gegner sonach den Sachverhalt übereinstimmend dar. Danach
+würde wohl eine Vernehmung von Zeugen und jede weitere Aufklärung des
+Sachverhalts erübrigen, nicht wahr, meine Herren?!«
+
+Zustimmend nickten die Ehrenrichter, und der Vorsitzende entließ den
+Beleidiger.
+
+Die Beratung war nur kurz. Der Fall lag ganz klar: es handelte sich um
+eine tätliche Beleidigung, die zur Ausführung gekommen war, und um eine
+solche, deren Ausführung nur durch das Eingreifen Dritter verhindert
+worden war. Die erstere, das Abreißen des Korpsbandes, kam an Schwere
+der zweiten, vereitelten mindestens gleich. Neben diesen Realinjurien
+spielen die vorgefallenen wörtlichen Beleidigungen nur eine
+nebensächliche Rolle. Der Beleidiger hatte zugegeben, bei klarem
+Verstande und wohlüberlegt vorgegangen zu sein. Unter diesen Umständen
+war es vollkommen klar, daß die Forderung genehmigt werden mußte, und
+zwar ohne daß ein Anlaß vorlag, die sehr scharfen Bedingungen zu
+ermäßigen.
+
+Schon neigte sich die Verhandlung ihrem Ende, da erbat Herr ten Brink
+Guestphaliae Erster noch einmal das Wort:
+
+»Ich weiß nicht, meine Herren, die Sache kommt mir eigentlich ein
+bißchen merkwürdig vor. Die Geschichte mit dem Brief will mir nicht
+aus dem Kopf, ich habe das Gefühl, da steckt ein Mißverständnis hinter.
+Ich meine, das Ehrengericht ist doch schließlich nicht bloß dazu da,
+über eine Forderung zu entscheiden -- ich meine, unter Umständen wäre es
+doch unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, Mißverständnisse
+aufzuklären ... kurz, zwischen den Parteien zu vermitteln. Ich meine,
+wir sollten in diesem Fall doch ein wenig genauer auf die Vorgeschichte
+des Renkontres eingehen. Um so mehr, als meines Erinnerns Herr Thumser
+geäußert hat, der fragliche Brief sei von einer Dame geschrieben
+gewesen. Na, meine Herren, wir wissen doch alle, wenn die Weiber in so
+'ne Affäre hineinspielen, dann ist es meistens halb so schlimm.«
+
+Ein kurzes, verständnisinniges Schmunzeln auf allen Gesichtern, das aber
+schnell der gewohnten, feierlichen Korrektheit wich. Der Vorsitzende
+meinte:
+
+»Ich halte uns nicht für befugt, in die persönlichen Angelegenheiten
+der Kontrahenten einzudringen, wenn diese nicht selbst Wert darauf
+legen. Ich glaube -- der Versuch einer Vermittlung zwischen den Herren
+würde ... äh ... eine Ueberschreitung unserer Kompetenz sein ... und
+zugleich ein Eingriff in die Verfügungsfreiheit der Herren, den sie sich
+nicht gefallen zu lassen brauchten. Aber ich weiß nicht, wie die anderen
+Herren darüber denken? Bitte sich zu äußern!«
+
+Es stellte sich heraus, daß ten Brink mit seiner Auffassung ganz allein
+stand. So wurde denn die Forderung mit den Stimmen aller Ehrenrichter
+gegen die seinige genehmigt und dies den beiden Parteien mitgeteilt.
+
+Das Schicksal war gefallen.
+
+Gleich nach dem Ehrengericht traten die Sekundanten der beiden Parteien
+zusammen. Volkner für Thumser und Herr Borgmann Neo-Borussiae Erster für
+Pilgram. Sie verabredeten als Platz für das Duell die Heiderwiese, eine
+Waldlichtung im Ratsholz, südwestlich von Connewitz, unfern des linken
+Pleißeufers, am Reitwege nach Gautzsch, und als Zeit für die Austragung
+punkt sechs Uhr am folgenden Morgen.
+
+Hiervon benachrichtigten sie ausschließlich den Grafen Schmettow und
+ersuchten ihn, als Senior des derzeit präsidierenden Korps das Amt
+eines Unparteiischen zu übernehmen.
+
+Dann wurden die Korpsdiener unter Hinweis auf ihre Pflicht zu absoluter
+Verschwiegenheit ins Vertrauen gezogen und angewiesen, den
+Pistolenkasten instandzusetzen, Wagen zu bestellen. Den Vertrauensarzt
+des S. C. in derartigen Fällen, den Sanitätsrat Dr. Collwitz, einen
+Alten Herrn der Neo-Borussia, übernahm Herr Borgmann zu bestellen.
+
+Diese Vereinbarungen hatten im Konventszimmer der Misnia stattgefunden,
+welches den Herren für diesen Zweck zur Verfügung gestellt war. Nun
+verabschiedete man sich voneinander mit dem üblichen Händedruck bei
+hochgehobenen, eingewinkelten Ellenbogen und zeremonieller Verbeugung.
+
+Volkner begab sich in eine gegenüberliegende Konditorei, in der Hans
+Thumser seine Mitteilungen abwartete, und benachrichtigte ihn vom
+Geschehenen.
+
+Das alles geschah in kurzen, formelhaften Wendungen. Kein Wort wurde
+gesprochen zwischen den beiden jungen Leuten, das über das sachlich
+absolut Notwendige hinausging. Jeder mußte die letzte Kraft aufwenden,
+Haltung zu bewahren angesichts des Grauens, das von diesem Unabwendbaren
+ausging, von diesem Unabwendbaren, das nun herankroch mit dem
+schleichenden Schritt der Sekunden und Minuten; das sich vollenden
+mußte, bevor es abermals Tag geworden.
+
+
+Nach Schluß der Probe mußte Asta lange warten, bevor sie den
+Oberregisseur für sich allein bekam. Tausend Geschäfte, tausend Bitten
+drängten sich noch an ihn heran. Schließlich wurde es ihm zu toll:
+
+»Kinder, ich bin auch nur ein Mensch und muß heut abend den Wallenstein
+spielen. Jetzt schert Euch gefälligst alle zum Teufel! Ich will
+schlafen.«
+
+Asta schoß hinter ihm drein.
+
+»Meister, eine Bitte, Sie müssen mich anhören, es geht um Tod und
+Leben!«
+
+»Und wenn's um sechsundzwanzig Paar Regensburger Würschte geht, ich kann
+nicht mehr.«
+
+»Helfen Sie mir, Meister, oder soll ich hier auf dem Korridor einen
+Kniefall tun?«
+
+»Nützt Ihnen auch nichts, kommt alle Tage vor. Lassen Sie mich in
+Frieden!«
+
+Asta brach in Tränen aus und hängte sich an des Davonhastenden Arm.
+
+»Pah!« brummte der, »auch noch flennen! nützt Dir auch nichts, kommt
+auch alle Tage vor!«
+
+Aber er schüttelte sie doch nicht ab, als sie sich an seinen Arm hing
+und das feuchte Gesichtchen an seiner Schulter barg -- als sie sich
+hinter ihm in seine Garderobe drängte.
+
+»Also in drei Teufels Namen, was gibt's? Aber kurz, bitte!«
+
+Er ließ seine lange Gestalt mit einem Grunzen halb des Grimms, halb des
+Behagens auf das schminkfleckige Sofa fallen. Wies der Besucherin mit
+Handwink den Frisierstuhl als Sitzgelegenheit. Asta drehte den Stuhl
+herum, hockte auf seiner vordersten Kante, erzählte stockend, befangen,
+verwirrt ...
+
+Als sie schwieg, tippte Franz Burg mit dem Mittelfinger der Rechten auf
+seine Brust und zuckte ein paarmal langsam die Schultern. Seine Brauen
+waren hochgezogen, um die schmalen Lippen spielte in tausend Fältchen
+ein Mephistoschmunzeln.
+
+»Sie sollen mir raten, was ich tun soll, Meister!«
+
+»Ja, Kindchen, soweit ich aus der Geschichte klug geworden bin, handelt
+es sich also um zwei Studenten, und einer von ihnen ist momentan
+Quartiergast in dem Kämmerchen da drüben unter Ihrem Pelzjackett, das
+freilich, soviel mir bekannt ist, häufig seinen Mieter wechselt. Aber,
+wat sall ick dorbi dauhn?«
+
+»Einen Rat -- einen Rat will ich, lieber Herr Burg. Sie sind doch
+Student gewesen -- was fängt man nur an, um die zwei wieder
+auseinanderzukriegen? Was soll ich tun, sagen Sie mir, was soll ich
+tun?!«
+
+»Die Karre laufen lassen, wie sie laufen will! Ich bitt' Sie -- die
+jungen Leute müssen doch was erleben ... Sehen Sie sich doch um in der
+Welt! da geht ja heute alles so verflucht ehrbar, korrekt und
+vorschriftsmäßig zu, es passiert nichts -- und passieren muß doch was in
+der Welt ... wovon sollen wir denn sonst leben, wir armen Komödianten,
+und die Poeten, die für uns Komödie schreiben! Ist ja 'n wahrer Segen,
+daß wenigstens auf deutschen Hochschulen noch manchmal 'n bißchen
+gerauft und geknallt wird. Ich freue mich immer, wenn ich sehe, daß noch
+Leidenschaft in der Jugend drin steckt ... daß noch Tragödien passieren.
+Das wäre ja doch ein wahrer Jammer, wenn man so was hintertreiben
+wollte.«
+
+»Aber wenn nun ein Menschenleben dabei zugrunde ginge, bedenken Sie
+doch, Meister! So ein blühendes, herziges, junges Studentenleben!«
+
+»Na -- wenn schon!« knurrte Burg, »Studenten gibt's doch weiß Gott genug
+auf der Welt. Eine große Sensation ... eine -- na, einen Stoff -- das
+ist wahrhaftig so'n Allerweltsstudentenleben wert!«
+
+»Herr Burg, Sie sagen Allerweltsstudentenleben ... das stimmt hier aber
+nicht; der eine, das ist kein Allerweltsstudent, das ist was ganz
+Besonderes --«
+
+»Der eine? Also =Ihrer= selbstverständlich, nicht wahr?«
+
+»Gott ja, meiner, wenn Sie wollen.«
+
+»Nun, was ist denn so Besonderes an ihm?!«
+
+»Er ist ein Dichter! Ach, so wundervolle Gedichte macht er. Wenn ich
+doch nur eins bei mir hätt'!«
+
+»Sieh, sieh!« schmunzelte der Oberregisseur. »Also ein zukünftiger
+Bühnenlieferant. Na, dann soll er sich erst recht schießen!«
+
+»Aber Herr Burg ... um Gottes willen!«
+
+»Ja gewiß soll er. Entweder er geht drauf -- na, in Gottes Namen: er ist
+der erste nicht. Wie mancher Homer ist blind geworden, =ehe= er Zeit
+gehabt hat, die Welt, das Leben so tief in sich hineinzusaugen wie der
+alte Griechenbarde ... Wie mancher Aeschylos mag in der Seeschlacht
+gefallen sein, wie mancher Schiller auf der Karlsschule in Verzweiflung
+und Verblödung hineingeknutet ... Das ist Kismet ... Wenn er aber übrig
+bleibt, glauben Sie nicht, daß er dann ein ganz andrer Kerl ist wie
+vorher, wenn er mal dem Tode ganz nahe ins Gesicht gesehen hat? Glauben
+Sie nicht, daß er Ihnen nachher noch viel schönere Verse machen wird;
+daß er noch 'ne ganz andere Nummer von Tragödie zustandebringt, wenn er
+erst mal erlebt hat, wie einem zumute ist, der die Nase hinhalten muß,
+wenn's drüben blitzt und knallt?«
+
+Asta sprang auf, rannte schluchzend zum Fenster.
+
+»Das ist entsetzlich, Herr Burg, das ist grausam!«
+
+»Ne, das ist klug, das ist weise, Kindchen!«
+
+»Also gut!« schrie die Kleine, warf sich herum, stand mit geballten
+Fäusten vor dem Oberregisseur, das reizende Gesicht von Grimm und Haß
+verzehrt. »Also gut! Sie sollen sich schießen ... einer soll auf dem
+Platze bleiben, alle beide -- was kommt dabei heraus?! Nur eine neue
+Reklame für sie, für die große Jucunda! Was wird's heißen? Zwei
+Studenten haben sich geschossen ... wegen ihr, wegen Jucunda Buchner!
+Das ist's ja auch, was sie will, darauf hat sie's ja auch angelegt mit
+allem Raffinement, die Katze, die verdammte! Der ist's recht, wenn ein
+paar so fesche junge Kerle zum Teufel gehen ihretwegen -- das paßt ihr
+grad in ihren Kram, dem hundeschnauzenkalten Weibsbild, das an nichts
+denkt -- nur an sich, nur an sich!«
+
+»Ach so!« lächelte Franz Burg. »Da zielt's hinaus! Mag sein, Sie haben
+recht, Kindchen ... Vielleicht ist unsere große Jucunda wirklich eine
+ganz haarsträubende Egoistin -- aber ich wollte zu Ihrem Besten, Kleine,
+Sie selber wären's auch. Wenn Sie das erfreuliche Temperament, das Sie
+anscheinend im Leben besitzen, ein bißchen mehr zusammenhielten und auf
+Ihre Kunst losließen, statt auf Ihre ... auf die Mieter Ihres
+Herzenskämmerleins -- glauben Sie mir, Sie wären eine größere
+Künstlerin, als Sie's leider sind. Sagen Sie mir nichts gegen die
+Jucunda, die ist ganz gut so wie sie ist. Die ist, was Sie nicht sind:
+eine Komödiantin. Die fühlt und weiß, wozu sie auf der Welt ist: nämlich
+zum Komödienspielen! Lieben und sich lieben lassen -- schöne Sache, o
+ja, für die andern, für die Alltagsweiber -- aber nicht für Euch.
+Zusammenhalten sollt Ihr Eure Glut, kalt wie Hundeschnauzen sollt Ihr
+meinetwegen sein im Leben, wenn Ihr nur abends, sobald der Lappen in die
+Höhe fliegt, Vulkane seid, wie die Jucunda einer ist! -- Na, haben Sie
+noch weiter Schmerzen, Kleine?«
+
+Gesenkten Blickes, mit zuckendem Kinn hatte Asta die Standrede des
+Meisters über sich ergehen lassen. Nun warf sie den Kopf trotzig in den
+Nacken, stampfte mit dem Fuß auf:
+
+»Ich will aber nicht, ich will nicht, daß der lange Pilgram mir meinen
+süßen Jungen totschießt! Wollen Sie mir helfen, wollen Sie mir einen
+vernünftigen Rat geben?! Oder soll ich meiner Wege gehen?«
+
+»Hm ... also das sage ich Ihnen, Astachen, gehen Sie weg vom Theater,
+aus Ihnen wird niemals was. -- Also, wenn's denn absolut sein muß, die
+Sache ist doch entsetzlich einfach: Wenn Studenten Dummheiten machen,
+dann steckt man sich hinter ihre Eltern. Leben die respektiven Herren
+Väter noch?«
+
+»Beide, soviel ich weiß.«
+
+»Na also, und wo wohnen sie denn, die würdigen Erzeuger der beiden
+Hitzschädel?«
+
+»Der eine wohnt da hinten im Rheinland irgendwo, soviel ich weiß.«
+
+»Welcher? Ihr moralischer Schwiegerpapa oder der andere?«
+
+»Nein, der =eine=,« sagte Asta, und das alte Schelmenlächeln blitzte
+durch Grimm und Tränchen wieder hindurch.
+
+»Also an den wird bis morgen nicht dranzukommen sein -- und der andere?«
+
+»Der andere, der ist, soviel ich weiß, irgendein hohes Tier in
+Dresden!«
+
+»Teufel, das trifft sich ja glänzend! Also, setzen Sie sich auf die
+Bahn, Kindchen, und rücken Sie dem Alten -- wie heißt er? -- dem alten
+--?«
+
+»Pilgram,« half Asta ein.
+
+»Also, rücken Sie dem alten Pilgram auf die Bude und petzen Sie ihm, daß
+sein wackerer Sprößling seinen Monatswechsel dazu mißbraucht, statt
+hinter seinen Büchern zu hocken, andern jungen Leuten Löcher in den
+Bauch zu schießen. Ich wette, dann entwickelt sich alles weitere
+historisch.«
+
+Asta sprang auf den Oberregisseur zu, der noch immer langhingestreckt
+auf dem schminkfleckigen Sofa lag, fiel ihm um den Hals und küßte ihn
+stürmisch.
+
+»Ach, Franzel, Sie sind doch der Allerbeste! Das wird gemacht, das ist
+die Rettung!«
+
+»Aber bitte, erst nach dem 'Lager' -- die kleine Oerzen ist krank
+geworden. Sie spielen heut abend die Gustel von Blasewitz. Nachher
+reisen Sie meinetwegen, wohin Sie wollen.«
+
+»Ich danke Ihnen, oh, ich danke Ihnen tausendmal, Sie Goldiger!«
+
+»Es ist ein Skandal,« knurrte Franz Burg. »Da hat unser Herrgott endlich
+mal wieder eine richtiggehende Tragödie angelegt, und so ein dummes,
+kleines Gör zerreißt ihm das Konzept und macht eine Posse draus!«
+
+
+
+
+ 15.
+
+
+Wenige Minuten nach halb zwölf stieg Asta Thöny am Böhmischen Bahnhof in
+Dresden aus dem Leipziger Schnellzuge. Sie hatte schon in Leipzig das
+Dresdener Adreßbuch eingesehen und festgestellt, daß der
+Senatspräsident am Oberlandesgericht Heinrich Pilgram in der
+Marschallstraße Nummer zweiundzwanzig wohnte.
+
+In dem milderen Klima der Residenzstadt war der Neuschnee des gestrigen
+Tages schon geschmolzen und hatte das Pflaster mit einer zähen
+Schlammkruste überzogen. In den Straßen war schon alles Leben erstorben.
+Trübselig spiegelte sich der Schein der Straßenlaternen in den Kotlachen
+der überschwemmten Rinnsteine. Trübselig klapperte der Gaul durch die
+physiognomielosen Straßen der Vorstadt und durch die kaum angebauten
+Alleen an der Grenze der Altstadt.
+
+Eigentlich doch ein wahnsinniger Plan: um Mitternacht einer wildfremden
+Familie auf die Bude zu rücken! Aber schließlich, man hatte doch wohl
+alle Veranlassung, ihr dankbar zu sein. -- Endlich: da stand sie vor der
+Pforte einer vierstöckigen Mietskaserne, und während der Wagen von
+dannen rollte, riß sie sich schier die Hände ab in dem Bemühen, den
+Portier zu alarmieren.
+
+Ein Tattergreis, der hastig Hose und Rock über sein Nachtgewand gezogen,
+mit wirrem Graukopf und schlampigen Pantoffeln empfing sie, bösartig
+knurrend, und war nur durch etliche Markstücke so weit zu bezähmen, daß
+er sie bei der schwankenden Beleuchtung einer schwelenden Handlaterne
+bis zum dritten Stock hinaufbegleitete, wo ein Porzellanschild mit der
+Aufschrift »Pilgram« an einer breiten, mit Vorhängen abgeblendeten
+Glastür den Eingang wies.
+
+Drinnen alles finster.
+
+Wahnsinnige Situation! Aber was half's! Die Klingel schrillte, und zu
+Astas freudiger Ueberraschung erschien schon nach wenigen Minuten ein
+verschlafenes Dienstmädchen, das entsetzt zurückprallte, als es der
+fremden, eleganten Dame ansichtig wurde.
+
+Die Herrschaften seien in Gesellschaft, würden aber wohl bis ein Uhr
+wieder zurück sein ...
+
+Den unbekannten Besuch in die Wohnung einzulassen, dazu war das Mädchen
+nicht zu bewegen, und so mußte Asta unter Führung des Tattergreises
+abermals die drei Stiegen hinunter, um draußen auf der ganz verlassenen
+Straße in Schlamm und Tauwind auf und ab zu patrouillieren, wie sie
+abends vorher im Schnee auf der Kleinen Fleischergasse auf- und
+abpatrouilliert war ...
+
+Endlich nach einer Stunde Wartens nahten von der Altstadt her vier
+vermummte Gestalten: ein Herr im Zylinder, den Rockkragen
+hochgeschlagen, und drei Damen, eine kugelrunde und zwei schlanke,
+hochgewachsene, in Abendmänteln und Kapuzen.
+
+Im Augenblick, als der alte Herr den Schlüssel einschob, um zu öffnen,
+trat Asta auf ihn zu:
+
+»Um Verzeihung! Ich habe wohl die Ehre, Herrn Präsidenten Pilgram ...«
+
+Der alte Herr richtete sich aus seiner gebückten Stellung auf, stand
+völlig verblüfft, musterte die Fragerin.
+
+Im selben Augenblick sah Asta durch goldgefaßte Brillengläser hindurch
+zwei scharfe, klare Augen mit durchdringendem Blick auf sich gerichtet.
+
+»Allerdings! Ich heiße Pilgram -- Sie wünschen?!«
+
+Inzwischen waren die Damen herangekommen, starrten völlig verblüfft und
+verständnislos auf die zierliche Gestalt im silbergrauen Jackett, deren
+Züge ein grauer Schleier fast ganz verbarg.
+
+»Entschuldigen Sie gütigst, Herr Präsident, könnte ich Sie wohl einen
+Moment allein sprechen?«
+
+»Was für eine Angelegenheit, bitte, meine Dame? Es ist ein Uhr!«
+
+»Eine sehr dringende Angelegenheit,« stammelte Asta, »ich komme aus
+Leipzig, es handelt sich um Ihren Sohn.«
+
+Ein noch schärferer Augenblitz traf das Mädchen.
+
+»Hm ...« sagte er nur, dann bückte er sich aufs neue, schloß auf und
+sagte zu seinen Damen:
+
+»Ihr seid wohl so freundlich und geht schon hinauf solange.«
+
+Mit angstvoller Neugier musterten die drei Damen die Fremde, aber ein
+scharfes: »Also bitte!« veranlaßte sie, dem Wunsche des
+Familienoberhauptes Folge zu leisten. Die Tür fiel ins Schloß.
+
+»Also zuvörderst, wer sind Sie?« fragte der alte Herr.
+
+»Ich bin die Herzoglich Meiningische Hofschauspielerin Asta Thöny.«
+
+»Hm ... und Sie wünschen?«
+
+»Ihr Sohn Valentin wird sich morgen früh mit einem andern Studenten
+schießen.«
+
+Die buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen, der graue
+Fransenschnurrbart zuckte.
+
+»Und dieser andere Student ist wer?«
+
+»Ein Herr Hans Thumser.«
+
+»Hans Thumser?! Das ist ja ein Korpsbruder meines Sohnes!«
+
+»Ihr Herr Sohn ist schon vor Wochen aus dem Korps ausgetreten ...«
+
+»Was ist das?!«
+
+Der Präsident richtete sich straff auf:
+
+»Das müßte ich denn doch wohl wissen, mein Fräulein!«
+
+»Es ist aber so, Herr Präsident.«
+
+»Hm ... lassen wir's zunächst einmal dahingestellt, ob Sie recht haben.
+Was veranlaßt Sie, mir diese Mitteilung zu machen?«
+
+Asta war auf diese Frage vorbereitet und hatte sich ihre Antwort
+zurechtgelegt.
+
+»Ich bin ... mit Herrn Thumser ... nahe befreundet.«
+
+»Hm -- mit Herrn Thumser? Sie machen mir also Ihre Mitteilungen weniger
+im Interesse meines Sohnes als vielmehr in dem des Herrn Thumser, wenn
+ich recht verstanden habe?«
+
+»Nein, das doch nicht, Herr Präsident. Allerdings ... vor allem doch
+wohl Herrn Thumser zuliebe ... Aber Ihren Herrn Sohn kenne ich auch,
+zwar nur sehr flüchtig, aber ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet, er
+hat mich ... er hat mir gestern ... das Leben gerettet.«
+
+Der alte Herr sah das erregte Mädchen mit einem Blick an, in dem ganz
+deutlich zu lesen war, er zweifle an ihrem Verstand.
+
+»Darf ich Sie bitten, meine Gnädigste, Ihren Schleier zu heben, damit
+ich sehe, wen ich eigentlich vor mir habe?!«
+
+Mit zwei raschen Bewegungen streifte Asta Thöny den Schleier in die
+Höhe. Sie fühlte sich mit scharfer Prüfung gemustert. Aber das Ergebnis
+mußte wohl nicht ungünstig sein, denn erheblich liebenswürdiger als
+zuvor fuhr der alte Herr fort:
+
+»Darf ich Sie bitten, mein gnädiges Fräulein, sich mit mir hinauf in
+meine Wohnung zu bemühen: Sie werden mir erzählen.«
+
+Er entzündete ein Wachsstreichholz und leuchtete dem seltsamen Gast die
+Treppe hinauf. Der Hausflur war nun hell erleuchtet. An einer
+halboffenen Tür drängten sich drei weibliche Köpfe, die hastig
+verschwanden, als der Präsident mit seinem Besuch eintrat. Sehr höflich
+nahm er dem Gaste den Regenschirm ab und geleitete ihn in ein dunkles
+Zimmer zur Rechten, entzündete zwei Gasflammen, bat, ihn einen Moment zu
+entschuldigen.
+
+Einen raschen Blick warf Asta in dem Zimmer umher. Die übliche,
+gutbürgerliche Einrichtung der sechziger Jahre: Mahagonimöbel, grüner
+Plüschbezug, an den Wänden ehrwürdige Familienbilder in Oel mit
+Darstellungen von Priestern und Gelehrten aus den beiden letzten
+Jahrhunderten. Am Fenster ein Mahagonisekretär mit Rolljalousie, darauf
+zahlreiche Photographien in Ständerrahmen, unter denen Asta sofort die
+eines schlanken Studenten in Mütze und Band herauserkannte.
+
+Der Präsident kam zurück, bat, auf dem Sofa Platz zu nehmen, und setzte
+sich ihr gegenüber in einen Plüschsessel. Er hatte abgelegt. Auf der
+linken Brust seines Fracks schimmerte eine blinkende Ordenreihe.
+
+Und abermals mußte Asta die Geschichte des gestrigen Abends erzählen.
+Der Präsident lauschte gespannt, ohne sie mit einem Wort, mit einer
+Frage zu unterbrechen. Als sie geendet, trat er auf sie zu, streckte ihr
+die Hand hin:
+
+»Ich danke Ihnen, meine Gnädigste. Das war sehr gescheit von Ihnen, daß
+Sie gekommen sind. Ich fahre mit Ihnen nach Leipzig. Ich habe schon
+nachgesehen, um drei Uhr vierzig fährt der Zug, um halb sechs sind wir
+drüben. Darf ich Sie inzwischen meinen Damen zuführen?«
+
+»Sehr gütig, Herr Präsident. Und was wird werden, was wollen Sie tun?«
+
+»Den beiden jungen Herren klar machen, daß ihre Eltern sie nicht deshalb
+großgezogen haben, damit sie sich untereinander als Zielscheibe
+benutzen.«
+
+»Aber werden wir auch nicht zu spät kommen? Wollen Sie nicht vielleicht
+vorher noch ein dringliches Telegramm an Ihren Sohn ablassen?«
+
+»Liebes Fräulein, ich war selbst einmal Student -- bin sogar Alter Herr
+des Korps Franconia --, wie ich die Buben kenne, scheren sie sich in
+solchen Fällen den Teufel um ein väterliches Telegramm. Im Gegenteil:
+wenn sie erst wittern, daß wir ihnen auf der Spur sind, dann kriegen wir
+sie morgen früh überhaupt nicht mehr zu fassen. Um halb sechs Uhr sind
+wir dort, vor sechs Uhr wird's ja überhaupt nicht hell um diese
+Jahreszeit; inzwischen werden wir überlegen, was zu tun ist. Darf ich
+Sie jetzt bitten, zu meiner Frau und zu meinen Töchtern
+hinüberzukommen?«
+
+»Verzeihung, Herr Präsident, würden Sie es nicht für besser halten, wenn
+Sie zunächst Ihre werten Damen über den Zweck meines Besuchs
+aufklärten?«
+
+»Da haben Sie recht, liebes Fräulein. Wenn Sie mich also einen
+Augenblick beurlauben wollen ...?«
+
+Nur wenige Minuten blieb Asta allein. Dann flogen zwei schlanke Mädels
+herein, in Balltoilette, mit glühenden Backen, glänzenden Augen, in
+denen die Angst um den Bruder und dabei doch auch brennende Neugier und
+gespannte Erregung standen, und stellten sich mit befangenen Knixen vor.
+Achtzehn und zwanzig mochten sie sein, die ältere dem Vater und Bruder
+wie aus den Augen geschnitten; die jüngere, ein munteres, molliges Ding,
+das Ebenbild der Mutter, wie sich alsbald herausstellte, als nun auch
+die rundliche Frau Präsidentin auf der Bildfläche erschien. Und alsbald
+saß Asta mit Valentin Pilgrams Mutter und Schwestern unter der
+Hängelampe eines altmodisch-behaglichen Speisezimmers. Man stopfte sie
+mit Butterbrot und Süßigkeiten, man fragte sie aus nach tausend Dingen,
+von denen sie keine Ahnung hatte.
+
+Während dessen hatte sich der Präsident entfernt, kam nach ein paar
+Minuten zurück.
+
+»So, mein gnädiges Fräulein, ich habe mir die Sache überlegt. Ich werde
+jetzt gleich zum nächsten Telegraphenamt gehen und eine dringliche
+Depesche an die Leipziger Polizei aufgeben. Hören Sie, was ich
+aufgesetzt habe:
+
+ 'Königl. Kreishauptmannschaft Leipzig! Morgen früh soll dort
+ Pistolenduell zwischen meinem Sohn Valentin und Stud. Hans Thumser
+ stattfinden. Ort und Zeit unbekannt. Abreise sofort, um selbes zu
+ verhindern. Ankomme 5.29 dort Dresdener. Erbitte Unterstützung,
+ womöglich berittenen Gendarmen, am Bahnhof.
+
+ Pilgram,
+ Senatspräsident am Oberlandesgericht.'
+
+So, ich nehme an, daß man einem königlichen Beamten meines Ranges in
+angemessener Weise entgegenkommen wird. Wenn die Polizei einigermaßen
+ihre Pflicht und Schuldigkeit tut, so kommen die jungen Herren morgen
+früh überhaupt nicht aus ihrer Bude heraus, sondern werden gleich mit
+Beschlag belegt. Sollte aber wider alles Erwarten die Sache nicht
+klappen, so sind wir ja da!«
+
+»Ja, aber um Gottes willen, Herr Präsident,« meinte Asta, »wir haben
+doch keine Ahnung, wo die schreckliche Geschichte eigentlich vom Stapel
+gehen soll -- wie wollen Sie das denn herauskriegen?«
+
+»Ja, Papachen, wie willst Du das nur herauskriegen?« echoten die
+Töchter.
+
+»Liebe Kinder, ich war doch selbst mal in dem Geschäft. Gebt acht: Wenn
+man sich schlagen will, geht man nicht zu Fuß heraus, sondern bestellt
+sich einen Wagen. Wenn man aber Korpsstudent ist, so hat man für diesen
+Wagen eine ganz bestimmte Bezugsquelle: das Korps nimmt nämlich seinen
+Wagen immer bei ein und demselben Fuhrwerksbesitzer, der ihm
+Vorzugspreise gewährt. Den Namen aber des Wagenlieferanten der
+Franconia, den kenne ich leider nur zu genau. Oder soll ich jetzt sagen:
+glücklicherweise? Ich habe nämlich am Schluß des vorigen Semesters für
+unseren guten Valentin noch eine ganz erkleckliche Wagenrechnung
+berappen müssen ... Der gute Mann wohnt in der Nähe des Bayrischen
+Bahnhofs, an ihn also wenden wir uns zunächst und versuchen
+herauszubekommen, wohin die Fahrt gehen soll.«
+
+»Aber wird er's auch verraten?« meinte Asta, »das könnte das Korps ihn
+doch teuer entgelten lassen?«
+
+»Ich glaube, wenn ich mit der Polizei drohe und darauf aufmerksam mache,
+daß man ihn wegen Beihilfe zum Zweikampf mit tödlichen Waffen am
+Schlafittchen kriegen könnte, dann wird er wohl mit sich reden lassen!«
+
+»Ach, Papachen, wie klug Du bist!« riefen die Töchter, strahlend vor
+Entzücken über das unerwartete Abenteuer. Himmel, wie interessant endete
+der Abend, der so langweilig, ganz nach dem Schema F verlaufen war.
+
+»Nun aber müssen Sie schlafen, liebes Fräulein,« meinte die Präsidentin,
+nachdem ihr Gatte sich entfernt hatte, um das Telegramm aufzugeben. »In
+einer Stunde müssen Sie schon wieder zum Bahnhof, die sollen Sie
+wenigstens zur Ruhe benutzen.«
+
+Aber Asta dankte. Sie könne nachher in der Eisenbahn noch genug
+schlafen, sie würde jetzt doch kein Auge zutun. Nur Hunger habe sie
+noch, wenn sie's denn schon sagen solle, und Durst auch.
+
+Und die vier Frauen schwatzten und lachten zusammen wie alte Freundinnen
+... und nur selten einmal ging's einer von ihnen durch den Kopf, was für
+morgen auf dem Spiele stand.
+
+Papachen würde schon alles machen. Wenn Papachen eine Sache in die Hand
+genommen hatte, dann konnte es ja nicht schief gehen!
+
+
+Als Asta und der Präsident fast als einzige Passagiere dem Frühzuge
+entstiegen, trat ein behäbiger Herr in einem undefinierbaren Räuberzivil
+auf den alten Herrn zu.
+
+»Verzeihen Sie gütigst, ich habe wohl die Ehre, Herrn Senatspräsidenten
+Pilgram ... Mein Name ist Gensel, Königlicher Kriminalkommissar. Stelle
+mich im Auftrage der Kreishauptmannschaft zu Ihrer Verfügung.«
+
+»Ah, charmant, Verehrtester. Haben Sie auch einen Gendarmen zur Hand?«
+
+»Der wartet draußen mit seinem Gaul.«
+
+»Nun, und was ist sonst geschehen?«
+
+»Ja, Herr Präsident, wir haben unser Möglichstes getan. Wir haben sofort
+zwei Kriminalschutzleute zu den Wohnungen der beiden jungen Leute
+geschickt und feststellen lassen, ob sie zu Hause wären. Ihr Herr Sohn
+hat seine bisherige Wohnung bei dem Kanzleirat Buchner seit gestern ganz
+aufgegeben und ist ins Hotel übergesiedelt, in welches, das wußten die
+Leute nicht. Und der andere, Herr Thumser heißt er ja wohl, der ist heut
+nacht nicht nach Hause gekommen.«
+
+»Teufel! Das ist scheußlich -- was nun?!«
+
+»Ja, was nun, Herr Präsident? Ich weiß auch nicht, was ich machen soll!«
+
+Der Jurist sann eine Weile nach, dann erklärte er dem Polizeibeamten
+seinen Plan, durch den Fuhrwerksbesitzer den Duellanten auf die Spur zu
+kommen.
+
+Der Kommissar war völlig einverstanden. Man stieg in eine Droschke und
+rollte durch die hier noch immer mit kotigem Schnee bedeckten Straßen
+zum Bayrischen Bahnhof.
+
+Im trüben Laternenschein huschten hastige Fußgänger vorüber, das Leben
+der großen Stadt erwachte -- die Arbeit begann.
+
+Die Herren berieten eifrig während der kurzen Fahrt. Der Präsident im
+Rücksitz, der Kriminalkommissar ihm gegenüber. Asta lehnte in ihrer
+Ecke, fröstelnd, übernächtig, von Angst geschüttelt, und lauschte der
+halblauten Unterhaltung der Herren.
+
+Der Gendarm war vorausgetrabt. Als man vor dem Fuhrhof ankam, hielt er
+bereits an dem Portal mit dem Geschäftsinhaber, einem grobknochigen Mann
+in Flausrock und Holzpantoffeln.
+
+Schnell kletterte der Kommissar aus dem Wagen und inquirierte sofort den
+Fuhrherrn:
+
+»Ist der Wagen für das Korps Franconia schon fort?«
+
+»Weeß Knebbchen, ja, Herr Kommissar, schon seit zehn Minuten is er
+weg ... tut mir sähre leid.«
+
+»Und wohin geht die Fahrt?«
+
+»Das kann ich Sie nich sagen, uff mei Ehrenwort nich. Der Wagen is
+bestellt für um den Herrn Volkner abzuholen, Kleine Fleischergasse fünfe
+... aber da wird er nu ja woll ooch schon nich mehr sinn.«
+
+Der Präsident war ebenfalls ausgestiegen und fragte: »Na, lieber Herr,
+Sie werden ja doch wohl eine Ahnung haben, wohin es geht?! Wo fahren
+denn die jungen Herren gewöhnlich hin, wenn sie was Besonderes vorhaben,
+he?!«
+
+»Nu, mei gutester Herr, wenn ich's ehrlich sagen soll, gewehnlich machen
+se doch so was im Ratsholz ab, un da gibt's eigentlich nur een' Weg:
+Kaiser-Wilhelm-Straße 'runter, dann Kaiserin-Augusta-Straße, am alten
+Wasserwerk vorbei und ins Streitholz hinein. Freilich, was für ä
+Plätzchen se sich dasmal haben ausgesucht, davon habe ich Sie natierlich
+de leiseste Ahnung nich, mei gutester Herr.«
+
+»Also, Herr Robolski,« sagte der Kriminalkommissar, »ich mache Sie
+darauf aufmerksam: Wenn sich's herausstellt, daß Sie uns nicht die reine
+Wahrheit gesagt haben, dann krieg' ich Sie bei die Hammelbeene,
+verstehen Sie mich?!«
+
+»Mein Ehrenwort,« sagte der Fuhrherr, »mein heiligstes Ehrenwort, Herr
+Kommissar, das, was ich gesagt habe, ist alles, was ich weeß.«
+
+»Schön! Also, Gendarm Mehlhorn, Sie haben gehört: sitzen Sie auf, traben
+Sie was haste was kannste nach dem Streitholz. Wir kommen nach. Sie
+reiten bis zum Schnittpunkt der 'Neuen Linie' und der 'Linie',
+meinetwegen auch die 'Linie' hinauf, bis zum Flußgraben, dann zurück bis
+zum Wegekreuz, dort warten! Merken Sie inzwischen was von den
+Duellanten, so greifen Sie selbständig ein, verstanden?!«
+
+»Zu Befehl, Herr Kommissar!« sagte Mehlhorn dienstlich, schwang sich auf
+seinen Braunen und klapperte die Bayrische Straße hinunter.
+
+Die beiden anderen Herren verabschiedeten sich mit flüchtigem Gruß und
+Dank von dem Fuhrwerksbesitzer, wiesen den Kutscher an, hinter dem
+Gendarmen drein zu fahren, stiegen ein, und die Gäule zogen an.
+
+Die drei im Wagen schwiegen und sannen.
+
+Vom Bayrischen Bahnhof blinkten grelle Signallichter, schrillten
+Lokomotivenpfiffe, ratterten mit dumpfen Stößen ausfahrende Züge über
+die Schienen. Drüber stand schon heller Tagesglast. Auf der matt
+erleuchteten Kreisscheibe der Bahnhofsuhr standen die beiden Zeiger in
+einer geraden, senkrechten Linie ...
+
+O Gott, wenn man zu spät kam! Es konnte sich ja nur um Minuten handeln.
+
+
+
+
+ 16.
+
+
+Hans Thumser erwachte. Oben an der Decke war irgend etwas, das blendete
+ihn. Mit verschlafenen Augen blinzelte er hinauf und sah, daß es
+Laternenschein war, der, von drunten herauffallend, das Lichtbild eines
+Fensters auf die weiße Tünche zeichnete. Teufel ja, wo kam das denn her?
+Das war sonst doch nicht so?!
+
+Mit einem Mal fiel's ihm ein: er war ja gar nicht in seinem eigenen
+Zimmer, lag nicht in seinem Bett ... aber wo nur? Richtig, er war ja
+doch auf Volkners Bude -- aber warum nur, was war denn eigentlich los?
+
+Mit einemmal krampfte sich sein Herz zusammen in siedendem Schreck: o
+Gott, morgen früh --!
+
+Eigentlich doch eine sehr vernünftige Idee von Volkner, ihn nicht allein
+zu lassen in dieser Nacht, in dieser vielleicht ... letzten Nacht. Und
+auch sonst war alles sehr vernünftig gewesen, was der Senior gesagt und
+geraten:
+
+»Weißt Du, Thumser, vor einer solchen Affäre ist das einzig Richtige,
+sich so zu betragen, als sei gar nichts Besonderes los. Um Gottes
+willen, bloß sich nicht hinsetzen und ein halbes Dutzend Abschiedsbriefe
+schreiben: an die Eltern, an den Schatz, an die Erbtante, und wer weiß
+an wen sonst noch. Das hat ja gar keinen Zweck. -- Mein Gott, so'n
+bißchen Knallerei! Ja, wenn Du jedesmal Dein Testament machen wolltest,
+wenn Du Dich in Lebensgefahr begibst, dann müßtest Du es von Rechts
+wegen machen, so oft Du vor die Tür gehst! Ueberall kann Dir ein
+Dachziegel auf den Schädel fallen. Und wenn Du in Deiner Bude und im
+Bette bleibst, kann schließlich die Decke einstürzen ...«
+
+Des Korpsbruders rheinischer Leichtsinn hatte Hans Thumser über die
+Abendstunden hinweggeholfen. Man war auf der Kneipe gewesen, hatte
+Quodlibet gespielt und den blödesten Bierulk betrieben. Dann hatte
+Volkner ihn mit auf seine Bude geschleift, ihm großmütig sein Bett
+abgetreten und sich dann selber auf dem Kanapee einlogiert. Von dort
+herüber drang jetzt sein melodisches Schnarchen. Na ja, der hatte gut
+schnarchen!
+
+Vorher aber, vor dem Einschlafen, hatten die zwei noch einen besonderen
+Trall ausgeheckt: Volkner hatte seine Geige genommen, und beide waren
+sie vor die Kammertür von Volkners bejahrter Hauswirtin gezogen und
+hatten ihr ein Ständchen gebracht, indem sie zu sanft hinschmelzender
+Violinbegleitung das schöne Lied gesungen hatten:
+
+ Seh ich ein Haus von weitem,
+ Wo ein lieb Mädel träumt,
+ Sing ich zu allen Zeiten
+ Ein Lied ihr ungesäumt.
+ Und wird's im Fenster helle,
+ Sei es auch noch so spat:
+ So weiß ich auf der Stelle
+ Wieviel's geschlagen hat.
+
+Erst als die Pantoffeln der Alten von drinnen gegen die Tür knallten,
+hatten sie Ruhe gegeben und waren dann beide auch sofort eingeschlafen.
+
+Volkners Bude befand sich im ersten Stock des Hauses, das an der Kleinen
+Fleischergasse dem Cafébaum direkt gegenüber lag. Und der Lichtschein
+der Laterne, die neben dem Eingang des Restaurants stand, war es, der
+Hans Thumser geweckt hatte. Er tastete nach seiner Taschenuhr und
+stellte im matten Reflex des Deckenlichts fest, daß es zwei Uhr war.
+
+Auf halb fünf war der Korpsdiener zum Wecken, auf viertel sechs der
+Wagen bestellt. Um viertel sieben sollte der erste Schuß fallen ... also
+noch zwei und eine halbe Stunde Schlaf und vielleicht noch vier und eine
+viertel Stunde zu leben ...
+
+Die ganze vorige Nacht hindurch hatte Hans Thumser wie ein Sack
+geschlafen. Die nötige Bettschwere hatte er sich ja schon vor dem
+Zusammenstoß mit Pilgram angezecht. Der gestrige Tag war in beständiger
+Unrast hingegangen, und so kam jetzt in nächtlicher Stille zum erstenmal
+Ordnung in den Wirrwarr der Gedanken, die um das Schicksal der kommenden
+Morgenstunde flatterten.
+
+Also sterben vielleicht ... und warum denn eigentlich? Nun, die Antwort
+war sehr einfach: Ein anderer war Hansens Ehre zu nahe getreten, hatte
+ihn tätlich aufs schwerste beleidigt, dafür galt es eben die
+standesübliche Sühne zu fordern.
+
+Schön! Das klang ja ganz vernünftig. Aber schließlich ... eine
+Beleidigung hatte doch irgendeinen Grund, ein Motiv. Was hatte er
+Pilgram denn eigentlich zuleide getan? Was hatte er begangen, daß
+Pilgram ihn wie einen ehrlosen Buben behandelt hatte? Nun, das eine war
+ja klar: Pilgram war eifersüchtig, er bildete sich ein, er selber, Hans
+Thumser, sei sein Nebenbuhler bei Jucunda, und zwar ein begünstigter.
+Ein begünstigter? Ach, du lieber Gott ...!
+
+Freilich, an ihm selber hatte es ja nicht gefehlt ... Und wer weiß, was
+geschehen wäre, wenn nicht im Augenblick, als Jucunda anfing, gnädig zu
+werden, sehr gnädig -- -- wenn nicht der andere dazu gekommen wäre,
+dieser fade Laffe, über dessen blasiertem Geckenschädel der Nimbus einer
+Fürstenkrone schwebte?
+
+Aber schließlich, es war doch ein Irrtum, wenn Pilgram sich einbildete,
+Thumser sei glücklicher gewesen als er selber.
+
+Also ein Mißverständnis! Ein Wahn!
+
+Aber da war noch etwas andres, das nicht stimmte: Was das nur mit dem
+Brief gewesen war, den Pilgram ihm vorgehalten? Offenbar ein Brief von
+Jucunda, ein Brief, in dem sie sein Eintreten für ihre Ehre mehr oder
+weniger verblümt abgelehnt hatte. Und dieser Brief hatte auf einem
+Briefbogen gestanden, der seine, Hans Thumsers, Initialen trug. Wie kam
+der Brief auf dieses Papier? Erst jetzt in der Stille der Nacht fand
+Hans Zeit, um über dies Phänomen nachzugrübeln ...
+
+Und plötzlich stand ihm der Augenblick vor der Seele, wie er Jucunda
+und ihrer Mutter sein Zimmer zur Verfügung gestellt hatte, um sich
+auszusprechen. Natürlich, das war's ja! Da hatten die Frauen das
+Uriasbrieflein ausgeheckt und das liebliche Plänchen gleich realisiert.
+Sie hatten genommen, was gerade zu erreichen war, das Briefpapier
+des Mannes, der ihnen vertrauensvoll seine Behausung zur Verfügung
+gestellt ...
+
+Pilgram aber, der hatte natürlich für die sonderbare Erscheinung sich
+eine ganz andere Erklärung in den Kopf gesetzt. Er mußte sich
+eingebildet haben, der Korpsbruder sei mitschuldig an der Abfassung des
+Briefes, habe ihn vielleicht sogar redigiert ...
+
+Also Mißverständnis Numero zwei.
+
+Schön! Zwei grobe Irrtümer in der Rechnung. Wenn man sich aber einmal in
+Pilgrams vermutliche Auffassung hineinzudenken versuchte, so konnte man
+ihm schließlich nicht so unrecht geben, wenn er bis aufs Blut gereizt
+war, wenn er den einstigen Korpsbruder infamer Gesinnung und
+Handlungsweise verdächtigte.
+
+Und darum Mord und Totschlag! Darum zwei junge Leben vor die Mündung
+geladener Pistolen gestellt! War das nicht Wahnsinn? War es nicht noch
+in diesem Augenblick Pflicht, eine offene Aussprache herbeizuführen, den
+Irrtum aufzuklären?!
+
+Aber bei dem Irrtum war es nicht geblieben. Er hatte eine schreckliche
+Folge gehabt: die rasche Tat, eine Tat, die nicht milder war denn ein
+Schlag mitten ins Angesicht des Feindes. Und auch zu diesem Schlag wär's
+ja gekommen, wenn nicht die Korpsbrüder dazwischen getreten wären.
+
+Mißverständnisse und Irrtümer ließen sich aufklären -- die Tat war nicht
+ungeschehen zu machen. Der Kavalier, der von einem Kavalier einen Schlag
+erhält, muß blutige Sühne fordern. Das war das eiserne Gebot des
+Ehrenkodex, daran war nicht zu deuteln noch zu rütteln.
+
+Und dann -- wer mochte den ersten Schritt tun? Machte der sich nicht
+verdächtig, als sei es nur die Angst vor der blauen Bohne, die ihn zur
+Aussöhnung geneigt machte? Würde man ihn nicht der Kneiferei zeihen?
+
+Der Kneiferei? Nun, wer vierzehn Schlägermensuren mit Ehren bestanden
+hatte, brauchte der sich vor dem Verdacht der Kneiferei zu fürchten?
+
+Halt! So eine Knipserei, das war doch was andres als das bissel
+Bestimmungsmensur mit Binden und Bandagen.
+
+Nein, da war nichts zu wollen, dafür war man Korpsstudent! Der andere,
+der war an allem schuld. Der hätte die Aussprache herbeiführen müssen
+vor der Tat. Daß er dem Freund, dem Korpsbruder aus drei Semestern eine
+ehrlose Gesinnung überhaupt zugetraut, das war die eigentliche
+Beleidigung, das war die Schmach, die nur mit Blut abgewaschen werden
+konnte. Die Worte, die Handlungen, die aus dieser abscheulichen
+Unterstellung erwachsen waren, die waren schließlich nichts anderes als
+der zufällige Ausdruck für einen Verdacht, der auch ohne Wort und Schlag
+ins Herz der Ehre traf.
+
+Nein, es gab keinen anderen Ausweg -- und so würde man morgen früh
+aufeinander losknallen »bis zur Kampfunfähigkeit«.
+
+Und nun kamen die Gedanken an daheim. An Eltern und Geschwister -- nein,
+das ging ja doch nicht, einen solchen Gang zu tun, ohne sich vorher von
+den liebsten Menschen verabschiedet zu haben. Wenn er nun fiel -- wie
+sollten sie diese wirre, dunkle Geschichte verstehen? Sie würden doch
+nachforschen, würden wissen wollen, was denn eigentlich geschehen war,
+wie es hatte so weit kommen können -- und dann war's zu spät. Dann war
+sein Mund, der allein Licht in die Wirrnis hätte bringen können,
+verstummt. Sein Tod würde den Lieben ein düsteres, grauenhaftes Rätsel
+bleiben.
+
+Also das geht nicht. Hans wird aufstehen und einen langen, langen Brief
+an die Geliebten daheim schreiben. Ihnen alles erzählen, ohne
+Verschweigen, auch das Glück -- die landläufige Moral nannte es ja wohl
+ein sündiges Glück --, das er in Asta Thönys Armen genossen, auch die
+verworrenen Dränge, die ihn zu Jucunda getrieben. Alles, alles wird er
+berichten, und so wird wenigstens Klarheit liegen über seinem
+schauerlichen Ende ...
+
+Ob sie ihn verstehen werden daheim? Mein Himmel, der Vater ist doch auch
+einmal jung gewesen ...
+
+Und in Gedanken entwarf Hans Thumser den Wortlaut seiner Beichte. Immer
+eindringlicher, immer inbrünstiger vertiefte er die Schilderung seines
+Seelenzustandes, immer heißer und drängender formte er seine Bitte um
+Verständnis, um Vergebung, um ein Gedenken ohne Groll. Und über all dem
+Sinnen und Grübeln war er plötzlich versunken und verschwunden und
+wachte erst wieder auf, als Volkner ihn wach rüttelte, und die
+schlampige Alte, die sie beide gestern abend angeserenadet, in
+Nachthaube und Nachtjacke, grimmigen Gesichts und knurrenden Mundes den
+Kaffee auf den Tisch setzte.
+
+Nun war's zu spät, nach Hause zu schreiben. Nun blieb's doch bei
+Volkners Theorie.
+
+Die trockenen Semmeln von gestern wollten nicht in die Kehle, der
+glühheiße Bliemchenkaffee blieb fast unberührt. Ein Glück, daß Volkner
+mit ein paar Tafeln Schokolade und einem besseren Schnaps versehen war.
+
+Geschäftig bediente er den Korpsbruder, wie man um einen Kranken, um
+einen Sterbenden sich müht. Und dabei fühlte Hans Thumser ganz deutlich,
+daß der andere sich im tiefsten Innern höchst mollig fühlte bei dem
+Gedanken: Gott sei Dank, daß ich selber nicht derjenige welcher bin!
+
+Um Punkt halb sechs knallte drunten die Peitsche des Kutschers. Die
+jungen Männer machten sich bereit.
+
+Im Schauer des dämmrigen Morgens fuhr Hans Thumser fröstelnd zusammen,
+als sie vor die Tür traten, als sein Blick auf die eingeschnurrte
+Gestalt des Korpsdieners fiel, der übernächtig auf dem Bock neben dem
+Kutscher hockte und auf den Knien einen schmalen, schwarzpolierten
+Kasten trug ...
+
+Nebeldurchdunstet lagen die Straßen. Das Weiß des frischen Schnees war
+längst in ein kotiges Braun verwandelt, das der Frost der jüngsten Nacht
+mit tausend Rauhreifkristallen überzogen hatte. Ringsum erwachte das
+Leben der großen, fleißigen Stadt der Arbeit.
+
+Den Rockkragen hochgeschlagen, dampfenden Atems schritten die Männer,
+huschten die Frauen einher, jeder an sein Geschäft. Schwarz und finster
+reckten sich die Fronten der alten Straßen, deren Häuser sich im Laufe
+der Jahrhunderte aus eleganten Wohnpalästen in dumpfe, mit Affichen
+überladene Geschäftshäuser verwandelt hatten.
+
+Aber die Nebel sanken, von Osten wuchs die junge Tageshelle. Erste,
+schüchterne Sonnenstrahlen spielten droben um die Giebeldächer, ein Tag
+voll winterlicher Herrlichkeit flammte herauf.
+
+Nun wurden die Anlagen durchquert. Weißleuchtend zackte sich das Gewirr
+der umreiften Aeste ins junge Blau.
+
+Ivo Volkner aber und Hans Thumser studierten eifrig den
+S. C.-Pistolen-Komment, der in einem handschriftlichen Exemplar auf
+ihren Knien lag, und zündeten eine Zigarette an der anderen an.
+
+Ganz kühl und geschäftsmäßig sprachen sie immer und immer wieder den
+vorgeschriebenen Gang der Mensur durch, um später auch nicht den
+leisesten Schnitzer zu begehen.
+
+Endlich aber hielt es Hans Thumser nicht mehr aus. Er schob das
+schwarzgebundene Heft zurück, riß das frostbeschlagene Wagenfenster auf,
+atmete in tiefen Zügen die Morgenfrische und sog mit brennenden Augen
+das Bild der Morgenwelt in sich hinein.
+
+Und eine wilde Sehnsucht kam über ihn -- Sehnsucht nach all dem
+Unsagbaren, das von da draußen in seine Seele hineinflutete, nach all
+dem unendlich Schönen des Lebens, das er doch kaum mit erstem Erwachen
+des Begreifens gegrüßt ... und das doch schon tausend Vorahnungen
+künftiger Glücksmöglichkeiten in ihm geweckt hatte. Ach,
+Glücks=möglichkeiten=?! Nein, er =war= ja schon glücklich gewesen!
+
+Asta Thöny! klagte es in seiner Seele. Gott! so undankbar konnte man
+sein? An sie hatte er noch gar nicht gedacht ... Daß er von ihr sich
+verabschieden mußte, das war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen ...
+Und doch -- wieviel hatte sie ihm geschenkt! Wie unsäglich gut war sie
+zu ihm gewesen, und er ... er hatte sie achtlos beiseite geschoben. Und
+das letzte, das er von ihr gesehen, waren bittere Tränen gewesen.
+
+Zu spät ... Nun mußte das Schicksal seinen Gang gehen. Nun blieb nur
+noch eins: der Feindeskugel die Brust zu bieten und die Stirn dem
+wahllosen Walten des Geschicks.
+
+Und doch, wie schön die Welt! Wie reich, was sich barg hinter den weißen
+Nebelschwaden, die das Kommende verhüllten. Wie selig selbst dieser
+Augenblick ahnungsvollen Grauens ...
+
+Und Hans Thumsers Seele fühlte sich leben in diesem Augenblick. Leben,
+wie sie nie zuvor gelebt ... In langen, schmerzvollen Zügen trank sie
+das Glück des Augenblicks hinein. Das Glück, noch da zu sein, noch ein
+paar schmerzvoll süße Minuten lang die tiefe Wonne des Daseins atmen zu
+dürfen.
+
+
+In einem billigen Zimmer des Hotel de Russie -- dritter Stock nach
+hinten hinaus -- hatte Valentin Pilgram sich einquartiert und die halbe
+Nacht mit Briefeschreiben zugebracht. Erst nach Mitternacht hatte er
+sich aufs Bett gestreckt und ein paar Stunden hingedämmert ...
+
+Nun marschierte er auf dem Reitweg, der erst rechts, dann links der
+»Neuen Linie« durch das Streitholz führte, dem Kampfplatz entgegen, ein
+einsamer Wanderer ...
+
+Er hatte sich nicht entschließen können, die letzten Augenblicke in
+Gesellschaft seines ihm tief unsympathischen Sekundanten Borgmann
+zuzubringen, mit dem er zweimal die Klinge und noch viel öfter in
+hitzigen Debatten des S. C. das Schwert des Wortes gekreuzt.
+
+Um nicht mit dem Wagen zusammenzutreffen, war er vom Fahrdamm abgebogen,
+auf den Reitweg hinüber, auf dem um diese Morgenstunde noch keine
+Begegnung zu befürchten war. Er sah nicht die Pracht des jungen Tages,
+fühlte nicht die Schönheit des Daseins, die ringsum tausend Wunder
+winterlicher Herrlichkeit erblühen ließ. Er fühlte nichts als seinen Haß
+-- sah nichts als die Gestalt des Gegners, wie sie nun gleich vor ihm
+stehen würde, ein sicheres Ziel dem stählernen Druck seiner Hand, dem
+unbeirrbaren Blick seines Auges.
+
+Da ließ ein Geräusch ihn aufschauen, ein Geräusch, das rasch sich
+näherte. Pferdegetrappel war's, gedämpft durch den Schnee -- nur wenn
+die Hufe ab und an gegen die harte Eiskruste stießen, die den Boden
+überzog, dann gab's einen klirrenden Ton. Der hatte ihn geweckt.
+
+Da vorne, in den silbernen Nebeln, die noch über der Pleißeniederung
+lagerten, tauchten, schattenhaft abgehoben vom umgoldeten Himmel, zwei
+Reitersilhouetten auf: ein Herr und eine Dame. In raschem Trabe näherten
+sich die schnaubenden Gäule.
+
+Valentin Pilgram konnte keines Menschen Blick ertragen in diesem
+Augenblick. Er trat rasch hinter den mächtigen Schaft einer Eiche und
+ließ die Reiter vorüberflitzen. Im letzten Augenblick erkannte er sie:
+es waren Jucunda und der Erbprinz.
+
+Es war ihm, als hätte er einen Stoß vor die Brust erhalten. Er taumelte,
+starrte ein paar Sekunden wie ein Blödsinniger hinter den enteilenden
+Schatten her. Noch klang Jucundas übermütiges Lachen, des Prinzen
+näselnde Stimme in sein Ohr:
+
+»... mal sehen, ob der Generalintendant meines alten Herrn für ein
+Gastspiel in diesem Winter ...«
+
+Das waren die Worte, die er aufgefangen ...
+
+Ha ha! -- ha ha ha ha ha --!! Das also war das Ende! Darauf lief es
+hinaus!
+
+Während er zum Todesgange schritt mit jenem andern, der ihm der
+Glückliche gewesen war bis zu diesem Augenblick ... In derselben
+Stunde ... pfui Deubel! pfui Deubel!
+
+In dumpfer Betäubung trottete er weiter.
+
+Wo war der blindwütende Haß, der ihm den Nacken gestählt, die Sehnen
+gestrafft? Verweht -- verflattert, wie die weißen Nebelschwaden um die
+rauhreifumsilberten Kronen der Bäume zerwehten.
+
+Und plötzlich ward er sich des grausamen Wahnsinns bewußt, der in all
+den Geschehnissen lag, die er selbst ins Rollen gebracht, und die nun
+abschwirrten, wie ein gräßlich zermalmender Mechanismus, unhemmbar,
+unwiderstehlich.
+
+Da blinkte schon der Lauf der Pleiße ... da vorn tauchte aus den
+Morgendünsten der Umriß eines Wagens auf, der sich im Schritt gen Süden
+bewegte, und hinter ihm klang das Rollen eines zweiten Wagens.
+
+Er beschleunigte den Gang, er mochte sich nicht überholen lassen, weder
+von seinem Sekundanten noch von der ... andern Partei.
+
+Nun hatte er die »Linie« erreicht, verfolgte sie einige hundert Schritte
+weit gen Osten ... und sieh, da öffnete sich rechts eine weite Lichtung:
+die Heiderwiese ...
+
+Am Wegekreuz hielt der Wagen, der vor ihm gefahren war. Er sah, wie drei
+männliche Gestalten ihm entstiegen und durch den Schnee ins Innere der
+Lichtung hinein wateten. Das waren die andern: Hans Thumser, Volkner,
+der Korpsdiener.
+
+Valentin Pilgram blieb am Chausseerand stehen und wartete auf seinen
+Sekundanten. Nach wenigen Minuten war der Wagen heran. Ihm entstiegen
+Herr Borgmann im grellkarierten Winterpaletot, sehr zeremoniös,
+platzend vor Feierlichkeit, und Graf Schmettow, der Meißner-Senior, der
+als Unparteiischer zu fungieren hatte, verkatert, die Scherbe im Auge.
+Und ferner der alte Sanitätsrat Dr. Collwitz, der sich als zweiten
+Paukarzt einen seiner Assistenten mitgebracht hatte. Einen jüngeren,
+bebrillten Herrn mit langflutendem blonden Vollbart. Dieser wurde als
+Doktor Köllicker vorgestellt.
+
+Pilgram dankte den Aerzten für ihr Erscheinen, die üblichen Redensarten
+wurden getauscht in gezwungen nachlässigem Tone, den der Ernst der
+Stunde mit frostigem Schauer durchzitterte. Dann stapften die Herren der
+Gegenpartei nach gen Süden.
+
+Hinter ihnen schritt der Korpsdiener der Neo-Borussia, er trug einen mit
+gelben Messingknöpfen benagelten Koffer, der Instrumente und Materialien
+für die Aerzte enthalten mochte.
+
+Valentin Pilgrams Blicke suchten den Gegner und erkannten die schlanke,
+geschmeidige Gestalt. Aber wohin war der Haß geschwunden, der ihn durch
+Wochen gemartert, wenn er Hans Thumsers bloß gedachte?! Er sah nur noch
+den Freund, den Korpsbruder aus drei Semestern.
+
+Thumser hatte seinen Paletot abgelegt und stand mit offenem Jackett,
+über der Weste blitzte das grün-gold-rote Band.
+
+Und dahin sollte man nun zielen, dahin das Todesblei entsenden?!
+
+Und doch, es gab kein Zurück ... Und ob er wollte oder nicht, die
+grausame Farce mußte nun mit Anstand zu Ende gespielt werden ...
+
+Und rasch und vorschriftsmäßig wickelte sich nun der Gang der Dinge ab.
+In genauestem Anschluß an den Wortlaut des Komments wurden nun die
+Plätze bestimmt, so daß das Licht gleichmäßig verteilt war; wurden die
+Waffen geladen, die Duellanten instruiert. Der Unparteiische schritt
+selber mit Riesensätzen seiner langen Storchbeine die Barriere ab und
+bezeichnete sie durch zwei niedergelegte Spazierstöcke, hüben und
+drüben. Noch zehn Schritt weiter jenseits wurden durch Kreuze, die in
+den Schnee geritzt wurden, die Plätze für die Duellanten festgelegt, die
+sonach durch fünfunddreißig reichlich bemessene Schritte voneinander
+getrennt waren.
+
+Zuletzt nahmen die Sekundanten ihren Fechtern noch Brieftasche, Uhr und
+Geldbörse ab und geleiteten sie dann zu ihrem Platze. Dort übergaben sie
+ihnen die Waffen und traten dann jeder zwanzig Schritt zur Seite.
+
+Der Unparteiische nahm seinen Stand zwanzig Schritte seitwärts von der
+Mitte der Schußlinie.
+
+»Meine Herren!« sprach er mit schallender Stimme, »ich wiederhole noch
+einmal: ich zähle bis vier. Wenn ich eins! gezählt habe, dürfen Sie
+avancieren bis an die Barriere, bis vier müssen Sie abgeschossen haben.
+Herr Thumser, als der Beleidigte, hat den ersten Schuß. -- Bin ich
+verstanden?«
+
+Mit stummem Nicken antworteten die Gegner.
+
+Hochaufgerichtet stand Hans Thumser und sah übers schneeblinkende Feld.
+Endlos schien ihm die Entfernung, die ihn von dem Feinde trennte. Aber
+er wußte, daß sie sich rasch verringern würde, zusammenschrumpfen zu
+einem schrecklichen Aug' in Auge ...
+
+Ein jähes Frösteln rann durch seine Gestalt, kaum konnte er das Klappern
+seiner Zähne bemeistern, kaum den Hahn der Pistole spannen ... Und nun
+noch ein Blick in die goldige Morgenwelt hinaus. Ein Blick in die
+Zukunft, die vor ihm versinken wollte wie der Tau einer Nacht. Und da
+überfiel ihn eine jähe, ingrimmige Wut auf den, der ihm das alles rauben
+wollte. Nein, sich wehren ... sich wehren bis zum letzten Atemzug! Ins
+Herz den Gegner treffen -- ins Herz! Wenn einer fallen soll, gut, so
+sei's der andere!!
+
+»Eins!« scholl da schneidend scharf das Kommando des Unparteiischen.
+
+Und nun war alles versunken, alles bis auf die hagere, starr
+emporgereckte Gestalt da drüben, die einst geliebte, nun bis in den Tod
+gehaßte ...
+
+Wie fern sie war, wie klein ... und nun, nun kam sie heran, nun wuchs
+sie ... wuchs und wuchs ... und nun blieb sie stehen ... bot sich zum
+Ziel ...
+
+Da raffte auch Hans Thumser sich zusammen. Mit hastigen Schritten schoß
+er vorwärts, bis seine Fußspitzen den Spazierstock berührten, der die
+Barriere bezeichnete.
+
+»Zwei!« klang des Unparteiischen Stimme.
+
+Hans Thumser hob die Waffe bis in die Augenhöhe, zielte auf des Gegners
+Brust, sah ganz deutlich, wie über dem Visier die breiten Schultern
+standen, das fahle Gesicht.
+
+»Drei!«
+
+Da drückte er los ...
+
+Er sah den Gegner wanken, sah, wie die Rechte, welche bisher die Waffe
+gesenkt gehalten, eine rasche, zuckende Bewegung nach der linken
+Schulter machte. Dann aber fand der Taumelnde Halt, hob nun ebenfalls
+den Lauf, aber hoch bis über die Stirn, und schoß -- schoß hoch in die
+Luft ...
+
+»Vier!« klang das Kommando des Unparteiischen.
+
+In diesem Augenblick ließ Valentin Pilgram die Pistole fallen und griff
+mit der Rechten krampfhaft in das linke Schultergelenk hinein.
+
+Doktor Köllicker sprang zu, riß Pilgrams Rock auf, das weiße Hemd wies
+Blutflecken, er zertrennte es mit raschem Zerren, untersuchte das
+verletzte Gelenk. Dann winkte er dem Sanitätsrat, der hinzutrat.
+
+Auch Borgmann, der Sekundant, und Graf Schmettow eilten zu dem
+Verwundeten heran.
+
+Der lächelte mit schmerzverzerrtem Munde. »Viel scheint's nicht zu sein,
+meine Herren. Von mir aus kann's weiter gehen!«
+
+Aber der linke Arm hing kraftlos herunter, ein Versuch, ihn zu bewegen,
+mißlang.
+
+Die Herren steckten in flüsternder Beratung die Köpfe zusammen. Die
+Forderung lautete bis zur Kampfunfähigkeit ... und die lag wohl nicht
+vor, obwohl das Schultergelenk schwer verletzt schien.
+
+Hans Thumser trug's nicht länger. Der andere hatte, obwohl getroffen,
+seinen Schuß verloren gegeben. Was konnte das bedeuten? Doch nur dies
+eine: die Erkenntnis begangenen Unrechts.
+
+Hans winkte seinen Sekundanten heran.
+
+»Ich kann nicht mehr, Volkner -- geh und biete Satisfaktion an ...«
+
+In derselben Sekunde scholl auf der Chaussee ein hastiges Hufegeklacker,
+und eine atemlose Männerstimme keuchte:
+
+»Halt! Im Namen des Gesetzes: halt, meine Herren!«
+
+Zwischen den Büschen des Wiesenrandes tauchte ein goldblinkender Helm
+auf, ein grüner Waffenrock, der braune Bug eines Pferdes, in rasendem
+Galopp gestreckt. Fünf Minuten später preschte der Reiter an der Gruppe
+der Herren vorüber, die sich um den Verwundeten zusammengeballt hatten,
+warf den Gaul herum, versuchte den Flankenzitternden, Schäumenden zum
+Stehen zu bringen.
+
+Hans Thumser hielt sich nicht länger. In langen Sätzen übersprang er die
+fünfzehn Schritt, die ihn von dem Verwundeten trennten, streckte ihm die
+Hand hin:
+
+»Komm, Pilgram -- das geht ja doch nicht mehr!«
+
+Die Herren, die den Verwundeten umdrängten, hatten ihm Platz gemacht.
+
+Aug' in Aug' standen die einstigen Freunde einander gegenüber, tauschten
+einen Blick, in dem mehr als Versöhnung lag ... Genesungsglück
+schimmerte darin, neue Hoffnung, neues Leben ...
+
+Mit der heilen Rechten schlug Valentin Pilgram in Hans Thumsers Hand
+ein ... und auf einmal lagen die Jünglinge sich in den Armen.
+
+Da klangen wiederum Hufschläge auf der Chaussee. Und sieh, ein Wagen
+hielt am Wiesenrand, ihm entstiegen zwei Herren und eine Dame, die mit
+hastigen Schritten über den schneebedeckten Wiesengrund herankamen.
+
+Nun löste sich aus der Gruppe der drei die hagere Gestalt eines alten
+Herrn in Gehpelz und Zylinder los, der mit langen Sätzen über die
+klirrenden Schollen voranstelzte. Immer hastiger ward sein Gang ... ward
+zum Lauf ...
+
+»Donnerwetter!« schrie da Volkner plötzlich, »sieh doch nur, Pilgram --
+Dein alter Herr!«
+
+Die Aerzte hatten sich ins Mittel gelegt und die Umarmung der
+wiedergefundenen Freunde getrennt, um sich ihres Patienten zu
+bemächtigen und die verletzte Schulter genauer zu untersuchen.
+
+Nun hob Valentin Pilgram den Kopf, alles wich zurück, so daß die Gruppe
+der Herankommenden frei wurde -- und Pilgram erkannte seinen Vater ...
+
+Schon war der Präsident heran, ergriff mit beiden Händen die Rechte des
+Sohnes, die sich ihm entgegenstreckte. Mit zuckenden Augen, mit
+zuckenden Lippen standen Vater und Sohn einander gegenüber.
+
+»Ihr verfluchten Bengels!« sagte der alte Herr, »was macht Ihr für
+Geschichten?«
+
+»Etwas zu spät bist Du doch gekommen, lieber Papa -- Du siehst, der Fall
+ist bereits erledigt!«
+
+»Ich wollt's Euch auch geraten haben! Schlimm genug, daß es so weit
+gekommen ist! Na, was hat's denn abgesetzt?«
+
+»Ach, nicht der Rede wert,« lachte der Junge und zwang den grimmigen
+Schmerz nieder, der von dem verletzten Gelenk aus durch den ganzen
+Oberkörper fraß.
+
+»Nun, und Du wunderst Dich gar nicht, daß ich hier bin?!«
+
+Valentins Blicke hatten die Gestalt des jungen Weibes erkannt, das nun
+herankam in Begleitung eines dicken Herrn. An diesen ritt der Gendarm
+heran und machte ihm in dienstlicher Haltung eine Meldung, während das
+Mädchen mit glühenden Backen und strahlenden Augen nähertrat, um dann
+ein paar Schritt vor den Herren plötzlich tiefbefangen stehen zu
+bleiben.
+
+»Die da, nicht wahr?« fragte Valentin den Vater.
+
+»Jawohl, die da ... zum Dank für ... vorgestern!«
+
+»Ach, ich glaube, es war ihr weniger um mich zu tun ...« sagte Valentin
+Pilgram und suchte das Auge des wiedergefundenen Freundes.
+
+Aber der hatte keinen Blick für ihn. In tiefer Erschütterung, regungslos
+starrte er zu der hellen Gestalt hinüber, die über die weißen Schollen
+herangeschwebt kam wie ein Frühlingshauch. Als sie nun aber stehen
+blieb, da sprang er ihr entgegen, die Hände weit ausgestreckt. Da hob
+auch sie ihm die Hände entgegen, und er ergriff sie und drückte sein
+glühendes Gesicht hinein.
+
+
+Erbprinz Heribert hatte nach seiner Rückkehr vom Morgenritt wie
+gewöhnlich von neun bis zwölf das Kolleg besucht und war dann in seine
+Wohnung im Hotel Hauffe zurückgekehrt, um mit Major von Gorczynski zu
+frühstücken.
+
+»Nun, Durchlaucht, wie war's?« Der Major hob das Portweinglas.
+
+»Danke, ganz nett.«
+
+»Nur ganz nett?!«
+
+»Ach, wissen Sie, lieber Gorczynski, ich glaube, das ist eine von den
+ganz Gerissenen ... die sichert sich =vorher= -- verstehen Sie?«
+
+Der aufwartende Lakai brachte auf silbernem Brett eine Besuchskarte. Der
+Prinz las:
+
+ =Pilgram=
+ Senatspräsident am Königlichen Oberlandesgericht
+ Dresden.
+
+»Haben Sie gesagt, daß wir beim Frühstück sind?«
+
+»Zu Befehl, Durchlaucht, aber der Herr bittet dringend um eine
+Unterredung.«
+
+»Schön -- ins Empfangszimmer.«
+
+Als der Bediente verschwunden war, reichte der Erbprinz seinem Erzieher
+die Karte hinüber.
+
+»Vermutlich der Vater meines ... äh ... meines Kollegen!«
+
+»Kollegen?! Wieso?«
+
+»Na, weil der auch auf die Buchner reingefallen ist. Kommen Sie mit,
+lieber Gorczynski -- für alle Fälle.«
+
+Hoch aufgerichtet, die Ordensrosette im Knopfloch seines Ueberrocks,
+erwartete der alte Herr den jungen Fürsten. Des Umgangs mit
+hochgestellten Persönlichkeiten gewohnt und seiner guten Sache sicher,
+neigte er sich mit gemessenem Selbstbewußtsein.
+
+»Sehr erfreut -- Herr Präsident, was verschafft mir die Ehre? Darf ich
+bekannt machen? Herr Major von Gorczynski -- Herr Präsident Pilgram. --
+Stört Sie die Gegenwart meines Begleiters, Herr Präsident?«
+
+»Ich bitte, Durchlaucht.«
+
+»Bitte Platz zu nehmen, meine Herren.«
+
+»Durchlaucht, ich komme im Interesse meines Sohnes Valentin, den Sie
+kennen!«
+
+»Ich habe die Freude.«
+
+»Durchlaucht wissen, daß mein Sohn aus dem Korps Franconia ausgetreten
+ist, um Ihnen gegenüber für eine Dame eintreten zu können, von der er
+annahm, daß Sie, Durchlaucht, ihr -- --«
+
+»Hm ...« machte der Erbprinz, »ich weiß.«
+
+»Durchlaucht haben die Güte gehabt, diese Angelegenheit in ritterlicher
+Weise beizulegen. Trotzdem hat das Korps Franconia aus Rücksicht auf
+Durchlaucht davon Abstand genommen, meinen Sohn in die Reihen seiner
+Mitglieder wieder aufzunehmen.«
+
+»Allerdings ...« sagte der Erbprinz. »Das habe ich mir wohl so gedacht
+-- aber wenn ich mir eine Zwischenbemerkung erlauben darf, Herr
+Präsident: die Geschichte war mir höchst fatal ... und ich habe mich
+seitdem vom Verkehr bei dem Korps fast völlig zurückgezogen ... Es war
+mir kolossal peinlich ... verstehen Sie, Herr Präsident?«
+
+»Ich begreife sehr wohl,« sagte der Präsident ruhig. »Die jungen Herren
+haben wohl eine zu geringe Meinung von Euer Durchlaucht wohlwollendem
+Verständnis für die korpsstudentische Auffassung gehabt, sonst hätte
+sich doch wohl ein Ausweg finden lassen, um meinem Sohn die
+wohlverdiente Ehre der Zugehörigkeit zu dem Korps -- zu dessen Alten
+Herren ich, beiläufig bemerkt, auch selber zähle -- wiederum zu
+verschaffen. Oder täusche ich mich, Durchlaucht?«
+
+»Ne, ne, mein verehrter Herr Präsident. Sie haben in der Tat vollkommen
+recht ... Wenn's nach mir gegangen wäre ... aber man hat mich ja gar
+nicht gefragt. Mir für meine Person wär's ja doch zehnmal angenehmer
+gewesen, wäre die ganze Geschichte diskret behandelt worden. Aber man
+hatte ja die Sache dermaßen übers Knie gebrochen ... ich stand vor einem
+_fait accompli_ ... und da hielt ich's für das beste, mich um gar nichts
+mehr zu bekümmern. Das werden Sie begreifen, nicht wahr, Herr
+Präsident?«
+
+»Ich begreife vollkommen, Durchlaucht. Ich sehe aber auch, daß ich mich
+in meinen Vermutungen über Eurer Durchlaucht Ansichten von der Sache in
+keiner Weise getäuscht habe: und darum komme ich jetzt mit der formellen
+Bitte, die der Zweck meines Besuches ist: wollen Durchlaucht die große
+Güte haben, durch meinen Mund dem Korps Franconia mitteilen zu lassen,
+daß einer Rückgabe des Bandes an meinen Sohn Ihrerseits nichts im Wege
+steht?«
+
+»Aber mit dem größten Vergnügen, Herr Präsident! Ich bin ja höchst
+erfreut, daß die fatale Geschichte endgültig aus der Welt kommt ...«
+
+»Ich danke ehrerbietigst für diese Gnade, Durchlaucht. Ich glaube, sie
+ist an keinen Unwürdigen verschwendet! Da Sie nun aber in so überaus
+verständnisvoller Weise meinem Vorschlage entgegengekommen sind, so darf
+ich wohl auch noch eine andere Begebenheit erzählen, die mit der
+besprochenen nicht ganz ohne Zusammenhang ist, und die glücklicherweise
+ebenfalls eine Wendung zum Besseren genommen hat?«
+
+Und nun erzählte der Präsident in knappen Worten von dem Renkontre der
+beiden einstigen Korpsbrüder und seinem blutigen Austrag. Die Motive des
+Zusammenstoßes ließ er unberührt. Er konnte sich wohl vorstellen, daß
+der Erbprinz den Zusammenhang auch so durchschauen würde ... und darin
+hatte er sich nicht getäuscht. Als er geschlossen hatte, erhob sich der
+Erbprinz und streckte seinem Besucher die hagere Hand hin:
+
+»Ich danke Ihnen, Herr Präsident, Ihre Geschichte soll mir eine Lehre
+sein ... gewisse Leute sind anscheinend ... äh ... mit Vorsicht zu
+genießen. Was meinen Sie, lieber Gorczynski? Na, ich werde mir's
+merken!«
+
+»Gestatten Durchlaucht nochmals meinen ehrerbietigsten Dank.«
+
+»Aber ich bitte, mein verehrter Herr Präsident -- nur ich habe zu
+danken, nur ich ... Sie haben mir einen größeren Dienst geleistet,
+als Sie vielleicht ahnen. Grüßen Sie Ihren Sohn, oder noch besser:
+sagen Sie ihm, ich hoffe heute abend auf der Frankenkneipe mit ihm auf
+gute Freundschaft anzustoßen ... Doch halt! Vorher müssen wir noch
+einmal ins Theater ... Nicht wahr, lieber Major? Heut ist ja die
+Abschiedsvorstellung der Meininger, das dürfen wir uns doch nicht
+entgehen lassen ... Aber nachher, nicht wahr, Herr Präsident, dann
+treffen wir uns im Cafébaum!«
+
+»Ich hatte gleichfalls vor, das Theater zu besuchen, Durchlaucht, wenn
+ich mir die Bemerkung gestatten darf -- und zwar mit meinem Sohn und
+unserm Korpsbruder Thumser. Die Verletzung meines Sohnes ist ja freilich
+nicht ganz unbedeutend: das linke Oberarmbein ist in Höhe des unteren
+Ansatzes des Oberarmkopfes getroffen, die Kugel ist im Knochen stecken
+geblieben, konnte aber mit Leichtigkeit entfernt werden.«
+
+»Sehr erfreulich zu hören, Herr Präsident. Also auf Wiedersehen heut
+abend, nicht wahr?«
+
+
+Um zwölfeinhalb Uhr fuhr der alte Pilgram am Cafébaum vor, stieg die
+Stufen zur Frankenkneipe hinan und wurde vom Korpsdiener in das
+Konventszimmer geführt, wo Franconias Korpsburschen bereits zum C. C.
+versammelt waren.
+
+Ehrerbietig begrüßte die Schar der Studiosen den Alten Herrn, der sofort
+beim Eintreten eine grüne Mütze, die der Korpsdiener ihm dargereicht,
+auf seinen grauen Schädel gestülpt hatte.
+
+Volkner bat Platz zu nehmen und eröffnete den C. C. Er erteilte dem
+Alten Herrn Pilgram das Wort. Dieser berichtete über seinen Besuch bei
+dem Prinzen und entledigte sich seiner Mission.
+
+Mit strahlenden Gesichtern vernahmen die Korpsburschen die frohe
+Botschaft.
+
+Unmittelbar, nachdem der Alte Herr geendigt, sprach der Senior:
+
+»Ich stelle den Antrag, dem früheren C. B. Pilgram, gewesenen Zweiten,
+Ersten, Ersten das Band zurückzugeben. Wünscht jemand zu dem Antrage das
+Wort?«
+
+Alles schüttelte den Kopf, aus jedem Auge strahlte helles Glück. Hans
+Thumser aber schämte sich nicht, daß ihm zwei Tränen über die frischen
+Wangen rollten. Unfähig jeden Wortes, reichte er dem Präsidenten über
+den Tisch hinüber die Hand.
+
+
+Und nun saßen sie im Carolatheater, auf einer der vordersten
+Parkettreihen. Präsident Pilgram inmitten der beiden jungen Gesellen,
+zur Rechten sein Sohn: er trug den linken Arm in der schwarzen Binde,
+fest im Gipsverband verschient, den Rock nur lose über die linke Achsel
+gehängt, den Aermel leer. Ueber die rechte Schulter aber, über die Weste
+und die schwarze Binde zog sich das grün-gold-rote Band.
+
+Hans Thumser saß zur Linken. Ueber den alten Herrn hinweg aber schauten
+die Freunde sich immer und immer wieder in die Augen. Sie fühlten: so
+hatten sie sich noch nie gehört, so sich noch nie geliebt. Und diese
+Liebe, die würde nun bleiben fürs ganze Leben ...
+
+Oft aber flogen ihre Blicke auch nach der zweiten Proszeniumsloge des
+Parketts vorn rechts hinüber. Da saß der Erbprinz, die Scherbe im fahlen
+Gesicht, und hinter ihm verschwanden die groben Züge, der wehende
+Schnurrbart des Majors im Dämmer des Logenhintergrundes.
+
+Aber auf den blasierten Zügen des jungen Fürsten lag heute ein seltsames
+Leuchten, das noch niemand an ihm gekannt hatte. Und wenn sein Blick den
+Augen des alten und der beiden jungen Franken da unten im Parkett
+begegnete, dann lachte sein ganzes Gesicht so knabenhaft fröhlich, so
+jung und gut, als sei auch er ein x-beliebiges junges Studentlein und
+nicht der Erbe eines deutschen Fürstenthrones.
+
+Ringsum aber drängte sich ganz Leipzig und füllte das Haus bis zum
+letzten Stehplatz droben auf der Galerie. Eine festlich dankbare
+Stimmung lag über der erregten Versammlung.
+
+Fünf Wochen lang war dies Haus ein Tempelhaus gewesen. Fünf Wochen lang
+hatte man hier den höchsten Offenbarungen gelauscht, welche die edelste
+Blüte der zeitgenössischen Bühnenkunst geschaffen hatte im Bunde mit den
+erhabensten Genietaten der großen Szenenbeherrscher des Dramas der
+Weltliteratur. Und nun wollte man am letzten Tage noch einmal mit voller
+Seele, mit allen Sinnen genießen, wollte in sich aufnehmen die
+gigantischste Schöpfung der deutschen Tragödie: »Wallensteins Tod«.
+
+Das Spiel begann.
+
+Inmitten der Bilder seiner Gestirne stand der einsam-stolze Mann, über
+dessen Haupte schon die schwarzen Fledermausschwingen des Verbrechens,
+die Rabenfittiche des Todes rauschen. Am nächtlichen Himmel suchte er
+den Stern seines Lebens, der sich nun so bald verfinstern sollte ... Und
+in raschen, unfehlbaren Schlägen vollzog sich sein Geschick.
+
+Der alte Herr aber da vorn im Parkett und seine beiden jungen Gefährten
+harrten ungeduldig des Augenblicks, da der Vorhang sich zum dritten Akt
+heben und die beiden Mädchengestalten auftauchen würden, die so tiefe
+Furchen in die Herzen, in die Geschicke der jungen Männer gezogen.
+
+Und sieh -- nun erfüllte sich's.
+
+Die Gardine rauschte empor; und es erschloß sich ein dunkler wuchtiger
+Saal mit Kamin, Gobelins, gepolsterten Bänken an den Wänden. Nach hinten
+stieg eine Treppe empor, im Bogen geschweift aus massivem,
+dunkelgebeiztem Eichenholz mit schwerem Renaissance-Geländer. Sie führte
+zu einer langen Galerie, die gegen die Bühne zu von einem riesigen, aus
+zahllosen kleinen Scheiben bestehenden Glasfenster abgeschlossen war.
+
+Und wie verloren in dem weiten, angstdurchschauerten Raum saßen vorn
+rechts auf der Bank zwei Frauengestalten mit weiblichen Arbeiten
+beschäftigt, während eine dritte oben auf der Galerie stand und aus den
+Fenstern nach drunten spähte -- Wallensteins Schwägerin, die Schwester
+seiner Seele ...
+
+Die zwei da unten aber -- die beiden jungen Franken, die kannten sie.
+
+Scheu und wesenlos wie ein gutes, dienstbares Geistlein hockte Asta
+Thöny als Fräulein von Neubrunn neben der jungen, schönheitsstrahlenden
+Herrin.
+
+Die aber saß weiß und blaß, den adligen Kopf in schmerzvoller Starrheit
+zurückgelehnt an die braune Täfelung.
+
+Sie war die Schönheit, die versinken muß unterm erbarmungslosen Schritt
+des Schicksals, sie war die Tugend, die zermalmt wird von den geifernden
+Kinnbacken des Verbrechens, sie war die leuchtende Seele des
+gigantischen Gedichts, sie war ... das Ideal ...
+
+Und alles vollendete sich nun.
+
+Mit unerhörter Wucht stampfte das Fatum daher und ließ den Lügenbau der
+friedländischen Größe zusammenkrachen. Blatt um Blatt sank hernieder von
+dem ragenden Baum, bis er einsam stand, entlaubt, doch herrlich in
+seinem starren Trotz.
+
+Und nun kam jene gewaltigste aller Szenen, die Valentin Pilgram und Hans
+Thumser als Pappenheimer Kürassiere mitprobiert hatten, und der sie nun
+als Zuschauer nur lauschen durften, wie damals, als Hans, ein scheuer
+Primaner, sie zum erstenmal erschaut, dahinten, weit in der Heimat -- im
+Barmer Stadttheater, auf dem Eckplatz des zweiten Ranges.
+
+Zwischen den zwei eisengeharnischten Männern, dem fürstlichen Vater
+rechts, dem ritterlich prangenden Geliebten links stand das
+unglückselige, geopferte Mädchen. Vor die grausame Pflicht gestellt, zu
+wählen zwischen Gehorsam und Liebe.
+
+Und sie wählte den Gehorsam ... Mit den unschuldig reinen Händen riß sie
+die Liebe aus ihrem Herzen und stieß sie von hinnen ... in den
+unerbittlichen Schlachtentod ...
+
+War das Jucunda Buchner? War's das junge Ding von achtzehn Jahren, mit
+dem die zwei schlanken Burschen da unten an einem Tisch gesessen, in
+einer Stube? Um derentwillen sie heut morgen in der Frühe des
+leuchtenden Wintertages einander mit der Pistole in der Hand gegenüber
+gestanden hatten, während sie mit einem gefürsteten Knaben über Feld
+ritt, nur von dem einen Gedanken erfüllt, ein Gastspiel am Hoftheater in
+Nassau-Dillingen für den nächsten Winter herauszuschlagen?
+
+Nein, sie war es nicht. Ihre sterbliche Hülle war's! Und doch auch die
+nicht mehr. Auch die verwandelt, erhöht, durchleuchtet, durchseelt von
+der geheimnisvollen Flamme, die tief drinnen in ihr loderte,
+unerklärlich, unbegreifbar ... der heiligen Flamme, die, solange sie
+loderte, alles überstrahlte, alles verzehrte, alles verklärte, was
+irdisch, was menschlich, was gewöhnlich, was häßlich war an ihr ...
+
+Horch, schon brandete von draußen der Schwall der Pappenheimer heran ...
+Schon klang die wilde Feuerweise des Reitermarsches, der zu Kampf und
+Tode lud ...
+
+Und nun -- nun tobte der rasselnde Schwall die Stiegen hinauf, stapfte
+in die Galerie hinein, daß die Scheiben klirrend barsten, strudelte die
+Treppe hinunter, überschwemmte in immer erneuten Güssen blinkender Wogen
+die ganze Bühne ... entblößte Schwerter, haßflammende Blicke ...
+
+Und inmitten die zwei jungen Menschen, -- neben dem todgeweihten Manne
+das todgeweihte Weib, die weiße, unschuldig leuchtende Gestalt, das tief
+gesenkte, sterbensmatte Haupt.
+
+Und nun, nun ist der grausame Kampf zu Ende gekämpft. Aus dem Arm der
+Geliebten reißt Oberst Max sich los.
+
+ »Bedenket, was Ihr tut. Es ist nicht wohlgetan,
+ Zum Führer den Verzweifelten zu wählen.
+ Ihr reißt mich weg von meinem Glück, wohlan,
+ Der Rachegöttin weih' ich Eure Seelen!
+ Ihr habt gewählt zum eigenen Verderben,
+ Wer mit mir geht, der sei bereit, zu sterben!«
+
+Und mit hochgereckten Armen stürzt er sich hinein in die eisenschäumende
+Woge. Die brüllt hell auf, schäumt gischtend empor, schlingt ihn
+hinunter, reißt ihn von hinnen. Die Treppe hinauf strudelt der gärende
+Schwall -- noch einmal taucht der wehende Helmbusch, der silberne
+Harnisch auf ... versinkt aufs neue in den gleißenden Fluten. In den
+wütenden Jubel der todestrunkenen Schar gellen die wirbelnden, erzenen
+Rhythmen des Reitermarsches ...
+
+Da unten, da vorn, bricht das verlassene Kind vor des starren Vaters
+eisenumschienten Knien zusammen ... es erfüllt sich das tragische Los
+des Schönen auf der Erde ... Das Edle sinkt ... Das Ideal verweht ...
+
+Vorbei ... vorbei ...
+
+Während die Gardine niederrauschte, legte der alte Präsident seine
+beiden Hände um die Schultern der jungen Männer zu seiner Rechten und
+seiner Linken:
+
+»Kinder ... =jetzt= versteh' ich Euch ...!«
+
+
+Am andern Morgen begleitete Hans Thumser seine Asta im Wagen zum
+Bayrischen Bahnhof. Das Leipziger Gastspiel der Meininger war zu Ende --
+weiter rollte der Thespiskarren ... Schon übermorgen abend würde man im
+Gärtnerplatz-Theater in München mit »Jungfrau« eröffnen ...
+
+Auf dem Bock thronte ein riesiger Reisekoffer. Vier Kisten mit Kostümen
+waren schon als Eilgut vorausgegangen.
+
+Drinnen aber im Wagen lachten die zwei und machten die tollsten Witze.
+Das Herz war ihnen gar zu voll und gar zu schwer.
+
+»Asta ...« sagte Hans mit einem Male im tiefsten Ernst, »-- ich bin ein
+dummer, grüner Junge ... und ein Habenichts dazu ... sonst sagte ich zu
+Dir: Laß uns zusammenbleiben ...«
+
+»Du Dummerle!« schalt Asta heftig und gab ihm einen derben Klaps auf die
+Backe -- »Du bist doch wirklich ein riesengroßes Dummerle! So etwas darf
+man nicht einmal denken ... so ein feiner, nobler Junge wie Du ... und
+eine ... eine Landstreicherin wie ich ...«
+
+Aber ihre Lippen zuckten bitter und sehnsüchtig dabei, und in den Augen
+schimmerte es verdächtig ...
+
+»Pfui, Asta! Abscheulich, so von Dir zu sprechen! Von meiner ... meiner
+süßen Asta --!«
+
+»Sag's noch einmal!« bat Asta. »Es klingt so schön ... und ich werd's ja
+doch niemals wieder hören ...«
+
+»Niemals wieder?! So oft Du willst, Süße, so oft Du willst ... und so
+oft ... ich ... kann ...«
+
+»Da hast Du's ja ... Du wirst nicht können, mein armes Dummerle ... und
+ich ... ich werde auch nicht wollen ... Es war so schön ... nun ist's zu
+Ende ... und das ist gut so. Für uns beide ... für mich auch ... Denn
+wenn's noch länger gedauert hätte ... dann ... dann wär ich am Ende doch
+nicht mehr von Dir los gekommen ...«
+
+»Asta ... Asta ... So viel hast Du für mich getan ...«
+
+»Ja siehst Du -- da hast Du wieder so recht mein ganzes Pech: alles,
+was ich für Dich hab' tun wollen, ist beim guten Willen geblieben ...
+Ich hab' Dich glücklich machen wollen ... und Du bist zur Jucunda
+gelaufen ... Ich hab' Dir das Leben retten wollen ... und bin zu spät
+gekommen ... Eh wir dazwischen kamen, hattet Ihr Euch schon vertragen
+... So geht mir's immer -- --«
+
+»Asta ... mein Mädchen ... ich ... ich hab' Dich ja so lieb ...
+so unsagbar lieb ... ich laß Dich nicht fort ... ich ... ich brenne
+durch ... Ich geh' mit nach München ... Ich frage Euren Herrn Burg, ob
+er einen Volontär brauchen kann ... Ich sollte meinen, zu einem
+Komödianten müßt' es doch auch bei mir reichen ...«
+
+Asta tupfte die Augen mit ihrem Spitzentüchelchen, und die zuckenden
+Mundwinkel lachten schon wieder ihr lieblichstes Spitzbubenlachen.
+
+»Ne, Hanserl -- das glückt Dir nicht ... Das können wir vor Deinen
+Herren Eltern nicht verantworten! Bleib Du, was Du bist ... ein Jurist
+... oder ... werd' einmal ein Dichter, wenn Du kannst ... ich glaube,
+Du kannst -- -- und dann, in zehn oder zwanzig Jahren schreibst Du
+einmal ein Stück, das über alle Bühnen geht -- mit einer wunderhübschen
+Rolle für die komische Alte darin ... Und wenn Du dann auf Reisen
+zufällig einmal nach Krotoschin oder nach Stallupönen kommst und siehst
+an irgendeiner Bauernkneipe oder Scheune den Theaterzettel einer
+Schmiere kleben, die Dein Stück spielt, und hinter der Rolle der
+komischen Alten findest Du den Namen Asta Thöny ... dann setz Dich
+irgendwo unter das 'verehrliche Publikum' ... aber ganz, ganz weit
+hinten ... daß ich Dich nicht etwa erkenne ... und denk' daran, daß das
+alte, häßliche Weiblein da oben einmal in Deinen Armen gelegen hat ...
+vor langer, langer Zeit ... als Du noch jung warst und unberühmt und
+nichts weiter als ein Korpsstudent in Leipzig ... Gelt, Hans, Das tust
+Du --?«
+
+Hans Thumser konnte nicht sprechen. Er küßte nur immer wieder die
+rosige, weiche Hand, die er zwischen seinen harten, waffengestählten
+Tatzen eingepreßt hielt, als wollte er sie zerdrücken.
+
+Der Wagen hielt vor dem Abfahrtportal des Bayrischen Bahnhofs. Es war
+zehn Uhr morgens. In grellem Weiß standen die beschneiten Dächer gegen
+das satte Himmelsblau, das gleißende Sonnenlicht.
+
+Auf dem Bahnsteig hielt bereits der Münchener Schnellzug. Für das
+Ensemble der Meininger waren auf Bestellung ein paar Extrawagen
+angehängt worden. Im Kassenflur, unter der Halle, wimmelte es von
+glattrasierten Männergesichtern, von lebhaften mit betonter Eleganz
+gekleideten Frauen. Riesige Koffermassen wurden in die Gepäckwagen
+verstaut ...
+
+Daß Asta Thöny sich auf dem Bahnhof in Begleitung eines grünbemützten
+Studenten einfand, erregte keinerlei besondere Sensation unter ihren
+Kollegen und Kolleginnen. Derartiges war man von ihr gewohnt. Sonst
+war's meist eine Uniform ...
+
+Die große Jucunda schritt mit spöttischem Naserümpfen an dem Paare
+vorüber, einen ungeheuren Strauß der wunderbarsten Rosen in der Hand,
+den ihr soeben ein prinzlicher Lakai überbracht hatte. Ja ... den
+Rosenstrauß hatte sie wohl ... aber keinen herzlieben Jungen zur Seite,
+der bei ihr hatte bleiben wollen bis zum letzten Augenblick ... Nur ihre
+Eltern gaben ihr das Geleit, Mutter Doris aufgedonnert im
+unglaublichsten Staat -- Vater Kanzleirat im abgeschabten Winterpaletot
+und zerbürsteten Zylinder, ein armseliger, hüstelnder Schatten neben den
+beiden mächtigen Frauengestalten.
+
+Die übrigen Kollegen gingen mit diskret abgewandten Gesichtern an Asta
+und ihrem schmucken Begleiter vorüber.
+
+Nur Franz Burg trat grüßend heran:
+
+»Guten Morgen, Kleine ... Na -- ist das Ihr Dichter?«
+
+»Ja, liebster Freund -- das ist er ...«
+
+Burg lüftete lächelnd seinen Hut, nannte seinen Namen, streckte dem
+Studenten die Hand hin:
+
+»Nun, ich sehe, Sie sind noch sehr lebendig ... Höchst erfreulich das.«
+
+Mit korrekt eingewinkeltem Arm schlug Hans Thumser ein in Franz Burgs
+Händedruck und zog höchst offiziell die Mütze.
+
+»Hm,« machte der Oberregisseur und musterte ungeniert das feierlich
+zurechtgefaltete Jugendgesicht -- »vorläufig ist noch nicht viel
+zu lesen auf der Physiognomie da ... aber wer weiß ... vielleicht
+stehen wir uns noch einmal an anderer Stelle gegenüber, und Sie legen
+mir ehrfurchtdurchfröstelt das Manuskript Ihres ersten Dramas in die
+Hand ... wer weiß! Dann wollen wir uns dieses Augenblicks erinnern ...«
+
+»Und ich werde mich Ihres 'Wallenstein' erinnern, Meister -- --
+einstweilen lassen Sie mich Ihnen dafür danken ...« sagte der Student
+... und Franz Burg sah auf einmal mit Staunen, wie auf dem jungen
+Gesicht die feierlich korrekten Falten sich auflösten, wie aus den
+dunklen Augen eine heiße Flamme sehnsüchtiger Leidenschaft schlug. Da
+leuchtete auch sein Blick dem jungen Gesellen freundlich und ermunternd
+ins Gesicht.
+
+»Also -- auf dereinstiges Wiedersehen, junger Freund --! Jetzt aber
+sollt Ihr zwei die paar letzten Augenblicke noch füreinander haben,
+Kinder ...«
+
+Die paar letzten Augenblicke -- --
+
+Hans Thumser und Asta Thöny senkten die Häupter und die Blicke ... Hoben
+sie dann und ließen die Augen lange, lange ineinander ruhen ... Dabei
+schwiegen die Lippen, Unsagbares quoll auf in ihren Herzen.
+
+»Bitte Platz nehmen!« schnarrten da die Stimmen der Schaffner.
+
+Da warf Asta die Arme um Hans Thumsers Nacken. Es kümmerte sie nicht,
+daß die Kollegen vom Fenster aus mit Grinsen und halblautem Scherz den
+Abschied beobachteten ...
+
+»Leb wohl ... mein Hanserl ... auf ewig ... leb wohl ...«
+
+»Nein ... nicht auf ewig ... das ist ja unmöglich ... das ertrag ich ja
+nicht --«
+
+»Ach, Hanserl -- wie gut Du das ertragen wirst ... aber Du ... von Zeit
+zu Zeit einmal an mich denken ... gelt? an ... Dein ... erstes Glück ...
+gelt, Hanserl?!«
+
+Aus der finstern Halle polterte der Zug in die sonnige Morgenhelle
+hinaus. Grell im Sonnenlichte leuchtete der weiße Rauchschwaden, den der
+enteilende Schlot der Maschine hinter sich herzog. Und ein großes
+Abschiedwinken ging aus den Fenstern des Zuges, ging auf dem Bahnsteig,
+wo in ganzen Rudeln die Freunde und Verehrer standen, welche die
+scheidende Künstlerschar bis zum letzten Augenblick begleitet hatten ...
+
+Ein Tüchlein aber wehte länger als alle andern ... und Hans Thumser
+blickte ihm nach, winkte ihm nach, bis alles vorbei war.
+
+Dann wandte er sich rasch und schritt gesenkten Hauptes aus der Halle.
+Einen Korpsstudenten in Couleur sollte niemand weinen sehen.
+
+
+
+
+ Von =Walter Bloem= sind früher erschienen:
+
+
+ Sonnenland
+
+
+ Eine Fahrt in die Schönheitswelt Griechenlands, in die
+ Märchenstädte des Orients an Bord eines schmucken
+ Lloyd-Schiffes, auf dem der Zufall eine bunte
+ Reisegesellschaft zusammenwürfelt. Ein munterer Kreis
+ meist humoristisch gesehener Gestalten und im
+ Hintergrund ein leuchtender Reigen von Kultur- und
+ Landschaftsbildern aus den gesegneten Zonen des
+ sonnigen Südens.
+
+ Preis 1 Mark
+
+
+ *
+
+
+ Das lockende Spiel
+
+
+ Ein Buch vom Theater, von seiner berauschenden Magie,
+ die keinen aus ihrem Zauberkreis entläßt, der ihr
+ einmal verfiel. Wer es einmal gespielt hat das
+ »lockende Spiel«, er kann es nimmer lassen. Eine neue
+ Theatergründung in Berlin wird zum Mittelpunkt für ein
+ fröhliches Ringen um die Palme des Bühnendichters,
+ Schauspielers, Regisseurs. In diesen Kampf verkettet
+ sich ein zweites »lockendes Spiel«, das Spiel und
+ Gegenspiel der Liebe bei zwei jungen Menschenpaaren.
+
+ Preis 1 Mark
+
+
+ Verlag Ullstein & Co / Berlin-Wien
+
+
+
+
+
+
+
+ Ullstein & Co
+
+ [Illustration Verlagslogo]
+
+ Berlin SW 68
+
+
+
+
+ Anmerkungen zur Transkription
+
+
+ Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originaltextes wurden
+ übernommen, nur offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert.
+
+ Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt, fremdsprachliche Passagen,
+ die im Original in Antiqua gesetzt sind, sind _so_ gekennzeichnet,
+ für Abkürzungen, wie C. C. und Regentenzahlen wie XIV wurde dies
+ nicht gemacht. Text der im Original g e s p e r r t gesetzt ist,
+ ist hier =so= gekennzeichnet.
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+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Komödiantinnen, by Walter Bloem
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44647 ***
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+<div>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44647 ***</div>
+
+<h1>Komödiantinnen</h1>
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+<div class="bbox">
+ <p class="tit1" >Ullstein-Bücher</p>
+
+ <p class="center size1-5" style="margin-left:1em;margin-right:1em">
+ Eine Sammlung<br />
+ zeitgenössischer Romane
+ </p>
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+ <hr class="double" />
+ <p class="center size1-5">Ullstein &amp; Co / Berlin und Wien
+ </p>
+</div>
+</div>
+
+
+<div class="box-container">
+<div class="bbox">
+ <p class="tit1">Komödiantinnen</p>
+
+ <p class="center">Roman von<br />
+ <span class="size1-5 gesperrt"> Walter Bloem</span></p>
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+ </p>
+</div>
+</div>
+
+<p class="copyright">Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung
+vorbehalten. &mdash; Copyright 1914 by Ullstein &amp; Co
+</p>
+<div>
+<h2>1.</h2>
+
+<p class="start-chapA">Aus tiefdunklem Jugendschlummer fuhr Hans Thumser
+mit einem Ruck in die Höhe. Teufel auch! das nenn'
+ich dachsen! Und diese Pestbeule von einem Korpsdiener
+hatte mich doch wecken wollen? Wieviel mag's denn sein?
+Uhr steht natürlich &mdash; Skandal! schon wieder mal das Aufziehen
+verbummelt! Und schon ganz hell! Jeden Augenblick
+muß der Wagen kommen mit Pilgram, dem gestrengen
+Senior, der so verdammt ungemütlich werden
+kann ... und mit Durchlaucht, dem fürstlichen Konkneipanten
+eines wohllöblichen C.&#x202f;C. der Franconia ... und dann
+warten lassen?! Herrgottsakra &mdash; rin' in die Buchsen &mdash;!</p>
+
+<p>Durchs offene Fenster schwamm herbstlicher Frühnebel
+in das schummrige Studentenbudchen. Matt flimmerten
+an den Wänden die dreifarbenen Wappenschilde, die gekreuzten
+Schläger, die langsam einstaubenden Mützen
+und Bänder &mdash; weit matter noch vom Schreibtisch her die
+Goldtitel des <i lang="la">corpus iuris</i>, der spärlichen Lehrbücher
+der Rechtswissenschaft ... Und weiß blinkte nun der
+gertengeschmeidige Körper des jungen Studenten: Hals
+und Nacken wurden mit raschen, scharfen Güssen erfrischt,
+und dann wusch der Jüngling sorgsam das dichte braune
+Haar mit schäumendem Bay-Rum durch, um alle septischen
+Stoffe zu entfernen und der Säuberungsarbeit des
+Paukarztes vorzuarbeiten ... Denn heute bekam Hans
+Thumser Prügel, das stand in den Sternen geschrieben.
+Herr Borgmann, Neo-Borussiae gewesener Zweiter,
+Erster <i lang="la">ad interim</i> war der S.&#x202f;C. Fechter ... gegen den
+konnte der schlanke Fuchsmajor der Franken nicht an. Da
+galt es nur, sich gegen die unvermeidliche Abfuhr zu wehren,
+solange Faust und Klinge hielten ... Schade, daß es gerade
+der Borgmann sein mußte, der einen unterkriegte &mdash; dieser
+üble Geselle, den man nicht riechen konnte, mit seinem suffisanten
+Gesicht, seinem fatzkigen Lächeln, den frostigen Froschaugen
+&mdash; dem mal einen Streicher über die Ohrfeigenvisage
+ziehen, von der Temporalis bis ins Kinn &mdash; aber nee, nich
+dran zu denken, er konnte zu viel, der Affe, der miserablichte!</p>
+
+<p>So &mdash; die Toilette wäre beendigt! Noch einen Blick
+in den Spiegel &mdash; ade, du große schmale Nase, vielleicht
+auf Nimmerwiedersehen &mdash; na, und auf Stirn und Wange
+ist ja auch noch eine ganze Menge Platz, zwischen den
+alten Abfuhren aus Heidelberg und denen vom Sommer,
+und nun statt der grünen Mütze für heute den weichen
+Knockabout auf die Stirn gestülpt &mdash; denn in jener Stadt,
+in der das Reichsgericht saß, die erleuchtete Körperschaft,
+welche die Schlägermensur für einen Zweikampf mit tödlichen
+Waffen im Sinne des Strafgesetzbuches erklärt
+hatte &mdash; im guten biedern Leipzig waren Staatsanwaltschaft
+und Polizei nach der Mahnung jenes schönen Würzburger
+Studentenverses tätig:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Darum auf, ihr Wächter des Gesetzes,<br /></span>
+<span class="i0">Hüter des Studentenpaukgehetzes &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Lauscht überall<br /></span>
+<span class="i0">Auf Waffenschall<br /></span>
+<span class="i0">Und seid stets der Mensur<br /></span>
+<span class="i0">Auf der Spur!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Auch das dreifarbene Band wanderte zusammengerollt
+in die Tasche &mdash; erst draußen im braunen Herbstwalde
+bei Knauthain würde es sich um die junge Brust schlingen
+dürfen ... und nun hinaus ... das Frühstück mußte man
+sich für heut verkneifen, denn Frau Marie Wehe, genannt
+Mutter Ach, stand um fünf Uhr noch nicht auf aus ihrem
+keuschen Witwenbette ...</p>
+
+<p>Als Hans Thumser im dunklen Korridor an der Tür
+zu der Nachbarbude vorüberschritt &mdash; der Nachbarbude,
+die dies Semester zu Mutter Achs bittrem Schmerz unvermietet
+geblieben war &mdash; da stolperte er plötzlich über
+etwas Zierliches, Weiches ... was Teufel &mdash; also doch
+noch Nachbarschaft gekommen &mdash;?!</p>
+
+<p>Hans Thumser bückte sich und hob ein Etwas auf, das nur
+... ein Lackschuh sein konnte ... und zwar ein winziger ...
+mit knisternder Seidenschleife besetzter ... ein feiner, geheimnisvoll
+irritierender Duft entstieg ihm ... Hans Thumser
+trat mit seinem seltsamen Fund an die Mattscheibe der
+Korridortür, die ein falbes Licht einfallen ließ, und betrachtete
+mit der naiven Andacht seiner unverwöhnten zwanzig Jahre
+das zierliche Wunder. Gott, welch eine Wirrnis von Träumen
+stieg empor aus diesem schmalen Kahn der Sehnsucht ...
+Mit einem tiefen Seufzer, von fröstelnden Schauern überrieselt
+setzte der Jüngling seine Beute sacht und herzklopfend
+wieder vor die Tür, die nun auf einmal ein Eden barg.
+Ein weißes Viereck schimmerte matt vor dem des Dämmers
+nun gewöhnten Blick, als der Student sich wieder zu
+seiner ganzen Länge aufgerichtet ... in unzähmbarer
+Neugierde tastete er nach seiner Zündholzschachtel und las
+im zuckenden Flackerlichte die lithographischen Schriftzüge:</p>
+
+<p class="center">
+Asta Thöny<br />
+Herzoglich Meiningische Hofschauspielerin<br />
+</p>
+
+<p>Was ... war das?!</p>
+
+<p>Hans Thumser hatte auf eines jener Dämchen geraten,
+die sich wohl bisweilen im <i lang="fr">Quartier latin</i> einnisteten,
+um Jugendglut und Monatswechsel der akademischen
+Bürger zu brandschatzen ... und nun &mdash;?!</p>
+
+<p>Eine Künstlerin ... ein Mitglied jener erlauchten
+Komödiantengilde, deren Siegeszug dem staunenden
+Deutschland, nein der Kulturwelt erst erschlossen die ganze
+Herrlichkeit des klassischen deutschen, des klassischen germanischen
+Dramas &mdash;?!</p>
+
+<p>Hans Thumser sah sich in der Heimatstadt, auf einem
+Platze des zweiten Ranges, den er vom Taschengeld abgeknausert,
+abgebettelt dem gütigen Vater, der so schlecht
+nein sagen konnte &mdash; sah sich sitzen als ahnungsvollen
+Primaner und lauschen &mdash; lauschen in Verzückung und
+Tränen ... schauen voll seliger Gier und ungläubig-gläubigen
+Ueberschwangs in eine Wunderwelt hinein, da
+alle seine Träume die Erfüllung fanden ... und sah sich
+am andern Tage auf der Schulbank, stumm und stumpf
+bei jeder Frage der Lehrer, gleichgültig gegen ihren Zorn
+und den Spott der Mitschüler, die nicht ahnen konnten,
+was mit dem Primus vorgegangen ... was ihm die flinke
+Zunge, das unfehlbare Gedächtnis lähmte ...</p>
+
+<p>Und nun &mdash;?! Eine Meiningerin &mdash; und seine Zimmernachbarin?</p>
+
+<p>Was konnte das bedeuten &mdash;?</p>
+
+<p>Etwa dies: daß die Meininger in Leipzig wären &mdash;
+gastierten drüben im Carolatheater &mdash;?</p>
+
+<p>Und davon &mdash; davon hatte man nichts erfahren?</p>
+
+<p>Freilich &mdash; unmöglich wär's nicht &mdash; wie man so
+dahinlebte, das Gladiatorendasein des aktiven Korpsstudenten ...</p>
+
+<p>Asta Thöny? Nein &mdash; den Namen Asta Thöny verzeichnete
+seine Erinnerung nicht &mdash; das mußte wohl ein
+neues Mitglied sein, schlank und ... duftig wie die
+Schuhchen, von denen nun, im wachsenden Tageslicht,
+ein paar Lichtpünktchen aufgleißten aus dem Dämmer
+des Korridors ...</p>
+
+<p>Aber ein anderer Name stieg nun auf, ein weißleuchtendes
+Mädchenbild tauchte glorienumstrahlt aus der
+Tiefe seiner Visionen: Jucunda Buchner, die kaum
+Sechzehnjährige, die Thekla der Meininger ...</p>
+
+<p>Sie sah er, im dritten Akt der »Piccolomini«, einsam im
+finstern Schloßgemach, mit der Laute hineingeschmiegt in
+einen faltenstarren rotsamtenen Vorhang, scharf abgehoben
+die weiße Gestalt vom riesigen Fenster, durch
+dessen hundert kreisrunde Scheiben die sternlose Nacht
+hineinglotzte ... und wie ein Kind im Finstern singt,
+die Herzensbangigkeit zu betäuben, so verloren, so verlassen,
+so angstumschauert hatte das junge Weib seine
+schmachtende Weise vor sich hingelallt:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">Der Eichwald brauset, die Wolken ziehn &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Das Mägdlein wandelt an Ufers Grün &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Das Auge von Weinen getrübet ...<br /></span>
+</div><div class="stanza">
+<span class="i0">Du Heilige, rufe Dein Kind zurück &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Ich habe genossen das irdische Glück &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Ich habe gelebt und geliebet ...<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>O Erinnerung ... o Ahnung ... o Kunst, du mächtige
+Weckerin, Vorschule des Lebens, Tummelplatz der
+werdenden, in Werdeschauern erzitternden Seele &mdash;!</p>
+
+<p>Gelebt und geliebet ... und du, junges Studentlein im
+finstern Korridor &mdash; aus dessen Dunkel die weißen Lichtpünktchen
+glitzern von Asta Thönys Lackschuhchen &mdash; &mdash;?!</p>
+
+<p>Hans Thumser schrak zusammen. Ihm war's, als
+hätte er aus weiter Ferne, ungeduldig, seinen Namen
+rufen gehört ...</p>
+
+<p>Und richtig:</p>
+
+<p>»Thumser! Thumser! Zum Donnerwetter, wenn Du
+jetzt nicht kommst, fahren wir ohne Dich!«</p>
+
+<p>Ach so ... ach ja ... die Stunde, die heischende ...
+die Stunde des Burschenkampfes ...</p>
+
+<p>Hans Thumser fuhr auf, reckte sich &mdash; kein Abschiedsblick
+mehr zurück zu den Lichtpünktchen drunten, dem
+weißen Kärtchen an der Pforte des Geheimnisses &mdash;
+fort &mdash; hinaus &mdash;!</p>
+
+<p>Er flog die krachenden Stiegen hinunter, der mächtige
+Haustürschlüssel knarrte im Schloß &mdash; und draußen auf
+der morgenstillen, morgenleeren Sophienstraße empfing
+ihn ein Durcheinander von Begrüßung und Vorwurf &mdash;</p>
+
+<p>»Na, Du Schlafratze &mdash; endlich ausgepennt?« zürnte
+der Senior vom Rücksitz aus. Und:</p>
+
+<p>»Hatten schon alle Hoffnung aufgegeben, Sie noch
+unter den Lebenden begrüßen zu dürfen!« schnarrte der
+Major von Gorczynski, dessen kantige Reiterfigur sich noch
+immer nicht in das elegante Zivil des Prinzenbegleiters
+eingewöhnen mochte.</p>
+
+<p>Erbprinz Heribert aber, der durchlauchtigste Konkneipant
+der Franken, zog nur stumm und mit indignierter
+Miene den steifen grauen Filzhut. Also man ließ warten!
+na ja, an einer deutschen Hochschule funktioniert der Betrieb
+nun einmal nicht wie am herzoglichen Hofe zu
+Nassau-Dillingen ... man mußte Nachsicht üben ...</p>
+
+<p>Mit einem Ruck saß Hans Thumser neben seinem
+Korpsbruder auf dem Rücksitz, dem Prinzen gegenüber,
+der ihn durch sein Monokel mit kühl-durchdringendem
+Blick niederzuschmettern suchte, was ihm freilich nicht
+gelang.</p>
+
+<p>»Also wenn Durchlaucht gestatten, fahren wir ab!«
+sagte Valentin Pilgram mit korrektem Gesicht. Er war
+auch nicht sehr erbaut von der Ehre, einen prinzlichen Mitkneipanten
+im Korps durch das Semester schleppen zu
+müssen, zumal einen solchen faden Burschen, der nicht
+warm wurde unter den Kommilitonen, deren Mütze er
+wie zum Maskenscherz die wenigen Male aufsetzte, wenn
+er gelangweilt und verständnislos an den offiziellen Veranstaltungen
+des Korps teilnahm ... indessen das gehörte
+nun einmal dazu ...</p>
+
+<p>»Also los, Kutscher und lassen Sie gefälligst die
+Gäule loofen, sonst fällt der erschte Hieb, ehe wir draußen
+sind!«</p>
+
+<p>»I herrjemerschnee, Herr Pilgram, das kann Sie ja
+gar nich passier'n &mdash; de Allererschten wär'n mer sein am
+Platze, da genn' Se sich drauf verlass'n!« ...</p>
+
+<p>Als der Wagen anzog, fiel der Blick der Abfahrenden
+auf eine lange Kolonne riesiger Möbeltransportwagen &mdash;
+drüben waren sie aufgefahren vor der nüchternen Häuserfront,
+deren Erdgeschoß die Einfahrt zum Carolatheater
+durchstieß. Das Theater selber lag verborgen und
+schmucklos dahinter im Hofe. Um die Wagen aber
+sammelte sich eine Rotte herkulischer Blusenmänner und
+begann sie zu entladen. Was kam da alles zum Vorschein!</p>
+
+<p>Das erste, was das Auge der Wageninsassen entdeckte,
+war der riesige Körper eines schwarzen Pferdes, in liegender
+Stellung, in der Stellung des Todes ausgestopft ...
+Unter derben Späßen hoben die untersetzten Arbeiter die
+Bestie aus dem Finstern des Wagens und trugen sie in
+die Dämmerung des Flurs. Und im schnellen Davonfliegen
+des Wagens erfaßte der Blick der Enteilenden
+noch ein Chaos von Gegenständen, die bereits ausgepackt
+an den Hauswänden lehnten: ein ganzes Arsenal eiserner
+Rüstungen, Schwerter, Hellebarden, Federhelme ... und
+noch allerhand Dinge, seltsam durch ihre Lage und Zusammenstellung:
+einen prunkvollen gotischen Altar, einen
+mächtigen Eichbaumstumpf, dessen papierene Blätter im
+Herbstmorgenhauche gespenstisch raschelten &mdash; und endlich
+ein kolossales Renaissance-Büfett, das Hans Thumser auf
+den ersten Blick wiedererkannte: es hatte im Bankettsaal
+des Grafen Terzky gestanden, der Zecherrausch der
+Friedländischen Generale hatte es umbrandet &mdash; damals,
+im Barmer Stadttheater, als Hans Thumser in Fieberschauern
+den »Wallenstein« erlebte ...</p>
+
+<p>»Die reine Trödelbude &mdash;« sagte Valentin Pilgram,
+der Senior, und zog die Winkel des schmalen Mundes
+verächtlich herab. »Ooch 'n Geschäft, sich Abend für Abend
+die Visage zu beschmieren, sich vor so'ne Lappen hinzustellen
+und mit Armen und Beinen zu fuchteln ...«</p>
+
+<p>Die blassen, matten Züge des Erbprinzen hatten sich
+plötzlich belebt. »Sie vergessen, lieber Pilgram, daß
+diese Fuchtelei mit Armen und Beinen doch manchmal
+ganz niedlich anzusehen ist ... namentlich wenn diese
+Arme und Beine &mdash; halten Sie sich mal die Ohren zu,
+Herr Major! &mdash; na also, wenn sie schlank, jung und ...
+<i lang="la">feminini generi</i> sind ...«</p>
+
+<p>»&mdash; <i lang="la">gener<em class="gesperrt-in">is</em></i>, Durchlaucht!« erlaubte sich der Erzieher
+zu bemerken.</p>
+
+<p>»Echauffieren Sie sich nicht, lieber Major &mdash; als
+Sprachlehrer sind Sie nicht engagiert &mdash; Sie haben nur
+für meine Moral zu sorgen &mdash; wenn's auch schwer fällt ...
+aber nun sagen Sie mal, Sie Alleswisser &mdash; was bedeutet
+denn dieser Apparat da vor dem ollen muffigen Carolatheater?«</p>
+
+<p>»Die Meininger, Durchlaucht, beginnen in fünf Tagen
+ein vierwöchiges Gastspiel in Leipzig,« sagte der Major.</p>
+
+<p>»Und das haben Sie mir bis jetzt unterschlagen, Sie
+Cerberus?«</p>
+
+<p>»Ich habe nicht gewußt, daß Durchlaucht sich auch für
+<em class="gesperrt">ernste</em> Kunst interessieren ...«</p>
+
+<p>»Ah bah &mdash; Theater ist Theater ... und wo kann der
+Thronfolger eines &mdash; na sagen wir mal eines Staates
+von mäßigem Umfang &mdash; wo kann ich mich besser auf
+meinen künftigen Beruf vorbereiten als im Theater?
+Mein Hoftheater, das ist doch der einzige Platz, wo ich
+später ... gewissermaßen ... wirklich mal was zu sagen
+haben werde ...«</p>
+
+<p>»Durchlaucht ... ich darf wohl bitten ...« warf der
+Major ein.</p>
+
+<p>»Na, jedenfalls ist das meine Auffassung!« lachte der
+Erbprinz, »&mdash; können Sie meinetwillen nach Dillingen
+berichten! Und das bitte ich mir aus, Herr Major: bei
+den Meiningern belegen Sie heut abend sofort die vorderste
+Proszeniumloge! Ich sehe mir die ... Kunst ...
+gern aus der nächsten Nähe an! Lieber Pilgram &mdash; zur
+Eröffnungsvorstellung sind Sie mein Gast, nicht wahr?«</p>
+
+<p>»Sehr gütig, Durchlaucht ...« sagte Valentin Pilgram
+und sann nach. »Das wäre, soviel ich weiß, am
+nächsten Mittwoch ... da haben wir allerdings offizielle
+Kneipe, und ich als Erster Chargierter dürfte eigentlich
+nicht ... und dann ... habe ich auch nicht allzuviel fürs
+Theater übrig ...«</p>
+
+<p>»Philister Sie! Na und Sie, Herr Thumser &mdash; wie
+wär's mit Ihnen?«</p>
+
+<p>Hans Thumser wurde glühendrot ... halb in Glück,
+halb in Befangenheit ... er hatte sich bereits schmerzlich
+bewegt ausgerechnet, daß es gegen Ende des Monats
+gehe, und sein Wechsel ihm einen Besuch der Meininger
+wohl schwerlich vor dem ersten November gestatten
+würde ... also das fiel ja geradezu vom Himmel ...
+andererseits ... mit diesem blasierten, schwunglosen
+Menschen zusammen &mdash; wie würde er's ertragen, in seine
+Andacht hinein solche Reden vernehmen, gar ihnen ehrerbietig
+lauschen zu müssen?</p>
+
+<p>Dennoch ... besser als gar nichts ...</p>
+
+<p>»Ich nehme mit Freuden an, Durchlaucht ...«</p>
+
+<p>»Also abgemacht! Was gibt's denn, Herr Major?«</p>
+
+<p>»Jungfrau von Orleans ...«</p>
+
+<p>»Ausgerechnet &mdash;!« schnarrte der Prinz &mdash; »Schiller &mdash;!
+Gymnasium in Wiesbaden &mdash; verfluchten Angedenkens!
+Schiller! Was ist Schiller? Eine Serie von Aufsatzthemen
+&mdash;!!«</p>
+
+<p>»Stimmt!« rief Pilgram. »Keine zehn Pferde ziehen
+mich ins Theater, wenn Schiller gespielt wird! 'Die
+tragische Schuld der Maria Stuart' &mdash; 'Wallenstein, ein
+tragischer Charakter' &mdash; 'Die poetische Gerechtigkeit in
+der Braut von Messina' &mdash; pfui Deuwel! um junge Hunde
+zu kriegen &mdash;!«</p>
+
+<p>Wie bin ich unter diese Menschen geraten? dachte
+Hans Thumser. Warum trage ich die gleiche Mütze und
+die gleichen Farben wie sie? Kein Takt des Herzschlags,
+kein Gefühl, kein Wort ist mir mit ihnen gemeinsam ...</p>
+
+<p>Und derweil rollte der Wagen seitwärts durch die
+nüchternen, morgenleeren, hallenden Straßen der Südstadt,
+dem fernen Kampfplatz entgegen, wo Hans wieder
+einmal seine Zusammengehörigkeit mit seinen Korpsbrüdern,
+seine Zugehörigkeit zum Frankenbunde mit
+seinem Herzblut besiegeln sollte ...</p>
+
+<p>»Vergessen Sie nicht, Durchlaucht, daß Jucunda
+Buchner die Jungfrau spielt ...«</p>
+
+<p>»Jucunda Buchner? Ist &mdash; wer?«</p>
+
+<p>»Nun, der jugendliche Stern der Meininger &mdash; einfach
+Sehenswürdigkeit &mdash; gewissermaßen das deutsche Mädchen
+in Reinkultur &mdash;«</p>
+
+<p>»Schön &mdash; also abgemacht!« sagte der Erbprinz. »Aber
+halten Sie mich fest, lieber Major, sonst mach' ich Dummheiten...«</p>
+
+<p>»Buchner?« sagte der Senior, »hm &mdash; da fällt mir
+was ein. Mein Hauswirt, der Kanzleirat Buchner, der
+hat ja, soviel ich weiß, irgendwo 'ne Tochter beim Theater
+... das wäre doch ulkig ... soviel ich weiß, wurde ihre
+Ankunft erwartet ... und ich mein' auch, daß sie in Leipzig
+spielen sollte, hätte die Alte erzählt &mdash; ich hab' aber nicht
+recht hingehört &mdash; was geht mich das Theater an ...«</p>
+
+<p>»Herrgott, Mensch &mdash; das Theater!« platzte Thumser
+heraus. &mdash; »Hier handelt sich's doch um die Meininger!
+Hast Du davon überhaupt eine Ahnung, was dieses &mdash;
+dieses Theater bedeutet? Die Entdeckung der Klassiker,
+ihre Eroberung für die Bühne unserer Zeit, die Entbindung
+all der tausend köstlichen Sinnlichkeiten, die im
+Drama unserer Großen schlummern &mdash; bist Du denn solch
+ein Barbar, solch ein Banause, daß Du von all dem nichts
+weißt &mdash; daß all das für Dich nicht existiert?«</p>
+
+<p>»Na, entschuldige schon, daß ich existiere!« schnarrte
+der Erste. »Ne wirklich, teures Thumserherz, das alles
+ist mir schnuppe, schnupper, am schnuppesten! Ich halt's
+mit meinem Vater, der nie in seinem Leben ins Theater
+gegangen ist und doch Senatspräsident am Oberlandesgericht
+in Dresden geworden ist, und jedenfalls noch ein
+Endchen weiter kommen wird im Leben, eh er Schluß
+macht! Kunst ist Spielzeug für charakterlose Müßiggänger
+&mdash; unsere Zeit aber braucht Arbeiter, Charaktere
+&mdash; Männer, verstehste?!«</p>
+
+<p>»Bumm, bumm, bumm! Tusch!« sagte der Prinz.
+»Sie sind zum Landtagsabgeordneten qualifiziert, lieber
+Pilgram ...«</p>
+
+<p>»Verzeihung, Durchlaucht, es muß auch &mdash; Landtagsabgeordnete
+geben! Ne, lieber Thumser, lauf Du nur
+immer ins Theater und laß Dir &mdash; wie hast Du so schön
+gesagt? &mdash; laß Dir Deine tausend köstlichen Sinnlichkeiten
+entbinden &mdash; mein Bedarf ist mit Fechtboden, Kneipe und
+Windscheids Drogenweltkolleg vollkommen gedeckt!«</p>
+
+<p>»Und so was hat nun das Glück, mit Jucunda Buchner
+unter einem Dache zu wohnen ...« seufzte Erbprinz
+Heribert.</p>
+
+<p>»Das weiß ich noch nicht, das ist nur eine Vermutung
+von mir, Durchlaucht ... Uebrigens ist die Sache wirklich
+ohne Interesse für mich. Mit einer Komödiantin möcht'
+ich noch nicht mal eine Poussage haben ... man kann ja
+doch nie wissen, ob sie einem nicht was vormimt und
+einen innerlich auslacht ...«</p>
+
+<p>»Na, teurer Pilgram, nu sei'n Se aber friedlich!«
+schmunzelte der Erbprinz. »Davon versteh'n Sie nu
+wirklich nischt &mdash; det haben Sie noch nich gehabt!«</p>
+
+<p>»Sie doch auch nicht, wie ich hoffe, Durchlaucht!« sagte
+der Major und blinzelte seinem jungen Herrn unter
+grimmig zusammengezogenen Brauen verschmitzt zu. Und
+Erzieher und Zögling wechselten ein Augurnlächeln ...</p>
+
+<p>Der Wagen rollte. Niederer wurden die Häuser, die
+beiderseits die Connewitzer Landstraße umsäumten. Und
+bald wurde die Bebauung offener, ländlicher. Dann bog
+die Fahrt nach rechts, und in die braunen Schattenhaine
+des Streitholzes ging's hinein, die Pleiße wurde überschritten
+auf knarrender Holzbrücke, unter der sich die
+gelben Fluten träge hinwälzten, noch angeschwollen von
+den ersten Herbstregen, welche die vergangene Woche
+gebracht. Aber heut rang sich aus Nebelbrodem die verschlafene
+Morgensonne mühsam durch, umgoldete das
+rötliche Buchenlaub zu Häupten der Dahinrollenden,
+verhieß einen lustig blanken Fechtertag, den letzten unter
+freiem Himmel für dies Jahr: der nächste würde schon
+im benachbarten Halle, richtiger im Vorort Cröllwitz,
+steigen müssen, an der murmelnden Saale, gegenüber
+den reckenhaften Trümmern des Giebichenstein.</p>
+
+<p>Allmählich wandte sich das Gespräch von dem strittigen
+Thema des Theaters zum minder kontroversenreichen des
+nahen Bestimmtages hinüber. Daß der Fuchsmajor der
+Franken heute seine todsichern Senge bekommen würde,
+galt als ausgemachte Sache, über die niemand Worte zu
+verlieren brauchte. Es fragte sich bloß, ob Hans Thumser
+auf seine notorische vielgeprüfte Quartblöße oder auf
+Borgmanns allgefürchteten Durchzieher abgestochen werden
+würde &mdash; von dem Valentin Pilgrim, der Senior, im Gesicht
+bereits ein stattliches Exemplar trug, welches Ohrläppchen
+und Mundwinkel mit einem linealgraden breiten
+Strich verband ...</p>
+
+<p>Aber während man also über Hans Thumsers nächste
+Zukunft verhandelte, das Schicksal seiner linken Gesichtshälfte
+sachverständig abtaxierte &mdash; &mdash; war Hans Thumsers
+Inneres auf geheimnisvolle Weise in Gleichgültigkeit und
+Fernsein untergetaucht.</p>
+
+<p>Jungfrau von Orleans ... sang es in seinem Herzen
+... Jucunda Buchner ... das war wie eine leuchtende,
+gnadenvolle Nähe, wie ein offener Himmel, aus dem eine
+lichte Madonna sich neigt, gegenwärtig und doch unnahbar,
+bekannt und doch undurchdringlich ...</p>
+
+<p>Und zwischen die Choralmelodien, die Harfenarpeggien,
+welche das Heiligenbild umschauerten, kicherte und
+schwirrte es hinein wie Flötentriller, wie kecke Geigenpizzicati:</p>
+
+<p>Asta Thöny ... Asta Thöny ...</p>
+
+<p>Und ein paar neckische, blinkende Lackschuhchen tanzten
+auf und nieder, aus denen zwei schlanke, seidenbestrumpfte
+Knöchel guckten &mdash; was darüber war, verschwand in rosigen
+Schleiern, aus denen es lachte und girrte wie Taubengurren:</p>
+
+<p>Asta Thöny ... Asta Thöny ...</p>
+
+<p>Ernsthaft und aufrecht saß Valentin Pilgram, der gestrenge
+Senior des Korps Franconia. Als läge die Regierungslast
+eines Millionenstaates auf seinen Schultern,
+so pflichtdurchdrungen, so würdeumbauscht saß er und
+übersann das Programm des Tages ... Ob Heinz Hartwig,
+das muntre, taprige, ewig korkende Füchslein, wohl
+heute endlich eine einwandfreie Mensur liefern würde
+und daraufhin ins engere Korps rezipiert werden könnte?
+Und Ivo Volkner, der leichtblütige Rheinländer aus Düsseldorf,
+dessen letzte Mensur auch keineswegs tadelsfrei gewesen
+war &mdash; ob er wohl sein unstätes Musikantentemperament
+heute so weit im Zaume halten würde, um
+sich herausreißen zu können?</p>
+
+<p>Und was sollte der C.&#x202f;C. auf den merkwürdig
+schnoddrigen Brief unseres lieben Kartellkorps Pomerania
+zu Göttingen antworten? Ob es nicht doch besser war,
+das alte Kartellverhältnis zu lösen und ein frisch-fröhliches
+P.&#x202f;P. zu fechten?! Aber was würden die gemeinsamen
+Alten Herren sagen?</p>
+
+<p>Und ob man den Rektor zur C.&#x202f;C.-Antrittskneipe einladen
+mußte &mdash; anläßlich der hohen Ehre, daß ein richtiggehender
+Prinz und Thronfolger zu den Konkneipanten
+des Korps zählte?</p>
+
+<p>Ja, man hatte schon seine Sorgen ... Der Reichskanzler
+war am Ende auch nicht viel schlimmer dran als
+der Erste Franconiae-Leipzig ...</p>
+
+<p>Der Erbprinz aber träumte von einer fernen Zukunft
+... noch war der alte Herr ja ... hm, hm! &mdash; erheblich
+rüstig ... und seine Altersgenossen, die Leutnants des
+Sophien-Regiments, hatten ihm gelegentlich in später
+Stunde, wenn der Sekt die Zungen gelöst, das Gefühl der
+Distanz ein wenig gemildert hatte &mdash; na ja, dann hatten
+sie ihm gelegentlich etwas gesteckt von all dem Gemunkel,
+das in der Residenzstadt umlief über die zarten Beziehungen
+des hohen Herrn zu der weiblichen Elite des
+Hoftheaters ...</p>
+
+<p>Er, Heribert Hans Herwig, würde sich das erlauchte
+Vorbild seines gnädigsten Vaters zum Muster nehmen,
+wenn er einmal als Heribert XIV. das Thrönchen seiner
+Väter bestiegen haben würde.</p>
+
+<p>Inzwischen hielt man sich studienhalber in Leipzig auf und
+würde auch da auf seine Rechnung zu kommen wissen ...</p>
+
+<p>Jucunda Buchner ... das klang recht verheißungsvoll
+... und Jungfrau von Orleans ... Himmel, es gibt
+allerhand Arten von Jungfrauen ...</p>
+
+<p>Nun war man »draußen«. Mitten im tiefschattigen
+Buchenwald ein wuchtender Eichbaum, sonst von tiefem
+Dämmerfrieden umwirkt, heut umbraust von einem
+bunten, farbentollen Leben. Die wilden Völkerschaften,
+die inmitten moderner Gesittung ein mittelalterliches
+Reckendasein führten bei Waffenklirren, rauhem Sang
+und schäumenden Kannen, die Franken und die Neo-Borussen,
+die Westfalen und Meißner und Thüringer,
+hier hatten sie sich Stelldichein gegeben zur allwöchentlichen
+feierlichen Rauferei. Und diesmal, als am ersten
+Bestimmtage des Semesters, war alles in besonders gehobener
+Stimmung. Die alten Bekannten in den verschiedenen
+Korps begrüßten sich hinüber und herüber, mit
+besonderer Herzlichkeit jene, die bereits einmal oder gar
+mehrmals die Klinge gekreuzt hatten &mdash; wesentlich
+zeremonieller schon jene, denen heute der blutige Gang
+bevorstand. Alles war in Wagen gekommen, die nun
+als langer Park auf der Chaussee aufgefahren waren,
+stets bereit, mit den Paukanten in Windesschnelle davonzusausen,
+wenn die weithin aufgestellten Schnarrposten
+die Annäherung von Pickelhauben und grünen Waffenröcken
+melden sollten. Alles war im »Bummel« gekommen,
+das heißt im Hut, die Couleur in der Tasche;
+nun wurden schleunigst Mützen und Bänder angelegt:
+gar lustig flimmerten auf dem bunten Tuch, der dreifarben-gestreiften
+Seide, die Sonnentupfen, die durchs braune
+Laubdach sich niederringelten. Und bald stand das erste
+Paar bereit: Pilgram, Franconiae Erster, gegen den
+stämmigen Zweitchargierten der Meißner.</p>
+
+<p>Und nun &mdash; heiho! Gellende Kommandorufe hinein
+in die lauschende Stille, widerhallend an den schlanken,
+weißleuchtenden Buchenstämmen ... und nun: klirr, klirr
+der helle Klang, wenn Eisen scharf auf Eisen traf, im
+Wechsel mit dem dumpfen Knall der flachen Hiebe, die
+über Stulp und Schädel krachten &mdash; heiho! uralte Reckenlust
+am tollen Raufen, am harten Widereinander der
+jugendlichen Kräfte ...</p>
+
+<p>Jähes Halt der Sekundanten, Pause, Blut rinnend
+hüben über die schmalen, herrischen Züge des Frankenseniors,
+drüben über die feisten Speckbacken des
+Fechtchargierten der Meißner ... und wiederum Kommandos,
+hageldichte Hiebe, Stahl auf Stahl ...</p>
+
+<p>Und dann war's plötzlich aus: der Meißner hatte seine
+Abfuhr weg, eine lange Quart, fast unpariert, überm
+linken Ohr. Und in die blutbeschmierte Bandage mußte
+nun Hans Thumser hinein.</p>
+
+<p>Schon stand er dem verhaßten Borgmann gegenüber,
+schon faßten die Gegner einander fest ins Auge, schon
+flogen die Klingen in die Auslage, kauerten die Sekundanten
+wie sprungbereite Katzen zu ihrer Kämpfer Seiten
+&mdash; da entstand eine Bewegung unter der lauschenden
+Korona. Auf dem weichen Waldboden scholl ein dumpfes
+Klackern wie von Huftritten, und auf dem schmalen Pfade,
+der am Wiesensaum entlang sich zog, flitzten zwei Reiter
+heran &mdash; aber nicht die Grünröcke der Gendarmen &mdash;
+Zivilisten waren's, ein Herr und eine Dame. Hans
+Thumser sah, wie alle Köpfe sich wandten &mdash; doch ihm
+blieb nicht Zeit &mdash; nur einen grauen Schleier sah er wehen
+von einem hohen, schwarzglänzenden Seidenhut; sah etwas
+Lichtes, Klares darunter, hell abgehoben vom dämmernden
+Waldgrund &mdash; und dann &mdash;</p>
+
+<p>»Auf die Mensur &mdash; bindet die Klingen!«</p>
+
+<p>»Gebunden sind &mdash;!«</p>
+
+<p>»Los!«</p>
+
+<p>Und nun alles Leben in Aug und Handgelenk hinein
+sich krampfend &mdash; und ein Wille nur &mdash; sich wehren &mdash;
+und treffen! treffen &mdash;!!</p>
+
+<p>»Halt!«</p>
+
+<p>»Halt &mdash;!!«</p>
+
+<p>Und auch hier schon nach dem ersten Gange helle rote
+Bäche rinnend über weiße Stirnen, zernarbte Wangen ...</p>
+
+<p>Und während der Paukarzt mit dem Wattebausch in
+Hansens klaffende Stirnwunde tupft, vernimmt des
+Fechters Ohr ganz deutlich aus der Mitte der Umstehenden
+die Worte:</p>
+
+<p>»Das ist die Buchner!«</p>
+
+<p>Und eine andere Stimme fragt:</p>
+
+<p>»Und der Herr &mdash; wer ist das?«</p>
+
+<p>»Das ist Franz Burg &mdash; der Heldenspieler ...«</p>
+
+<p>Inzwischen hat der Paukarzt seine Untersuchung beendigt;
+er lächelt:</p>
+
+<p>»Weiter!«</p>
+
+<p>»Herr Unparteiischer &mdash; von unserer Seite kann's
+weitergehen ...«</p>
+
+<p>Aber drüben bei den Neo-Borussen scheint man noch
+nicht so recht im Klaren ... na, wenn Hans Thumser auch
+schließlich wird dran glauben müssen: auch Herr Borgmann
+hat sein Teil bekommen, scheint's!</p>
+
+<p>Er lugt umher: dort halten sie, die Reiter, unterm
+Eichbaum und spähen neugierig hinüber ... Ja, das glaub'
+ich, ihr Komödianten &mdash; so etwas bekommt ihr nicht alle
+Tage zu sehen &mdash; hier schwingt man die Waffe nicht nur
+zum Spiel &mdash; und was hier Stirn und Wange färbt, ist
+wirkliches Blut, nicht Schminke ...</p>
+
+<p>Und dies schmale, feine junge Gesichtchen &mdash; das ist ...
+Thekla &mdash; das ist Johanna von Arc?!</p>
+
+<p>Nun werden auch die Neo-Borussen wieder munter:</p>
+
+<p>»Herr Unparteiischer, von unserer Seite kann's weitergehen!«</p>
+
+<p>»<i lang="la">Silentium</i> &mdash; Pause <i lang="la">ex</i>!«</p>
+
+<p>»Auf die Mensur &mdash; bindet die Klingen!«</p>
+
+<p>Jucunda! betet irgend etwas in Hans Thumsers Seele.
+Er fühlt, wie alle Sehnen sich straffen.</p>
+
+<p>»Gebunden sind!«</p>
+
+<p>»Los!«</p>
+
+<p>Und zweimal, dreimal schmettert Hieb auf Hieb &mdash; und:</p>
+
+<p>»Halt!«</p>
+
+<p>»Halt!«</p>
+
+<p>»Herr Unparteiischer, bitte drüben nachzusehen und
+einen Blutigen zu konstatieren!« ruft Valentin Pilgram,
+Hansens Sekundant, wilden Triumph in der Stimme &mdash;
+sich aufrichtend, zischt er seinem Paukanten ins Ohr:</p>
+
+<p>»Du &mdash; das ist Rest!!«</p>
+
+<p>»Rest? Bei wem? Bei mir?« fragt Hans Thumser
+ganz verdutzt.</p>
+
+<p>»Ne &mdash; da drüben &mdash; bei Borgmann! Teufel auch,
+Thumser &mdash; der Durchzieher &mdash; so was darfste öfters
+schlagen!«</p>
+
+<p>Was? Er &mdash; Hans Thumser &mdash; er hätte den S.&#x202f;C.
+Fechter &mdash; &mdash;? Donnerwetter!</p>
+
+<p>An des Gegners Stirn klaffte ein breiter roter Spalt,
+aus dem zwei feine warme Strahlen spritzten &mdash;</p>
+
+<p>»'raus!« sagt drüben der Paukarzt.</p>
+
+<p>»Herr Unparteiischer, wir erklären die Abfuhr!«</p>
+
+<p>Borgmann stampfte vor Wut mit dem Fuß, als der
+Paukarzt von hinten mit kräftigem Griff seine Stirn zusammenpreßte
+und ihn herumdrehte. Was half's?</p>
+
+<p>»<i lang="la">Silentium</i> &mdash; Neo-Borussia erklärt Abfuhr nach
+anderthalb Minuten!«</p>
+
+<p>Als Hans Thumser sich aus dem Schwall der Glückwünsche
+seiner Korpsbrüder losmachte und Ausschau
+hielt &mdash; war das Reiterpaar verschwunden.</p>
+
+<p>»Gratuliere!« sagte Erbprinz Heribert. »Fabelhaft,
+lieber Thumser, meine vollste Bewunderung! Haben Sie
+übrigens die Buchner gesehen?! Vollkommen tadelloses
+Mädchen ...«</p>
+
+</div>
+<div>
+<h2>2.</h2>
+
+<p class="start-chapW">Wenn Hans Thumser auf ein Glück wartete, so machte
+die Ungeduld ihn krank, verdarb ihm jede Minute mit
+zehrender Sehnsucht. So war es schon immer gewesen,
+solange er sich seiner erinnern konnte. Die letzten Wochen
+vor dem Weihnachtsfest, vor dem Beginn der Sommerfrische
+waren ihm stets eine endlose Tortur gewesen ...
+Und als er später begonnen hatte zu empfinden, daß nur
+die Stunden wahrhaft lebenswert seien, in denen er mit
+einem gewissen braunbezopften Menschenkind unter einem
+Dache weilen durfte ... da war alles, was zwischen diesen
+Stunden lag, nur wie ein unermeßlich langer, böser,
+dumpfer Traum und Alpdruck gewesen ...</p>
+
+<p>Und so bedrückend, so angstumschnürt wälzten sich auch
+die Tage dahin, die Hansens Mensurtriumph noch von der
+Eröffnungsvorstellung des Meininger Gastspiels schieden.
+Er saß inmitten seiner Korpsbrüder, schwatzte und trank
+mit ihnen wie immer, ließ ihre Lobesbezeigungen mit der
+gleichen Gelassenheit über sich ergehen wie den boshaften
+Spott der Neider, es sei nur ein »Schweinedusel« gewesen,
+daß er den S.&#x202f;C. Fechter hinabgetan habe ... Er ließ
+auf offizieller Kneipe seine Füchse in die Kanne steigen,
+daß sie quietschten, und schrieb morgens bei Windscheid
+und Binding im Kolleg mit einem ganz ungewohnten,
+krampfhaften Eifer nach, als steure er auf ein Prädikatexamen
+los &mdash; &mdash; und all dies Tun blieb seiner Seele so
+fern, so fern ...</p>
+
+<p>Manchmal fragte er sich, ob er wohl bei ganz gesundem
+Verstande sei &mdash; ob es nicht eine fixe Idee, ein krampfhaftes
+Wahngebilde sei, das ihn so grenzenlos hungern
+ließ nach &mdash; nach einem Nichts, einem Spiel, dem flüchtigen
+Schattenbilde eines Dichtertraums ... Und dann
+wieder genoß er mit einer phantastischen Seligkeit sein
+Wesen, das ihn vom wachen Leben hinweg so unwiderstehlich
+in luftige Spukwelten drängte ...</p>
+
+<p>Nur die Stunden zählten wenigstens halb, die er am
+Fenster seiner Bude verbrachte, hinüberstarrend zur nüchternen
+Front jener Gebäude an der langweiligen Sophienstraße,
+hinter denen der kahle Bau des Carolatheaters
+sich barg. Dort war um die Vormittagsstunden ein lebhaftes
+Kommen und Gehen. Früh um neun begannen
+die Proben, natürlich nur für die neuangeworbene Statisterie,
+denn für die Solo-Rollen »standen« selbstverständlich
+alle Stücke des Repertoires. Aber die stattliche Schar
+des »Volkes«, die in jeder Stadt aufs neue zusammengebracht
+und gedrillt werden mußte, die wimmelte heran,
+füllte die sonst stille Straße mit Lachen und Geschwätz ...
+braunäugige Töchter kleiner Bürgersleute, stellungslose
+Ladenfräulein und Kommis, Stadtreisende und Konservatoristen
+&mdash; vor allem aber Studenten, Studenten von
+jener Sorte, die der Waffenstudent eigentlich nicht mitrechnete,
+und die trotzdem die weitaus überwiegende Mehrzahl
+der akademischen Bürgerschaft bildete: die »Finken«,
+auch »Bummler« genannt, obwohl sie natürlich weit
+weniger bummelten als die jungen Herren in Mützen und
+Bändern ... gar zu gerne hätte Hans Thumser sich mit
+ins Gewühl der Statisten gemengt, um als »Volk« oder
+»Friedländischer Soldat« oder als römischer Quirite sich an
+den großen, festlichen Unternehmungen zu beteiligen, die
+da drüben vorbereitet wurden ... Und eines Tages hatte
+er sich's getraut, vor den Ersten hinzutreten mit der Bitte:</p>
+
+<p>»Sag' mal, Pilgram, wie ich höre, wirken eine ganze
+Menge Studenten in den Vorstellungen der Meininger
+als Statisten mit &mdash; hättest Du was dagegen, wenn ich da
+ebenfalls mittäte?«</p>
+
+<p>Der Erste sah den Fuchsmajor mit einem Blick an, als
+bäte dieser um Erlaubnis, silberne Löffel zu stehlen.</p>
+
+<p>»Hör mal, Du, Dein Kopfschmiß von Sonnabend eitert
+wohl nach innen, he?!«</p>
+
+<p>Also damit war es nichts ... und so mußte man sich
+denn begnügen, von weitem zuzuschauen, wie die glücklicheren
+Kommilitonen, frei des korpsstudentischen
+Zwanges, nach Schluß der Probe froh erregt, mit glühenden
+Köpfen, lebhaft diskutierend dem Eingangstor des
+Theaters entströmten, um die namenlosen Kneipen aufzusuchen,
+in denen sie nach eigener Wahl und entsprechend
+der Rücksicht auf die Dimensionen ihres Monatswechsels
+verkehrten. Und inmitten dieser Beneidenswerten kamen
+auch die Helden und Heldinnen aus der Probe &mdash; natürlich
+mußten ja auch sie wenigstens die Massenszenen immer
+wieder aufs neue mit probieren ...</p>
+
+<p>Und noch ein andres heimliches Fest blühte für Hans
+Thumser innerhalb seiner bescheidenen vier Wände, die
+glücklicherweise so dünn waren, daß sie manch ein Geräusch
+durchließen von jener geheimnisvoll lockenden Welt, die
+hinter ihnen sich barg: das Klappern zierlicher Pantöffelchen,
+das Rascheln seidener Röcke, keckes Mädchenlachen
+und halblautes Geschwätz, wenn Kolleginnen drüben
+zum Besuch kamen ... Aber noch immer war's ihm nicht
+geglückt, seine Nachbarin von Angesicht zu Angesicht zu
+sehen.</p>
+
+<p>Inzwischen baute Hans in seinem Herzen ein seltsam
+Kirchlein auf: droben war ein feierliches gotisches Heiligtum,
+in dem Jucunda Buchners weiße Gestalt auf ernstem
+Altare stand, von Weihrauch und Kerzengeflacker umspielt
+... darunter aber, tief unter der Erde, barg sich
+eine dämmrige romanische Krypta, in der tolle Orgien
+verbotener, heidnischer Kulte nächtens gefeiert wurden
+vor einem üppig lächelnden Götzenbild &mdash; seine Züge
+waren nicht genau erkennbar &mdash; verschwammen im hüpfenden
+Fackellicht, das durch den Raum dunstete ...</p>
+
+<p>Aber Hänschen Thumser war nicht der Mann des
+tatenlosen Zuwartens. Es mußte etwas geschehen, die
+dumpfe Qual dieser sehnsüchtigen Tage zu verkürzen.
+Aber was? Immer wieder mündeten seine Pläne in die
+Erkenntnis, daß man einem jungen verwöhnten Mädchen
+&mdash; und eine Schauspielerin konnte man sich ja doch nicht
+anders vorstellen als jung und verwöhnt, nicht wahr? &mdash;
+daß man solch einem Liebling der Götter und Menschen
+nur nahen könne mit gebenden Händen ... und seine
+Hände waren leer ... der Monatswechsel heidt &mdash; knapp
+noch das Nötigste für die letzten Tage vorhanden ...</p>
+
+<p>Auf einmal &mdash; welch glorreicher Gedanke! Hänschen
+Thumser konnte ja etwas, das am Ende doch nur die
+wenigsten unter Asta Thönys Verehrern &mdash; gewiß hatte
+sie unzählige &mdash; reiche Bankiersöhne und Gardeleutnants
+und &mdash; na und solche Leute mit unerschöpflichen Portemonnaies
+&mdash; aber gewiß konnten solche Leute meistens
+eines nicht, oder wenigstens nicht so gut wie Hänschen
+Thumser &mdash; nämlich <em class="gesperrt">dichten</em>!</p>
+
+<p>Juchhe! Hänschen hat kein Geld, um kunstvolle
+Blumenarrangements zu kaufen &mdash; aber wunderschöne
+Verse kann er machen! &mdash; Also los! ein Blatt aus dem
+Kollegheft gerissen und gereimt auf Deuwel komm heraus!</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Ich bin ein junger Korpsstudent,<br /></span>
+<span class="i0">Die Schuhe Lack, der Rock patent &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Korrekt und schick an mir ist alles &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>lauter unbestreitbare Wahrheiten! aber nun kommt der
+Haken.</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»&mdash; im Portemonnaie nur haust der Dalles &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>So &mdash; immer frisch heraus mit dem sauren Bekenntnis,
+dann weiß Asta auch gleich, wie sie mit mir dran ist &mdash;
+was sie von mir zu erwarten hat &mdash; und was nicht ...</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Doch da das Schicksal über Nacht<br /></span>
+<span class="i0">Zu Budennachbarn uns gemacht &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>(Ach du liebes, gnädiges Schicksal du!)</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»&mdash; müßt' ich Dich eigentlich begrüßen,<br /></span>
+<span class="i0">Und Rosen legen Dir zu Füßen &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Wie gerne würd' ich mich erdreisten &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Doch leider &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Alle Wetter: das wird ja ein prachtvoller Reim:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i10">»&mdash; kann ich mir's nicht leisten ...«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Nun ein zweites offenes Bekenntnis:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Noch kenn' ich Dich, Du Schelmin, nicht,<br /></span>
+<span class="i0">Sah nicht einmal Dein Angesicht &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Nur &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Gott, bleiben wir doch schon bei der Wahrheit:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i6">»&mdash; hab' ich morgens früh gesehn<br /></span>
+<span class="i0">Vor Deiner Tür zwei Schuhchen stehn &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">So winzig, duftig, elegant &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Hans! du imponierst mir! So viel edle Dreistigkeit hätt'
+ich dir gar nicht zugetraut &mdash; aber freilich: auf dem Papier,
+und mit einer schützenden Scheidewand dazwischen &mdash; &mdash;
+Aug' in Auge würde das Debüt wohl etwas kümmerlicher
+ausfallen, wie? &mdash; Aber weiter, weiter &mdash; einen Reim
+auf »elegant« &mdash; pah, Spielerei!</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»&mdash; daß gleich mein Herz in Flammen stand &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>&mdash; nein, das ist doch zu billig, zu abgeschabt:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Da gab es Funken &mdash; Flammen &mdash; Brand!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Ja, es ist eine alte Sache: Verse werden immer am
+besten, wenn man ganz geradezu ausspricht, was wirklich
+passiert ist:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Und seitdem träum' ich wahnbetört,<br /></span>
+<span class="i0">Von dem, was da hineingehört &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Ist das nicht ... doch ... gar zu unverschämt?! Ach
+was, mehr wie hauen kann sie schließlich nicht!</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Willst Du mir's auf den Nacken setzen,<br /></span>
+<span class="i0">Mir wär's ein sklavisches Ergetzen &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>&mdash; ne, das ist ein falscher Ton &mdash; von der Sorte sind
+wir doch nicht! &mdash;</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Ach, dürft' ich's einmal &mdash; einmal küssen &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Wirst mir's schon noch &mdash; erlauben müssen &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">O welche süße Phantasie &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Und ach &mdash; probiert hab ich's noch nie &mdash; &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Hans überlas das Geschriebene. Himmel, ist das
+schnurrig, wenn's auf einmal so in einem zu dichten anfängt!
+Ein ganz andrer Mensch kommt da plötzlich zum
+Vorschein als der, den man so im Leben darstellt ...</p>
+
+<p>Hatte er das wirklich geschrieben, er, der wohlerzogene
+Beamtensohn, der geschniegelte, korrekte Korpsstudent,
+der künftige Richter des Volkes?!</p>
+
+<p>Ach, und es gefiel ihm so gut &mdash; daß er's ganz hastig
+und mit fliegenden Fingern ins Reine schrieb und kuvertierte
+... dann stülpte er die grüne Mütze auf, lauschte, ob
+seine Nachbarin daheim sei ... und da er keinerlei Geräusch
+hörte, klinkte er im Vorbeigehen sachte die Tür zum
+Nebenstübchen auf und sah &mdash;</p>
+
+<p>Sah durch den Spalt eine zierliche Mädchengestalt in
+weißem Unterrock und weißem Frisiermantel schlafend
+aufs Sofa hingestreckt ... ein schwarzes Wuschelköpfchen ...
+und über den Rand des Sofas guckten ein paar schwarzbestrumpfte
+Füße, an denen zierliche rote Halbpantöffelchen
+baumelten ...</p>
+
+<p>Und schon hatte er mit einem Ruck den Briefumschlag
+mit seinen unverschämten Versen mitten in die Stube geschleudert,
+die Tür mit hartem Knall zugeklinkt &mdash; und flog
+nun die Stufen hinunter &mdash; die grüne Mütze war ihm in
+den Nacken gerutscht, seine Wangen brannten, und draußen
+zog er mit seinem spanischen Rohr einen Durchzieher durch
+die Luft, daß es nur so pfiff.</p>
+
+<p class="start-chapW space-above">Wie in Hans Thumsers unoffiziellem Herzen, so war
+auch in Valentin Pilgrams korrekter Chargiertenseele
+Revolution ausgebrochen, und auch die um einer Zimmernachbarschaft
+willen. Aber diese Revolution war doch von
+einer ganz anderen Sorte und gipfelte in der Erklärung,
+die der Senior in energischem Tone an die Frau Kanzleirat
+Buchner abgab: er kündige hiermit seine Bude und
+werde sofort ein andres Quartier suchen, wenn man den
+ruhestörenden Lärm und groben Unfug da nebenan nicht
+abzustellen die Mittel finden würde ...</p>
+
+<p>Und das war so gekommen:</p>
+
+<p>Valentin Pilgram stand im sechsten Semester. Er war
+bereits zwei Semester in Berlin inaktiv gewesen und nur
+nach Leipzig zurückgekehrt, weil er als Königlich sächsischer
+Untertan sein Referendarexamen in Sachsen ablegen
+mußte. Er war auf dringendes Bitten des C.&#x202f;C. zu Anfang
+des Semesters noch einmal wieder aktiv geworden
+und hatte die erste Charge interimistisch übernommen, weil
+kein anderer geeigneter Korpsbursch für diesen Posten da
+war, und der Vertreter des Marburger Kartellkorps, der
+die erste Charge später definitiv bekommen sollte, doch erst
+einmal in Leipzig und im Korps warm werden mußte.
+Interimistisch bekleidete dieser junge Herr die zweite
+Charge. Und so teilte Pilgram mit seiner ganzen feierlichen
+Gewissenhaftigkeit seine Zeit zwischen dem Korps
+und der Vorbereitung fürs Examen. Und in der letzteren
+war er nun plötzlich und gründlich unterbrochen worden
+durch ein grollendes Getöse, das aus der Nachbarkammer
+in seinen Studienfrieden hinüberklang, aus der Nachbarkammer,
+in der, wie er gelegentlich mit halbem Ohr vernommen
+hatte, die Tochter seiner Hauswirte, die herzoglich
+meiningische Hofschauspielerin Jucunda Buchner, für die
+Dauer des Gastspiels ihres Ensemble einquartiert worden
+war. Mitten in die Lektüre der Windscheidschen Drogenweltweisheit
+war da plötzlich eine sonore Altstimme
+hineingeklungen, zunächst in sachtem, murmelndem Repetieren,
+dann aber in selbstvergessen wildem Ausbruch:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Und <em class="gesperrt">einer</em> Freude Hochgefühl entbrennet,<br /></span>
+<span class="i0">Und <em class="gesperrt">ein</em> Gedanke schlägt in jeder Brust &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Da war der reckenhafte <i lang="la">candidatus iuris</i> mit einem
+Wutknurren aufgefahren ... aber umsonst: die sonore
+Stimme drinnen grollte weiter &mdash; sänftigte sich nun zu
+herzbeklommener Klage:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Doch mich, die all dies Herrliche vollendet,<br /></span>
+<span class="i0">Mich rührt es nicht, das allgemeine Glück,<br /></span>
+<span class="i0">Mir ist das Herz verwandelt und gewendet,<br /></span>
+<span class="i0">Es flieht von dieser Festlichkeit zurück ...«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Aber bald schrillte sie wieder auf mit jähem Wehlaut,
+daß sich vor Wut und Entsetzen dem Rechtskandidaten die
+Gedärme umkehrten.</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Sollt' ich ihn tö&mdash;öten? Konnt' ich's, da ich ihm<br /></span>
+<span class="i0">Ins Auge sah? I&mdash;h&mdash;n tö&mdash;ö&mdash;öten? Eher hätt' ich<br /></span>
+<span class="i0">Den Mordstahl auf die eig'ne Brust gezückt!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Das war zuviel! Der Student riß einen seiner Lederpantoffeln
+von den Füßen und pfefferte ihn krachend gegen
+die Nachbartür.</p>
+
+<p>Einen Augenblick verblüffte Stille &mdash; doch o weh &mdash;
+sein Warnsignal war offenbar nicht verstanden worden &mdash;
+schon nach wenigen Sekunden setzte das Gegroll und Gewimmer
+drüben wieder ein:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Und bin ich strafbar, weil ich menschlich war?<br /></span>
+<span class="i0">Ist Mitleid Sünde?«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>»Nee!« brüllte Valentin Pilgram. »Mitleid is keene
+Sinde nich! Haben Sie ruhig Mitleid mit mir und halten
+Sie den Mund &mdash; ich muß lernen!!«</p>
+
+<p>Einen Augenblick war drüben alles stumm &mdash; todesstarres
+Schweigen. Und plötzlich fauchte ... ja fauchte,
+anders war's nicht zu nennen &mdash; keifte &mdash; ja man muß
+schon sagen, keifte die sonore Stimme von nebenan:</p>
+
+<p>»So? Lernen müssen Sie? Na &mdash; ich auch ...
+stopfen Sie sich Watte in die Ohren!« Und noch dreimal
+mächtiger und markerschütternder grollte nun der majestätische
+Alt:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Ist Mitleid Sünde? Mitleid! Hörtest Du<br /></span>
+<span class="i0">Des Mitleids Stimme und der Menschlichkeit<br /></span>
+<span class="i0">Auch bei den andern, die Dein Schwert geopfert?!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Da sprang Valentin Pilgram wütend auf, riß den
+Klingelzug, daß es schrill durch den Flur gellte, und als die
+stattliche runde Frau Kanzleirätin ganz entsetzt ins Zimmer
+schoß, schnauzte er sie an:</p>
+
+<p>»Was ist das für ein gottverfluchter Spektakel daneben?
+Wenn das nicht in fünf Sekunden aufhört,
+zieh' ich!«</p>
+
+<p>»Erlooben Se mal, mei gutester Herr Pilgram!« entrüstete
+sich die behäbige Dame im geblümten Morgenrock
+sehr energisch. »Se wissen, scheint's, nich so recht, mit wäm
+Se's zu tun ha'm! Das is Se nämlich meine Tochter, die
+große Jucunda Buchner von die Meininger &mdash; die Jungfrau
+von Orleans!«</p>
+
+<p>»Und wenn je die Jungfrau Maria selber wär' &mdash;
+hier verlang' ich meine Ruhe, versteh'n Se mich, Frau
+Kanzleirat?! Ich hab' diese Bude gefälligst zum Studieren
+gemietet &mdash; versteh'n Se? Wir sind Se hier nich im
+Theater!!«</p>
+
+<p>»Se sollten Ihn' was schämen, Herr Pilgram, daß Se nich
+mal kenn'n bißchen Ricksicht nähm' auf Studium von eener
+gottbegnadeten Ginstlerin, wo ganz Leipz'g stolz drauf is!«</p>
+
+<p>»Wenn eener ä Vierteljahr vor'm Examen steht,
+dann hört die Rücksichtnahme ergebenst auf!« brüllte Pilgram.
+»Ich muß ooch studieren, aber mei Studium is
+wenigstens geräuschlos! Wenn Se e gottbegnadetes
+Mädchen zur Tochter haben, die beim Studieren einen
+Schkandal macht, wo die Mauern von Jericho von könnten
+einstürzen, dann vermieten Se gefälligst keene Buden an
+Studenten nich!«</p>
+
+<p>»Herr Pilgram &mdash; wenn ich gewußt hätte, was für e
+ungeschliffener Mensch Sie sein kenn' &mdash; nie wär'n Se
+mir ieber de Schwell gekomm', weeß Knebbchen!«</p>
+
+<p>»Mamaa!« tönte da plötzlich der sonore Alt aus dem
+Nebenzimmer, »rege Dich doch bitte ja nicht auf, Mamaaa!
+Der Herr mag ruhig ziehen &mdash; ich komme Deiner Haushaltungskasse
+für den Schaden auf!«</p>
+
+<p>Frau Kanzleirat musterte den Studenten von oben
+bis unten mit einem Blick tiefster Verachtung. »Da heer'n
+Se's, Herr Pilgram! So benimmt sich e wahrhaft vornähmer
+Mensch! &mdash; Also wenn Se zieh'n woll'n, ich hab
+Sie nich das mindeste dagegen &mdash; lieber heut als morgen!
+Adieu, Herr Pilgram &mdash; ziehen Se glicklich!«</p>
+
+<p>Und die stattliche Dame rauschte hinaus mit der Würde
+einer Königin. Die Schleppe des geblümten, nicht mehr
+ganz saubern Morgenrockes waberte hinter ihr drein.</p>
+
+<p>Valentin Pilgram aber blieb etwas benommen an
+seinem einsamen Studiertisch. Es war doch höchst fatal,
+nun so mitten in den Examensvorbereitungen das lieb gewordene
+Quartier gegen ein noch unbekanntes eintauschen
+zu müssen ... am Ende hätte er auch ein bißchen weniger
+hitzig sein können ... vielleicht mit einem guten Wort hätte
+sich die Sache viel besser einrenken lassen ... Aber das
+machte diese verfluchte Kandidatenstimmung, das Bangen
+vor diesem fahlen Gespenst, das am Ende der Studentenzeit
+hockte mit stieren Augen und sich ganz, ganz unmerklich
+immer näher heranschob ... da sollte der Teufel nicht
+nervös werden ... Was keine sausende Säbelklinge
+fertiggebracht hatte: das Schreckbild der drei Männer
+hinterm grünen Tisch hatte es erreicht: Valentin Pilgram
+hatte Angst ... und dieser Zustand, so ungewohnt, so unmöglich,
+der hatte ihn toll gemacht ... Eigentlich hatte er
+sich ja doch wirklich unqualifizierbar benommen ... es
+waren doch weibliche Wesen, beinahe Damen, mit denen
+er so gröblich umgesprungen ... zwar ein Kanzleirat war
+ein Subalternbeamter, und seine Frau gehörte nicht zur
+Gesellschaft ... und vollends eine Komödiantin ... aber
+wenn auch ... wenn auch ... Valentin Pilgram, ich
+glaube, dein Benehmen war durchaus nicht auf der Höhe
+der berühmten korpsstudentischen Direktion ... deren
+eifriger Hüter du selber so lange im C.&#x202f;C. gewesen ...</p>
+
+<p>Valentin wartete mit Spannung, ob nicht alsbald da
+drinnen wieder der dunkeltönige Alt mit dröhnendem
+Jambenschwall einsetzen würde ... er wartete mit Spannung
+und Verlangen ... das Fortdauern der Störung
+wäre wie eine nachträgliche halbe Entschuldigung seiner
+Hitze gewesen ... aber er wartete umsonst. Alles blieb
+still darinnen. Er hätt' also triumphieren, den ertrotzten
+Arbeitsfrieden eifrig büffelnd genießen können ... aber
+seltsam ... die richtige Streberstimmung wollte nicht
+wiederkommen ...</p>
+
+<p>Teufel auch, Valentin Pilgram, du hast doch nicht etwa
+einen »Moralischen«?</p>
+
+<p>Franconias Senior stand langsam auf und räumte
+Drogenweltlehrbuch und Repetitorien zusammen. Er stülpte
+die grüne Mütze auf den strohblonden Schädel und stieg
+sinnend die altehrwürdigen Holzstiegen hinab auf die
+»Kleine Fleischergaß«. Drüben im ersten Stockwerk des
+»Cafébaums« winkte über dem in Sandstein gemeißelten
+Amor, der schon seit Jahrhunderten einem gleichfalls sandsteinernen
+Türken »e Schälchen Heeßen« kredenzte, winkte
+Franconias Wappenschild, lockte, unter den morgendlich
+geöffneten Fenstern des Kneipzimmers, im Morgengolde
+sich bauschend, das grün-gold-rote Banner ... aber der
+Erste stieg nicht hinauf. Er ging auch nicht auf Wohnungsuche:
+er tat etwas, was er im Leben noch nicht getan
+hatte: er ging zur Universität und kämpfte inmitten eines
+Massenandranges von Kommilitonen, ganz gewöhnlichen
+Nichtinkorporierten, um ein Studentenbillett zur morgigen
+Eröffnungsvorstellung der Meininger &mdash; zur »Jungfrau
+von Orleans« ...</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Ecke Roßplatz, und Roßstraße, vor dem Hotel Hauffe,
+in dessen erstem Stockwerk der <i lang="la">studiosus iuris et
+cameralium</i> Heribert Hans Herwig Erbprinz von Nassau-Dillingen
+mit seinem militärischen Begleiter und seiner
+Dienerschaft die ganze Zimmerflucht an der Straßenfront
+inne hatte, harrten frühmorgens um sechse zwei Reitknechte
+in Livree mit drei prächtigen Gäulen. Sie plauderten
+mit dem galonierten Portier.</p>
+
+<p>»Nanu?« meinte der Hotelgestrenge, »schon wieder?
+Ihr seid ja Frühuffsteher geworden uff eemal?«</p>
+
+<p>»Was will mer mache?« meinte der ältere der herzoglich
+nassauischen Pferdepfleger. »Unser junger Herr hat
+widder mal e funkelnagelneies Veegelche g'fange ...«</p>
+
+<p>»Ei herrjemerschnee!« machte der Portier. »Was das
+nur zu bedeiten hat? Das is doch ganz unnatierlich fier
+so 'n jungen Herrn &mdash; Morgen fier Morgen drei Stunden
+durch den Wald zu flitzen un sich den Schlaf um die Ohr'n
+zu schlagen ...«</p>
+
+<p>»Ich glaub, ich weeß, was da derhinner steckt!«
+meinte der jüngere Bursche. »Ich hab' neilich so ebb's
+uffg'schnappt, wie se beim Reite g'sproche habe. Er und
+der Major!«</p>
+
+<p>»Da wär' ich Ihn' aber doch wahrhaft'g neigierig!«
+kicherte der Portier und schob sich von seiner Treppe hinunter
+auf den Bürgersteig.</p>
+
+<p>»Nu &mdash; e Weibsbild steckt da derhinner!« triumphierte
+der Reitknecht. »Ich hann's neilich ganz g'nau geheert:
+Lasse mer heemreite, hat der Major g'sagt &mdash; heit morge
+finne mer se doch nit &mdash; hat er g'sagt!«</p>
+
+<p>»I nee so was!« staunte der Portier. »Un dann sind
+se wärklich alle zwee heemgeritten?«</p>
+
+<p>»Ja &mdash; ganz wahrhaftig sinn se heemg'ridde!«</p>
+
+<p>»Wer das bloß sinn mag?« meinte der Portier.
+»Gewiß ganz was Vornähmes &mdash; sonst tät der gnädige
+Herr doch gewiß nich so viel Umstände dann machen
+um so e Weibsbild!«</p>
+
+<p>»Pscht &mdash; die Herre komme!«</p>
+
+<p>Der Erbprinz federte mit dem natürlichen Schwung
+seiner einundzwanzig Jahre in den Sattel &mdash; der Major
+mit der wohlkonservierten, doch immerhin etwas gewollteren
+Elastizität seiner zweiundvierzig. Und im
+Schritt ging's die gutgepflasterten Straßen der erwachenden
+Großstadt hinab, am massiven Bau und klobigen
+Rundturm der Pleißenburg vorüber bis zu den Anlagen
+jenseits des Flüßchens, wo man antraben konnte.</p>
+
+<p>»Wenn Sie ahnten, Durchlaucht, wie komisch Ihnen
+die Maske eines schmachtenden Toggenburg steht &mdash; Sie
+würden sich selber erheblich auslachen!« meinte Herr
+von Gorczynski.</p>
+
+<p>»Gott, wenn mir's doch Vergnügen macht, lieber Major
+&mdash; lassen Sie mir schon den kindlichen Spaß!«</p>
+
+<p>»Ich versteh' Sie nicht, Durchlaucht &mdash; Sie benehmen
+sich wie ein Sekundaner von einem Kleinstadtpennal und
+nicht wie ein Fürst ... So'n Theatermädel ... der schickt
+man doch einfach ein Rosenarrangement und seine Visitenkarte
+&mdash; und das Weitere findet sich!«</p>
+
+<p>Ueber das blasierte Knabenantlitz des Erbprinzen flog
+ein flüchtiges Rot. »Wenn ich glaubte, bei der Buchner
+ginge das auch so, dann pfiff' ich auf das ganze Abenteuer.
+Die Nummer kenn' ich nun allmählich! Die Weiber,
+die sich kommandieren lassen, die hab' ich satt! Ich möchte
+einmal ein Erlebnis haben &mdash; ein richtiggehendes Erlebnis!«</p>
+
+<p>»Na, auf Ihre Manier werden Sie's höchstens bis zu
+einem richtiggehenden Korbe bringen!« meinte der Major.
+»Ein Mann, der schmachtet, hat von vornherein alle
+Chancen verloren! Selbst wenn er der Erbprinz von
+Nassau-Dillingen wäre!«</p>
+
+<p>»Ich will aber diesmal überhaupt nicht der Erbprinz
+von Nassau-Dillingen sein! Versteh'n Sie mich, Herr
+Major?! Es paßt mir nicht, immer nur auf das Prinzenkonto
+geliebt zu werden! Schließlich bin ich doch ganz
+simplement als junger Mann nicht zu verachten, wie?
+Sehen Sie &mdash; und das möcht' ich mal ausprobieren! Ich
+hab' mir's nun mal in den Kopf gesetzt! Und gestern hab'
+ich der Buchner ein Rosenarrangement geschickt mit einem
+Kärtchen, auf das ich nichts weiter geschrieben habe als:
+Herbert von Dillingen, <i lang="la">studiosus iuris et cameralium</i>!«</p>
+
+<p>»Na, ich sag's ja, Durchlaucht! Sie sind auf dem
+besten Wege, einen <a id="InCorr1">hahnebüchenen</a> Unsinn aufzustecken!
+Aber was ich Ihnen sage: Ich habe Ihnen viel durch die
+Finger gesehen &mdash; aus unerschütterlicher Liebe zu Ihnen &mdash;«</p>
+
+<p>»Na ja, aus unerschütterlicher Liebe zu mir. Und
+weil Ihnen Ihr gesunder Menschenverstand sagt, daß Sie
+aller Voraussicht nach unter Bernhard dem Sechzehnten
+noch zehn Jahre, unter Heribert dem Vierzehnten aber,
+will's Gott, den ganzen Rest Ihrer Erdenlaufbahn abzuleisten
+haben werden!«</p>
+
+<p>»Oh &mdash; aber Durchlaucht!« sagte der Major und legte
+mit pathetischer Bewegung seine Hand auf jene Stelle
+seines Busens, unter der man den Sitz seiner unerschütterlichen
+Liebe zu seinem jungen Herrn und Zögling annehmen
+mußte.</p>
+
+<p>»Bitte, lieber Gorczynski &mdash; stürzen Sie sich nicht in
+Unkosten &mdash; ich denke, wir beide kennen uns!« lachte Erbprinz
+Heribert.</p>
+
+<p>»Ernsthaft gesprochen, Durchlaucht!« sagte der Major
+etwas verärgert, indem er seinen Gaul in Schritt fallen
+ließ, »ich lasse Ihnen jede harmlose Affäre durchgehen &mdash;
+wenn sich aber etwas Ernsthaftes anspinnt, berichte ich
+<i lang="la">a tempo</i> nach Dillingen! Ihr erlauchter Herr Vater
+hat mich kategorisch dahin instruiert: keine Weibergeschichten!
+Und ich glaube diese Instruktion ganz im
+Sinne meines gnädigen Herrn aufzufassen, wenn ich &mdash;«</p>
+
+<p>»Wie kann man sich nur so sinnlos aufregen, mein
+Teuerster! Also weil es mir Vergnügen macht, mal ein
+paar Vormittage im Leipziger Ratsholz spazieren zu
+reiten, und weil ich dabei gelegentlich die Hoffnung ausgesprochen
+habe, einen gewissen grauen Schleier noch
+einmal wehen zu sehen, wittern Sie bereits allerlei
+Tragödien!«</p>
+
+<p>»Ich gestatte mir, Durchlaucht, mich auf meine
+Menschenkenntnis zu berufen. Es ist wider die Natur,
+wenn ein von seinem gnädigen Herrn Vater mit überaus
+auskömmlicher Apanage ausgestatteter und dank meiner
+überaus riskierten Nachsicht bereits einigermaßen erfahrener
+junger Prinz einer Theatermamsell wegen, die
+er ein einziges Mal von weitem gesehen hat, an drei
+nacheinanderfolgenden Tagen um fünf statt um neun Uhr
+aufsteht. Wenn ich das nach Dillingen berichte, gibt's
+eine Katastrophe! Hab' ich nicht recht?«</p>
+
+<p>»Von weitem gesehen?« schmunzelte der Prinz. »Ich
+habe mir bereits eingehenderes Material verschafft!« Und
+er holte einen großen Umschlag aus seiner Rocktasche,
+reichte ihn von Schimmel zu Rappen zum Major
+hinüber. Dem fielen beim Oeffnen drei Bilder in die
+Hand: es waren Darstellungen eines jungen Mädchens;
+zunächst im Straßenkleide &mdash; Pelzjäckchen, Barett, Muff
+&mdash; und dann im Eisenharnisch mit bloßem Haupt, aufgelösten
+Haaren, ein Schwert und eine Fahne in Händen &mdash;
+und endlich im Samt, mit riesigen Puffenärmeln, das
+Gesicht von langen Ringellocken umwallt und von einem
+starren weißen Rundkragen eingesäumt ...</p>
+
+<p>»Kreuzmillionen &mdash;!« entfuhr es dem Major. »Das
+ist &mdash;?!«</p>
+
+<p>»Das ist &mdash; <em class="gesperrt">sie</em>,« sagte der Erbprinz, und über seinem
+fahlen Lebemannsangesicht lag eine Sekundanerröte, die
+dem Major völlig fremd war an seinem Zögling. Er
+starrte den jungen Mann an, als sehe er ihn zum
+erstenmal.</p>
+
+<p>Verdammt &mdash; also so stand die Sache?! Nun hieß
+es aber wahrhaftig aufpassen ...</p>
+
+<p>Der Major reichte die Bilder zurück. »Na ja,« sagte
+er im Tone völliger Wurstigkeit, »die Buchner ... Gott,
+warum nicht? Wenn Sie sich auf die nun mal kaprizieren,
+Durchlaucht &mdash; von meiner Seite aus steht nichts im
+Wege! Nur fangen Sie's vernünftig an und halten Sie
+sich nicht zu lange bei der Vorrede auf! Also wir werden
+sie auf &mdash; na sagen wir auf morgen abend, heut nach
+der Premiere wird sie schwerlich abkömmlich sein &mdash; wir
+werden sie auf morgen abend zum Souper einladen &mdash;
+sie mag noch eine Kollegin mitbringen &mdash; und dann entwickelt
+sich alles weitere glatt und prompt historisch!«</p>
+
+<p>Der Erbprinz antwortete nicht. Er gab dem Gaul
+die Schenkel, und zwar so heftig, daß das rassige Tier
+ganz erschrocken zusammenfuhr und dann in tollen Sätzen
+von dannen raste. Der Major flitzte hinterdrein und
+überlegte im Hinsausen, ob er das als eine Zustimmung
+zu seinem Vorschlage aufzufassen habe.</p>
+
+<p>Auf jeden Fall &mdash; geschehen mußte es. Und wenn
+sein Schützling, ein wenig verspätet allerdings &mdash; na, wie
+nannte man das noch &mdash; hm, hm! sein &mdash; sagen wir also:
+Herz entdeckt hätte &mdash; dann möglichst schnell diese kleine
+Entgleisung auf den Normalweg zu dem üblichen, gefahr- und
+schmerzlosen Ausgang leiten ... So befahl es Pflicht
+und Instruktion ...</p>
+
+<p>Und in Gedanken redigierte er folgendes Billett, das
+er heut abend bei der Premiere mit einer aufmunternd
+luxuriösen Blumenspende auf die Bühne lancieren wollte
+&mdash; heut abend? Nein &mdash; da würde die Aktion vermutlich
+ihren Effekt verfehlen &mdash; würde untergehen in einem
+Wust und Ueberschwall ... nein, morgen früh zum Frühstück
+&mdash; das wird das richtige sein! Also ungefähr
+folgendermaßen würde er schreiben:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>»Mein sehr verehrtes <i lang="la">etcaetera</i>! Zwei aufrichtige
+und hingerissene (gerissen ist sehr gut!) Verehrer Ihrer
+Kunst würden es sich zur höchsten Ehre und Freude
+rechnen, Ihre nähere Bekanntschaft <i lang="la">etcaetera
+etcaetera</i>. Wir wagen deshalb die dreiste Bitte,
+daß es Ihnen, Verehrungswürdige, gefallen möge,
+morgen, Donnerstag abend, nach der ersten Wiederholung
+der »Jungfrau« mit uns im Hotel Hauffe zwanglos
+zu soupieren ... Sollten Sie unter Ihren liebenswürdigen
+Kolleginnen eine nähere Freundin haben,
+die es nicht verschmähen würde, eine Stunde in harmlos
+vergnügter Gesellschaft <i lang="la">etcaetera</i>, so würde uns das
+eine ganz besondere <i lang="la">etcaetera</i> ... In Voraussetzung
+Ihrer Zustimmung werden wir uns erlauben, nach
+Schluß der Vorstellung ein Coupé zur Verfügung der
+Damen am Bühneneingange <i lang="la">etcaetera</i>. Mit der
+Versicherung unserer vollkommensten Bewunderung
+Ihre aufrichtigen Verehrer</p>
+
+<p class="right">
+v. Dillingen. v. Gorczynski.«
+</p></blockquote>
+
+<p>Na ja &mdash; das übliche Schema &mdash; das nie versagende ...
+pöh ... eine Komödiantin ... wenn's weiter nichts ist ...</p>
+
+<p>Und schließlich die Hauptsache: zwei blaue Lappen
+hinein &mdash; für jede einen &mdash; damit die guten Kinder auch
+gleich merken, daß man ernsthafte Absichten hat &mdash; nicht
+wahr?</p>
+</div>
+<div>
+<h2>3.</h2>
+
+<p class="start-chapA">Am Mittwoch nachmittag um fünf war der allwöchentliche
+Seniorenkonvent: die Zusammenkunft der Korpsburschen
+sämtlicher Leipziger Korps. Sie fand auf der
+Kneipe des präsidierenden Korps statt: zurzeit war's
+Neo-Borussia, die ihr Heim in nächster Nähe der Franken
+aufgeschlagen hatte, im ersten Stock eines gleich uralten,
+verräucherten, verwahrlosten Kneiphauses, wie der altberühmte
+Cafébaum eins war, in dem Franconia
+residierte. Es stand irgendeine der welterschütternden
+Fragen auf der Tagesordnung, um welche sich ein hoher
+S.&#x202f;C. an jedem Mittwoch Nachmittag die Köpfe zu zerbrechen
+pflegte. Diesmal lag vor &mdash; na was noch? &mdash;
+lag vor ein Antrag von Misnia und Thuringia, ein wohllöblicher
+S.&#x202f;C. wolle beschließen, daß die Klingen der
+Mensurspeere an der Spitze in Zukunft nicht mehr rechtwinklig
+und scharfkantig abgeschliffen würden, wie es
+bisher üblich war, sondern abgerundet ... Infolge des
+eckigen Schliffs waren nämlich an den letzten Bestimmtagen
+ein paar so <a id="InCorr2">hahnebüchene</a> Knochensplitter herausgekommen,
+daß die Paukärzte kategorisch Wandel verlangten:
+die Klingen sollten in Zukunft an der Spitze
+halbkreisförmig geschliffen werden ... Das war natürlich
+ein Problem von fundamentaler Bedeutung, und so erhitzten
+sich die Gemüter immer mehr und mehr, immer
+stärker wurde der Bierkonsum, immer massiver der Zigarren-
+und Zigarettenqualm ... und immer hastiger
+rückte der Zeiger jener Stunde zu, da im Carolatheater
+das Gastspiel der Meininger beginnen sollte ... Theater
+&mdash; pah! Wer hat Zeit, ans Theater zu denken, wenn
+der bittre Ernst des Lebens einen im Bann hält?</p>
+
+<p>Einer hatte Zeit: der schlanke Fuchsmajor der Franken
+natürlich &mdash; er saß auf Kohlen und hätte sich mit Vergnügen
+bereit erklärt, sich am Sonnabend auf Mensur
+mit einem kantig geschliffenen Speer ein halbes Dutzend
+Knochensplitter aus dem Schädel hauen zu lassen, wenn
+er dadurch diese entsetzliche Debatte hätte abkürzen und
+den Anschluß an den Beginn der Vorstellung hätte erreichen
+können ...</p>
+
+<p>Endlich wagte er ein Aeußerstes. Er ging leise zum
+Ersten hinüber, neigte sich und flüsterte ihm &mdash; der mit
+aller Nervenanspannung der hitzigen Rede seines Gegenpaukanten
+vom vergangenen Sonnabend, des Meißner
+Zweiten, folgte &mdash; flüsterte ihm ins Ohr:</p>
+
+<p>»Pilgram, ich darf Dich vielleicht daran erinnern, daß
+Durchlaucht mich auf heut abend in seine Loge eingeladen
+hat &mdash; da darf ich doch keinesfalls zu spät kommen ...
+würdest Du wohl gestatten, daß ich den S.&#x202f;C. verlasse?«</p>
+
+<p>»Du bist verrückt!« knurrte Pilgram halblaut. »S.&#x202f;C.
+geht doch vor allem andern vor! Du siehst, ich muß ja
+auch aushalten!«</p>
+
+<p>»Du &mdash;?! Ja, wie soll ich das verstehen, Pilgram?
+Gehst Du ... denn auch ... ins ...«</p>
+
+<p>Der Erste errötete tief. Es war ihm herausgefahren,
+das Geheimnis, dessen er sich vor allen Korpsbrüdern
+schämte: daß der traditionelle Feind aller neun Musen
+sich ein Theaterbillett erstanden hatte &mdash; und noch dazu
+eine Studentenkarte zu einer Mark und zwanzig Pfennigen,
+um gänzlich unstandesgemäß &mdash; selbstverständlich
+im Bummel, also im tiefsten Inkognito &mdash; zwischen allerhand
+proletigen Kommilitonen, das Parterre, ganz hinten,
+zu bevölkern &mdash; sintemalen und alldieweilen es auch bei
+ihm am Monatsschluß nicht mehr zu dem für das Korps
+vorgeschriebenen Platz im ersten Rang hatte reichen
+wollen ...</p>
+
+<p>»Allerdings &mdash; ich geh' auch!« zischte Pilgram. »Wir
+gehen nachher zusammen &mdash; aber im S.&#x202f;C. wird ausgehalten,
+und wenn uns die ganze Affenkomödie durch
+die Lappen gehen sollte!«</p>
+
+<p>Vor solchem Pflichteifer verstummte Hans Thumser &mdash;
+völlig erschüttert ... Freilich, was galt diesem Banausen
+die Versäumnis eines, zweier, dreier Akte Schiller! Wie
+mochte der bloß auf die Idee gekommen sein, ins ...
+Hallo &mdash; sollte da am Ende ein ... trotz allem ... erwachtes
+Interesse für seine berühmte <i lang="la">filia hospitalis</i>?!
+Alle Wetter &mdash; das war am Ende doch wohl die einzige
+Erklärung!</p>
+
+<p>Und während ein wohllöblicher S.&#x202f;C. sich weiterhin
+über krummen oder geraden Schliff der Klingenspitzen
+aufregte, griff Hans Thumser alle fünf Minuten heimlich
+nach seiner Taschenuhr ... halb sieben &mdash; &mdash; sieben Uhr
+jetzt &mdash; verflucht! War denn diese verdammte Zwiebel
+rasend geworden? Und nun &mdash; nun war es auf einmal
+halb acht &mdash; in diesem Augenblick hob sich da unten fern
+in der Südstadt, in der Sophienstraße, der Vorhang zum
+Prolog, und der biedere Thibaut d'Arc verlobte seine
+zwei ältesten Töchter ... Nun stand sie auf der Bühne &mdash;
+sie, die Madonna aus der oberen Kirche seines Herzens ...
+noch im schlichten Kleide der Bäuerin, doch schon überlagert
+vom tragischen Schatten ihrer göttlichen Sendung ...</p>
+
+<p>»Meine Herren,« sagte der Vorsitzende, Herr Borgmann,
+Neo-Borussiae, die linke Stirnseite noch immer
+von mächtigem Wattebausch unter schwarzer Kompresse
+bedeckt, da, wo Hans Thumsers kecker Durchzieher ihm
+wider alle Vorsicht Schwarte, Knochenhaut und alle Aeste
+der Temporalis durchgesäbelt &mdash; »meine Herren, meiner
+Ueberzeugung nach würden wir uns vor sämtlichen Glocke
+schlagenden S.&#x202f;C. eines hohen Kösener unsterblich
+blamieren, wenn wir als einziger S.&#x202f;C. den allgemein
+üblichen scharfkantigen Schliff abschaffen wollten &mdash; und
+zwar aus einer Anwandlung von Humanitätsdusel
+heraus, der für mein Empfinden einen bedenklichen Beigeschmack
+von Kneiferei hat &mdash;«</p>
+
+<p>»Ich bitt' ums Wort!«</p>
+
+<p>»Ich auch! Ich auch!« so scholl's heftig aus der Korona.</p>
+
+<p>»Silentium für Herrn von Schubart, Misniae!« sagte
+Borgmann gelassen.</p>
+
+<p>»Ich muß mir aufs entschiedenste verbitten,« schrie
+Herr von Schubart, der Zweite der Meißner, in den
+Zigarrenbrodem hinein, »daß der Herr Erste Chargierte
+des präsidierenden Korps von einer Maßregel, die mein
+C.&#x202f;C. befürwortet, erklärt, sie habe einen Beigeschmack von
+Kneiferei! Ich verlange, daß der Herr Vorsitzende diese
+Aeußerung mit dem Ausdruck des Bedauerns zurücknimmt
+&mdash; andernfalls behält sich mein C.&#x202f;C. weitere
+Schritte vor, sowohl gegen einen wohllöblichen C.&#x202f;C. des
+präsidierenden Korps als auch gegen Herrn Borgmann
+persönlich!«</p>
+
+<p>Dreiviertel acht &mdash;! wimmerte Hans Thumsers sehnsüchtige
+Seele &mdash; und in seinem Herzen klang's:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Nichts von Verträgen! nichts von Uebergabe!<br /></span>
+<span class="i0">Der Retter naht, es rüstet sich zum Kampf &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Vor Orleans soll das Glück des Feindes scheitern,<br /></span>
+<span class="i0">Sein Maß ist voll, er ist zur Ernte reif!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Thuringia schloß sich den Erklärungen Misnias an;
+Guestphalia schwankte, während Franconia und Neo-Borussia
+gemeinschaftlich gegen den Antrag auf Abänderung
+des Klingenschliffs auftraten. Unter allgemeiner
+Erregung schritt der Vorsitzende endlich um zehn Minuten
+vor acht zur Abstimmung, und nun fiel Guestphalia
+definitiv zur Partei des runden Schliffs. Franconia und
+Neo-Borussia waren überstimmt: die holde Menschlichkeit
+oder, wie Herr Borgmann Neo-Borussiae es nannte, der
+Geist der Kneiferei hatte gesiegt ... Und mit dem
+Zigarrenrauch hingen unzählige P.&#x202f;P. Suiten und Säbelforderungen
+in der Luft ... Morgen früh zum Frühschoppen
+würden sie explodieren ...</p>
+
+<p>»Nu aber raus!« zischte Pilgram seinem Korpsbruder
+zu. »Weh Dir, wenn Du den andern was davon sagst,
+daß ich ins Theater geh &mdash; offiziell büffle ich heut abend!«</p>
+
+<p>Drunten wartete des Ersten Chargierten der Korpsdiener
+mit Hut und Regenschirm. Pilgram riß ihm beides
+aus der Hand, zog Mütze und Band ab und übergab sie
+dem Getreuen. Thumser, der vornehm in der Proszeniumsloge
+sitzen würde mit dem Erbprinzen, blieb natürlich in
+Couleur. Und in rasendem Tempo hasteten nun die beiden
+Studenten die kleine Fischergasse hinab.</p>
+
+<p>Auf dem Alten Markt standen Droschken aufgefahren.
+Die Wanderer warfen einen wehmütigen Blick hinüber:</p>
+
+<p>»Wenn's doch schon der Erste wäre!« knirschte Hans
+Thumser.</p>
+
+<p>»Beine in die Hand!« knurrte Pilgram.</p>
+
+<p class="start-chapA space-above">Als Hans Thumser sich auf Zehenspitzen in die
+Proszeniumsloge schob, hatte der erste Akt bereits
+begonnen. Der Erbprinz und der Major wandten kaum
+zu flüchtiger Begrüßung die Köpfe &mdash; schon waren sie im
+Bann. Und hinter den schwarzen Silhouetten der Vordermänner
+sah Hans nur mit einem flüchtigen Blick die von
+der Bühne her matt erleuchteten vordersten Reihen des
+Publikums im Parkett &mdash; lauter Gesichter, im Lauschen
+und Schauen erstarrt. Und schon schlugen auch über ihm
+die Wogen zusammen.</p>
+
+<p>Ein hoher gotischer Saal am Hoflager König Karls
+von Frankreich. Düstere pfeilergetragene Holzdecke, die
+Wände eichengetäfelt, darüber Gobelins mit steifen Reihen
+buntgewandeter Ritter und Edeldamen. Und ganz tief
+hinten ein buntes Fenster, durch das sich ein paar verirrte
+Sonnenstrahlen stehlen. Und mit zweien Getreuen der
+unglückliche weichherzige König, dessen Knabenhand wohl
+seine Agnes Sorel zu kosen vermag, nicht aber die Zeit,
+die aus den Fugen gegangen, wieder einzurenken ...
+drei Ratsherren knien vor ihm, seine vielgetreuen Bürger
+von Orleans, und flehen um Hilfe, um Entsatz ihrer hartbedrängten
+Stadt ... Verzweiflungsvoll ringt der König
+die kraftlosen Arme:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Kann ich Armeen aus der Erde stampfen?<br /></span>
+<span class="i0">Wächst mir ein Kornfeld in der flachen Hand?«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Doch sieh: ein Lichtstrahl zittert in das Dunkel der
+Szene: Die Geliebte kommt: Sie bringt opfermutig all
+den blinkenden kostbaren Tand, den ihr König in süßen
+Stunden ihr um den Nacken gewunden ... Ein schwarzlockiges,
+schmiegsames, kätzchenweiches Geschöpfchen ...
+Ihre Augen schimmern in koketten Tränen, ihre Hände,
+weich und rosig wie Frühlingswolken, umschmeicheln den
+Freund, noch in der Angst der Verzweiflung liebeheischend,
+sehnsuchtsweckend ...</p>
+
+<p class="center">
+»Agnes Sorel ... Asta Thöny«<br />
+</p>
+
+<p>sagt der Theaterzettel. Herrgott ... das ist sie ...</p>
+
+<p>Und einen Moment ist Hans Thumser wieder Hans
+Thumser ... Er tastet nach seiner Brusttasche, wo ein
+etwas zu stark parfümiertes rosa Billetchen steckt: Die
+Worte, die es enthält, ach, die kann er auswendig, im
+Träumen, von vorn und von hinten:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Nach zierlichen Schuhchen und dem, was drin steckt,<br /></span>
+<span class="i0">Liegt mancher Fuchs auf der Lauer &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Eintritt verboten! Hier wird nicht geschleckt!<br /></span>
+<span class="i0">Füchschen, die Trauben sind sauer!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Also &mdash; das ist sie ... das ... Füßchen werden nicht
+vorgezeigt, nur zwei zierliche Goldspitzen lugen im Schreiten
+ab und an für einen winzigen Moment unterm schweren
+Brokat des gotisch starren Gewandes vor ... dafür
+aber läßt dies neidische Gewand einen Hals frei ... einen
+Hals ... o Gott, o Gott ...</p>
+
+<p>Einen Augenblick ist Hans Thumser Hans Thumser &mdash;
+der sehnsüchtige Knabe an der Schwelle des Lebens ...
+nur einen Augenblick ... und schon wieder ist er ...
+niemand und alles ... nur Auge, nur weitgeöffnet schauendes
+Gottesauge &mdash; nur Seele, alliebende, alldurchdringende
+Weltseele ...</p>
+
+<p>Höher schwillt die Flut des Entsetzens um den verlorenen
+Königsknaben und sein zitterndes Lieb ... Eine
+Hiobspost jagt die andere, das Maß des Ertragens ist voll,
+sein Land und seine Ehre gibt der Schwache preis, und
+empört fallen die letzten seiner Getreuen von ihm ab ...
+Verlassen steh'n die beiden Kinder ...</p>
+
+<p>Da auf einmal ... kommt einer der Entwichenen
+zurück ... auf seinem zuckenden Gesicht, seinen stammelnden
+Lippen glüht ein Wort ... ein Wort, das längst ins
+Fabelland entschwunden schien ... das Wort: <em class="gesperrt">Sieg</em> ...</p>
+
+<p>Und sieh &mdash; da führen die edlen Herren aus des
+Königs Gefolge einen riesigen Krieger heran: einen
+Ritter im zerhauenen, blutbekrusteten Harnisch: ein blutiger
+Fetzen windet sich um seine kampfglühende Stirn,
+aus seinem blutunterlaufenen Auge lodert das gleiche
+Zauberwort: das unfaßbare: Sieg ... Sieg ...</p>
+
+<p>Und atemlos, stockend oft und nun in wahnwitzigen
+Jubel ausbrechend, kündet er die phantastische Mär:</p>
+
+<p>Das Wunder ist herabgestiegen vom Himmel ... Ein
+weißes Mädchen ist in die Mitte der umzingelten Franzosen
+getreten &mdash; hat dem Fahnenträger das Banner entrissen
+und an der Reisigen Spitze sich in den Feind gestürzt!</p>
+
+<p class="quote">
+»Ein Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen!«
+</p>
+
+<p>Und daß fassungsloser Unglaube kniebeugender Glaube
+werde &mdash; &mdash; wird sie selber kommen! wird kommen &mdash;
+hierher, an diese Stelle, auf der wir stehen, harrend, bis
+ins Mark erschüttert und dennoch zweifelnd ...</p>
+
+<p>Und horch! Schon kündet sich's an: Da draußen, in
+den fernen Gassen der Stadt, hören wir den Lärm eines
+jäh triumphierenden Empfangs ... Näher und näher
+kommt das festliche Getös ...</p>
+
+<p>Und da &mdash; da fangen ja die Glocken von allen Türmen
+plötzlich an zu schwingen ... und heller tönt draußen das
+tolle Jauchzen der Begeisterung ... und nun stürzen sie
+alle, die in der dumpfen, ragenden Kammer weilen, in
+kindischer Hast ans Fenster da hinten und beugen sich
+hinaus, und sieh, sie sehen's schon, das Wunder, das Unmögliche
+&mdash; sie schreien und winken und schreien &mdash;</p>
+
+<p>Und horch, nun stürmt's da draußen die Stufen hinauf,
+nun stürzt, nun strömt es herein. Ratsherren und
+Rittersleute und Bürger und Weiber und Soldknappen
+und Kindervolk und ... eben Menschen, schreiende,
+tobende, vor Erlösungstaumel sinnlose Menschen ... Vor
+dem König, der mit der Geliebten, zitternd, schwindelnd,
+da vorn geblieben, werfen sie sich auf die Knie, in den
+Staub, heulen und jauchzen: Sieg! Sieg! Sieg!</p>
+
+<p>Und nun &mdash; nun öffnet sich auf einmal, wie die Flut
+des Roten Meeres vor dem Durchzug der Kinder Israel,
+so klaffend öffnet sich durch die Menschenflut eine Gasse ...
+und durch die Gasse ... schwebenden Schrittes ...
+kommt ... sie ...</p>
+
+<p>Kommt ein weißes Mädchen, nein, kein Mädchen,
+kein Mensch ... ein Gedanke, ein Gottgedanke, der Gedanke
+der Erlösung, der Gerechtigkeit, der Freiheit, des
+Vaterlandes ...</p>
+
+<p>Und steht so vor dem König ... das Ewige, das Heilige,
+das Unendliche selbst ...</p>
+
+<p>Und doch ... nur ein Mädchen ... ein junges, weißes
+Weib ...</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">In der winzigen Garderobe, rechts vom Schauspieler,
+auf der Frauenseite, wartete Mutter Buchner ihrer berühmten
+Tochter. Sie hatte es sich zwar nicht versagen
+können, sich von einem Eckplatz des Parketts aus an
+Jucundas Spiel, den neidisch-ehrfurchtsvollen Blicken der
+Bekannten, dem Jubelsturm des Publikums zu weiden;
+aber am Anfang des zweiten Aktes, das wußte sie, trat
+Jucunda nicht auf, und da drängte es sie in die Garderobe
+ihres Kindes, um ihr Zofendienste zu leisten. Ach,
+am liebsten wäre sie ja von Ort zu Ort mitgereist ...
+Wenn ein Mädchen so ungeheuer viel Talent hatte ...
+und so gut gewachsen war &mdash; na, man wußte ja, von wem
+sie das hatte! &mdash; und so heißblütig &mdash; ach Himmel, man
+war ja selber auch mal jung gewesen! &mdash; Das war ja ganz
+selbstverständlich, daß die Mannsbilder hinter so einer her
+waren wie verrückt &mdash; da hätte man ja doch als Mutter
+eigentlich auf Schritt und Tritt aufpassen müssen ...
+Aber da war ihr Alter, der Herr Rat ... der konnte ja
+nicht leben ohne seine Doris ... Na, solange das Kind
+in Leipzig war, sollte es wenigstens fühlen, was man an
+einer Mutter hat ... Und kaum war der Vorhang nach
+dem ersten Akt gefallen, da flog &mdash; während das Publikum
+noch immer tobte, die Gardine auf und nieder tanzte,
+die Darsteller sich immer und immer wieder süß lächelnd
+verneigten &mdash; flog Mutter Doris aus dem Zuschauerraum
+zu dem bekannten Pförtchen, das nur denen vom Bau sich
+öffnet, hastete die steinerne Treppe hinauf in das winzige,
+von Schminke, Puder und Menschendunst geschwängerte
+Kämmerchen und wendete das gewärmte Hemd, das auf
+der Heizung bereit hing ... Denn wie ihre Jucunda
+schwitzte bei so'ner großen Szene, das war schon nicht
+mehr schön ... Von Kopf bis zu Füßen mußte sie die
+Unterwäsche wechseln jedesmal, wenn irgend Zeit blieb ...
+Freilich, wie das Mädchen sich auch ins Zeug legte ...</p>
+
+<p>Und nun kam sie &mdash; kochend, dampfend, wie aus dem
+Backofen ... fiel in den Frisierstuhl und streckte alle Viere
+von sich ... Frau Doris umarmte sie zärtlich und drückte
+ihr einen begeisterten Mutterkuß auf die triefende Stirn ...</p>
+
+<p>»Schinderei, verfluchte!« pustete Jucunda. »Wie aus
+dem Wasser gezogen ist man &mdash; und das schon nach dem
+ersten Akt! Schnell, Muttel, die Lappen runter und
+frische Wäsche! Ich komm' ja um!«</p>
+
+<p>In der Tür der Garderobe drängten ein paar Kollegen
+nach, der Heldin des Abends die Hand zu drücken.
+Alle mochten sie das stramme junge Ding leiden, das mit
+seinen achtzehn Jahren so resolut durch diese schminkestarrende
+Welt stapfte, als sei sie darinnen geboren und
+nicht in einem engbrüstigen Leipziger Spießermilieu ...</p>
+
+<p>»'raus!« befahl Mutter Doris. »Alles 'raus! Meine
+Tochter wünscht alleene zu sein!«</p>
+
+<p>Und rasch vollzog sich die Verwandlung. In kräftiger
+Frische, schweißgebadet, stieg der derbe Mädchenleib aus
+den klatschnaß zusammensinkenden Hüllen, wurde von sorglicher
+Mutterhand mit lauen Güssen überspült und in die
+frischen gewärmten Unterkleider gesteckt. Die Garderobiere,
+ein verknittertes, verhutzeltes Weiblein, stand
+müßig daneben und träumte von der goldenen Zeit, als
+auch sie einmal am Stadttheater zu Stallupönen erste
+Naive gewesen und von den Leutnants der Garnison mit
+billigen Buketts und falschen Schmucksachen überschüttet
+worden war ... Dann aber mußte sie eingreifen, denn
+über das weiße Gewand des Bauernmädchens wurde nun
+die wuchtige Rüstung geschnallt und mit einem Dutzend
+Riemen und Oesen befestigt &mdash; darauf verstand Mutter
+Doris sich denn doch nicht. Inzwischen aber schwatzten die
+Frauen ohn' Unterlaß:</p>
+
+<p>»Gott, war das ein Spektakel zum Aktschluß! Namentlich
+da hinten im Parterre!« sagte Jucunda und warf das
+langflutende braune Gelock über die Rüstung zurück.</p>
+
+<p>»Natierlich &mdash; das gloob' ich ooch!« erwiderte die
+Mutter und strich mit glättendem Kamme bedächtig durch
+die krause Mähne der Tochter. »Da sitzen doch die Herren
+Studenten! Was die trampeln kenn'! Gott soll mich bewahren!
+'s ganze Parkett war Dir doch eene Staubwolke!
+Und <em class="gesperrt">unserer</em> is ooch dabei &mdash; wirscht mer's
+glauben?«</p>
+
+<p>»Wer? Der unverschämte Mensch aus dem Eckzimmer?«</p>
+
+<p>»Freilich, der! Un gezogen is er noch lange nich!«</p>
+
+<p>»I nee so was!« lachte Jucunda.</p>
+
+<p>»Eegentlich is mer'sch ganz lieb, daß er noch nich weg
+is,« sagte Mutter Doris. »Immerhin er is der Erste
+Scharschierte vons älteste und angesehenste Korps in
+Leipz'g ... Un so lang als ich denken kann, hab' ich
+immer Korpsstudenten bei mir wohnen gehabt &mdash; 's wär
+doch sehr unangenehm für mich gewäsen, wenn er wär'
+mit'n großen Krach von mir fortgegangen &mdash; leicht hätt's
+kenn' passieren, daß die ganzen Korps mich hätt'n in'n Verruf
+getan &mdash; damit sin se immer sehr fix bei der Hand,
+wenn ma een' von ihn' mal schief angekuckt hat ... Unser
+Nachbar Wunderlich, der Mützenmacher, der kann e
+Wertchen davon erzählen ... Der hat mal een' von die
+Korpsstudenten, der absolut nich wollt' zahl'n, nu, dem
+hat er en groben Brief geschrieben &mdash; und iebermorgen war
+er schon im S.&#x202f;C. Verruf &mdash; das kost'n an sechshundert
+Mark jährlich!«</p>
+
+<p>»I herrjemerschnee!« lachte Jucunda, »das hätt' ich
+wissen sollen, daß unser Student so ein großes Tier ist!
+Da hätt' ich durch meine Grobheit ja beinahe Deinen Geschäftsbetrieb
+ganz bösartig geschädigt! Na, hoffentlich
+kommst Du noch mal mit 'nem blauen Auge davon!
+Uebrigens, Muttel, wenn ich mich recht erinnere, so hast
+Du den einflußreichen Jüngling auch nicht gerade mit
+Glacéhandschuhen angefaßt ...«</p>
+
+<p>»Nu, ich hab' mich eben lassen hinreißen,« sagte Frau
+Doris. »Weeßte, wenn eener mir mit mein' Goldkinde
+tut anbinden &mdash; hernach weeß'ch mich nich zu beherrschen
+&mdash; reinweg wie ene Furie werd' ich Dir dann!«</p>
+
+<p>»Muttel!« sagte Jucunda zärtlich und legte einen
+Augenblick lang das lockenumflutete Haupt an den mächtig
+wallenden Mutterbusen.</p>
+
+<p>In diesem Augenblick trat Franz Burg herein, der
+Oberregisseur, in der klirrenden Rüstung des englischen
+Oberfeldherrn, in einer Maske so voll schrecklichen Ingrimms,
+daß Jucunda hell auflachte:</p>
+
+<p>»Donnerwetter, lieber Freund &mdash; mit Ihrem Konterfei
+kann man ja die Pferde scheu machen!«</p>
+
+<p>»Himmel &mdash; für die guten Leipziger muß man eben
+ein bißchen dick auftragen ...«</p>
+
+<p>»Schön,« sagte Jucunda, »werd' ich mir merken.
+Passen Sie mal auf, Meister, wie ich jetzt loslegen werde!«</p>
+
+<p>»Aber gefälligst mit einem vernünftigen Stimmansatz,
+und nicht wieder so aufs Organ loswüsten wie im ersten
+Akt! Ihnen geht's zu gut, Kindchen, Sie werden mir zu
+üppig ... In einem Alter, wo andre Kolleginnen froh
+sind, wenn sie einmal ein Servierbrett mit Kaffeegeschirr
+hereinbringen dürfen, toben Sie schon abendfüllend durch
+ganz Deutschland &mdash; da muß ja so ein achtzehnjähriger
+Verstand aus dem Leim gehen ...«</p>
+
+<p>»Ach, lassen Sie mich doch ...« Jucunda reckte den
+herrlichen Körper, daß alle Niete und Scharniere der
+Rüstung knackten ... »Lassen Sie mich doch, lieber
+Freund ... Es ist ja so schön ...«</p>
+
+<p>Franz Burgs Augen schimmerten hinter den grimmigen,
+rotgrauen Brauen in einem ganz seltsam weichen
+Licht ... Sie glitten über die schlanke, waffenblanke Gestalt,
+wie ein Streicheln.</p>
+
+<p>»Schön ist's, das glaube ich &mdash; Sie sind eben ein
+Sonnenkind, Langbeinchen!« So nannte er sie noch
+immer, aus jener Zeit, wo sie als blutige Novize wegen
+ihres knabenhaften Wuchses immer die Pagen hatte spielen
+müssen ... Jetzt freilich wäre das nicht mehr zu machen
+gewesen &mdash; sie war ein Weib geworden ...</p>
+
+<p>»Na also &mdash; Sie sind fertig ... Nun halten Sie aber
+Ruhe, bis Sie geholt werden ... Und nicht zu toll mit
+dem Organ aasen, verstanden? Adieu, Langbeinchen!«</p>
+
+<p>»Adieu, Sie Bester!«</p>
+
+<p>Ein Blick so voll dankbarer Zärtlichkeit, daß der grimme
+Talbot rasch das Visier herunterklappte ... Und durch
+die Augenlöcher klang sein Knurren:</p>
+
+<p>»Also fang'n mer an!«</p>
+
+<p>Er rasselte von dannen. Jucunda warf ihm ein halbes
+Dutzend Kußhände nach.</p>
+
+<p>»Aber Jucunda!« rief die Mutter ganz entsetzt.</p>
+
+<p>»Ach laß doch, Muttel! Einmal ein Mensch beim
+Theater, ein einziger, der selbstlos gütig ist &mdash; einen lehrt,
+einem vorwärts hilft, ohne gleich &mdash; &mdash;«</p>
+
+<p class="start-chapD space-above">Der zweite, der dritte Akt waren vorübergebraust, mit
+Schlachtgetöse und Siegesjubel und Sterbegrauen ...
+und hatten geendet mit der naiv-gewaltigen Szene, in der
+Johannas tragisches Geschick sich wendet: der Fluch ihrer
+übernatürlichen Sendung sich wider sie kehrt. Das Herz
+der Jungfrau hat mit Entsetzen sein Mädchentum empfunden
+...</p>
+
+<p>Große Pause nun &mdash; alles strömte hinaus in die
+schmalen, schlechtbeleuchteten Gänge, das dürftige Foyer
+des dumpfen winkligen Hauses ...</p>
+
+<p>Und da oben fanden sich die beiden Franken, ihr fürstlicher
+Konkneipant und sein Erzieher. Die Herren begrüßten
+einander mit dem gewohnten starr offiziellen Gesicht,
+dem korrekten Händeschütteln der hoch gewinkelten
+Arme ... Keiner mochte verraten, wie sehr er gepackt
+war.</p>
+
+<p>»Ganz nett &mdash; wie?« näselte der Erbprinz.</p>
+
+<p>»Na ja ... Aber immer dies ewige eintönige Pathos,
+das hält kein Pferd auf die Dauer aus!« schnarrte Pilgram.</p>
+
+<p>»Wie fanden Sie die Buchner?« fragte nachlässigen
+Tones der Prinz.</p>
+
+<p>»Na &mdash; mein Himmel &mdash; spielt eben Schiller!« erwiderte
+der Rechtskandidat.</p>
+
+<p>Hans Thumser blieb stumm. Ihm standen Erregung
+und Entzücken bis an den Hals &mdash; die Tränen, die er
+mühsam hatte unterdrücken müssen, preßten ihm die
+glühenden Augen. O Gott &mdash; so Erhabenes, so Ungeheures
+erlebt zu haben ... Und dann den gelassenen Weltmann
+mimen zu müssen mit zwanzig Jahren ... Was war das
+für eine Jugend? Sie schämte sich aller jugendlichen
+Empfindungen ... der Begeisterung, des Glaubens an
+das Große, das Weltbezwingende ...</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Und schnell vollendete sich's nun. Wie ward es Valentin
+Pilgram zumut, als er nun im festlich geputzten
+Saale zu Reims die Verse erklingen hörte, die er neulich
+so schmählich unterbrochen?</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Sollt' ich ihn töten? Konnt' ich's, da ich ihm<br /></span>
+<span class="i0">Ins Auge sah? Ist Mitleid Sünde?!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Was war denn das, was so heiß und fremd unter der
+linken Westentasche zuckte und hüpfte? Was war dieser
+geheimnisvolle Schmerz, dieser brennende, der durch Hirn
+und Glieder rumorte, wenn dieses Mädchen seine stählernen
+blauen Augen verloren in den dunklen Raum hinausschweifen
+ließ, in dem er saß, inmitten der proletigen
+Finken ringsum, die er verachtete, wie er alles verachtete,
+was nicht zu den Angehörigen eines hohen Kösener S.&#x202f;C.
+Verbandes zählte?! War es die Scham, daß er dies
+Mädchen, diese weiße, stolze Weibesgestalt da hinten, gekränkt,
+gestört in ihrem Studium &mdash; sich benommen gegen
+sie wie ein Rauhbein, ein Knote ohne Kinderstube und
+Direktion!</p>
+
+<p>Ja, das mußte es sein, das und nichts andres ... Er
+wird morgen früh seinen Bratenrock anziehen und seine
+beste Mütze aufsetzen &mdash; wird sich feierlich durch die Frau
+Kanzleirätin anmelden lassen und förmlich und devotest
+um Verzeihung bitten ... Es ist männlich, begangenes
+Unrecht einzusehen und zu sühnen, und durch Revokation
+und Deprekation einer Dame gegenüber vergibt auch
+Franconiae gewesener Erster, Erster, Erster <i lang="la">ad interim</i>
+sich nichts &mdash; nein, ganz gewiß nicht!</p>
+
+<p>Also das mach' ich! Gesegnet meine wüste Laune, gesegnet
+meine Examensnervosität ... So hab' ich doch
+wenigstens einen anständigen Grund, mich ihr vorzustellen,
+sie zu sehen, mit ihr zu sprechen ... Und ich werde mich
+dermaßen kavaliermäßig benehmen ... Ich werde ...
+Ueberhaupt ... Ich werde &mdash; hol' mich der Teufel &mdash; Eindruck
+werd' ich machen, so wahr ich Valentin Pilgram bin,
+Franconiae gewesener Erster, Erster, Erster <i lang="la">ad interim</i>!</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Hans Thumsers Seele war aber zwiegeteilt, wie fast
+immer &mdash; fast immer ... Noch einmal, in der zweiten
+Szene des vierten Aktes, kam die andere &mdash; nach der er
+ein geheimes, lästerliches und süßes Schmachten verspürt
+hatte, nun sie so lange verschwunden war ... kam Agnes
+Sorel, stand neben der herrischen Gestalt Jucundas in
+ihrer kätzchenhaften Holdseligkeit ... schmiegte an Jucundas
+gepanzerten Busen die unverhüllte, die rosige lockende
+Brust ... O Hans Thumser, und denken zu müssen, daß
+diese Himmelswonne Nacht für Nacht neben deinem
+Knabenstübchen schläft, nur durch eine dünne Ziegelmauer
+von dir getrennt, in der es gar noch eine Tür gibt, die
+freilich verschlossen ist und mit einem Kleiderschrank verstellt
+... O Hans Thumser, wie wirst du dies Bewußtsein
+ertragen, nun du sie kennst, sie gesehen hast mit
+deinen scheuen, brennenden Augen, ihr Bild hineingesogen
+in deine lechzende, lebenshungrige Seele ...
+Wie wirst du's ertragen?</p>
+
+<p>Füchschen, die Trauben sind sauer ... So hat sie geschrieben.
+Ach, du Schelm, du böser, neckender Traumspuk
+du &mdash; du warmes, weiches, nahes, fernes, weltenfernes
+Menschenkind &mdash; &mdash;!</p>
+
+<p>Still &mdash; es erfüllt sich Johannas Geschick ... Vor dem
+Bannspruch des Vaters, der sie höllischer Blendekünste
+zeiht, verstummt sie ... verstummt vor dem Donner des
+Himmels ... flieht in Einsamkeit und Verzweiflung &mdash;
+fällt stumm und wehrlos in die Hand der Feinde ...</p>
+
+<p>Doch dann, in letzter, höchster Not, kommt noch einmal
+über sie die alte, magische Kraft: Sie zerreißt ihre Ketten,
+entrafft sich den entsetzten Feinden, trägt noch einmal das
+Banner der Jungfrau zum Kampf ... und dann, die
+Todeswunde in der Brust, von Siegesbannern überbauscht,
+läßt sie ihre reine Seele ins All hinüberströmen ...</p>
+
+<p>O Dichter! Dichter! betet Hans Thumser &mdash; großer,
+herrlicher mit Deiner wunderbaren Cherubseele &mdash; einen
+Tropfen von Deinem Geist in mein junges Herz &mdash; einen
+Flammenfunken von Deinem Himmelsfeuer!</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Wie wird mir? &mdash; leichte Wolken heben mich &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Hinauf &mdash; hinauf &mdash; die Erde flieht zurück &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Kurz ist der Schmerz, und ewig ist die Freude!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p class="start-chapI space-above">Ein heftig gestammelter Dank an den Prinzen, ein feierliches
+Schütteln der korrekt eingewinkelten Hände mit
+ihm und dem Major, und dann hinaus &mdash; hinaus in die
+herbstliche Abendluft ... O glühende Stirn, o glühendes
+Herz ...</p>
+
+<p>Und nun &mdash; warten &mdash; sie noch einmal sehen, sie, »die
+alles Herrliche vollendet« ... nicht jene andre, das
+Kätzchen, den Spukgeist ... Nein, die eine, die weiße,
+die königliche ...</p>
+
+<p>Warten auf sie &mdash; sie warten ja alle ... Eine
+dichtgedrängte Schar, lauter blutjunges Volk. Konservatoristinnen
+und Ladenmamsellchen untermischt mit Primanern
+und Studenten ... Sie warten vor dem Portal,
+vor dem ein einziger Wagen noch hält, ein einziger,
+während all die andern mit ihrer Fracht schleierumhangener,
+kapuzenverhüllter Weiblichkeit von dannen donnern
+&mdash; ein einziger Wagen, in dem, hüstelnd und frierend, ein
+bebrilltes Männlein hockt mit grauem Kragenbart: der
+Kanzleirat Buchner ...</p>
+
+<p>Es dauert lange, dies Warten ... Aber Hans Thumser
+wartet nicht allein: An seiner Seite, geduldig fröstelnd,
+harrt der gestrenge Senior, ganz gegen jede Wahrscheinlichkeit
+und Psychologie ...</p>
+
+<p>»Ne, Pilgram, wie <em class="gesperrt">Du</em> mir heute vorkommst!«</p>
+
+<p>»Na, was denn? Wieso denn?« knurrt der Erste.
+»Denkste vielleicht, Du hast die Kunstbegeisterung alleene
+gepachtet?!«</p>
+
+<p>Und endlich &mdash; endlich &mdash; &mdash; am Bühneneingang
+fliegen die Hüte, die Mützen von den Köpfen &mdash;</p>
+
+<p>»Jucunda Buchner &mdash; hoch! hoch!«</p>
+
+<p>Voran schiebt sich eine derbe Matrone in uraltmodischer
+schleifenbesetzter Kapuze &mdash; und dann kommt &mdash; sie &mdash; so
+mädchenhaft auf einmal, so spießbürgerlich schlicht ...
+Wie ein Backfisch schaut sie aus, so menschlich, so nahe ...</p>
+
+<p>»Hoch! hoch!« brüllen die Studenten, juchzen die
+Mädels &mdash; sie huscht vorüber, kopfnickend, so lieb, so einfach,
+so &mdash; so fabelhaft nett &mdash; sie schlüpft in die Wagentür,
+nickt noch einmal vom Fensterrand &mdash; neuer Jubel &mdash;</p>
+
+<p>Ach was &mdash; längst nicht genug!</p>
+
+<p>Eine neue, eine würdige Huldigung dem wundervollen
+Menschenkind!</p>
+
+<p>»Kommilitonen!« ruft Hans Thumser und schwenkt die
+grüne Mütze, »Kommilitonen! Wir spannen ihr die
+Pferde aus, wir fahren sie im Triumph nach Hause!«</p>
+
+<p>Ein Beifallsgeheul ist die Antwort. Und auf die
+Gäule stürzt sich der Schwall &mdash; im Nu sind die Scheuenden,
+Schäumenden abgesträngt, der fluchende, peitschenschwingende
+Kutscher entwaffnet und vom Bock gezerrt ...</p>
+
+<p>»Verrickt seid 'r! Alle mitenander seid 'r übergeschnappt!
+Der Deifel soll Euch hol'n!«</p>
+
+<p>Und hundert Hände packen zu, langen nach der Deichsel,
+den Zugscheiten, den Strängen &mdash; hundert Hände greifen
+in die Speichen &mdash; hurra! Der Wagen rollt, rollt mit
+seiner vielgeliebten Fracht ... Und allen voran als
+Führer, den Hut auf dem Stock balancierend, den Stock
+im Takt schwingend wie ein Tambourmajor schreitet einer,
+der den Weg kennen muß: Franconiae gewesener Erster,
+Erster, Erster <i lang="la">ad interim</i>!</p>
+
+<p>Und der Wagen rollt die Sophienstraße entlang, umdröhnt
+vom Jauchzen schönheitstrunkener, größeberauschter
+Jugend ... Rollt die Zeitzer Straße, den Peterssteinweg
+hinab, der Altstadt zu ... Und immer zahlreicher wird
+das Huldigungsgefolge hinter dem Triumphzug, den
+Jugend der Jugend, der Schönheit, der Kunst bereitet,
+immer betäubender schwillt der allgemeine Jubel:</p>
+
+<p>»Jucunda Buchner &mdash; hoch &mdash; hoch Jucunda &mdash; unsre
+Jucunda!«</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>4.</h2>
+
+<p class="start-chapA">Als der Triumphwagen endlich in der Katharinenstraße
+hielt, zog der alte Buchner den riesigen Hausschlüssel
+aus der Tasche und stieg als erster aus. Ein hundertstimmiger
+Jubel empfing ihn ...</p>
+
+<p>»Das ist der Vater &mdash; Jucundas Alter ist das &mdash; Papa
+Buchner hoch! hoch!«</p>
+
+<p>Ein Dutzend Hände waren ihm behilflich, hoben ihn
+über die Bordschwelle, ganz betäubt humpelte er durch die
+Gasse, die sich vor seinen Schritten öffnete, fand die Tür
+seines Hauses zu seiner Verwunderung bereits geöffnet
+und schlüpfte hinein, wie erlöst, daß er dem Getös entronnen
+...</p>
+
+<p>Und nun schob sich Mama Buchners massives Gestell
+aus der Droschke.</p>
+
+<p>»Achtung, jetzt kommt Mamachen!« schrien kecke
+Stimmen. »Platz für Mamachen!« Geblendet vom
+grellen Licht der Gaslaterne, dicht neben dem finstern
+Hauseingang, verwirrt vom Stimmengewirr, dem Glanz
+blitzender Augen, dem Durcheinander winkender Hände,
+flatternder Tücher verfehlte Mutter Doris mit unbehilflich
+suchendem Fuß den Wagentritt und wäre gestürzt, hätte
+nicht ein sehniger Arm sie gefaßt und ihre schwerfällige
+Gestalt mit sicherem Griff aufs Trottoir, auf die Beine
+gestellt. Und gleich darauf fühlte sie ihre Hand in diesen
+sehnigen Arm hineingezogen, fühlte sich sicher und ritterlich
+der Haustür zugeführt &mdash; sah dankbar zu ihrem Beschützer
+empor und &mdash; sah in das verlegenheitglühende
+Gesicht ihres Mieters ...</p>
+
+<p>»Gnädige Frau &mdash;« stammelte Pilgram.</p>
+
+<p>Gnädige Frau &mdash;?! Es war das erstemal, daß ihr
+Student diese Anrede für die Frau Kanzleirätin fand ...
+sie war direkt erschüttert ...</p>
+
+<p>»Herr Pilgram &mdash; nee heer'n Se, das is aber hibsch
+von Ihn' ...«</p>
+
+<p>»Darf ich Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch zu
+dem Riesenerfolge Ihres Fräulein Tochter &mdash; gnädige
+Frau? und zugleich auch meine Bitte um Entschuldigung
+wegen meines unqualifizierbaren Benehmens von vorgestern
+morgen &mdash;«</p>
+
+<p>»Ach sei'n Se still, Herr Pilgram &mdash; scheen war's ja
+grade nich ... Aber Sie haben's ja gut gemacht ...
+Also woll'n mer uns wieder vertragen! Aber wo bleibt
+denn 's Kind?«</p>
+
+<p>'s Kind war noch nicht abkömmlich. Sie mußte draußen
+die Dutzende von Händen schütteln, die sich ihr entgegenstreckten
+... Und dabei liefen ihr die hellen Tränen nervöser
+Seligkeit über die Backen ...</p>
+
+<p>»Dank ... tausend, tausend Dank!« Das war das
+einzige, was sie nur immer wieder stammeln konnte ...</p>
+
+<p>Und endlich fiel die Pforte denn doch ins Schloß,
+während die begeisterte Jugend draußen weiter jubelte
+und tobte. Kanzleirat Buchner wollte abschließen, aber
+Valentin Pilgram kam ihm zuvor. Und dann entzündete
+er ein Wachsstreichholz und geleitete Mama Doris mit der
+Galanterie eines Oberhofmarschalls die knackenden
+Treppen des altehrwürdigen Baues hinan, der einstmals
+ein feierlich elegantes Patrizierhaus gewesen war ...
+Der Kanzleirat und die Heldin des Abends folgten.</p>
+
+<p>Oben wollte sich Valentin verabschieden, um in seinem
+Zimmer zu verschwinden, aber Jucunda rief:</p>
+
+<p>»Was? Sie wollen schon schlafen? Nee, gibt's nich!
+Muttel, mach' Licht in der guten Stube! Wir schwatzen
+noch eins! Und Du, Alter, rück' mal ein paar Pullen Gose
+heraus! Ich hab' einen Pferd'sdurst!«</p>
+
+<p>Und sieh &mdash; nach wenigen Minuten war's hell und
+mollig in der behaglichen Wohnstube, und während Mutter
+Buchner drinnen Bemmchen schmierte und Papa Kanzleirat
+Zigarren und Aschenbecher bereit stellte, sorglich aus
+den dickbauchigen Goseflaschen das bernsteingelbe bitterliche
+Naß in die hohen Stangengläser plätschern ließ, stand
+Valentin Pilgram voll nie gefühlter Empfindungen am
+Fenster, hinter Jucundas hoher Gestalt, die noch immer
+hinaus auf die Straße winkte und Kußhände warf,
+während von drunten, vom Straßendamm empor ohn'
+Ermatten das Begeisterungsgebrüll der Burschen tönte,
+die Taschentücher der Mädels flatterten ...</p>
+
+<p>»So, Kind,« sagte Mutter Doris endlich, »nu mache
+schon Schluß, daß Du was zu essen und zu trinken kriegst ...
+Bitte, Herr Pilgram, nehmen Sie Platz!«</p>
+
+<p>Valentin und Jucunda traten vom Fenster zurück. Jetzt
+erst fand das Mädchen Zeit, den jungen Gesellen zu mustern.</p>
+
+<p>»Sie sind wohl einen halben Kopf größer als ich,«
+sagte sie anerkennend.</p>
+
+<p>»Aber Sie &mdash; Sie sind ... etwas ganz Besonderes ...
+eine ganz andre Sorte von Mensch als ... nu als wir gewöhnlichen
+Leute, wir simplen Rechtskandidaten ... und
+so was.«</p>
+
+<p>»Erlauben Sie mal &mdash; Sie sind doch auch was Besonderes
+... Erster Chargierter des ältesten und angesehensten
+Korps in Leipzig ...« Sie wies auf einen
+Stuhl.</p>
+
+<p>»Gott &mdash; gnädiges Fräulein ... Wie können Sie so
+was überhaupt ... das sind doch Kindereien, wenn man's
+mit ... mit Ihrer Kunst vergleicht ...«</p>
+
+<p>O Valentin Pilgram &mdash; wer dir das gestern prophezeit
+hätte ... daß du so zu einer Komödiantin sprechen
+würdest ... daß die Heiligtümer deiner Seele so schnell
+verbleichen würden ...</p>
+
+<p>»Na, nu nähmt mal gefälligst ä bißchen Platz, Kinder!«
+rief der Kanzleirat ...</p>
+
+<p>Kinder &mdash;?! Es durchfuhr die beiden jungen Menschen
+... ein seltsames, ahnungsvolles Gefühl ... Mit
+einem Male war Jucunda Buchner nicht die glückverwöhnte,
+reichbegnadete Künstlerin, sondern ein Backfisch
+von achtzehn Jahren ... und Valentin Pilgram nicht der
+Sohn des Senatspräsidenten am Dresdener Oberlandesgericht,
+nicht der Erste Chargierte eines wohllöblichen
+C.&#x202f;C. der Franconia, sondern ein Knabe von vierundzwanzig,
+in all seiner senioralen Würde doch noch immer
+ein junger, lebensunkundiger Novize des Daseins ...</p>
+
+<p>Zwei blutjunge Menschen ... zwei Kinder ... beide
+gewachsen wie ein paar Tannen, beide jung, stark und
+heiß ...</p>
+
+<p>»Kinder!« hatte der alte Mann gesagt ... Wie seltsam
+das die Seele traf ...</p>
+
+<p>Beider Augen waren gesenkt, beider Stirnen glühten,
+als sie sich setzten ...</p>
+
+<p>Man stieß mit den langschäftigen Gosengläsern an,
+Jucunda tat einen tiefen, herzhaften Schluck und biß dann
+nicht minder herzhaft in ihre Butterbemme.</p>
+
+<p>»Donnerkiel!« sagte sie, »das tut aasig gut ...«</p>
+
+<p>»Nu sagen Se, Herr Pilgram, wie sind Sie denn bloß
+in's Theater gekommen? Ich hab' gedacht, Sie haben gar
+nischt iebrig für die Kunst?« erkundigte sich Mama
+Buchner.</p>
+
+<p>»Ja ... Frau Rätin,« sagte Valentin, »wie soll ich
+Ihnen das erklären? Sie haben nämlich recht ... Ich
+hab' wirklich nicht viel Sinn für die Kunst ... Ich &mdash; nu
+ich war eben ... neugierig war ich &mdash; auf meine Budennachbarin
+...«</p>
+
+<p>»Sehr schmeichelhaft!« lachte Jucunda und zündete sich
+eine Zigarette an. »Na und &mdash; und was sagen Sie nu?«</p>
+
+<p>»Gar nischt sag' ich &mdash;« bekannte der Student. »Wissen
+Sie ... zum Komplimente machen ... bin ich nicht maulgewandt
+genug ... ich kann nur sagen: dies war der
+schönste Tag meines Lebens.«</p>
+
+<p>»Hehe &mdash; da siehst es, Jucunda, was fier ä Kerle Du
+bist!« schmunzelte der Kanzleirat.</p>
+
+<p>»Ach &mdash; das geht doch nicht auf mich!« wehrte Jucunda
+ab. »Herr Pilgram ist eben von Schillers großer Dichtung
+so ergriffen gewesen ...«</p>
+
+<p>»Ne, gnädiges Fräulein, das könnt' ich nu gerade nich
+sagen,« erklärte Valentin. »Ich bin eben doch, wie mein
+Korpsbruder Thumser sagt, ich bin doch ein Banause.
+Schiller? Ich weeß nich ... es ist mir doch zu viel
+Schmalz an der Brühe ... Wenn Sie nicht gewesen
+wären, gnädiges Fräulein, ich glaube nicht, daß ich wäre
+bis zum Ende dageblieben ...«</p>
+
+<p>»Schämen Sie sich!« zürnte das Mädchen.</p>
+
+<p>»Ja &mdash; 's tut mir selber leid, daß ich so wenig Verständnis
+habe für die sogenannte Kunst ... Sehen Sie ...
+ich stamme aus einer alten Juristen- und Beamtenfamilie
+... bei uns zu Hause ist nie von was anderm
+die Rede gewesen wie von Dienst und Vorgesetzten
+und Karriere machen und Orden kriegen und Gesetzesnovellen
+... und das Theaterspielen und Musikemachen
+und Bilderklexen und Verseschmieren &mdash; nee, davon hat man
+bei uns nie was wissen wollen. Aber was Arbeit und
+Pflicht und Gehorsam ist und Gewissenhaftigkeit und Treue
+... das ist mir eingepaukt worden von Kindesbeinen an
+... und nicht nur mit der Moralpredigt, sondern mit dem
+guten Beispiel, dem nachahmungswürdigen Vorbild ...«</p>
+
+<p>»Das is sähr scheen, wenn man das von sein' Elternhause
+kann sagen &mdash;« meinte der Kanzleirat. »Prost,
+Herr Pilgram &mdash; Ihre Herren Eltern sollen leben.«</p>
+
+<p>Andächtig tat Pilgram Bescheid. Aber Jucunda war
+des trockenen Tones satt:</p>
+
+<p>»Erzählen Sie mir lieber von heut abend &mdash; erzählen
+Sie mir, wie ich Ihnen gefallen habe! Sie können's ruhig
+ein bißchen dicke machen ... Sie haben ja gar keine
+Ahnung, wieviel Honig und Weihrauch unsereins vertragen
+kann nach so einer gewonnenen Schlacht ...«</p>
+
+<p>»Aber Jucunda &mdash; so schäme Dich doch! Was soll
+denn Herr Pilgram von Dir denken?«</p>
+
+<p>»Na &mdash; nichts als was wahr ist! Daß ich eine ganz
+eitle, verwöhnte Komödiantin bin! Nicht wahr, Herr
+Pilgram, so denken Sie doch! Nur heraus damit ...«</p>
+
+<p>»Gnädiges Fräulein, ich denke an nichts andres als an
+den Augenblick, wo Sie zuerst herauskamen ... Wir
+waren zu spät gekommen, aus dem S.&#x202f;C., wissen Sie?
+da muß man aushalten &mdash; und als wir kamen, hatte
+der erste Akt schon angefangen ... und ich langweilte mich
+und dachte: na ja, Schiller ... und überlegte, was für
+ein Aufsatzthema mein alter vermickerter Professor auf
+Prima in Dresden wohl aus diesem ersten Akt herausgeschlagen
+hätte: Würde Johanna d'Arc ihr Vaterland
+auch errettet haben, wenn Karl der Siebente anstatt mit
+den Engländern mit den Deutschen Krieg geführt hätte?
+oder so ähnlich ... Und da &mdash; da kamen Sie &mdash; und
+auf einmal wurde alles wahr und richtig und interessant
+und ... na ja eben schön ... mit einem Wort ...«</p>
+
+<p>»Ich seh's kommen, daß se Dich noch ganz närr'sch
+werden machen, Jucunda &mdash;« kicherte der Kanzleirat.</p>
+
+<p>»Ach ja ... macht mich nur ruhig närrisch, Kinder &mdash;
+es ist ja so schön, gefeiert zu werden ... und begraben
+zu werden unter Lorbeer und Rosen &mdash; und die Pferde
+ausgespannt zu kriegen ... hören Sie, Herr Pilgram &mdash;
+die Idee, die war wohl von Ihnen?«</p>
+
+<p>»Ehrlich gestanden, nein &mdash; so leid mir's tut &mdash; aber
+den glorreichen Einfall, den hat mein Korpsbruder
+Thumser gehabt ...«</p>
+
+<p>»Schade &mdash; sonst hätten Sie wahrhaft'gen Gott 'nen
+Kuß gekriegt dafür &mdash;«</p>
+
+<p>Der Kanzleirat drohte der Tochter lächelnd mit dem
+Finger.</p>
+
+<p>»Säh'n Se, Herr Pilgram, wie se Ihn' schon überschnappt?«</p>
+
+<p>Und er ließ frische Gosefluten in die Gläser <a id="InCorr3">kluckern</a>.</p>
+
+<p>Aber allmählich fielen dem alten, hageren Männchen,
+das sein ganzes Leben in der muffigen, überhitzten Luft
+der Königlichen Justizbureaus zugebracht hatte, die geröteten
+Aeugelchen zu. Er verabschiedete sich und humpelte
+ins Schlafzimmer.</p>
+
+<p>Auch Mutter Doris fiel allmählich ab.</p>
+
+<p>»Nu, Herr Pilgram, wie denken Sie über's Schlafengehen?«</p>
+
+<p>»Gibt's nich!« erklärte Jucunda. »Wenn Du müde
+bist, Mamachen, kriech in Gottes Namen in die Posen ...
+Ich bin noch nicht fällig, und Herr Pilgram wird mir Gesellschaft
+leisten, bis meine Nerven ausgezappelt haben ...«</p>
+
+<p>Und die jungen Menschen waren allein. Es wurde
+still, ganz still ringsum. Von der Katharinenstraße klang
+ab und an noch das schläfrige Geklapper eines heimwärts
+trottenden Droschkengauls ... Vom nahen Rathausturme
+meldeten die Glocken mit hallenden Schlägen Viertelstunde
+um Viertelstunde ... sonst nichts mehr. Leipzig schlief.</p>
+
+<p>»Erzählen Sie mir mehr von sich!« sagte Jucunda und
+legte sich mit behaglichem Gähnen in die gestickten Schoner
+des grünen Plüschsofas zurück. »Aber nicht so was Langweiliges
+vom Korps und von Ihren Fechtereien und vom
+Examen und so! Was Schönes ... was Interessantes!«</p>
+
+<p>»Ach, gnädiges Fräulein &mdash; ich bin ein schrecklich uninteressanter
+Mensch ... ich schäme mich ordentlich, ich werde
+ganz klein, wenn ich mein Leben mit Ihrem vergleiche.«</p>
+
+<p>»Na, aber Sie müssen doch irgend was Besonderes
+erlebt haben ... Waren Sie denn nie verliebt? Haben
+Sie nie ein Mädchen geküßt?« Sie zündete an dem Rest
+ihrer Zigarette eine frische an, pustete eine dicke Rauchwolke
+zu Valentin hinüber und schielte durch den Qualm
+hindurch neckisch blinzelnd zu ihm hin.</p>
+
+<p>Valentin Pilgram wurde verlegen. »Hm ... ich weiß
+nicht recht, was ich da antworten soll ... als Künstlerin
+wissen Sie doch jedenfalls schon manches vom Leben ...
+und wissen, was wir jungen Männer, Studenten und
+so &mdash; wie soll ich mich nur ausdrücken?«</p>
+
+<p>»Na, daß Ihr gerade keine Tugendspiegel seid ... Euch
+mit Kellnerinnen und ... so 'ner Sorte von Weibsbildern
+herumtreibt ... Herr Pilgram, ich bin ein Leipziger
+Kind, das alles ist mir nichts Neues. Aber &mdash; sowas
+zählt doch hoffentlich nicht?«</p>
+
+<p>»Nein &mdash; Sie haben ganz recht ... es zählt nicht ...
+Sehen Sie, man betrinkt sich ja auch zuweilen mal ganz
+stumpfsinnig ... so ähnlich ist das ...«</p>
+
+<p>»Und &mdash; sonst? Sonst haben Sie noch gar nichts ...
+erlebt? Niemals eine richtige ... eine Leidenschaft ...
+ein Gefühl, daß Sie so richtig die Zügel aus der Hand
+verloren haben? Daß es mit Ihnen durchgegangen ist
+wie ein wildes Pferd, so zuck, zuck, hoppla, hopp, über
+Stock und Stein, nur vorwärts, ins Weglose, ins Nichts &mdash;
+nur vorwärts ... komme was wolle?!«</p>
+
+<p>Hingerissen hing Valentins Blick an den flackernden
+Augen, dem zuckenden Munde des Mädchens. »Ach
+nein ... gnädiges Fräulein ... so was hab' ich nie erlebt
+... ich glaube auch, so was kann mir nie passieren ...
+dazu sind wir Pilgrams viel zu korrekt ... viel zu gewissenhaft
+...«</p>
+
+<p>»Schade &mdash;« sagte Jucunda. »Ich denke mir, das
+müßte schön sein ...«</p>
+
+<p>»Das ... glaube ich auch ...« sagte Valentin langsam.
+»Schön ... und schrecklich ...«</p>
+
+<p>»Wie wär's, wenn wir nun schlafen gingen? Ich
+fange doch allmählich an, abzufallen ...«</p>
+
+<p>»Schade!« sagte nun der Student. Seine Augen überflogen
+noch einmal die weiße Gestalt, die sich in so fester,
+straffer Leiblichkeit abhob von dem verschlissenen Samt,
+auf dem sie ruhte, beide Ellbogen nach vorn emporgewinkelt,
+die Hände nach rücklings um die Lehne des
+Sofas geklammert.</p>
+
+<p>»Gott, war das ein Tag!« sagte das Mädchen. »Ein
+Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen! Aber
+das Hübscheste daran war doch, daß ich Sie nun kenne,
+Nachbar ... daß ich Sie Grobian doch ein bißchen gebändigt
+habe ... nicht wahr? Und daß wir zwei nun
+allein noch übrig sind von all dem Trubel und Trara ...
+was? Ist das nicht nett? Aber Sie sagen ja gar nichts?«</p>
+
+<p>»Was ... soll ich sagen?« stotterte der Student. »Ich
+... sehe Sie an ... und denke, daß morgen ... morgen
+das alles vorbei ist ... daß Sie morgen wieder die allgefeierte
+Jucunda Buchner sind ... und ich ... irgendein
+simpler, gleichgültiger Rechtskandidat ... der Ihnen nichts
+sein kann ... nichts für Sie tun ... Ihnen nichts bedeutet
+als eben ein Stück Publikum ... einer von den
+Tausenden, die Ihnen allabendlich zujubeln, ohne daß
+Sie sie kennen, mehr für sie übrig haben als ein geschäftsmäßiges
+Lächeln, wenn der Vorhang sich noch einmal
+hebt ...«</p>
+
+<p>»Wer weiß!« sagte Jucunda mit einem gnädigen Blick.
+»Vielleicht, daß ich doch einmal einen ... einen Ritter
+brauchen kann ... dann will ich mich an diese Stunde
+erinnern ... und Sie rufen ... Soll ich?«</p>
+
+<p>»Gnädiges Fräulein ...« sprach Valentin Pilgram
+heiser ... »Das wäre mehr Gunst vom Schicksal, als
+ich Mut habe zu hoffen ...«</p>
+
+<p>Sie reichte ihm die feste, warme Hand. Er küßte sie ...
+ehrfurchtsvoll, als sei es einer Fürstin Hand ... und ging.</p>
+
+<p>Als er die Tür zu seinem Kämmerchen hinter sich geschlossen,
+stand er einen Augenblick im tiefen Dunkel,
+regungslos. Ihm war's, als drehe sich alles um ihn im
+Wirbel. Und der reckenhafte Gesell, der zweiundzwanzigmal
+dem Schläger und fünfmal dem Säbel Stirn und
+Brust geboten, fühlte ein rätselhaftes Grauen vor etwas
+Kommendem, dem er keine Deutung wußte ... das im
+Dunkel hockte und ihn ansah mit den blauen, hellen, befehlenden
+Augen, von denen er fühlte, daß er ihnen gehorsam
+sein müßte, was immer sie ihm gebieten würden.</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>5.</h2>
+
+<p class="start-chapD">Die zwölf halben Liter Tucher, die Hans Thumser nach
+dem Jucunda-Rummel auf der Kneipe noch in
+seine ausgepichte Fuchsmajorskehle gepumpt, hatten die
+Erregung der zappelnden Nerven untergekriegt und für
+die nötige Bettschwere gesorgt &mdash; zum Anfang wenigstens.
+Aber dennoch &mdash; als der Student plötzlich aus dumpfen,
+wirbelnden Träumen in die Höhe fuhr, so daß der kaum
+verheilte Schädel krachend gegen die Rückwand seines
+Bettes bumste &mdash; da war es noch stockfinster, und wie er
+ein Streichholz entzündete, wies die Uhr halb vier ...</p>
+
+<p>Und wieder Dunkelheit und Schweigen, und im Herzen
+schwirrend und rumorend viel hundert Bilder, viel tausend
+Farben und Klänge ...</p>
+
+<p>Wo soll es hin, das alles?! Was will's von dir, dies
+tolle, glühende Leben?!</p>
+
+<p>Da horch ... ein seltsamer Laut ... ein zager, verzitternder
+... von irgendwoher aus dem Dunkel ... und
+wieder ... und wieder ... derselbe bang verschwebende
+Klageton ...</p>
+
+<p>Weinen ... Weinen einer Frauenstimme &mdash; ganz leise,
+mühsam unterdrückt ... von Tränen umschleiert ...
+erschütternd ...</p>
+
+<p>Nun scheint's zu verstummen ... horch &mdash; kein Laut
+mehr ... doch nein &mdash; nur heftiger jetzt die wimmernde
+Klage ...</p>
+
+<p>Um Gott &mdash; das ist &mdash; da nebenan &mdash; das ist ... Asta
+Thöny ...</p>
+
+<p>Tränen ... Tränen in Frauenaugen &mdash; entsetzlicher
+Gedanke für einen Jüngling, einen tatensehnsüchtigen,
+weltgläubigen &mdash; wer konnte glücklich sein, ach nur ruhig
+sein, nur schlafen &mdash; wenn ein Mensch, ein Mädchen
+weinen mußte?!</p>
+
+<p>Himmel &mdash; vielleicht ist sie krank geworden &mdash; Agnes
+Sorel, die kätzchenweiche, mit dem süßen, rosigen Hals, den
+dunklen, flirrenden Augensternen ... windet sich in
+Schmerzen ... und niemand hört sie, niemand steht ihr
+bei, denn sie ist nicht ein gehegtes, umsorgtes Haustöchterlein
+wie Hansens Schwestern daheim &mdash; sie ist ganz
+allein auf der Welt &mdash; einsam, schutzlos, hilflos ...</p>
+
+<p>Gott, wenn das doch enden wollte! Das ist ja nicht
+zu ertragen, diese hilflose Klage ... Aber was kann
+man tun?</p>
+
+<p>Sich melden &mdash; seinen Beistand anbieten ...</p>
+
+<p>Aber &mdash; könnte das nicht &mdash; mißverstanden werden?
+Nachdem er nun einmal die dummen, zudringlichen Verse
+hinübergeschickt? Und einen so wohlverdienten, ach,
+eigentlich noch viel zu schmuck bebänderten Korb gekriegt?</p>
+
+<p>Aber &mdash; wenn sie nun wirklich leidend wäre &mdash; Hilfe
+brauchte &mdash; gewiß, sie würde nicht böse werden ...</p>
+
+<p>Oder &mdash; wenn man Mutter Ach weckte &mdash; und ihr mitteilte,
+das Fräulein scheine nicht wohl zu sein?</p>
+
+<p>Aber &mdash; wenn's nun gar nichts Ernstes wäre &mdash;
+vielleicht nur eine Laune, eine kindische Gereiztheit &mdash;
+was weiß ich &mdash; dann hätte man um nichts und wieder
+nichts den schnarchenden Schlummer der ehrsamen Wittib
+gestört ... und es gäbe gar noch eine Szene, nachts um
+halb vier ...</p>
+
+<p><i lang="fr">Enfin</i> &mdash; was geht's mich an? Decke über die Ohren
+und weiter dachsen!</p>
+
+<p>Ja, wenn das so ginge! Die Phantasie hebt an zu
+spielen &mdash; dringt durch die Finsternis, die Tapetenwand
+und malt in rosigen Farben das Bild des einsam weinenden
+Kindes da drinnen ... und ach, das bange Schluchzen
+dringt auch zum verbarrikadierten Ohr ...</p>
+
+<p>Mut! Es muß!</p>
+
+<p>»Gnädiges Fräulein &mdash;?« ganz leise, kaum geflüstert ...</p>
+
+<p>Das Weinen geht weiter, still und bitter ...</p>
+
+<p>»Gnädiges Fräulein &mdash;?«</p>
+
+<p>Auf einmal ist's still da drüben &mdash; Finsternis und
+lastende Stille ringsum ...</p>
+
+<p>»Verzeihen Sie, mein gnädiges ... Fräulein ... ich
+... hörte ... ich ängstige mich ... Sie möchten nicht
+wohl sein ... Hilfe brauchen ... darum hab' ich mir die
+Freiheit genommen ...«</p>
+
+<p>Noch immer alles still ... offenbar ist man böse ...</p>
+
+<p>»Gnädiges Fräulein ... ich ... ich will nicht weiter
+beschwerlich fallen ... Sie wissen nun, daß jemand zur
+Hand ist, wenn's not sein sollte ... Wenn Sie also nichts
+weiter von sich hören lassen &mdash; dann &mdash; na dann darf
+ich ja wohl annehmen, daß ... daß alles in Ordnung ist ...
+und dann werd' ich also in Gottes Namen weiterschlafen!«</p>
+
+<p>Auf einmal ein Laut ... kein Weinen ... auch kein
+Wort ... etwas andres ... etwas Silbern-Zwitscherndes
+&mdash; ein ganz feines, ersticktes Kichern ...</p>
+
+<p>»Ach so &mdash;!« sagte der Student völlig beruhigt. »Na,
+denn gut' Nacht, mein gnädiges Fräulein, und sei'n Sie
+nicht böse!«</p>
+
+<p>Und krachend warf er sich auf die rechte Seite, fest entschlossen,
+nun aber auch <i lang="la">a tempo</i> &mdash;</p>
+
+<p>Da horch! Noch einmal ein Lachen, nun aber hell,
+übermütig &mdash; und dann die Stimme, die girrende, die
+streichelnde der Agnes Sorel:</p>
+
+<p>»Aber bitte ... ich muß ja doch danken für die gute
+Meinung! Aber sei'n Sie ganz ruhig &mdash; mir fehlt wirklich
+nix &mdash; ich hab' nur so ein bissel für mich geweint &mdash; das
+kann doch vorkommen &mdash; gelt?«</p>
+
+<p>»Na &mdash; wenn's weiter nichts ist ... ich hab' ja solch
+einen Schrecken bekommen ...«</p>
+
+<p>»O &mdash; das tut mir leid &mdash; ich hab' Sie so friedlich &mdash;
+na ja, so friedlich schnarchen gehört &mdash; da hab' ich gedacht:
+den störst du nicht ... und da hab' ich halt ein bissel
+geweint ... Nehmen Sie's nicht übel, es soll nicht wieder
+passieren ...«</p>
+
+<p>»Aber bitte &mdash; von meinetwegen &mdash; ich weiß ja jetzt,
+daß es nichts weiter zu bedeuten hat, wenn Sie einmal
+nachts weinen &mdash; da werd' ich mich also künftig auch nicht
+mehr drum aufregen ...«</p>
+
+<p>»Ach du lieber Gott &mdash; zu bedeuten hat's schon was ...«</p>
+
+<p>»Hm ... also doch?! &mdash; &mdash; Können Sie mir's nicht
+sagen?«</p>
+
+<p>»Ach ... so durch die Tür hindurch ...«</p>
+
+<p>Jetzt fingen Hans Thumsers Hände denn doch ein
+bißchen an zu zittern. Er suchte nach einer Antwort ...
+fand keine ... Himmel! Meine unsterbliche Seele für
+einen Einfall ...</p>
+
+<p>»Ja ... so durch die Tür ... das geht natürlich nicht
+recht ...«</p>
+
+<p>Endlich ... das erlösende Wort: da ist's:</p>
+
+<p>»Aber ... wenn ich Ihnen ... morgen früh ...
+einmal ... meine nachbarliche ... Aufwartung machen
+dürfte ...«</p>
+
+<p>»Hm ... morgen früh?!« Es klang so gedehnt ...
+so ... nach einem leisen Bedauern ... ach nein ...
+das war ja doch ... da mußte Hans Thumser sich doch
+wohl ... verhört haben ...</p>
+
+<p>»Morgen früh? Da hab ich ja Probe von zehn bis
+zwei ... Da müssen Sie schon morgen nachmittag kommen
+... zum Tee um fünf, wenn Sie mögen &mdash; gelt?«</p>
+
+<p>O Gott ... solch eine Einladung ... zum erstenmal
+in diesem jungen Leben einem so schönen ... so ... verlockenden
+... Mädchen gegenüber ... mit ihr allein ...
+Gibt's denn so etwas?! Ist das denn möglich?!</p>
+
+<p>»Nu &mdash; Sie antworten ja gar nicht?« klang's ganz leise.
+»Sind Sie am Ende gar &mdash; schon wieder eingeschlafen?«</p>
+
+<p>»Aber mein gnädiges Fräulein &mdash; wie können Sie
+nur denken ...«</p>
+
+<p>»Also Sie kommen? Das ist schön. &mdash; Na, nu wollen
+wir aber auch ... gut Nacht, Sie &mdash; Sie Füchschen Sie!«</p>
+
+<p>»Bitte &mdash; Fuchsmajor!« rief Hans Thumser fast laut
+vor Selbstbewußtsein. »Also ... wenn's denn sein muß &mdash;
+gut Nacht, Agnes Sorel!</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">Auch jenseits der Loire liegt noch ein Frankreich,<br /></span>
+<span class="i0">Wir gehen in ein glücklicheres Land,<br /></span>
+<span class="i0">Da lacht ein milder, nie bewölkter Himmel,<br /></span>
+<span class="i0">Und schöner blüht das Leben und die Liebe!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Ja! Wenn man so ein phänomenales Versgedächtnis
+hat! Und seinen Schiller <i lang="la">intus</i>!</p>
+
+<p>»Donnerwetter &mdash; allerhand Achtung!« kicherte es von
+drinnen. »Da möchte man ja wahrhaftig &mdash; aber nein &mdash;
+jetzt wird geschlafen &mdash; gut Nacht, Herr Fuchs<em class="gesperrt-in">major</em>!«</p>
+
+<p>Tiefe Stille ... Dunkelheit ... und zitternde Sehnsucht
+... zitternde Hoffnung ...</p>
+
+<p>Hans Thumser fand keinen Schlaf. Zu toll rumorte
+die Jugendbangigkeit in seinen Gliedern ...</p>
+
+<p>Er lauschte, ob er wohl noch einen Laut vernähme
+von da drüben ... aus der Märchenwelt der Träume ...
+aber alles blieb stumm ... und endlich vernahm er durch
+den lastenden Frieden der Nacht geruhig schwellende,
+leise Atemzüge ...</p>
+
+<p>Sie schlief ...</p>
+
+<p>Da streckte sich auch Hans Thumser mit einem langen
+Seufzer ... und versank.</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>6.</h2>
+
+<p class="start-chapW">Valentin Pilgram war erst spät aufgestanden. In
+wüstem Halbschlaf, von tollen Träumen gequält, hatte
+er die Nacht verbracht. Nun saß er über seinem Drogenwelt-Geruch
+und knuffte die vier Klassen der Gradualerbfolge
+der Novelle 118 in den schmerzenden Schädel
+hinein.</p>
+
+<p>Da klopfte es heftig an die Tür seiner Bude, und im
+selben Augenblick, noch eh er: herein! hatte rufen können,
+schoß auch schon die Frau Kanzleirätin herein, im geblümten
+Morgenrock, dessen Schleppe hinter ihr drein
+waberte, in schleifenbesetztem Häubchen, unter dem die
+grauen Strähnen des ungeordneten Haares hervorlugten:</p>
+
+<p>»Ach herrjeses, Herr Pilgram, Herr Pilgram, kommen
+Se doch nur mal schnell &mdash; 's Kind hat ja en Weinkrampf
+&mdash; ach es is gräßlich! Kennten Se nich gehn und
+en Doktor holen? Ich hab ja keen' Menschen nich im
+Hause ...«</p>
+
+<p>Valentin schoß in die Höhe. »Einen Weinkrampf? Um
+Gottes willen, was ist denn passiert?«</p>
+
+<p>»Ä Rosenbukett is gekommen, groß wie ä Turm ...
+un dabei ä Brief, ne, so was von einer Unverschämtheit is
+überhaupt noch gar nich dagewäsen ...«</p>
+
+<p>»Ist sie denn ohnmächtig? Kann ich vielleicht helfen?
+Darf ich zu ihr hinein?«</p>
+
+<p>»I du mein Himmel, Herr Pilgram, se is noch im Neglischee
+... na aber, ä Kinstlerin &mdash; ä Kinstlerin sieht ja
+schließlich ooch im Neglischee ganz anständ'g aus ... kommen
+Se nur, Herr Pilgram, helfen Se!«</p>
+
+<p>Aus der geöffneten Tür kam ein warmer Strom von
+Rosenduft ... und Rosen überall, ein Rosenschwall, ein
+Rosenwald ... betäubend duftende, schon leise welkende
+Rosen ... dazwischen die eigentlichen Blumen der
+Saison: Dahlien, Astern, Erika ... und inmitten, auf eine
+Chaiselongue hingeworfen, in leidenschaftlichem Schluchzen
+&mdash; sie ...</p>
+
+<p>Ein riesiges Arrangement von Rosen und Chrysanthemen,
+in Manneshöhe, lag umgestürzt auf dem Boden &mdash;
+daneben ein aufgerissenes Kuvert mit aufgeprägtem Wappen,
+ein zerknitterter Bogen schweren Elfenbeinbriefpapieres,
+und &mdash; &mdash; zwei Hundertmarkscheine ...</p>
+
+<p>Auf dem Tisch aufgereiht die Karten der Spender der
+übrigen Blumenherrlichkeiten &mdash; Jucunda war offenbar
+eben beschäftigt gewesen, den Gebern zu danken, prompt
+und akkurat, wie es zu den geschäftlichen Pflichten einer
+vielgefeierten Künstlerin gehört ... da war <em class="gesperrt">das da</em> gekommen ...</p>
+
+<p>Frau Buchner hob das Briefchen auf, glättete es und
+hielt es Pilgram hin. »Da läsen Se's &mdash; und sagen Se,
+ob so was meeglich is &mdash; so eene Gemeinheit &mdash;!«</p>
+
+<p>Jucunda hatte sich beim Klang der Stimme ihrer
+Mutter aufgerichtet ... nun tupfte sie rasch mit dem
+nassen Tüchlein die Tränen von den glühenden Augen,
+ordnete das wirre Haar und verfolgte mit gierigen Blicken
+Valentins Gesichtsausdruck, während er das Briefchen
+durchflog ...</p>
+
+<p>Valentin Pilgram las ... und eine dunkle Zornesflamme
+schlug über sein feierliches Gesicht.</p>
+
+<p>»Halunken!« knurrte er.</p>
+
+<p>Er las weiter &mdash; nun wendete er das Blatt und sah
+nach der Unterschrift ... und plötzlich wurden seine Züge
+ganz starr, und seine Hände ballten sich zur Faust. Dann
+las er zu Ende ... ließ das Blatt sinken und starrte die
+Schauspielerin an mit Augen, in denen Schreck, fassungs-
+und ratlose Bestürzung stand.</p>
+
+<p>»Sie ... kennen, scheint's, die Herren &mdash;?« fragte die
+Kanzleirätin.</p>
+
+<p>»Es scheint, fast &mdash; ja ... entsetzlich fatal ...«</p>
+
+<p>»Am Ende gar &mdash; Korpsbrüder von Ihnen &mdash;?«</p>
+
+<p>»Hm &mdash; wenn's richtige Korpsbrüder von mir wären
+&mdash; denen wollt ich die Flötentöne schon beibringen!! &mdash;
+aber so ...«</p>
+
+<p>»Aber &mdash; Sie kennen die Absender?«</p>
+
+<p>»Ich ... fürchte ... ich kenn' sie ... von Dillingen ...
+von Gorczynski ...« Und mit heftig stammelnden Worten
+erklärte er den Damen, wer es sei, den er hinter diesen
+Namen vermuten müsse ... und in wie naher Beziehung
+diese Herren zu seinem Korps, zu ihm selbst standen ...</p>
+
+<p>»Da sehen Sie's!« sagte Jucunda. »Ein Erbprinz! Ein
+Fürst! das muß man eben einstecken ... nicht mal verklagen
+kann man so 'n großes Tier &mdash; sonst engagiert
+einen kein Hoftheater mehr ... ganz wehrlos und schutzlos
+ist man ...«</p>
+
+<p>Und wiederum flossen die Tränen über das weiße,
+herrische Gesicht ... und auch die Mutter, vom herzbrechenden
+Weinen der Tochter angesteckt, schluchzte nun
+los. Um die Wette weinten die Frauen.</p>
+
+<p>Es arbeitete heftig in Valentin Pilgrams festem,
+offenem Gesicht.</p>
+
+<p>»Nein,« sagte er plötzlich hart und stand mit einem
+Ruck auf. »Schutzlos? Das sind Sie nicht. Guten Morgen,
+meine Damen.«</p>
+
+<p>»Wohin, Herr Pilgram? Was haben Sie denn? Was
+ist Ihnen?« rief Jucunda und hielt den Studenten am
+Aermel seines Bratenrockes fest.</p>
+
+<p>»Ich werde Ihnen Genugtuung verschaffen!«</p>
+
+<p>»Sie &mdash; mir? Nein, Herr Pilgram, das ... das geht
+nicht ... Sie werden ja die entsetzlichsten Unannehmlichkeiten
+haben ... werden sich womöglich gar um meinetwillen
+&mdash; nein, das will ich nicht &mdash; das sollen Sie nicht,
+Herr Pilgram!«</p>
+
+<p>»Nee, nee, Herr Pilgram!« sprudelte auch die Frau
+Kanzleirätin, »das dürfen Se nich machen! Das kenn' wir
+ja gar nich von Ihn' verlangen! Das dürfen wir ja gar
+nich von Ihn' annähm'!«</p>
+
+<p>»Seien Sie ohne Sorge meinetwegen!« sagte Valentin
+und reckte sich zu seiner ganzen Länge. »Ich bin Manns
+genug, so eine Affäre standesgemäß zu erledigen.«</p>
+
+<p>»Nein, Herr Pilgram, das dulde ich unter keinen
+Umständen! Wie kämen Sie denn dazu, sich für mich ...
+ich bitte Sie, was gehe ich Sie denn überhaupt an?«</p>
+
+<p>Da sah der Student das schöne Mädchen mit einem
+Blick an, vor dem sie die Augen niederschlagen mußte in
+Schreck und stolzem Machtgefühl zugleich. Gott, war das
+entsetzlich ... war das berauschend schön ... was sie da so
+jäh, so unerwartet erlebte ...</p>
+
+<p>»Erinnern sie sich noch an ... gestern abend?« sagte der
+Jüngling. »Was Sie mir da versprochen haben?«</p>
+
+<p>»Ach ... das war so leichtsinnig daher geredet ...«</p>
+
+<p>»Von <em class="gesperrt">mir</em> nicht!«</p>
+
+<p>Ach ... wie süß das war ... dies Bewußtsein, daß
+ein Starker, ein Kühner sich einsetzt für dich ...</p>
+
+<p>Aber nein ... das durfte nicht sein ... mit Blitzesschnelle
+flogen die Bilder von hundert schrecklichen Möglichkeiten
+an ihrem Geiste vorbei. Er war doch wohl
+Jurist &mdash; seine Karriere würde er sich ruinieren &mdash; sein
+Examen zunächst ... und wer weiß &mdash; zwar Prinzen &mdash;
+die schlugen sich ja wohl nicht &mdash; aber der Major ... ein
+Offizier ... ein Duell ... Himmel, und der junge Mensch
+hatte ja doch Eltern daheim ... und schließlich &mdash; auch
+sie selber konnte eigentlich keinen Skandal gebrauchen ...
+was wohl Franz Burg dazu sagen würde ... und ihr
+gnädiger, gütiger Herr daheim in Meiningen ...</p>
+
+<p>»Herr Pilgram &mdash; das darf nicht sein! Ich bitte Sie,
+wenn Sie wüßten, wie oft unsereine so etwas erleben
+muß &mdash; wenn man da jedesmal Krach machen wollte! Die
+Herren haben's ja wahrscheinlich gar nicht so schlimm
+gemeint &mdash; haben sich wohl gar nichts dabei gedacht &mdash;«</p>
+
+<p>»Sie haben ... weinen müssen ...« sagte Valentin
+Pilgram durch die Zähne ... »das sollen sie mir bezahlen
+... die zwei.«</p>
+
+<p>Und mit sanftem Druck machte er die große, schlanke
+Hand los, die seinen Rockärmel noch immer gefaßt hielt,
+küßte sie ehrerbietig und ging zur Tür.</p>
+
+<p>»Ach &mdash; die dummen Tränen &mdash;« rief Jucunda &mdash;
+»das macht nichts, die sitzen einem Mädchen ja so lose ...
+sehen Sie, ich lache ja schon wieder ... ich lache ja doch &mdash;«</p>
+
+<p>Und sieh: da liefen ihr wirklich aufs neue die heißen,
+hellen Tropfen über die glühenden Backen ... sie schluchzte
+wie ein Kind:</p>
+
+<p>»Ich will aber doch nicht &mdash; Sie sollen nicht, Herr
+Pilgram &mdash;!«</p>
+
+<p>Der war schon aus der Tür, schritt in seine Bude hinüber,
+riß die neuste grüne Mütze vom Nagel und stülpte
+sie auf den Schädel. Nahm sein silberbeschlagenes spanisches
+Rohr und ging zum Flur ... klinkte mit hartem
+Ruck die Pforte auf und stieg mit hallenden Tritten
+die Treppen hinab. Aus der steinumschnörkelten Pforte
+des altersgeschwärzten Barockhauses trat er auf die belebte
+Katharinenstraße, ging den Markt hinunter am
+Ladengewimmel des Rathausparterres vorbei und stolzierte
+grimmigen Schrittes die Grimm'sche hinab.</p>
+
+<p>Und dabei sann er, was zu tun. Also jetzt werde ich
+die beiden Burschen ankontrahieren müssen &mdash; nicht auf
+Pistolen, bah! Vor die Klinge sollen sie mir, vor die
+krumme! Freilich, der Prinz wird sich wohl hinter seine
+Hausgesetze verkriechen und mir einen Ersatzmann präsentieren
+... aber der Major, dieser aalglatte Streber &mdash;
+der muß 'ran! Hat ja auch wohl jedenfalls den saubern
+Wisch verfaßt &mdash; denn des Prinzen kindliche Pfote war
+das nicht, die kenn' ich doch! Na, und dann wollen wir
+dem mal zeigen, was 'ne Prim ist!</p>
+
+<p>Hm ... aber ... wie stellt sich das Korps dazu? Der
+Prinz ist Konkneipant unseres Bundes, trägt offiziell seine
+Farben ... also ... ich werde austreten müssen ...
+und nicht nur <i lang="la">pro forma</i>, denn sie können mir ... nach
+dem Skandal können sie mir niemals das Band zurückgeben
+...</p>
+
+<p>Teufel auch, da hab' ich mir ja eine schöne Suppe eingerührt
+...</p>
+
+<p>Aber was kann das helfen ... Ritterpflicht ist Ritterpflicht
+... kein Mädchen, und wär's zehnmal eine Komödiantin
+&mdash; keine soll klagen, daß ihre Ehre schutzlos sei, solange
+Valentin Pilgram noch eine Klinge führen kann ...
+Hatte er sich nicht ihrem Dienste gelobt &mdash; gestern abend?
+Und wie rasch war das nun gekommen, daß dies Gelöbnis
+ihn zu Taten rief!</p>
+
+<p>Geld hatte man ihr zu bieten gewagt ... ihr, die ganz
+Deutschland vergötterte ... ihr, die vor seinen Augen dastand
+in so stolzer Reinheit, wie eine Heilige ... die hatte
+man kaufen wollen wie eine ... wie eine aus den dunklen
+Gäßchen der Stadt, durch die am hellsten Tage niemand
+gehen mochte &mdash;?! Das forderte Blut &mdash; nur mit
+Blut war das zu sühnen &mdash;!</p>
+
+<p>Aber ... du selber, Valentin Pilgram &mdash;?</p>
+
+<p>Hm ... ist das nun nicht eigentlich doch ein Narrenstreich?
+Hat sie nicht doch recht gehabt, als sie sagte: was
+geh' ich Sie an &mdash;?!</p>
+
+<p>O Valentin Pilgram, Rechtskandidat im achten Semester
+&mdash; greif' in deine Brust und frage dich: geht sie
+dich an &mdash; diese &mdash; diese da?!</p>
+
+<p>Ja &mdash; wenn eine in der Welt, dann geht diese da dich
+an ... denn, Valentin Pilgram, so närrisch das auch klingen
+mag ... Du bist ... diesem Mädchen bist du verfallen
+seit dem Augenblick, als sie durch die Gasse des
+jauchzenden Volkes vor Karl den Siebenten trat ... und
+zugleich in dein Leben, Valentin Pilgram, schicksalsgewaltig
+... für immer &mdash; für alle deine Tage &mdash;!</p>
+
+<p>Nun lag vor dem Schreitenden, herbstsonnenübergoldet,
+der Augustusplatz: zur Rechten flimmerten die
+Wasser des Mendebrunnens, reckte sich die finsterblinkende
+Front des Museums; zur Linken stieg in heiterer Anmut
+der köstliche Bau des Neuen Theaters ins duftige Blau.
+Dorthin strebte Franconias Senior, denn er wußte zu
+dieser Stunde das Korps im Restaurant auf der Theaterterrasse
+zum Frühschoppen versammelt. Vor ihm wanderte
+noch eine andere grüne Mütze: Pilgram ließ den Frankenpfiff
+schallen: da fuhr der Kopf unter der grünen Fuchsmütze
+herum:</p>
+
+<p>»Ah ... Pilgram &mdash;«</p>
+
+<p>Ehrerbietig zog das blonde Füchschen vor dem gestrengen
+Ersten den Deckel und sprang heran.</p>
+
+<p>»Also, Hartwig, geh' zum Frühschoppen und sage dem
+Fuchsmajor, er möge sofort die Korpsburschen zum außerordentlichen
+Korpskonvent zusammenbitten! Ich erwarte
+die Herren im Flügelzimmer des Restaurants &mdash; verstanden?«</p>
+
+<p>»Gewiß, gewiß, Pilgram &mdash; ich laufe ...«</p>
+
+<p>Und vom muntern Frühtrunk weg, von der sonnüberglühten
+Terrasse, wo bei rauschender Musik die Korps ihren
+offiziellen Frühschoppen hielten inmitten neugierig beobachtender
+Fremden, verschwand ein wohllöblicher C.&#x202f;C.
+der Franconia unter dem Rundbogen, der zum inneren
+Lokal führte, und versammelte sich in einem kühlen, abseitigen
+Gastzimmer zum Konvent &mdash; gespannt, was diese
+unerwartete Ladung zu bedeuten haben möge.</p>
+
+<p>Die Franken waren's gewohnt, daß ein Ausdruck beklemmender
+Feierlichkeit sich über das hagere Gesicht ihres
+Ersten legte, wenn er den Korpskonvent eröffnete: aber
+so ... so unheimlich offiziell hatten sie ihn doch noch niemals
+gesehen.</p>
+
+<p>»Ich habe dem C.&#x202f;C. von einer persönlichen Angelegenheit
+Mitteilung zu machen, die &mdash; zu meinem
+größten Bedauern &mdash; mich in einen Widerspruch mit den
+Interessen des Korps bringt. Unser Konkneipant, Seine
+Durchlaucht der Erbprinz, und dessen Begleiter Major
+v. Gorczynski haben sich einer schweren Beleidigung gegen
+eine Dame schuldig gemacht. Diese Dame ... diese Dame
+steht unter meinem Schutze ... und deshalb sehe ich mich
+genötigt, diesen Herren eine schwere Forderung zu übersenden.
+Ich kann natürlich nicht erwarten, daß das Korps
+den Erbprinzen zur Verantwortung zieht ... und deshalb
+bleibt mir nichts übrig, als den C.&#x202f;C. zu bitten, mir die
+Entlassung ohne Farben zu gewähren, damit ich den
+Ehrenhandel mit einem Herrn, der offiziell zu den Angehörigen
+des Korps zählt, zum Austrag bringen kann.
+Wünscht jemand zu meinem Antrage das Wort?«</p>
+
+<p>In stummer Verblüffung hatten die jungen Herren den
+Vortrag ihres Häuptlings angehört &mdash; angesteckt von
+seiner Erregung, seinem fiebernden Ernst. Nun baten fast
+sämtliche Korpsburschen ums Wort und verlangten nähere
+Erklärungen. Man fragte, wie es möglich sein könne,
+daß der junge Prinz mit einer Dame, welche der nächsten
+Verwandtschaft ihres Korpsbruders angehörte &mdash; denn
+nur um eine solche Dame konnte es sich doch handeln &mdash;
+überhaupt in Berührung gekommen sein könne?</p>
+
+<p>»Die Dame, für die ich einzutreten habe, ist keine Verwandte
+von mir ... es handelt sich um ein junges Mädchen,
+das außer seinem Vater, einem älteren, gebrechlichen
+Herrn, keinen männlichen Schutz zur Seite hat &mdash; und für
+das einzutreten mir deshalb als die Pflicht eines Ehrenmannes
+erscheint, zumal diese junge Dame zugleich eine
+berühmte und gefeierte Künstlerin ist ... es handelt sich
+um die herzoglich meiningische Hofschauspielerin Jucunda
+Buchner.«</p>
+
+<p>Ein unwillkürlicher Laut des Staunens, der tiefsten
+Ueberraschung entfuhr jedem der jungen Herren. Keiner
+konnte sich den Zusammenhang erklären ... wußte doch
+außer Hans Thumser noch nicht ein einziger von ihnen,
+daß ihr Erster, der notorische Verächter alles dessen, was
+Kunst und Künstler hieß, überhaupt gestern abend bei den
+»Meiningern« gewesen war ...</p>
+
+<p>»Ich bitt' ums Wort!« rief Ivo Volkner, der temperamentvolle
+Rheinländer, und als der Erste dem Konvent
+Silentium für Volkner anbefohlen: »Ja, lieber Pilgram
+&mdash; ohne uns in Deine persönlichen Angelegenheiten
+hineinmischen zu wollen &mdash; aber Deine Erklärungen sind
+doch für uns alle dermaßen &mdash; überraschend, daß wir doch
+wohl um etwas genauere Auskunft bitten müssen ... was
+ist der ... jungen Dame ... denn eigentlich passiert ...
+und wie kommst Du &mdash; gerade Du dazu, Dich zu ihrem
+Ritter aufzuwerfen?«</p>
+
+<p>»Ich will ... zuerst diese letzte Frage beantworten.
+Oder vielmehr nicht beantworten. Liebe Korpsbrüder,
+Ihr kennt mich und wißt: ich weiß im allgemeinen, was
+ich tue ... Und wenn ich Euch sage, das, was ich zu tun
+vorhabe, das muß sein &mdash; na, dann darf ich vielleicht von
+Euch erwarten, daß Ihr mir das glaubt. Hab' ich recht?«</p>
+
+<p>Allgemeines Gemurmel der Zustimmung.</p>
+
+<p>»Also noch einmal: ich halte mich für verpflichtet, für
+die Dame einzutreten ... und bitte den C.&#x202f;C. ... von einer
+näheren Darlegung meiner Motive ... Abstand zu
+nehmen.«</p>
+
+<p>Volkner bat ums Wort und fragte:</p>
+
+<p>»Ohne weiter in Dich dringen zu wollen, Pilgram: wir
+hören doch alle in diesem Augenblick zum ersten Male,
+daß Du die Dame überhaupt kennst. Sollten wir dann
+nicht wenigstens erfahren, wann und ... unter welchen
+Umständen Du ... ihr denn eigentlich dermaßen nähergetreten
+bist, daß Du &mdash; hm! daß Du nun dermaßen für
+sie in die Verlängerung springen willst?«</p>
+
+<p>»Das kann ich Euch mitteilen ... aber zur Erklärung
+meiner ... meines Entschlusses wird's Euch wenig
+nützen ... ich muß da schon an ... an Euer korpsbrüderliches
+Vertrauen appellieren ... ich kenne Fräulein Buchner
+erst seit gestern abend ... sie ist die einzige Tochter
+des Kanzleirats Buchner ... bei dem ich zur Miete wohne.«</p>
+
+<p>»Also sozusagen &mdash; <i lang="la">filia hospitalis</i>!« sagte Volkner,
+und ein kurzes, verständnisvolles Schmunzeln ging über
+die erregten Gesichter der Korpsbrüder.</p>
+
+<p>»Nun, ich denke, ich habe Euch zu diesem Punkte mitgeteilt,
+was ... was sich irgend mitteilen läßt. Und zweitens &mdash; was
+wolltest Du ferner noch wissen, Volkner?«</p>
+
+<p>»Ja &mdash; was denn der Erbprinz eigentlich gemacht
+hat ...«</p>
+
+<p>»Er hat sie durch seinen Begleiter zum Souper einladen
+lassen &mdash; na, das möchte ja allenfalls gehen ... aber er
+hat dieser Einladung dadurch einen nicht mißzuverstehenden
+Charakter gegeben &mdash; daß er ... daß er zwei Hundertmarkscheine
+beigefügt hat ...«</p>
+
+<p>Das Lächeln, das bei Erwähnung der Soupereinladung
+um die Lippen der jungen Herren aufgezuckt hatte, erlosch
+... Rufe wurden laut:</p>
+
+<p>»Geschmacklosigkeit!«</p>
+
+<p>»Donnerwetter, der geht aber aufs Ganze!«</p>
+
+<p>»Na ja &mdash; ein Förscht &mdash; der denkt eben, er braucht
+bloß auf'n Knopp zu drücken ...«</p>
+
+<p>»Ich denke, liebe Korpsbrüder, Ihr seht ein, daß eine
+solche infame Beleidigung &mdash; einem anständigen Mädchen
+gegenüber &mdash; Fräulein Buchner <em class="gesperrt">ist</em> ein anständiges Mädchen,
+und wenn sie zehnmal eine Komödiantin ist &mdash; was
+sagst Du, Thumser? Du kennst sie ja auch?«</p>
+
+<p>Hans Thumser hatte mit einem wahren Toben der Gefühle
+die Verhandlung verfolgt, ohne selbst das Wort zu
+nehmen. Mein Gott, wie war aus dem strahlenden Spiel
+von gestern so rasch ein grotesker, tragikomisch grinsender
+Ernst geworden! Und was war doch dieser offizielle,
+banausische Pilgram für ein Prachtkerl, daß er sich für
+ein jählings erwachtes Gefühl gleich so ganz und rückhaltlos
+in die Schanze warf!</p>
+
+<p>Ach, und du, Hans Thumser? was soll denn heut nachmittag
+werden? Mit was für Träumen, was für Begehrnissen,
+Hans Thumser, trägst du dich?!</p>
+
+<p>»Ein anständiges Mädchen?« rief er zur Antwort auf
+die Frage des Ersten. »Eine Königin ist sie ... eine
+Göttin ... Pilgram, ich beneide Dich um das Glück, für
+sie vom Leder ziehen zu dürfen!«</p>
+
+<p>»So überschwenglich brauchen wir das gar nicht mal
+auszudrücken,« sagte der Erste. »Aber ein anständiges
+Mädchen ist sie ... und da ich nun mal zufällig das Pech
+oder ... das Glück habe, mit ihr unter einem Dache zu
+wohnen ... und der erste honorige Mensch zu sein, dem
+sie sich anvertraut hat ... so bleibt ja wohl nichts andres
+übrig, als die Konsequenzen zu ziehen ...«</p>
+
+<p>Bei diesen so nüchtern klingenden Worten schwoll's in all
+den jungen Burschenherzen. Es war der romantische Glanz,
+der diese Tat ihres Korpsbruders, ihres Führers, umwob,
+der ihnen allen Sinne und Urteil blendete. Wenn auch
+der Idealismus, den das Gymnasium in ihnen erzogen,
+durch die Formen blasierten, kaltschnäuzigen Lebemannstums
+verdeckt, ja stellenweise überwuchert sein mochte &mdash;
+noch lebte in ihnen allen etwas von dem Adelsgeiste,
+unter dessen Herrschaft ihre ganze Jugend, die Formung
+ihrer Seelen gestanden ... Wohl stieg in manchem von
+ihnen das Gefühl auf, als hätte sich doch am Ende ein
+Kompromiß finden lassen ... noch bedächtigere Seelen
+bedachten gar insgeheim, daß eine solche Katastrophe, auch
+wenn Pilgram vorher offiziell aus dem Korps ausschiede,
+doch nicht ohne Folgen für die Beziehungen des Korps
+zu dem Erbprinzen und damit vielleicht überhaupt zu den
+deutschen Fürstensöhnen bleiben könne ... In weiter
+Ferne dämmerte gar hie und da etwas wie der Gedanke
+an verpfuschte Karriere, verspielte Zukunftsaussichten ...
+aber:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Wer die Folgen ängstlich zuvor erwägt,<br /></span>
+<span class="i0">Der beugt sich, wo man die Tiefquart schlägt &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Frei ist der Bursch!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>&mdash; das galt auch heute noch, das galt, das sang man nicht
+nur, so handelte man auch &mdash; hol's der Teufel!</p>
+
+<p>Einstimmig ging Pilgrams Antrag durch, ihm die
+ehrenvolle Entlassung ohne Band zu erteilen ... Aber
+durch jedes Herz ging's wie ein schriller Riß, als nun
+Valentin Pilgram stumm das grün-gold-rote Band von
+der Brust zog, es stumm auf die Mütze legte, die auf dem
+Tische lag, sich mit schweigendem Händedruck von den ...
+ehemaligen Korpsbrüdern verabschiedete ... und, mit
+einem Handwink im Kreise, an ihnen vorüberschritt ...</p>
+
+<p>Er ging durch den Schenkraum des Theaterrestaurants,
+schritt barhaupt quer über den Augustusplatz, kaufte sich
+in der Passage für seinen letzten Taler (Gott sei Dank,
+morgen ist der Erste!) einen einigermaßen schäbigen Filzhut
+und kehrte dann zur Theaterterrasse zurück. Grüßend
+schritt er am Frankentisch vorbei, wo die harrenden Füchse
+in stummer Verwunderung ihre Mützen zogen, lüftete
+flüchtig den Hut zu den Tischen der übrigen Korps und
+trat auf den Neo-Borussentisch zu, an dessen Spitze der
+Erste, Herr Borgmann, mit dem gewohnten süffisanten
+Lächeln präsidierte.</p>
+
+<p>»Herr Borgmann &mdash; kann ich Sie einen Moment
+sprechen?«</p>
+
+<p>»Mit dem größten Vergnügen, Herr Pilgram ...«</p>
+
+<p>Die beiden jungen Herren traten abseits an den Rand
+der Terrasse, von der der Blick hinschweifte zum
+zitternden Spiegel des Schwanenteiches, auf das braune,
+rieselnde Laub der Anlagen auf dem alten Umwallungsgebiet.</p>
+
+<p>»Zunächst gestatte ich mir, Ihnen anzuzeigen, daß ich
+aus dem Korps Franconia ausgeschieden bin ...«</p>
+
+<p>»Herr Pilgram &mdash;!«</p>
+
+<p>»Sie werden den Grund sogleich erraten: Ich bitte
+einen wohllöblichen C.&#x202f;C. der Neo-Borussia um Waffenschutz
+und zugleich Sie persönlich um die große Liebenswürdigkeit,
+Seiner Durchlaucht dem Erbprinzen von Nassau-Dillingen
+und Herrn Major von Gorczynski je eine
+Forderung auf schwere Säbel ohne Binden und Bandagen
+auf fünfundzwanzig Minuten bis zur Abfuhr zu überbringen.«</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">In ratloser Verblüffung waren Mutter und Tochter
+zurückgeblieben, als ihr Student sich so unerwartet und
+kategorisch zu Jucundas Ritter aufgeworfen. Nun sie
+allein waren, wich die erste Rührung und Ergriffenheit
+bald einem kaltblütigen Erwägen.</p>
+
+<p>»Das gibt weeß Knebbchen än richt'gen Schkandal!«
+platzte Mutter Doris heraus. »Gucke, das hast Du nu
+davon, daß Du Dich so hast vergessen kenn'! Schließlich &mdash;
+so gefährlich war doch am Ende die ganze Geschichte nu
+nich! Man hätte den Herrn ihr Geld einfach sollen wiederschicken
+&mdash; mit Abzug von's Porto nadierlich &mdash; un den
+Korb zum Gärtner zurück, un all's war in Ordnung!
+Statt dem wird der nun hingehn und wird'n fordern,
+den Erbprinz, un der Krach is fertig! Un schließlich, was
+wer'n die Leite sagen? Die Buchner hat's mit ä Studenten,
+wer'n se sagen!«</p>
+
+<p>Eine Flut von wirren Gedanken wirbelte durch
+Jucundas Hirn. Da war so unendlich Vieles, was beglückte,
+erregte, schmeichelte, stachelte, berauschte! Welch eine
+Macht ging von ihr aus &mdash; trieb den langen Jungen, einen
+Sohn aus gutem Hause, den Ersten Chargierten des
+ältesten und angesehensten Korps in Leipzig &mdash; sie war
+ihren Kindheitserinnerungen noch nahe genug, fühlte sich
+noch immer als Tochter eines Hauses, das jahraus, jahrein
+nur Korpsstudenten beherbergte &mdash; wußte das als eine
+Ehre zu schätzen ... ihn trieb sie in tolle, aberwitzige
+Abenteuer, diese unheimliche Macht, die von ihr ausging
+... Achtzehn Jahre, und schon der Mittelpunkt von
+Tragödien und Katastrophen ...</p>
+
+<p>Aber da war noch eine andere Stimme: die Stimme
+der kalt rechnenden Vernunft, die Stimme der kleinbürgerlichen
+Gerissenheit, die das früh gewitzigte Töchterchen
+einer engbegrenzten Spießerwelt auf ihrem Anstieg
+in lichte Höhen des Daseins bisher so sicher geleitet hatte:
+die warnte vor dem Skandal ... mahnte zur Ruhe, zur
+Vorsicht ...</p>
+
+<p>»Wenn ich nur wüßte, was Hoheit in Meiningen zu
+so einer Geschichte sagen würde ...«</p>
+
+<p>»Nu, ich glaub' nich, daß der gnädigste Herr sähre
+entzickt mechte sinn, wenn's Geschichten gibt wegen en
+Prinzen aus fürstlichem Hause ...« meinte die Mutter.</p>
+
+<p>Jucunda sann, an wen sie sich wohl um Rat wenden
+könnte. Franz Burg! schoß es ihr durch den Sinn. Der
+wackere, selbstlose Freund und Förderer hätte es wohl
+verdient, daß sie sich überhaupt zuerst an ihn gewandt
+hätte ... Und das hätte sie ja auch sicherlich getan, wenn
+nicht ihre Nerven, noch nachzitternd von den gestrigen
+Fiebern, ihr den Streich mit dem Weinkrampf gespielt
+hätten ... ja, und da war's eben alles so von selbst gekommen,
+das Andre, das Unwahrscheinliche, das süß
+Berauschende und Erschreckende ...</p>
+
+<p>Mutter Doris war natürlich sehr einverstanden ...
+Und alsbald war Jucunda auf dem Wege zu Franz Burg
+... wie sie immer zu Franz Burg gegangen war, wenn
+sie nicht mehr aus noch ein wußte ... es gingen sehr viele
+Menschen zu Franz Burg, wenn sie nicht mehr aus noch
+ein wußten ...</p>
+
+<p>Ach, wie ging sie gern zu Franz Burg! Erstens war
+es ein behagliches Bewußtsein, daß er verheiratet war &mdash;
+sehr glücklich verheiratet. Zweitens war's ein sehr behagliches
+Bewußtsein, daß &mdash; nun daß er trotzdem heftig für
+sie schwärmte &mdash; so was merkt man doch, nicht wahr? &mdash;
+daß sich hinter seiner trockenen, reservierten Freundschaft
+eine Empfindung versteckte, die gewaltsam gebändigt
+werden mußte ...</p>
+
+<p>Gott, ist das entzückend, so zu fühlen, zu wissen, daß
+man wie eine allvergötterte Königin durchs Leben
+schreitet ... Ihr fiel ein, daß sie einmal von den Indianern
+gelesen hatte, sie sammelten die Skalpe ihrer erlegten
+Feinde ... O Jucunda &mdash; wenn du die Skalpe
+deiner zur Strecke gebrachten Verehrer sammeln würdest
+... was für ein Museum käme da zusammen!</p>
+
+<p>So sann Jucunda, während sie hastig die Petersstraße
+hinabschritt, den Weg, den man sie gestern im Triumphzug
+heimwärtsgeführt ... Unter dem Torweg kaufte sie
+sich die Morgenzeitungen, außer dem Tageblatt, das sie
+daheim zum Frühstück schon verschlungen, und las die
+Kritiken ... eitel Hosianna über den ganzen Abend, und
+sie natürlich der Mittelpunkt ... und hier ein Bericht über
+ihre Heimkehr, feuilletonistisch zurechtgestutzt &mdash; brav so,
+brav, na ja, so was macht eine bildschöne Reklame, das
+darf öfter passieren!</p>
+
+<p>Erst während sie die Anlagen am Roßplatz kreuzte,
+den Königsplatz überschritt, kam ihr wieder in den Sinn,
+weshalb sie sich eigentlich heut morgen zum Theater aufgemacht
+hatte, wo sie doch auf Rechnung der gestrigen
+Strapaze von der Probe dispensiert war. Nein, dieser
+gute Pilgram &mdash; so ein Starrschädel! Eigentlich rührend ...
+und doch ein bißchen zum Lachen, daß er sich ihretwegen
+... des lumpigen Billetts wegen, das doch wahrhaftig
+nicht das erste gewesen war und auch nicht das letzte sein
+würde ... daß er sich deswegen mit Tod und Teufel
+schlagen wollte &mdash; sich sein Leben verpfuschen reineweg!
+Also solche Männer gab es doch auch ... eigentlich eine
+Wohltat, wenn man so inmitten dieses marklosen,
+irrlichtelierenden, an großen Worten sich betrinkenden
+und vor jeder Tat mit eingekniffenem Schwanz abseits
+schleichenden Künstlervolks lebte ... Franz Burg war ja
+eine Ausnahme ... aber ob er sich ihretwegen auch nur
+einem Schnupfen ausgesetzt hätte statt einer Degenklinge
+&mdash; das bezweifelte Jucunda denn doch eigentlich ...</p>
+
+<p>Da war das Carolatheater ... Jucunda schritt durch
+den Eingang, überquerte das schmale Höfchen, den Kassenflur,
+in dem sich bereits wieder das Publikum um die
+Abendplätze prügelte &mdash; Gott, wie wird Hoheit sich über die
+Kassenrapporte freuen! &mdash; schlüpfte durch die knarrende Eisentür
+in den Bühnenumgang und horchte am Pförtchen, das
+zur Bühne führte. Burg arrangierte eben das »Lager« ...</p>
+
+<p>»Kinder,« hörte sie seine Stimme, »faßt Eure Kriegsknechte
+man recht feste um 'n Hals &mdash; Ihr seid jetzt keine
+höheren Töchter mehr, Ihr seid Lagerdirnen des Friedländers,
+die hatten etwas weniger etepetetige Umgangsformen
+als die Leipzigerinnen von 1888! Und wenn's
+aus Versehen mal 'nen handfesten Kuß absetzt &mdash; na, für
+die Kunst muß man eben Opfer bringen können!«</p>
+
+<p>Ja &mdash; das konnte natürlich bis zur Erschlaffung so
+weitergehen ... und dabei war doch Eile not ... Es
+half nichts, sie mußte unterbrechen ... obschon sie wußte,
+daß er das auf den Tod nicht leiden konnte ... Sie trat
+in den halbdunklen Bühnenraum, den nur die offenen
+Gasflammen der Proberampe matt erhellten. Da stand
+Franz Burg neben dem Regietisch, umringt von der andächtig
+lauschenden Schar des »Volkes«.</p>
+
+<p>»Suchen Sie mich, Buchner?«</p>
+
+<p>»Wenn Sie einen Moment Zeit für mich hätten,
+Meister ... es ist dringend ...«</p>
+
+<p>Jucunda störte nicht ohne Grund &mdash; dafür kannte er sie.
+Aber allzu gnädig klang es nicht, wie er drinnen im Konversationszimmer
+ein kurzes »Also los!« hervorstieß.</p>
+
+<p>Und Jucunda berichtete. Ausführlich entschuldigte sie
+sich, daß sie sich nicht zuerst an ihn gewandt ... ließ deutlich
+durchblicken, daß ihr die ganze Geschichte nur so über
+den Kopf gekommen ...</p>
+
+<p>Ein sardonisches Schmunzeln zog über's ausgearbeitete
+Gesicht des Oberregisseurs, in seinen dunklen, tiefliegenden
+Augen tanzten tausend Teufelchen.</p>
+
+<p>»Un wat sall ick dorbi dauhn?«</p>
+
+<p>»Helfen sollen Sie, lieber Freund! Das darf doch nicht
+geschehen!«</p>
+
+<p>»Ganz im Gegenteil, Kindchen &mdash; einer von den dreien
+muß auf der Strecke bleiben &mdash; noch besser alle! Die
+Schädel sollen sie sich spalten &mdash; einander auffressen wie
+die beiden Löwen in dem berühmten Liede:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">Zwei Löwen gingen einst selband<br /></span>
+<span class="i0">In einem Wald spazoren,<br /></span>
+<span class="i0">Und haben da, von Wut entbrannt,<br /></span>
+<span class="i0">Einander aufgezohren!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>»Das &mdash; kann Ihr Ernst nicht sein!«</p>
+
+<p>»Aber blutiger! Was liegt an einem Rechtskandidaten,
+einem Erbprinzen, einem Stabsoffizier! Hin müssen sie
+allesamt werden, damit Jucunda Buchner im Triumph
+über ihren Leichnamen zum Tempel des Ruhms emporwandelt!«</p>
+
+<p>»Ach &mdash; mir ist wirklich nicht nach Späßen zumut!«</p>
+
+<p>»Denken Sie, mir?! Merken Sie nicht, Kindchen: alles,
+was nicht zum Bau gehört, ist Publikum, das heißt, einzig
+und allein dazu da, uns zu bewundern, zu feiern, zu erhöhen
+... Gestern abend haben sie Ihnen die Pferde
+ausgespannt und Sie im Wagen nach Hause gezogen:
+geben Sie mal acht, wenn Ihr Student und Ihr Erbprinz
+sich Ihretwegen gegenseitig aufgespießt haben &mdash; was die
+Leute dann erst mit Ihnen aufstecken! Auf Händen werden
+Sie dann nach Hause getragen!«</p>
+
+<p>»Und ... was wird Hoheit zu der Geschichte sagen?«</p>
+
+<p>»Hm ... Hoheit ...« Burg sann einen Augenblick nach.
+Allerdings, das war zu erwägen ... An Hoheit durfte
+so eine kindische Affäre natürlich nicht herankommen ...</p>
+
+<p>Aber ... würde es denn überhaupt eine Affäre
+werden? Franz Burg kannte die Welt und wußte, daß
+in ihr nichts so heiß gegessen wird, wie jugendlicher Ueberschwang
+es kochen möchte ...</p>
+
+<p>»Na ... so weit sind wir ja noch lange nicht!« lachte
+er. »Vorläufig wollen wir mal ruhig zusehen, wie das
+Rummelchen sich historisch entwickelt ... Is ja ganz nett,
+auch mal Zuschauer spielen zu dürfen! So, und nun muß
+ich wieder Affen dressieren &mdash; komm her, Langbeinchen,
+gib mir 'n Kuß!«</p>
+
+<p class="start-chapA space-above">Als Jucunda auf der Straße stand, sah sie ihre Kollegin
+Thöny drüben in einem Fenster des ersten Stockes
+liegen. Sie winkte ihr zu.</p>
+
+<p>»Was haben Sie denn da drinnen gemacht, Buchner?
+Kommen Sie 'nauf, wir schwatzen ein bissel!«</p>
+
+<p>Die beiden Rivalinnen kamen rasch ins Gespräch.
+Plötzlich fiel's Jucunda ein, daß ihre Mutter daheim mit
+dem Mittagessen wartete: Na, dem ließ sich abhelfen &mdash;
+es war nicht alle Tage so nett &mdash; nicht alle Tage vertrug
+man sich so gut mit seinen Kolleginnen &mdash; das mußte man
+auskosten. Sie pfiff sich einen barfüßigen Jungen von
+der Straße herauf und schickte ihn mit einem Markstück
+und einem Stadttelegramm zum nächsten Postamt.</p>
+
+<p class="quote">»Muß probieren, nicht zum Essen erwarten. Jucunda.«</p>
+
+<p>Die Mädchen teilten das frugale Mittagsmahl, das
+Mutter Ach ihrer Pensionärin gekocht hatte, und
+schwatzten, küßten sich, schworen sich ewige Freundschaft ...
+und Asta Thöny hatte ganz vergessen, daß sie noch heut
+nacht so heiß geweint hatte, weil man Jucunda Buchner
+die Pferde ausgespannt hatte und ihr nicht ...</p>
+
+<p>Und Jucunda Buchner dachte nicht mit einem Sterbensgedanken
+mehr daran, daß um ihretwillen ein junger,
+wackerer Gesell im Begriff war, seine Zukunft und sein
+Leben auf ein tolles Spiel zu setzen ...</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Erbprinz Heribert und sein Mentor waren beim
+Dessert ... Zwei junge Leutnants vom hundertsiebenten
+Regiment, Söhne verarmter Nassau-Dillingenscher
+Adelsfamilien, deren alte Herren nur Infanteriezulage
+erschwingen konnten, waren zu Tische geladen. Man
+trank Pommery und beklatschte Hofskandäler der benachbarten
+Fürstenhöfe &mdash; da wurde in dringlicher, persönlicher
+Angelegenheit Herr Studiosus Borgmann Neo-Borussiae
+gemeldet.</p>
+
+<p>»Hm ... dringliche, persönliche Angelegenheit? Also
+bitte ins Empfangszimmer ... Entschuldigen Sie mich
+einen Augenblick, meine Herren ...«</p>
+
+<p>Sporenklirrend ging der Prinz &mdash; den militärischen
+Gästen zu Ehren war er heut in der Uniform seiner
+Sophiendragoner &mdash; in den Salon hinüber, dessen
+konventionelle Hoteleleganz durch ein paar erlesene Stücke
+aus dem erbprinzlichen Schloß Beauregard eine Art persönliche
+Note empfangen hatte.</p>
+
+<p>Herr Borgmann verneigte sich tief. Unter seiner
+schwarzen Kompresse waren Stirn und Nase erblaßt vor
+feierlicher Erregung.</p>
+
+<p>»Durchlaucht ... ich bedaure unendlich ... furchtbar
+peinliche Mission ...«</p>
+
+<p>»Darf ich bitten, Platz zu nehmen?«</p>
+
+<p>Stotternd entledigte sich Herr Borgmann seines Auftrages.</p>
+
+<p>»Hören Sie mal, mein Verehrtester &mdash; das ist ein
+Witz ... aber ein fader!« sagte der Erbprinz. »Einen
+Augenblick ... ich werde Herrn von Gorczynski rufen
+lassen, der ist ebenfalls beteiligt ...«</p>
+
+<p>Er klingelte und befahl, den Major zu bitten.</p>
+
+<p>»Nehmen Sie mir die Frage nicht übel, Herr Borgmann
+&mdash; ist bei Ihrem Herrn Auftraggeber vielleicht eine
+Schraube los?«</p>
+
+<p>»Ich bedaure, als Kartellträger eine Kritik an dem
+Inhalt meines Auftrages ... weder selbst ausüben noch ...
+entgegennehmen zu dürfen ...«</p>
+
+<p>»Sehr korrekt!« lobte der Erbprinz. »Sie haben ganz
+recht &mdash; verzeihen Sie. Aber ich bin einstweilen dermaßen
+baff ... So was hab' ich denn doch nicht für möglich
+gehalten.«</p>
+
+<p>Und zu dem eintretenden Major mit einem boshaften
+Schmunzeln:</p>
+
+<p>»Nun sagen Sie mal, mein Verehrtester &mdash; was haben
+Sie uns da denn eigentlich eingebrockt? Wir werden
+gefordert! Wir sollen uns prügeln &mdash; weil wir den perversen
+Wunsch geäußert haben, mit der Jungfrau von
+Orleans zu soupieren!«</p>
+
+<p>Der Major begriff nicht &mdash; mußte erst völlig aufgeklärt
+werden &mdash; und dann platzte er hell heraus ... Der Prinz
+stimmte ein, auch Borgmann glaubte aus schuldiger Höflichkeit
+mitlachen zu müssen ...</p>
+
+<p>»In der Tat, die Sache ist zum Wälzen,« sagte der
+Prinz &mdash; »aber Teufel auch, wie bringen wir diesen
+rabiaten Burschen, den guten Pilgram, zur Ruhe? Wie
+die ganze verfahrene Karre wieder ins Gleis? Ich danke
+für einen Skandal ... die Sache muß unbedingt in aller
+Stille arrangiert werden.«</p>
+
+<p>»Durchlaucht,« sagte der Major, »ich bin natürlich
+schuld. Ich habe unsre ... hm, hm ... unsre vollkommen
+harmlose Soupereinladung scheinbar doch ein bißchen zu
+herausfordernd stilisiert ... ich übernehme selbstverständlich
+jede Verantwortung. Zunächst werde ich zu Fräulein
+Buchner hinfahren, mich als den Schreiber des ... verhängnisvollen
+Zettels bekennen ... und für mich, als den
+allein schuldigen Teil &mdash; die Verzeihung dieser ... nun der
+jungen Dame erbitten. Damit dürfte dann wohl die Angelegenheit
+vollkommen erledigt sein &mdash; nicht wahr, Herr
+Borgmann?«</p>
+
+<p>»Hm ... ich will's hoffen,« meinte Herr Borgmann
+etwas kleinlaut. »Wenn ich den Fall richtig taxiere, ist
+mein Herr Auftraggeber in ... na, in gewissen ...
+heiligen ... Gefühlen gekränkt ... die bei etwas
+temperamentvollen jungen Leuten leicht eine ... etwas
+explosive Form annehmen ...«</p>
+
+<p>»Ach so &mdash; Koller nennt man das ja wohl,« näselte
+der Erbprinz. »Ja ... aber wenn ein solcher &mdash; hm ...
+pathologischer Zustand gemeingefährlich wird, dann muß
+eben eine Radikalkur versucht werden. Aeh &mdash; die Sache
+ödet mich ... Ich wünsche, lieber Herr von Gorczynski,
+daß Sie die Angelegenheit völlig ins Reine bringen, verstehen
+Sie mich?«</p>
+
+<p>»Gewiß, gewiß, Durchlaucht, ich werde es an nichts
+fehlen lassen ...« hastete der Major beflissen.</p>
+
+<p>»Und Sie, Herr Borgmann? Ich rechne auf Ihre
+Mitwirkung zu einer absolut geräuschlosen Beilegung!«</p>
+
+<p>»Durchlaucht wollen versichert sein, daß ich mein möglichstes
+tun werde!«</p>
+
+<p>Mit kurzer Verneigung schritt der Prinz an den beiden
+Herren vorüber und überließ sie ihrer Ratlosigkeit. Auf
+dem Wege zum Speisesalon brach er in ein schallendes
+Gelächter aus.</p>
+
+<p>So eine gerissene Katze &mdash; bringt's fertig, einen
+Prinzen, einen Prinzenbegleiter und einen langen Laban
+von Schlagetot vor ihren Reklamewagen zu spannen ...
+und sowas ist achtzehn Jahre alt und spielt weißgewaschene
+Tugendengel dermaßen überzeugend, daß einem ganz
+kniefällig dabei zumute wird ... Na, warte Du, Dich
+zähm' ich mir noch mal, Du süße, weiße Bestie Du &mdash; das
+lohnt doch noch der Mühe!</p>
+
+<p>»Sie, lieber Aldringen, geben Sie mal 'n Glas
+Pommery &mdash; aber etwas lebhaft, bitte!«</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>7.</h2>
+
+<p class="start-chapI">Major von Gorczynski hatte beschlossen, den Stier bei
+den Hörnern zu packen. So etwas Blödsinniges war
+ihm in seinem ganzen Leben noch nicht passiert! Eine
+Soupereinladung an eine Bühnenprinzessin, die mit einer
+Säbelforderung seitens eines Korpsstudenten beantwortet
+wird! Und noch dazu eines Korpsstudenten, von dem man
+mit positiver Bestimmtheit weiß, daß er allem, was Theater
+und Theaterweiber heißt, weltenfern steht! Das war zu
+abgeschmackt ... Was konnte nur vorgegangen sein, das
+diese ausgefallene Konstellation ermöglicht hatte! Das
+mußte man herausbekommen ... Und das Einfachste
+war, man ging gleich vor die rechte Schmiede ... Mit
+dem Mädel war jedenfalls noch am ehesten fertig zu
+werden ... Absolut geräuschlose Erledigung hatten Durchlaucht
+verlangt? Herr von Gorczynski kannte sich jedenfalls
+mit Mädeln noch besser aus als mit dieser rauf- und
+trinkfesten Männerjugend in Band und Mütze, deren Begriffe
+und Sitten so was mittelalterlich Unkontrollierbares
+an sich hatten ... Also auf zu Jucunda!</p>
+
+<p>Frau Kanzleirätin Buchner öffnete selbst die Tür und war
+nicht wenig entsetzt, als ein nicht mehr ganz junger, höchst
+eleganter und &mdash; hm! &mdash; pikfein parfümierter Herr in Gehrock,
+Zylinder, hechtgrauen Glacés an der Entreetür stand
+und Fräulein Jucunda Buchner zu sprechen wünschte ...</p>
+
+<p>»Fräul'n Buchner is aus &mdash; tut m'r unendl'ch leid ...
+Aber wenn ich was kennte bestell'n &mdash; ich bin die Mutter.«</p>
+
+<p>Herr von Gorczynski musterte die stattliche, rundliche
+Frau mit Kennerblick. Es war nachmittags um vier, aber
+die ... Dame war noch immer in Morgentoilette ...
+geblümter Schlafrock und Schleifenhäubchen ... Also aus
+so einem ... Milieu entstammte das Dämchen, für das
+der Sohn eines hohen sächsischen Justizbeamten Korpsband
+und Karriere in den Wind schlug ... Hm ... Das vereinfachte
+die Situation allerdings außerordentlich. Herr
+von Gorczynski war auf eine feingebildete Familie gefaßt
+gewesen ... Vielleicht Justiz, Universität, ein Predigerhaus
+... Und nun ... Na, wenn man mit so etwas
+nicht geräuschlos fertig werden sollte ...</p>
+
+<p>»So ... Sie sind die Mutter ... Na da ist es vielleicht
+am besten, ich unterhalte mich erst mal ein wenig
+mit Ihnen ... Major von Gorczynski ist mein Name.«</p>
+
+<p>Frau Doris fühlte, wie ihr das Herz in die flanellenen
+Unterhosen rutschte. »Ja, aber ... Sie sehen, Herr
+Major ... Ich bin Sie ja doch gar nich angezogen ...«</p>
+
+<p>»Bitte, das macht nichts ... Was ich Ihnen zu eröffnen
+habe, das können Sie auch unangezogen hören.
+Also wenn ich bitten darf &mdash; oder wünschen Sie meine Erklärungen
+auf dem Hausflur entgegenzunehmen?«</p>
+
+<p>»Ach nee ... Aber gewiß nicht, Herr Major ...
+Bitte treten Sie ein ... in die gute Stube ...«</p>
+
+<p>Herr von Gorczynski überflog mit demonstrativer Geringschätzung
+die verschlissene Herrlichkeit des Buchnerschen
+Salons. Dann setzte er sich mit einer gewissen Vorsicht,
+als fürchte er, der Samtfauteuil könne unter ihm zusammenbrechen,
+in den grünen Plüsch und sah die vor Erregung
+fiebernde Frau mit durchdringendem Blick an.</p>
+
+<p>»Sie werden sich wohl ungefähr vorstellen können, weswegen
+ich komme, Frau &mdash; Buchner!« begann er scharf.
+»Nicht wahr?«</p>
+
+<p>Frau Doris' Kinnbacken schlotterten. Da hatte man die
+Bescherung! Und ihr Rat war fern ... Und das Kind ...
+Und sie mußte den ersten Ansturm des Schicksals ganz
+allein aushalten, von Gott und aller Welt verlassen ...</p>
+
+<p>»Nu ja, nu nee ... denken ... kann ich mersch am
+Ende ...«</p>
+
+<p>»Na also: Um's kurz zu machen: Ihr Fräulein Tochter
+hat eine Einladung, wie sie in der ganzen Welt Abend
+für Abend an tausend und abertausend Kolleginnen Ihrer
+Tochter ergeht &mdash; die hat sie damit beantwortet, daß sie
+mir und ... meinem jungen Freunde, in dessen Namen
+ich mit unterzeichnet hatte, eine Forderung auf schwere
+Waffen hat überbringen lassen. Darf ich mich zunächst
+erkundigen, in welchen Beziehungen der ... junge Herr,
+der sich zum Beschützer Ihrer Familienehre aufgeworfen
+hat, zu Ihrer Tochter steht?«</p>
+
+<p>»Aber ich bitt' Ihn', Herr Major &mdash; in gar keener Beziehung.
+Er wohnt hier im Haus ... zur Miete ... un
+da is er ... ganz zufäll'g is er dazu gekommen, wie meine
+Tochter een Weinkrampf hat gekriegt, als das Bukett ist
+angekommen ... un der Brief ... un ... un das Geld ...«</p>
+
+<p>Hm ... das Geld ... und ... ein Weinkrampf ...
+verdammt peinliche Vorstellung ... aber was war zu
+machen ... man mußte oben bleiben.</p>
+
+<p>»So ... also in gar keinen Beziehungen ... verehrteste
+Dame, Sie haben keinen dummen Jungen vor
+sich, dem Sie Lederstrumpfgeschichten aufbinden können.
+Ich will also mal annehmen, der junge Herr ist der ...
+Bräutigam Ihrer Tochter ...«</p>
+
+<p>»Ne, ne, wahrhaft'gen Gott nich &mdash; aber gar keene
+Ahnung ... e junger Student, ne, ne, wie kenn' Se
+nur so was denken ... So was hat meine Jucunda
+wahrhaft'gen Gott nich neetig!«</p>
+
+<p>»Hm ... also nicht ... Na dann wollen wir's dahingestellt
+sein lassen, welcher Art das ... Verhältnis zwischen
+den beiden jungen Leuten ist ...«</p>
+
+<p>Jetzt hatte Frau Doris sich denn doch gefunden. Die
+Ehre ihres Hauses, ihres Mädchens &mdash;? Ne, ne, damit
+durfte man denn doch nicht spaßen ...</p>
+
+<p>»Heer'n Se, Herr Major,« rief sie zitternd, doch mit
+Entschiedenheit, »das muß ich mir denn doch ganz ergäbenst
+verbitt'n! Meine Tochter hat kein ... kein Verhältnis
+nich!«</p>
+
+<p>»In dem Sinne, in dem Sie das Wort verstanden zu
+haben scheinen, habe ich es durchaus nicht gebraucht ...
+und verbitte mir meinerseits eine derartige Auslegung
+meiner Worte! Nun aber zu Ihrem Fräulein Tochter!
+Hat sie &mdash; und haben Sie als Mutter &mdash; oder wenn Ihr
+Mann noch unter den Lebenden ist &mdash;«</p>
+
+<p>»Allerdings &mdash; mein Mann ist der Kanzleirat Buchner
+&mdash; ein königlicher Beamter ...« warf Frau Doris ein,
+»Ritter des Albrechtkreuzes zweiter Klasse ...« Sie richtete
+sich ordentlich auf an all diesen ehrenvollen Tatsachen.</p>
+
+<p>»Na also! Haben Sie alle zusammen sich denn eigentlich
+nicht klar gemacht, was ein so ... rabiates Vorgehen
+denn eigentlich für Ihre Tochter ... vielleicht auch für
+Ihren Mann ... bedeutet? Ich nehme an, daß Sie bereits
+in Erfahrung gebracht haben, wer wir eigentlich sind
+&mdash; wer sich hinter dem Namen von Dillingen versteckt &mdash;
+hä? Wissen Sie das, Frau Kanzleirat Buchner?«</p>
+
+<p>»Ja, ja, ich weeß &mdash; ich weeß,« stammelte die geängstigte
+Frau und fuhr mit dem Rücken der fleischigen
+Hand über die feucht gewordene Stirn.</p>
+
+<p>»Na also! Bilden Sie sich denn im Ernste ein, ein
+solcher Herr werde sich wegen ... wegen einer Lappalie
+von einem x-beliebigen jungen Menschen zur Rechenschaft
+ziehen lassen? Nee, verehrte Dame, die Sache kommt
+anders: Es möchte Ihrer Tochter vielleicht doch peinlich
+sein, wenn an ... eine gewisse Stelle ein Bericht über
+das ... eigentümliche Interesse erginge, dessen Ihre
+Tochter sich in &mdash; hm! Studentenkreisen erfreut! Und
+wenn Ihre Tochter sich überlegt, daß ihr Kontrakt doch am
+Ende noch nicht lebenslänglich und unkündbar ist, und daß
+es sich wenig empfiehlt, sich die Gunst eines jungen Fürsten
+zu verscherzen, der einmal der Brotherr eines der größeren
+deutschen Hoftheater sein wird ... dann wird ihr am
+Ende klar werden, daß es ein bißchen übereilt von ihr war,
+eine kleine Unbedachtsamkeit &mdash; ich gebe ja zu, daß es eine
+Unbedachtsamkeit war, Ihre Tochter ohne weiteres in eine
+Linie mit der Mehrzahl ihrer Kolleginnen zu setzen ...
+Aber deshalb gleich nach Blut &mdash; nach Fürstenblut zu
+lechzen &mdash; das scheint mir doch einigermaßen kindisch!«</p>
+
+<p>Völlig zerschmettert hatte Frau Buchner die Suada
+ihres vornehmen Besuchers über sich ergehen lassen. Vor
+ihrem Auge tanzten hundert gräßliche Bilder ... Der
+gnädigste Herr in Meiningen hatte Jucunda seine Gunst
+entzogen &mdash; ihr Vertrag war gekündigt ... Vergebens
+klopfte sie an die Pforten aller deutschen Bühnen ... Als
+»schwieriges Mitglied« wurde sie überall abgelehnt ...
+Das Elend lauerte, der Hunger ...</p>
+
+<p>»Ne ... ne ... das is ja äne schreckliche Geschichte ...«
+stammelte sie.</p>
+
+<p>»Nun, Sie scheinen ja Vernunft annehmen zu wollen.
+Ich empfehle Ihnen also, unverzüglich mit Ihrer Tochter
+Rücksprache zu nehmen: Sie soll ihren ... ihren jugendlichen
+Beschützer veranlassen, seine höchst törichte und kindische
+Herausforderung zurückzuziehen ... Damit dürfte
+die Angelegenheit eine für alle Beteiligten befriedigende
+Erledigung finden. Sind Sie dazu bereit?«</p>
+
+<p>»Aber mit dem greeßten Vergniegen &mdash; 's wird sich
+doch am Ende noch alles lassen ins reine bringen!« ächzte
+aufatmend die geängstigte Frau.</p>
+
+<p>»Na also &mdash;« der Major erhob sich &mdash; »ich rechne
+darauf, daß Sie Ihren mütterlichen Einfluß in diesem
+Sinne geltend machen. Meine Empfehlung an Ihr Fräulein
+Tochter ... und ... böse ... braucht sie uns nicht zu
+sein ... Die ganze Sache war vollkommen harmlos gemeint
+... also ... adieu, Frau Kanzleirätin!«</p>
+
+<p>Frau Buchner knixte ein übers andre Mal, während
+sie den Gast zur Entreetür geleitete.</p>
+
+<p>Auf der Schwelle wandte der Major sich noch einmal
+um.</p>
+
+<p>»Apropos &mdash; soweit ich unterrichtet bin, hat man bei
+Ihnen besonders daran Anstoß genommen, daß meinem
+Briefchen ein ... ein kleines Geschenk ... in barem
+Gelde ... beigelegt war. Vermutlich haben Sie diese ...
+diese kleine Aufmerksamkeit ... in Verwahrung genommen?«</p>
+
+<p>»Allerdings ... das hab' ich ... in meine Wirtschaftskasse
+hab' ich die Scheine eingeschlossen ... Jucunda wollte
+sie zur Post bringen, aber ... sie wollte sich erscht noch
+nach Ihrer ... genaueren ... Adresse erkundigen ...
+Na un von dem Wege, da is se noch nich zurück ...«</p>
+
+<p>»Na, dann kann ich ihr ja den Gang ersparen ...
+Wenn Sie's mir gleich aushändigen wollten ... und vielleicht
+&mdash;« ganz harmlos, nachlässig wurde das hingelegt &mdash;
+»vielleicht händigen Sie mir auch gleich das Briefchen mit
+aus, das die Gemüter so sehr erregt hat &mdash; und damit wäre
+ja dann alles in schönster Ordnung ...«</p>
+
+<p>»Gewiß, gewiß, Herr Major &mdash; das hab' ich ooch ...
+alles kenn' Se kriegen &mdash; ich bin ja froh, wenn ich's
+aus 'm Hause hab ...«</p>
+
+<p class="start-chapD space-above">Teufel auch ... das war mehr, als ich gehofft habe!
+schmunzelte der Major, als er mit seinem Raube die
+halbdunkle Stiege hinunterknarrte.</p>
+
+<p>Unten im Hausflur zog er den Brief hervor, entzündete
+ein Streichholz und ließ das <i lang="la">corpus delicti</i> in Flammen
+auflodern. Die beiden Scheine aber, die er beim Empfang
+nur nachlässig in die Westentasche geschoben, barg er nun
+sorgfältig in seinem Portefeuille. Es waren immerhin
+zweihundert bare Mark ...</p>
+
+<p>Und dann ging er zu Aeckerlein hinüber und bestellte
+eine Flasche Heidsieck.</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>8.</h2>
+
+<p class="start-chapA">Als Hans Thumser inmitten seiner Korpsbrüder das
+Theaterrestaurant verließ und über den sonnenflimmernden
+Augustusplatz, die mittäglich durchhastete
+Grimmaische Straße nach dem Baarmannschen Lokal am
+Markt hinüberspazierte, wo das Korps speiste &mdash; da
+wirbelte ihm der Kopf dermaßen vom Fieber des Erlebens,
+daß die erregten Gespräche der Freunde nur wie
+aus weiter Ferne zu ihm herüberklangen. Und doch
+disputierte er selber eifrigst mit ... Es war ja kein Ende
+zu finden des Ueberlegens und Projektierens &mdash; wie alles
+kommen würde &mdash; ob man sich nicht übereilt, ob Pilgram,
+ob das Korps richtig gehandelt, ob sich nicht eine minder
+schroffe Lösung des Konflikts hätte finden lassen ... Wie
+der Erbprinz sich stellen würde ... und schließlich doch
+auch der Hof in Nassau-Dillingen ... was der für Weisungen
+erteilen würde ... und was all der welterschütternden
+Schicksalsfragen mehr noch waren.</p>
+
+<p>Und dabei immer der heimlich bohrende, süß erregende,
+wonnesam beklemmende Hintergedanke an ...
+heut nachmittag ...</p>
+
+<p>Und so in Wirrnis und Ahnung verrannen die Stunden
+... Jetzt ward alles andre verdrängt durch das
+Mitgefühl mit Valentin Pilgrams Schicksal, des Korpsbruders,
+der so ganz anders geartet war, mit dessen
+Wesen das eigene niemals harmonisch hatte zusammenklingen
+wollen ... und dessen starkgemute Jungmännlichkeit
+dennoch die lebenshungrige Seele fest in ihren
+Bann geschlagen hatte &mdash; längst eh dies opferstolze Einsetzen
+seines ganzen Daseins für ein fremdes Mädchen,
+das Kind einer andern Welt ... eh' diese Tat sein Bild
+in eine fast heroische Sphäre emporgehoben ...</p>
+
+<p>Und dann wieder schwirrten mit scheuem Flügelschlage
+die Gedanken um das eigene Hoffen und
+Bangen ...</p>
+
+<p>Und seltsam: Astas und Jucundas Bilder, sie rannen
+zusammen in der Seele ... Wer war's eigentlich, der
+ihn erwartete heut um fünf? War's nicht jener Dämon,
+der in seines Korpsbruders Leben so verhängnismächtig
+hineingegriffen? Jucunda! Jucunda! Der Name klang
+aus allen Gesprächen, die in der Runde hin und wider
+flogen ... Daß es überhaupt eine Asta Thöny gab, das
+wußte ja nur einer von seinen Freunden, und dieser eine
+&mdash; der war fern ... war ausgeschieden aus dem Bunde,
+dem sein ganzes Herz gehörte, für dessen Farben er in
+siebenundzwanzig Waffengängen sein junges Herzblut
+vergossen ... ausgeschieden um jener andern willen ...
+und selbst dieser eine hatte sie doch nur auf der Bühne
+gesehen &mdash; ahnte nicht, daß sie mit Hans Thumser unter
+einem Dache wohnte ... konnte nicht ahnen, daß sie heimlich
+nächtens in ihre Kissen weinen und dann plötzlich
+lachen konnte, so girrend, so atemversetzend.</p>
+
+<p>Nach dem Mittagessen blieb das Korps beim Kaffee
+noch lange zusammen. Die Füchse wurden fortgeschickt,
+und immer und immer wieder in heftigen Disputen
+drehten und wendeten die Korpsburschen das Ereignis
+des Tages. Hans aber zog von Zeit zu Zeit heimlich die
+Uhr und zählte, wie eine Viertelstunde um die andere
+verrann von jenen, die ihn noch von dem größten Erlebnis
+seines jungen Daseins trennten ... Und einmal
+zog er heimlich auch sein Portemonnaie und stellte fest,
+daß er heute, am einunddreißigsten Oktober, noch fünfundachtzig
+Pfennige sein eigen nannte ...</p>
+
+<p>Teufel auch! Wenn man die Farben eines Korps
+trägt, kann man unmöglich ohne ein bescheidenes
+Blümchen in der Hand bei einer Dame zum Tee antreten
+... Und Hans Thumser pumpte sich von Volkner,
+der immer Geld hatte, eine Mark ...</p>
+
+<p>Und endlich war's dreiviertel fünf ... Und wie ein
+Träumender strich Hans Thumser die Petersstraße hinunter,
+einen Busch rosa Dahlien, in Seidenpapier gewickelt,
+in der Hand ... Zu wem ging's? Zu Asta?
+Zu Jucunda? Er wußte es nicht ... es ging ...
+zu <em class="gesperrt">ihr</em> ...</p>
+
+<p>Und so war's fast eine Selbstverständlichkeit, daß er sie
+nun <em class="gesperrt">beide</em> fand ...</p>
+
+<p>Die Stube schwamm von Zigarettenrauch ... Und
+auf dem Sofa, eng aneinandergelehnt, zwei Mädchen ...
+die, die er zu suchen kam &mdash; und die andere ...</p>
+
+<p>»Ach Gott ...« lachte Asta in komischem Entsetzen auf,
+»Herr ... na wie heißen Sie noch? Herr ...«</p>
+
+<p>»Thumser,« stotterte Hans und blieb ganz verdonnert
+an der Tür stehen.</p>
+
+<p>»Richtig, Herr Thumser &mdash; mein Zimmernachbar &mdash;
+nicht wahr, Sie sind's doch? Mein Gott, Sie hatt' ich
+wahrhaftig total vergessen &mdash;«</p>
+
+<p>»O bitte, dann will ich nicht stören,« sagte Hans und
+griff zur Tür.</p>
+
+<p>Ein Kübel Eiswasser, einem glutgedörrten Saharawanderer
+jählings über den Nacken gegossen ...</p>
+
+<p>»Aber nein! Stören! Weglaufen! Gibt's nicht!«
+Und das weiche Figürchen in der nicht ganz tadellos
+frischen Batist-Matinee sprang auf, stand vor dem
+schlanken Studenten, eine Hand, zart und warm wie ein
+sonnendurchglühtes Rosenblatt, legte sich auf die seine und
+zog ihn ins Zimmer.</p>
+
+<p>»Nicht böse sein! Meine Kollegin ist mich besuchen
+gekommen, und da haben wir uns verschwatzt ... Ist's
+denn schon fünf Uhr? Himmel &mdash; und wie's hier ausschaut!
+Frau Wehe! Frau Wehe! Schnell kommen Sie
+mal her und räumen S' ab! Gestattest Du, Jucunda?
+Mein Zimmernachbar, Herr Studiosus Dummler &mdash;«</p>
+
+<p>»Thumser,« verbesserte Hans etwas pikiert.</p>
+
+<p>»Pardon &mdash; Thumser &mdash; meine Kollegin Buchner &mdash;
+die große Buchner, wissen S'!«</p>
+
+<p>Jucunda grüßte stumm und königlich. Sie hatte die
+grüne Mütze, die drei Farben um die Brust des jungen
+Mannes wiedererkannt ...</p>
+
+<p>»Ich weiß ...« sagte Hans. »Ich war gestern abend
+in der 'Jungfrau' ... und ich bin auch unter denen gewesen,
+die &mdash;«</p>
+
+<p>»&mdash; ihr die Pferde ausgespannt haben &mdash; natürlich!
+Das nächste Mal, Sie Schlingel, spannen Sie mir die
+Pferde aus &mdash; verstanden? Sonst ist's aus mit der guten
+Nachbarschaft!«</p>
+
+<p>»Wird gemacht!« sagte Hans, der sich wiederfand.
+»Inzwischen darf ich wohl als bescheidene Entschädigung
+diese Blümchen ...«</p>
+
+<p>»Ach &mdash; das ist famos! Sehen Sie, Jucunderl, es
+wachsen heuer doch nicht alle Blumen bloß für Dich ...«
+Und sie drückte den Studenten in einen der verschlissenen,
+fettigen Damastfauteuils, welche Mutter Achs beste Bude
+verherrlichten.</p>
+
+<p>Einen raschen Blick warf Hans Thumser in der Bude
+umher. Wild sah's aus ... auf dem Tisch noch die Reste
+des bescheidenen Mittagsmahls, Aepfelschalen und die
+zerknautschten Mundstücke abgerauchter Zigaretten trieben
+sich auf dem fleckigen Tischtuch herum ... und drüben
+auf dem Bette aufgestapelte Mullröcke und Spitzenhöschen,
+auf dem Schreibtisch ein zusammengerolltes
+Korsett, dazwischen unsaubere Hefte mit ausgeschriebenen
+Rollen und zerflederte Reclambändchen ...</p>
+
+<p>Asta war diesem Blick gefolgt und sah den Ausdruck
+von Mißbehagen, der ununterdrückbar das schmissebedeckte
+tadellos rasierte Gesicht des korrekten und gepflegten
+Jünglings überzog.</p>
+
+<p>»Bös schaut's aus da drin, gelt? Aber warten S'
+nur, ich schaff' schon eine Ordnung! Faß an, Jucunderl,
+Du bist ja schuld, daß ich so einen feschen, jungen Herrn
+in so einer Schlamperei muß empfangen! Und Sie,
+Frau Wehe« &mdash; die noch immer hübsche, kugelrunde
+Wittib stand mit nachmittagschlafgeröteten Augen in der
+Tür &mdash; »hinaus mit dem Abfall da! Und ein' Tee kochen
+S' uns, und Kuchen will ich seh'n und Schlagsahn' und
+was sich sonst gehört! Da haben S' ein Geld!« Und wie
+ein Irrlicht fegte das dunkellockige Mädchen in der Stube
+umher, hob den Bettbezug aus gewebter, leidlich defekter
+Spitze, das Ueberbett in die Höhe, stopfte die herumliegenden
+intimen Kleidungsstücke drunter und deckte mit
+einem Spitzbubenlächeln wieder zu, griff in die Nachttischschublade
+und warf ein paar Markstücke auf den Tisch,
+daß zwei, drei in die Stube kollerten und Hans Thumser
+sich bücken mußte, um sie wieder aufzulesen; griff dazwischen
+in die Zigarettenschachtel, schob ihren beiden
+Besuchern, sich selbst und schließlich auch der verlegen
+grinsenden Wittib eine Zigarette zwischen die Lippen:</p>
+
+<p>»Da, Herr Dummser &mdash; haben S' Feuer?«</p>
+
+<p>Und da flimmerten auch die feuchten Lippen, die
+dunklen, flackernden Augen dicht vor Hansens Gesicht,
+loderten ihn an, während sie mit ihm zugleich am nämlichen
+Zündholz ihre Zigarette anbrannte ...</p>
+
+<p>Inzwischen saß Jucunda stumm und königlich auf dem
+Sofa, ohne eine Hand zu rühren, und ließ ihre runden
+blauen Augen von einem zum andern leuchten. Und
+auch Hans Thumsers Blicke gingen hin und her, von dem
+Schalk zu der jungen Königin, von der jungen Königin
+zu dem rastlosen Schelm ...</p>
+
+<p>Und endlich gab's Ruhe und so etwas wie Ordnung,
+und mit einem tiefen Aufseufzen warf Asta Thöny sich
+in das Sofa, kuschelte sich an Jucundas kräftige Schulter
+... und nun sahen zwei Augenpaare, das blaue, das
+schwarze, den braunäugigen Studenten an ...</p>
+
+<p>»So, Herr Dummser, nu erzählen S' uns was!«</p>
+
+<p>Hans Thumser war des Umgangs mit weiblichen
+Wesen wenig gewohnt. Seine Schwestern waren um
+vier und fünf Jahre jünger als er, die zählten, samt ihrer
+Freundinnenschar, noch nicht mit, waren Gören, oder wie
+man daheim sagte, Blagen ... unfähig, die erhabene
+Größe eines Studenten, eines Korpsstudenten, eines
+Fuchsmajors richtig einzuschätzen. Und das Korps? Es
+lebte außerhalb der Leipziger Gesellschaft, war völlig
+durch Mensur und Kneipe absorbiert und kam höchstens
+auf dunklen und verschwiegenen Pfaden einmal mit verachteten
+Parias der Weiblichkeit in Berührung ...</p>
+
+<p>Aber ... er war ein werdender Poet ... und der
+Zauber der Situation löste ihm die Zunge, gab ihm
+Worte, wie sie gesellschaftliche Routine nicht kennt ...</p>
+
+<p>»Erzählen soll ich Ihnen ... meine Damen? Ach ...
+ich hab' nichts erlebt, was des Erzählens wert wär' in
+solch einem Augenblick ... aber ... das darf ich ja wohl
+sagen, nicht wahr? daß ich sehr glücklich bin ... Ich
+denke an gestern abend ... ich habe Sie beide gesehen und
+bewundert und beneidet um das Glück Ihres Berufs ...
+den Menschen das Schöne zu offenbaren ... und nun sitz'
+ich hier ... Ihnen gegenüber ... seien Sie mir nicht
+böse, wenn das mir zu Kopf steigt und ... mich dumm
+und stumm macht ... Sie nennen mich noch immer
+Dummser, gnädiges Fräulein ... und das stimmt, ich
+bin auch ein dummer Bub, das fühl' ich, jetzt, wo ich mit
+Ihnen zusammensitzen darf ... Nein, ich kann Ihnen nichts
+erzählen ... ersparen Sie es mir, mich mit Konversationmachen
+abzuquälen ... erlauben Sie mir nur ... da
+zu sein ... und Sie anzuschauen ... und zu fühlen, ja
+bis ins Tiefste zu fühlen, wie schön das ist ... was für
+ein Glück das ist!«</p>
+
+<p>»Aber warum machen Sie sich selber so schlecht?« sagte
+Jucunda und sah ihn groß an &mdash; »Sie sprechen gar nicht
+übel ... im Gegenteil &mdash; ich meine, ich hätte noch niemals
+einen Menschen so sprechen gehört ...«</p>
+
+<p>»Du &mdash;?« sagte Asta, »daß Du mir dem Jungen nicht
+zuviel Komplimente machst! Das ist <em class="gesperrt">meiner</em>, verstehst
+Du mich? Aber Du mußt immer alles für Dich haben ...
+die Blumen &mdash; die Kränze &mdash; die ausgespannten Pferde &mdash;
+die Verehrer, alles muß sie allein haben! Und so was
+redet von Freundschaft und Kollegialität! Schämen
+sollten S' Ihnen, mein Fräulein!«</p>
+
+<p>Hans wurde glühendrot. »Ach, meine Damen, machen
+Sie sich nur immer über mich lustig ... ich weiß ganz
+genau, wie wenig ich Ihnen sein kann. Nur das eine
+muß ich Ihnen sagen: Sie ahnen gar nicht, was dieser
+Tag für mich bedeutet ... Sie können sich wohl nicht
+vorstellen, wie barbarisch und rauh dies Leben ist,
+das wir jungen Dächse so führen auf deutschen Hochschulen
+... Und seit gestern ist's auf einmal bunt und licht
+und ... groß und ... schön um mich her ... seit ich Sie
+beide kenne ...«</p>
+
+<p>»Gott, wie süß er ist &mdash; gelt, Jucunda?« sagte Asta
+und streichelte dem Studenten mit einer raschen, zärtlichen
+Bewegung ganz leise und flüchtig die glühende, narbenzerrissene
+Wange. »Nur mehr so Schönes, nur mehr!
+So was kann man gar nicht genug hören!«</p>
+
+<p>»Ach &mdash; Sie scherzen wieder, Gnädigste &mdash;« sagte
+Hans. »Sie sind weit schönere Worte gewohnt ... Sie
+verkehren am Hof &mdash; inmitten von Geist und Grazie ...
+die Dichter, deren Werke Sie verkörpern, huldigen
+Ihnen ...«</p>
+
+<p>»Der hat Ahnung, gelt?« lachte Asta halb verschmitzt
+halb schmerzlich zu ihrer Kollegin hinauf, in deren Arm
+sie sich drückte.</p>
+
+<p>»Nein, Herr Thumser,« sprach Jucunda langsam, »Sie
+haben doch wohl eine etwas &mdash; na sagen wir mal zu
+ideale Vorstellung von unserm Leben ... Glauben Sie
+mir nur, es gibt nicht viel Männer, die so zu reden wissen,
+daß es einem wohltut ...«</p>
+
+<p>»Gewiß, ich glaub's &mdash; so verwöhnt, so anspruchsvoll
+wie Sie sein müssen ... denn so jung wie Sie sind, Sie
+sind berühmt, alles liegt Ihnen zu Füßen, Sie kommen
+wie das Schicksal ... wehe dem, der Ihnen verfällt ...«</p>
+
+<p>Ein Schatten war bei diesen Worten über die
+enthusiastischen Züge geflogen, die flammenden Augen
+hatten sich verdunkelt.</p>
+
+<p>Jucundas Stirn hatte sich langsam zusammengezogen.</p>
+
+<p>»Wie das Schicksal?« fragte sie, »wie meinen Sie das?«</p>
+
+<p>»O ... ich dachte an ... eine gewisse Geschichte ...
+eine sonderbare, aufregende Geschichte ... von der Sie
+doch wohl auch wissen müssen ...«</p>
+
+<p>»Sie ... meinen ... die Sache ... mit Herrn Pilgram?
+Von der wissen Sie also auch schon?«</p>
+
+<p>»Ich weiß ... selbstverständlich weiß ich ... wir sind
+ja doch Korpsbrüder ...«</p>
+
+<p>»Eine ... Sache?« fragte Asta ganz erstaunt. »Was
+hat's gegeben? Hast mir ja doch gar nichts davon erzählt,
+daß es was gegeben hat? Heraus mit der Geschichte!«</p>
+
+<p>»Ich möchte ... eigentlich überhaupt nicht davon
+sprechen ...« meinte Jucunda.</p>
+
+<p>»Und ich ... ich halte mich ebenfalls nicht für berechtigt
+...« setzte Hans befangen hinzu.</p>
+
+<p>»Schöne Sachen sind mir das!« zürnte Asta. »Ich
+bring' Euch zwei zusammen, und schon habt Ihr Geheimnisse
+miteinander, und ich werd' ausgesperrt und hab 's
+Zuschau'n! Na wartet &mdash; jetzt kommt der Tee mit dem
+Kuchen, hernach setz' ich Euch vor die Tür und ess' alles
+alleinig!«</p>
+
+<p>Jucunda hatte einen Moment sinnend den Rauchwölkchen
+ihrer Zigarette nachgestarrt. Es war dämmrig
+im Zimmer geworden. Frau Wehe kam mit dem Tee,
+dem Gebäck, zündete die Petroleum-Hängelampe über dem
+Tische an, und hell gleißten nun die drei jungen Gesichter
+auf dem Hintergrunde der abgenutzten Stube, die rasch
+in völliges Dunkel versank.</p>
+
+<p>Als die Wirtin gegangen, sagte Jucunda langsam:
+»Ich verstehe, daß Sie sich über die ... Angelegenheit ...
+die bewußte ... nicht gern aussprechen. Aber Sie werden
+begreifen: ich bin ziemlich gespannt. Sie wissen schon
+drum ... also die Sache kommt doch, scheint's, wirklich an
+die große Glocke. Ich bin ja schließlich doch ein bißchen
+beteiligt ... Wollen Sie mir nicht sagen, was inzwischen
+eigentlich passiert ist?«</p>
+
+<p>»Hm ... wenn unsre ... gütige Gastgeberin gestattet,
+daß wir uns in ihrer Gegenwart über ... eine Sache
+unterhalten, die sie nicht ... in die wir sie nicht einweihen
+dürfen?«
+»Na macht schon, macht schon ...« maulte Asta, »Ihr
+brennt ja darauf, Eure Geheimnisse auszutauschen ...
+ich ess' Kuchen.« Und wütend bissen ihre blinkenden Zähne
+in einen braunlächelnden Mohrenkopf.</p>
+
+<p>»Also kurz ... Er ... ist aus dem Korps ausgetreten
+... und hat die ... die bewußten beiden Herren auf Säbel
+ohne ohne gefordert ... Genügt Ihnen diese Andeutung?«
+fragte Hans.</p>
+
+<p>»Hm ... und mehr ... wissen Sie also noch nicht?«</p>
+
+<p>»Noch nicht.«</p>
+
+<p>»Immerhin ... also der Skandal ist fertig. Schöne
+Bescherung ...«</p>
+
+<p>»Hol Euch der Satan, Kinder, Ihr macht eins aber
+wirklich neugierig wie eine Ziege!« sagte Asta und ließ die
+kuchenstopfenden Finger sinken. »Säbelforderung &mdash; Skandal
+... und dabei habt Ihr Euch vor einer halben Stunde
+erst kennen gelernt vor meinen sehenden Augen ...«</p>
+
+<p>»Gott, warum soll man's ihr schließlich nicht erzählen?«
+meinte Jucunda. »Morgen weiß es ganz Leipzig ...«</p>
+
+<p>»Hast einmal wieder was, womit Du Dich kannst
+int'ressant machen, Jucunderl? Gott, das Mädel hat
+einen Dusel! Daß es um Dich geht, soviel hab' ich schon
+heraus ... Also es werden zwei sich die Köpf' entzweischlagen
+Deinetwegen ... hernach schauen die Leut'
+unsereins überhaupt nicht mehr an ... und so ist's in
+allem! Schon wie's heißt &mdash; Jucunda! Wie kommt
+bloß ein Vater auf die Idee, so ein Wurm 'Jucunda' zu
+taufen? Als ob er damals schon geahnt hätt', daß das
+Kind einmal wird unters Theater gehen! Sag' doch, Mädel
+&mdash; wo kommst an so einen Namen, so ein' ausgefall'nen?«</p>
+
+<p>»Ach &mdash; das ist einfach genug ... da war eine alte
+Tante, die eine Beamtenpension zu verzehren hatte und
+so schöne uralte Möbel und Bilder gehabt hat aus der
+Goethezeit ... um die sind alle Verwandte herum gewesen
+erbschleichen ... aber meine Eltern haben den
+Vogel abgeschossen und mich nach ihr getauft ... das hat
+sie so erschüttert, daß sie mir den ganzen Krempel vermacht
+hat ...«</p>
+
+<p>»Ach &mdash; und nun hast Du das ganze schöne Zeugs?«</p>
+
+<p>»I Gott bewahre &mdash; verkauft hat's mein Vater und
+für mich in einem Sparkassenbuch angelegt ... und davon
+sind mein Studium und meine modernen Kostüme bezahlt
+worden &mdash; paar Groschen werden wohl auch noch da sein,
+denk' ich ...«</p>
+
+<p>»Ja schaust, was Du für ein Glückskind gewesen
+bist ...« Astas Augen irrten in die Ferne, ein ganz
+fremder Ausdruck von Bitterkeit und Ekel umschattete
+das pfirsichweiche Oval. &mdash; »So eine Tante wenn ich
+gehabt hätt', meinetwegen hätten s' mich Eulalia mögen
+taufen! Ich hab' das alles allein müssen schaffen, so gut
+oder &mdash; so hundsfött'sch wie's hat gehen mögen ... Dabei
+wird man ein armes, gerissenes, mit allen Hunden gehetztes
+Wildkatzerl allenfalls ... und wenn man ein
+bisserl Talent hat, hernach wurschtelt sich eins am End'
+auch noch rechtzeitig in die Höh' ... aber eine Priesterin,
+vor der die Menschen sich platt auf den Bauch schmeißen,
+eine Jungfrau von Orleans wird man nicht auf die Art!«</p>
+
+<p>Mit herablassender Zärtlichkeit streichelte Jucunda die
+zierliche Kollegin. »Ich sollte meinen, Asta, Du könntest
+noch ganz zufrieden sein mit Dir &mdash; nicht wahr, Herr ...
+Gott, dieser lächerliche Name &mdash; schon wieder hab' ich ihn
+verschwitzt &mdash;«</p>
+
+<p>»Herr Dummerle!« half Asta ein, und um die schmerzlich
+verzogenen Lippen huschte schon wieder der Schalk.</p>
+
+<p>Hans Thumsers Blicke wanderten rastlos von einer
+zur andern. Welches Glück, daß er den goldenen Apfel
+des Paris nicht zu vergeben hatte!</p>
+
+<p>Und Valentin Pilgram? Und die Affäre? Schon längst
+wieder versunken ... kaum die Oberfläche des Gesprächs
+hatte sie gekräuselt, die Geschichte von dem wackren Gesellen,
+der um dieses achtzehnjährigen Weibes willen sein
+Blut, sein Schicksal aufs Spiel gesetzt hatte &mdash; als Dank
+für ein paar freundliche Worte, die sie ihm geschenkt ...</p>
+
+<p>Dieser Gedanke tauchte dann und wann flüchtig auf
+in Hans Thumsers Denken &mdash; aber die Gegenwart, die
+nie erlebte, der beiden jungen, blutjungen und doch schon
+aller Machtmittel ihres Geschlechtes kundigen Geschöpfe
+verdrängte das Bild des Korpsbruders, das heut morgen
+in so lichtem Heroenglanze gestrahlt hatte.</p>
+
+<p>»Sagen Sie, Herr Thumser, was studieren Sie eigentlich?«
+fragte Jucunda.</p>
+
+<p>»Gott, was studier' ich? Die Geheimnisse des S.&#x202f;C.
+Paukkomments &mdash; die Kunst, eine Tiefquart unter der
+steilsten Auslage hindurch in die Nasenspitze des Gegners
+zu dirigieren ...«</p>
+
+<p>»Das glaub' ich nicht ... so sehen Sie nicht aus, als
+ob das alles wäre, was Sie treiben ...«</p>
+
+<p>»Na ... meine kümmerlichen Versuche, mich mit der
+Juristerei anzufreunden, werden Sie mir doch wohl kaum
+am Gesicht ansehen können?«</p>
+
+<p>»Das nun schon gar nicht! Nein, es steckt noch etwas
+andres hinter Ihnen &mdash;«</p>
+
+<p>»Soll ich's verraten?« fiel Asta ein &mdash; »ich weiß es
+nämlich ...«</p>
+
+<p>Und mit ihrem Spitzbubenlächeln, das Köpfchen tief
+auf die weiche Schulterlinie geneigt, fing sie an zu
+rezitieren:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Ich bin ein junger Korpsstudent,<br /></span>
+<span class="i0">Die Schuhe Lack, der Rock patent,<br /></span>
+<span class="i0">Korrekt und schick an mir ist alles &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Im Portemonnaie nur &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>»Halt! Gnade!« rief Hans und legte seine Hand beschwörend
+auf Astas runden Unterarm &mdash; von dessen
+Wärme süße Schauer in seine Fingerspitzen, seine Arme,
+sein Blut hinüberströmten.</p>
+
+<p>»Ach &mdash; sieh da &mdash; Verse &mdash; und von Ihnen?« fragte
+Jucunda. »Also ein junger Schiller &mdash; oder Goethe?
+Sieh da!«</p>
+
+<p>»Ach Gott &mdash; diese elenden Knittelreime &mdash; wenn man
+nichts Besseres könnte ...«</p>
+
+<p>»Oh &mdash; das ist aber nicht hübsch von Ihnen, daß Sie
+sich meinetwegen so wenig angestrengt haben &mdash;« sagte
+Asta. »Na, was können Sie denn Besseres? Heraus damit!«</p>
+
+<p>»Jawohl, Herr Poet, eine Probe Ihrer Kunst!«</p>
+
+<p>Hans Thumser ließ sich nicht lange bitten. Er sann
+einen Augenblick nach. Dann richtete er sich unwillkürlich
+etwas auf, ein feierlicher, strahlender Ausdruck kam in
+seine Züge; und in tiefinnerer Bewegung sprach er:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Abgründe klaffen rechts und links<br /></span>
+<span class="i0">Von meinem schwindelschmalen Pfade,<br /></span>
+<span class="i0">Und hinter mir schleicht stumm die Sphinx &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Doch über mir geigt Engelsgnade.<br /></span>
+<span class="i0">Ich aber will nachtwandlerkühn<br /></span>
+<span class="i0">Den Gratgang bis ans Ende wagen,<br /></span>
+<span class="i0">Und hell durchsonnt von Morgenglühn<br /></span>
+<span class="i0">Der Harfe gold'ne Saiten schlagen!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>»Ah ... bravo ... das ist wirklich ein Gedicht ...«
+sagte Jucunda. »Sieh da &mdash; wer hätte das hinter diesem
+wandelnden Modejournal gesucht ...«</p>
+
+<p>»Oh ... seh' ich aus wie ein wandelndes Modejournal?«</p>
+
+<p>»Na, so seht Ihr Korpsstudenten doch alle aus ...«</p>
+
+<p>»Gott ja &mdash; es braucht ja nicht jeder Poet auszusehen
+wie die Jünglinge aus dem Café Größenwahn &mdash; von
+denen mir ein Berliner Korpsbruder neulich erzählt hat.«</p>
+
+<p>»Nein, da haben Sie recht,« sagte Jucunda. »Die Sorte
+kenn' ich auch &mdash; aus der Zeit unseres Gastspiels am
+Viktoriatheater ... ich denke mir, der junge Goethe ist
+hier in Leipzig auch so etwa wie ein wandelndes Modejournal
+herumgelaufen, während seine Kollegen lange fettige
+Haare und schmutzige Hemdkragen trugen ... Sieh da &mdash;
+also so schaut ein junger Dichter aus ... alte kenn' ich ja
+schon diesen oder jenen, aber das waren alles sehr verschlissene,
+sehr diplomatische, sehr nüchterne und ... ernüchternde
+Herren ... Sie sind nicht nüchtern, Herr Thumser,
+Sie laufen wie in einem ewigen Rausch herum &mdash; wenn
+Sie auch noch so schneiderelegant aufgemacht sind ...«</p>
+
+<p>»Ja, das ist wahr!« sagte Hans lebhaft. »Ewiger
+Rausch! Sie haben recht! Ich bin immer wie betrunken
+von ... von all dem Herrlichen um mich her &mdash; von
+all dem Neuen und Gewaltigen, das jede Stunde bringt!
+Ist nicht die Welt ein einziges, ungeheures Wunder? Und
+so ein armes Menschenherz viel zu klein und eng, um das
+alles zu fassen? Und wenn man's nun so erleben darf,
+die Schönheit, die Kunst, die Poesie leibhaftig vor sich zu
+sehen ... wie in Ihnen, Jucunda Buchner ...«</p>
+
+<p>Die braunen Augen hingen an den blauen, die blauen
+an den braunen &mdash; mit hochaufgerichteten Leibern saßen
+die jungen Menschen einander gegenüber, und Ströme
+des Lebens rauschten von einem zum andern.</p>
+
+<p>Jucunda fühlte sich wachsen in dieser naiven Bewunderung
+eines Menschen, in dem ihr weiblicher Instinkt
+die gärenden, schäumenden Kräfte witterte ... und Hans
+Thumsers gläubiges Märchenherz erblickte in dem weißen,
+vom Schöpfer in einer Künstlerlaune so edel ausgeformten
+Gesicht die fleischgewordene Schönheit, herabgestiegen vom
+Himmel, um ihm, dem Werdenden, die Fülle zu offenbaren ...</p>
+
+<p>Auf einmal fuhren beide herum: ein Ton, ein erstickter,
+war in ihre Versunkenheit gedrungen &mdash; ein Ton, den
+Hans schon einmal vernommen zu haben meinte: der Ton
+eines bittren, unbezwinglichen Weinens ...</p>
+
+<p>Asta Thöny hatte den Kopf in die Finger gedrückt,
+die Hände auf die Knie gepreßt ... ganz in sich zusammengekauert
+saß sie da, die zierlichen Schultern zuckten, aus
+dem Nest der schwarzen Flechten hatten sich ein paar
+glänzende Locken gelöst und rollten über den weißen
+Nacken ...</p>
+
+<p>»Aber Kind &mdash; was ist Dir nur?« fragte Jucunda und
+legte den Arm um die Hüften der Kollegin.</p>
+
+<p>Aber die schüttelte die Umschlingung ab, sprang auf,
+eilte zum Fenster hinüber und lehnte den hochgehobenen
+Arm, die tiefgesenkte Stirn an die Scheiben ...</p>
+
+<p>»Aber ... was ist Ihnen denn nur, gnädiges Fräulein?«
+stammelte Hans Thumser.</p>
+
+<p>»Ach, geht mir doch &mdash; laßt mich doch in Ruh, Ihr zwei!
+Poussiert doch miteinander, so viel Ihr Lust habt &mdash; aber
+nicht in meiner Gegenwart!«</p>
+
+<p>»Aber Kind!« sagte Jucunda, stand auf, sah Hans an
+mit einem Blick, der für die Kollegin um wohlwollende
+Nachsicht zu bitten schien, wie für ein törichtes, verzogenes
+Kind, und trat zu ihr ans Fenster.</p>
+
+<p>»Ach, gehen Sie doch, Buchner &mdash; lassen Sie mich!
+Es ist ja immer dieselbe Geschichte! Alles müssen Sie
+für sich haben, alles belegen Sie mit Beschlag &mdash; alles
+muß zu Ihren Füßen liegen, keiner andern gönnen Sie
+was! Den Jungen da, den hab' ich nun entdeckt &mdash; und
+kaum hab' ich ihn eingeladen, schon sind Sie da, als wenn
+Sie's gewittert hätten &mdash; und gleich geht's los, das alte
+Spiel &mdash; nur Jucunda Buchner redet, man sieht nur sie,
+man hört nur sie, man vergafft sich nur in sie, nichts
+existiert auf Gottes weiter Welt, nichts und gar nichts,
+als einzig und immer wieder Jucunda Buchner!«</p>
+
+<p>»Herr Thumser, ich bitte Sie um Ihr unparteiisches
+Zeugnis!« sagte Jucunda ruhig, ganz beherrschte Weltdame
+&mdash; »ist das nun gerecht, wie diese Dame mich behandelt?
+Habe ich auch nur den geringsten Versuch gemacht,
+Sie &mdash; wie hat sie gesagt? &mdash; mit Beschlag zu belegen?
+Haben wir nicht vollkommen harmlos geplaudert alle
+drei? Und auf einmal aus heitrem Himmel diese Explosion?
+Habe ich das verdient, Herr Thumser? Bitte,
+sprechen Sie.«</p>
+
+<p>In tödlichster Verlegenheit hatte Hans Thumser diesen
+Ausbruch, dieses Zwiegespräch der Kolleginnen über sich
+ergehen lassen. Er suchte vergebens nach der rechten
+Antwort auf Jucundas Frage.</p>
+
+<p>»Gnädiges Fräulein ...« stammelte er zuletzt, »verzeihen
+Sie, wenn ich auf Ihre Frage nicht antworte. Wir
+sind beide Fräulein Thönys Gäste ... Ich bin untröstlich,
+daß ich Ihr Mißfallen erregt habe, Fräulein Thöny ...
+ich darf Ihnen zwar versichern, daß es keineswegs meine
+Absicht war, Sie irgendwie zu ... wie soll ich sagen?
+... zu vernachlässigen ... Wenn ich dennoch ... es
+an der schuldigen Rücksicht habe fehlen lassen &mdash; so bitte
+ich tausendmal um Entschuldigung ...«</p>
+
+<p>Asta Thöny antwortete nicht. Sie stand noch immer
+am Fenster ... der Schein der Straßenlaternen von
+drunten umrandete ihre dunkle Silhouette mit einem
+silbernen Streif &mdash; den weißen Batist, den zarten Flaum
+des Armes, die Flimmerlöckchen des schwarzen Haars.
+Wie das Kabinettstück eines der holländischen Kleinmeister
+sah das aus.</p>
+
+<p>Jucunda und Hans blickten einander an &mdash; der Jüngling
+in ratloser Befangenheit, das Mädchen gelangweilt,
+mit verdrossenem Achselzucken ...</p>
+
+<p>In diesem Augenblick erklang draußen eine heftige,
+erregte Stimme, die Jucunda auffahren machte:</p>
+
+<p>»Na, Gott sei Dank und Lob &mdash; endlich also! G'sucht
+hab' ich das Mädchen durch die halbe Stadt ... nee so
+was, nee so was!«</p>
+
+<p>Die Tür sprang auf, und eine massive Frauengestalt
+füllte den Rahmen &mdash; Frau Wehe verschwand fast ganz
+hinter dem roten, schwitzenden Gesicht, das von den Samtschleifen,
+den Seidenbändern eines schwarzen Kapothutes
+eingesäumt war &mdash; hinter den mächtigen Schultern unterm
+perlbesetzten Samtcape ...</p>
+
+<p>»Jucunda &mdash; endlich ... Wenn Du wüßtest, was ich
+hab' müssen aussteh'n diesen Nachmittag Dir zuliebe ...
+Daß mich der Schlag nicht hat gerührt, das is mir ä
+blaues Wunder ...«</p>
+
+<p>»Mutter &mdash; Du?« sagte Jucunda langsam und ungnädig.
+Sie empfand dunkel, daß diese Erscheinung in
+schroffem Widerspruch stand zu dem mystischen Glanz, der,
+sie wußte es, von ihr ausging, wenn sie wollte, und wenn
+der Glückliche, der in diesem Glanze stand, die nötige
+Naivität besaß.</p>
+
+<p>»Was ist denn passiert? Darf ich zunächst bekannt
+machen? Meine Kollegin Fräulein Asta Thöny &mdash; Herr
+Studiosus &mdash; na wie war's doch noch? Dummser, nicht
+wahr?«</p>
+
+<p>»Thumser,« sagte Hans.</p>
+
+<p>»&mdash; meine Mutter, Frau Rat Buchner. Also was
+steht Dir zu Diensten, Mama?«</p>
+
+<p>»Nu nee &mdash; ich weeß nich recht, ich mecht wohl mal e
+Wertchen mir Dir alleene sprech'n, Jucunda ... Entschuldigen
+Se nur, meine Herrschaft'n &mdash; aber kannste nich
+e bißchen mit mir uff de Straße 'nunter kommen, Kind?«</p>
+
+<p>»O bitte, gnädige Frau, wenn Sie mit Ihrem Fräulein
+Tochter etwas unter vier Augen zu besprechen haben« &mdash;
+fiel Hans Thumser ein &mdash; »meine Stube ist nebenan, die
+steht Ihnen mit Vergnügen zur Verfügung &mdash; darf ich
+Mutter Ach &mdash; Frau Wehe, wollt' ich sagen, darf ich ihr
+Auftrag geben, daß sie Licht macht?«</p>
+
+<p>Jucunda dankte mit einem Lächeln, kühl und hoheitsvoll,
+wie nie zuvor, als gälte es, den etwas befremdlichen
+Eindruck, den das Erscheinen ihrer Mutter gemacht, durch
+doppelt königliches Wesen wettzumachen. Und Hans und
+Asta blieben allein zurück.</p>
+
+<p>Stumm war's im Zimmer, während jenseits der Tür,
+jenseits der beiden Kleiderschränke, die sie hüben und
+drüben verbarrikadierten, ein erregtes Flüstern anhob.
+In weißen Schwaden lag der Zigarettenqualm über dem
+Tisch, wob um die Hängelampe, ward von Wärmestrudeln
+in ihren Schirm hineingesogen und stieg um ihren Zylinder
+steil wie aus einem Schlot empor.</p>
+
+<p>Ein weiches, brüderliches Gefühl zog Hans zu dem
+Mädchen hin, das noch immer schweigend am Fenster
+stand, vom Laternenlicht umsilbert, von stoßweis zuckendem
+Schluchzen den schlanken Leib geschüttelt.</p>
+
+<p>»Fräulein Asta!« sagte er und trat ein paar Schritte
+auf sie zu; das Herz schlug ihm bis in den Hals. Nun
+war es da: er war zum erstenmal in seinem Leben mit
+einem Mädchen allein.</p>
+
+<p>Sie antwortete nicht, nur heftiger flossen ihre Tränen
+beim Klang der gedämpften Stimme, die so erregt, so
+gütig ihren Namen sprach.</p>
+
+<p>»Fräulein Asta,« sagte Hans noch einmal, »so wahr
+ich lebe, ich habe nicht daran gedacht, daß mein Benehmen
+Sie kränken könnte. Und Sie müssen mir's glauben,
+wenn ich Ihnen sage: es war reiner Zufall, daß ich ...
+daß ich mich mehrmals hintereinander mit meinem Gespräch
+nur an Fräulein Buchner gewendet habe &mdash; ich
+weiß wohl, daß ich gesellschaftlich noch nicht sehr gewandt
+bin ... aber ... Fräulein Buchner ... Ihnen ... vorziehen
+... daran hab' ich ja mit keinem Sterbensgedanken
+gedacht ... ich wäre doch auch ein Narr ... Sie ... Sie
+sind ja so ein ... so ein wundervolles Geschöpf ... Sie
+ahnen ja gar nicht, wie ich ... hingerissen gewesen bin ...
+gestern, wie ich Sie auf der Bühne sah ...«</p>
+
+<p>Er lauschte, ob eine Antwort käme ... aber regungslos
+stand das Mädchen, Arm und Stirn an die Scheiben
+gepreßt, die von der Wärme ihrer Glieder mit einem
+feinen Nebel beschlugen. Und wie Hans sich zage, Schritt
+um Schritt, der Fensternische näher schob, fiel sein Blick
+auf die Sophienstraße: drüben, vorm Eingang des
+Carolatheaters, drängte sich schon wieder, noch weit
+über eine Stunde vor Beginn der Vorstellung, ein dichter
+Menschenhauf, des Augenblicks wartend, da die Kasse sich
+zur ersten Wiederholung der »Jungfrau« öffnen würde.
+Noch nicht vierundzwanzig Stunden waren vergangen,
+seit er Asta Thöny zum ersten Male gesehen ...</p>
+
+<p>Aber ihre Tränen waren versiegt: sie harrte, ohne sich
+zu rühren ... es war, als lausche sie ... als lechze sie,
+mehr zu hören ... mehr ...</p>
+
+<p>Hans Thumser fühlte, wie alle seine Glieder nur ein
+einziges banges, verlangendes Beben wurden ... auch
+seine Stimme bebte heftig, als er weitersprach, ohne zu
+wissen, was er sagte ...</p>
+
+<p>»Asta ... ich habe noch nie ... noch nie ein Mädchen
+berührt ... ich bin ein ganz dummer, dummer Bub ...
+Sie ... Sie müssen Geduld mit mir haben ... Wenn
+Sie ahnen könnten, wie mir zumut ist ... wie ich mich
+sehne ... ach, wie namenlos ich mich sehne ... ach, und
+ich hab' mich ja schon so gesehnt ... seit ich Sie gesehen
+hab' da drüben ... in Ihrer Schönheit ... und heut nacht,
+o Mädchen, wie haben meine Gedanken, meine Träume
+sich an Dich gedrängt ... hast Du das denn nicht gefühlt?
+nicht geahnt? Seien Sie doch nicht so stumm, sagen Sie
+mir doch, daß Sie mir verziehen haben ... mir ist ja so
+bang, so namenlos bang ist mir nach Dir ...«</p>
+
+<p>Da wandte das junge Weib sich um ... Ihre duftenden
+Arme warf sie dem Knaben um den Nacken und überflutete
+ihm die Lippen, die Augen, den Hals mit dem
+schäumenden Strom ihrer Küsse.</p>
+
+<p class="start-chapA space-above">Also, Jucunda, Du weeßt nu, was die Glocke geschlagen
+hat ...« beendete drüben in Hans Thumsers
+Studentenbudchen Mutter Doris ihren Bericht über die
+schwerste Stunde ihres Lebens &mdash; wie sie den Nachmittagsbesuch
+des Herrn vom Nassau-Dillingenschen Hofe genannt
+hatte. Sie thronte auf dem Kanapee unter den gekreuzten
+durchbohrten Mützen, den staubigen, verblichenen Bändern
+in ihrer ganzen schnaubenden, dampfenden Leiblichkeit
+... Die Korsettstangen knackten unter den keuchenden
+Atemstößen der eingepreßten Lungen, die fleischige Hand
+wedelte ohn' Unterlaß mit dem feuchten Taschentuch den
+beperlten Hängebacken Erfrischung zu. Jucunda saß
+stumm in einem der geblümten Fauteuils, mit zusammengepreßten
+Lippen, das stolze Haupt ein wenig zurückgeneigt,
+die blauen Augen starr zur Decke gerichtet. Sie
+schwieg auch, als die Mutter ihren Bericht geendet und erwartungsvoll
+an den Zügen der Tochter hing.</p>
+
+<p>»Nu rede Du aber gefälligst ooch en Ton!« polterte
+Mutter Doris schließlich heraus. »Ich mein', ich hätte
+mich nu genügend abgerackert für Dich!«</p>
+
+<p>»Na, wenn Du meine Meinung denn wirklich hören
+willst, Mutter: Du scheinst mir eine märchenhafte Dummheit
+begangen zu haben.«</p>
+
+<p>»I herrjemersch nee ... nu wird mer'sch aber doch zu
+tolle! Und was wär' das fier ä Dummheit, wenn's gefällig
+wär?«</p>
+
+<p>»Wie Du den Brief hast herausgeben können, Mutter,
+das versteh ich einfach nicht ... das Geld, mag sein,
+obgleich mir's schon lieber wäre, ich hätte einen Postquittungsschein
+in Händen ... aber den Brief &mdash; unglaublich
+einfach!«</p>
+
+<p>Sie sprang heftig auf, stieß den Fauteuil mit einem
+Ruck zur Seite, daß er in seinen Grundfesten krachte, und
+rannte zum Fenster &mdash; starrte hinaus, wie drüben vorher
+die zierliche Kollegin ...</p>
+
+<p>Ach ... da drunten drängten sich die Massen &mdash; eben
+war der Kassenflur geöffnet worden &mdash; stießen sich,
+balgten, prügelten sich um den Vorrang ... wem galt
+das alles als ihr? Die alle da unten, hatten die einen
+anderen Gedanken als &mdash; Jucunda Buchner?</p>
+
+<p>Und nach der Tortur dieser letzten Viertelstunde, nach
+all dem Ekel, der Zukunftsbangigkeit, die in ihr aufgequollen
+war beim Bericht der Mutter &mdash; kam da auf
+einmal eine wunderbare Gelassenheit über das Mädchen.
+Pah &mdash; was konnte ihr geschehen?!</p>
+
+<p>Inzwischen hatte Mutter Doris sich von ihrem ersten
+Schreck erholt.</p>
+
+<p>»Nee, weeßte, Jucunda, ich versteh Dich nich, wahrhaft'gen
+Gott, ich versteh Dich nich. Erscht stellst Du Dich
+an wer weeß wie sähre, daß De so än Brief kriegst, un ...
+un das andre ... un nu kommt der, der Dir's geschickt
+hat, und holt sich's wieder ab &mdash; un nu is ooch wieder
+nicht recht &mdash; &mdash; un ich hab' Dir doch bloß die scheißliche
+Geschichte woll'n vom Halse halten ... nee, nee, so was!
+Das hätt' ich wissen sollen, dann hätt' ich dem dicknäsigen
+Herrn ganz einfach gesagt: kommen Se gefälligst wieder,
+wenn Fräulein Jucunda Buchner derheeme is &mdash; mich
+geht's nischt an!«</p>
+
+<p>»Hättest Du das man getan, Mutter ... Ich hätte
+dem Herrn schon beigebracht, wie man mit Jucunda
+Buchner spricht &mdash; das kannst mir glauben! Ach &mdash; aber
+es ist ja alles egal ...«</p>
+
+<p>Sie reckte sich ... ein harter Glanz kam in ihre Augen
+... Noch eine knappe Stunde, und die Rampenlichter
+flammten auf, und sie tauchte hinein in ihren blendenden
+Schimmer &mdash; und von jenseits, aus dem dunkel gähnenden
+Zuschauerraum, dampfte die Vergötterung der anderthalb
+Tausend ihr entgegen ...</p>
+
+<p>»Was wirscht De denn nu anfangen?« fragte Mutter
+Doris ganz halblaut. »Wo der Herr Major doch verlangt
+hat, Du sollst machen, daß der ... der Herr Korpsstudent
+seine ... seine Aufforderung zum Duell ... daß er die
+zurück tut nähm'!«</p>
+
+<p>Jucunda versank in einen Wirbel der Gedanken. Das
+Bild des jungen Gesellen stieg in ihr auf, der so viel für
+sie getan ... aus einem ritterlichen Empfinden heraus,
+das so einfach, so natürlich war, daß Jucunda es wohl
+verstehen mußte, würdigen konnte in seiner schlichten,
+starken Mannhaftigkeit ... Und nun sollte sie selber von
+ihm verlangen, daß er den kühnen, verhängnisvollen
+Schritt, den er zu ihrem Schutze getan &mdash; rückwärts tun
+sollte ... Sie war in einer Luft groß geworden, in die
+immerfort, aus den Stübchen der Mieter ihrer Eltern in
+die gute Stube da hinten mit den grünen Plüschmöbeln,
+in die Träume ihres eigenen Mädchenkämmerleins
+hinein &mdash; die romantischen Vorstellungen und Begriffe
+von korpsstudentischem Schneid, von Burschenehre hineingeweht
+waren ...</p>
+
+<p>O sie wußte ganz genau, was es für den weiland
+Ersten Chargierten der Franconia bedeutete, aus dem
+Korps auszutreten, um einen Prinzen, der an offiziellen
+Kneipabenden die grüne Mütze anlegte, zum Säbelduell
+fordern zu können ... und was es nun erst bedeuten
+mußte, wenn sie ihm zumutete, seine Forderung zurückzunehmen,
+ohne daß eine Sühne erfolgt war ... ohne
+selbst eine formelle Bitte um Entschuldigung ... denn als
+eine solche konnte doch der Besuch des Majors, seine unverblümten
+Drohungen, die Erlistung des Briefes und
+des Geldes aus der Hand der hilf- und ahnungslosen
+Mutter unmöglich aufgefaßt werden ...</p>
+
+<p>Immerhin &mdash; hier war der Ansatzpunkt. Die Sache
+mußte dem Studenten so dargestellt werden, als habe der
+Major den Auftrag gehabt, eine Bitte um Verzeihung im
+eigenen Namen und im Namen seines prinzlichen Zöglings
+zu überbringen ... als ob er diese Bitte auch tatsächlich
+überbracht habe ... und wenn sie, die Beleidigte, sich
+mit dieser Genugtuung einverstanden erklärte, dann war
+ja doch wohl für ihren Beschützer kein vernünftiger Grund
+mehr, seine Forderung aufrecht zu erhalten ... und alles
+in schönster Ordnung ...</p>
+
+<p>Alles in Ordnung? Nein ... Jucunda war ein viel
+zu klarer Kopf, als daß sie die Folgen des Geschehenen
+nicht zu Ende gedacht hätte ...</p>
+
+<p>Also er zieht seine Forderung zurück, und dann? Nun
+dann ist er, auf gut deutsch gesagt, der unrettbar Blamierte
+... Er ist aus dem Korps ausgetreten und hat
+ein Mitglied des Korps gefordert &mdash; die Forderung ist
+zwar nicht zum Austrag gekommen, aber die unsühnbare
+Feindschaft zwischen den beiden jungen Männern besteht
+&mdash; sie können nicht mehr auf der Kneipe zusammensitzen,
+nicht mehr die gleichen Farben tragen ... Und da das
+Korps seiner ganzen Tradition nach, um seiner Beziehungen
+zu Hof, Behörden, Gesellschaft willen den
+Prinzen nicht fallen lassen kann, so wird eben Pilgram
+dran glauben müssen ... Er hat sein Band verloren, ist
+ausgeschieden aus dem Kreise der Freunde seiner Jugend
+... All das tapfere Ringen, Mensuren, Chargen,
+verbummelte Semester umsonst ...</p>
+
+<p>Das alles wußte Jucunda und wurde sich im angestrengten
+Nachsinnen weniger Minuten über all diese
+Folgen klar, mitleidslos gegen sich und ihn ...</p>
+
+<p>Und wieder meinte sie sein hartes, herrisches Gesicht
+zu sehen, wie es weich, selbstlos, opferfreudig aufglühte
+um ihrer Ehre willen ...</p>
+
+<p>»Sie haben weinen müssen &mdash; &mdash; &mdash; das sollen sie mir
+bezahlen, die zwei ...«</p>
+
+<p>Wie gut, wie tapfer, wie ... heldenhaft seine Worte,
+seine Tat ... und nun?!</p>
+
+<p>Hieß das nicht ... ihn schmählich verleugnen ...
+wenn sie nun zurückwich, sie ... und dadurch seiner Tat
+den ritterlichen Glanz raubte ... sie zu einer Narrensposse,
+zu einem Dummenjungenstreich erniedrigte?</p>
+
+<p>Aber ... ihre eigene Zukunft? Ihre Karriere? War
+das nicht alles, alles das, was der Major ihrer Mutter
+angedeutet hatte ... waren das nicht alles Wahrheiten?!</p>
+
+<p>Einen Augenblick lang war sie geneigt, das alles in
+den Wind zu schlagen ... Pah ... Engagement in
+Frage gestellt ... Bericht gegen sie beim Hof in Meiningen
+... War sie nicht Jucunda Buchner? Brauchte
+sie die Hoftheater? Oder brauchten die Hoftheater &mdash; sie?!</p>
+
+<p>Ach nein ... So stand es doch nicht ... Man war
+nicht immer achtzehn Jahre, nicht immer eine neue Entdeckung,
+eine Sensation, eine Mode ... Jucunda wußte
+schon viel, viel zu viel von den brutalen Gesetzen der
+Macht, der Laune, des Glücks, des Wechsels, welche die
+schillernde Welt regierten, in der es ihr bislang so herrlich,
+so unverdient und unfaßbar glänzend gegangen ...
+sie dachte an ihre alte, verknitterte Garderobiere, die
+auch einmal eine vergötterte junge Liebhaberin gewesen
+war &mdash; freilich nur am Stadttheater in Stallupönen,
+aber je höher der Anstieg, um so grimmiger die Gefahr,
+um so steiler und zerschmetternder der Sturz ... Nein,
+beim Theater konnte sich niemand erlauben, nur auf sein
+Talent, seine eigene Kraft und Persönlichkeit zu bauen
+und die Gunst der Mächtigen, der Brotgeber leichtsinnig
+zu verscherzen ... Niemand konnte sich das erlauben,
+auch Jucunda Buchner nicht ...</p>
+
+<p>Er ... oder ich &mdash; &mdash; so stellte sich schließlich die
+Frage ... und waren da die Chancen nicht doch zu ungleich?
+Schließlich ... ersparte sie nicht auch ihm durch
+ihren Entschluß, ihn fallen zu lassen, das größere Opfer,
+das noch ausstand? Das Risiko eines, nein zweier Zweikämpfe
+mit schweren Waffen, unter den schärfsten Bedingungen?
+Ersparte sie ihm nicht den definitiven, den
+viel größeren, gar nicht wieder gut zu machenden
+Skandal?!</p>
+
+<p>Eine ... Enttäuschung ... eine schmerzliche Wunde
+für sein jugendlich enthusiastisches Empfinden bedeutete
+es ihm, wenn sie sich zurückzog ... mehr doch nicht ...
+Für sie aber stand ihre ganze Zukunft, ihre Zukunft als
+Künstlerin wie ihre materielle Existenz auf dem Spiele ...</p>
+
+<p>Gab es da eine Wahl?</p>
+
+<p>Und letzten, allerletzten Endes: Hatte er das alles nicht
+sich selber zuzuschreiben? Hatte sie ihn um seinen Schutz
+&mdash; gebeten?! Nein, das hatte sie nicht getan, mit keinem
+Wort, keinem Blick ... Er hatte sich zum Verteidiger
+ihrer Ehre aufgeworfen ... Hatte sich eigentlich, wenn
+man es einmal mit einem etwas scharfen Ausdruck bezeichnen
+wollte, aufgedrängt ... Und hatte sie nicht alles
+Mögliche versucht, ihn von diesem unerbetenen Opfer abzuhalten?!
+Aber er war ja fortgestürmt, als ging's um
+seine eigene Ehre, um sein Leben ...</p>
+
+<p>Jucunda stand am Fenster, noch immer regungslos.
+Und hinüber, herüber schossen die Gedanken, anklagend
+und entschuldigend ...</p>
+
+<p>Mutter Doris saß ganz still und gedrückt in ihrem
+Kanapee ... Daß sie eine furchtbare Dummheit gemacht,
+als sie das verhängnisvolle Briefchen aus der Hand gegeben
+... das war ihr nun völlig klar ... Ihre spießbürgerliche
+Verschlagenheit sagte ihr ja nun selber, daß
+man aus solchen Beweisstücken Kapital hätte schlagen
+müssen ... Selbstverständlich nicht im materiellen Sinne
+&mdash; o nein, so etwas hatte man ja gottlob nicht nötig ...
+Aber man kann doch nie wissen, wozu man ein solches
+Zettelchen einmal gebrauchen kann ... So etwas läßt
+man sich doch nicht ganz umsonst aus den Fingern
+drehen ...</p>
+
+<p>Und dies Bewußtsein: die einzige Waffe, die ihre
+Tochter besaß, blöde, gedankenlos aus der Hand gegeben
+zu haben &mdash; das machte sie klein und stumm ...</p>
+
+<p>Jucunda schloß unterdessen ab. Ganz kühl, ganz klar
+hatte sie alles abgewogen. Nein, es ging nicht ... Sie
+konnte sich nicht, wider ihre innersten Lebensinteressen,
+von dem Don-Quichotte-Streich des jungen Burschen durch
+dick und dünn fortschleppen lassen ... Losketten mußte
+sie das Schiff ihres Glücks von der toll und steuerlos
+dahinrasenden Fahrt des überheizten Dampfers, der sie so
+mir nichts dir nichts ins Schlepptau genommen ...</p>
+
+<p>Und doch ... und doch ...</p>
+
+<p>'Sie haben weinen müssen ... Das sollen sie mir bezahlen
+... die zwei ...'</p>
+
+<p>Wenn man &mdash; diesen Ton, diesen Blick nur los werden
+könnte ...</p>
+
+<p>Pah ... Es <em class="gesperrt">mußte</em> sein ...</p>
+
+<p>Und schließlich und endlich &mdash; wer war Herr Pilgram?!
+Ein gleichgültiger junger Mensch, von dem sie nichts
+wußte, als daß er sie einmal sehr grob in ihrer Arbeit
+gestört ... sich für diese Grobheit dann freilich sehr
+manierlich entschuldigt ... und eine Abendstunde mit ihr
+geplaudert hatte ... in der sie, das wußte sie ganz genau,
+ihm nicht die leiseste Andeutung einer Sympathie gemacht
+hatte, die sie ja auch nie empfunden hatte ... Denn
+schließlich, sie machte sich ja doch nicht das mindeste aus
+ihm ... Er war ein kreuzbraver, aber doch durchaus
+alltäglicher Geselle ... Ja, wenn noch etwas in ihrem
+Herzen sich geregt hätte bei dem Gedanken an ihn ...
+die Ahnung von etwas Besonderem ... wie sie es eben,
+vor einer halben Stunde, so deutlich gefühlt hatte im Gespräch
+mit ... jenem andern grünbemützten Studenten,
+in dessen Zimmer sie jetzt stand ... der so schöne Verse
+machen konnte und so seltsam verhaltene Worte reden...
+in dem irgend etwas gärte und brodelte, das ihrem
+eigenen Wesen und Wollen auf eine geheimnisvolle Weise
+verwandt war ...</p>
+
+<p>Nein ... Herr Pilgram war ... irgendein Herr
+Pilgram ... war nichts und niemand ... Herr Pilgram
+hatte sich in ihr Leben eingedrängt ... man würde
+ihn mit möglichster Schonung, doch unmißverständlich
+wieder hinauskomplimentieren müssen ...</p>
+
+<p>»Es ist gut, Mutter ...« sagte Jucunda und wandte
+sich ruhig um. »Ich will Herrn Pilgram schreiben ...
+jetzt gleich ... er soll seine Forderung zurückziehen ...
+Den Brief kannst Du ihm hernach &mdash; wenn wir aus dem
+Theater nach Hause kommen &mdash; dann kannst Du ihm den
+Brief auf die Stube legen ... Hoffentlich ist er nicht zu
+Hause, wenn wir kommen &mdash; sonst &mdash; na sonst mußt Du
+ihm den Brief eben geben.«</p>
+
+<p>»Na, das is verninft'g von Dir, Mädchen!« seufzte die
+stattliche Frau und atmete tief auf, daß die Korsettstangen
+knackten. »Hier, mache nur schnell ... Da is ja der
+Schreibtisch, und Briefpapier liegt ooch genug herum &mdash;
+gleich setz' Dich und schreib'! Kannst Dich ja hernach bei
+dem Herrn entschuld'gen ...«</p>
+
+<p>Jucunda ging zum Schreibtisch des Studenten hinüber,
+fand Briefbogen, entdeckte aber, daß sie sämtlich
+oben in der linken Ecke den Zirkel des Korps Franconia
+und darunter das Monogramm des Eigentümers trugen.
+Da drehte sie kurz entschlossen einen Bogen herum und
+schrieb auf die Rückseite:</p>
+
+<p class="right" style="margin-right : 1em">
+»Leipzig, den 31. Oktober 1888.
+</p>
+<p class="center">
+Sehr geehrter Herr!<br />
+</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>Ihr ritterliches Eintreten für mich hat den gewünschten
+Erfolg gehabt: die beiden Herren, die mir
+diesen abscheulichen Brief geschickt haben, haben mündlich
+bei mir um Entschuldigung gebeten. Ich bin über
+diese Lösung hocherfreut und danke Ihnen innigst für
+Ihren gütigen Beistand, ich weiß wohl, daß Sie mir
+ein großes Opfer gebracht haben. Nun ist der Zweck
+Ihres Handelns erreicht. Bitte tun Sie mir nun auch
+den Gefallen und nehmen Sie so bald als möglich Ihre
+Herausforderung zum Duell zurück, damit nicht noch
+weitere Unannehmlichkeiten entstehen.</p>
+
+<p>Ich bin mit der nochmaligen Versicherung meines
+aufrichtigen Dankes</p></blockquote>
+
+<p class="right" style="margin-right:7em">
+Ihre ganz ergebene
+</p>
+<p class="right" style="margin-right:1em">
+J.&#x202f;B.«
+</p>
+
+<p>In einem Zuge, ohne Besinnen, hatte Jucunda geschrieben:
+Nun überlas sie die Zeilen und wunderte sich,
+wie klar und einfach und selbstverständlich das alles klang.
+Und darum wunderte sie sich noch viel mehr, weshalb ihr
+nur so übel dabei zumute war. Sie hatte ja doch recht,
+tausendmal recht ... Es war eine so klare vernünftige
+Lösung &mdash; es konnte ja doch schlechterdings nicht anders
+gemacht werden ...</p>
+
+<p>'Sie haben weinen müssen ... Das sollen sie mir bezahlen,
+die zwei ...'</p>
+
+<p>Das war ja doch eigentlich ein Unsinn ... Was
+gingen ihn, den fremden jungen Mann, ihre Tränen an?
+Was berechtigte ihn, für diese Tränen Sühne zu fordern?
+Da war irgend etwas, das stimmte nicht ... ein Fehler,
+ein Gedankenfehler ... Und aus diesem Fehler war alles
+entstanden ...</p>
+
+<p>Dennoch ... Sie fühlte es ganz deutlich: Um das
+törichte, unbesonnene Handeln des Jünglings war etwas
+Leuchtendes, etwas, das den Taten des Mädchens von
+Orleans verwandt war ... Und es war wie in Talbots
+Worten, des eisigen Vernünftlers, dessen hundeschnäuzige
+Kriegsmathematik vor dem frommen Wahn der Jungfrau
+zusammenbrach:</p>
+
+<p class="quote">
+»Unsinn, du siegst ... und ich muß untergehn ...«<br />
+</p>
+
+<p>Und während Jucunda Buchner den Brief kuvertierte
+und die Adresse darauf schrieb:</p>
+
+<p class="center">»Herrn Stud. Pilgram«</p>
+
+<p>&mdash; seinen Vornamen entsann sie sich auf der Visitenkarte
+gelesen zu haben, die er an seine Tür genagelt hatte, aber
+er wollte ihr nicht einfallen &mdash; als sie so schrieb, da
+empfand sie es ganz deutlich, ganz unabweisbar, daß sein
+Tun gut und groß gewesen war ... und ihres frostig und
+häßlich und gemein ...</p>
+
+<p>»Da, Mutter, steck den Brief in Deinen Pompadour ...
+und jetzt« &mdash; sie zog die Uhr &mdash; »sieben bereits!« Donnerwetter!
+Jetzt revidierte der Inspizient drüben schon die
+Garderoben! Teufel auch &mdash; höchste Zeit ins Theater &mdash;
+»Vorwärts, Mutter!«</p>
+
+<p>»Willste nich Deine Kollegin daneben abholen?«</p>
+
+<p>»Na &mdash; die wird wohl schon hinüber sein &mdash; aber ich
+kann ja mal nachsehen ...«</p>
+
+<p>Sie klopfte an die Tür des Nachbarstübchens, und da
+keine Antwort kam, klinkte sie auf. Die kleine Kammer
+lag dunkel und still. Nur durch die Fenster fiel der Schein
+der Gaslaternen von der Straße durch die Gardinen,
+malte ein paar große Rechtecke an die weißgetünchte Decke.
+Also Asta Thöny warf sich drüben bereits wieder in den
+steiflinigen Brokat der Agnes Sorel ...</p>
+
+<p>»Sie ist schon hinüber &mdash; und kommt doch erst im
+ersten Akt &mdash; und ich muß schon zum Prolog 'raus ...
+Glücklicherweise nur das Bauernkleid ... Vorwärts,
+Mutter ...«</p>
+
+<p>Das hatte sie freilich nicht sehen können oder wenigstens
+nicht gesehen in der Finsternis, daß auf dem Sofa noch
+einsam und regungslos der junge Student gesessen hatte,
+das Poetlein, um dessen »schwindelschmalen Pfad Abgründe
+klafften rechts und links ...«</p>
+
+<p>Daß er noch immer da saß, seitdem das Mädchen sich
+aus seinen Armen gerissen ... Alle Glieder und das
+Herz wie mit Blei beschwert vor trunkener Zärtlichkeit,
+sein ganzes Wesen durchschauert von Erfüllungsglück ...</p>
+
+<p>Jucunda schritt über den Hof, der mit Dekorationsstücken
+vollgepfropft war, die zum Schutze gegen den
+Regen mit Wachsleinwand verhangen waren &mdash; stolperte
+über die Beine des ausgestopften schwarzen Pferdes,
+dessen Leichnam im dritten Akt so überzeugend die Stimmung
+des blutgedüngten Schlachtfeldes heraufbeschwor &mdash;
+nahm dies Stolpern für ein gutes Omen, hastete weiter,
+so schnell, daß Mutter Doris in weitem Abstande hinter
+ihr drein schnaufte ... Und als sie nun das schmale
+Pförtchen aus Eisenblech öffnete, das zum Bühnenraum
+führte, als ihr der vertraute Dunst von Schminke, wirbelndem
+Staub und Menschenbrodem entgegenschlug, als
+sie den schlechterleuchteten Korridor, den halbdunklen
+Bühnenraum kreuzte, auf dem die Arbeiter eben den
+Prospekt zum Prolog anbohrten ... als sie dann die
+hallende Steintreppe hinanflog, in ihr Kämmerchen schoß,
+wo die zerknitterte Krausen herzklopfend ihrer harrte &mdash;
+(»Ach Gottchen nee, gnäd'ges Fräulein, daß Se nu endlich
+kommen! Der Inspizient und der Herr Oberregisseur
+sind schon sechsmal mind'stens dagewäsen nach Ihn'
+fragen!«) als ihr weißes Gewand, als das blanke Eisen
+ihrer Rüstung, ihres Helmes aufgleißten im hellen Licht
+der Spiegellampen &mdash;</p>
+
+<p>&mdash; da fühlte sie, wie alles, alles abfiel, was dieser
+Tag ihr Fremdes, Verworrenes, unheimlich Störendes
+gebracht. Fühlte, daß sie noch dieselbe war wie gestern
+abend um diese Stunde &mdash; dieselbe, die sie immer sein
+würde, so oft der Rausch des Komödienspiels, des Im-Spiele-Gestaltens
+über sie kam.</p>
+
+<p>Sie riß die Taille ihres Straßenkleides ab, reckte die
+herrlichen Arme, schmetterte durch den Raum, daß die
+Wände wankten:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Ins Kriegsgewühl hinein will es mich reißen,<br /></span>
+<span class="i0">Es treibt mich fort mit Sturmes Ungestüm,<br /></span>
+<span class="i0">Den Feldruf hör' ich mächtig zu mir dringen,<br /></span>
+<span class="i0">Das Schlachtroß steigt, und die Trompeten klingen!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Ja, es parierte, das erzene Organ ... vor dem sogleich
+die anderthalb Tausend da drunten erzittern würden ...
+Ja, sie war es noch, um derentwillen die alle da draußen
+vor allem doch gekommen waren &mdash; die Heldin des Stückes,
+die Heldin dieses Abends ...</p>
+
+<p>Kaum stand sie im Bäuerinnengewand, die braunen
+Haare zu schlichtem Flechtenbau um das runde Haupt
+gelegt, da trat Franz Burg ein, im ledernen Koller bereits,
+doch noch ohne das rasselnde Blech drüber, noch ohne
+Maske:</p>
+
+<p>»Nun, Langbeinchen? Das kennt man ja gar nicht
+von Ihnen, daß Sie mal zu spät kommen! Wie ist die
+Stimmung?«</p>
+
+<p>»Prima prima!« lachte sie und leuchtete den Freund an.</p>
+
+<p>»Nichts Neues in der Affäre?« fragte er leise.</p>
+
+<p>»Nichts von Belang ... Ich denke, es renkt sich ein.«</p>
+
+<p>»Oh!« Franz Burg zog die tiefschattenden Augenbrauen
+hoch &mdash; »das wäre aber jammerschade ... Können
+Sie denn nichts dazu tun, daß die Geschichte mit dem
+nötigen Theaterdonner zum Klappen kommt?«</p>
+
+<p>»Ach ... Ich bin froh, wenn sie aus der Welt ist ...
+Ich muß freien Kopf haben, freie Arme zum Arbeiten,
+zum Schaffen ...«</p>
+
+<p>»Soll ich Ihnen mal was verraten? &mdash; Ihr Erbprinz
+ist im Theater &mdash; hat noch vor einer halben Stunde einen
+<a id="InCorr4">Levkoyen</a> geschickt und eine Loge bestellen lassen ... Da
+alles futsch war, hat der Intendant die Direktionsloge zur
+Verfügung gestellt ...«</p>
+
+<p>»Hm ... Das ist ja interessant ... Werde mir den
+jungen Herrn doch mal anschaun ...«</p>
+
+<p>»Sie kennen ihn noch gar nicht?«</p>
+
+<p>»Keine Ahnung ...«</p>
+
+<p>»Na &mdash; die Hauptsache ist: Er ist da &mdash; jedenfalls ein
+Beweis, daß man nicht ungnädig ist ... Na, die Reklame
+haben Sie verscherzt, nun halten Sie sich wenigstens den
+hochgeborenen Verehrer warm ...«</p>
+
+<p>Der Inspizient steckte den Kopf zur Tür herein:</p>
+
+<p>»Fräulein Buchner &mdash; bitte auf die Szene!«</p>
+
+<p>»Also, Langbeinchen, wieder mal: Hals- und Beinbruch!«</p>
+
+<p>»Danke, Meister!«</p>
+
+<p>Mit Wohlgefallen sah Franz Burg der weißen, stolzen
+Gestalt nach. Künstlerblut! dachte er, kennt nichts als
+sich und ihre Arbeit ... Alles andre ist Dreck ...</p>
+
+<p>Und Jucunda schritt die Treppe hinunter. Alles
+grüßte mit vertraulicher Höflichkeit, wenn sie vorüberging:
+die Friseure, die Bühnenarbeiter, die Statisten, die
+Volontäre ...</p>
+
+<p>Und in ihrer Seele schwoll die unbändige Lust des
+Schaffens. Es schwang und klang in ihr von dröhnendem
+Jambenstrom und schmelzender Trochäenklage ... »Frommer
+Stab, o hätt' ich nimmer mit dem Schwerte dich vertauscht«
+... Kaum konnte sie das Maß, die scheue, entrückte
+Gebärde für die Stimmung des Anfangs finden,
+da sie noch ein schlichtes Hirtenmädchen ist, von geheimen
+Stimmen, phantastischen Visionen geängstigt, doch ihrer
+Sendung noch ahnungsvoll unbewußt ...</p>
+
+<p>Und endlich rauschte die Gardine empor, wogte drunten
+das Gebraus, das wohlbekannte, von Zettelknistern und
+Räuspern und Zurechtrücken, klappten die Sitze der Zuspätkommenden,
+tönte das leise Zischen der Gestörten ...
+Und all dies wirre Durcheinander verebbte nach und nach,
+und die große schaurige Stille ward, in die ihrer Partner
+Verse hineinklapperten, wie eine belanglose Ouvertüre,
+ein gleichgültiger Auftakt des Augenblicks, da sie die ersten
+Worte zu sprechen haben würde ... Ach, aber wie endlos
+lang dieser Auftakt! Die kamen ja heut wohl gar nicht
+vom Fleck, der alte Thibaut, ihre Schwestern, die Bräutigame
+&mdash; biedre Chormitglieder, die heute ein paar Verse
+zu lallen hatten ...</p>
+
+<p>Gesenkten Hauptes, stumm stand das Hirtenmädchen
+im Hintergrund ... Nur zuweilen hob sie zaghaft und
+scheu die großen Augen, ließ sie von einem zum andern
+flattern, als verstände sie die Sprache ihrer nächsten
+Menschen nicht mehr ... Und aus den verträumten
+Augen Johannas d'Arc spähte Jucunda Buchners ganz
+wacher, lauernder Sinn in den Zuschauerraum, dorthin,
+wo dicht an der Rampe links die Direktionsloge lag ...
+Die Lichter blendeten abscheulich &mdash; dennoch konnte sie allmählich
+ganz vorn, matt angestrahlt vom Widerschein des
+hellen Bühnentages, zwei Gesichter erkennen: ein fahles,
+junges mit der blinkenden Scherbe im Auge &mdash; und daneben
+ein verwettertes, tiefgebräuntes mit flatterndem
+Schnurrbart ... Also das waren die zwei &mdash; »von Dillingen
+&mdash; von Gorczynski« &mdash; das waren die Schreiber
+des verhängnisvollen Briefchens &mdash; die Spender des
+Rosenturms und der ... beiden ... blauen ... Lappen ...</p>
+
+<p>Achtung jetzt! Bertrand kommt, den blinkenden Helm
+in der Hand, den »ein Bohemerweib« ihm aufgedrungen
+im Gewühl ... Gleich wird das Stichwort kommen ...
+Horch ... Die letzten Verse rannen hin:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Da war das Weib mir aus den Augen schnell &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Hinweggerissen hatte sie der Strom<br /></span>
+<span class="i0">Des Volkes, und der Helm blieb mir in Händen.«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>In diesem Augenblick versank alles, alles ... Jucunda
+Buchner versank, und nichts mehr war als Johanna von
+Orleans ... Die schoß nun wie ein Meteor aus der
+scheuen Zurückgezogenheit vor, riß dem alten Bauern den
+Helm aus der Hand:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Gebt mir den Helm!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Erschrocken fragt der Alte:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i22">»Was frommt Euch dies Gerät?<br /></span>
+<span class="i0">Das ist kein Schmuck für ein jungfräulich Haupt!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Und wie eine Fanfare jauchzt es aus der endlich entfesselten
+Brust der jungen Heldin:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Mein ist der Helm &mdash; und mir gehört er zu!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Alles &mdash; alles ist versunken &mdash; nur eines wirkt und
+wogt: der große Rausch des Schaffens ...</p>
+
+<p>Und Johanna wurde erst wieder Jucunda, als nach
+dem ersten großen Monolog die Gardine sank und gleich
+darauf, wie hinweggerissen vom Orkan des Beifalls,
+wieder emporrauschte ... als tausendstimmiger Jubelruf
+sie umbrandete ...</p>
+
+<p>Da war Jucunda wieder da &mdash; ganz wach, ganz klar ...
+Und sie neigte sich ... neigte sich zuerst mit tiefem Hofknix
+nach der Direktionsloge.</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>9.</h2>
+
+<p class="start-chapA">Als Herr Borgmann Neo-Borussiae das Hotel Hauffe
+verließ und verloren, ziellos nach dem Augustusplatz
+hinüberschlenderte, kam er sich entsetzlich dumm vor. Was
+sollte er nun seinem Auftraggeber und Doppelgegenpaukanten
+ausrichten? Man hatte seine Forderung nicht angenommen,
+aber auch nicht abgelehnt ... Ein Witz ...
+aber ein fader ... Ist bei Ihrem Auftraggeber eine
+Schraube los? Rabiater Bursche &mdash; ich danke für einen
+Skandal ... Koller ... Pathologischer Zustand ...
+Verlange absolut geräuschlose Erledigung ... Rechne
+dabei auf Ihre Mitwirkung ... Das waren so ungefähr
+die Schlagworte, die Herrn Borgmann noch im Gedächtnis
+hängen geblieben waren und nun in der korrekten
+Chargiertenseele einen tollen Tanz vollführten ... Ja,
+was sollte man auch einem Prinzen antworten, der von
+korpsstudentischer Direktion und Haltung keinen Schimmer
+hatte? Der eine so blutig ernste Sache wie eine Säbelforderung
+einfach behandelte ... wie ... na wie einen
+Hanswurststreich ... wie einen faulen Kalauer?!</p>
+
+<p>Und das hatte man sich gefallen lassen? Man hatte
+Ja und Amen gesagt zu der ungeheuerlichen Zumutung,
+nach solch einem Affront auch noch an einer ... hm, hm!
+geräuschlosen Beilegung mitzuwirken?!</p>
+
+<p>Herr Borgmann nahm die weiße Mütze mit dem weiß-schwarz-weißen
+Randstreifen ab und tupfte die von weißblonden,
+seltsamerweise schon etwas gelichteten Haaren
+umsäumte Stirn. Was konnte man seinem Auftraggeber
+nun eigentlich berichten? Hatte der Prinz irgend eine
+Erklärung zur Sache selbst abgegeben? Eine Entschuldigung
+bei der beleidigten jungen Dame in Aussicht gestellt?
+Nicht das mindeste ... Er hatte nichts weiter geäußert
+als Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Mandanten
+&mdash; und das kategorische Verlangen, die Sache müsse aus
+der Welt geschafft werden!</p>
+
+<p>Na, und du, Wilhelm Borgmann, Neo-Borussiae gewesener
+Zweiter, Erster?! Was für eine Antwort hast du
+gefunden?</p>
+
+<p>Gar keine! Völlig aus dem Konzept hat man dich gebracht,
+verblüfft, verhohnepiepelt ... Schindluder hat
+man mit dir getrieben, ganz einfach!</p>
+
+<p>Und warum? Warum hast du nicht aufgemuckt?
+Warum hat deine ganze mühevoll erworbene korpsstudentische
+Direktion, deine Haltung, dein Schimmer dich verlassen?
+Weil dies junge hagere Herrchen im hellblauen
+Dragonerüberrock mit den silberblinkenden Knöpfen ein ...
+Prinz von Geblüt war ... Da war von deiner Spießbürgerseele
+der dünne Firnis des Kavaliers abgefallen,
+den man dir in einer Dressur von fünf Semestern aufgepinselt
+&mdash; und du warst in Lakaiendevotion submissest
+zusammengeknickt!</p>
+
+<p>Und drüben im Theaterrestaurant sitzt der unglückselige
+Pilgram, weiland Franconiae, und wartet auf Antwort ...
+Wartet auf das Schicksal ...</p>
+
+<p>Ja, was sagt man ihm nur? So wie die Geschichte in
+Wirklichkeit abgelaufen ist, so kann man sie ja gar nicht
+erzählen &mdash; der rabiate Bursche schlägt sonst Krach! Das
+muß man sich erst ein bißchen zurechtlegen ...</p>
+
+<p>Herr Borgmann suchte einen Zufluchtsort. Café
+Felsche? Viel zu viel Betrieb jetzt da, wahrscheinlich auch
+ein Tisch voll Neo-Borussen &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Ein Einfall! Das Museum! Das war zu dieser
+Stunde vielleicht noch geöffnet ...</p>
+
+<p>Und Studiosus Borgmann tat etwas, was ihm in
+seinen fünf Semestern, die er in Leipzig zugebracht, noch
+niemals passiert war: Er ging ins Museum hinein, stieg
+die prächtige Marmortreppe hinan, schritt gleichgültig durch
+die Säle voll bemalter Lappen in goldenen Rahmen und
+versank in einem Plüschsofa des großen Oberlichtsaales ...
+Und sann, wie er die Sache deichseln könne, ohne seine
+Blamage eingestehen zu müssen.</p>
+
+<p>Inzwischen saß Valentin Pilgram in regungslosem
+Warten in einer dunklen Ecke des Theaterrestaurants.
+Was werden würde? Nun das war ja ganz klar: Sowohl
+der Major als auch der Erbprinz, der die Charge
+eines Rittmeisters bekleidete, würden die militärisch korrekte
+Erklärung abgeben, daß sie die Tatsache der erfolgten
+Forderung ihrem zuständigen Ehrenrat unterbreiten
+würden ... Der würde dann einen formellen Ausgleichsversuch
+machen &mdash; wenn dieser, wie selbstverständlich,
+gescheitert wäre, würde der Erbprinz einen Ersatzmann
+stellen, einen möglichst fechtgewandten Offizier eines
+Gardekavallerieregiments ... Und dann stiegen eben die
+beiden Partien ... Na Himmel, das hatte man ja doch
+schon fünfmal durchgemacht &mdash; zwar nicht unter ganz
+gleich schweren Bedingungen ... Aber &mdash; na ja, Eisen
+ist Eisen, und fechten haben wir ja gottlob gelernt ...</p>
+
+<p>Und dann ...</p>
+
+<p>Valentin Pilgram versank in Träume ... Dann
+mußte irgend etwas kommen, etwas Schönes, von dem
+man sich keine rechte Vorstellung machen konnte. So ganz
+ohne Dank und Lohn würde man ihn doch nicht laufen
+lassen ...</p>
+
+<p>Dank und Lohn? Aber wie?</p>
+
+<p>Valentin Pilgram hatte bewiesen, daß er bereit war,
+sich jeden vors krumme Messer zu langen, der an dies
+Mädchen anders dachte denn an eine Heilige ... Und
+Heilige ... Wie belohnen sie denn?</p>
+
+<p>Mit ihrer Gnade ... Mit Fürsprache im Himmel ...</p>
+
+<p>Sie belohnen von ferne ... Mit Gaben, für die man
+sich auf Erden verdammt wenig kaufen kann ...</p>
+
+<p>Na, und das wird ja auch wohl dein Fall sein, mein
+guter Valentin &mdash; nicht wahr?!</p>
+
+<p>Na &mdash; und wenn auch! Wir haben eben getan, was
+wir mußten ...</p>
+
+<p>Ein alter Reckenspruch aus den goldenen Tagen des
+Rittertums klang ihm durch den Sinn:</p>
+<div class="poem">
+<div class="stanza">
+<i lang="fr">
+<span class="i0">A Dieu mon âme,<br /></span>
+<span class="i0">Ma vie au roi,<br /></span>
+<span class="i0">Mon coeur aux dames,<br /></span>
+<span class="i0">L'honneur pour moi.<br /></span>
+</i>
+</div>
+</div>
+
+<p><i lang="fr">Pour moi</i> ... Na eben, das war's: das Bewußtsein:
+So gehört sich's &mdash; und so hab' ich's gemacht ...</p>
+
+<p>Endlich! Da kam sein Kartellträger ...</p>
+
+<p>»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Borgmann ...«</p>
+
+<p>»Gewiß, gern ... Herr Ober, eine Schale Schwarz ...«</p>
+
+<p>»Also ... Angenommen?«</p>
+
+<p>»Hm ... Die Herren haben Erklärungen abgegeben,
+die vielleicht ... als befriedigend gelten könnten ...«</p>
+
+<p>»Was! sie kneifen?!«</p>
+
+<p>»Hm ... Doch wohl etwas zu schroffer Ausdruck ...
+Der Prinz hat den Major beauftragt, die Angelegenheit
+in Güte zu arrangieren ... Ich nehme also an, daß er
+Familie Buchner im beiderseitigen Namen um Verzeihung
+bitten wird ... Was macht's, Ober? Fünfundzwanzig?
+Schön &mdash; ziehen Sie fünfunddreißig ab ...«</p>
+
+<p>Valentin Pilgram war wie vor den Kopf gestoßen.</p>
+
+<p>In Güte arrangieren ... Fräulein Buchner um Verzeihung
+bitten ... Hm ... Verteufelt einfache Lösung ...
+Und das hatte man sich nicht mal im Traume vorgestellt,
+daß es so kommen würde ... kommen ... müßte ...</p>
+
+<p>Himmel ja &mdash; man war eben Korpsstudent &mdash; trat für
+alles, was man gesagt und getan &mdash; selbst in der Hitze gesagt
+und getan &mdash; für das trat man eben stramm und rücksichtslos
+ein mit Waffe und Blut, mit Schädeldach und
+Nase, mit Brustbein und Armknochen &mdash; konnte sich gar
+nicht vorstellen, daß jemand auswich &mdash; revozierte und
+deprezierte &mdash; den Schwanz einzog und ... na eben kniff.</p>
+
+<p>Und ... jeden andern Kneifer durfte man einen
+Kneifer schimpfen ... Dieser aber stand außerhalb der
+Lebensgesetze der akademischen Welt &mdash; der er <i lang="la">pro forma</i>
+doch angehörte ... Der konnte sich eine Kneiferei leisten,
+obwohl er doch auch Student, offiziell sogar Korpsstudent
+war ...</p>
+
+<p>Was für ein Hohn ... Was für eine blöde Farce!</p>
+
+<p>»Hm ... Und Sie meinen, Herr Borgmann &mdash; mit
+diesen Erklärungen müsse ich mich begnügen?«</p>
+
+<p>»Ich ... glaube wenigstens nicht, daß ... nach
+diesen Erklärungen ... das Ehrengericht Ihre Forderung
+noch genehmigen würde, wenn Sie darauf bestehen
+wollten ... Selbst ein S.&#x202f;C. Ehrengericht nicht ... Aber
+vor das kommt die Sache ja überhaupt nicht ... Die
+kommt vor den Offiziersehrenrat ... Na und der wird
+eben selbstverständlich die Sache für erledigt erklären
+unter diesen Umständen ...«</p>
+
+<p>Ach so ... Also alles in schönster Ordnung ... Die
+Ehre der angegriffenen jungen Dame <i lang="la">in integrum</i> restituiert
+durch die Deprekation ... und nur er selber ... er
+selber um sein Korpsband gekommen ... und eigentlich ...
+der ... Blamierte ...</p>
+
+<p>Hm ... es stimmte ... Da war nichts zu machen ...
+Aber auch gar nichts ...</p>
+
+<p>Ja ... Wie war denn das aber möglich? Hatte er
+denn irgend einen ... Fehler gemacht?</p>
+
+<p>Nein ... Er hatte den Geboten der Ehre, der Ritterlichkeit
+gefolgt ... Und was sich da wider ihn aufreckte ...
+das war etwas, was er bis dahin noch nicht geahnt hatte
+&mdash; der Unsinn des Daseins ... die Tragikomödie des
+Idealismus ... dieses phantastischen romantischen
+Idealismus, der den eigenen Adel, die eigene heroisch-naive
+Auffassung von Pflicht und Ehre noch für das Gesetz
+des Weltganges hält ...</p>
+
+<p>Valentin Pilgram stand auf ... stumm ... stieren,
+korrekten Antlitzes.</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen verbindlichst für Ihren gütigen
+Beistand, Herr Borgmann ... Nun, dann wird sich die
+Sache ja wohl in aller Güte und Freundschaft erledigen ...
+zwischen den ... <em class="gesperrt">Nächstbeteiligten</em> ... Adieu,
+Herr Borgmann ...«</p>
+
+<p>Donnerwetter &mdash; dachte Wilhelm Borgmann &mdash; das
+hat besser gegangen, als ich mir's träumen ließ ...</p>
+
+<p>Valentin Pilgram irrte durch die Straßen ... Dies
+Menschengewoge, der Spätherbstglanz über der Welt, die
+Wagen, die klingelnde Pferdebahn, das alles machte ihn
+rasend. Er floh ins Rosental, strich ziellos durch die
+Laubgänge ...</p>
+
+<p>Jucunda! Das war sein einziger Trostgedanke ...
+Jucunda würde zu ihm stehen ... ihm danken, ihn belohnen
+... irgendwie ... für alles, was er ihr geopfert
+...</p>
+
+<p>Er rannte immer weiter, immer tiefer ins Holz hinein
+&mdash; über die Elster hinüber, kreuzte die sumpfigen Wiesen
+jenseits der Marienbrücke, verlor sich in den braunen
+Forsten des Leutzscher Holzes. Es kam die frühe Dämmerung,
+es wurde feucht und frostig unter dem Laubdach,
+von dem langsam Blatt um Blatt niederrieselte im melancholischen
+Schweigen des windstillen Herbstabends &mdash;
+Valentin Pilgram bemerkte es nicht. Und wie die Fledermäuse,
+die lautlos um die schattenhaften Säume der Gebüsche
+schwirrten, über den perlmuttfarbenen Spiegeln
+der Sumpfteiche huschten, so flatterten durch des wackern
+Gesellen Hirn die aberwitzigen Gedanken.</p>
+
+<p>Er hatte doch recht getan &mdash; gehandelt wie ein Mann
+und Kavalier ... Und eine lächerliche Blamage war die
+Folge ... Das Korpsband, das geliebte, war von seiner
+Brust hinweggeweht, wie ein klagender Abendhauch die
+ziehenden Nebelstreifen dort auf den Wiesen hinwegstreifte ...</p>
+
+<p>Das konnte doch das Ende nicht sein &mdash; so dummejungenmäßig
+beiseite geschoben werden, das war doch kein
+Abschluß für Valentin Pilgrams stolze, prangende Burschenherrlichkeit ...</p>
+
+<p>Nein ... Es mußte noch irgend etwas kommen &mdash;
+die Ahnung irgend eines süßen oder schrecklichen Ereignisses
+düsterte durch die Seele des einsamen Wanderers.</p>
+
+<p>Es war schon Nacht, sternüberflimmerte Spätherbstnacht,
+als er vor sich die dunklen Umrisse des Leutzscher
+Bahnhofes auftauchen, die grellfarbigen Lichter des Bahnkörpers
+flimmern sah. Eine dumpfe Sehnsucht nach der
+Stadt zurück überkam ihn plötzlich, nach wogenden Menschenmassen,
+nach Wagenlärm und glitzernden Schaufenstern.
+Er erkundigte sich: der nächste Zug fuhr erst
+in einer halben Stunde. In dem schmutzigen Bahnhofsrestaurant
+schüttete er hastig, gedankenlos ein paar Glas
+Bier in die brennende Gurgel. Als der Zug herannahte
+und er die Börse zog, bemerkte er, daß er an seiner Uhrkette
+noch den Bierzipfel trug, ein Stück des grün-gold-roten
+Korpsbandes mit goldenen Beschlägen ... Da
+hakte er mit einem bitteren Zucken der Mundwinkel den
+blanken Zierat ab und barg ihn in seiner Brieftasche.</p>
+
+<p>Als er auf dem Thüringer Bahnhof ankam, war es
+gegen neun Uhr. Er hastete heimwärts. Jetzt war
+Jucunda im Theater &mdash; spielte abermals die Jungfrau ...
+An allen Anschlagsäulen hing der Theaterzettel, der ihren
+Namen trug ... Es trieb ihn nach Hause, dahin, wo sie
+geboren und groß geworden war, eine seltene, phantastische
+Wunderblume, in einem abgezirkelten, banalen Spießergärtchen
+erblüht ...</p>
+
+<p>Alles war still und finster in dem engen, muffigen
+Korridor, als er die Entreetür öffnete. Natürlich, die
+Eltern waren ja mit im Theater, ihr Goldkind zu bewundern ...</p>
+
+<p>Er suchte seine Zündholzschachtel, fand sie, aber sie war
+leer. Vergebens tappte er nach Licht. Die Tür zur
+Wohnstube war angelehnt, ein matter Lichtreflex von der
+Straßenbeleuchtung fiel heraus. Valentin konnte der Versuchung
+nicht widerstehen und trat ein. Stumm und
+dunkel und dumpfig lag das Zimmer. Dort am Fenster
+hatte er mit ihr gestanden &mdash; wann doch nur? Vor einer
+Ewigkeit?! Pah &mdash; es war noch nicht vierundzwanzig
+Stunden her ... Und hier auf dem verschlissenen Plüsch
+hatte sie gesessen, das weiße Königinnenhaupt zurückgelehnt
+... und &mdash; wie hatte sie nur gesagt? 'Vielleicht
+kann ich doch einmal einen Ritter gebrauchen &mdash; dann will
+ich an diese Stunde denken und Sie rufen ...' Und jetzt?
+Hatte sie ihn nicht gerufen? &mdash; Nein &mdash; das eigentlich
+wohl nicht ... Aber hatte sie nicht geweint?! Sie ...
+sie ... und hatte geweint um einer bübischen Kränkung
+willen ...</p>
+
+<p>Und da hatte er getan, was er genau so rasch, so selbstverständlich
+und geradezu getan hätte für seine Schwesterchen
+daheim in Dresden ... Und morgen würde ganz
+Leipzig über ihn lachen ...</p>
+
+<p>Hastig trat er auf den stockfinstern Korridor zurück und
+tappte nach seiner Stube hinüber. Zufällig bekam er die
+Klinke zu Jucundas Kammertür in die Hand ... Er
+drückte sie nieder, und ein Duft wehte ihm entgegen, der
+ihn mit einem Schwall stummer, wirrer Sehnsuchtswünsche
+bedrängte. Das Zimmer lag nach einem Seitengäßchen
+hinaus und war fast völlig finster. Nur aus
+einem gegenüberliegenden Fenster fiel ein ganz matter
+Lichtschein hinein. In diesem Schein leuchtete das weiße
+Bett, schon aufgeschlagen, für die Nachtruhe der Künstlerin ...</p>
+
+<p>Ein Grausen des Verlangens schnürte dem reckenhaften
+Burschen die Kehle zusammen. Er schloß hastig die
+Tür und stand einen Augenblick lang in der Dunkelheit.
+Alle Glieder bebten, seine Kinnbacken schlugen im Frost
+zusammen. Dann übergoß ihn glühende Scham. Er war
+der Mann nicht, sich an dem Dunste der Geliebten verstohlen
+schnüffelnd zu erletzen. Er rannte hinaus, fand
+endlich die Tür seiner Bude und saß lange mit fiebernden
+Gliedern in der Finsternis, auf seinem Sofa. Endlich
+fuhr er auf, schwankte zu seinem Nachttischchen hinüber,
+machte Licht, zündete die Petroleumlampe an und sah die
+aufgeschlagenen Repetitorien liegen, wie er sie morgens
+verlassen hatte, als die Kanzleirätin in sein Zimmer gestürzt
+war ...</p>
+
+<p>Und eine stumpfe Ruhe kam über ihn. Arbeiten!
+Arbeiten! Er wühlte sich in die schematisch öde Zusammenstellung
+der elementaren Grundbegriffe seiner Wissenschaft
+hinein. Seiner Wissenschaft &mdash; ah bah! Die Quelle
+des Wissens, die hell in seiner Nähe sprudelte, hatte er
+ängstlich gemieden sieben Semester lang und nur dem
+Korps gedient ... Nun galt es hastig und mechanisch
+einen Haufen seelenloser Notizen in sich hineinzustopfen,
+um den toten Popanz, die pappdeckelne Attrappe einer
+fadenscheinigen Examensweisheit aufzurichten ...</p>
+
+<p>Immerhin ... wenigstens Vergessen wirkte dies
+stumpfsinnige Büffeln ...</p>
+
+<p>Und eine Stunde verrann &mdash; zwei Stunden ... Plötzlich
+draußen auf dem Flur die Stimmen der heimkehrenden
+Familie Buchner. Valentin lauschte angestrengt ...
+Ob sie ihn denn nicht noch zu sprechen wünschte? Ihm zu
+danken für die ... glückliche Lösung, die sein Eingreifen
+doch herbeigeführt?</p>
+
+<p>Und wirklich &mdash; es pochte an seine Tür ...</p>
+
+<p>»Herein!«</p>
+
+<p>Mutter Kanzleirätin stand auf der Schwelle. Ein
+wenig rot und verlegen ... In der schleifenbesetzten
+Kapuze, dem altmodischen Abendmantel, genau wie gestern,
+als er sie aus dem Wagen gehoben ...</p>
+
+<p>»Sie wär'n entschuld'gen, Herr Pilgram &mdash; hier is
+Sie nämlich ä Briefchen von meiner Tochter ...«</p>
+
+<p>Ein &mdash; Brief? Und warum konnte sie denn nicht
+selber &mdash;?!</p>
+
+<p>So deutlich stand diese Frage in des jungen Mannes
+starr aufgerissenen Augen, daß Frau Buchner die unausgesprochene
+beantwortete:</p>
+
+<p>»Nämlich, Se dürfen's ihr nich iebel nähm', selber
+kann se's Ihn' nich sagen, sie is Ihn' nämlich gar zu sähre
+angegriff'n von der Vorstellung ... Gut Nacht, Herr
+Pilgram, wünsch' gute Ruh ...«</p>
+
+<p>Und hastig war die massive Gestalt aus der Tür ...
+Nur der Brief blieb zurück, lag weiß und fremd auf dem
+fleckigen, grellgemusterten Tischtuch.</p>
+
+<p>Mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge nahm
+Valentin das Kuvert und studierte die großen, fahrigen
+Züge der Aufschrift:</p>
+
+<p class="center">»Herrn Stud. Pilgram ...«</p>
+
+<p>Weder Fakultät noch Vorname ...</p>
+
+<p>Was steht darin? Nun, es kann doch nur eins sein:
+Dank und abermals Dank, feuriger, inniger Dank ...</p>
+
+<p>Er riß den Umschlag auf und las:</p>
+
+<p class="center">»Sehr geehrter Herr ...«</p>
+
+<p>Er las und las ... »erwünschte Erfolg« &mdash; »Herren
+haben mündlich bei mir um Entschuldigung gebeten« &mdash;
+»danke Ihnen innigst« &mdash; »großes Opfer« &mdash; »Zweck erreicht«
+&mdash; »nehmen Sie Ihre Herausforderung zurück,
+damit nicht noch ... weitere ... Unannehmlichkeiten entstehn
+...« &mdash; »mit der nochmaligen Versicherung meines
+aufrichtigsten Dankes Ihre ganz ergebene ...«</p>
+
+<p>Na ja ... na also ...</p>
+
+<p>Völlig korrekt das alles ... Nichts fehlte, was man
+so erwarten und verlangen konnte ...</p>
+
+<p>Nichts fehlte ... gar nichts ...</p>
+
+<p>Valentin Pilgram sah lange und regungslos in den
+hellen Lichtkegel der Petroleumlampe, bis die Augen ihn
+zu schmerzen anfingen.</p>
+
+<p>Na ja ... na also ...</p>
+
+<p>Und endlich klappte er den Brief zusammen. Wollte
+ihn in den Umschlag schieben ... Da auf einmal blieben
+seine Augen an etwas hängen, das er nicht begriff. Auf
+der letzten Seite des Bogens, am unteren Rande und mit
+dem Kopfe nach unten, fand sich ein Monogramm aus den
+Buchstaben T und H und darüber der Zirkel eines wohllöblichen
+C.&#x202f;C. der Franconia zu Leipzig.</p>
+
+<p>Was war das?!</p>
+
+<p>T.&#x202f;H.? Oder ... H.&#x202f;T.? Und darüber der Frankenzirkel?</p>
+
+<p>Kein Name der verflossenen Korpsbrüder fing mit
+einem H an, aber mit einem T? Thumser? Hans ...
+Thumser ... Das ... stimmte ...</p>
+
+<p>Was war das? Wie kam Jucunda Buchner zu einem
+Briefbogen von Hans Thumser?! Teufel &mdash;</p>
+
+<p>Hatte der am Ende den Makler gespielt? Und geholfen,
+ihm diese ungeheure Blamage einzubrocken?!</p>
+
+<p>Valentin Pilgram dachte nach. Nun, der kleine
+Thumser war ein Faselhans, hatte den Kopf voll konfuser
+Ideen, voll unvorschriftsmäßiger, inkorrekter, umstürzlerischer
+Gedanken über allerhand heilige, unantastbare
+Dinge, Dinge, die immer so gewesen waren und immer so
+bleiben sollten ... Sah ein bißchen von oben herab auf
+alle Menschen und Zustände &mdash; aber eine Gemeinheit, eine
+heimtückische Verräterei und Niedertracht &mdash; die war ihm
+denn doch nicht zuzutrauen ...</p>
+
+<p>Aber &mdash; wie war dies &mdash; Unfaßbare da &mdash; zu erklären?!</p>
+
+<p>War denn irgendeine Möglichkeit, daß Jucunda und
+der versedrechselnde, kunstsimpelnde Korpsbruder in Berührung
+hätten kommen können?</p>
+
+<p>Gestern abend &mdash; so viel stand fest &mdash; kannte Thumser
+die Künstlerin noch nicht persönlich &mdash; hatte zwar die Idee
+gehabt mit dem Pferdeausspannen, aber nicht ein Wort
+mit dem Mädchen gewechselt ...</p>
+
+<p>Aber &mdash; hatte nicht er selber, Valentin, gestern abend
+im Gespräch mit der Familie Buchner den Namen Thumsers
+genannt als desjenigen, der den glorreichen Einfall
+mit der Pferdeausspannerei ausgeheckt ...</p>
+
+<p>'Dafür hätten Sie 'nen Kuß gekriegt,' hatte Jucunda
+gesagt ... Noch ganz deutlich entsann sich Valentin einer
+dunklen Regung von Eifersucht ...</p>
+
+<p>Wär's möglich &mdash; sie hätte sich vielleicht an den gewandt
+um ... um einen Ausweg aus der Verlegenheit,
+in die Valentin Pilgrams rasche Ritterschaft sie hineingestürzt?!</p>
+
+<p>Oder?! Hatte er &mdash; Hans Thumser &mdash; die Bekanntschaft
+eingeleitet? Er wußte aus dem C.&#x202f;C., was vorgefallen
+war ... Er war sehr schweigsam gewesen im C.&#x202f;C. ...
+Sollte er diese ... Gelegenheit ... seine Wissenschaft
+um die Situation &mdash; sollte er die benutzt haben, um sich
+bei Jucunda lieb Kind zu machen?!</p>
+
+<p>Wie es auch sein mochte &mdash; es war etwas geschehen
+zwischen den beiden ... Hans Thumser hatte seine Hand
+im Spiel &mdash; in dem falschen, ränkevollen Spiel, an dessen
+Ende seine, Valentins, hilflose Blamage stand ...</p>
+
+<p>Himmel und Hölle! Da stand ja auf einmal ein neuer
+Feind auf &mdash; ein Feind, der eine harmlos grinsende
+Freundesmaske trug ... und einer, der nicht unangreifbar
+war, wie die andern &mdash; nicht geschützt wie diese
+Jucunda durch ihr Geschlecht &mdash; nicht durch Rang, durch
+Pflichten der Rücksichtnahme, durch die Ausnahmegesetze
+der militärischen Standesordnung &mdash; wie das fürstliche
+Käsegesicht mit der Scherbe im Auge oder sein schnurrbärtiger
+Begleiter ...</p>
+
+<p>Einer, den man sich langen konnte!</p>
+
+<p>Ein Korpsbruder?! Pah ... er selber war ja nicht
+mehr Korpsstudent ... Konnte ramschen, mit wem es
+ihm beliebte ... Seine Rache kühlen an dem ersten
+besten, der seinem Grimm in den Weg lief ...</p>
+
+<p>Ja, seinem Grimm &mdash; der besinnungslosen Wut, die
+ihm nun auf einmal in die Augen stieg mit blutrotem
+Schimmer, ihm Blick und Fassung trübte &mdash; daß er aufsprang,
+die Halsbinde, den Kragen aufriß, um nicht zu
+ersticken ...</p>
+
+<p>Nebenan raschelten Kleider, klapperten die leisen Tritte
+müder Mädchenfüße ...</p>
+
+<p>Sie &mdash; und nur eine dünne Wand zwischen ihm und
+seinem Schicksal ...</p>
+
+<p>Er lauschte ... flüsternde Frauenstimmen klangen:
+Mutter Kanzleirätin brachte wohl das Goldkind schlafen ...
+Nun knarrte die Tür, nun schlürften die Pantoffeln der
+Alten über den Korridor, zum ehelichen Schlafgemach
+hinüber ... Und ein herzhaftes, langgezogenes Gähnen ...
+Und nun krachte das Bett, rauschten die Kissen ...</p>
+
+<p>Valentin Pilgram saß noch immer steif und regungslos
+an seinem Schreibtisch und starrte in den Lichtkegel der
+Petroleumlampe ... Und in der Faust hielt er den halbzerknüllten
+Briefbogen, der vorne Jucunda Buchners
+Brief und hinten Hans Thumsers Monogramm und den
+Frankenzirkel trug ...</p>
+
+<p>Na ja ... Na also &mdash; &mdash; &mdash;!!</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>10.</h2>
+
+<p class="start-chapD">Die Franken hatten C.&#x202f;C. gehabt und Chargenwahl
+vollzogen. Ivo Volkner aus Düsseldorf war Erster
+geworden an Pilgrams Statt. Hartwig, der Vertreter
+des Marburger Kartellkorps, hatte die zweite Charge bekommen,
+und der eben erst rezipierte Jungbursch Feldmann
+die dritte. Volkner Senior &mdash; das bedeutete einen
+Wechsel des Regimes. Statt des zähen, wortkargen,
+sparsamen und fechtgewaltigen Sachsen der leichtsinnige,
+wohlhabende, lebenslustige Rheinländer &mdash; das war ein
+wahrer Umschwung für den Geist des Frankenbundes ...</p>
+
+<p>Hans Thumser säumte nicht, von diesem Umschwung
+zu profitieren. Alle paar Tage bat er um Dispens zum
+Besuch der Konzerte, des Theaters, schwänzte regelmäßig
+Sonnabends das gemeinsame Mittagessen, um der Motette
+des Knabenchors in der Thomaskirche zu lauschen ...</p>
+
+<p>Und eines Morgens erlangte er gar die Erlaubnis,
+bei den Meiningern zu statieren ...</p>
+
+<p>Die Meininger ... sie hielten ihn völlig im Bann.
+Er versäumte keine Premiere. Drama auf Drama reckten
+sich die genialen Machtschöpfungen der erhabensten
+Meisterwerke des germanischen Theaters vor dem
+schönheitshungrigen Auge des jungen Studenten auf ...</p>
+
+<p>Und all die heiße Inbrunst, die solch aufrüttelnde,
+seelenentzückende Schau in ihm entflammt hatte, die küßte
+er der zierlichen Asta Thöny auf den feuchten, bebenden
+Mund ... Es war ein toller Märchenrausch von Begeisterung
+und Liebe, in dem die Tage, die Nächte dahinrasten.
+Und so ganz versunken war alles, was sich nicht
+der Erinnerung aufdrängte, daß er nicht ein einziges Mal
+auf den Einfall gekommen war, sich nach dem armen
+Valentin Pilgram umzusehen, mit dem er doch drei
+Semester lang die gleichen Farben getragen &mdash; der aus
+dem Korps geschieden war um eines Entschlusses willen,
+den er heiß bewunderte wie alle Korpsbrüder ... Er
+wußte, die andern pflegten eifrig den Verkehr mit dem
+ausgeschiedenen Freunde &mdash; er nahm sich täglich vor,
+ihn aufzusuchen, und täglich vergaß er's in seinem Taumel
+von Sehnsucht und Erfüllung, Erfüllung und Sehnsucht ...</p>
+
+<p>Ja, Erfüllung ... und Sehnsucht ... Denn wenn
+Hans Thumsers flaumige Jugend in Asta Thönys schimmernden
+Armen lag, dann am heißesten verlangte seine
+Seele nach der andern, die Abend für Abend die ganz
+großen, ganz lichten Visionen der Dichter verkörperte,
+statt jener kleinen, sündigen, irdischen Geschöpfe, die Asta
+Thönys Kunst umspannte ...</p>
+
+<p>Aber außerhalb der Bühne hatte er sie niemals wieder
+zu sehen bekommen &mdash; Jucunda, die allvergötterte. Es
+war ein förmliches Jucundafieber ausgebrochen unter der
+Leipziger Jugend, der männlichen wie der weiblichen, der
+akademischen wie der Philisterwelt ... Allabendlich
+schritt die Künstlerin durch ein jubeltrunkenes Spalier ihrer
+Verehrer zu ihrem Wagen &mdash; nach jeder Premiere wiederholte
+sich die gleiche Komödie. &mdash; Der Kutscher strängte
+die Gäule schon vorher ab und stellte sie auf Seite und
+sich daneben, damit ihm die Tiere nicht ganz verrückt
+wurden und er selber ohne blaue Flecke vom Bock
+herunterkäme ...</p>
+
+<p>Und Liebesbriefe ohne Zahl, voll ungelenker Gedichte,
+stammelnder Mädchenverzückung und kecker Jungmännerwerbung
+flatterten in das bescheidene Kämmerchen an
+der Katharinenstraße ...</p>
+
+<p>Selbst die Waffenstudenten, deren Gesichtskreis doch
+sonst mit ihren Couleurangelegenheiten völlig ausgefüllt
+war, wurden in den allgemeinen Theatertaumel mit hineingezogen.
+Wenn Jucundas Triumphwagen mit seiner
+keuchenden, brüllenden Bespannung durch die Straßen
+südlich des Königsplatzes der Altstadt zurollte, dann
+blinkten in der Schar der Ziehenden und der Geleitenden
+die Mützen der Korps neben denen der Burschenschaften,
+der Turner neben denen der Landsmannschaften &mdash; Arion
+und Paulus wetteiferten mit dem heiligen Wingolf im
+Dienste der Jucundabegeisterung ... Es war wie im
+Paradiese, da das Lämmlein bei dem Tiger weidete ...</p>
+
+<p>Und der regelmäßigste Besucher war der Gast der fest
+abonnierten Proszeniumsloge vorn links vom Schauspieler,
+neben der Direktionsloge ... war der Erbprinz
+von Nassau-Dillingen. Zu jeder Premiere schleppten die
+herzoglichen Leibdiener ein kostbares Blumenarrangement
+von schier unermeßlichen Dimensionen auf die Bühne,
+daran ein Kuvert mit geprägtem Wappen hing ... Es
+enthielt des Erbprinzen Visitenkarte, darauf immer nur
+die Worte: »In Verehrung« ... geschrieben in einer unausgeschriebenen
+Knabenschrift. Niemals aber hatte sich
+Jucunda künftighin über den leisesten Versuch einer Annäherung
+zu beklagen gehabt.</p>
+
+<p>Und Jucundas Dank beschränkte sich stets auf den
+Hofknix vor der ersten Parkettloge links ...</p>
+
+<p>»So ist's recht, Langbeinchen,« sagte Franz Burg mehr
+als einmal zu der jungen Freundin &mdash; »so muß man's
+machen: hübsch in Distanz halten die hochgeborenen
+Verehrer &mdash; aber keinesfalls wegöden ... das hat keinen
+Sinn &mdash; immer warm halten &mdash; man kann nie wissen,
+wozu man so etwas einmal brauchen kann ...«</p>
+
+<p>Und Jucunda begriff. Es blieb doch nicht nur bei dem
+Hofknix. Wie jeder andre Spender einer Blumengabe
+bekam auch Erbprinz Heribert ein paar Dankesworte auf
+goldgerändertem Kärtchen ... Anfangs waren's nur
+drei konventionelle, schematische Zeilen ... Bei der
+dritten Spende aber stellte sich ein Zusatz ein:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>»Sie beschämen mich, Durchlaucht, &mdash; ich weiß
+nicht, wodurch ich soviel gnädige Anteilnahme verdient
+habe.«</p></blockquote>
+
+<p>Das nächste Mal enthielt das wappengeprägte Kuvert
+an der riesigen Seidenschleife, die in den Nassau-Dillingenschen
+Landesfarben von einem riesigen Lorbeerrade
+niederrauschte &mdash; enthielt das Kuvert ein Briefchen
+von zwanzig Zeilen:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>»... Sie sind mir böse gewesen, und ich muß leider
+zugeben, nicht ganz ohne Grund, obwohl ich für die
+geschmacklose Form der Huldigung, die Ihnen in
+meinem Namen überreicht wurde, nichts kann. Sind
+Sie wieder gut? Ich bitte Sie um ein Zeichen ...«</p></blockquote>
+
+<p>In der Premiere des »Wintermärchens«, die kurz auf
+dies Briefchen folgte, lockte der tumultuarische Applaus
+nach der Gerichtsszene die eben hinter den Kulissen gestorbene
+Hermione-Jucunda auf die Bühne ... Und wieder
+schleppten livrierte Diener eine weißleuchtende Kaskade
+von rieselnden Chrysanthemen heran ... Da zog Hermione
+aus dem Blütenschwall eine ganze Handvoll der märchenhaften,
+hundertstrahligen Blumensterne und steckte sie an
+ihre Brust, um sich dann erst mit feierlichem Lächeln im
+tiefen Hofknix zu neigen gegen die Proszeniumsloge vorn
+links vom Schauspieler ...</p>
+
+<p class="start-chapA space-above">Also Hans Thumser durfte statieren &mdash; mit hoher Genehmigung
+des Herrn Ersten Chargierten. Er ging
+sonach eines Morgens um zehn nach dem Fechtboden zum
+Bureau des Carolatheaters und meldete sich als Statist
+für »Wallensteins Tod«. Er wurde sofort und freundlich
+angenommen. Denn es war hier wie immer und überall:
+Nach den ersten Tagen der Begeisterung waren von den
+angeworbenen und mühsam eingedrillten Komparsen
+viele Dutzende abgefallen, hatten sich schriftlich entschuldigt
+oder waren einfach weggeblieben. Er mußte gleich in die
+Probe. Es handelte sich nur um zwei Szenen: die große
+Kürassierszene am Schluß des dritten Aktes und die Mordszene
+am Ende des fünften.</p>
+
+<p>Vom Bureau aus schickte man Hans Thumser auf die
+Bühne. Aber den Weg mußte er sich selber suchen und
+erfragen. Er wurde durch sechs bis acht verschiedene
+Türen gewiesen, kam sechs- bis achtmal an das weglose
+Ende dunkler, verschlossener Korridore, stieß sich die
+Schienbeine wund an allerhand unbeschreiblichen, geheimnisvollen
+Gegenständen, welche in der Finsternis
+herumstanden ... Endlich fand er ein eisernes Pförtchen,
+an dem in Weiß die Aufschrift stand: Zur Bühne ... und
+voll Ehrfurcht trat er in einen hohen, frostigen Raum,
+in dem im halben Tageslicht ein Gewirr von hölzernen
+Lattenrahmen, mit grauer Leinwand überspannt, erkennbar
+war. An diesen Wänden war vielfach die aufgepinselte
+Inschrift zu erkennen: »W.&#x202f;T.&#x202f;III. Saal.«</p>
+
+<p>Man wies ihn an, eine hohe bretterne Treppe hinanzuklimmen,
+auf deren oberem Podest er plötzlich ein seltsames
+Schauspiel sah: eine Wand wie ein riesiges, aus
+zahllosen kleinen Scheiben bestehendes Fenster, hinter dem
+der Treppenpodest wie eine lange Galerie sich hinzog.
+Das Glasfenster lief jenseits der Treppe in eine eichene
+Tür aus, von der aus dann eine andere Treppe zum
+Bühnenpodium hinunterführte ... Diese Treppe aber
+war im Bogen geschweift und aus massivem, dunkelgebeiztem
+Eichenholz mit schwerem Renaissancegeländer
+&mdash; wenigstens sah sie so aus. Unten ein dunkler, wuchtiger
+Saal mit Kamin, Gobelins, gepolsterten Bänken an den
+Wänden, und da standen an siebenzig jüngere Männer
+und lauschten andächtig der Instruktion des Oberregisseurs
+Burg.</p>
+
+<p>»Aha &mdash; noch 'n Kürassier?« unterbrach dieser seinen
+Vortrag. »Kennen Sie 'n Wallenstein?«</p>
+
+<p>»Auswendig ...«</p>
+
+<p>»Um so besser ...</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Geselle Dich zu uns &mdash; komm hier!<br /></span>
+<span class="i0">Es ist ein pudelnärrisch Tier ...«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Also bitte weiter zu hören, meine Herren. Ihr wollt
+Euren geliebten Oberst Max &mdash; hier steht er, Barthel ist
+sein Name, Alexander Barthel, na, Ihr werdet doch unsern
+großen, schönen Alexander kennen?«</p>
+
+<p>»Ja! ja!« murmelten die Kürassiere mit Begeisterung.</p>
+
+<p>»Also den wollt Ihr dem Friedländer &mdash; das heißt
+mir! &mdash; entreißen ... Ihr bildet Euch nämlich ein, ich
+hielte ihn in Gefangenschaft. Einzeln, truppweise strömt
+Ihr herein, und wie Ihr in den Saal kommt, seht Ihr
+etwas ganz Unerwartetes: Euer Kommandeur ist nicht
+gefesselt, sondern frei: nicht ich halte ihn, sondern etwas
+anderes, der stärkste Magnet, den es gibt, natürlich ein
+Frauenzimmer: die da, meine Tochter Jucunda, ich wollte
+sagen Thekla ...«</p>
+
+<p>Ein weißer Schatten im halbdunklen Raum: sie, die
+Erträumte, von tausend Sehnsuchtsgedanken Umschwärmte,
+die Verkörperung des Mädchenideals deutscher
+Jugend im neunten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts
+... da stand sie im fußfreien grauen Rock, eine
+schlichte graue Bluse um den festen Oberkörper ...</p>
+
+<p>»Nun stutzt natürlich jede Gruppe,« fuhr der Oberregisseur
+in seiner Instruktion fort, »und es verstummen
+die Rufe, mit denen Ihr einander angefeuert ... Die
+erstaunten Blicke gehen von ihm zu mir, von mir zu ihr
+&mdash; befangen flüstert einer dem andern zu, was er sich bei
+der Sache denken mag ... und so steht Ihr schweigend,
+mit gesenkten Schwertern ... nichts ist vernehmbar, als
+das leise Rascheln der eisernen Rüstungen &mdash; bis Euer
+Führer sich an Euch wendet und Euch warnt, ihm zu
+folgen. &mdash; Schlagen Sie an, Barthel!«</p>
+
+<p>Und der schöne Alexander trat einen halben Schritt
+vor, sprach lächelnd, mit halber Stimme:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Bedenket, was ihr tut! Es ist nicht wohlgetan,<br /></span>
+<span class="i0">Zum Führer den Verzweifelten zu wählen &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Ihr reißt mich weg von meinem Glück &mdash; wohlan,<br /></span>
+<span class="i0">Der Rachegöttin weih' ich Eure Seelen ...«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>»Bitte halt!« unterbrach Burg. »In diesem Augenblick
+richtet sich jeder auf, die Augen blitzen mutig den
+Führer an: Herr befiehl! Wir sind Dein &mdash; führ' uns in
+die Schlacht, führ' uns in den Tod, wir folgen Dir ...
+Das geht wie ein Ruck durch die ganze eisenstarrende Gesellschaft
+durch, versteht Ihr? Und nun weiter, Barthel!«</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Ihr habt gewählt zu eigenem Verderben &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">wer mit mir geht, der sei bereit zu sterben!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>so schmetterte der schöne Barthel heraus, berauscht von
+der klingenden Herrlichkeit seines erzenen Organs.</p>
+
+<p>»So &mdash; und auf dies Wort wirft er sich herum und
+stürzt sich in Eure Mitte &mdash; mit einem einzigen Aufschrei
+des Jubels, des wilden, todbereiten Jubels umringt Ihr
+ihn, so daß die Eisenmasse ihn gewissermaßen einschluckt,
+die Schwerter schießen in die Höhe wie eine schäumende
+Flut, die über seinem Helmbusch zusammenschlägt ...
+Noch einmal taucht er auf, als er in Eurer Schar die
+Treppe hinaufstürzt, Ihr hinter ihm drein; der Schwall
+wälzt sich durch die Galerie, im Gedränge werden ein
+paar Glasscheiben eingestoßen und klirren schneidend in
+das Getös des Sterbejauchzens, der Hörner hinein, die
+von drunten zum letzten Kampfe werben &mdash; und denn
+Vorhang und aus!«</p>
+
+<p>Mit sprühenden Augen, mit langhin malenden Gesten
+seiner hageren Arme hatte der Oberregisseur die ganze
+ungeheure Szene aufgebaut vor den Augen der
+lauschenden Statistenlehrlinge ... die brachen nun in
+lauten Beifall aus, als ihr Meister aus der hinreißenden
+Beredsamkeit in einen trockenen Ulkton am Schluß fiel ...</p>
+
+<p>»So, Herrschaften, nun zählt mal von vorne nach
+hinten ab, und jeder merke sich genau seine Zahl!«</p>
+
+<p>Dann wurden die zweiundsiebenzig in sieben Gruppen
+eingeteilt nach der Nummer, und jede bekam ihr Stichwort
+zugeteilt ... »Scheidet &mdash; Gott!« hieß dasjenige für
+die erste Gruppe &mdash; »Dein ewig teures und verehrtes
+Antlitz« das für die zweite &mdash; und so fort. Und dann
+mußten sie alle über die breite Renaissancetreppe zurück &mdash;
+»damit Ihr Euch an die Stufen gewöhnt,« &mdash; und draußen
+in der Dunkelheit wurden sie vom Inspizienten zu einzelnen
+Klumpen zusammengeballt und aufgestellt ...</p>
+
+<p>»Sind Sie fertig, Ruperti?« klang dann Burgs
+Stimme von drinnen. »Ja? Na dann bitte &mdash; ich fange
+an: Dreiundzwanzigster Auftritt, ich komme mit Illo und
+Buttler die Treppe hinunter &mdash;«</p>
+
+<p>Und nun herrenhaft, mit grollendem Erzklang in der
+Stimme. »Terzky!«</p>
+
+<p>»Mein Fürst!« antwortete drinnen eine andere
+Stimme, erregt, geschmeidig &mdash;</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i28">»Laß unsre Regimenter<br /></span>
+<span class="i0">Sich fertig halten, heut noch aufzubrechen,<br /></span>
+<span class="i0">Denn wir verlassen Pilsen noch vor Abend ...«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Und auf einmal war alles im Fluß. Der Zauber
+wirkte, der ungeheure, dem einst der zitternde Knabe erlegen
+war, im Barmer Stadttheater, auf dem Eckplatz des
+zweiten Ranges ... nur daß der Jüngling nun hineinschaute
+in das Innere des komplizierten Mechanismus,
+der das Wunder wirkte ... und eine dumpfe Sehnsucht
+sprang auf &mdash; diesen geheimnisvollen Apparat einmal
+aus eigener Machtvollkommenheit heraus zum Funktionieren
+zu bringen ...</p>
+
+<p>Gott ... welch ein Gedanke ... selbst einmal etwas
+zu schaffen aus der Magie des eigenen Innern heraus ...
+etwas, das die hundert Geister dieses dunklen Heerbannes
+zur Tat, zur Heeresfolge zwingen könnte ...</p>
+
+<p>Scheuer Knabentraum, bist du mehr als nur ein
+Traum &mdash; bist du die mystische Vorahnung kommender
+Kraft, der Vorklang künftigen Schicksals?!</p>
+
+<p>Und Gruppe auf Gruppe der jungen Männer wurde
+vom Inspizienten losgelassen, tobte die Treppe hinauf,
+erstarrte droben in staunender Verständnislosigkeit, schob
+sich dann scheu und verhalten drüben die breite Treppe
+hinunter in den Saal, wo Max Piccolominis todgeweihte
+Liebe ihren letzten Verzweiflungskampf mit dem Dämon
+der Eidespflicht ausfocht ...</p>
+
+<p>Freilich, manchesmal empfing sie drunten ein Hohngelächter
+des Spielleiters.</p>
+
+<p>»Ne, Kinder, so geht das nicht &mdash; Ihr seid ja keine
+Verbrecherbande ... Ihr macht ja auf einmal Gesichter,
+als hättet Ihr alle einen Sack silberne Löffel gestohlen!
+Ihr seid Soldaten, wüste Kerle, schlichte Burschen, die
+nicht recht verstehen, weshalb man eines Mädels wegen
+soviel Umstände macht ... dazu ein Rest von Scheu vor
+dem geliebten, gefürchteten Auge Eures Feldherrn, 'das
+Eure Sonne war in heißer Schlacht' &mdash; aber vor allem
+doch Trotz, Empörertrotz, verhalten, verbissen, gedämpft,
+aber Entsetzen einflößend, Schauer aushauchend, kalt wie
+das blanke Eisen in Eurer Faust &mdash; so will ich's haben,
+so hat der Schiller sich's gedacht!«</p>
+
+<p>Das alles klang nur durch die bemalten Lappen hindurch
+an Hans Thumsers Ohr. Denn er gehörte ja zur
+allerletzten Gruppe ... er würde nicht viel mehr zu sehen
+bekommen ... und er ahnte nur die Gegenwart des
+Mädchens, um dessen Bild all seine Gedanken kreisten,
+ihr Bild, das ihm die Seele dieser wundersamen Kunst
+erschien, die aus Schein und Flitter das ungeheure Widerspiel
+des Lebens webt, wahrer als alle Wirklichkeit, tiefer
+als alles reale Erdengeschehen ...</p>
+
+<p>Als er so in stummem Lauschen den Gang der
+gigantischen Maschine verfolgte, die das werdende Werk
+schuf &mdash; da sah er plötzlich aus der Gruppe sechs ein
+Augenpaar mit hartem, feindlichem Ausdruck zu sich
+herüberblitzen. Es waren Valentin Pilgrams Augen ...</p>
+
+<p>Im Nu war er an der Seite des einstigen Korpsbruders.</p>
+
+<p>»Pilgram, Du? Also endlich ... endlich seh' ich Dich
+mal wieder ...«</p>
+
+<p>»Hm ... hat Dir wohl wenig dran gelegen &mdash; sonst
+hättest Du das Vergnügen früher haben können ...«</p>
+
+<p>»Hast ganz recht, es ist meine Schuld ... es ist ein
+Skandal, daß ich mich so gar nicht um Dich gekümmert
+habe ... Aber wenn Du wüßtest ... ich will mich auch
+bessern, sei mir nicht bös ... Und nun sag' nur, wie
+kommst Du hierher?«</p>
+
+<p>»Das könnte ich Dich fragen,« sagte Pilgram hart.</p>
+
+<p>»Nu &mdash; ich ... Du weißt doch, daß ich Dich selber
+seinerzeit schon um Erlaubnis gebeten hatte &mdash; Du wolltest
+nicht ... Na, nun haben wir den Volkner, der ... denkt
+ein bißchen anders über solche Sachen ...«</p>
+
+<p>»Jawohl ... und seid mich glücklich los ... gratuliere.«</p>
+
+<p>»Aber Pilgram! Du weißt doch, wie furchtbar leid
+es uns allen getan hat ...«</p>
+
+<p>»Dir auch?!« fragte Pilgram finster.</p>
+
+<p>»Ich versteh Dich nicht, Pilgram ... so wie Du und
+ich doch immer miteinander gestanden haben ...«</p>
+
+<p>»Hm ... wenn Deine korpsbrüderlichen Gefühle für
+mich ... echt gewesen wären ... dann hätten sie sich wohl
+ein bißchen besser gehalten ...«</p>
+
+<p>»Aber Pilgram &mdash;!«</p>
+
+<p>»Ruhe, meine Herren!« fuhr der Inspizient dazwischen.
+»Sie da, Sie gehören doch überhaupt zur Gruppe sieben
+&mdash; nu bleiben Sie gefälligst aber auch bei Ihrem Haufen!
+Ausquatschen können Sie sich ja genügend, wenn's hier
+aus geworden ist!«</p>
+
+<p>»Wir sprechen uns noch!« sagte Thumser und trat zu
+seiner Gruppe zurück.</p>
+
+<p>Himmel &mdash; was hatte der Pilgram nur? Und wie
+schrecklich er sich verändert hatte in den wenigen Tagen
+seit seinem Austritt aus dem Korps ... Die Augen, tiefumrändert,
+waren in ihre Höhlen gesunken ... der sonst
+so peinlich korrekte Anzug vernachlässigt ... die früher
+straffen und sicheren Bewegungen unruhig und zerfahren
+...</p>
+
+<p>Und Valentin Pilgram fragte sich: Wie ist es möglich,
+daß ich es bis heute ausgehalten habe, diesen falschen
+Hund nicht zu stellen? &mdash; Es kann ja nur sein böses Gewissen
+sein, das ihn von mir ferngehalten hat ... alle
+die Tage, die zwei Wochen seit ... damals ...</p>
+
+<p>Ha, warum hatte er's nicht getan? Aus Furcht vor ...
+einer neuen Uebereilung ... einer neuen Blamage ...</p>
+
+<p>Daß Thumser seine Hand in dem schändlichen Spiele
+gehabt haben müsse, das man ihm gespielt, das war ja
+klar. Der Briefbogen mit dem Frankenzirkel und dem
+H.&#x202f;T. auf der Rückseite und mit Jucundas Absagebrief
+auf der Vorderseite &mdash; das war ja doch ein untrüglicher
+Beweis. Mit Jucundas Absagebrief! Ja, ein Absagebrief,
+das war's, und nichts andres! Die glatten,
+gleißnerischen Dankesworte, ihn, den Desillusionierten,
+blendeten sie nicht mehr. Er verstand, sie hatte ihn verleugnet,
+er hatte sie verloren. Aber wie kam der andere
+dazu? Welche Rolle hatte er gespielt in dem Gewirr von
+Ränken und Tücken, von denen Valentin Pilgram sich
+umstrickt sah? Das war nicht zu erraten und nicht zu
+erfahren ... Und aufs Geratewohl abermals unbedacht
+zufahren mit einem züchtigenden Wort, einem rächenden
+Schlag &mdash; Valentin Pilgram besaß nicht mehr die frühere
+Sicherheit des Handelns, seit sein Instinkt ihn so schmählich
+in die Irre, in die Wirrnis, in die lächerliche Don-Quichottiade
+hineingestoßen hatte. So hatte er von einem
+zum andern Tage gewartet und gewartet in der dumpfen
+Hoffnung, daß irgend etwas sich ereignen würde, das
+ihm Klarheit gäbe ... Er hatte auf ein Wiedersehen mit
+Jucunda, auf einen Besuch Thumsers gehofft, auf eine
+Aussprache mit ihr und mit ihm, in deren Verlauf er
+brüsk und kategorisch die Frage hätte stellen können: Wie
+war das möglich? Wie ist dieser Brief auf dieses Blatt
+geraten? Erklärt mir den Zusammenhang, zerstreut
+meinen grausamen Verdacht und bekennt, bekennt und
+empfangt den Lohn, den Euer Verrat verdient!</p>
+
+<p>Aber nichts von alledem war geschehen. So häufig er
+den teilnahmsvollen Besuch seiner ehemaligen Korpsbrüder
+erhielt, so oft er mit ihnen am dritten Orte zusammentraf
+&mdash; der schlanke Fuchsmajor blieb aus. Und Jucunda?
+Sie war wie aus der Welt verschwunden. Wohl hörte er
+abends ihr Heimkommen aus dem Theater, ihr herzhaftes
+Gähnen, den energischen Plumps, mit dem sie sich arbeitsmüde
+auf ihr krachendes Bettchen warf, und nachts, wenn
+er sich schlaflos auf seinem Lager wälzte, ihr geruhsames,
+selbstzufriedenes Schnarchen ... denn bei Gott, sie
+schnarchte wie ein Mann ... Und morgens vernahm
+er wohl, wie sie leise ihre Rollen repetierte. Ach, wie
+gern hätte er noch einmal den sonoren Alt in seinem
+vollen Glanze von da drüben schmettern gehört! Aber
+sie hatte einen Flor über ihr Organ gebreitet, und er
+fühlte, das war die Scheu vor ihm. Und die gleiche Scheu
+mußte es sein, unter deren Druck sie es darauf anlegte,
+ihm um jeden Preis aus dem Wege zu gehen. Es war,
+als überwache sie sein Gehen und Kommen und richte
+ihre eigenen Ausgänge, ihre Rückkunft danach ein. Oft
+legte er es geradezu darauf an, mit ihr im Korridor, auf
+der Treppe zusammenzutreffen, aber wie ein Geist war
+sie dann von hinnen gehuscht, hinter irgend einer Tür
+verschwunden, die Treppe hinuntergeschnurrt ...</p>
+
+<p>Der tolle Wirrwarr von Wut und Sehnsucht, von
+Ekel und Hingebung, in dem seine Tage, seine Nächte
+dahinrannen, trieb ihn immer und immer wieder ins
+Theater. Und dann sah und hörte er nichts von dem
+Stück &mdash; er sah, er fühlte, er träumte nur Jucunda. In
+welcher Gestalt, welcher Maske, welchem Gewande sie auf
+der Bühne stand, ihm galt es gleich. Er sah nicht die
+Künstlerin, er sah nur das Mädchen, dem seine Seele wie
+sein Leben verfallen war. Fiebernd, stumpfsinnig harrend
+ließ er die Auftritte an sich vorübergehen, bis sie erschien.
+Von folternden Schmerzen zermartert und doch an ihr
+Bild gebannt, weit vorgebeugten Oberkörpers, verfolgte
+er jeden Schritt, jede Bewegung, bis sie wieder die Bühne
+verließ oder der Vorhang fiel &mdash; er hätte seinen Nachbarn
+an die Kehle fahren können, wenn sie fanatisch Beifall
+trampelten, wenn sie wie toll ihr »Buchner! Buchner!«
+riefen ... Und wenn's zu Ende war, dann stand er
+draußen unter der harrenden Rotte der Verehrer, den
+Kragen seines Paletots hoch aufgeklappt, den Hut tief in
+die Stirn geschoben, sah sie vorüberschweben und mit
+königlicher Gnade ein Lächeln rechts, ein Lächeln links
+verteilen, atmete tief und stöhnend auf, wenn der Wagenschlag
+klappte, die Pferde anzogen ... Wenn aber nach
+der Premiere die schäumende Begeisterung der Jugend
+abermals den gewohnten Triumphzug entfesselte, dann
+stellte sich Valentin Pilgram inmitten derer auf, die von
+hinten Jucundas Wagen schoben, und arbeitete im
+Schweiße seines Angesichts. Dann war ihm am wohlsten,
+dann fühlte er sich ihr am nächsten ...</p>
+
+<p>Und als er eines Tages auf den Anschlagsäulen ersah,
+daß der »Wallenstein« in Vorbereitung sei, da fiel ihm
+Thumsers Bitte ein, in diesem Stücke mit statieren zu
+dürfen. Damals hatte er als Senior diese Bitte abgeschlagen,
+nun nickte er sich selbst ein bitter lächelndes Ja,
+als eine Stimme in ihm befahl, er solle sich in die Schar
+der Pappenheimer Kürassiere mischen, um den Geliebten
+aus Theklas Armen und in den Schwertertod hineinzureißen
+... Und so war er nun hier, in dieser pappdeckelnen,
+bretternen Trödelwand. Nie hätte er sich's
+träumen lassen ... Nun war er, der weiland Erste Franconias,
+ein Statist in Gruppe sechs ...</p>
+
+<p>Die Probe ging ihren Gang.</p>
+
+<p>Wie eines Meisters Hände den bildsamen Ton, so
+knetete Franz Burgs zielsichere Regie die Schar der zweiundsiebenzig
+jungen und älteren Männer in eine Horde
+entfesselter Pappenheimscher Soldateska um. Immer
+und immer wieder wurde eine Gruppe nach der andern
+die Treppe hinauf- und hinuntergejagt, jedes Knurren der
+Wut, jedes Aufheulen der Begeisterung wurde einstudiert,
+jede Bewegung, jeder Blick festgelegt und in das tausendmaschige
+Gewebe des farbenleuchtenden Teppichs eingefügt,
+den der Szenenmeister vor dem lauschenden Publikum
+zu entrollen gedachte. Und immer klarer, immer
+überzeugender modellierte sich das Bild des kurzen, erschütternden
+Vorganges heraus, wie die todestrunkene
+Schar der Kürassiere sich ihren Führer aus den Verstrickungen
+der Liebespflicht herausholt und ihn auf schäumender
+Woge hinwegreißt in Tod und Vernichtung.
+Keiner spürte Ermüdung, keiner nahm Anstoß am derbsten
+Poltern, am spitzigsten Spotte des eisernen Mannes, der
+diese Zweiundsiebzig am Drahte seines Willens zappeln
+ließ wie ebensoviel Marionetten.</p>
+
+<p>Und endlich schien's getan: tief aufatmend lachte Franz
+Burg: »So, Herrschaften, ich denk', nun könnt Ihr's, jetzt
+kommt der Tragödie zweiter Teil: Rüstungen verpassen!
+Also Pause zum Verschnaufen und dann gefälligst gruppenweise
+hinauf zur Rüstkammer, dort laßt Ihr Euch die klapprigen
+Konservenbüchsen um den Leib hängen, holt Euch
+Euren Eisentopf und Eure Bratspieße &mdash; und denn geht's
+wieder von vorne los!«</p>
+
+<p>Da leuchteten die ermüdeten Augen der abgejagten
+Schar wieder hell auf. Das hatte ja nur noch gefehlt, das
+Kostüm, das vollendete die Verwandlung, das brachte das
+Letzte an Stimmung, was noch fehlte ... Und während
+die Gruppen zwei bis sieben sich plaudernd und lärmend in
+dem dunklen Hintergrunde des schwarzgähnenden Bühnenraumes
+verloren, kletterte Gruppe eins unter Führung des
+Inspizienten lachend und prustend die hallenden Steintreppen
+hinauf, um droben das Eisengewand der Pappenheimer
+anzulegen.</p>
+
+<p>Hans Thumser hatte sich vergebens den Kopf zerbrochen,
+weshalb wohl der Korpsbruder so maßlos gereizt
+auf ihn sein könne. Himmel ja, er hatte ihn ja unverantwortlich
+vernachlässigt in der letzten Zeit &mdash; aber schließlich
+war das doch kein Grund, ihn dermaßen hundemiserabel
+zu behandeln. Na, man würde nochmals um Entschuldigung
+bitten, und dann müßte der arme Kerl doch
+schließlich Vernunft annehmen. Also, wo steckt er denn
+bloß?</p>
+
+<p>Gruppe sechs &mdash; wo ist Gruppe sechs? jawohl &mdash; alles
+durcheinander gewürfelt, alles wie verschluckt von der
+schwarzen Finsternis dahinten jenseits des Prospekts.</p>
+
+<p>Hans Thumser drängte sich durch die Gruppen der
+»Kürassiere«, rief hin und wieder halblaut Pilgrams
+Namen, aber umsonst, der Freund ließ sich nicht sehen &mdash;
+schließlich postierte er sich unten an der Treppe, die zur
+Rüstkammer hinaufführte. Aber selbst als Gruppe sechs,
+der er angehörte, vom Inspizienten zum Empfang der
+Rüstungen geführt wurde, war Valentin Pilgram nicht
+darunter. Es schien, er wolle sich nicht sehen lassen ...
+und schließlich konnte Hans das am Ende begreifen: er
+war eben böse, weil Hans ihn so schnöde vernachlässigt
+hatte. Nun, das ließ sich am Ende nachholen ...</p>
+
+<p>Und mit ganz wunderlichen Empfindungen ließ sich
+auch Hans Thumser den rasselnden Eisenharnisch der
+Pappenheimer Kürassiere um die geschmeidigen Glieder
+schnallen. Es war ja nur Spiel, nur Mummenschanz &mdash;
+und doch, welch sonderbare Macht lag in diesem starren
+Eisengewand, lag überhaupt im Kostüm! Hans meinte
+ordentlich zu fühlen, wie er ein anderer wurde, wie
+schlichte, rohe und starke Gefühle aus jahrhundertfernen
+Tiefen sich an die Oberfläche seiner Seele drängten, wie
+er verschmolz mit der gepanzerten Schar seiner Gefährten
+...</p>
+
+<p>Und nun hinunter! Die matt erhellten Korridore, der
+stockfinstere Raum hinter dem Prospekt war nun von geheimnisvollem
+Rascheln und Klirren erfüllt. Es war, als
+sei der Geist der Wallensteinschen Soldateska über die</p>
+
+<p>ganze junge Schar gekommen: rauher und härter klangen
+die Stimmen, derber und knapper die Scherze, das Gelächter.</p>
+
+<p>Und von neuem begann die Probe. Teufel! war das
+schwer, sich in diesem niederwuchtenden Gewand, in den
+kolossal steifen Stulpenstiefeln zu bewegen, den mächtigen
+Pallasch mit dem breit ausladenden Stahlkorb nicht
+zwischen die Beine zu bekommen! Und nun gar die
+Treppen hinauf, hinunter! Da verhedderte sich mancher
+in den handlangen stählernen Sporen, stolperte, krachte zu
+Boden und mußte schwerfällig, wie eine Schildkröte, von
+den Kameraden aufgerichtet werden.</p>
+
+<p>Und unten auf dem Podium inmitten des Schloßsaales
+stand Franz Burg und hielt sich beide Seiten vor Lachen ...
+und neben ihm im Halbkreis gruppiert: Thekla, Terzky,
+Illo, Buttler, Max Piccolomini &mdash; und alle lachten sie sich
+schier zu Tode über die stolpernde, prustende, schwitzende
+Kürassiergarde.</p>
+
+<p>Und doch, allmählich klärte sich auch dies neue Chaos.
+Und endlich sagte Franz Burg:</p>
+
+<p>»So, meine Herrschaften, nun fangen wir richtig zu
+probieren an! Also bitte, Kürassiere von der Bühne, die
+Soloherrschaften an ihre Plätze!«</p>
+
+<p>Und abermals stand die harrende Schar der Eisenreiter
+im Hintergrunde zu Füßen der schmalen Holztreppe versammelt
+&mdash; und abermals klang's von drinnen herrenhaft
+in grollendem Erzklang:</p>
+
+<p>
+»Terzky!«<br />
+<span style="margin-left: 4em;">»Mein Fürst!«</span><br />
+<span style="margin-left: 10em;">»Laß unsre Regimenter</span><br />
+Sich fertig halten, heut noch aufzubrechen,<br />
+Denn wir verlassen Pilsen noch vor Abend.«<br />
+</p>
+
+<p>Und Gruppe auf Gruppe erhielt ihr Stichwort, Gruppe
+auf Gruppe klirrte die Treppe hinauf, strudelte die Galerie
+entlang, ergoß sich in den Saal hinab ...</p>
+
+<p>Als aber Gruppe sechs aus dem Finster der Bühnentiefe
+die Treppe hinanstieg, sah Hans Thumser, daß Pilgram
+doch noch vorhanden war. Seine riesige Gestalt,
+sein hartes Herrengesicht standen vortrefflich zu der blanken
+Wehr &mdash; aber kein Blick für den einstigen Korpsbruder ...</p>
+
+<p>Was er nur haben mochte? &mdash; Das war doch Kinderei,
+so offiziell zu tun.</p>
+
+<p>»Also Gruppe sieben!« zischte der Inspizient. »Los!
+Los!«</p>
+
+<p>Und Hans Thumser keucht die schmalen Stufen empor,
+stößt wie die Kameraden rauhe gurgelnde Töne aus,
+stutzt droben am Treppenrande, stutzt und verstummt ...</p>
+
+<p>Aber nicht nur, weil es so probiert ist ... Im gelben
+Lichte der Proberampe sieht er drunten Jucunda Buchners
+schmales Prinzessinnengesicht ... aber jetzt nicht mehr wie
+vorhin, von Lachen und Schelmerei gerötet &mdash; nein, nun
+ist sie plötzlich Thekla, das verzweifelnde Kind, das Liebe,
+Glück, Leben versinken sieht in den eisenschäumenden
+Wogen des Schicksals. So abgrundtief, so herzdurchbohrend
+der Ausdruck des Schmerzes auf ihren tränengefurchten
+Wangen &mdash; Hans Thumser kann den Blick nicht
+lassen von diesem Bild adligen Grams ...</p>
+
+<p>Aber die Masse der Kameraden schiebt ihn vorwärts
+&mdash; und plötzlich fühlt er keinen Boden mehr unter seinen
+Füßen, er strauchelt, schlägt krachend nach vorn, alle
+Glieder knacken &mdash; tausend Feuerräder kreiseln in seinem
+Hirn &mdash; ein lauter Aufschrei übertönt das Knacken und
+Klirren der hundert Eisenringel, die seine Glieder umschlossen
+halten und im Sturz in Schulter und Schienbein
+sich hineinzwängen &mdash; und dann nichts mehr.</p>
+
+<p>Eine hilflose Masse, so war des Studenten Körper die
+fünfundzwanzig Stufen der Freitreppe hinuntergekollert,
+anfangs noch ein wenig aufgehalten durch die Schienbeine
+seiner Vordermänner, dann aber, als alles instinktiv zur
+Seite sprang, ganz hemmungslos. Nun lag er bleich, mit
+geschlossenen Augen am Fuß der Treppe. Die Sturmhaube
+war ihm vom Kopf gefallen und in weiten Sprüngen
+ihm voran in den Saal hineingehüpft. Einen Augenblick
+hatte alles vor Schrecken erstarrt gestanden, nun sprangen
+fünf, sechs der nächststehenden Kürassiere zu und richteten
+den schwerfälligen Körper auf.</p>
+
+<p>Durch den Wall der Geharnischten aber drängte sich
+Jucunda Buchner hindurch. Sie hatte den Jüngling
+straucheln und vornüber stürzen gesehen und in dem
+Augenblick sein Gesicht erkannt, ohne daß sie gleich
+wußte, woher. Nun kniete sie neben dem aufgerichteten
+Oberkörper des Studenten nieder, umfaßte seine Schultern
+und legte seinen zerschundenen Kopf behutsam auf ihr
+Knie. Und da schlug Hans Thumser die Augen auf &mdash;
+und in diesem Augenblick wußte Jucunda, wo sie
+diesen leuchtenden Blick schon einmal gesehen hatte &mdash;
+der junge Poet ... er, neben dessen »schwindelschmalem
+Pfade Abgründe klafften rechts und links« &mdash; nun, in einen
+dieser Abgründe war er nun glücklich hineingeplumpst ...
+freilich, es schien ihm ganz gut bekommen zu sein, denn
+mit einem zufriedenen Lächeln schloß er die erstaunten
+Augen, reckte sich ganz behaglich und machte sich's ordentlich
+bequem auf dem weichen Kissen, auf das er sich gebettet
+fühlte.</p>
+
+<p>Und nun löste sich der allgemeine Schreck in ein befreites
+Aufatmen. Da schlug der Student die Augen abermals
+auf, und nun schien ihm das Komische seiner Situation
+bewußt geworden zu sein: mit einem Ruck richtete
+er den Oberkörper auf, sprang auch sofort auf die Beine
+und reckte die Knochen.</p>
+
+<p>»Na? Kein edlerer Teil entzwei?« fragte der dröhnende
+Baß des Szenenleiters. Hans Thumser versuchte
+sich diejenige Stelle seines Körpers zu reiben, welche bei
+dem Fall am meisten in Mitleidenschaft gezogen war,
+aber das gelang ihm nicht &mdash; sie war zu gut gepanzert ...</p>
+
+<p>Nun brach ein endlos dröhnendes Gelächter aus, dazu
+rasselten die Rüstungen der Pappenheimer, die sich die
+eisenbewehrten Bäuche hielten. Am hellsten aber lachte
+Jucunda. In einer raschen Wallung trat sie auf den
+jungen Burschen zu und klopfte ihm mit beiden Händen
+die glühenden Backen.</p>
+
+<p>»Dunnerwetter!« tönte da aus den Reihen der Kürassiere
+eine neiderfüllte Stimme. »Ich wär' nächstens ooch
+mal de Treppe 'nunner purzeln!«</p>
+
+<p>»Na, ich dächte, nach diesem kleinen Zwischenfall probieren
+wir weiter!« rief Burg, »also alles zurück, meine
+Herrschaften, und noch einmal von vorne!«</p>
+
+<p>Hans Thumser war's nun aber doch zumut, als
+klapperten alle seine Knochen einzeln und lose in dem
+großen Blechtopfe durcheinander, der sie einschloß &mdash; und
+er bat um die Erlaubnis, sie wieder zusammenzusuchen.</p>
+
+<p>Als dies gewährt worden war, trat er vorn an die
+Proberampe und kam neben Jucunda zu stehen. Die lachte
+ihn an und flüsterte ihm zu:</p>
+
+<p>»Ich habe ja so lange nichts mehr von Ihnen gehört &mdash;
+warten Sie nach der Probe auf mich &mdash; ich möchte wissen,
+wie es Ihnen inzwischen ergangen ist!«</p>
+
+<p>Da wurde es Hans Thumser klar, daß er wieder mal
+mehr Glück als Verstand gehabt hatte ...</p>
+
+<p>Noch eine weitere halbe Stunde voll schwitzenden Bemühens
+&mdash; dann war's geschafft. Und nun harrte der
+Student am Bühnenpförtchen seiner Göttin. Er drückte
+sich in den dunklen Schatten der Donnermaschine und ließ
+den Schwall der Geharnischten an sich vorüber strudeln.
+Und endlich kam sie &mdash; kam nicht allein, sondern am Arm
+der majestätischen Kollegin Frau Anna Cederlund, welche
+die Gräfin Terzky spielte. Im ersten Augenblick verließ
+den Studenten der Mut ... Als aber die beiden ragenden
+Frauengestalten an ihm vorüberschritten, ohne ihn zu bemerken,
+da sprach's in ihm: Sei kein Narr! Und er schoß
+aus seiner Finsternis hervor, daß die Frauen ordentlich
+zusammenschraken.</p>
+
+<p>»Gnädigste haben mich zu sprechen befohlen!«</p>
+
+<p>»Ah, sieh da, Herr Dummerle! Nun? Was macht die
+Poesie? Gestatten Sie, Annerl &mdash; Herr Studiosus Dummerle,
+dichtet &mdash; hat immer die Nase in der Luft und
+purzelt deswegen mit Vorliebe die Treppen hinunter &mdash;
+meine Kollegin, Frau Cederlund. Ja, also was fang' ich
+nun mit Ihnen an? Wissen Sie was? Sie könnten ja
+auch mal zu mir zum Tee kommen &mdash; wollen Sie?«</p>
+
+<p>»Darf es heute sein?« antwortete Hans Thumser.</p>
+
+<p>»Aber warum denn nicht? Also um fünf &mdash; soll's
+gelten?«</p>
+
+<p>Hans Thumser konnte sich nur stumm verneigen &mdash;
+tief, tief auf die schlanke Hand, die sich ihm entgegenstreckte
+&mdash; und dann war's vorbei ...</p>
+
+<p>Und wie ein Begnadeter stolperte Hans Thumser die
+hallenden Steintreppen zur Rüstkammer hinauf, um sich
+aus einem Pappenheimer wieder in einen Fuchsmajor
+zu verwandeln. Zwei Minuten aber, nachdem das Eisenpförtchen,
+das vom Bühnenraum zum Garderobenumgang
+führte, hinter ihm zugeklappt war, löste sich aus dem
+Dunkel der Kulissen noch eine zweite Kürassiergestalt los.
+Die einsame Glühbirne, die am Inspizientenpulte brannte,
+beleuchtete ein finstres, verzerrtes Jungmännergesicht
+unter dem tiefschattenden Doppelschirm der Sturmhaube:
+es war das Gesicht des weiland Ersten der Franconia.</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>11.</h2>
+
+<p class="start-chapA">Asta Thöny war ein wenig eingenickt nach dem bescheidenen
+Mittagsmahl, das Frau Wehe ihr aufgetischt.
+Nun fuhr sie empor, flog ans Fenster, steckte den
+glühenden Kopf hinaus und klatschte jubelnd in die Hände,
+als sie die ersten Schneeflocken durch das mürrische Grau
+der Sophienstraße wirbeln sah ...</p>
+
+<p>Köstlich! köstlich! Würde das ein fröhliches Streifen
+werden mit dem geliebten Jungen durch dies wattige Weiß
+hindurch an der graulich gurgelnden Pleiße entlang! Sie
+wußte, wie gut ihr die prachtvolle Sealskingarnitur stand,
+das splendide Andenken ihres Rittmeisters in Gera ...
+Und nun schmückte sie sich nach Herzenslust für den Leipziger
+Freund. Ob er wohl schon daheim war? Sie klopfte
+an die Wand &mdash; keine Antwort. Na, er würde schon nicht
+auf sich warten lassen, um vier Uhr hatte er ja versprochen
+sie zum Spaziergang abzuholen. &mdash; Aber es wurde vier &mdash; und
+kein Hans Thumser! Na, vielleicht war er schon längst
+zu Hause und lag drüben auf seinem Kanapee in den geliebten
+Nachmittagsschlaf versunken. Sie hatte eine Tüte
+Pralinees für ihn gekauft, sie kannte seine schwache Stelle.
+Die steckte sie in die Jackettasche, hüpfte zur Tür hinaus und
+pochte an die seine; da keine Antwort kam, klinkte sie auf
+&mdash; und richtig &mdash; da lag er auf dem Sofa, lang hingestreckt,
+in Hemdsärmeln, das blinkende Korpsband über der
+Weste. Auf Zehen schlich sie heran und hielt ihm die
+duftende Tüte unter die Nase. Da schlug er blinzelnd die
+Augen auf, lachte sie fröhlich an und breitete die Arme
+aus &mdash; mit einem leisen Jauchzen warf sie sich hinein.</p>
+
+<p>Nachdem sie sich satt geküßt, richtete sie sich stramm
+auf und befahl:</p>
+
+<p>»So, nun antreten zum Spaziergang!« (Die militärischen
+Allüren ihrer jüngsten Vergangenheit saßen ihr
+noch in den Gliedern.)</p>
+
+<p>Aber statt des erwarteten Entzückens trat in Hans
+Thumsers Züge plötzlich eine peinliche Befangenheit, und
+ein Erröten stieg ihm langsam in die Augen.</p>
+
+<p>»Nun, was ist Dir?«</p>
+
+<p>»Liebes Kind, ich bin trostlos ... Spaziergang ist
+nicht.«</p>
+
+<p>»Was ist das? Was fällt Dir ein!«</p>
+
+<p>»Ja ... ich ... ja ... ich ... es tut mir entsetzlich
+leid ... aber ... wir haben heute nachmittag C.&#x202f;C. ...«</p>
+
+<p>»Das ist abscheulich, Hans! Wie kommt denn das, was
+ist denn los?! Und ich hatte mich doch so gefreut, habe
+mich so hübsch für Dich gemacht, das hast Du Ungeheuer
+überhaupt noch gar nicht bemerkt!«</p>
+
+<p>»Ob ich das bemerkt habe! ... aber &mdash; es tut mir riesig
+leid, Du weißt, das Korps spaßt nicht.«</p>
+
+<p>Asta sah, daß er ihren Blick vermied &mdash; lügen hatte er
+noch nicht gelernt.</p>
+
+<p>»Du, das mit dem C.&#x202f;C. das ist geschwindelt, da steckt
+was andres dahinter! Beichte!«</p>
+
+<p>»Aber nein ... ganz wahrhaftig, Kind, wir haben
+C.&#x202f;C., Du kannst Dich drauf verlassen.«</p>
+
+<p>»Sieh mich an, Hans &mdash;! Siehst Du, Du kannst es
+nicht &mdash;«</p>
+
+<p>»Aber ja ... ich kann's.«</p>
+
+<p>Nein wahrhaftig, er konnte es nicht.</p>
+
+<p>»Also heraus damit! Was ist los?«</p>
+
+<p>Sie stampfte mit den zierlichen Füßen auf, die in mächtigen
+pelzbesetzten Boots steckten.</p>
+
+<p>Hans kämpfte einen Augenblick, dann sah er ihr gerade
+ins Gesicht mit dem Ausdruck eines trotzigen Buben, der
+sich auf einer Schandtat ertappt sieht:</p>
+
+<p>»Die Buchner hat mich zum Tee geladen.«</p>
+
+<p>»Das ist nicht wahr! Das darf nicht wahr sein!«</p>
+
+<p>»Aber warum soll ich denn nicht auch mal zur Buchner
+zum Tee gehen?«</p>
+
+<p>»Weil Du mir gehörst. Das gibt's nicht. Da wird
+nichts draus.«</p>
+
+<p>»Ich hab's versprochen.«</p>
+
+<p>»Dann bleibst Du eben einfach weg. Die Buchner
+weiß ganz genau, daß Du mein bist. Es ist eine Niedertracht
+von ihr &mdash; ich laß mir's nicht von Dir gefallen!«</p>
+
+<p>»Und ich laß mir's nicht von Dir gefallen, daß Du
+über mich verfügst, wie über ein Spielzeug.«</p>
+
+<p>»Hans, so darfst Du nicht zu mir sprechen, das weißt
+Du auch, daß Du das nicht darfst! Du hast auch ein böses
+Gewissen dabei!«</p>
+
+<p>Hans Thumser ging mit drei raschen Schritten ans
+Fenster und trommelte an die Scheiben. Wahrhaftig, sie
+hatte recht &mdash; es war ihm hundeelend zumute &mdash; nichts
+als Liebes hatte sie ihm getan, weit über Hoffen und
+Träumen hinaus hatte sie ihn glücklich gemacht ... und
+er &mdash; er hatte immer über sie hinweg geträumt von der
+andern.</p>
+
+<p>»Nun, hast Du Dich besonnen &mdash; kommst Du mit mir?«</p>
+
+<p>»Ich kann's nicht ... ich hab's versprochen.«</p>
+
+<p>»Und mir? &mdash; Wem hast Du's zuerst versprochen, mir
+oder ihr?«</p>
+
+<p>»Aber Kindchen, das mußt Du doch einsehen ... daß
+das für mich &mdash; wie soll ich sagen &mdash; daß das für mich
+eine große Sache ist ... schließlich ist sie doch ... die
+Buchner.«</p>
+
+<p>»Ach so &mdash; und ich, ich bin nur die Thöny, die kleine
+Thöny, und sie die große Jucunda! Hansel, das wird Dir
+noch mal leid tun!«</p>
+
+<p>Laut aufweinend stürzte sie hinaus ... die Schleppe
+ihres Pelzjacketts fegte die Pralineetüte vom Tisch, und
+alles kollerte in die Stube. Hans Thumser mußte aufsammeln.
+Dabei glühten seine Backen vor Scham. Es
+war wirklich hundsgemein von ihm, das herzliebe Mädel
+so ruppig zu versetzen &mdash; er fühlte, er hatte sie bis ins
+Tiefste gekränkt. Mit hundert Gewalten zog's ihn hinüber,
+die Tränen von den schönen Augen wegzuküssen, die ihm
+so manche Stunde durchsonnt hatten ... und dann fiel
+sein Blick auf Jucundas Bild, auf das bronzene Heroinenprofil,
+das unterm Helm der Jungfrau so sieghaft leuchtete.
+&mdash; Und er wußte, daß zehn Astas diese Stunde nicht aufwiegen
+würden, die ihm bevorstand.</p>
+
+<p>Er lauschte &mdash; wieder wie in jener ersten Nacht klang
+da drüben jenseits der Doppeltür und der beiden Kleiderschränke,
+die sie verbarrikadierten, das herzerschütternde
+Weinen ... aber diesmal nicht verhalten wie damals &mdash;
+nein &mdash; in wilder leidenschaftlicher Empörung. &mdash; Und
+diese, diese Tränen hatte er auf dem Gewissen ...</p>
+
+<p>Und das war so niederträchtig, so infam: daß man im
+tiefsten Grunde seiner Seele sogar noch etwas wie eine
+Genugtuung empfand über diese Tränen, die man selbst
+verschuldet hatte. War es nicht eigentlich ein verdammt
+stolzes Gefühl, daß man ein Kerl war, um den so heiße
+Mädchentränen fließen konnten?</p>
+
+<p>Hans Thumser warf einen Blick in den Spiegel: also
+so sieht so ein verfluchter Gesell aus, um den ein Mädchen
+wie Asta Thöny &mdash; Tausende würden ihn beneiden um
+so einen süßen Kameraden! &mdash; um den so ein himmelsüßes
+Geschöpf sich quält?</p>
+
+<p>Und mit einem verwegenen Ruck stülpte er die grüne
+Franken-Mütze auf den braunen Schädel und ging zu
+Jucunda Buchner.</p>
+
+<p class="start-chapW space-above">War's nicht eigentlich toll? Hans Thumser war in
+einer ganz niederträchtig vergnügten Stimmung, als
+er durch das wirbelnde Flockengestiebe den Peterssteinweg,
+die Petersstraße hinanschlenderte. Jedem Mädel
+guckte er verwegen, wie er's nie getan, unters Pelzbarett:
+Ja, wenn ihr wüßtet, ihr Leipziger Gänschen &mdash;! Eben
+hab' ich die Asta Thöny geküßt ... die von den Meiningern,
+ihr wißt doch! Und nun &mdash; nun gehe ich zur
+Buchner ... und wer weiß &mdash; wer weiß! So ein Kerl
+bin ich, verflucht nich noch mal!</p>
+
+<p>Als er den schneebepuderten Marktplatz überquerte
+und in die Katharinenstraße einbog, fiel ihm plötzlich ein,
+daß er ja nun endlich den Weg zu Valentin Pilgrams
+Wohnung gefunden habe. Der arme Junge! Ob der wohl
+auch schon mal von Jucunda Buchner zum Tee geladen
+worden war? Wohl schwerlich &mdash; und doch, was alles
+hatte der an dies Mädchen gesetzt ... und er &mdash;? Er hatte
+nichts getan, und alles fiel ihm in den Schoß. Teufel auch
+&mdash; man war eben ein Poet, ein Götterliebling &mdash;! nischt
+wie verdammte Pflicht und Schuldigkeit vom Schicksal!</p>
+
+<p>Ob er den armen Burschen wohl mal aufsuchte?
+Eigentlich hätte sich's gehört ... daß er gekränkt war,
+lag ja auf der Hand nach seinem Benehmen von heut
+morgen ... aber freilich ... erst zu Pilgram gehen und
+dann sich von ihm verabschieden mit der Erklärung, man
+sei zu Jucunda Buchner zum Tee geladen &mdash; das war
+doch wahrhaftig mehr eine Kränkung, wie die Dinge nun
+einmal lagen, als die Erfüllung der längst geschuldeten
+Freundschaftspflicht. Also lassen wir's doch lieber ...</p>
+
+<p>Glücklicherweise, im letzten Augenblick, fiel's ihm ein,
+daß er ja noch ohne Blumen war. Er fand eine Gärtnerei,
+wählte die herrlichsten Rosen, die es gab, und erschrak
+nicht im mindesten, als die Verkäuferin ihm fünf Mark
+abverlangte. Denn diesmal war's ja in der ersten Hälfte
+des Monats und nicht Ultimo, wie damals, als er mit dem
+gepumpten Markstück ein Dahliensträußchen für Asta erstand
+... Und so bewaffnet bis an die Zähne kletterte
+er die wohlbekannten Stufen im dunklen Treppenhause
+empor und zog die gellende Klingel an der Korridortür
+des Kanzleirats Buchner.</p>
+
+<p>Eine stattliche Frau öffnete ihm. Er erkannte in ihr
+sofort Jucundas Begleiterin von jenem ersten Triumphzuge
+wieder. Alle Wetter ja, seine Idee von damals hatte
+Schule gemacht ... das blitzte ihm so durch den Kopf, als
+er seiner Führerin durch den dunklen Korridor folgte, bis
+sie haltmachte und anklopfte.</p>
+
+<p>»Bist Du es, Mutter?« tönte von drinnen die wohlbekannte
+Stimme ... die Stimme, die durch sein Wachen
+und seine Träume klang. So hatte sein junges Herz noch
+niemals an die Rippen gehämmert ... auch nicht bei
+Beginn des Abiturienten-Examens ... auch nicht vor der
+ersten Mensur.</p>
+
+<p>»Hier ist der Herr, wo Du zum Tee hast eingeladen!«</p>
+
+<p>»Herein &mdash; nur herein!«</p>
+
+<p>Die Tür sprang auf, und als dunkle Silhouette gegen
+die schimmernd weißen Vorhänge abgehoben, stand
+Jucunda. Mit ausgestreckten Händen kam sie ihm entgegen:</p>
+
+<p>»Wie freue ich mich! &mdash; Die Poesie bei mir zu Gast ...
+das ist das erstemal. Laß uns allein, Mutter.«</p>
+
+<p>Hans warf einen Blick in der Stube umher. Tausend
+ja, hier sah's anders aus als damals bei Asta. Jucunda,
+das sah er sofort, hatte nicht vergessen, daß sie sein Kommen
+gewünscht &mdash; alles war sorgfältig für seinen Empfang vorbereitet,
+der Tisch zierlich gedeckt und mit Rosen bestreut,
+die Teemaschine dampfte, Zigaretten, Zigarren standen
+bereit, eine gehäufte Schüssel Gebäcks. Und ringsum
+herrschte Ordnung, Sauberkeit, noch mehr: Schönheit ...
+oder doch wenigstens die deutliche Absicht sie hervorzuzaubern
+... überall Blumenarrangements und Körbe
+lebender Pflanzen, an den Wänden die welkenden Lorbeerkränze
+mit riesigen langflutenden goldbedruckten, goldbefransten
+Atlasschleifen. Uebers Bett aber war ein hermelinbesetzter
+Mantel von Purpursamt königlich hingebreitet,
+und ein frischer Strauß tiefdunkelroter Rosen
+lag oben drauf. Alles war abgetönt mit einem naiven
+Sinn für Eleganz und Repräsentation.</p>
+
+<p>Hans Thumser sah nicht, daß die Möbel abgeschabt, die
+Bezüge verschlissen waren, fühlte nicht, daß der Stuhl
+wackelte, auf den er sich setzte, der Tisch, auf dem das Teegeschirr
+brannte ... auch nicht, daß die Tassen gesprungen
+waren, und hier und da gar ein Henkel fehlte ... ihm war
+zumut, als sei er in einem Königsschloß, in einem
+Märchenpalast. Und wie eine Königin erschien ihm auch
+Jucunda. Sie trug ein lang hinschleppendes Spitzenkleid,
+das ihm vorkam wie eine märchenhafte Kostbarkeit &mdash; er
+konnte ja nicht beurteilen, daß es maschinengewebte
+Spitzen waren, nur bestimmt auf die Entfernung zu
+wirken &mdash; er war im Bann, im Traum. Und nur die
+eine Empfindung durchdrang ihn mit wohligen Schauern:
+hier war er erwartet, hier hatte man Staat für ihn gemacht,
+hier wollte man ihn ehren, ihn entzücken.</p>
+
+<p>Er saß ganz still, als Jucundas große, schlanke Hände
+den Tee bereiteten, und sah nichts als das anmutige Spiel
+der elfenbeinfarbenen Arme, die aus den Spitzenärmeln
+hervorlugten:</p>
+
+<p>»Erinnern Sie sich noch, daß wir schon einmal beim
+Tee zusammengesessen haben?«</p>
+
+<p>»Wie können Sie fragen, gnädigstes Fräulein! Ich
+habe seitdem von nichts geträumt, als daß dies einmal
+kommen könnte ... dies, was jetzt ist.«</p>
+
+<p>Jucunda stellte den dampfenden Tee vor ihn hin, sah
+ihn von oben her mit ironischem Lächeln an und fragte:</p>
+
+<p>»Und Asta?! Haben Sie die Courage gehabt, ihr zu
+verraten, daß Sie heute bei mir sind?«</p>
+
+<p>»Warum sollte ich nicht? Das ist doch nicht verboten!«</p>
+
+<p>»Nun, und was sagte sie?«</p>
+
+<p>Hans wurde rot. Ob Asta geschwatzt hatte? Ob
+Jucunda wußte, wie er mit ihr stand?</p>
+
+<p>»Sehen Sie wohl,« lachte das Mädchen, »Sie können
+nicht antworten &mdash; Sie haben Schelte bekommen &mdash;!
+Dacht' ich mir's doch.«</p>
+
+<p>»Ich wüßte nicht, daß irgend jemand das Recht hätte
+mich zu schelten,« sagte der Student etwas kleinlaut und
+trotzig.</p>
+
+<p>»Sagen Sie das nicht!« sagte Jucunda. »Wohltun
+verpflichtet &mdash; oder ist die ... Episode schon zu Ende?«</p>
+
+<p>»Welche Episode?«</p>
+
+<p>»Fragen Sie nicht so dumm!«</p>
+
+<p>Hans Thumser sah sich durchschaut. Aber wenn
+Jucunda doch wußte, daß Asta immerhin doch gewisse ...
+Ansprüche geltend machen konnte ... warum hatte sie ihn
+geladen, was wollte sie von ihm? Er richtete sich auf:</p>
+
+<p>»Gnädiges Fräulein, ich glaube nicht, daß Sie mich zu
+sich gebeten haben, um mir klar zu machen, daß ich eigentlich
+wo anders hingehörte.«</p>
+
+<p>»Da haben Sie recht,« lachte die Schauspielerin, »Sie
+sind nun einmal hier, nun seien Sie's auch ganz. Asta
+ist tot, es lebe Jucunda, nicht wahr?«</p>
+
+<p>Sie streckte ihm die Fingerspitzen hin, er neigte sich
+darüber.</p>
+
+<p>»Nun, blaue Flecke von heute morgen?«</p>
+
+<p>»An allen Gliedern!« gestand Hans. »Na, irgend
+etwas muß der Mensch doch schließlich tun, um eine solche
+Stunde zu verdienen.«</p>
+
+<p>»O, seien Sie nur ruhig, man wird von Ihnen vielleicht
+noch mehr verlangen!«</p>
+
+<p>»Verlangen Sie.«</p>
+
+<p>»Was macht Ihr Korpsbruder Pilgram?«</p>
+
+<p>»Mein ... früherer Korpsbruder, wollten Sie sagen.«</p>
+
+<p>»Hm ... er tut mir so leid, aber ich habe ihm nicht
+helfen können, er hatte es gar zu eilig, sich in die Bredouille
+zu stürzen &mdash; also, was treibt er? Erzählen Sie!«</p>
+
+<p>»Ja, haben Sie ihn denn heute morgen nicht bemerkt?«</p>
+
+<p>»Wo? doch nicht etwa auch unter den Kürassieren?«</p>
+
+<p>»Gewiß! der Längste und Schönste unter den Pappenheimern.«</p>
+
+<p>»Nein wahrhaftig &mdash; er ist mir nicht aufgefallen! Er
+hat sich ja auch nicht so bemerkbar gemacht wie Sie!«</p>
+
+<p>»Ja, es hat eben nicht jeder den Dusel, über fünfundzwanzig
+Treppenstufen Ihnen geradewegs vor die Füße
+zu kollern.«</p>
+
+<p>»Wie denkt er denn über mich und &mdash; über die ganze
+Affäre?«</p>
+
+<p>»Das weiß ich nicht. Ich schäme mich es zu gestehen,
+aber ich sah ihn seitdem nicht mehr &mdash; meine Schuld &mdash;
+doch was will ich machen? Wenn ich nicht Franke bin, so
+bin ich Meininger, in jeder Stunde, Tag und Nacht. Ach,
+gnädigstes Fräulein, ich habe nie gedacht, daß es so etwas
+gäbe, daß man sich so ganz verlieren, so ganz vergessen
+kann! Ich lebe wie im Fieber &mdash; mir ist, als hätte ich
+Flügel &mdash; ich möchte tausend Augen, tausendfache Sinne
+haben, um all das festzuhalten, was in mir strudelt und
+braust. Was für Hexenmeister seid Ihr: alles, was ich
+ahnte, wenn ich in meinem Knabenstübchen die großen
+Dichter las, ist Leben geworden, Wirklichkeit, Erfüllung ...
+Und damit nicht genug, ich selber, ich schaue nicht nur, ich
+selber stehe mitten drin, in all dem Schwall &mdash; ein Strom
+von Glück und Sehnsucht braust unter mir und wirbelt
+mich auf und nieder. Wo soll ich hin mit all dem Drang
+&mdash; wo soll ich hin?!«</p>
+
+<p>Lächelnd hob Jucunda die Hand und streichelte die
+glühenden Wangen des Jünglings, wie sie es heut morgen
+im Theater getan.</p>
+
+<p>»Sie Dichter!« sagte sie, »Sie Dichter &mdash;! Lassen Sie
+es doch brodeln und gären, lassen Sie's doch! Machen Sie
+Gedichte daraus, schön wie das, welches Sie mir damals
+sprachen ... so schön und schöner noch!«</p>
+
+<p>»Ja,« sagte er, »das will ich tun ... später einmal,
+später, wenn alles das vorüber ist ... denn ich weiß ja,
+es währt nicht ewig ... acht Tage noch, dann zieht Ihr
+fort ... und ich bin wieder, was ich war &mdash; ein armes
+Studentlein, Franconiae Fuchsmajor, einer von Tausenden
+&mdash; und um mich ist wieder nichts als Bier und klirrende
+Speere und Drogenwelt und die Dutzendgesichter
+meiner Kommilitonen &mdash; o Gott! wie soll ich das ertragen!
+Ich weiß, ich werde irgendeine Dummheit machen &mdash; ich
+laufe fort, in die weite Welt, dahin, wo Ihr seid &mdash; wo
+Sie sind, Sie wunderbarer Mensch &mdash; Sie Zauberin!«</p>
+
+<p>»Das werden Sie nicht tun!« sagte Jucunda. »Ich
+weiß, daß Sie das nicht tun werden &mdash; ich weiß, Sie werden
+dann stille Stunden der Besinnung haben ... es wird
+Ihnen werden, wie es denen gewesen ist, deren Verse,
+deren Szenen wir abends sagen und gestalten. Sie werden
+dichten &mdash; glauben Sie's mir.«</p>
+
+<p>»Ach, wenn das wahr wäre &mdash; wenn das möglich sein
+könnte!«</p>
+
+<p>»Es wird so sein,« sagte Jucunda. Ihre Stimme war
+weich, ihre blauen Augen hingen an den braunen des
+Knaben. Soviel lebendige Dichter hatte sie nun schon gesehen
+in ihrem Leben: was waren das alles für reservierte,
+verbrauchte, zermürbte, grauköpfige Herren gewesen
+&mdash; wie hatten sie gezittert hinter den Kulissen, wenn
+ihre Stücke vom Stapel gingen, da draußen &mdash; wie hatten
+sie ängstlich auf den Applaus gelauert, wenn der Vorhang
+sank, wie hilflos sich hinausziehen lassen ins blendende
+Rampenlicht, um sich linkisch und schweratmend nach dem
+schwarz gähnenden Zuschauerraum hin zu verneigen, wo
+das Publikum über das Schicksal ihrer Schöpfungen entschied!
+&mdash; Dieser hier war noch ganz Poet, er wußte noch
+nichts von all dem Gräßlichen, das auf ihn wartete hinter
+den grauen Schleiern, die seine Zukunft verhüllten, ihn
+trennten von diesem schauderhaften Leben des angstvollen
+Ringens um Erfolg, um Gold und Lorbeer, in das sie
+selbst, die Achtzehnjährige, schon so tiefe Blicke hineingetan.
+In ihm sprudelten noch ganz ungetrübt die heiligen
+Quellen der Phantasie, darinnen Sonn' und alle
+Sterne sich spiegelten ...</p>
+
+<p>Einen Augenblick war's ganz still im Zimmer &mdash; der
+Tee wurde kalt in den Tassen, und sein Duft mengte sich
+mit dem Rosenhauch, mit den blauen Wölkchen der Zigaretten,
+die durch die Stube kräuselten. Von der Straße
+her fiel der erste Laternenschein in die umdunkelte Stube
+und ließ die goldigen Schriften der Kranzschleifen matt
+aufglimmern. &mdash; Mit langsamen Bewegungen stand
+Jucunda auf, um Licht zu machen.</p>
+
+<p>»Nicht doch,« wehrte Hans &mdash; »nicht Licht machen ...
+es ist so schön so.«</p>
+
+<p>»Aber anders ist es besser!« sagte Jucunda mit leisem
+Lächeln und entzündete die Lampe. Und wieder ließ sie
+sich in das Sofa fallen und neigte den flechtenbeschwerten
+Kopf auf die Lehne zurück.</p>
+
+<p>Wie seltsam das doch war &mdash;! Sie kannte so viel
+Männer von Geist und Rang ... wie kam's, daß ihr heut
+zumut war wie nie zuvor &mdash;? War's die Kraft, die ungebrochene,
+die ihrer selbst noch unbewußte, die sie ahnte
+in den Tiefen dieser empor sich ringenden Seele? War's
+die edlere Rasse, die sie witterte, sie, das Kind einer enggebundenen
+Welt, einer Welt ohne Schwung und Größe?
+Sie war Künstlerin genug, dies alles zu ahnen, was in
+dem jungen Menschen da vor ihr wirkte und wallte ...</p>
+
+<p>Und Hans fragte sich immer wieder im stillen, ob das
+denn wahr, ob das denn möglich sei ... ob das Leben
+wirklich so schön sein könne, so maßlos reiche Gaben
+spende ...</p>
+
+<p>Still war's. Von der Katharinenstraße heraus klapperten
+behäbig trottende Pferdehufe, der Schritt der Fußgänger,
+die von ihrer Arbeit heimwärts steuerten.</p>
+
+<p>»Wie gut,« sagte Jucunda, »daß ich heut abend mal
+ausnahmsweise nicht spiele, so gehört uns diese Stunde
+wenigstens ganz!«</p>
+
+<p>»Und wehe dem, der kommen wollte sie uns zu stören
+&mdash; Sie wissen das alles ja gar nicht &mdash; Sie wissen nicht,
+was das alles mir bedeutet, was Sie mir bedeuten &mdash; ich
+weiß es selber erst seit wenig Augenblicken. Ich denke
+zurück an zwei Abende meiner Jugend, die der Wendepunkt
+waren, ich fühle es nun. Ihr spieltet daheim, in
+dem alten engen Stadttheater an der Rathausbrücke &mdash;
+Sie waren eben entdeckt worden, ein märchenhaft aufleuchtender
+Stern &mdash; und ich, ein sehnsüchtiger Primaner
+droben auf dem zweiten Rang im »Wallenstein« &mdash; Sie
+drunten als Thekla mit der Laute in den rotsamtnen
+Vorhang geschmiegt, weißleuchtend abgehoben von dem
+riesigen Glasfenster, durch das die sternlose Nacht hineingähnte.
+Sie sangen Ihr Lied, Sie wissen's ja &mdash; Sie
+singen's übermorgen wieder &mdash; Und wissen Sie, wie ich
+Sie empfand? Sie waren die leuchtende Seele des gigantischen
+Gedichts, Sie waren die Schönheit, die versinken
+muß unterm erbarmungslosen Schritte des Schicksals &mdash;
+Sie waren die Tugend, die zermalmt wird von den geifernden
+Kinnbacken des Verbrechens, Sie waren ... das
+Ideal, das waren Sie ... ach! und Sie sind's mir geblieben.
+Jetzt fühl' ich's, daß Sie immer mit mir gegangen
+sind in den zwei Jahren &mdash; und nun, ist's möglich!
+Nun sitze ich Ihnen gegenüber, könnte Ihre Hand erreichen,
+wenn ich's wagte, darf in Ihre Augen sehen und
+fühlen: das Geschick meines Lebens ist über meinem
+Haupt.«</p>
+
+<p>Seine Stimme zitterte &mdash; die braunen Augen leuchteten,
+der Atem flog.</p>
+
+<p>»Und dennoch &mdash;« sagte Jucunda langsam, großäugig
+&mdash; »und dennoch haben Sie Asta Thöny geküßt.«</p>
+
+<p>»Ja, Jucunda, ich habe Asta Thöny geküßt. &mdash; &mdash; Wie
+soll ich Ihnen das erklären &mdash; sie war die erste, die kam,
+damit ist alles gesagt. Sie hat mich genommen, weil alles
+in mir nach der Erfüllung lechzte, die nur Jucunda heißen
+durfte. Ach! so ist's wohl stets im Leben, daß man sich
+bescheiden muß und dankbar sein, wenn man Kupfer bekommt
+für Gold. Das andere, das ganz große Glück, das
+gibt's ja nicht, das darf's ja gar nicht geben &mdash; denn gäb'
+es das, wir wären Götter und nicht Menschen ... und
+Götterschicksal erträgt sie ja wohl nicht, diese arme, irdische
+Seele, dieser schwache, tönerne Leib. &mdash; Und doch, ich
+fühl's: daß ich das habe tun können, daß ich, Ihr Bild im
+Herzen, die andere umarmt habe, das hat mich Ihrer unwert
+gemacht und unwert auch all dessen, was ich mir an
+eigenem Wert und Werden erträumt habe. Ja, Jucunda,
+ich habe Asta Thöny geküßt &mdash; und nun muß ich ja wohl
+auch gehen, nicht wahr?«</p>
+
+<p>Er war aufgestanden, gesenkten Auges stand er neben
+ihr. Da griff sie nach seiner Hand:</p>
+
+<p>»Du lieber, süßer, dummer Junge, Du ... Hans
+Thumser, kleiner dummer Bub, komm, sei vernünftig, setz'
+Dich mal her zu mir aufs Sofa. Ja, es ist schade, lieber
+Freund, daß Sie so zu mir kommen &mdash; aus den Armen
+der andern. Aber vielleicht bin ich selber dran schuld ...
+warum habe ich Sie nicht erkannt beim erstenmal, da
+wir uns sahen? Ich, ich bin in Ihrer Schuld, ich war in
+Wirklichkeit die Dumme ... die Blinde ... Doch was
+tut's, das alles? Ich will, daß es nicht gewesen sein soll
+&mdash; und es ist fort &mdash; ich wisch' es aus, ich streiche den
+Namen Asta Thöny von der Tafel Deines Lebens ...
+Und nun ist nichts mehr da als ich, nicht, mein Hans?!«</p>
+
+<p>»O nichts, nichts als Du &mdash;!« stammelte er und sank
+neben dem Sofa in die Knie. Seine glühende Stirn sank
+in ihren Schoß, ihre weißen Hände glitten über seine
+braunen Locken. &mdash; Da richtete er sich auf, irren Auges,
+die Wangen feucht, und sah sie an, so ganz Inbrunst, Ergebung
+und Verlangen, daß es sie niederzog zu ihm. Sie
+umschlang seinen Nacken, ihre Lippen hingen über den
+seinen.</p>
+
+<p>In diesem Augenblick wurde heftig an die Tür geklopft.
+Die beiden jungen Menschen fuhren empor &mdash;
+das war nicht wahr, das durfte nicht sein ... aus solchem
+Traume gibt's kein Erwachen, eh er zu Ende geträumt
+ist. Und doch &mdash; es klopfte abermals.</p>
+
+<p>»Jucunda, darf' ich 'rein kommen?« klang Frau
+Buchners fette Stimme.</p>
+
+<p>Die beiden Kinder richteten sich auf. Die mühevoll
+eindressierte Haltung, sie versagte nicht in diesem trauervollsten
+Augenblick. Im Nu saß Hans Thumser auf
+seinem Stuhl, ganz Korpsstudent, ganz korrekter junger
+Gentleman &mdash; und sie, ihm gegenüber, auf dem Sofa,
+ganz Dame, ganz Komödiantin:</p>
+
+<p>»Bitte, Mama ...«</p>
+
+<p>Frau Buchner trat ein, mit einem Lächeln des
+Triumphs auf den Lippen. Ein wenig stutzig sah sie von
+einem zum andern, doch ihr prüfender Mutterblick fand
+keine Spur, die Besorgnis erregt hätte.</p>
+
+<p>»Nu, Jucunda, was sagste nu?« Mit spitzen Fingern
+hielt sie eine Visitenkarte in den Bereich der Lampe, eine
+vielzackige Krone darauf und darunter die Worte:</p>
+
+<p>
+Heribert Hans Herwig, Erbprinz von Nassau-Dillingen<br />
+</p>
+
+<p>»Was?« rief Jucunda, »er ist draußen?«</p>
+
+<p>»Ei, herrjemerschnee! Ne so was &mdash; ne so was ...
+Natierlich ist er draußen &mdash; in höchsteigener Person! Soll
+ich 'n 'rinlassen?«</p>
+
+<p>Mit einem Blick hatte auch Hans Thumser die Schrift
+auf der Karte entziffert, der zweite flog mit schreckhafter
+Spannung zu Jucunda hinüber.</p>
+
+<p>Und &mdash; sie? Das Gesicht, das ihm eben geleuchtet
+hatte wie der Genius seines Lebens selbst, es hatte den
+Ausdruck völlig gewandelt: ein dünnes Lächeln befriedigter
+Eitelkeit spielte um die schmalen, herrischen
+Lippen, die Augen flackerten einen Augenblick in unstetem
+Sinnen, die Stirn hatte sich gekraust. Aber schon war der
+kurze Kampf zu Ende:</p>
+
+<p>»Selbstverständlich, Mama. Sie haben ja wohl nichts
+dagegen, Herr Thumser, wie? Der Herr ist ja doch ein
+Korpsbruder von Ihnen.«</p>
+
+<p>Mit einem Ruck war Hans Thumser emporgeschnellt:</p>
+
+<p>»Dann verzeihen Sie wohl, wenn ich mich empfehle,
+mein gnädigstes Fräulein &mdash; ich wünsche nicht zu stören.«</p>
+
+<p>»Aber ich bitte Sie, was heißt stören? Wir könnten
+ja so nett zu dreien ...«</p>
+
+<p>Starr und förmlich verneigte sich der Student:</p>
+
+<p>»Adieu, meine Damen.«</p>
+
+<p>Er griff nach seiner grünen Mütze, die auf einem
+Stuhl an der Tür lag, dem spanischen Rohr mit Silberbeschlag,
+das daneben lehnte, und schritt hinaus.</p>
+
+<p>Im engen Korridor stand der Erbprinz, in Ueberrock
+und spiegelnden Lackschuhen, den Zylinder in der Hand,
+die Scherbe im Auge. Sein Gesicht wies den Ausdruck
+blöder Verblüffung. Mit einer kurzen Verneigung stürmte
+Hans Thumser an ihm vorüber und ließ die Korridortür
+ins Schloß fallen.</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>12.</h2>
+
+<p class="start-chapW">Vor ihrem Bett war Asta Thöny in die Knie gesunken
+und hatte geweint, wie nie zuvor in ihrem Leben &mdash;
+und doch, wieviel Tränen waren schon über ihre vergangenen
+Tage geflossen ... Wie teuer hatte sie die
+flüchtigen Augenblicke des Glücks erkaufen müssen, zwischen
+denen nichts gewesen war als Kampf &mdash; Kampf mit zusammengebissenen
+Zähnen &mdash; Hunger und Verzicht &mdash;
+Abschied und Sehnsucht ... Und nun war's wieder
+einmal tief, tief dunkel geworden um sie her ...</p>
+
+<p>Sie sprang in die Höhe. Die eingeschlossene Luft in
+dem engen Stübchen preßte ihr die Brust zusammen &mdash;
+sie riß das Fenster auf: da draußen auf der Sophienstraße
+noch immer das Flockentreiben und all die Fenstersimse
+der schwarzen Häuserzeilen schon weiß überlagert,
+die Straßen drunten wie versunken unter der weißen
+Last &mdash; die aufgespannten Regenschirme bestäubt, die Hutkrempen,
+die Mäntel schneebepudert. Da hinein, in dies
+wehmütig tolle Treiben hatte sie mit dem Liebsten
+schwärmen wollen &mdash; da hinein zog's sie nun, die glühenden
+Augen zu kühlen, die schneidende Luft in tiefen Atemzügen
+in die schmerzende Brust zu saugen.</p>
+
+<p>Einen kurzen Blick warf sie in den Spiegel und sah
+ihre Lider, ihr ganzes Gesicht fieberisch gerötet. Sie
+suchte den dichtesten Schleier, den sie hatte, und knüpfte
+ihn fest ums Gesicht. Dabei fiel ihr Auge auf die schönen
+neuen pelzgefütterten Glacéhandschuhe. Sie waren ganz
+verdorben vom Strom ihrer Tränen ... ach, wie gleichgültig
+das war.</p>
+
+<p>Nun war sie drunten auf der Straße &mdash; wie dunkel es
+schon war um diese frühe Nachmittagsstunde &mdash; wie sie
+emporblickte, lag's über den Dächern wie eine graue
+Decke, aus der es unablässig niederrieselte. Im Nu trug
+auch sie die Livree des Winters.</p>
+
+<p>Den wirbelnden Flockenschauern entgegen stapfte sie
+gen Westen, kreuzte die Zeitzer Straße und überschritt
+auf schmalem Brückchen den Mühlgraben ... In den
+Wald hinaus, nur fort von den Menschen, fort aus der
+Stadt &mdash; in die Einsamkeit, dahin, wo sie hatte einsam
+sein wollen mit ihm. Nun dehnte sich zur Rechten die
+endlose Schneefläche der Rennbahn, und vor ihr stand der
+Wald, ein schwarzer Saum, weiß überzackt. Unter der
+Schleußiger Brücke gurgelten gelb und angeschwollen die
+trägen Pleißefluten &mdash; ohn' Unterlaß sanken die leuchtenden
+Flocken in die schmutzigen Gewässer und wurden
+eingeschluckt &mdash; wie der Schwall des Lebens Wesen um
+Wesen verschluckt. Den schmalen Pfad schlug sie ein, der
+hart am Ufer drüben aufwärts führte zu den graulich aufragenden
+Eichenschäften, dem Gewirr des Ufergestrüpps,
+dran jedes Zweiglein schon seine feuchte weiße Last
+trug ... Und wirr durcheinander, wie die stäubenden
+Flocken, jagten ihre Gedanken. Gott, wie grenzenlos
+allein sie doch war auf der Welt: Tochter eines kleinen
+Gerichtsbeamten in München, war sie von der strengen
+katholischen Rechtgläubigkeit und engen Spießbürgersittsamkeit
+ihrer Eltern um jener ersten Liebschaft willen,
+die sie einem schmucken Leutnant von den Chevauxlegers
+in die Arme geweht hatte, aus Haus und Heimat verstoßen
+worden. Das Gräflein hatte brav an ihr gehandelt. Ihre
+berufliche Ausbildung, ihren ersten Schatz an Kostümen
+verdankte sie seiner Freigebigkeit. Und dennoch hatten am
+Ende der Abschied, die Tränen, die Verlassenheit gestanden ...</p>
+
+<p>Und nun: die kleinen Engagements in Nürnberg, in
+Regensburg, in Augsburg. Immer umringt von einer
+Verehrerrotte, die nichts von ihr wollte als immer das
+gleiche &mdash; das eine &mdash; für die sie niemals eine Seele, ein
+Mensch, eine Künstlerin gewesen war, sondern immer nur
+eine hübsche Schale, ein Spielzeug, ein Zeitvertreib, eine
+Sklavin ... Und endlich das große Glück: ein einziges Mal
+ein Mensch, der sie ernsthaft nahm, Franz Burg, der
+Meininger Oberregisseur, der sie entdeckte ganz hinten
+im Ensemble eines Mittelstadtbühnchens. Und nun:
+Engagement, kleine Rollen, mittlere Rollen, Erfolg &mdash;
+Karriere. Karriere? Ach, du lieber Gott! Bis zu den
+Sternen war man nicht gekommen &mdash; immerhin, man
+war geborgen, man konnte sich ausruhen, konnte arbeiten
+&mdash; stand inmitten eines großen, künstlerischen Treibens,
+brauchte sich nicht mehr wegzuwerfen, zu verkaufen.</p>
+
+<p>Aber ach, verdorben war man nun doch einmal, konnte
+nicht mehr leben ohne Küsse, ohne Rosen, ohne Liebesbriefe,
+ohne Zärtlichkeiten ... Und so flog man doch
+auch jetzt immer noch aus einem Arm in den andern,
+blieb ein Spielzeug &mdash; blieb der rasch vergessene Kamerad
+flüchtiger Taumelstunden ...</p>
+
+<p>Da war der eine gekommen, dies grasgrüne Studentlein,
+das so ganz, ganz anders war als alle die frühern ...
+Was war's eigentlich gewesen, was ihn von ihnen unterschied?
+Er hatte sie genommen, sie hatte sich ihm gegeben,
+genau wie's immer gewesen war &mdash; nur eines
+war anders gewesen &mdash; ach, sie wußte es wohl, der Klang
+seiner Rede war's, die schäumende Flut von klingenden,
+schwingenden Worten, in denen seine Zärtlichkeit, sein
+Rausch sich ausströmte über sie hin &mdash; ach nein &mdash; auch
+noch ein andres. All die andern, die sie gekannt hatte,
+waren erfahrene, abgebrühte, blasierte Burschen gewesen
+&mdash; diesem einen, sie wußte es, hatte sie das erste Glück
+des Lebens gebracht. Sie hatte träumen dürfen, ihm
+etwas zu sein, etwas, das nicht verfliegen könnte mit
+dem Rausch der flüchtigen Erfüllungsstunden ... Und
+nun, nun war auch das ein Trug, ein Wahn gewesen ...</p>
+
+<p>Tief gesenkten Hauptes schritt das einsame Mädchen
+fürbaß. Und wie ein fernes Brausen klang weit, weit
+hinten das Treiben der großen Stadt, gedämpft durch die
+rastlos niedersinkenden Flockenmassen. Und in der Nähe
+schien jeder Schall des Lebens erstorben &mdash; nur der eigne
+Schritt knirschte leise im lockren Teppich, der die Welt
+überzog. Und zur Linken glucksten die gelben Wasser.
+Unter der nassen Last lösten sich die letzten gelben Blätter
+von den Wipfeln und sanken schwer und matt wie dunkle
+Schattengebilde inmitten des weißen Geriesels nieder,
+lagen ein paar Sekunden als schwarze Flecken auf dem
+leuchtenden Grund und wurden dann schnell verschüttet
+und begraben ... Und Asta sann in die Zukunft &mdash; was
+hatte sie noch zu hoffen? Zu den höchsten Höhen der
+Kunst, dorthin, wo die strahlende Rivalin stand, ach,
+dorthin würde sie sich niemals emporschwingen. Nur die
+Niederungen waren ihr bestimmt, die wenigen Jahre, bis
+Jugend und Anmut verweht sein würden &mdash; und was
+dann? &mdash; Und was inzwischen? &mdash; Immer nur Neid und
+Enttäuschungen ... Ab und an, wenn einmal eine neue
+Rolle neue Hoffnung brachte, ein verzweifeltes Emporraffen,
+ein neues zähneknirschendes Einsetzen der ganzen
+Kraft &mdash; dem, ach, doch immer wieder das Versagen, das
+Ermatten, die Erkenntnis der Begrenztheit des eigenen
+Wesens und Könnens folgen müßten, wie noch stets
+bisher.</p>
+
+<p>Und wo war dann Trost als in neuen Umarmungen,
+in neuen Tändeleien, ohne Glauben, ohne Hoffnung, ohne
+Sinn?</p>
+
+<p>Nein, wenn sie nicht einmal diesen einen dauernd
+hatte fesseln können, wenn selbst dieser eine, in dessen
+Leben sie am Anfang der Liebe gestanden, wenn sie nicht
+einmal ihn länger hatte binden können denn auf ein paar
+Wochen, dann war sie doch wohl gar nichts wert. Nicht
+einmal als Liebchen, nicht einmal als Weibchen! Und
+das nun immer und immer wieder erleben müssen, hatte
+das einen Zweck? &mdash; Ließ sich das ertragen?</p>
+
+<p>Und doch, etwas in ihr bäumte sich auf gegen diese
+Verneinung ihres ganzen Daseins. War sie denn wirklich
+so ein Nichts, so ein Püppchen ohne Existenzberechtigung,
+ohne Lebenswert? Ach nein ... nur den falschen Weg
+war sie gegangen &mdash; nein &mdash; nicht gegangen: gestoßen
+war sie worden von dem aberwitzigen Schicksal. Damals,
+als sie sich von dem blinkenden Rock, der gleißenden
+Grafenkrone ihres ersten Galans hatte blenden lassen, als
+sie ihren einzigen Besitz, ihr Mädchentum, einem eitlen,
+egoistischen Jungen hingeworfen hatte, ohne zu denken,
+ohne zu fragen wohin, wozu &mdash; damals war sie aus dem
+Gleise geworfen worden ... Irgendwo in der Welt
+lebte doch gewiß ein braver, schlichter Mensch ihres eigenen
+Standes, des Standes, in dem alle ihre Instinkte wurzelten,
+dem hätte sie in Bescheidenheit und Treue Gesellin
+und Helferin werden müssen. Das wäre dann ein Leben
+gewesen, für das ihre Kräfte gereicht hätten, in das sie
+Sonne, Glücksgenügen hätte zaubern können für ein
+ganzes Erdendasein. &mdash; Nun hieß sie eine Künstlerin, ohne
+ein Künstlermensch zu sein ... Nun sollte sie gestalten,
+ohne in sich die Fülle der Gesichte zu tragen ... Sollte
+die Schöpfungen von Dichtern verkörpern, ohne selbst ein
+Stück Dichterin zu sein ...</p>
+
+<p>Die Dämmerung kam. Immer schauriger ängstete
+die Stille um sie her, und lichtlos wie die nebelverhangene
+Waldeinsamkeit ringsum lagen Zukunft und Leben. Eine
+grenzenlose Müdigkeit kam über das verlassene Kind &mdash;
+eine Sehnsucht nach Schlaf ohn' Erwachen. Und in der
+lastenden Stille, in die sie sich hineingesogen fühlte, war
+nun ein Laut nur noch: das einlullende Rieseln und
+Rauschen der gelben Gewässer neben ihrem Pfad, die so
+erbarmungslos die weißen Flocken einschluckten in ihren
+gurgelnden Schwall. Ach! wer auch so eine weiße Flocke
+wäre, so rasch und völlig versinken, zergehen könnte ...</p>
+
+<p>Aber schreckhafte Gesichte drängen sich vor &mdash; wie
+schauervoll müßte das Ende sein, wären diese Flocken nicht
+fühllos, wären sie nicht der Flut wesensgleich, die sie verschlang?
+Du aber, Asta, du bist ein junges, heißes
+Menschenkind, du wirst nicht leicht und sanft dich auflösen
+und verschmelzen mit den Gewässern, die meerwärts
+rollen da unten. Du wirst dich quälen müssen, alles
+in dir wird im letzten verzweifelten Ansturm noch einmal
+nach dem Leben in Glanz und Licht verlangen, dem du
+verwandt bist, in dem du dich umgetrieben, zwar oft in
+Tränen und Verzweiflung, doch bisweilen auch in
+Schauern von Seligkeit ...</p>
+
+<p>Und dennoch, eine Stille wird kommen nach der kurzen
+Qual &mdash; eine lange, tiefe, wunschlose Stille.</p>
+
+<p>Und noch ein Gedanke kam, der Furcht und Grauen
+schuf: Asta war in römischer Frömmigkeit erzogen, der
+Kinderglaube war nie ganz versiegt in ihrer unbewehrten
+Seele. Wenn's nun wahr wäre, was man sie gelehrt
+hatte von ewiger Verdammnis, von einem Wiedererwachen
+zu unnennbarer, unendlicher Qual? Ach nein, das war
+doch wohl nur Märchen und Kinderschreck &mdash; ach nein &mdash;
+wenn erst die Glut hier drinnen verloschen war, wenn die
+Glieder, die so heiß gefiebert hatten im Ueberschwang der
+Daseinswonne &mdash; wenn sie erst so kalt und leblos geworden
+waren wie drunten die strömende Flut, dann
+war's aus und vorbei, dann kam nichts mehr &mdash; kein
+Glück mehr und kein Schrecknis.</p>
+
+<p>Da stieg aus den falben Nebeln, die mählich den Fluß
+überlagerten, ein niedres Gebäude empor, eine hölzerne
+Wirtschaftsbaracke, grau gestrichen, hart bis an die
+Strömung des Flüßchens herangeschoben, mit einer
+Galerie, die über das Ufer vorsprang. »Zum Wassergott«
+lautete die Inschrift auf dem getünchten Wirtshausschild.
+Im Sommer mochte hier zur Abendstunde muntres
+Treiben herrschen, friedliche Philisterbehaglichkeit &mdash; nun
+lag das kleine Anwesen kläglich verödet, ganz versunken
+in trostloses Schweigen.</p>
+
+<p>Asta trat ans Geländer und sah, wie die gelbe
+Flut in quirlenden Strudeln um die schneeverwehte
+Treppe rauschte, an der sonst das Fährboot anlegen
+mochte. Und nun zu denken, daß man morgen so
+gefunden würde, weit, weit unten irgendwo, entstellt,
+zerzaust, aufgedunsen &mdash; &mdash; Aber ... das ging einen ja
+dann nichts mehr an, das fühlte man ja doch nimmer.
+Dann mochte die Welt laufen, wie sie wollte. Dann mochte
+der kleine Hans Thumser vor Jucunda Buchner auf den
+Knien rutschen und um die Gunst betteln, die Asta ihm,
+ach, allzu wohlfeil, allzu willfährig gewährt. Dann
+mochten sie Komödie spielen, solange es ihnen noch Spaß
+machte, sich abzuquälen für die undankbare Bande im
+dunkeln Parkett &mdash; ach! und wie dankbar war man doch
+gewesen, wenn die mal ein bißchen mitgegangen waren,
+wenn man ab und an sich hatte vorlügen dürfen, man
+sei auch wer, man habe auch die Kraft in sich, die da hinten
+zu packen und durch und durch zu rütteln, wie die paar es
+konnten, die paar Echten, die paar Großen ... Ja, spielt
+nur, spielt nur Komödie &mdash; auf den Brettern und im
+Leben. Lügt Euch Gefühle vor und laßt Euch welche
+vorlügen, glaubt daran oder tut doch wenigstens so, als
+glaubtet Ihr. Denn auch Du hast ja gelogen, kleiner Hans
+Thumser, als Du unter Küssen und Tränen mir schwurst,
+ich habe Dir das Glück geschenkt. Ich weiß es ja nun,
+Du hast in meinen Armen immer nur an die andre gedacht.
+Ob Du's bei ihr finden wirst, das Glück, das sogenannte
+Glück? Ob Du es überhaupt jemals finden
+wirst im Leben? Ich will Dir's gönnen, kleiner Hans,
+denn ich habe Dich sehr lieb gehabt &mdash; ich will Dir's
+gönnen, kleiner Hans &mdash; ich aber &mdash; ich tu nicht mehr
+mit, ich habe genug ...</p>
+
+<p>Einen spähenden Blick noch warf Asta in die Runde.
+Es war nun fast ganz dunkel geworden und nichts
+ringsum, als das sachte Sinken der weißen Kristalle,
+hinter denen die schwarzen Stämme ragten, finster und
+stumm. &mdash; Ob es wohl lange dauern würde? Ob es sie
+noch einmal emportragen würde an die Oberfläche?
+Hoffentlich würden die nassen Kleider sie rasch in die Tiefe
+ziehen. Es war nicht schade drum, sie hatte sich für einen
+Fußmarsch im Schnee zurecht gemacht. Das bissel Flitter,
+was daheim herumlag, dafür würde sich schon irgendeine
+Verwendung finden: nur das schöne Sealskinjackett und
+das Barett und der Muff dazu, das war doch zu schade
+für die Pleiße! Irgendein Armes mochte das hier
+finden und es verkaufen und sich einen guten Tag dafür
+machen ... Sie zog die kostbaren Hüllen ab und legte
+sie sorgfältig zusammengefaltet unter das weitvorspringende
+Holzdach der Wirtschaftsveranda, wo sie einigermaßen
+vor dem Schnee geschützt waren. Nun schauerte
+sie fröstelnd zusammen im Nebelhauch der Waldtiefe.
+Gott &mdash; und daß nun niemand, niemand morgen weinen
+wird, wenn sie's hören, wenn's in der Zeitung steht, wenn
+zum letzten Mal von Asta Thöny was in der Zeitung steht
+&mdash; ach, allzu viel Schönes hat nie dringestanden über Asta
+Thöny &mdash; und keiner wird weinen, nicht ein einziger von
+all den vielen, vielen, die mich geküßt und mir von Liebe
+geschwatzt haben, nicht einer. Auch Du nicht, Hans
+Thumser, ach, auch Du nicht ...</p>
+
+<p>Und sachte wie die weißen Flocken in die träge ziehenden
+Fluten niederglitten, so sachte ließ Asta Thöny sich
+niedergleiten von der schneeverwehten Treppe an der
+Holzveranda des Restaurants »Zum Wassergott« ...</p>
+
+<p class="start-chapW space-above">Valentin Pilgram war nachmittags gegen halb vier
+von dem Repetitor nach Hause gekommen, um sich in
+das gewohnte, besinnungslose Arbeiten hineinzustürzen,
+mit dem er nun schon seit Wochen sich zu betäuben gewohnt
+war.</p>
+
+<p>Als er durch den dunklen Korridor schritt, kam die
+Frau Kanzleirätin aus der Küche mit einem Brett
+voll Teegeschirr und ging zu Jucundas Stube hinüber.
+Verlegen erwiderte sie seinen Gruß; wie die Tochter, so
+wich auch die Mutter dem Zimmerherrn aus, wo irgend
+möglich, seit jenem verhängnisvollen Morgen ...</p>
+
+<p>Als sich die Tür zu der Stube der Schauspielerin
+öffnete, sah Valentin Pilgram mit einem Blick, daß dort
+Vorbereitungen für den Empfang eines Besuches getroffen
+wurden: festlich gedeckt glänzte der Tisch, sorgfältig waren
+die Blumenspenden der letzten Abende arrangiert, kurz,
+alles verriet ein nahes Fest.</p>
+
+<p>Wer mochte erwartet werden? Ein paar Kolleginnen
+oder Kollegen ... oder? &mdash; Valentin wußte, daß der Erbprinz
+keine Vorstellung versäumte, in der Jucunda auftrat,
+er hatte bei jeder Premiere unter den Riesenschleifen
+der Lorbeerkränze die Farben von Nassau-Dillingen erkannt.
+Also zum mindesten war Seine Durchlaucht nicht
+mehr in der Ungnade ...</p>
+
+<p>Merkwürdig: der gewohnte Arbeitsfriede wollte
+heute nicht kommen. Immer lauschte der Kandidat auf
+Stimmen da drüben, in der ingrimmigen, quälenden Hoffnung,
+sie möchten recht behalten, jene ekelhaften Vermutungen,
+die sich immer deutlicher in ihm emporreckten:
+der Erwartete möchte der Erbprinz sein ...</p>
+
+<p>Und endlich schlug die Glocke im Hausflur an. Valentin
+Pilgram fuhr in die Höhe, schlich zur Tür und lauschte.
+Dabei überkam ihn brennende Scham: was war aus ihm
+geworden, daß er das Tun und Treiben anderer Menschen
+zu beschnüffeln und zu bespitzeln gelernt hatte? Das
+war doch früher nie gewesen ...</p>
+
+<p>Und horch &mdash; die Stimme eines jungen Mannes ...
+aber das näselnde, gequetschte Organ des Prinzen war's
+nicht, es war eine frische, klangvolle Stimme ... es war ...
+Hans Thumsers Stimme ... Ach &mdash; also der!</p>
+
+<p>Er hörte ganz genau, wie Mutter Kanzleirätin den
+Besuch zur Stube der Tochter führte, wie sie anklopfte,
+wie des Mädchens volltöniger Alt das Herein ertönen
+ließ, wie sie lebhaft und freudig den Besucher begrüßte,
+wie jener verbindlich und bewegt erwiderte.</p>
+
+<p>Das Blut stieg dem Lauscher ins Hirn, in die Augen
+&mdash; die Gedanken quirlten einander überstürzend empor
+und machten ihn schwindeln. Also er &mdash;! Wundervoll!
+wundervoll! Wie das alles sich zusammenfand, wie die
+vagen Vermutungen, die greulichen Phantasien der letzten
+Wochen sich nun zu festen, zweifelsbaren Schlüssen zusammenfügten!
+Nun freilich &mdash; nun war's ja klar, wie
+der Frankenzirkel und Hans Thumsers Initialen auf
+jenen Bogen geraten waren, der Jucundas Absagebrief
+trug! Man hatte es verstanden, ihn beiseite zu schieben &mdash;
+hatte seine schnelle Ritterschaft lächerlich zu machen gewußt,
+um seine eigenen Chancen zu verbessern! Freilich,
+daß man mit einer solchen Gemeinheit auf dem Gewissen
+den Mut nicht gefunden hatte, den Hintergangenen, den
+an die Wand Gedrückten in seiner Einsamkeit zu besuchen
+&mdash; kein Wunder schließlich! Und auch heute hatte man
+den Weg zur Tür des einstigen Korpsbruders nicht gefunden,
+obwohl man unter einem Dache mit ihm war!
+Also so etwas gab's &mdash; so viel Infamie barg sich hinter
+der zur Schau getragenen Besonderheit, der phantastischen
+Eigenart des Reimedrechslers! &mdash; &mdash; Na warte, Bursche!</p>
+
+<p>Valentin Pilgram hatte kein Talent zum Lauscher an
+der Wand. Er schlich an seinen Schreibtisch zurück, vergrub
+den Kopf in den Händen und wühlte sich in das
+krause System des römischen Erbrechts hinein. Aber die
+Buchstaben hüpften vor seinen Augen, die Sätze verwirrten
+sich, führten sinnlose Tänze auf, und etwas Unwiderstehliches
+zog ihm immer wieder die geballten Fäuste von
+den Ohren ... Da drüben klapperten die Tassen, plätscherte
+munteres Gespräch ... kein Satz zu verstehen,
+höchstens einmal ein einzelnes Wort. Nun ein erregtes
+Lachen, nun Schritte durchs Zimmer, nun in raschem
+Wechsel Geplauder, ein Hinüber und Herüber von Scherz
+und Neckerei jetzt und nun von Rede, deren Sinn man
+nicht verstand, deren Klang aber deutlich genug von
+wachsender Vertraulichkeit, von innigem Austausch redete
+... Ja freilich, der wußte besser, wie man mit Frauen,
+mit Künstlerinnen reden muß, um Eindruck zu machen!</p>
+
+<p>Valentins Gedanken verwirrten sich. Es war ihm
+nun, als müsse Hans Thumser das alles mit diabolischem
+Raffinement ausgeheckt haben, was sich vollzogen hatte.
+Gewiß war er schon längst hinter Jucunda her &mdash; war
+er's nicht gewesen, der die Idee mit dem Pferdeausspannen
+ausgeheckt &mdash; und war er nicht an jenem Abend als des
+Erbprinzen Gast an seiner Seite im Theater gewesen?
+Gewiß hatte er auch in Erfahrung gebracht, mit welch
+geschmackloser Zudringlichkeit der Erbprinz und der Major
+sich bei Jucunda einführen wollten, und hatte schon damals
+sein Plänchen geschmiedet ... Alle Wut und Qual der
+letzten Wochen knäuelte sich zusammen zu einem einzigen,
+alles verdrängenden Gefühle der Empörung, des Ingrimms,
+der Rachelust ... ihn, diesen glatten Lächler,
+diesen geschmeidigen Buben, stellen ... züchtigen!</p>
+
+<p>Aber nein &mdash; das war nicht länger zu ertragen, dieser
+Zusammenklang der zwei Stimmen da drüben, der gehaßten
+und der ach ... in tausend Schmerzen geliebten!
+War er denn verdammt, all jenes Glückes Ohrenzeuge
+zu sein, das er für sich selbst nur in fernen Träumen zu
+ersehnen gewagt hatte? Und das dem Buben da drüben
+in den Schoß fiel. Nein, das nicht, das doch nicht! Fort,
+hinaus, in das Schneegetriebe da draußen, weg aus
+diesem dumpfen Zimmer, dessen Luft bis zum Ersticken
+angefüllt war mit vergangener und gegenwärtiger Gedankenqual!</p>
+
+<p>Valentin Pilgram stand auf. Er warf seinen Winterpaletot
+um, stülpte den weichen, zerknüllten Filzhut auf
+den unfrisierten Kopf, nicht achtend, daß beide Kleidungsstücke
+seit Tagen nicht gebürstet, von dickem Staub umlagert
+waren. Er, der sonst so peinlich gestriegelte Korpsstudent,
+hatte seit Wochen sein Aeußeres schlimmer vernachlässigt
+als der armseligste Prolet unter den Kommilitonen
+... Er griff nach dem wüsten Knotenstock, den er
+sich für fünfzig Pfennig in irgend einem Kram gekauft,
+seit er das silberbeschlagene spanische Rohr mit der
+Dedikation seines Leibburschen nicht mehr führen durfte
+... und nun hinaus &mdash; nur hinaus!</p>
+
+<p>In der kurzen Stunde, seit der Jungschnee sich eingestellt,
+waren Bürgersteig und Straße mit fußhohen
+Schneemassen überschüttet. Mühsam bahnten sich die Fußgänger
+ihren Weg, trübselig stapften die Droschkengäule
+daher, wie schwarze Silhouetten schoben Menschen, Tiere,
+Gefährte einander vorüber, die ersten Laternen äugelten
+mit trübem Blinzeln durch den Flockennebel, der ohn'
+Unterlaß herniederwogte. Von weißen Kanten eingesäumt,
+reckten sich die finstern Fronten der alten Barockpaläste
+zu beiden Seiten der engen Straße. Jedes Geräusch
+war eingesogen von den weichen Polstern des
+Grundes, den stiebenden Flockenmassen, welche die Luft
+verhängten.</p>
+
+<p>Der junge Gesell, der mit aufgeschlagenem Rockkragen,
+die Hände in den Manteltaschen vergraben, verloren und
+ziellos durch die Straßen pendelte, hielt es nicht aus inmitten
+des lautlosen Lebens, das sich schattenhaft an ihm
+vorbeidrängte. An der Thomaskirche vorüber, deren
+schwarzer Giebel sich droben in dem weißen Dunst verlor,
+pendelte er auf den Ring hinaus, wo die Zweige der
+Baumreihen, des Gebüschs unter der Wucht ihrer weißen
+Last sich bogen und knackten. Zur Linken stieg das finster
+dräuende Massiv der Pleißenburg in die silbernen
+Schwaden, das Rund des Turmes hob sich als riesiger
+Schattenriß von den Lichtfluten um den Roßplatz und
+Königsplatz ab. Und nun der winterstille, menschenleere
+Johannispark! Hier ließ sich aufatmen, hier wurde die
+Brust freier. Hier klärte sich das Gedankenchaos ...</p>
+
+<p>Ja, es mußte gehandelt werden. Die ganze Fülle
+der verhängnisvollen Ereignisse, die Valentin Pilgram
+aus seines Lebens sicher vorgezeichneter Bahn so jählings
+hinausgeschleudert in ein uferloses Nichts, das alles
+drängte zu einer entladenden, entlastenden Tat. Und
+diesmal würde seinem Vorsatz Erfüllung werden &mdash; diesmal
+würde er nicht wie Don Quichotte gegen die Windmühlenflügel
+anrennen, um alsbald entsattelt an der Erde
+zu zappeln, ein Spott der Welt ... Diesmal würde er den
+waffengeübten Arm zum sicher treffenden Schlag zu
+brauchen wissen, mitten in des Feindes Fratze!</p>
+
+<p>Des Feindes! &mdash; es gab ja nur den einen! In ihm
+schien dies aberwitzige Schicksal der letzten Wochen Gestalt
+angenommen zu haben &mdash; in jenem jungen Burschen,
+der sich jetzt gewiß von Jucundas Lippen den Dank holte
+für eine ganze Kette von Niederträchtigkeiten und
+Bübereien. Ihn züchtigen &mdash; ja das war's! Das forderte
+die Stunde!</p>
+
+<p>Und dann? Was kam dann?! Dann würde man
+sich gegenüberstehen, Aug' in Auge, den Lauf der Waffe
+auf des Feindes Herz gerichtet ... das war dann das
+Gottesgericht ... Dann würde sich's zeigen, wer von
+ihnen beiden weichen müsse von dieser Welt, die nicht
+Raum mehr hatte für sie beide ...</p>
+
+<p>Und ... dann?!</p>
+
+<p>Hans Thumser sollte fallen. Er wollte es. All die
+eiserne Willenskraft, die bis zu dieser Stunde sein junges
+Leben vorwärts getrieben, er würde sie in das kleine
+Stückchen Blei hineinlegen, das des Feindes Herz finden
+sollte. Das war dann die Sühne, das war die Wiederherstellung
+der heiligen Weltordnung, welche von den
+Gesetzen der Ehre regiert wird, der Ehre, deren Ritter
+er gewesen war, und die jener andere mit Füßen getreten
+hatte ... jener andere, der heut noch das dreifarbene
+Band um die Brust trug, das er, der Getreue, eingebüßt
+hatte dank jenem sinnlosen Schicksal, dem er unterlegen
+war bis heut. Aber dies stumpfsinnige, brutale Schicksal,
+es sollte nicht Meister bleiben in der Welt, solange er
+noch Kraft hatte, den Hahn einer Pistole abzudrücken ...</p>
+
+<p>Und dann?! Er wußte den Gesetzesparagraphen zu
+nennen, dem er dann verfallen war; die Höhe der Strafe,
+welche seiner wartete. Das war ja wiederum der groteske
+Unsinn dieser Zeit, daß die Gesetze des Staates das Recht
+der Selbsthilfe dem Manne versagten, der am Heiligsten
+seines Lebens gekränkt war: an seiner Ehre ... Dieselben
+Gesetze, die den Beleidiger der Ehre mit Strafen von
+kindischer Winzigkeit bedrohten ...</p>
+
+<p>Immerhin &mdash; lieber zwei Jahre lang als Gefangener
+auf dem Königstein, lieber das, was liberale Zeitungsschmierer
+einen Duellmord nannten, lieber das alles, als
+dieses zermürbende Gefühl der Ohnmacht, der Wehrlosigkeit
+gegen menschliche Infamie und den Aberwitz des
+Fatums!</p>
+
+<p>Schon war des einsamen Wanderers Hutkrempe von
+einem dichten Schneekranz umlagert. Nasse Schauer
+sprühten ihm um die glühenden Wangen, eisige Tropfen
+rieselten ihm über Hals und Nacken. Er achtete es nicht.
+Den Kopf tief in den Schultern vergraben, stolperte er
+fürbaß. Schon lag der Park hinter ihm, mechanisch verfolgte
+er den nächsten Pfad, der hart am Saume des
+rechten Pleißeufers zwischen den reckenhaften Schäften
+der hochstämmigen Eichen und dem dürren Gestrüpp der
+Erlen entlang führte. Als sein Blick zufällig die gelben
+Fluten der gurgelnden Pleiße streifte, stieg mitten in sein
+finsteres Brüten hinein ein lachendes Bild heiterer
+Jugendlust:</p>
+
+<p>Die S.&#x202f;C.-Kahnfahrt nach Connewitz, welche die
+Leipziger Korps in jedem Sommersemester gemeinsam
+unternommen hatten ...</p>
+
+<p>Wann war doch das gewesen? Vor einer Ewigkeit ...
+in einem andern, versunkenen Leben ... Damals hatte
+die Welt in tausend Farben geleuchtet, hatten bunte
+Mützen und grellfarbige Bänder geblinkt, heiter abgehoben
+vom dunklen Grün der Ufersäume, vom Blau des klaren
+Himmels, das sich in den freundlichen Wellen des Flusses
+spiegelte ... Flüchtig, wie es herangeweht, zerstob das
+Bild, und wieder war nichts als der schneestarrende Wald
+und drunten die blaugraue Flut und ringsum Dämmerung
+und lastende Einsamkeit. Nur drüben, am jenseitigen
+Ufer, wohl zwanzig Schritte vor Pilgram, ging noch ein
+anderer einsamer Mensch, ein schwarzer, formloser
+Schatten, vorüberhuschend vor dem silbernen Reif, der
+den ganzen Wald, der alle Welt überflitterte.</p>
+
+<p>Und wieder tauchte Valentin Pilgram tief in den
+schaurigen Abgrund seiner Grübeleien.</p>
+
+<p>Wie, wenn es nun anders kam? Wenn das Gottesgericht
+gegen ihn entschied? Nun dann war eben alles
+aus &mdash; und er brauchte doch wenigstens nicht mehr zu
+leben auf einer Welt ohne Sinn ...</p>
+
+<p>Aber &mdash; die daheim &mdash;?! Die Eltern, deren Stolz er
+war, er wußte das ... Der eifrige Vater, der in rastloser
+Arbeit zu einer der obersten Stellungen in der
+Königlich sächsischen Rechtspflege emporgestiegen war
+und in den zwanzig Jahren rüstiger Arbeit, die noch vor
+ihm liegen sollten, noch höher zu steigen hoffte? Er, in
+seiner starren Rechtlichkeit, seiner tadellosen Korrektheit
+der Art des Sohnes so innig verwandt? Nie hatten Vater
+und Sohn voreinander Worte zu machen gebraucht von
+dem, was sie beide längst wußten: daß sie Menschen einer
+Rasse, eines Wesens waren, würdige Glieder einer uralten
+Familie hochangesehener Gelehrten, Geistlichen, Beamten,
+die stets eine Zierde der Stadt, des Staates gewesen
+waren ... und die gute Mutter, ein Mensch, so recht
+zur Ergänzung dieses Schlages geschaffen, ohne starke Persönlichkeit,
+voll tiefsten Respekts gegenüber dem Gatten
+und dem Sohne, denen sie sich allzeit als freudige und nützliche
+Dienerin untergeordnet hatte, entsprechend den Traditionen
+der ehrbaren Geschlechter, aus denen auch sie
+entsprossen war, und die allzeit aufrechte Säulen der Ordnung
+und Tüchtigkeit gewesen waren. Die Schwestern,
+von der Mutter nach ihrem Vorbilde erzogen zu braven
+Gattinnen für diese ehrenfeste Art Männer, wie das
+Vaterland sie immer gebraucht hatte und, will's Gott,
+immer brauchen würde ... und nun &mdash; ein Sohn im
+Duell gefallen ... in einem Duell, in dem eine Rolle,
+eine wenn auch noch so entfernte Rolle immerhin ...
+eine Schauspielerin ... gespielt hatte? War das nicht
+wider den Stil der Familie? wider alle Gewohnheit ihrer
+Daseinsführung?</p>
+
+<p>Nein, das war es nicht. Untadelig war, was immer
+er getan, seit Jucunda Buchners Bild emporgetaucht war
+in seinem jungen Leben, das nichts als Ehre gewesen war.
+Untadelig ... Und so würde er's vor jenem ernsten
+Gange für die Lieben daheim aufzeichnen, würde für
+jeden seiner Schritte die Motive, die Handlungen angeben,
+die Zeugen benennen. Und so würden die Seinen des
+Gefallenen mit tiefer und reiner Trauer ohne Groll und
+ohne Scham gedenken können, ja mit Stolz als eines
+Menschen, der auch diesem absurden Spiel dämonischer
+Mächte gegenüber geblieben, was er stets gewesen: ein
+Mensch ihrer Art ...</p>
+
+<p>In diesem Augenblick trieb ein Windstoß dem einsamen
+Wanderer einen heftigeren Guß prickelnden Schnees ins
+Gesicht und scheuchte ihn aus seiner Versunkenheit auf.
+Es war fast völlig finster geworden, und Valentin Pilgram
+entschloß sich zur Stadt zurückzukehren. Seine Entschlüsse
+waren gefaßt, klar vor ihm lag der Weg, den seine
+Pflicht ihn gehen hieß. Zu was noch länger ziellos durch
+die Einsamkeit streifen? Daheim waren die Bücher ...
+und in wenig Tagen würde das Examen beginnen ...
+und Ruhe würde ja nun auch geworden sein daheim.
+Heut abend waren wieder die »Piccolomini« &mdash; Jucunda
+würde schon im Theater sein ...</p>
+
+<p>Schon war Valentin Pilgram im Begriff kehrtzumachen,
+da fiel sein Blick zum jenseitigen Ufer, und er sah
+im letzten Dämmerschein etwas Unbegreifliches:</p>
+
+<p>Kaum noch in matten Umrissen erkennbar, lag drüben
+die Sommerwirtschaft »Zum Wassergott«. Dort hatte er
+nach manchem Spaziergange mit Korpsbrüdern die Hitze
+des Marsches an einer Gose gekühlt und dem munteren
+Treiben der sonntäglichen Kähne auf dem Flusse zugeschaut.
+Und seitlich, an der Treppe, wo die Fähre anzulegen
+pflegte, stand ein Mensch, eine Frau. Auch sie
+nur ein grauer Schatten vor dem Dunkel, das unter der
+Galerie lastete. Und dieser Mensch tat nun etwas ganz
+Sonderbares: dieses Weib legte seine Kopfbedeckung ab
+&mdash; es schien eine Pelzmütze zu sein &mdash; und zog das Jackett
+aus, schob beides zusammengefaltet nach hinten in das
+Dunkel und stieg nun die Treppe hinunter bis dicht ans
+Wasser. Und nun &mdash; &mdash; in jähem Schrei entlud sich Valentins
+Entsetzen!</p>
+
+<p>Schon in der nächsten Sekunde aber reagierte ganz
+automatisch sein Instinkt auf das grauenhafte Schauspiel,
+das sich bot. Mit einem Ruck riß er die Knöpfe seines
+Paletots und seines Rockes auf, schleuderte beide Kleidungsstücke
+mit einer jähen Bewegung in den Schnee und
+war mit einem Satz am Ufersaum, mit einem zweiten
+schoß er in die gelbe Flut hinaus. &mdash; Die markerschütternde
+Kälte des Wassers lähmte eine Sekunde lang seine
+Glieder wie sein Hirn, im nächsten Augenblick aber durchschoß
+ihn ein siedender Feuerstrom. Jeder Nerv, jeder
+Muskel spannte sich an wider das eisige Grauen &mdash; Arme
+und Beine strafften sich, mit heftigen, ruckartigen Stößen
+setzte er sich zur Wehr gegen die zähe Umklammerung des
+kalten Elements, in dem er trieb. Er schwamm, er wußte
+sein Ziel. Ueber der fernen Stadt lag ein roter Schwaden,
+dessen Widerschein sich in den träge hingleitenden
+Fluten spiegelte. In diesem matten Perlmutterglast glitt
+eine dunkle Masse, auf die schwamm er zu. Wenig Stöße,
+dann war's getan. Er griff in ein nasses Bündel Kleider
+hinein, fühlte warme Menschenglieder, umspannte eine
+schlanke Gestalt. Kaum spürte der wehrlose Körper die
+fremde Berührung, da zuckte er in aufbäumendem Entsetzen
+zusammen, krümmte sich, warf sich hin und her in
+den Eisstrudeln, welche die hintreibenden Leiber umquirlten.
+Doch nicht umsonst hatte der Student seine
+Muskeln in der harten Zucht des Fechtbodens gestählt und
+ihre Kraft in mehr denn zwanzig Waffengängen erprobt.
+Mit eisernem Griff umschlang er das zarte Figürchen, rang
+die strampelnden Arme nieder und lenkte mit heftigen
+Beinstößen dem nahen Ufer zu. Die nassen Kleider legten
+sich wie stählerne Klammern um seine Beine, der Druck der
+Schuhe machte die Füße schwer und hilflos, doch mit
+wildem Ungestüm zwang der Wille jedes Hemmnis nieder,
+den Frost, den Verzweiflungskampf der zuckenden Glieder,
+die er mit seinen Armen umschloß. Nach wenigen Sekunden
+fühlten die Füße Grund, Schlammgrund, doch er
+hielt. Nun packten beide Arme mit unwiderstehlichem
+Griff das leichte Körperchen um Hüften und Knie &mdash; noch
+ein kurzes, heftiges Ringen, dann griff die Linke einen
+tiefniederhängenden Weidenast, die Rechte schleifte die
+zappelnde Last durch die gurgelnden Wellen. Nun
+spannten beide Arme noch einmal sich an und hoben mit
+hartem Ruck den gefangenen Leib in die knackenden Büsche
+der Uferböschung hinein. Nun klang ein wimmerndes
+Stöhnen, nun keuchten klagende Laute wie eines kranken
+Kindes Stimme:</p>
+
+<p>»Lassen Sie mich doch ... o bitte ... bitte, lassen Sie
+mich doch los!«</p>
+
+<p>»Ne &mdash; gibt's nich!« keuchte der Student. Mit letzter
+versagender Kraft würgte er sich selber durch die schneeüberstäubten
+Zweige des Ufergestrüpps hindurch, zog den
+Körper der Geretteten vollends hinauf und ließ ihn in den
+lockeren Schnee gleiten, weil die ausgepumpten Muskeln
+nichts mehr hergaben. Schwarze Finsternis ringsum &mdash;
+nichts hörte Valentin, als das raschelnde Keuchen der
+eigenen Lungen, das ratternde Hämmern des eigenen
+Herzschlages und dazu aus der geheimnisvollen Dunkelheit
+zu seinen Füßen das wimmernde Schluchzen einer
+Mädchenstimme &mdash; immer nur dies wimmernde Schluchzen,
+dies hilflose Greinen.</p>
+
+<p>»Lassen Sie mich doch los ... o bitte, bitte ... lassen
+Sie mich doch!«</p>
+
+<p>»Ne,« keuchte Valentin Pilgram, »das können Sie nun
+wirklich nich ... von mir ... verlangen, Verehrteste ...
+ich hab' mich dermaßen für Sie ... abgeschunden ... jetzt
+lass' ich Sie nich wieder ... in die nasse Sauce da!«</p>
+
+<p>Mit der Ueberwindung der Gefahr war ein grimmiger
+Humor über ihn gekommen. Er richtete sich auf, reckte
+die stählernen Glieder, schlug ein paar mal die Arme über
+der Brust mit kräftigem Ruck zusammen, um sich gegen
+die Frostschauer zu wehren, die sich in seine Haut einfraßen.
+Dann bückte er sich zu der Geretteten, bekam das
+schlanke Figürchen um die Taille zu fassen und setzte es
+mit einem energischen Hub auf die Beine.</p>
+
+<p>»So, nun bleiben Sie gefälligst stehen ... aber nein,
+kommen Sie mit mir, wir rennen zum »Wassergott«
+zurück ... das macht warm ... Sie haben ja da meines
+Wissens Ihre Oberkleider gelassen, die holen wir ...«</p>
+
+<p>Dabei versuchte er die Dunkelheit zu durchdringen, um
+etwas von den Zügen der Gesellin dieser seltsamen Begebenheit
+zu erkennen. Umsonst &mdash; nur etwas Nasses,
+Zitterndes hielt er in seinen Armen, dessen Wärme langsam
+die eisige Nässe der Hüllen durchdrang, die um ihre
+Glieder schlotterten. Die zarte Gestalt wollte wieder in
+die Knie sinken, aber er raffte sie empor, zog sie herzhaft
+an seine Seite und zwang sie, in raschem Schritt durch
+den lockeren Schnee mit ihm den Fußpfad pleißeaufwärts
+zu verfolgen.</p>
+
+<p>Dabei redete er ohn' Unterlaß auf das junge Menschenkind
+ein, das wankend und noch immer leise wimmernd
+an seiner Seite schritt.</p>
+
+<p>»Nun sagen Sie bloß, meine Gnädigste, wie sind Sie
+auf die verrückte Idee gekommen, bei so schauderhaftem
+Wetter Schwimmversuche in der Pleiße zu machen? &mdash;
+Dabei können Sie sich ja einen Schnupfen holen, den Sie
+in diesem Leben nicht mehr los werden. Denken Sie bloß,
+wenn ich nicht zufällig des Weges gekommen wäre ...
+Und noch dazu in Kleidern, das bringt ja nicht einmal ein
+Mann fertig, geschweige denn so ein kleines zartes Mädel
+wie Sie. &mdash; Oder sind Sie gar eine junge Frau? Dann
+sagen Sie's mir, damit ich Sie richtig anrede ... kommen
+Sie, wir müssen schneller laufen ... damit wir warm
+werden, Sie zittern ja gottserbärmlich. Schade, daß der
+»Wassergott« zugemacht hat, ich wäre kolossal für einen
+Grog oder auch deren mehrere, Sie nicht auch?«</p>
+
+<p>So schwatzte er drauf los, allerhand banales Zeug, was
+ihm gerade in den Kopf kam, und nahm mit Befriedigung
+wahr, daß das Wimmern schwächer und schwächer ward
+und schließlich ganz verstummte.</p>
+
+<p>Und dann kam eine wilde Lust an dem unerwarteten
+Abenteuer über ihn, das in seine verzweifelte Stimmung
+hineingeplatzt war wie ein Weckruf zu neuem Leben ...
+Und immer brennender wurde in ihm die Neugierde, die
+Züge der Unbekannten zu sehen, in deren Schicksal er
+hatte eingreifen dürfen wie vom Himmel gefallen.</p>
+
+<p>Als die beiden einen Augenblick verpusteten, griff er
+in seine Hosentasche und zog die Zündholzschachtel hervor,
+sie war ganz trocken. Die wenigen Sekunden, die er in
+dem nassen Element zugebracht, hatten nicht genügt, um
+seine Kleidung gänzlich zu durchfeuchten. Da ließ er ein
+Hölzchen aufflammen und sah mit jähem Entzücken,
+welchen holdseligen Fang er gemacht. Dabei weckte ihm
+das triefende, glühende Gesicht, von langen dunklen
+Haarsträhnen überhangen, unbestimmte Erinnerungen ...</p>
+
+<p>Aber eine Scheu verbot ihm zu fragen ...</p>
+
+<p>Und das Flämmchen verlosch, das angstvolle Gesicht,
+die hilflos blickenden Augen versanken wieder in der
+Finsternis. Nein, jetzt nicht fragen &mdash; wie wund mußte
+diese arme flüchtige Seele sein ...</p>
+
+<p>Da war der »Wassergott«. Valentin stapfte in die
+schneeverwehte Galerie hinein, aber die Gerettete ließ er
+dabei nicht los.</p>
+
+<p>»Ne, ne, kommen Sie ruhig mit, Gnädigste, ich habe
+Angst, Sie möchten zu viel Geschmack an Ihren Schwimmkünsten
+gefunden haben ... und ob ich Sie zum zweiten
+Male da herausbrächte? Ich weiß wirklich nicht.«</p>
+
+<p>In der Finsternis fand er die weichen, duftigen Pelzhüllen,
+ahnte voll Respekt, daß es sich um Kostbarkeiten
+handeln müsse, und hüllte seine Gefangene sorglich hinein.
+Sie wehrte sich nicht ...</p>
+
+<p>Und nun der Heimweg. Durch das schneebepuderte
+Gitterwerk des dürren Waldes am jenseitigen Ufer
+leuchtete der Widerschein der fernen Stadt, der einen gelblichen
+Lichtbogen wie eine matte Aureole in die niederwallenden
+Schneenebel hineinzeichnete. Perlmutterfarben
+widerleuchtete sein Schein auf den friedlich meerwärts
+gleitenden Pleißefluten.</p>
+
+<p>Das junge Blut, vom raschen Gang, von der fiebernden
+Erregung der Herzen aufgepeitscht, besiegte mählich
+die Frostschauer, die von den nassen Kleidern her die
+Glieder überrieselten. Und mit einem geheimnisvollen
+Gefühl brüderlichen Stolzes hielt der Student das zarte
+Figürchen umschlungen, preßte es an sich, wie um ihm
+abzugeben von der Siedeglut, die ihn durchpulste.</p>
+
+<p>Noch immer schwieg sie, und wie ein Wasserfall redete
+Valentin auf sie ein:</p>
+
+<p>»Das hätt' ich mir weiß Gott auch nicht träumen
+lassen, daß ich meinen Spaziergang in so angenehmer Gesellschaft
+beenden würde. &mdash; Und Sie? Finden Sie es
+nicht doch viel netter, zu zweit hier im Schnee zu waten,
+als einsam da unten in der dreckigen Pleiße zu paddeln?
+&mdash; Sehen Sie mal, wie hübsch sich drüben das Gezweige
+von dem roten Himmel abhebt! Da kann man's wahrhaftig
+sehen, wie helle die Leipziger sind &mdash; sogar der
+ganze Himmel ist hell über dem guten alten Biernest ...
+Aber nu sagen Sie doch auch mal was, Fräulein! oder
+haben Sie Ihre Stimme da unten im Wasser gelassen?
+Das wäre doch schade. Ich denke mir, Sie müssen sehr
+niedlich plaudern können ... Soll ich Sie vielleicht noch
+einmal erleuchten und mich auch, damit Sie sehen, daß
+Sie es mit einem ganz ordentlichen Kerl zu tun haben?
+Sie haben doch am Ende nicht gar Angst vor mir?«</p>
+
+<p>Und horch!</p>
+
+<p>Da klang's auf einmal aus der Dunkelheit neben seiner
+Schulter, leise wie ein Taubengirren:</p>
+
+<p>»Angst ... ach nein &mdash; wie könnte ich Angst vor Ihnen
+haben, Sie sind ja so gut zu mir &mdash;«</p>
+
+<p>»Hurra! sie kann wieder reden!« jauchzte der Bursch.
+»Herrlich! herrlich! Und nun &mdash; nun sagen Sie mir's mal
+gleich, wohin ich Sie bringen darf? Denn nach so einer
+Strapaze gehören kleine Mädchen ins Bett ... Auch ein
+Glühwein könnte nicht schaden. Also &mdash; wohin soll's
+gehen? Heraus damit!«</p>
+
+<p>Leise nannte das Mädchen seine Adresse. Unwillkürlich
+schmiegte sie sich fester in den führenden, schützenden
+Arm. Ihr war, als sei ihr noch nie so wohl gewesen, so
+geborgen wie in diesem Augenblick. Das Dasein, das
+ihr vor einer Viertelstunde noch schal und wertlos erschienen
+war, nun glomm es wieder auf in ihr voll Sehnsucht
+nach neuem Erleben, voll Dankbarkeit, noch da zu
+sein, die eigene Wärme siegen zu fühlen über die eisige
+Nässe, der sie sich anvertraut &mdash; das ferne Leuchten zu
+sehen über der Stadt, wo die Menschen hausten, wo das
+Leben brandete, wo man Komödie spielte &mdash; aß und trank,
+lachte und küßte ... Gott, welch ein Wahn, welch eine
+Raserei war doch nur über sie gekommen und hatte sie
+da hinuntergetrieben &mdash;?</p>
+
+<p>Ach leben &mdash; nur leben. Besser, sich prügeln lassen
+vom Schicksal, besser, sich auf und ab wirbeln lassen zwischen
+Glückseligkeit und Tränen, Tränen und Glückseligkeit, als
+dies kalte Nichts da unten.</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen,« stammelte sie. »Ich danke Ihnen!«</p>
+
+<p>Und lustig schwatzend von den gleichgültigsten, törichtsten
+Dingen, als seien sie zwei alte Bekannte, die sich beim
+Spaziergang begegnet, stapften die zwei Menschen fürbaß
+durch den knietiefen Schnee.</p>
+
+<p>»Haben Sie warme Backen?« fragte der Student.
+»Au! Teufel ja, die brennen ja wie ein Oefchen &mdash; und
+die Hände? Ziehen Sie doch die nassen Handschuhe aus,
+das gibt ja Rheumatismus &mdash; richtig, die sind wie zwei
+Eiszapfen. Da weiß ich Rat, wir werden uns schneeballen.
+Los! Greifen Sie zu, ich laufe voraus. Daß Sie
+mir aber nicht wieder auskneifen und in die Pleiße spazieren!«</p>
+
+<p>Nein &mdash; Asta hatte keine Sehnsucht mehr nach der
+Pleiße. Sie bückte sich, griff mit den erstarrten Händen
+in die lockere Masse, die alles überlagerte &mdash; und klatsch,
+da flog ein raschgeformter Ball dem riesigen Begleiter vor
+die Brust, daß es nur so knallte ... Und lachend, rennend,
+prustend, wie zwei Kinder, tollten die zwei den Weg
+entlang.</p>
+
+<p>Schon schatteten die dunklen Fronten der Vorstadthäuser
+in das silberne Flockengeflitter hinein. Nun galt's
+sittsam und verständig nebeneinander durch die Straßen
+zu schreiten, in denen nur wenige schneebepuderte Gestalten
+unter weißbezuckerten Regenschirmen hastig und
+lautlos ihren Behausungen zustrebten.</p>
+
+<p>Als aber der erste Laternenschein dem wandelnden
+Paar die Gestalt des Partners zeigte, schrie das Mädchen
+plötzlich auf:</p>
+
+<p>»Um Gottes willen, Sie sind ja in Hemdärmeln! Sie
+werden sich den Tod holen!«</p>
+
+<p>»Ach! keine Spur!« lachte der Student. »Ich glühe
+nur so! vorwärts, nur vorwärts!«</p>
+
+<p>Jeder Vorüberwandelnde stutzte, als er das seltsame
+Schauspiel sah, daß ein junger Mann barhäuptig und
+hemdärmelig neben einer elegant bepelzten Dame herschritt.</p>
+
+<p>Rasch war Valentin des Anstarrens, des Stehenbleibens
+satt. Auf der Zeitzer Straße rief er eine Droschke
+an, deren schneebepackter Gaul mühselig und dampfend
+dahin keuchte. Und nun war nach wenigen Minuten die
+Sophienstraße erreicht, die Hausnummer, die das Mädchen
+angegeben.</p>
+
+<p>Es kostete Mühe, in den nassen Kleidern die Treppe
+hinan zu kommen, den Korridorschlüssel zu finden.</p>
+
+<p>Mit Ueberraschung bemerkte der Student, daß es die
+wohlbekannte Wohnung war, in der Mutter Ach schaltete,
+sie, die ganze Generationen von Franken beherbergt hatte.
+Sie, bei der jetzt jener andere wohnte, dem Valentin Pilgram
+in ingrimmiger Einsamkeit eine fürchterliche Vergeltung
+geschworen ...</p>
+
+<p>Starr vor Entsetzen stand die behäbige Witwe, als im
+matten Schein des Flurlämpchens ihre Mieterin vor ihr
+stand:</p>
+
+<p>»Ei, herrjemerschnee! ne so was &mdash; ne so was ...
+Was hab'ns denn nur gemacht, Freilein? ... Und wer
+is denn das? &mdash; Weeß Knebbchen, das is Sie ja der Herr
+Pilgram! Herr Pilgram, is es meeglich?! Nu komm'
+Se doch bloß mal in die Stube 'nein &mdash; ich wer' gleich
+Feier machen &mdash; und Tee wer' ich 'n kochen, i nee so was,
+nee so was.«</p>
+
+<p>Bei dem Namen Pilgram hatte das Mädchen gestutzt.
+Höher noch flammte ihr glühendes Gesicht. Stumm klinkte
+sie ihre Stubentür auf und huschte hinein. Die Tür ließ
+sie offen in dem dunklen Gefühl, daß ihr Retter einen Anspruch
+auf die behagliche Wärme habe, die ihr von drinnen
+entgegenschlug.</p>
+
+<p>Doch der folgte ihr nicht &mdash; starr hingen seine Augen
+an dem weißen Kärtchen, das an der Stubentür befestigt
+war.</p>
+
+<p>»<em class="gesperrt">Das</em> &mdash; sind Sie?« fragte er mit zusammengebissenen
+Zähnen.</p>
+
+<p>»Ja, das bin ich &mdash; kommen Sie doch herein &mdash;
+wärmen Sie sich.«</p>
+
+<p>Zögernden Schrittes trat der Student näher. In
+scheuem Staunen musterten sich die beiden jungen Menschen,
+das Hirn von wirren Gedanken durchkreuzt ...</p>
+
+<p>Frau Wehe hastete herein, rannte geschäftig zum
+Feuer, um frische Kohlen aufzuschütten.</p>
+
+<p>»Nu sagen Se bloß, Herr Pilgram, was haben Se
+denn angefangen alle zwei? Wer looft denn bloß in so en'
+Wetter hemdärmlig 'rum und mit bloßem Koppe?! Und
+naß wie de Katzen seid 'r alle zwee! Da soll wer anders
+draus klug wer'n!«</p>
+
+<p>»Das Fräulein ist spazierengegangen an der Pleiße,
+hat im Dunkeln den Weg verfehlt, ist ins Wasser gefallen,
+ich habe sie herausgezogen,« erklärte Pilgram hastig.</p>
+
+<p>»Gott soll mich bewahr'n!« schrie Frau Wehe. »Nu
+aber mal schnell ins Bett mit dem Kind! &mdash; Und Sie, Herr
+Pilgram, Sie gehen nebenan zum Herrn Thumser und
+nehm' sich Wäsche und Kleider, versteh'n Se mich?! Am
+besten wär's schon, Sie legten sich einfach da nebenan ins
+Bette! Herr Thumser wird schon nich beese sinn! Und
+dann koch' ich Euch Tee oder Grog, 'ne paar Wärmepullen
+unter de Decke, ich wer' schon machen!«</p>
+
+<p>»Nein!« schrie da Asta Thöny. »Herr Thumser, nein
+&mdash; das geht nicht &mdash; der darf nichts davon wissen ... der
+auf keinen Fall!«</p>
+
+<p>»Ach Quatsch!« rief die stämmige Wirtin. »Ihr holt
+Euch ja den Tod alle zwee, da gibt's nischt zu reden &mdash;
+machen Se fort, Herr Pilgram, in's Bette mit Ihn' &mdash;!«</p>
+
+<p>Mit angstvollen, flehenden Blicken hingen des Mädchens
+Augen an den erstarrten Zügen ihres Retters, seiner
+finster zusammengekrausten Stirn. &mdash; Sie schwieg, sie
+wußte, daß sie nicht länger bitten durfte, wo es um seine
+Gesundheit ging, vielleicht um sein Leben ...</p>
+
+<p>Heiser fragte da Valentin Pilgram:</p>
+
+<p>»Thumser? Warum darf der nicht wissen &mdash;? Kennen
+Sie Thumser?«</p>
+
+<p>Tief senkte das Mädchen den Kopf, stand regungslos,
+schauerte plötzlich in Frösten zusammen. Auch der Student
+schwieg. In wirrem Grübeln, in finstrem Forschen
+gingen seine dunklen Blicke zwischen dem zitternden
+Mädchen, der hilflos, verständnislos dreinglotzenden Frau
+hin und wider.</p>
+
+<p>»Kennen Sie Hans Thumser, gnädiges Fräulein?«
+fragte er noch einmal, hart und befehlend. Ein Verdacht
+reckte sich dräuend in ihm auf. So phantastisch, so aberwitzig,
+daß der Verstand sich sträubte, ihn zu formulieren ...</p>
+
+<p>Asta antwortete nicht. Sie sank immer tiefer in sich
+zusammen. Und plötzlich knickte sie in die Knie, ihre
+Arme fielen auf einen Stuhlsitz, das Köpfchen mit den
+triefenden, zerzausten Flechten glitt in die silbernen Falten
+des Pelzwerks, das sich um ihre Glieder schmiegte, und
+ein jähes Schluchzen durchrüttelte die hingeworfene Gestalt.</p>
+
+<p>Valentin Pilgram begriff ... Das fehlte noch, das
+war das letzte ... Und die ganze, kochende sinnverwirrende
+Wut, die den Nachmittag über sein Inneres
+verwüstet, schlug in roter Lohe aus den Tiefen seines
+Wesens empor, stieg ihm in die Augen, in die Stirn, in die
+Fäuste. &mdash;</p>
+
+<p>»Der Hund &mdash;! Ah, der Hund!« knirschte er. »Sorgen
+Sie mir gut für das Fräulein, Frau Wehe! Adieu!«</p>
+
+<p>Er stürzte hinaus. Die Stubentür, die Korridortür
+krachten hinter ihm ins Schloß.</p>
+
+<p>Asta Thöny war emporgefahren. Blitzschnell schloß sich
+die Gedankenkette: Also der da, ihr Retter, das war Valentin
+Pilgram &mdash; er, den sie kannte aus Hansens Erzählungen,
+von dem sie wußte, wie er in jähem Zorn sich
+zur Sühne für eine Schmach gedrängt, die ihrer großen
+Kollegin widerfahren ... Und nun, nun stürmte er von
+hinnen, unvollkommen bekleidet wie er war, schäumend
+vor Wut, wie sie ihn mit einem letzten Blick gesehen. Und
+sein letztes Wort war eine gräßliche Drohung für Hans
+Thumser gewesen. Für ihn, von dem er nicht einmal in
+dieser Not trockene Kleider hatte annehmen wollen.</p>
+
+<p>Das bedeutete Gefahr &mdash; Todesgefahr für den geliebten,
+den treulosen Jungen &mdash;!</p>
+
+<p>Todesgefahr &mdash;! Noch meinte sie den stählernen Druck
+des Armes zu fühlen, der sie aus dem kalten Flutengraus
+gerissen, der sie so sicher und brüderlich heimgeleitet.</p>
+
+<p>Wehe dem, der diesem Arm verfiel.</p>
+
+<p>Nein, nein ... das nicht, das nicht! Um diesen Preis
+gerettet zu sein, nein, das nicht ... o Gott, das nicht &mdash;!</p>
+
+<p>»I herrjemerschnee, Fräulein Thöny, was hat er denn
+nur, der Herr Pilgram, was hat er nur?« stammelte
+Frau Wehe.</p>
+
+<p>»Still, still!« winkte Asta ab. »Lassen Sie mich einen
+Augenblick.« Und hastig sann sie, wo Hans Thumser nur
+stecken könne in diesem Augenblick ...</p>
+
+<p>Ach so &mdash; Mittwoch &mdash; offizielle Kneipe ... Ach, sie
+kannte den Wochenkalender des Korps in- und auswendig.
+Also im Cafébaum, auf der Frankenkneipe ... Und da ...
+da würde ja auch der Rächer ihn suchen ... nein &mdash; das
+nicht ... o Gott, das nicht &mdash;</p>
+
+<p>Und mit einem Ruck stülpte sie das Barett wieder auf,
+klappte den Kragen des Pelzjacketts in die Höhe, und
+triefend und schlotternd, wie sie war, rannte sie an der
+verblüfften Wirtin vorüber, flog die halbdunkle Stiege
+hinunter, stand auf der Sophienstraße ...</p>
+
+<p>Drüben fluteten dichte Menschenströme, vom Glast
+der Laternen des Carolatheaters überstrahlt, vom Flockengestiebe
+silbern umflittert, in die dunkel gähnenden Pforten
+des Kassenflurs hinein.</p>
+
+<p>Gott sei Dank, »Piccolomini« &mdash;! Asta war dienstfrei.
+In die erste Droschke, die drinnen ihre Fracht abgeladen
+hatte und aus der dunklen Ausfahrt herausrumpelte,
+sprang Asta hinein, rief im Einsteigen dem
+Kutscher zu:</p>
+
+<p>»Kleine Fleischergasse, Cafébaum, so schnell das Pferd
+laufen kann &mdash; einen Taler Trinkgeld sollen Sie haben,
+wenn's rasch geht!«</p>
+
+<p>Der Wagenschlag klappte, der Kutscher schlug die
+Peitsche dem Gaul um die dampfenden Flanken, und
+durch die dunklen, schneeverwehten Straßen schwerfällig
+von dannen rollte das Gefährt.</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>13.</h2>
+
+<p class="start-chapA">Auf der Sophienstraße geriet Valentin Pilgram in den
+Schwall der Theaterbesucher hinein, der zum Carolatheater
+drängte.</p>
+
+<p>Ach so &mdash; ha, ha! natürlich, da spielte man ja Komödie,
+heut' wie alle Abende!</p>
+
+<p>Und Jucunda Buchner natürlich wieder der Stern des
+Abends, der Zielpunkt aller Blicke, die Sehnsucht aller
+Herzen! Ja gewiß: wie er sich durch die Menge schob, auf
+allen Lippen das leise, andächtig hingesprochene: Die
+Buchner ... die Buchner ...</p>
+
+<p>Der lange Gesell, der im tollen Schneetreiben hemdärmelig
+und barhaupt sich durch die Menge zwängte,
+machte alles stutzen, alle Hälse sich wenden.</p>
+
+<p>»Nanu, was hat denn der? Das is wohl ä Verrickter
+am Ende! Schutzmann! he, Schutzmann! Nähmen Se'n
+doch feste, den Langen da!«</p>
+
+<p>Nein &mdash; so ging's nicht weiter. Er erwischte eine
+Droschke, warf sich hinein, befahl Katharinenstraße zweiundzwanzig.
+Er konnte ja auch unmöglich so auf Korpskneipe
+erscheinen, sie hätten ihn da wohl auch für wahnsinnig
+gehalten &mdash; hätten sein Rächeramt, seine heilige
+Mission, die beleidigte Ehre des grün-gold-roten Bandes
+wiederherzustellen, für einen Ausfluß des Aberwitzes genommen.
+Und dann: es schüttelte ihn. Fieberglut und
+Frostschauer tobten abwechselnd durch seine Reckenglieder.</p>
+
+<p>Herrgott! Dieser alte Klepper wollte gar nicht vom
+Fleck.</p>
+
+<p>Und doch &mdash; es wurde geschafft. Er flog die Treppe
+hinauf, langte keuchend oben an. Als er den Schlüssel
+suchte, taumelte er &mdash; das Fieber verwirrte sein Hirn.
+Kaum gelang es ihm, den Schlüssel einzustecken &mdash; so leise
+er konnte, drehte er um, schlich sich auf Zehenspitzen durch
+den dunklen Flur, machte drinnen Licht &mdash; erschrak, als er
+sein fahles Gesicht im Spiegel sah mit den stieren Augen,
+den rotfleckigen Wangen.</p>
+
+<p>Einerlei &mdash; nur fort, nur es zu Ende bringen!</p>
+
+<p>Er riß die triefenden, dunstigen Kleider vom Leibe,
+die schweißnasse Wäsche, zog sich vom Kopf bis zu Füßen
+frisch an, schauerte zusammen in der Siedeglut, die ihn
+durchrann. Er fühlte sich plötzlich müde zum Sterben &mdash;
+das aufgeschlagene Bett zog ihn magnetisch an. War's
+nicht das beste, da hineinzukriechen, die Decke über die
+Ohren zu ziehen und unterzusinken in bleiernes Vergessen
+...?</p>
+
+<p>Aber nein &mdash; das ging ja nicht. Die Mission! die
+Mission ... Abrechnung mußte gehalten werden. &mdash;
+Sauber mußte die Welt wieder werden ... Der Schandfleck
+mußte weg ... Und mit fliegenden Händen kleidete
+er sich an. Taumelte abermals, als er die Stiefel anziehen
+wollte, biß die Zähne zusammen, bezwang die todgleiche
+Erschlaffung.</p>
+
+<p>Als er vor dem Spiegel die Halsbinde zu schlingen
+versuchte, versagten die Hände. Da knüpfte er nur die
+Enden in einen wüsten Knoten, stülpte statt des Hutes, der
+draußen an der Pleiße geblieben, eine schwarzseidene
+Mensurmütze auf, hing statt des Winterpaletots, den er
+ebenfalls im Schnee gelassen, einen dünnen Sommerhavelock
+um ... und nun fort &mdash; fort ...</p>
+
+<p>Er warf einen Blick auf die Uhr &mdash; dreiviertel neun,
+gerade recht. Die offizielle Kneipe mußte eben begonnen
+haben, und bis zur Kleinen Fleischergasse waren's ja nur
+zwei Minuten.</p>
+
+<p>Halt! Einen Stock brauchte man noch, man konnte
+nicht wissen ...</p>
+
+<p>Nun, so mochte es schon das silbern beschlagene spanische
+Rohr sein, die Dedikation seines Leibburschen. Daß
+er kein Recht mehr hatte, dieses Stück zu führen, das
+mit dem Zirkel Franconias geschmückt war, was verschlug's
+in dieser Stunde &mdash;?! Es war eben doch ...
+ein Stock ...</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Noch einer war an diesem Nachmittage bis tief in den
+endlosen Novemberabend hinein draußen im Schnee
+umhergeirrt: Hans Thumser.</p>
+
+<p>Als er aus Jucundas Zimmer gestürzt, an dem verblüfften
+Erbprinzen vorüber, da war es auch ihm unmöglich
+gewesen, es auszuhalten zwischen den hastenden
+Menschen, den keuchenden, dampfenden Droschkengäulen,
+in den engen, finstern Straßen, unter den blinzelnden
+Laternen.</p>
+
+<p>Er war ins Rosental geraten und stundenlang durch
+die schweigende Einsamkeit des schneeverwehten Parks
+geirrt.</p>
+
+<p>Ha! ha! Also so lief die Karre! Freilich, freilich!
+Wenn Fürstengnade winkte, was galten da ein paar armselige
+Studentlein ...? Denen spielte man eine nette
+kleine Komödie vor: Hilflose, beleidigte, schutzbedürftige
+Unschuld dem einen, glühendes Verständnis, tiefinnige
+Seelenharmonie dem andern ... Und dann &mdash; dann
+ließ man einfach im rechten Augenblick den Vorhang
+fallen, und ein neues Stück fing an.</p>
+
+<p>Komödie &mdash; Komödie &mdash; jedes Wort, jeder Blick, nichts
+als Reminiszenzen aus abgespielten Stücken, nichts als
+der Nachhall erlogenen, erheuchelten Gefühls ... Komödie
+... Komödie ... Komödie &mdash;!</p>
+
+<p>War das nicht Strafe? War dieser Abfall, diese
+Blamage, die fressende Scham &mdash; da drinnen &mdash; war das
+alles nicht verdient?! Hatte nicht auch er selber leichtherzig
+den Vorhang fallen lassen über einem lieblichen
+Spiel voll erster Seligkeit, voll flammender Glut und
+reizender Tändelei, das die vergangenen Wochen seinem
+jungen Leben beschert hatten?</p>
+
+<p>War er besser als jene Jucunda? Er, der danklos
+und roh die Gesellin so köstlicher Entzückungen beiseite geschoben,
+um diesem gleißenden Phantom nachzujagen, das
+heute vor seinen entsetzen Augen die Larve hatte fallen
+lassen?</p>
+
+<p>Asta! Asta! Dich hatte ich. Du hast dich mir geschenkt
+... und ich ließ dich los und rannte einem Irrwisch
+nach ...</p>
+
+<p>Ja, Hans Thumser ging streng mit sich ins Gericht.
+Er kam sich so klein vor, so dummejungenhaft, so unwert
+alles dessen, was die vergangenen Wochen ihm in den
+Schoß geworfen. Eine jähe Sehnsucht kam über ihn, sich
+in Astas Arme zu flüchten, die Stirn an ihre Knie zu
+drücken und um Verzeihung zu betteln.</p>
+
+<p>Und doch &mdash; Knabentrotz und Knabenscham jagten ihn
+immer tiefer in die Schneewildnis hinein. Jetzt vor Asta
+hintreten und bitten: vergiß &mdash;?!</p>
+
+<p>Sie würde sogleich begreifen, daß er &mdash; nun, daß er
+eben ... abgefallen war bei Jucunda. Und würde sie
+dann nicht triumphieren, sich bedanken für das Vergnügen,
+ihn über seinen Abfall trösten zu sollen?</p>
+
+<p>Nein &mdash; das ging nicht. Das mußte man allein hinunterwürgen.
+Ha ha! Gab's nicht ein Mittel, die Qual
+dieser Beschämung, dieser fürchterlichen Blamage abzukürzen?
+Wozu war man denn Student &mdash; Korpsstudent
+&mdash; Fuchsmajor?! Und wozu heut abend offizielle
+Kneipe?</p>
+
+<p>Ganz recht: besaufen werden wir uns! einen Eimer
+Bier in uns hineinpumpen, bis wir mitsamt der ganzen
+Corona der Füchse unterm Tisch liegen und den Himmel
+für 'nen Dudelsack ansehen. Hol' der Teufel die Weiber &mdash;!</p>
+
+<p>Und morgen früh auf dem Fechtboden &mdash; Filzmaske
+aufgesetzt, drauflos gedroschen, solange Arm und Schädel
+halten wollen &mdash;!</p>
+
+<p>Kaum konnte Hans die Stunde der offiziellen Kneipe
+erwarten. Als er zum Cafébaum schlenderte, grinsten
+ihm von allen Anschlagsäulen die riesigen Lettern entgegen:</p>
+
+<p class="center">
+»Wallensteins Lager«<br />
+»Die Piccolomini«<br />
+</p>
+
+<p>Pah! was für Hieroglyphen waren das eigentlich?!
+Was ging das alles ihn an? Pah, die Meininger! Pah!
+Schiller &mdash;!</p>
+
+<p>Komödie ... Komödie!</p>
+
+<p>Damit war man fertig, das mußte versunken sein und
+vergessen. &mdash; Und was stand ganz unten am Rande des
+Zettels?</p>
+
+<p class="center">
+»Freitag: Wallensteins Tod« &mdash;?!<br />
+</p>
+
+<p>Ja, hatte man gestern nicht selbst probiert, sollte
+morgen früh wiederum probieren für die Komödie von
+übermorgen? Hatte man nicht im Eisenwams der Pappenheimer
+Kürassiere gesteckt und sich als Friedländischer
+Reitersknecht gefühlt, eine Stunde lang?</p>
+
+<p>Lüge, alles Lüge ... äffisches Spiel mit längst verpulster
+Glut, längst verschütteter Leidenschaft &mdash; Komödie
+das alles! Unwürdig des jungen sehnenden Menschentums,
+das man in allen Knochen fühlte, das leidend sich
+aufkrampfte gegen die Not der Stunde &mdash; das nach
+wildem Rausch, nach taumelnder Betäubung sich sehnte,
+das sich selbst vergessen wollte und vergessen alles um
+sich her &mdash;!</p>
+
+<p>Nein &mdash; Hans Thumser wird niemals wieder Komödie
+spielen ...</p>
+
+<p>Hans Thumser wird mehr nicht sein wollen, als er ist:
+ein ungarer, unfertiger Mensch, dessen verdammte Pflicht
+und Schuldigkeit das eine nur ist: zu lernen, zu arbeiten,
+sich zu stählen für die kommenden Kämpfe des wahren,
+des wachen Lebens. Morgen, morgen soll's beginnen &mdash;
+heut aber: Bier her! Saufen bis zum Umsinken! Vergessen
+... vergessen ... vergessen ...</p>
+
+<p>Da war der »Cafébaum«. Da winkte vom Sims des
+ersten Stockwerks das dreifarbene Schild, schneeüberlagert.
+Und der steingemeißelte riesige Türke, der sich von
+dem feisten kleinen Putten die Mokkaschale kredenzen
+läßt, trug über seinem steinernen Turban einen doppelt
+so hohen aus Schnee ...</p>
+
+<p>Nun die enge, muffige Stiege hinauf, nun die Klingel
+gezogen. Drinnen lärmten schon die Korpsbrüder, die
+sich zum gewohnten Zechgelage versammelten. Als der
+Korpsdiener öffnete, empfing den Ankömmling schon auf
+dem Korridor, wo rings die grünen Kneipjacken mit den
+rot und goldenen Schnüren an den Wänden hingen,
+lautes Hallo.</p>
+
+<p>Volkner, der Senior, hatte geschwatzt: er war Hans
+Thumser begegnet, als dieser mit einem mächtigen, seidenpapierumhüllten
+Rosenstrauß in das Haus Katharinenstraße
+zweiundzwanzig hineingegangen war. Daß dieser
+Besuch nicht etwa dem früheren Korpsbruder Pilgram gegolten
+habe, das hatte der Blumenstrauß verraten. Wo
+also konnte Thumser gewesen sein als bei Jucunda
+Buchner? Halb mit Ulk und halb mit Neid empfing man
+den Glücklichen. Der Name Jucundas war ein bißchen
+verdächtig von dem Fall Pilgram her. Obwohl der
+weiland Senior sich bei den Besuchen der früheren Korpsbrüder
+hartnäckig über seine Beziehungen zu der Diva
+ausschwieg, hatten die Korpsbrüder doch allmählich herausbekommen,
+daß jenem sein ritterliches Eintreten für
+das gekränkte Mädchen wenig Dank eingetragen hatte ...</p>
+
+<p>Sich mit Jucunda Buchner einzulassen, das hatte also
+beinahe schon einen Beigeschmack von Komik und drohendem
+Hereinfall ...</p>
+
+<p>Und dennoch ... der Duft des Lorbeers, der eine ganze
+Stadt berauschte, zog wie lichter Weihrauchdunst auch
+durch die Hirne, welche die grünen Mützen bedeckten ...</p>
+
+<p>Der Schwall der Neckereien, die sich über Hans Thumser
+ergossen, ging ihm heiß in das siedende Blut &mdash; immer
+wilder schwoll die sinnlose Saufstimmung in ihm empor.</p>
+
+<p>»Füchse, <i lang="la">ad loca</i>!« brüllte er und nahm am unteren
+Ende der Kneiptafel Platz, auf dem hochlehnigen Stuhl,
+der in Eichenschnitzerei die Märchengestalt eines aufrechtstehenden
+Fuchses zeigte, in Cerevis, Couleurband und
+Kanonenstiefeln, den Vorderlauf mit einem Schläger bewehrt.
+Und um ihren jungen Herrn und Meister zur
+Rechten und zur Linken scharte sich die Fuchscorona, sieben
+junge Bürschlein, darunter vier Krasse, die erst seit ein
+paar Wochen der Zucht ihres Schulmeisters entronnen
+waren, um der noch viel gestrengeren des Fuchsmajors
+zu verfallen &mdash; und drei Brander, Wangen und Nasen
+schon mit den ersten Dokumenten bewährten Mensurschneids
+verziert.</p>
+
+<p>»Füchse, ich komm Euch den ersten und den zweiten
+Halben!« rief Hans Thumser und schüttete das volle Glas
+hinunter, das der Korpsdiener vor ihn hingesetzt.</p>
+
+<p>Gleichzeitig beschied auch der Senior Volkner alles,
+was der Fuchtel des Fuchsmajors bereits entwachsen war,
+an das obere Ende der Kneiptafel: die Korpsburschen,
+die Inaktiven der Kartell- und befreundeten Korps, die
+sich in Leipzig studienhalber aufhielten und beim Korps
+verkehrten, und einzelne Alte Herren aus der Stadt, die
+sich dann und wann zu den Zusammenkünften des Korps
+einfanden.</p>
+
+<p>Und nun entwickelte sich das altvertraute Bild: von
+allen Wänden schauten die Wappenschilder, die gekreuzten
+Fahnen und Schläger, die Ehrenhumpen und silberbeschlagenen
+Trinkhörner, die zahllosen jahrzehntealten
+Gruppenbilder, Silhouetten, <a id="InCorr5">Porträte</a> der einstigen Mitglieder
+des Bundes auf die zechende und lärmende Schar
+herunter.</p>
+
+<p>Mit zeremoniellem Anstand erhob sich der Erste:</p>
+
+<p>»<i lang="la">Silentium!</i> Wir trinken zur Eröffnung einer
+fidelen, offiziellen Kneipe unser Glas in Gestalt eines
+Schoppens Salamander! <i lang="la">Ad exercitium salamandri</i>
+&mdash; eins, zwei, drei!«</p>
+
+<p>In langen Güssen kollerte der erste Ganze in die zechbereiten
+Mägen, rasselnd wirbelte der Salamander und
+endete mit einem krachenden Aufklappen aller Gläser auf
+die massive Eichenplatte der Kneiptische.</p>
+
+<p>»<i lang="la">Silentium!</i>« klang da wieder die Stimme des Präsidenten:
+»Wir singen als erstes offizielles Lied auf
+Seite 159: Brüder, zu den festlichen Gelagen ...«</p>
+
+<p>In rauhem, taktfestem Unisono schwoll das Lied durch
+den niedern Raum, in dem das Brandopfer der Pfeifen
+und Zigarren sich mystisch über der Sängerschar emporkreiselte:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Brüder, zu den festlichen Gelagen<br /></span>
+<span class="i0">Hat ein guter Gott uns hier vereint,<br /></span>
+<span class="i0">Allen Sorgen laßt uns jetzt entsagen,<br /></span>
+<span class="i0">Trinken mit dem Freund, der's redlich meint.<br /></span>
+<span class="i4">Da, wo Nektar glüht,<br /></span>
+<span class="i4">Holde Lust erblüht,<br /></span>
+<span class="i0">Wie den Blumen, wenn der Frühling scheint.«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Und Hans Thumser fühlte beglückt, wie die dumpflastende
+Beklemmung der einsamen Spätnachmittagstunden
+von ihm abfiel, und in grimmigem Behagen stürzte
+er sich hinein in den schäumenden Strudel des Gelages,
+spürte, wie alles, was ihn so im Tiefsten erschüttert, verschwamm,
+versank, verflog &mdash; und nichts mehr war, als
+der tolle Rausch der Stunde.</p>
+
+<p>»Füchse! Ich komme Euch den elften und zwölften
+Halben!«</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Lasset nicht die Jugendkraft verrauchen,<br /></span>
+<span class="i0">In dem Becher winkt der goldne Stern!<br /></span>
+<span class="i0">Honig laßt uns von den Lippen saugen,<br /></span>
+<span class="i0">Lieben ist des Lebens süßer Kern!<br /></span>
+<span class="i4">Ist die Kraft versaust,<br /></span>
+<span class="i4">Ist der Wein verbraust,<br /></span>
+<span class="i0">Folgen, alter Charon, wir Dir gern!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>&mdash; so verscholl das hellaufrauschende Lied ...</p>
+
+<p>»<i lang="la">Silentium</i> &mdash; schönes Lied <i lang="la">ex</i>! Ein Schmollis den
+Sängern!«</p>
+
+<p>Da trat der Korpsdiener ein. Das glänzende Bemmchengesicht
+verstört, fassungslos. Er schlich sich zu dem
+ragenden Stuhl des Ersten heran, flüsterte mit vorgehaltener
+Flosse seinem jungen Herrn etwas ins Ohr, das
+diesen stutzen und auffahren machte. Einen Augenblick
+sann Volkner nach &mdash; dann flüsterte er dem Korpsdiener
+zu:</p>
+
+<p>»Es ist gut &mdash; sagen Sie's Herrn Thumser &mdash; er mag
+hinausgehen.«</p>
+
+<p>Mit scharfen Blicken verfolgte Volkner den Gang des
+Korpsdieners, der sich nun mit so lächerlicher Behutsamkeit,
+als tripple er auf Eiern, hinter den Stühlen seiner
+Herren entlang zum Fuchsmajor schob und auch diesem
+seine Botschaft zuraunte:</p>
+
+<p>»Entschuld'gen Se, Herr Thumser &mdash; da draußen is
+Sie nämlich der Herr Pilgram &mdash; der läßt Ihn' bitten, ob
+Se nich mächten so freindlich sinn und gomm'n een Augenblickchen
+auf'n Flur &mdash; er hat 'n ä wicht'ge Mitteilung zu
+machen!«</p>
+
+<p>Ganz deutlich sah Volkner, wie Thumser zusammenschrak,
+hastig aufsprang, einen Augenblick nachsann, dann
+mit einem fragenden Blick die Erlaubnis erbat, die Kneiptafel
+zu verlassen. Nachdem Volkner Gewährung genickt,
+bat Thumser den ihm zunächst sitzenden Korpsburschen,
+ihn in seinem Amt als Vorsitzender der Fuchsentafel eine
+Weile zu vertreten. Dann raffte er sich zusammen und
+schritt aufrecht, doch blaß, mit zusammengezogenen Brauen
+zur Tür hinaus.</p>
+
+<p>Als er mit dem Korpsdiener durch das anstoßende
+Konventszimmer schritt, flüsterte der Alte ihm zu:</p>
+
+<p>»Se missen nämlich wissen, Herr Thumser, es is Sie
+schon vor eener Viertelstunde eene sähre hiebsche, junge
+Dame dagewesen und hat mich gefragt, ob der Herr Pilgram
+mächte uff der Kneipe sinn. Nu, da hab'ch ihr
+natierlich nur kennen sagen, daß der Herr Pilgram ieberhaupt
+nich mehr wirde uff Kneipe komm' &mdash; und da is se
+denn wieder abgemacht. Ich kann Ihn' nur sagen, Herr
+Thumser, sähr ä hiebsche Dame is es gewesen! Nobel,
+püh, ich kann Ihn' sagen, Herr Thumser &mdash;!«</p>
+
+<p>Hans Thumser war einen Augenblick stehengeblieben.
+Wirre Vermutungen schossen hin und wider. Pilgram &mdash;?
+Und eine Dame, die nach Pilgram fragte? Was für unwahrscheinliche
+Begebenheiten &mdash; auch nicht den Schimmer
+eines Verständnisses fand Hans.</p>
+
+<p>Wer konnte die Dame sein, die Pilgram auf der
+Frankenkneipe vermutete &mdash;? Was wollte Pilgram von
+ihm selber &mdash;?!</p>
+
+<p>Nun &mdash; man würde ja hören ... Und abermals
+straffte Hans den Nacken und öffnete die Tür zum Korridor.</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Herzklopfend, von Glut und Frost hin und wider geschüttelt,
+war Asta Thöny vor dem Cafébaum aus der
+Droschke in den weichen Schnee gesprungen, der nun schon
+fußtief Bürgersteig und Fahrdamm der schmalen Gasse
+überzog. Ob ihr Retter wohl schon drüben sein mochte?</p>
+
+<p>Hell erleuchtet glänzten die Fenster des ersten Stocks in
+das schummerige Dunkel der Straße hinaus, während die
+ragenden Fronten der geschwärzten Gebäude ringsum
+nur noch wenige matte Lichtspuren zeigten. Auf der
+Kleinen Fleischergasse wohnte nur bescheidenes Bürgertum,
+da ging man früh zur Rast.</p>
+
+<p>Asta trat auf das jenseitige Trottoir und spähte hinauf.
+Ab und an huschte droben schattenhaft der Umriß
+einer jungen bemützten Männergestalt vorüber. Durch
+die verschlossenen Doppelfenster drang Lachen, vielstimmiges
+Gespräch, Tabakwolken kräuselten zur Decke, Wappenschilder,
+Schläger blinkten an den Wänden &mdash; sonst
+war nichts zu erkennen.</p>
+
+<p>Es blieb nichts übrig: Asta mußte sich in das dunkle
+jahrhundertalte Gebäude hineinwagen, mußte fragen, ob
+droben Herr Pilgram schon eingetroffen. Mit versagendem
+Herzschlag kletterte sie die winklige, dunstige Stiege
+hinan, hielt einen Augenblick vor der Tür still, an der ein
+grün-gold-rotes Farbenschild angebracht war und ein
+längliches Porzellanschildchen mit der Aufschrift:</p>
+
+<p class="center" style="font-size:0.9em">
+»Corps Franconia.«<br />
+</p>
+
+<p>Drinnen klang lauter nun Lärm und Gelächter. Was
+half's &mdash; sie mußte es wagen ...</p>
+
+<p>Eine schrille Klingel schlug an, Schritte tappten heran,
+ein ältliches, gerötetes, glattrasiertes Männergesicht lugte
+durch den Spalt und blinzelte befremdet, als es des ungewohnten
+Besuches ansichtig ward.</p>
+
+<p>Mit stammelnden Lippen fragte Asta, ob Herr Pilgram
+schon angekommen. Verblüfft grinste der Türhüter
+und erklärte: Herr Pilgram gehöre nicht mehr zum Korps,
+er komme überhaupt nicht mehr.</p>
+
+<p>Gottlob &mdash; also jedenfalls noch nicht zu spät gekommen
+...</p>
+
+<p>Und Asta huschte wieder die Treppe hinunter, stapfte
+in den Schnee hinaus und patrouillierte auf dem jenseitigen
+Bürgersteig, frostgeschüttelt, erwartungfiebernd.</p>
+
+<p>Ab und zu kam noch eine grünbemützte Jünglingsgestalt
+und bog in den schlechterleuchteten Flur des Cafébaums
+ein. Von Pilgram keine Spur! &mdash; Ob er seinen
+Vorsatz aufgegeben hatte? Sie wußte ja nicht, was er
+eigentlich geplant hatte, aber etwas Grausames, etwas
+Wildes, etwas Schauerliches mußte es gewesen sein! Davon
+hatten seine Züge deutlich genug gesprochen. Und
+geduldig trippelte das Mädchen auf und ab, ohne einen
+Blick von dem schmalen Lichtspalt zu wenden, der durch
+die angelehnte Tür des Restaurants auf die Straße lugte.</p>
+
+<p>Der Schneefall hatte aufgehört. In winterlicher
+Schwermut gähnte die menschenleere Straße. Und in die
+lautlose Stille, welche die abendliche Stadt überlagerte,
+klang nun von drüben ein munterer Burschensang, gedämpft
+durch die Doppelfenster, doch deutlich vernehmbar.
+Die Weise meinte Asta zu kennen, aber Worte dazu wußte
+sie nicht. Ach, da oben war er, der liebe, böse Junge ...</p>
+
+<p>Schau! zur Rechten, vom Marktplatz her glitt lautlos
+ein riesiger Schatten heran, scharf abgezeichnet von dem
+weißen Grunde der Straße, vom gelben Lichthof, den die
+Laternen in die Nebel der Nacht zeichneten.</p>
+
+<p>Er war's! Mit raschen Schritten steuerte er dem
+»Cafébaum« zu. Da schoß Asta über den schmalen
+Straßendamm, traf hart an der Tür auf Pilgram:</p>
+
+<p>»Herr Pilgram &mdash; ach, Herr Pilgram!«</p>
+
+<p>Gesenkten Blickes war jener geschritten, nun schrak er
+zusammen bei der unerwarteten Begegnung.</p>
+
+<p>»Ah &mdash; Sie, mein gnädiges Fräulein? &mdash; Ja, um
+Gottes willen, sind Sie denn toll? Warum nicht im Bett
+&mdash; warum hier &mdash; was soll das heißen?!«</p>
+
+<p>»Ich hatte solch entsetzliche Angst, Herr Pilgram!«</p>
+
+<p>»Angst? Was fällt Ihnen ein! Angst? Um wen?«</p>
+
+<p>»Um Sie, Herr Pilgram, um Sie und ... ach! Sie
+wissen's ja ... um wen &mdash; um wen noch. Herr Pilgram,
+ich bitte Sie &mdash; ich flehe Sie an, was haben Sie vor gegen
+Herrn Thumser?«</p>
+
+<p>Flehend hatte sie mit beiden Händen den linken Arm
+des Studenten umklammert.</p>
+
+<p>»Aber Verehrteste ... ich begreife faktisch nicht ...
+wie kommen Sie auf derartige Vermutungen?«</p>
+
+<p>»Ach, ich weiß ... ich weiß ... Sie wollen sich
+rächen an Herrn Thumser! Ich weiß alles &mdash; alles weiß
+ich ... Fräulein Buchner, meine Kollegin &mdash; Sie sind
+für sie eingetreten damals ... und dann ... dann hat sie
+sich schlecht gegen Sie benommen ... und Sie, Sie hatten
+doch so viel für sie dahingegeben, nicht wahr, so war's
+doch? Und heut &mdash; heut ist Herr Thumser bei Fräulein
+Buchner zum Tee gewesen, nicht wahr? ... Und Sie,
+Sie haben das gehört und sind wütend auf ihn &mdash; weil
+Sie denken, er hat mehr Glück bei Fräulein Buchner als
+Sie nicht wahr? O, gestehen Sie's nur, es ist ja keine
+Schande &mdash; und dann, dann haben Sie mich gefunden
+da draußen und denken, er hat mich auf dem Gewissen ...
+Sie sehen, ich weiß, ich weiß alles. Und nun, nun wollen
+Sie ihn &mdash; ich weiß nicht, was Sie mit ihm machen
+wollen, aber etwas Schreckliches ist's gewiß. Sehen Sie
+&mdash; Sie schweigen &mdash; sehen Sie, ich habe alles begriffen,
+alles! Ist's nicht so?«</p>
+
+<p>Mit zusammengekniffenen Lippen, die Augen fast geschlossen,
+regungslos hatte Valentin Pilgram den Schwall
+dieser bebenden Fragen über sich dahinschauern lassen.
+Mit grimmiger Scham fühlte er sich durchschaut, fühlte
+den geheimsten Trieb seines Wollens bloßgelegt, den er
+vergeblich mit dem lügnerischen Pomp eines Rächers verratener
+Ehre verhüllt hatte, und der doch nichts anderes
+war im letzten Grunde als der Neid des Verschmähten
+gegen den Glücklichen, als Eifersucht &mdash; ganz ordinäre,
+banale Eifersucht ...</p>
+
+<p>Doch nein, das war ja nicht wahr &mdash; das durfte ja
+nicht wahr sein! Da oben klang der muntere Burschensang
+&mdash; da oben tafelte die Runde derer, die sich Mitglieder
+des ältesten Korps der Hochschule nennen durften,
+die das grün-gold-rote Band tragen durften, das nur den
+Makellosen schmücken soll. Und in ihrer Mitte saß einer,
+der doppelten Verrats schuldig war: an dem Gefährten
+dreier Semester und an der Gesellin glückseliger Liebesstunden.</p>
+
+<p>Und er &mdash;? Er hatte auf all das verzichtet, verzichten
+müssen um der Ehre willen. Hatte das einen Sinn?
+Durfte das so bleiben? Nein, beim Himmel, das sollte es
+nicht, solange es einen Valentin Pilgram gab. Wenn er
+denn schon selber die geliebten Farben nicht mehr tragen
+durfte, deren er doch wahrhaft würdig war wie einer,
+sollte dann der andere sich mit ihnen brüsten dürfen, der
+das Recht auf sie schmählich verscherzt hatte ...?!</p>
+
+<p>»Herr Pilgram,« klang's da in schmelzendem Flehen
+neben ihm, »so sprechen Sie doch! Bitte, bitte, so sprechen
+Sie doch, habe ich nicht recht?«</p>
+
+<p>»Mein verehrtes Fräulein,« sagte der Student, indem
+er seinen linken Arm der flehenden Umschlingung entzog,
+»ich bedaure, Ihnen über mein Tun und Lassen keine
+Rechenschaft ablegen zu können. Es mag sein, daß ich
+etwas Aehnliches, wie Sie denken &mdash; nun, daß ich ... das
+gewollt habe ... und noch will. Wenn es so ist, so dürfen
+Sie überzeugt sein: ich weiß genau, was meine Pflicht
+ist ... Und darum muß ich Sie schon bitten, mich gewähren
+zu lassen.«</p>
+
+<p>Da trat ihm das Mädchen in den Weg, legte beide
+Hände auf seine Schultern, brennende Augen starrten zu
+ihm empor, aus denen Tränen rannen, hell aufblitzend
+im matten Lichtstreifen, der aus der Flurtür in den Schnee
+der Gasse fiel:</p>
+
+<p>»Nein &mdash; nein, das dürfen Sie nicht! Mir zuliebe
+dürfen Sie's nicht ... Ja, es ist wahr, wegen dem da
+oben hab' ich heute das Leben wegwerfen wollen &mdash; nun
+haben Sie mich gerettet &mdash; aber wenn Sie ihm etwas
+zuleide tun, dann ist alles aus, dann hätten Sie mich nur
+lieber gleich da unten in der Pleiße lassen sollen ... Ich
+will nicht, daß ihm ein Leids geschieht um meinetwillen &mdash;
+ich will's nicht &mdash; und Sie, Sie dürfen's nicht &mdash; Sie
+dürfen mich nicht wieder dahin zurückstoßen, woher Sie
+mich heut abend geholt haben &mdash; nein! Herr Pilgram,
+das dürfen Sie nun und nimmermehr.«</p>
+
+<p>»Gnädiges Fräulein,« sagte Valentin, »wenn es Sie
+beruhigen kann, so will ich Ihnen versichern: das, was
+jetzt gleich geschehen wird, war beschlossene Sache schon
+ehe ich Sie ... da draußen ... fand. Ich kann mich nicht
+darauf einlassen, Ihnen das alles so auseinanderzusetzen.
+Was Sie von mir denken mögen oder nicht denken mögen
+&mdash; ich kann's bedauern, aber ich kann's nicht ändern. Das
+alles muß nun seinen Lauf gehen. Versuchen Sie nicht
+mich aufzuhalten, es hat keinen Zweck.«</p>
+
+<p>Es sollte wohl nur ein sanfter Druck sein, mit dem die
+hageren Hände des weiland Frankenseniors die runden
+Gelenke der Schauspielerin von seinen Schultern lösten,
+doch er war unwiderstehlich, wie das Zupacken stählerner
+Zangen. Mit der gleichen unerbittlichen Gewalt, mit der
+er vor wenig Stunden des Mädchens Glieder der Flutenumschlingung
+entrissen, schob er sie nun zur Seite, wie
+ein willenloses Püppchen, und war mit zwei raschen
+Schritten im gähnenden Toreingang verschwunden.</p>
+
+<p>Asta taumelte, als der Druck der gewaltigen Hände
+plötzlich nachließ. Dabei trat sie unversehens einen halben
+Schritt rückwärts, geriet mit dem Fuß in den lockeren
+Schneeaufwurf über dem Rinnstein, sank tief ein,
+strauchelte, fiel in die Knie, stieß einen Schmerzenslaut
+aus: sie mußte sich den Fuß verstaucht haben. Aber die
+heiße Angst um das, was werden mochte, jagte sie wieder
+empor. Sie humpelte mit schmerzverzogenem Gesicht zur
+Tür, stieß sie auf, lauschte hinein. Droben auf der Treppe
+waren Pilgrams Schritte schon verhallt. Nur das Burschenlied
+brauste noch immer weiter, klang und schwang
+durch das ganze altersmüde Gebäude. In dem kleinen
+Restaurant des Erdgeschosses zur Linken das schläfrige
+Stammtischgeschwätz, das Auftrumpfen der Karten, das
+Klappern der Biergläser. Asta schlich durch den Hausflur,
+hinkte mühsam die Treppe hinauf, stand wieder an
+der Tür mit dem Porzellanschildchen: Corps Franconia,
+legte das Ohr an die dünne Holzwand und lauschte.</p>
+
+<p>Ganz deutlich dröhnte nun ein neuer Vers des feierlichen
+Liedes da drinnen, dazwischen halblaute Stimmen,
+es schien Pilgram zu sein, welcher im Flur mit dem alten
+Mann verhandelte, der sie vorhin an der Pforte beschieden.
+Aber dies leise Gespräch blieb unverständlich,
+dagegen war der Text des Liedes Wort für Wort zu verstehen.
+In frohem Trotz scholl die alte Jugendweise
+daher:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Lasset nicht die Jugendkraft verrauchen,<br /></span>
+<span class="i0">In dem Becher winkt der gold'ne Stern!<br /></span>
+<span class="i0">Honig laßt uns von den Lippen saugen,<br /></span>
+<span class="i0">Lieben ist des Lebens süßer Kern!<br /></span>
+<span class="i4">Ist die Kraft versaust,<br /></span>
+<span class="i4">Ist der Wein verbraust,<br /></span>
+<span class="i0">Folgen, alter Charon, wir Dir gern!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Und nun plötzlich war das Lied zu Ende, ein paar unverständliche,
+kommandoartige Worte klangen von drinnen,
+ein lustiger Aufschrei von vielen Stimmen, dann munter
+durcheinander schwirrendes Stimmengewirr. Einige
+Sekunden verflossen so: dann hörte Asta ganz deutlich,
+wie drinnen eine Tür heftig aufgerissen wurde und jemand
+in den Flur trat &mdash; und jetzt klang drinnen gedämpft, doch
+klaren, festen Klanges des geliebten Jungen Stimme:</p>
+
+<p>»Guten Abend, Pilgram &mdash; Du hast mich zu sprechen
+gewünscht? Bitte, was steht zu Deinen Diensten?«</p>
+
+<p>Da fühlte Asta, wie der Puls ihres Herzens aussetzte.
+Ganz fest preßte sie ihr Ohr an das glatte, ölgestrichene
+Holz, ihre froststarren Hände umklammerten
+krampfhaft den messingenen Türgriff, und in schlotterndem
+Lauschen vernahm sie jedes Wort, das drinnen gesprochen
+wurde, vernahm sie alles, was drinnen geschah ...</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Hochaufgerichtet standen die zwei schlanken Jünglingsgestalten
+einander drinnen gegenüber in dem schmalen
+Flur, den nur eine schwelende Petroleumlampe erleuchtete.
+Rechts und links hingen Kneipjacken und Garderobenstücke
+an den Regalen, welche die Wände umzogen &mdash; ein
+fader Dunst von altem Tabak und Bierneigen füllte den
+dumpfen Raum. Hinter der mittleren Tür, die zum Kneipzimmer
+führte, klang heftiges Stimmengewirr, das stiller
+und stiller ward. Offenbar war man drinnen aufmerksam
+geworden, daß hier draußen sich Ungewöhnliches vollziehe,
+wartete man gespannt, wie das wohl werden möchte.</p>
+
+<p>Hans Thumser hatte Pilgram die Hand hingestreckt.
+Der übersah sie, griff stumm in die Brusttasche seines
+Rockes und reichte Hans Thumser einen Brief hin.</p>
+
+<p>»Lies!« sagte er.</p>
+
+<p>Hans ließ die erstaunten Blicke hin und wider gleiten
+zwischen dem Schreiben und dem, der es ihm gereicht,
+dann trat er in den Lichtbereich des mattglänzenden Flurlämpchens
+und erkannte, daß der Brief mit fahrigen,
+steilen Schriftzügen einer Frauenhand bedeckt war:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>»Sehr geehrter Herr! Ihr dankenswertes Eintreten
+für meine Ehre hat schnell den gewünschten Erfolg gehabt.
+Die beiden Herren, welche mir zu nahe getreten
+waren, haben mündlich bei mir um Entschuldigung gebeten.
+Ich danke Ihnen innigst für das große Opfer,
+das Sie mir gebracht haben ...«</p></blockquote>
+
+<p>Verblüfft ließ Hans den Brief sinken:</p>
+
+<p>»Was soll ich damit?« fragte er, »was geht das
+mich an?!«</p>
+
+<p>»Dreh doch gefälligst einmal den Bogen um!« befahl
+Pilgram in ingrimmiger Ruhe.</p>
+
+<p>Hans wandte den Bogen um und entdeckte mit grenzenlosem
+Staunen rechts an der unteren Ecke der vierten
+Seite, auf dem Kopfe stehend, seine Initialen und darüber
+den Frankenzirkel. Er drehte den Bogen um, und richtig:
+es war kein Zweifel, das war einer von seinen eigenen
+Briefbogen. Völlig verdutzt sah er den einstigen Korpsbruder
+an, um dessen festgeschlossene Lippen ein mattes
+Lächeln des Triumphes irrte.</p>
+
+<p>»Von wem ist der Brief?« fragte Hans Thumser mit
+unsicherer Stimme.</p>
+
+<p>»Spiel' mir gefälligst keine Komödie vor!« brauste Pilgram
+auf.</p>
+
+<p>»Aber ich versichere Dir, ich habe nicht den leisesten
+Schimmer.«</p>
+
+<p>»Pfui Deubel &mdash; nicht mal den Mut hast Du ... Gib
+her den Brief! Und nun weiter! Warst Du heut' nachmittag
+bei Fräulein Buchner?«</p>
+
+<p>»Aber ich verstehe faktisch nicht,« stammelte Hans.
+»Wenn ich Dir sage, daß ich auch nicht die entfernteste
+Ahnung habe &mdash;!«</p>
+
+<p>»Ich frage Dich, ob Du heut nachmittag bei Fräulein
+Buchner warst? Gib Antwort &mdash; oder ich mache kurzen
+Prozeß mit Dir!«</p>
+
+<p>Nun richtete sich Hans denn doch aus der unsicheren
+Haltung verlegenen Staunens zu seiner ganzen Größe
+auf. Zwar reichte er nicht an die riesige Länge des
+einstigen Freundes, aber gleich straff emporgereckt stand
+er ihm gegenüber, sah ihm von unten frei und trotzig ins
+Gesicht, und funkelnd, wie zwei Säbelklingen in der Auslage,
+so blitzten das braune, das blaue Augenpaar einander
+an.</p>
+
+<p>»Ich frage Dich,« sprach er kalt gemessen, »was Dich
+berechtigt, mich in einem derartigen Ton zur Rede zu
+stellen?«</p>
+
+<p>»Das weißt Du.«</p>
+
+<p>»Nein, ich weiß es nicht. Ich wünsche es von Dir zu
+hören.«</p>
+
+<p>»Ich verzichte darauf, Dir Aufklärung zu geben. Ich
+wiederhole Dir meine Frage &mdash; willst Du antworten?!«</p>
+
+<p>»Wer mich in diesem Tone fragt, bekommt keine
+Antwort!«</p>
+
+<p>»Schön! Was wirst Du nun aber sagen, wenn ich
+Dir mitteile, daß in derselben Stunde, in der Du bei
+Jucunda Buchner warst, Fräulein Asta Thöny am
+'Wassergott' in die Pleiße gesprungen ist &mdash;?!«</p>
+
+<p>Da wurde Hans Thumsers fester Blick plötzlich stier
+und starr. Die Kinnbacken klappten herunter, langsam
+schob sich seine Rechte an der Brust empor, glitt tastend
+nach dem Achtzentimeterkragen.</p>
+
+<p>»Das ist ... das ist nicht wahr!«</p>
+
+<p>»Mein Ehrenwort, daß es wahr ist ... und Du weißt,
+scheint's, auch, wer sie hineingetrieben hat?!«</p>
+
+<p>Da umklammerte Hans Thumser plötzlich mit beiden
+Händen des ehemaligen Korpsbruders Arm und stammelte,
+schlotternd vor Entsetzen:</p>
+
+<p>»Sie ist tot?!«</p>
+
+<p>Valentin Pilgram machte sich frei, trat einen halben
+Schritt zurück.</p>
+
+<p>»Ich hatte das Glück sie zu retten ... bedank' Dich also
+bei mir, daß Du nicht als Mörder vor mir stehst.«</p>
+
+<p>Ein stöhnender Laut, ein Jauchzen halb und halb ein
+Schluchzen brach aus Hans Thumsers Brust zwischen den
+zusammengebissenen Zähnen hervor:</p>
+
+<p>»Erzähl' doch &mdash; so erzähl' mir doch.«</p>
+
+<p>»Nein,« sagte Valentin Pilgram hart, »Du hast Fräulein
+Thöny von Dir gestoßen &mdash; es mag Dir genügen, daß
+sie lebt &mdash; alles weitere geht Dich nichts mehr an.«</p>
+
+<p>»Also was willst Du von mir?« schrie Hans Thumser,
+»sag' mir endlich, was Du von mir willst?!«</p>
+
+<p>»Du sollst bekennen, daß Du ein elender, wortbrüchiger
+Bube bist ... Du sollst das Korpsband da abziehen ...
+Du verdienst nicht mehr, es zu tragen. Willst Du? Oder
+soll ich Dich dazu zwingen?«</p>
+
+<p>Da straffte sich Hansens Gestalt aufs neue. Seine
+Fäuste ballten sich, als erwarteten sie den Angriff des
+Feindes &mdash; ja, des Feindes, denn was in den blauen
+Augen drüben düster flammte, war Feindschaft &mdash; Todfeindschaft
+...</p>
+
+<p>»Versuch's!« sagte er nur.</p>
+
+<p>In diesem Augenblick ward die Tür zum Kneipzimmer
+hastig von drinnen aufgerissen, blendender Lichtglanz quoll
+hervor, und hinter der Tür, Kopf an Kopf, drängte sich das
+Korps: ein zu Tode erschrockenes Jungmännergesicht
+hinter dem andern, ganz hinten stand man auf Stühlen
+und Tischen, um das entsetzenerregende Schauspiel zu erreichen,
+wie da zwei Jünglinge, die einst die gleichen
+Farben getragen, auf Leben und Tod einander gegenüberstanden.</p>
+
+<p>»Pilgram! Thumser!« schrie alles durcheinander, »um
+Gottes willen, was habt Ihr nur?!«</p>
+
+<p>Gleichzeitig schlug mit gellendem Schrillen die Etagenklingel
+an, und gegen das Holz der Flurtür hämmerten
+matte Schläge, wie von einem zarten Kinderhändchen.
+Und wie ein Schrei klang draußen das wimmernde Flehen
+einer Frauenstimme:</p>
+
+<p>»Herr Pilgram &mdash; tun Sie's nicht, Herr Pilgram!«</p>
+
+<p>Mit halbem Blick nur überflog Valentin Pilgram die
+hervordrängende Schar der einstigen Korpsbrüder ...
+dann, als sei er noch allein mit dem Gegner Aug' in Auge,
+wandte er sich wieder zu ihm und wiederholte:</p>
+
+<p>»Also noch einmal: Gibst Du es zu, daß Du ein elender
+Schelm bist? unwürdig des Bandes, das Du trägst?«</p>
+
+<p>Mit eisiger Festigkeit hielt Hans Thumser des Feindes
+haßsprühenden Blick aus.</p>
+
+<p>»Geh!« sagte er, »das weitere findet sich morgen.«</p>
+
+<p>In derselben Sekunde hatte Valentin Pilgram dem
+Gegner das Korpsband von der Brust gerissen und es zu
+Boden geschleudert. Nun holte seine Rechte weit aus, um
+ihm die Mütze vom Kopf zu schlagen. Im selben Augenblick
+aber warfen sich die Korpsburschen mit lauten Entsetzensschreien
+auf beide Gegner von hüben und drüben,
+trennten sie, alles schrie wie toll durcheinander:</p>
+
+<p>»Pilgram, Du bist wohl wahnsinnig!«</p>
+
+<p>»Zurück, haltet Ruhe, zum Teufel!«</p>
+
+<p>»Was fällt Euch ein?!«</p>
+
+<p>»Wir sind auf Korpskneipe!«</p>
+
+<p>»Schmeißt ihn hinaus, er hat hier nichts mehr zu
+suchen!«</p>
+
+<p>»Laß gut sein, Thumser, er wird Dir Satisfaktion
+geben, morgen findet sich alles &mdash; morgen!«</p>
+
+<p>Volkner, der Senior, brach sich Bahn durch die dicht
+zusammengekeilte Schar der jungen Männer.</p>
+
+<p>»<i lang="la">Silentium!</i>« schrie er. »Ich bin hier der Herr im
+Haus. Tritt vor, Pilgram, was soll das, was fällt Dir
+ein? Dich hier einzudrängen und Dich an einem von uns
+zu vergreifen? Du weißt, Du hast kein Recht mehr, hier
+zu sein!«</p>
+
+<p>Die Zucht vieler Semester, die eiserne Disziplin des
+Korps rief Pilgram zur Besinnung zurück.</p>
+
+<p>»Du hast recht, Volkner,« sagte er. »Habt die Freundlichkeit
+mich loszulassen ... es wird nichts weiter passieren,
+verlaßt Euch drauf.«</p>
+
+<p>Und ruhig und gemessen trat er vor den Senior:</p>
+
+<p>»Verzeih mir &mdash; ich hatte mich vergessen. Ich denke,
+Ihr verzichtet wohl alle auf eine weitere Aufklärung ...
+dafür ist ja das Ehrengericht da.«</p>
+
+<p>»Allerdings,« sagte Volkner, »dafür ist ja wohl das
+Ehrengericht da.«</p>
+
+<p>»Gut,« sagte Pilgram. »Ich bitte das Korps also nochmals
+feierlichst um Entschuldigung &mdash; ich bin morgen vormittag
+bis ein Uhr in meiner Wohnung. Guten Abend.«</p>
+
+<p>Alles wich zur Seite. Noch einmal maß Valentin Pilgram
+mit kurzem Blick der Todfeindschaft seinen Gegner,
+der schwer atmend, mit rotunterlaufenen Augen, doch völlig
+gefaßt inmitten seiner Korpsbrüder stand ... schritt zur
+Tür, riß sie auf.</p>
+
+<p>Da bot sich ein unerwartetes Schauspiel: Auf der
+Schwelle kniete, tränenüberströmt, zusammengekauert, ein
+Mädchen im grauen Pelzjackett. Nun sprang sie auf die
+Füße, starrte mit angstverzerrten Zügen, blöden Blicks in
+den Korridor hinein, in dem Kopf an Kopf Grünbemützte
+sich drängten, warf sich dann jählings herum und floh wie
+gejagt die Treppe hinunter.</p>
+
+<p>Und langsam, schwerfälligen Schritts ging Valentin
+Pilgram von dannen und ließ die Tür ins Schloß fallen.</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>14.</h2>
+
+<p class="start-chapA">Asta hatte nicht schlafen können. Das Fieber hatte in
+dem zierlichen, doch kerngesunden Körperchen rumort
+&mdash; doch der Gedankensturm, der ihr Hirn durchbrauste,
+der Drang zu leben, zu helfen, ihr armes bißchen Sein
+dafür einzusetzen, daß nicht unsagbar Entsetzliches geschähe
+&mdash; dies inbrünstige Wollen hatte die heraufbrauende
+Krankheit niedergeworfen. Und früh um neun schon
+klopfte sie an Jucunda Buchners Tür.</p>
+
+<p>Frau Kanzleirätin, noch in Nachtjacke und Unterrock,
+hatte hoch und teuer geschworen, Jucunda sei noch nicht
+zu sprechen. Asta Thöny hatte sich nicht abweisen lassen.</p>
+
+<p>»Sie wird mir's danken, gnädige Frau!«</p>
+
+<p>Aber Jucunda Buchner dankte nicht.</p>
+
+<p>Aus unruhigen Morgenträumen voll ehrgeiziger Hoffnungen
+und ahnungsvoller Beklemmungen hatte das
+Pochen der Kollegin sie aufgeschreckt. Nun saß sie aufrecht
+im Bett, sehr ungnädiger Laune, kaum, daß sie der
+Besucherin einen Stuhl anbot. Sie liebte es nicht, sich
+unvorbereitet überraschen zu lassen.</p>
+
+<p>Mit fliegenden Worten berichtete Asta: ihren Spaziergang
+an der Pleiße verschwieg sie allerdings, um so genauer
+aber erzählte sie von dem Renkontre zwischen Pilgram
+und Thumser auf der Frankenkneipe und sparte nicht
+an grellen Farben. Sie war überzeugt gewesen, Jucunda
+würde alsbald um Hans Thumsers willen mit allen Anzeichen
+des Entsetzens aus dem Bette springen und Hals
+über Kopf zu dem Geliebten wollen, um ihm nicht von
+seiner Seite zu weichen, bis die Gefahr an ihm vorübergegangen
+war ...</p>
+
+<p>Statt dessen sah Jucunda sie stillschweigend mit spöttisch
+zusammengebissenen Lippen an, als sie hocherglühend
+ihren Bericht geendet.</p>
+
+<p>»Nun?« fragte Asta ganz erstaunt.</p>
+
+<p>»Mir fällt etwas auf an Deiner Erzählung, liebes
+Kind,« sagte Jucunda. »Du erzählst mir da von einem
+Auftritt, der sich auf der Frankenkneipe zugetragen hat ...
+und zwar wenn ich recht verstanden habe, hast Du nicht
+nur vom Hörensagen berichtet, sondern Du warst selber
+dabei gewesen &mdash; stimmt's oder stimmt's nicht?!«</p>
+
+<p>Astas Wangen, vom heftigen Gang durch den Schnee
+gerötet, glühten noch höher auf.</p>
+
+<p>»Ja ... ich habe alles ... selbst mit angehört ...«
+gestand sie.</p>
+
+<p>»Hm &mdash; dann darf ich mir wohl die Frage gestatten:
+wie kommst denn Du auf die Frankenkneipe?«</p>
+
+<p>Astas Hände zupften unstet an den Falten ihres
+Rockes.</p>
+
+<p>»Ja, wie soll ich Dir das ... erklären? Es ist ja
+auch ... eigentlich gleichgültig ... wie ich hingekommen
+bin &mdash; ich war eben ... da.«</p>
+
+<p>»Nun, so gleichgültig kann ich das eigentlich nicht
+finden,« meinte Jucunda. Sie lehnte sich zurück in die
+Kissen, stützte sich auf die Ellbogen und fixierte die niedliche
+Kollegin mit überlegen spöttischem Blick. »Na, also lassen
+wir das einstweilen mal dahingestellt. Aber: zu welchem
+Zweck teilst Du mir denn das alles mit?«</p>
+
+<p>»Ja, aber um Gottes willen, Jucunda, das geht doch
+nicht, das darf doch nicht sein, daß die zwei guten Jungens
+sich totschießen Deinethalb!«</p>
+
+<p>»Meinethalb?« Jucunda hatte sich hochaufgerichtet.
+»Wieso meinethalb? Erkläre mir das!«</p>
+
+<p>»Ja, aber Jucunda &mdash; das ist doch ganz klar! Uebrigens,
+um Gottes willen, der eine, der Pilgram, der wohnt
+doch hier nebenan, gelt, kann der uns auch nicht etwa
+hören?«</p>
+
+<p>»Beruhige Dich, liebes Kind, meine Mutter hat mir
+schon mitgeteilt, daß er heut nacht nicht nach Hause gekommen
+ist. Also bitte, wie kommst Du auf diesen Einfall?«</p>
+
+<p>»Aber begreifst Du denn das noch immer nicht?! Der
+Pilgram ist doch nur eifersüchtig auf den Thumser, weil
+Du ihn hast abfallen lassen und den andern &mdash; &mdash;«</p>
+
+<p>»Und den andern?!« fragte Jucunda scharf. »Na, was
+denn! Bitte, was denn?!«</p>
+
+<p>»Nun, der andere ... ist denn der andere nicht gestern
+nachmittag bei Dir ... bei Dir gewesen &mdash;?«</p>
+
+<p>»Er war gestern nachmittag zum Tee bei mir, nu! Und
+was weiter?«</p>
+
+<p>»Zum &mdash; Tee &mdash;?!« fragte Asta mit einem halb wehmütigen,
+halb verschmitzten Lächeln. »Nur zum Tee &mdash;?«</p>
+
+<p>»Na! zu was denn sonst, bitte?!« fragte Jucunda
+heftig.</p>
+
+<p>»Na, wir wollen nicht streiten,« meinte Asta. »Also:
+ob die zwei braven Kerle sich Löcher in den Leib schießen
+Deinethalb, Dir ist's rund herum egal, scheint's?!«</p>
+
+<p>»Meinethalb? Ich weiß nicht, ob sie's meinethalb tun,
+mir haben sie's nicht gesagt. Und übrigens &mdash; ich möchte
+wissen, was ich daran ändern kann, wenn die zwei sich's
+in den Kopf gesetzt haben, aufeinander loszuknallen. Ich
+habe sie nicht geheißen, ich kann sie nicht hindern!«</p>
+
+<p>Asta Thöny spielte mit den Zipfeln ihres Pelzjacketts
+und sann angestrengt nach mit zusammengekniffenen
+Brauen. Dabei stieg eine helle Freude, ja ein lustiger
+Uebermut langsam, aber immer mächtiger in ihr empor.
+Das war ja eigentlich wunderschön, was sie da erfuhr.
+Sieh da, Hanschen! Viel Glück scheinst du mit deinem
+Teebesuch bei der großen Jucunda ja nicht gehabt zu
+haben! Und für das bißchen Ehre auch noch totgeschossen
+zu werden &mdash; nein, das wollen wir doch mal sehen, ob
+wir das nicht hintertreiben können. Aber dazu brauchen
+wir ja wohl nicht die große Jucunda &mdash; das können wir
+uns schließlich auch allein verdienen ...</p>
+
+<p>»Verzeih, liebe Jucunda,« sagte sie. »Ich habe mir
+eingebildet, Du hättest was übrig für Hans Thumser,
+da habe ich mich also anscheinend geirrt. Nun dann
+freilich &mdash;«</p>
+
+<p>»Allerdings, mein Kind, da hast Du Dich geirrt. Vielleicht
+erinnerst Du Dich daran, daß Herr Thumser zwanzig
+Jahr und ein Student ist. Es mag ja Kolleginnen geben,
+die sich aus derartig &mdash; ungaren jungen Herren was
+machen. Ich für meine Person &mdash; ich lege auf derartige
+Bekanntschaften keinen Wert.«</p>
+
+<p>Ach so, die Großartige willst du spielen! Na warte &mdash;!</p>
+
+<p>»Wenigstens nicht, wenn's ein x-beliebiger Bürgerlicher
+ist, willst Du sagen, nicht wahr? Wenn's freilich ein Prinz
+wäre &mdash; das ist was andres, gelt, Jucunderl, denn kann
+er so ungar sein wie er will, hab' ich recht?«</p>
+
+<p>Da fuhr Jucunda Buchner so heftig in die Höhe, daß
+Asta Thöny unwillkürlich aufstand und einen halben
+Schritt zurückwich. Die schönen Hände krallten sich, das
+majestätische Gesicht verzerrte sich zum Ausdruck einer
+Medusa, die stahlblauen Augen funkelten Wut gleich den
+Lichtern einer gereizten Katze:</p>
+
+<p>»Was fällt Dir ein, was erlaubst Du Dir?!« Doch
+rasch glätteten sich ihre Züge zum Ausdruck eiskalter Verachtung,
+sanken die schönen Schultern nachlässig in die
+Kissen zurück, und mit einer Handbewegung, gleich jener,
+mit der eine Königin eine unbotmäßige Kammerfrau entläßt,
+befahl sie:</p>
+
+<p>»Verlassen Sie mein Zimmer, mein Fräulein!«</p>
+
+<p>Asta Thöny lächelte ihr boshaftes Spitzbubenlächeln.
+Sie sank in einem tiefen Hofknix zusammen:</p>
+
+<p>»Zu Befehl, Frau Marquise, wünsche gute Karriere.«
+Und schon war sie hinaus.</p>
+
+<p>Während sie die Katharinenstraße hinunterschritt und
+den Marktplatz überquerte, dessen Schneedecke grell im
+duftumschleierten Lichte des frühen Wintermorgens
+gleißte, fühlte sie sich fast erstickt von der Seligkeit, die
+verhaßte Rivalin einmal bis aufs Blut geärgert zu haben.</p>
+
+<p>So eine Hundeschnauze! so eine eiskalte! Tut, als hätte
+sie keine Ahnung, daß sie es doch allein ist, die all den
+Unfug angestiftet hat in den Brauseköpfen hüben und
+drüben &mdash; Gott! und wer weiß, was für Dummheiten sie
+sonst noch alles auf dem Gewissen hat! Ist nicht dies
+ganze Nest wie verrückt nach ihr? Aber das ist das Blödsinnige
+an dem Ruhm: hat unsereins sich erst mal durchgesetzt,
+dann liegt die Welt vor ihr auf dem Bauch, und
+das verrückte Mannsvolk bringt sich um für das Glück,
+von ihr mit Füßen getreten zu werden ...</p>
+
+<p>Aber jetzt &mdash; jetzt ist sie wild. Jetzt faucht sie zu
+Hause, jetzt hat sie einmal gespürt, daß auch noch andere
+Katzen Krallen haben &mdash;!</p>
+
+<p>Aber schau &mdash; wer war denn das? Da kamen aus der
+Kleinen Fleischergasse zwei grüne Mützen heraus, zwei
+Franken-Korpsburschen, sehr feierlich. Der eine, der
+ältere, trug den Paletot nachlässig geöffnet, und man sah
+darunter den bis hoch hinauf zugeknöpften Bratenrock ...
+Handschuhe trugen sie, gestreifte Hosen und Gummigaloschen.
+Der ältere, den kannte sie, den hatte ihr Hans
+einmal von ihrem Fenster aus gezeigt, es war Volkner,
+der jetzige Häuptling des Frankenbundes. Ingrimmigen
+Ernst auf den jungen Gesichtern, steuerten die zwei über
+den Marktplatz, bogen in die Katharinenstraße und verschwanden
+in der Tür, die sie selber soeben verlassen.</p>
+
+<p>O Gott &mdash; sie wußte, was die zwei zu suchen hatten
+bei Valentin Pilgram da droben ... sie wußte: die sollten
+ihm Hans Thumsers Forderung überbringen ... das
+waren die Kartellträger ...</p>
+
+<p>Daß Hans Thumser kein Glück gehabt bei Jucunda ...
+und daß sie selber es der verhaßten Rivalin einmal gründlich
+gegeben &mdash; über dieses doppelte Glück hatte Asta völlig
+den blutigen Ernst der Situation vergessen ... Sie
+wußte: Kavaliere &mdash; und waren sie auch erst seit ein paar
+Semestern flügge geworden, wie die Herren Korpsstudenten
+&mdash; die fackeln nicht lange mit dem Austrag
+solcher Händel. Und wenn erst die Pistolen geladen sind,
+dann kommt guter Rat zu spät ... und dabei mußte sie
+ja doch in die Probe. Morgen abend war ja Abschiedsvorstellung
+&mdash; »Wallensteins Tod« &mdash; und wenn sie auch
+nur ein winziges Röllchen hatte, das Fräulein von Neubrunn,
+Theklas Gesellschafterin und Vertraute &mdash; die
+Probe versäumen, das hätte sie sich doch nicht getraut.
+Der stramme Pflichtgeist, der das Meininger Ensemble beseelte,
+ließ einen solchen Gedanken selbst in höchster Not
+niemals aufkommen. Schon dreiviertel zehn, also höchste
+Zeit! Asta sprang in eine Droschke, befahl »Zum Carolatheater!«
+und drückte sich fröstelnd in den verschlissenen
+Plüsch. All ihr Uebermut war verweht. Was auf den
+starren, korrekten Amtsgesichtern der zwei jungen Gesellen
+da gestanden hatte, das legte sich wie eisig umklammernde
+Knochenfinger um ihr Herz.</p>
+
+<p>Die zwei suchten Pilgram ... und wenn er jetzt noch
+nicht daheim war, er würde kommen, sie würden ihn
+finden, würden ihre Botschaft ausrichten ... Und dahinter
+lauerte ein Schreckensbild: das Bild einer tiefverschneiten
+Waldblöße, die in unberührter, weiter Fläche
+daliegt im ersten Morgenschein ... Nun rollen von hüben
+und drüben zwei Wagen heran, lautlos ... ein paar junge
+Männer entsteigen ihnen, rüsten sich zu geheimnisvoll
+grausigem Tun &mdash; nun treten sie alle rechts und links zur
+Seite, und zweie nur bleiben inmitten stehen, wenige
+Schritte nur voneinander, sie heben blitzende Läufe &mdash;
+einer zielt nach des andern Herzen ... und der eine von
+ihnen heißt Hans Thumser ...</p>
+
+<p>Was tun? o Gott, was tun?!</p>
+
+<p>Da, ein rettender Gedanke: Franz Burg ... der war
+doch einmal akademischer Bürger ... Wenn einer der
+Meininger nicht mehr ein noch aus wußte, ging er ja
+immer zu Franz Burg ...</p>
+
+<p>Ja, das war's! Franz Burg mußte Rat schaffen.
+Aber wie den Gestrengen erreichen? Wenn sie auf die
+Bühne kam, würde die Generalprobe bereits begonnen
+haben &mdash; und bis die beendigt war, durfte man dem
+Szenenleiter mit nichts anderm kommen, aber auch mit
+gar nichts. Solange gehörte er nur seinem Werk. Und
+jeder Versuch, ihn mit andern Dingen zu befassen, würde
+höchstens eine erstaunliche Grobheit eingetragen haben.</p>
+
+<p>Und darüber würde es drei Uhr werden ... Gott,
+was konnte inzwischen alles geschehen! So lange war man
+machtlos, war man im Dienst ... war man »Fräulein
+von Neubrunn, Hofdame der Prinzessin«.</p>
+
+<p>Und die Prinzessin? &mdash; Selbstverständlich Jucunda
+Buchner ... die große Jucunda ...</p>
+
+<p class="start-chapD space-above">Drei Uhr nachmittags.<br />
+Auf der Kneipe des Korps Misnia tagte das S.&#x202f;C.
+Ehrengericht zur Entscheidung über die hängende Pistolenforderung
+des Korpsburschen eines wohllöblichen C.&#x202f;C.
+der Franconia Thumser wider den früheren C.&#x202f;B.
+Pilgram.</p>
+
+<p>Der Kneipsaal, sonst nur »zu den festlichen Gelagen«
+bestimmt, war nun zu verhängnisschwerer Tagung eingerichtet.
+An den hufeisenförmigen Tischen saßen die
+Ehrenrichter, je zwei von jedem der fünf Leipziger Korps,
+und von dem präsidierenden Korps Misnia noch ein dritter
+Korpsbursch als Protokollführer.</p>
+
+<p>Wie um das feierlich Eindrucksvolle des Femgerichts
+zu unterstreichen, waren die Schlagläden heruntergelassen,
+und die gelben Flammen der Gaslichtkrone warfen
+zuckende Reflexe auf die bunten Mützen, die dreifarbenen
+Bänder, die blinkenden Scheiben der Klemmer und
+Monokels, die schmißdurchsetzten Jugendwangen, die in
+feierlich offizielle Falten gelegt waren.</p>
+
+<p>Hans Thumser, als der Beleidigte, wurde zuerst gehört.</p>
+
+<p>Mit knappen Worten berichtete er den Vorfall, der sich
+am gestrigen Abend auf der Kneipe seines Korps zugetragen.
+Als er geendet, fragte der Vorsitzende, Graf
+Schmettow, der Erste der Meißner, ein über die Maßen
+patenter, hagerer Gesell, dessen linke Wange eine furchtbare
+Säbelnarbe von der Schläfe über den Mundwinkel
+bis ins Kinn hinein durchzog:</p>
+
+<p>»Danke, Herr Thumser. Ihre Erzählung ist natürlich
+so, wie sie da vorgetragen worden ist ... äh ... nicht
+so recht verständlich ... offenbar ist doch zwischen Ihnen
+beiden ... äh ... noch irgend etwas andres vorgekommen
+...? Wollen Sie uns auch darüber Auskunft geben,
+oder wünschen Sie, daß zunächst sich Ihr Herr Gegner ...
+äh ... über den von Ihnen vorgetragenen Tatbestand
+erklärt?«</p>
+
+<p>Hans Thumser sann einen Augenblick nach. Astas
+Bild, Jucundas tauchte einen Augenblick vor seinem Geiste
+auf. Hatte es einen Zweck, diese Erlebnisse in die Verhandlung
+mit hineinzuziehen? &mdash; Es war ja schließlich
+ganz gleichgültig, wie das alles geworden war ... wie
+es hatte kommen können, daß der einstige Korpsbruder
+ihm das Band von der Brust gerissen ... das war nun
+einmal geschehen. Die Tat lag vor, nackt und unerbittlich
+... Für sie hatte er Sühne zu fordern &mdash; sie zu erklären
+war allenfalls des andern Sache, nicht die seine ...</p>
+
+<p>»Ich habe vorläufig nichts weiter mitzuteilen, Herr
+Vorsitzender.«</p>
+
+<p>Damit war er entlassen.</p>
+
+<p>Und mit angespannter Neugier hingen nun die Blicke
+der jugendlichen Ehrenrichter an der Reckengestalt des
+Jünglings, der so lange als der Besten einer in ihrer Mitte
+gestanden hatte, dessen scharfe Klinge nicht nur, dessen
+scharfes Wort, dessen ganzes vorbildliches Wesen einem
+jeden stets den vollkommensten Respekt abgezwungen.
+Da war keiner im Leipziger S.&#x202f;C., der nicht den Fall Pilgram
+mit brennendem Interesse, mit aufrichtiger Sympathie
+verfolgt hätte. Und jeder hatte Gelegenheit gehabt
+zu beobachten, wie Franconias einstiger Senior schon gar
+bald nach seinem Ausscheiden aus dem Korps wie unter
+der Last eines grundstürzenden Erlebnisses förmlich in
+sich zusammengesunken war, verändert, verwildert, tiefster
+Verbitterung anheimgefallen.</p>
+
+<p>Nun schien er wieder der Alte, zum mindesten in seiner
+äußeren Erscheinung. Korrekt gescheitelt und gekleidet,
+in tadellosem Gehrock und Lackschuhen stand er vor dem
+Ehrengericht, nur um seine Brust fehlte das Band und
+auf seinem Gesicht das alte trotzig-heitere Selbstbewußtsein ...</p>
+
+<p>»Herr Pilgram,« begann der Vorsitzende, »ich brauche
+Ihnen nicht zu sagen, worum es sich handelt. Herr
+Thumser Franconiae hat Ihnen eine Pistolenforderung
+auf fünfzehn Schritt Barriere und Kugelwechsel bis zur
+Kampfunfähigkeit übersandt wegen eines Renkontres,
+das Sie mit ihm gestern abend gegen neun Uhr auf der
+Frankenkneipe gehabt haben. Entsinnen Sie sich der
+Ausdrücke, die Sie gebraucht haben, und ist es Ihnen
+auch bewußt, daß Sie ihm das Korpsband von der Brust
+gerissen, dann zum Schlage ausgeholt haben, und nur
+durch das Dazwischentreten der Herren Korpsbrüder des
+Herrn Thumser verhindert worden sind, Herrn Thumser
+noch weiter tätlich anzugreifen?«</p>
+
+<p>»Allerdings,« erklärte Pilgram ruhig. »Ich entsinne
+mich des Vorfalls genau. Ich war vollständig Herr
+meiner Sinne und übernehme für meine Handlungsweise
+die volle Verantwortung.«</p>
+
+<p>»Sie sind also bereit, Herrn Thumser die standesübliche
+Genugtuung mit der Waffe zu geben? Und haben
+andrerseits nicht die Absicht, irgendwelche andere Formen
+der Sühne in Vorschlag zu bringen?«</p>
+
+<p>»Nein!« sagte Valentin Pilgram.</p>
+
+<p>Einer der Ehrenrichter bat ums Wort. Herr ten
+Brink, der Erste Chargierte der Guestphalia, ein langer,
+semmelblonder, sommersprossiger Sohn der roten Erde.</p>
+
+<p>»Es ist mir was aufgefallen in der Erzählung des
+Herrn Thumser,« sagte er. »Herr Thumser hat erzählt,
+Sie hätten ihm einen Brief zu lesen gegeben, dessen Inhalt
+ihm vollständig unbekannt gewesen sei. Wollen Sie sich
+über diesen Punkt vielleicht auslassen?«</p>
+
+<p>»Darf ich mir die Frage gestatten, Herr Vorsitzender,«
+erwiderte Pilgram, »ob Herr Thumser über diesen Punkt
+bereits nähere Erklärungen gegeben hat?«</p>
+
+<p>»Nein!« sagte Graf Schmettow. »Wir haben vorläufig
+darauf verzichtet, uns überhaupt mit der Frage
+zu beschäftigen, was für ... äh ... Motive hinter dem ...
+Renkontre vorhanden gewesen sein mögen.«</p>
+
+<p>»Dann &mdash;« sagte Valentin Pilgram, »dann würde ich
+für meine Person vorziehen, diese Seite der Sache ebenfalls
+unerörtert zu lassen, vorausgesetzt, daß ein hohes
+Ehrengericht nicht seinerseits darauf besteht.«</p>
+
+<p>»Ich verstehe,« sagte der Vorsitzende. »Die Herren
+scheinen also einig darüber zu sein, daß der Tatbestand
+der Beleidigungen lediglich an und für sich hier zum
+Gegenstand der Verhandlung gemacht werden soll, ohne
+daß auf ihre Veranlassung weiter einzugehen sein würde
+&mdash; aus Gründen der Diskretion vermutlich, nicht wahr?«</p>
+
+<p>Pilgram nickte stumm.</p>
+
+<p>»Wenn ich recht verstehe,« fuhr der Vorsitzende fort,
+»so stellen die beiden Herren Gegner sonach den Sachverhalt
+übereinstimmend dar. Danach würde wohl eine
+Vernehmung von Zeugen und jede weitere Aufklärung
+des Sachverhalts erübrigen, nicht wahr, meine Herren?!«</p>
+
+<p>Zustimmend nickten die Ehrenrichter, und der Vorsitzende
+entließ den Beleidiger.</p>
+
+<p>Die Beratung war nur kurz. Der Fall lag ganz klar:
+es handelte sich um eine tätliche Beleidigung, die zur
+Ausführung gekommen war, und um eine solche, deren
+Ausführung nur durch das Eingreifen Dritter verhindert
+worden war. Die erstere, das Abreißen des Korpsbandes,
+kam an Schwere der zweiten, vereitelten mindestens gleich.
+Neben diesen Realinjurien spielen die vorgefallenen wörtlichen
+Beleidigungen nur eine nebensächliche Rolle. Der
+Beleidiger hatte zugegeben, bei klarem Verstande und
+wohlüberlegt vorgegangen zu sein. Unter diesen Umständen
+war es vollkommen klar, daß die Forderung genehmigt
+werden mußte, und zwar ohne daß ein Anlaß
+vorlag, die sehr scharfen Bedingungen zu ermäßigen.</p>
+
+<p>Schon neigte sich die Verhandlung ihrem Ende, da
+erbat Herr ten Brink Guestphaliae Erster noch einmal
+das Wort:</p>
+
+<p>»Ich weiß nicht, meine Herren, die Sache kommt mir
+eigentlich ein bißchen merkwürdig vor. Die Geschichte
+mit dem Brief will mir nicht aus dem Kopf, ich habe das
+Gefühl, da steckt ein Mißverständnis hinter. Ich meine,
+das Ehrengericht ist doch schließlich nicht bloß dazu da,
+über eine Forderung zu entscheiden &mdash; ich meine, unter
+Umständen wäre es doch unsere verdammte Pflicht und
+Schuldigkeit, Mißverständnisse aufzuklären ... kurz,
+zwischen den Parteien zu vermitteln. Ich meine, wir
+sollten in diesem Fall doch ein wenig genauer auf die
+Vorgeschichte des Renkontres eingehen. Um so mehr, als
+meines Erinnerns Herr Thumser geäußert hat, der fragliche
+Brief sei von einer Dame geschrieben gewesen. Na,
+meine Herren, wir wissen doch alle, wenn die Weiber in
+so 'ne Affäre hineinspielen, dann ist es meistens halb
+so schlimm.«</p>
+
+<p>Ein kurzes, verständnisinniges Schmunzeln auf allen
+Gesichtern, das aber schnell der gewohnten, feierlichen
+Korrektheit wich. Der Vorsitzende meinte:</p>
+
+<p>»Ich halte uns nicht für befugt, in die persönlichen
+Angelegenheiten der Kontrahenten einzudringen, wenn
+diese nicht selbst Wert darauf legen. Ich glaube &mdash; der
+Versuch einer Vermittlung zwischen den Herren würde ...
+äh ... eine Ueberschreitung unserer Kompetenz sein ...
+und zugleich ein Eingriff in die Verfügungsfreiheit der
+Herren, den sie sich nicht gefallen zu lassen brauchten.
+Aber ich weiß nicht, wie die anderen Herren darüber
+denken? Bitte sich zu äußern!«</p>
+
+<p>Es stellte sich heraus, daß ten Brink mit seiner Auffassung
+ganz allein stand. So wurde denn die Forderung
+mit den Stimmen aller Ehrenrichter gegen die seinige
+genehmigt und dies den beiden Parteien mitgeteilt.</p>
+
+<p>Das Schicksal war gefallen.</p>
+
+<p>Gleich nach dem Ehrengericht traten die Sekundanten
+der beiden Parteien zusammen. Volkner für Thumser
+und Herr Borgmann Neo-Borussiae Erster für Pilgram.
+Sie verabredeten als Platz für das Duell die Heiderwiese,
+eine Waldlichtung im Ratsholz, südwestlich von Connewitz,
+unfern des linken Pleißeufers, am Reitwege nach
+Gautzsch, und als Zeit für die Austragung punkt sechs
+Uhr am folgenden Morgen.</p>
+
+<p>Hiervon benachrichtigten sie ausschließlich den Grafen
+Schmettow und ersuchten ihn, als Senior des derzeit
+präsidierenden Korps das Amt eines Unparteiischen zu
+übernehmen.</p>
+
+<p>Dann wurden die Korpsdiener unter Hinweis
+auf ihre Pflicht zu absoluter Verschwiegenheit ins
+Vertrauen gezogen und angewiesen, den Pistolenkasten
+instandzusetzen, Wagen zu bestellen. Den Vertrauensarzt
+des S.&#x202f;C. in derartigen Fällen, den Sanitätsrat
+Dr. Collwitz, einen Alten Herrn der Neo-Borussia, übernahm
+Herr Borgmann zu bestellen.</p>
+
+<p>Diese Vereinbarungen hatten im Konventszimmer der
+Misnia stattgefunden, welches den Herren für diesen
+Zweck zur Verfügung gestellt war. Nun verabschiedete
+man sich voneinander mit dem üblichen Händedruck bei
+hochgehobenen, eingewinkelten Ellenbogen und zeremonieller
+Verbeugung.</p>
+
+<p>Volkner begab sich in eine gegenüberliegende Konditorei,
+in der Hans Thumser seine Mitteilungen abwartete,
+und benachrichtigte ihn vom Geschehenen.</p>
+
+<p>Das alles geschah in kurzen, formelhaften Wendungen.
+Kein Wort wurde gesprochen zwischen den beiden jungen
+Leuten, das über das sachlich absolut Notwendige hinausging.
+Jeder mußte die letzte Kraft aufwenden, Haltung
+zu bewahren angesichts des Grauens, das von diesem
+Unabwendbaren ausging, von diesem Unabwendbaren,
+das nun herankroch mit dem schleichenden Schritt der
+Sekunden und Minuten; das sich vollenden mußte, bevor
+es abermals Tag geworden.</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Nach Schluß der Probe mußte Asta lange warten,
+bevor sie den Oberregisseur für sich allein bekam.
+Tausend Geschäfte, tausend Bitten drängten sich noch an
+ihn heran. Schließlich wurde es ihm zu toll:</p>
+
+<p>»Kinder, ich bin auch nur ein Mensch und muß heut
+abend den Wallenstein spielen. Jetzt schert Euch gefälligst
+alle zum Teufel! Ich will schlafen.«</p>
+
+<p>Asta schoß hinter ihm drein.</p>
+
+<p>»Meister, eine Bitte, Sie müssen mich anhören, es
+geht um Tod und Leben!«</p>
+
+<p>»Und wenn's um sechsundzwanzig Paar Regensburger
+Würschte geht, ich kann nicht mehr.«</p>
+
+<p>»Helfen Sie mir, Meister, oder soll ich hier auf dem
+Korridor einen Kniefall tun?«</p>
+
+<p>»Nützt Ihnen auch nichts, kommt alle Tage vor. Lassen
+Sie mich in Frieden!«</p>
+
+<p>Asta brach in Tränen aus und hängte sich an des
+Davonhastenden Arm.</p>
+
+<p>»Pah!« brummte der, »auch noch flennen! nützt Dir
+auch nichts, kommt auch alle Tage vor!«</p>
+
+<p>Aber er schüttelte sie doch nicht ab, als sie sich an seinen
+Arm hing und das feuchte Gesichtchen an seiner Schulter
+barg &mdash; als sie sich hinter ihm in seine Garderobe drängte.</p>
+
+<p>»Also in drei Teufels Namen, was gibt's? Aber kurz,
+bitte!«</p>
+
+<p>Er ließ seine lange Gestalt mit einem Grunzen halb
+des Grimms, halb des Behagens auf das schminkfleckige
+Sofa fallen. Wies der Besucherin mit Handwink den
+Frisierstuhl als Sitzgelegenheit. Asta drehte den Stuhl
+herum, hockte auf seiner vordersten Kante, erzählte stockend,
+befangen, verwirrt ...</p>
+
+<p>Als sie schwieg, tippte Franz Burg mit dem Mittelfinger
+der Rechten auf seine Brust und zuckte ein paarmal
+langsam die Schultern. Seine Brauen waren hochgezogen,
+um die schmalen Lippen spielte in tausend Fältchen ein
+Mephistoschmunzeln.</p>
+
+<p>»Sie sollen mir raten, was ich tun soll, Meister!«</p>
+
+<p>»Ja, Kindchen, soweit ich aus der Geschichte klug geworden
+bin, handelt es sich also um zwei Studenten, und
+einer von ihnen ist momentan Quartiergast in dem Kämmerchen
+da drüben unter Ihrem Pelzjackett, das freilich,
+soviel mir bekannt ist, häufig seinen Mieter wechselt.
+Aber, wat sall ick dorbi dauhn?«</p>
+
+<p>»Einen Rat &mdash; einen Rat will ich, lieber Herr Burg.
+Sie sind doch Student gewesen &mdash; was fängt man nur
+an, um die zwei wieder auseinanderzukriegen? Was soll
+ich tun, sagen Sie mir, was soll ich tun?!«</p>
+
+<p>»Die Karre laufen lassen, wie sie laufen will! Ich
+bitt' Sie &mdash; die jungen Leute müssen doch was erleben ...
+Sehen Sie sich doch um in der Welt! da geht ja heute
+alles so verflucht ehrbar, korrekt und vorschriftsmäßig zu,
+es passiert nichts &mdash; und passieren muß doch was in der
+Welt ... wovon sollen wir denn sonst leben, wir armen
+Komödianten, und die Poeten, die für uns Komödie
+schreiben! Ist ja 'n wahrer Segen, daß wenigstens auf
+deutschen Hochschulen noch manchmal 'n bißchen gerauft
+und geknallt wird. Ich freue mich immer, wenn ich sehe,
+daß noch Leidenschaft in der Jugend drin steckt ... daß
+noch Tragödien passieren. Das wäre ja doch ein wahrer
+Jammer, wenn man so was hintertreiben wollte.«</p>
+
+<p>»Aber wenn nun ein Menschenleben dabei zugrunde
+ginge, bedenken Sie doch, Meister! So ein blühendes,
+herziges, junges Studentenleben!«</p>
+
+<p>»Na &mdash; wenn schon!« knurrte Burg, »Studenten gibt's
+doch weiß Gott genug auf der Welt. Eine große Sensation
+... eine &mdash; na, einen Stoff &mdash; das ist wahrhaftig
+so'n Allerweltsstudentenleben wert!«</p>
+
+<p>»Herr Burg, Sie sagen Allerweltsstudentenleben ...
+das stimmt hier aber nicht; der eine, das ist kein Allerweltsstudent,
+das ist was ganz Besonderes &mdash;«</p>
+
+<p>»Der eine? Also <em class="gesperrt">Ihrer</em> selbstverständlich, nicht
+wahr?«</p>
+
+<p>»Gott ja, meiner, wenn Sie wollen.«</p>
+
+<p>»Nun, was ist denn so Besonderes an ihm?!«</p>
+
+<p>»Er ist ein Dichter! Ach, so wundervolle Gedichte
+macht er. Wenn ich doch nur eins bei mir hätt'!«</p>
+
+<p>»Sieh, sieh!« schmunzelte der Oberregisseur. »Also
+ein zukünftiger Bühnenlieferant. Na, dann soll er sich
+erst recht schießen!«</p>
+
+<p>»Aber Herr Burg ... um Gottes willen!«</p>
+
+<p>»Ja gewiß soll er. Entweder er geht drauf &mdash; na, in
+Gottes Namen: er ist der erste nicht. Wie mancher Homer
+ist blind geworden, <em class="gesperrt">ehe</em> er Zeit gehabt hat, die Welt,
+das Leben so tief in sich hineinzusaugen wie der alte
+Griechenbarde ... Wie mancher Aeschylos mag in der
+Seeschlacht gefallen sein, wie mancher Schiller auf der
+Karlsschule in Verzweiflung und Verblödung hineingeknutet
+... Das ist Kismet ... Wenn er aber übrig
+bleibt, glauben Sie nicht, daß er dann ein ganz andrer
+Kerl ist wie vorher, wenn er mal dem Tode ganz nahe
+ins Gesicht gesehen hat? Glauben Sie nicht, daß er Ihnen
+nachher noch viel schönere Verse machen wird; daß er noch
+'ne ganz andere Nummer von Tragödie zustandebringt,
+wenn er erst mal erlebt hat, wie einem zumute ist, der die
+Nase hinhalten muß, wenn's drüben blitzt und knallt?«</p>
+
+<p>Asta sprang auf, rannte schluchzend zum Fenster.</p>
+
+<p>»Das ist entsetzlich, Herr Burg, das ist grausam!«</p>
+
+<p>»Ne, das ist klug, das ist weise, Kindchen!«</p>
+
+<p>»Also gut!« schrie die Kleine, warf sich herum, stand
+mit geballten Fäusten vor dem Oberregisseur, das reizende
+Gesicht von Grimm und Haß verzehrt. »Also gut! Sie
+sollen sich schießen ... einer soll auf dem Platze bleiben,
+alle beide &mdash; was kommt dabei heraus?! Nur eine neue
+Reklame für sie, für die große Jucunda! Was wird's
+heißen? Zwei Studenten haben sich geschossen ... wegen
+ihr, wegen Jucunda Buchner! Das ist's ja auch, was
+sie will, darauf hat sie's ja auch angelegt mit allem
+Raffinement, die Katze, die verdammte! Der ist's recht,
+wenn ein paar so fesche junge Kerle zum Teufel gehen
+ihretwegen &mdash; das paßt ihr grad in ihren Kram, dem
+hundeschnauzenkalten Weibsbild, das an nichts denkt &mdash;
+nur an sich, nur an sich!«</p>
+
+<p>»Ach so!« lächelte Franz Burg. »Da zielt's hinaus!
+Mag sein, Sie haben recht, Kindchen ... Vielleicht ist
+unsere große Jucunda wirklich eine ganz haarsträubende
+Egoistin &mdash; aber ich wollte zu Ihrem Besten, Kleine, Sie
+selber wären's auch. Wenn Sie das erfreuliche
+Temperament, das Sie anscheinend im Leben besitzen,
+ein bißchen mehr zusammenhielten und auf Ihre Kunst
+losließen, statt auf Ihre ... auf die Mieter Ihres Herzenskämmerleins
+&mdash; glauben Sie mir, Sie wären eine größere
+Künstlerin, als Sie's leider sind. Sagen Sie mir nichts
+gegen die Jucunda, die ist ganz gut so wie sie ist. Die
+ist, was Sie nicht sind: eine Komödiantin. Die fühlt
+und weiß, wozu sie auf der Welt ist: nämlich zum
+Komödienspielen! Lieben und sich lieben lassen &mdash; schöne
+Sache, o ja, für die andern, für die Alltagsweiber &mdash; aber
+nicht für Euch. Zusammenhalten sollt Ihr Eure
+Glut, kalt wie Hundeschnauzen sollt Ihr meinetwegen sein
+im Leben, wenn Ihr nur abends, sobald der Lappen in
+die Höhe fliegt, Vulkane seid, wie die Jucunda einer ist! &mdash;
+Na, haben Sie noch weiter Schmerzen, Kleine?«</p>
+
+<p>Gesenkten Blickes, mit zuckendem Kinn hatte Asta die
+Standrede des Meisters über sich ergehen lassen. Nun
+warf sie den Kopf trotzig in den Nacken, stampfte mit
+dem Fuß auf:</p>
+
+<p>»Ich will aber nicht, ich will nicht, daß der lange
+Pilgram mir meinen süßen Jungen totschießt! Wollen
+Sie mir helfen, wollen Sie mir einen vernünftigen Rat
+geben?! Oder soll ich meiner Wege gehen?«</p>
+
+<p>»Hm ... also das sage ich Ihnen, Astachen, gehen
+Sie weg vom Theater, aus Ihnen wird niemals was. &mdash;
+Also, wenn's denn absolut sein muß, die Sache ist doch
+entsetzlich einfach: Wenn Studenten Dummheiten machen,
+dann steckt man sich hinter ihre Eltern. Leben die
+respektiven Herren Väter noch?«</p>
+
+<p>»Beide, soviel ich weiß.«</p>
+
+<p>»Na also, und wo wohnen sie denn, die würdigen
+Erzeuger der beiden Hitzschädel?«</p>
+
+<p>»Der eine wohnt da hinten im Rheinland irgendwo,
+soviel ich weiß.«</p>
+
+<p>»Welcher? Ihr moralischer Schwiegerpapa oder der
+andere?«</p>
+
+<p>»Nein, der <em class="gesperrt">eine</em>,« sagte Asta, und das alte Schelmenlächeln
+blitzte durch Grimm und Tränchen wieder hindurch.</p>
+
+<p>»Also an den wird bis morgen nicht dranzukommen
+sein &mdash; und der andere?«</p>
+
+<p>»Der andere, der ist, soviel ich weiß, irgendein hohes
+Tier in Dresden!«</p>
+
+<p>»Teufel, das trifft sich ja glänzend! Also, setzen Sie
+sich auf die Bahn, Kindchen, und rücken Sie dem Alten &mdash;
+wie heißt er? &mdash; dem alten &mdash;?«</p>
+
+<p>»Pilgram,« half Asta ein.</p>
+
+<p>»Also, rücken Sie dem alten Pilgram auf die Bude
+und petzen Sie ihm, daß sein wackerer Sprößling seinen
+Monatswechsel dazu mißbraucht, statt hinter seinen
+Büchern zu hocken, andern jungen Leuten Löcher in den
+Bauch zu schießen. Ich wette, dann entwickelt sich alles
+weitere historisch.«</p>
+
+<p>Asta sprang auf den Oberregisseur zu, der noch immer
+langhingestreckt auf dem schminkfleckigen Sofa lag, fiel
+ihm um den Hals und küßte ihn stürmisch.</p>
+
+<p>»Ach, Franzel, Sie sind doch der Allerbeste! Das
+wird gemacht, das ist die Rettung!«</p>
+
+<p>»Aber bitte, erst nach dem 'Lager' &mdash; die kleine Oerzen
+ist krank geworden. Sie spielen heut abend die Gustel
+von Blasewitz. Nachher reisen Sie meinetwegen, wohin
+Sie wollen.«</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen, oh, ich danke Ihnen tausendmal,
+Sie Goldiger!«</p>
+
+<p>»Es ist ein Skandal,« knurrte Franz Burg. »Da hat
+unser Herrgott endlich mal wieder eine richtiggehende
+Tragödie angelegt, und so ein dummes, kleines Gör
+zerreißt ihm das Konzept und macht eine Posse draus!«</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>15.</h2>
+
+<p class="start-chapW">Wenige Minuten nach halb zwölf stieg Asta Thöny am
+Böhmischen Bahnhof in Dresden aus dem Leipziger
+Schnellzuge. Sie hatte schon in Leipzig das Dresdener
+Adreßbuch eingesehen und festgestellt, daß der Senatspräsident
+am Oberlandesgericht Heinrich Pilgram in der
+Marschallstraße Nummer zweiundzwanzig wohnte.</p>
+
+<p>In dem milderen Klima der Residenzstadt war der
+Neuschnee des gestrigen Tages schon geschmolzen und hatte
+das Pflaster mit einer zähen Schlammkruste überzogen.
+In den Straßen war schon alles Leben erstorben. Trübselig
+spiegelte sich der Schein der Straßenlaternen in den
+Kotlachen der überschwemmten Rinnsteine. Trübselig
+klapperte der Gaul durch die physiognomielosen Straßen
+der Vorstadt und durch die kaum angebauten Alleen an
+der Grenze der Altstadt.</p>
+
+<p>Eigentlich doch ein wahnsinniger Plan: um Mitternacht
+einer wildfremden Familie auf die Bude zu rücken!
+Aber schließlich, man hatte doch wohl alle Veranlassung,
+ihr dankbar zu sein. &mdash; Endlich: da stand sie vor der Pforte
+einer vierstöckigen Mietskaserne, und während der Wagen
+von dannen rollte, riß sie sich schier die Hände ab in dem
+Bemühen, den Portier zu alarmieren.</p>
+
+<p>Ein Tattergreis, der hastig Hose und Rock über sein
+Nachtgewand gezogen, mit wirrem Graukopf und schlampigen
+Pantoffeln empfing sie, bösartig knurrend, und war
+nur durch etliche Markstücke so weit zu bezähmen, daß er
+sie bei der schwankenden Beleuchtung einer schwelenden
+Handlaterne bis zum dritten Stock hinaufbegleitete, wo
+ein Porzellanschild mit der Aufschrift »Pilgram« an einer
+breiten, mit Vorhängen abgeblendeten Glastür den Eingang
+wies.</p>
+
+<p>Drinnen alles finster.</p>
+
+<p>Wahnsinnige Situation! Aber was half's! Die Klingel
+schrillte, und zu Astas freudiger Ueberraschung erschien
+schon nach wenigen Minuten ein verschlafenes Dienstmädchen,
+das entsetzt zurückprallte, als es der fremden,
+eleganten Dame ansichtig wurde.</p>
+
+<p>Die Herrschaften seien in Gesellschaft, würden aber
+wohl bis ein Uhr wieder zurück sein ...</p>
+
+<p>Den unbekannten Besuch in die Wohnung einzulassen,
+dazu war das Mädchen nicht zu bewegen, und so mußte
+Asta unter Führung des Tattergreises abermals die drei
+Stiegen hinunter, um draußen auf der ganz verlassenen
+Straße in Schlamm und Tauwind auf und ab zu patrouillieren,
+wie sie abends vorher im Schnee auf der
+Kleinen Fleischergasse auf- und abpatrouilliert war ...</p>
+
+<p>Endlich nach einer Stunde Wartens nahten von der
+Altstadt her vier vermummte Gestalten: ein Herr im
+Zylinder, den Rockkragen hochgeschlagen, und drei Damen,
+eine kugelrunde und zwei schlanke, hochgewachsene, in
+Abendmänteln und Kapuzen.</p>
+
+<p>Im Augenblick, als der alte Herr den Schlüssel einschob,
+um zu öffnen, trat Asta auf ihn zu:</p>
+
+<p>»Um Verzeihung! Ich habe wohl die Ehre, Herrn
+Präsidenten Pilgram ...«</p>
+
+<p>Der alte Herr richtete sich aus seiner gebückten Stellung
+auf, stand völlig verblüfft, musterte die Fragerin.</p>
+
+<p>Im selben Augenblick sah Asta durch goldgefaßte
+Brillengläser hindurch zwei scharfe, klare Augen mit durchdringendem
+Blick auf sich gerichtet.</p>
+
+<p>»Allerdings! Ich heiße Pilgram &mdash; Sie wünschen?!«</p>
+
+<p>Inzwischen waren die Damen herangekommen, starrten
+völlig verblüfft und verständnislos auf die zierliche Gestalt
+im silbergrauen Jackett, deren Züge ein grauer Schleier
+fast ganz verbarg.</p>
+
+<p>»Entschuldigen Sie gütigst, Herr Präsident, könnte ich
+Sie wohl einen Moment allein sprechen?«</p>
+
+<p>»Was für eine Angelegenheit, bitte, meine Dame? Es
+ist ein Uhr!«</p>
+
+<p>»Eine sehr dringende Angelegenheit,« stammelte Asta,
+»ich komme aus Leipzig, es handelt sich um Ihren Sohn.«</p>
+
+<p>Ein noch schärferer Augenblitz traf das Mädchen.</p>
+
+<p>»Hm ...« sagte er nur, dann bückte er sich aufs neue,
+schloß auf und sagte zu seinen Damen:</p>
+
+<p>»Ihr seid wohl so freundlich und geht schon hinauf
+solange.«</p>
+
+<p>Mit angstvoller Neugier musterten die drei Damen
+die Fremde, aber ein scharfes: »Also bitte!« veranlaßte
+sie, dem Wunsche des Familienoberhauptes Folge zu
+leisten. Die Tür fiel ins Schloß.</p>
+
+<p>»Also zuvörderst, wer sind Sie?« fragte der alte Herr.</p>
+
+<p>»Ich bin die Herzoglich Meiningische Hofschauspielerin
+Asta Thöny.«</p>
+
+<p>»Hm ... und Sie wünschen?«</p>
+
+<p>»Ihr Sohn Valentin wird sich morgen früh mit einem
+andern Studenten schießen.«</p>
+
+<p>Die buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen, der
+graue Fransenschnurrbart zuckte.</p>
+
+<p>»Und dieser andere Student ist wer?«</p>
+
+<p>»Ein Herr Hans Thumser.«</p>
+
+<p>»Hans Thumser?! Das ist ja ein Korpsbruder meines
+Sohnes!«</p>
+
+<p>»Ihr Herr Sohn ist schon vor Wochen aus dem Korps
+ausgetreten ...«</p>
+
+<p>»Was ist das?!«</p>
+
+<p>Der Präsident richtete sich straff auf:</p>
+
+<p>»Das müßte ich denn doch wohl wissen, mein
+Fräulein!«</p>
+
+<p>»Es ist aber so, Herr Präsident.«</p>
+
+<p>»Hm ... lassen wir's zunächst einmal dahingestellt, ob
+Sie recht haben. Was veranlaßt Sie, mir diese Mitteilung
+zu machen?«</p>
+
+<p>Asta war auf diese Frage vorbereitet und hatte sich
+ihre Antwort zurechtgelegt.</p>
+
+<p>»Ich bin ... mit Herrn Thumser ... nahe befreundet.«</p>
+
+<p>»Hm &mdash; mit Herrn Thumser? Sie machen mir also
+Ihre Mitteilungen weniger im Interesse meines Sohnes
+als vielmehr in dem des Herrn Thumser, wenn ich recht
+verstanden habe?«</p>
+
+<p>»Nein, das doch nicht, Herr Präsident. Allerdings ...
+vor allem doch wohl Herrn Thumser zuliebe ... Aber
+Ihren Herrn Sohn kenne ich auch, zwar nur sehr flüchtig,
+aber ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet, er hat
+mich ... er hat mir gestern ... das Leben gerettet.«</p>
+
+<p>Der alte Herr sah das erregte Mädchen mit einem
+Blick an, in dem ganz deutlich zu lesen war, er zweifle
+an ihrem Verstand.</p>
+
+<p>»Darf ich Sie bitten, meine Gnädigste, Ihren Schleier
+zu heben, damit ich sehe, wen ich eigentlich vor mir habe?!«</p>
+
+<p>Mit zwei raschen Bewegungen streifte Asta Thöny den
+Schleier in die Höhe. Sie fühlte sich mit scharfer Prüfung
+gemustert. Aber das Ergebnis mußte wohl nicht ungünstig
+sein, denn erheblich liebenswürdiger als zuvor fuhr der
+alte Herr fort:</p>
+
+<p>»Darf ich Sie bitten, mein gnädiges Fräulein, sich mit
+mir hinauf in meine Wohnung zu bemühen: Sie werden
+mir erzählen.«</p>
+
+<p>Er entzündete ein Wachsstreichholz und leuchtete dem
+seltsamen Gast die Treppe hinauf. Der Hausflur war nun
+hell erleuchtet. An einer halboffenen Tür drängten sich
+drei weibliche Köpfe, die hastig verschwanden, als der
+Präsident mit seinem Besuch eintrat. Sehr höflich nahm
+er dem Gaste den Regenschirm ab und geleitete ihn in ein
+dunkles Zimmer zur Rechten, entzündete zwei Gasflammen,
+bat, ihn einen Moment zu entschuldigen.</p>
+
+<p>Einen raschen Blick warf Asta in dem Zimmer umher.
+Die übliche, gutbürgerliche Einrichtung der sechziger
+Jahre: Mahagonimöbel, grüner Plüschbezug, an den
+Wänden ehrwürdige Familienbilder in Oel mit Darstellungen
+von Priestern und Gelehrten aus den beiden
+letzten Jahrhunderten. Am Fenster ein Mahagonisekretär
+mit Rolljalousie, darauf zahlreiche Photographien in
+Ständerrahmen, unter denen Asta sofort die eines schlanken
+Studenten in Mütze und Band herauserkannte.</p>
+
+<p>Der Präsident kam zurück, bat, auf dem Sofa Platz
+zu nehmen, und setzte sich ihr gegenüber in einen Plüschsessel.
+Er hatte abgelegt. Auf der linken Brust seines
+Fracks schimmerte eine blinkende Ordenreihe.</p>
+
+<p>Und abermals mußte Asta die Geschichte des gestrigen
+Abends erzählen. Der Präsident lauschte gespannt, ohne
+sie mit einem Wort, mit einer Frage zu unterbrechen.
+Als sie geendet, trat er auf sie zu, streckte ihr die Hand hin:</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen, meine Gnädigste. Das war sehr
+gescheit von Ihnen, daß Sie gekommen sind. Ich fahre
+mit Ihnen nach Leipzig. Ich habe schon nachgesehen, um
+drei Uhr vierzig fährt der Zug, um halb sechs sind wir
+drüben. Darf ich Sie inzwischen meinen Damen zuführen?«</p>
+
+<p>»Sehr gütig, Herr Präsident. Und was wird werden,
+was wollen Sie tun?«</p>
+
+<p>»Den beiden jungen Herren klar machen, daß ihre
+Eltern sie nicht deshalb großgezogen haben, damit sie sich
+untereinander als Zielscheibe benutzen.«</p>
+
+<p>»Aber werden wir auch nicht zu spät kommen? Wollen
+Sie nicht vielleicht vorher noch ein dringliches Telegramm
+an Ihren Sohn ablassen?«</p>
+
+<p>»Liebes Fräulein, ich war selbst einmal Student &mdash;
+bin sogar Alter Herr des Korps Franconia &mdash;, wie ich die
+Buben kenne, scheren sie sich in solchen Fällen den Teufel
+um ein väterliches Telegramm. Im Gegenteil: wenn
+sie erst wittern, daß wir ihnen auf der Spur sind, dann
+kriegen wir sie morgen früh überhaupt nicht mehr zu
+fassen. Um halb sechs Uhr sind wir dort, vor sechs Uhr
+wird's ja überhaupt nicht hell um diese Jahreszeit; inzwischen
+werden wir überlegen, was zu tun ist. Darf
+ich Sie jetzt bitten, zu meiner Frau und zu meinen
+Töchtern hinüberzukommen?«</p>
+
+<p>»Verzeihung, Herr Präsident, würden Sie es nicht für
+besser halten, wenn Sie zunächst Ihre werten Damen
+über den Zweck meines Besuchs aufklärten?«</p>
+
+<p>»Da haben Sie recht, liebes Fräulein. Wenn Sie mich
+also einen Augenblick beurlauben wollen ...?«</p>
+
+<p>Nur wenige Minuten blieb Asta allein. Dann flogen
+zwei schlanke Mädels herein, in Balltoilette, mit glühenden
+Backen, glänzenden Augen, in denen die Angst um den
+Bruder und dabei doch auch brennende Neugier und gespannte
+Erregung standen, und stellten sich mit befangenen
+Knixen vor. Achtzehn und zwanzig mochten sie sein, die
+ältere dem Vater und Bruder wie aus den Augen geschnitten;
+die jüngere, ein munteres, molliges Ding, das
+Ebenbild der Mutter, wie sich alsbald herausstellte, als
+nun auch die rundliche Frau Präsidentin auf der Bildfläche
+erschien. Und alsbald saß Asta mit Valentin Pilgrams
+Mutter und Schwestern unter der Hängelampe
+eines altmodisch-behaglichen Speisezimmers. Man stopfte
+sie mit Butterbrot und Süßigkeiten, man fragte sie aus
+nach tausend Dingen, von denen sie keine Ahnung hatte.</p>
+
+<p>Während dessen hatte sich der Präsident entfernt, kam
+nach ein paar Minuten zurück.</p>
+
+<p>»So, mein gnädiges Fräulein, ich habe mir die Sache
+überlegt. Ich werde jetzt gleich zum nächsten Telegraphenamt
+gehen und eine dringliche Depesche an die Leipziger
+Polizei aufgeben. Hören Sie, was ich aufgesetzt habe:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>'Königl. Kreishauptmannschaft Leipzig! Morgen
+früh soll dort Pistolenduell zwischen meinem Sohn
+Valentin und Stud. Hans Thumser stattfinden. Ort
+und Zeit unbekannt. Abreise sofort, um selbes zu verhindern.
+Ankomme 5.29 dort Dresdener. Erbitte
+Unterstützung, womöglich berittenen Gendarmen, am
+Bahnhof.
+</p>
+<p class="right">
+<span style="margin-right:7em">Pilgram,</span><br />
+<span style="margin-right:1em">Senatspräsident am Oberlandesgericht.'</span>
+</p>
+</blockquote>
+
+<p>So, ich nehme an, daß man einem königlichen Beamten
+meines Ranges in angemessener Weise entgegenkommen
+wird. Wenn die Polizei einigermaßen ihre Pflicht und
+Schuldigkeit tut, so kommen die jungen Herren morgen
+früh überhaupt nicht aus ihrer Bude heraus, sondern
+werden gleich mit Beschlag belegt. Sollte aber wider alles
+Erwarten die Sache nicht klappen, so sind wir ja da!«</p>
+
+<p>»Ja, aber um Gottes willen, Herr Präsident,« meinte
+Asta, »wir haben doch keine Ahnung, wo die schreckliche
+Geschichte eigentlich vom Stapel gehen soll &mdash; wie wollen
+Sie das denn herauskriegen?«</p>
+
+<p>»Ja, Papachen, wie willst Du das nur herauskriegen?«
+echoten die Töchter.</p>
+
+<p>»Liebe Kinder, ich war doch selbst mal in dem Geschäft.
+Gebt acht: Wenn man sich schlagen will, geht man
+nicht zu Fuß heraus, sondern bestellt sich einen Wagen.
+Wenn man aber Korpsstudent ist, so hat man für diesen
+Wagen eine ganz bestimmte Bezugsquelle: das Korps
+nimmt nämlich seinen Wagen immer bei ein und demselben
+Fuhrwerksbesitzer, der ihm Vorzugspreise gewährt.
+Den Namen aber des Wagenlieferanten der Franconia,
+den kenne ich leider nur zu genau. Oder soll ich jetzt sagen:
+glücklicherweise? Ich habe nämlich am Schluß des vorigen
+Semesters für unseren guten Valentin noch eine ganz
+erkleckliche Wagenrechnung berappen müssen ... Der
+gute Mann wohnt in der Nähe des Bayrischen Bahnhofs,
+an ihn also wenden wir uns zunächst und versuchen
+herauszubekommen, wohin die Fahrt gehen soll.«</p>
+
+<p>»Aber wird er's auch verraten?« meinte Asta, »das
+könnte das Korps ihn doch teuer entgelten lassen?«</p>
+
+<p>»Ich glaube, wenn ich mit der Polizei drohe und
+darauf aufmerksam mache, daß man ihn wegen Beihilfe
+zum Zweikampf mit tödlichen Waffen am Schlafittchen
+kriegen könnte, dann wird er wohl mit sich reden lassen!«</p>
+
+<p>»Ach, Papachen, wie klug Du bist!« riefen die Töchter,
+strahlend vor Entzücken über das unerwartete Abenteuer.
+Himmel, wie interessant endete der Abend, der so langweilig,
+ganz nach dem Schema F verlaufen war.</p>
+
+<p>»Nun aber müssen Sie schlafen, liebes Fräulein,«
+meinte die Präsidentin, nachdem ihr Gatte sich entfernt
+hatte, um das Telegramm aufzugeben. »In einer Stunde
+müssen Sie schon wieder zum Bahnhof, die sollen Sie
+wenigstens zur Ruhe benutzen.«</p>
+
+<p>Aber Asta dankte. Sie könne nachher in der Eisenbahn
+noch genug schlafen, sie würde jetzt doch kein Auge
+zutun. Nur Hunger habe sie noch, wenn sie's denn schon
+sagen solle, und Durst auch.</p>
+
+<p>Und die vier Frauen schwatzten und lachten zusammen
+wie alte Freundinnen ... und nur selten einmal ging's
+einer von ihnen durch den Kopf, was für morgen auf dem
+Spiele stand.</p>
+
+<p>Papachen würde schon alles machen. Wenn Papachen
+eine Sache in die Hand genommen hatte, dann konnte es
+ja nicht schief gehen!</p>
+
+<p class="start-chapA space-above">Als Asta und der Präsident fast als einzige Passagiere
+dem Frühzuge entstiegen, trat ein behäbiger Herr in
+einem undefinierbaren Räuberzivil auf den alten Herrn zu.</p>
+
+<p>»Verzeihen Sie gütigst, ich habe wohl die Ehre, Herrn
+Senatspräsidenten Pilgram ... Mein Name ist Gensel,
+Königlicher Kriminalkommissar. Stelle mich im Auftrage
+der Kreishauptmannschaft zu Ihrer Verfügung.«</p>
+
+<p>»Ah, charmant, Verehrtester. Haben Sie auch einen
+Gendarmen zur Hand?«</p>
+
+<p>»Der wartet draußen mit seinem Gaul.«</p>
+
+<p>»Nun, und was ist sonst geschehen?«</p>
+
+<p>»Ja, Herr Präsident, wir haben unser Möglichstes
+getan. Wir haben sofort zwei Kriminalschutzleute zu den
+Wohnungen der beiden jungen Leute geschickt und feststellen
+lassen, ob sie zu Hause wären. Ihr Herr Sohn hat
+seine bisherige Wohnung bei dem Kanzleirat Buchner seit
+gestern ganz aufgegeben und ist ins Hotel übergesiedelt,
+in welches, das wußten die Leute nicht. Und der andere,
+Herr Thumser heißt er ja wohl, der ist heut nacht nicht
+nach Hause gekommen.«</p>
+
+<p>»Teufel! Das ist scheußlich &mdash; was nun?!«</p>
+
+<p>»Ja, was nun, Herr Präsident? Ich weiß auch nicht,
+was ich machen soll!«</p>
+
+<p>Der Jurist sann eine Weile nach, dann erklärte er dem
+Polizeibeamten seinen Plan, durch den Fuhrwerksbesitzer
+den Duellanten auf die Spur zu kommen.</p>
+
+<p>Der Kommissar war völlig einverstanden. Man stieg
+in eine Droschke und rollte durch die hier noch immer mit
+kotigem Schnee bedeckten Straßen zum Bayrischen
+Bahnhof.</p>
+
+<p>Im trüben Laternenschein huschten hastige Fußgänger
+vorüber, das Leben der großen Stadt erwachte &mdash; die
+Arbeit begann.</p>
+
+<p>Die Herren berieten eifrig während der kurzen Fahrt.
+Der Präsident im Rücksitz, der Kriminalkommissar ihm
+gegenüber. Asta lehnte in ihrer Ecke, fröstelnd, übernächtig,
+von Angst geschüttelt, und lauschte der halblauten
+Unterhaltung der Herren.</p>
+
+<p>Der Gendarm war vorausgetrabt. Als man vor dem
+Fuhrhof ankam, hielt er bereits an dem Portal mit dem
+Geschäftsinhaber, einem grobknochigen Mann in Flausrock
+und Holzpantoffeln.</p>
+
+<p>Schnell kletterte der Kommissar aus dem Wagen und
+inquirierte sofort den Fuhrherrn:</p>
+
+<p>»Ist der Wagen für das Korps Franconia schon fort?«</p>
+
+<p>»Weeß Knebbchen, ja, Herr Kommissar, schon seit zehn
+Minuten is er weg ... tut mir sähre leid.«</p>
+
+<p>»Und wohin geht die Fahrt?«</p>
+
+<p>»Das kann ich Sie nich sagen, uff mei Ehrenwort nich.
+Der Wagen is bestellt für um den Herrn Volkner abzuholen,
+Kleine Fleischergasse fünfe ... aber da wird er
+nu ja woll ooch schon nich mehr sinn.«</p>
+
+<p>Der Präsident war ebenfalls ausgestiegen und fragte:
+»Na, lieber Herr, Sie werden ja doch wohl eine Ahnung
+haben, wohin es geht?! Wo fahren denn die jungen
+Herren gewöhnlich hin, wenn sie was Besonderes vorhaben,
+he?!«</p>
+
+<p>»Nu, mei gutester Herr, wenn ich's ehrlich sagen soll,
+gewehnlich machen se doch so was im Ratsholz ab, un
+da gibt's eigentlich nur een' Weg: Kaiser-Wilhelm-Straße
+'runter, dann Kaiserin-Augusta-Straße, am alten Wasserwerk
+vorbei und ins Streitholz hinein. Freilich, was für
+ä Plätzchen se sich dasmal haben ausgesucht, davon habe
+ich Sie natierlich de leiseste Ahnung nich, mei gutester
+Herr.«</p>
+
+<p>»Also, Herr Robolski,« sagte der Kriminalkommissar,
+»ich mache Sie darauf aufmerksam: Wenn sich's herausstellt,
+daß Sie uns nicht die reine Wahrheit gesagt haben,
+dann krieg' ich Sie bei die Hammelbeene, verstehen Sie
+mich?!«</p>
+
+<p>»Mein Ehrenwort,« sagte der Fuhrherr, »mein
+heiligstes Ehrenwort, Herr Kommissar, das, was ich gesagt
+habe, ist alles, was ich weeß.«</p>
+
+<p>»Schön! Also, Gendarm Mehlhorn, Sie haben gehört:
+sitzen Sie auf, traben Sie was haste was kannste nach
+dem Streitholz. Wir kommen nach. Sie reiten bis zum
+Schnittpunkt der 'Neuen Linie' und der 'Linie', meinetwegen
+auch die 'Linie' hinauf, bis zum Flußgraben, dann
+zurück bis zum Wegekreuz, dort warten! Merken Sie
+inzwischen was von den Duellanten, so greifen Sie selbständig
+ein, verstanden?!«</p>
+
+<p>»Zu Befehl, Herr Kommissar!« sagte Mehlhorn dienstlich,
+schwang sich auf seinen Braunen und klapperte die
+Bayrische Straße hinunter.</p>
+
+<p>Die beiden anderen Herren verabschiedeten sich mit
+flüchtigem Gruß und Dank von dem Fuhrwerksbesitzer,
+wiesen den Kutscher an, hinter dem Gendarmen drein zu
+fahren, stiegen ein, und die Gäule zogen an.</p>
+
+<p>Die drei im Wagen schwiegen und sannen.</p>
+
+<p>Vom Bayrischen Bahnhof blinkten grelle Signallichter,
+schrillten Lokomotivenpfiffe, ratterten mit dumpfen
+Stößen ausfahrende Züge über die Schienen. Drüber
+stand schon heller Tagesglast. Auf der matt erleuchteten
+Kreisscheibe der Bahnhofsuhr standen die beiden Zeiger
+in einer geraden, senkrechten Linie ...</p>
+
+<p>O Gott, wenn man zu spät kam! Es konnte sich ja
+nur um Minuten handeln.</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>16.</h2>
+
+<p class="start-chapI">Hans Thumser erwachte. Oben an der Decke war irgend
+etwas, das blendete ihn. Mit verschlafenen Augen
+blinzelte er hinauf und sah, daß es Laternenschein war,
+der, von drunten herauffallend, das Lichtbild eines
+Fensters auf die weiße Tünche zeichnete. Teufel ja, wo
+kam das denn her? Das war sonst doch nicht so?!</p>
+
+<p>Mit einem Mal fiel's ihm ein: er war ja gar nicht in
+seinem eigenen Zimmer, lag nicht in seinem Bett ...
+aber wo nur? Richtig, er war ja doch auf Volkners Bude
+&mdash; aber warum nur, was war denn eigentlich los?</p>
+
+<p>Mit einemmal krampfte sich sein Herz zusammen in
+siedendem Schreck: o Gott, morgen früh &mdash;!</p>
+
+<p>Eigentlich doch eine sehr vernünftige Idee von Volkner,
+ihn nicht allein zu lassen in dieser Nacht, in dieser vielleicht
+... letzten Nacht. Und auch sonst war alles sehr vernünftig
+gewesen, was der Senior gesagt und geraten:</p>
+
+<p>»Weißt Du, Thumser, vor einer solchen Affäre ist das
+einzig Richtige, sich so zu betragen, als sei gar nichts Besonderes
+los. Um Gottes willen, bloß sich nicht hinsetzen
+und ein halbes Dutzend Abschiedsbriefe schreiben: an die
+Eltern, an den Schatz, an die Erbtante, und wer weiß
+an wen sonst noch. Das hat ja gar keinen Zweck. &mdash;
+Mein Gott, so'n bißchen Knallerei! Ja, wenn Du jedesmal
+Dein Testament machen wolltest, wenn Du Dich in
+Lebensgefahr begibst, dann müßtest Du es von Rechts
+wegen machen, so oft Du vor die Tür gehst! Ueberall kann
+Dir ein Dachziegel auf den Schädel fallen. Und wenn
+Du in Deiner Bude und im Bette bleibst, kann schließlich
+die Decke einstürzen ...«</p>
+
+<p>Des Korpsbruders rheinischer Leichtsinn hatte Hans
+Thumser über die Abendstunden hinweggeholfen. Man
+war auf der Kneipe gewesen, hatte Quodlibet gespielt und
+den blödesten Bierulk betrieben. Dann hatte Volkner ihn
+mit auf seine Bude geschleift, ihm großmütig sein Bett
+abgetreten und sich dann selber auf dem Kanapee einlogiert.
+Von dort herüber drang jetzt sein melodisches
+Schnarchen. Na ja, der hatte gut schnarchen!</p>
+
+<p>Vorher aber, vor dem Einschlafen, hatten die zwei
+noch einen besonderen Trall ausgeheckt: Volkner hatte
+seine Geige genommen, und beide waren sie vor die
+Kammertür von Volkners bejahrter Hauswirtin gezogen
+und hatten ihr ein Ständchen gebracht, indem sie zu sanft
+hinschmelzender Violinbegleitung das schöne Lied gesungen
+hatten:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">Seh ich ein Haus von weitem,<br /></span>
+<span class="i0">Wo ein lieb Mädel träumt,<br /></span>
+<span class="i0">Sing ich zu allen Zeiten<br /></span>
+<span class="i0">Ein Lied ihr ungesäumt.<br /></span>
+<span class="i0">Und wird's im Fenster helle,<br /></span>
+<span class="i0">Sei es auch noch so spat:<br /></span>
+<span class="i0">So weiß ich auf der Stelle<br /></span>
+<span class="i0">Wieviel's geschlagen hat.<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Erst als die Pantoffeln der Alten von drinnen gegen
+die Tür knallten, hatten sie Ruhe gegeben und waren
+dann beide auch sofort eingeschlafen.</p>
+
+<p>Volkners Bude befand sich im ersten Stock des Hauses,
+das an der Kleinen Fleischergasse dem Cafébaum direkt
+gegenüber lag. Und der Lichtschein der Laterne, die neben
+dem Eingang des Restaurants stand, war es, der Hans
+Thumser geweckt hatte. Er tastete nach seiner Taschenuhr
+und stellte im matten Reflex des Deckenlichts fest, daß es
+zwei Uhr war.</p>
+
+<p>Auf halb fünf war der Korpsdiener zum Wecken, auf
+viertel sechs der Wagen bestellt. Um viertel sieben sollte
+der erste Schuß fallen ... also noch zwei und eine halbe
+Stunde Schlaf und vielleicht noch vier und eine viertel
+Stunde zu leben ...</p>
+
+<p>Die ganze vorige Nacht hindurch hatte Hans Thumser
+wie ein Sack geschlafen. Die nötige Bettschwere hatte er
+sich ja schon vor dem Zusammenstoß mit Pilgram angezecht.
+Der gestrige Tag war in beständiger Unrast
+hingegangen, und so kam jetzt in nächtlicher Stille zum
+erstenmal Ordnung in den Wirrwarr der Gedanken,
+die um das Schicksal der kommenden Morgenstunde
+flatterten.</p>
+
+<p>Also sterben vielleicht ... und warum denn eigentlich?
+Nun, die Antwort war sehr einfach: Ein anderer war
+Hansens Ehre zu nahe getreten, hatte ihn tätlich aufs
+schwerste beleidigt, dafür galt es eben die standesübliche
+Sühne zu fordern.</p>
+
+<p>Schön! Das klang ja ganz vernünftig. Aber schließlich
+... eine Beleidigung hatte doch irgendeinen Grund,
+ein Motiv. Was hatte er Pilgram denn eigentlich
+zuleide getan? Was hatte er begangen, daß Pilgram ihn
+wie einen ehrlosen Buben behandelt hatte? Nun, das eine
+war ja klar: Pilgram war eifersüchtig, er bildete sich ein,
+er selber, Hans Thumser, sei sein Nebenbuhler bei Jucunda,
+und zwar ein begünstigter. Ein begünstigter? Ach, du
+lieber Gott ...!</p>
+
+<p>Freilich, an ihm selber hatte es ja nicht gefehlt ...
+Und wer weiß, was geschehen wäre, wenn nicht im
+Augenblick, als Jucunda anfing, gnädig zu werden, sehr
+gnädig &mdash; &mdash; wenn nicht der andere dazu gekommen wäre,
+dieser fade Laffe, über dessen blasiertem Geckenschädel der
+Nimbus einer Fürstenkrone schwebte?</p>
+
+<p>Aber schließlich, es war doch ein Irrtum, wenn Pilgram
+sich einbildete, Thumser sei glücklicher gewesen als er selber.</p>
+
+<p>Also ein Mißverständnis! Ein Wahn!</p>
+
+<p>Aber da war noch etwas andres, das nicht stimmte:
+Was das nur mit dem Brief gewesen war, den Pilgram
+ihm vorgehalten? Offenbar ein Brief von Jucunda, ein
+Brief, in dem sie sein Eintreten für ihre Ehre mehr oder
+weniger verblümt abgelehnt hatte. Und dieser Brief
+hatte auf einem Briefbogen gestanden, der seine, Hans
+Thumsers, Initialen trug. Wie kam der Brief auf dieses
+Papier? Erst jetzt in der Stille der Nacht fand Hans
+Zeit, um über dies Phänomen nachzugrübeln ...</p>
+
+<p>Und plötzlich stand ihm der Augenblick vor der Seele,
+wie er Jucunda und ihrer Mutter sein Zimmer zur Verfügung
+gestellt hatte, um sich auszusprechen. Natürlich,
+das war's ja! Da hatten die Frauen das Uriasbrieflein
+ausgeheckt und das liebliche Plänchen gleich realisiert. Sie
+hatten genommen, was gerade zu erreichen war, das
+Briefpapier des Mannes, der ihnen vertrauensvoll seine
+Behausung zur Verfügung gestellt ...</p>
+
+<p>Pilgram aber, der hatte natürlich für die sonderbare
+Erscheinung sich eine ganz andere Erklärung in den Kopf
+gesetzt. Er mußte sich eingebildet haben, der Korpsbruder
+sei mitschuldig an der Abfassung des Briefes, habe ihn
+vielleicht sogar redigiert ...</p>
+
+<p>Also Mißverständnis Numero zwei.</p>
+
+<p>Schön! Zwei grobe Irrtümer in der Rechnung. Wenn
+man sich aber einmal in Pilgrams vermutliche Auffassung
+hineinzudenken versuchte, so konnte man ihm schließlich
+nicht so unrecht geben, wenn er bis aufs Blut gereizt war,
+wenn er den einstigen Korpsbruder infamer Gesinnung
+und Handlungsweise verdächtigte.</p>
+
+<p>Und darum Mord und Totschlag! Darum zwei junge
+Leben vor die Mündung geladener Pistolen gestellt! War
+das nicht Wahnsinn? War es nicht noch in diesem Augenblick
+Pflicht, eine offene Aussprache herbeizuführen, den
+Irrtum aufzuklären?!</p>
+
+<p>Aber bei dem Irrtum war es nicht geblieben. Er hatte
+eine schreckliche Folge gehabt: die rasche Tat, eine Tat, die
+nicht milder war denn ein Schlag mitten ins Angesicht
+des Feindes. Und auch zu diesem Schlag wär's ja gekommen,
+wenn nicht die Korpsbrüder dazwischen getreten
+wären.</p>
+
+<p>Mißverständnisse und Irrtümer ließen sich aufklären &mdash;
+die Tat war nicht ungeschehen zu machen. Der Kavalier,
+der von einem Kavalier einen Schlag erhält, muß blutige
+Sühne fordern. Das war das eiserne Gebot des Ehrenkodex,
+daran war nicht zu deuteln noch zu rütteln.</p>
+
+<p>Und dann &mdash; wer mochte den ersten Schritt tun?
+Machte der sich nicht verdächtig, als sei es nur die Angst
+vor der blauen Bohne, die ihn zur Aussöhnung geneigt
+machte? Würde man ihn nicht der Kneiferei zeihen?</p>
+
+<p>Der Kneiferei? Nun, wer vierzehn Schlägermensuren
+mit Ehren bestanden hatte, brauchte der sich vor dem Verdacht
+der Kneiferei zu fürchten?</p>
+
+<p>Halt! So eine Knipserei, das war doch was andres
+als das bissel Bestimmungsmensur mit Binden und
+Bandagen.</p>
+
+<p>Nein, da war nichts zu wollen, dafür war man Korpsstudent!
+Der andere, der war an allem schuld. Der hätte
+die Aussprache herbeiführen müssen vor der Tat. Daß er
+dem Freund, dem Korpsbruder aus drei Semestern eine
+ehrlose Gesinnung überhaupt zugetraut, das war die
+eigentliche Beleidigung, das war die Schmach, die nur
+mit Blut abgewaschen werden konnte. Die Worte, die
+Handlungen, die aus dieser abscheulichen Unterstellung
+erwachsen waren, die waren schließlich nichts anderes als
+der zufällige Ausdruck für einen Verdacht, der auch ohne
+Wort und Schlag ins Herz der Ehre traf.</p>
+
+<p>Nein, es gab keinen anderen Ausweg &mdash; und so würde
+man morgen früh aufeinander losknallen »bis zur Kampfunfähigkeit«.</p>
+
+<p>Und nun kamen die Gedanken an daheim. An Eltern
+und Geschwister &mdash; nein, das ging ja doch nicht, einen
+solchen Gang zu tun, ohne sich vorher von den liebsten
+Menschen verabschiedet zu haben. Wenn er nun fiel &mdash;
+wie sollten sie diese wirre, dunkle Geschichte verstehen?
+Sie würden doch nachforschen, würden wissen wollen, was
+denn eigentlich geschehen war, wie es hatte so weit kommen
+können &mdash; und dann war's zu spät. Dann war sein
+Mund, der allein Licht in die Wirrnis hätte bringen
+können, verstummt. Sein Tod würde den Lieben ein
+düsteres, grauenhaftes Rätsel bleiben.</p>
+
+<p>Also das geht nicht. Hans wird aufstehen und einen
+langen, langen Brief an die Geliebten daheim schreiben.
+Ihnen alles erzählen, ohne Verschweigen, auch das Glück
+&mdash; die landläufige Moral nannte es ja wohl ein sündiges
+Glück &mdash;, das er in Asta Thönys Armen genossen, auch
+die verworrenen Dränge, die ihn zu Jucunda getrieben.
+Alles, alles wird er berichten, und so wird wenigstens
+Klarheit liegen über seinem schauerlichen Ende ...</p>
+
+<p>Ob sie ihn verstehen werden daheim? Mein Himmel,
+der Vater ist doch auch einmal jung gewesen ...</p>
+
+<p>Und in Gedanken entwarf Hans Thumser den Wortlaut
+seiner Beichte. Immer eindringlicher, immer inbrünstiger
+vertiefte er die Schilderung seines Seelenzustandes,
+immer heißer und drängender formte er seine
+Bitte um Verständnis, um Vergebung, um ein Gedenken
+ohne Groll. Und über all dem Sinnen und Grübeln war
+er plötzlich versunken und verschwunden und wachte erst
+wieder auf, als Volkner ihn wach rüttelte, und die schlampige
+Alte, die sie beide gestern abend angeserenadet, in
+Nachthaube und Nachtjacke, grimmigen Gesichts und
+knurrenden Mundes den Kaffee auf den Tisch setzte.</p>
+
+<p>Nun war's zu spät, nach Hause zu schreiben. Nun
+blieb's doch bei Volkners Theorie.</p>
+
+<p>Die trockenen Semmeln von gestern wollten nicht in
+die Kehle, der glühheiße Bliemchenkaffee blieb fast unberührt.
+Ein Glück, daß Volkner mit ein paar Tafeln
+Schokolade und einem besseren Schnaps versehen war.</p>
+
+<p>Geschäftig bediente er den Korpsbruder, wie man um
+einen Kranken, um einen Sterbenden sich müht. Und
+dabei fühlte Hans Thumser ganz deutlich, daß der andere
+sich im tiefsten Innern höchst mollig fühlte bei dem Gedanken:
+Gott sei Dank, daß ich selber nicht derjenige
+welcher bin!</p>
+
+<p>Um Punkt halb sechs knallte drunten die Peitsche des
+Kutschers. Die jungen Männer machten sich bereit.</p>
+
+<p>Im Schauer des dämmrigen Morgens fuhr Hans
+Thumser fröstelnd zusammen, als sie vor die Tür traten,
+als sein Blick auf die eingeschnurrte Gestalt des Korpsdieners
+fiel, der übernächtig auf dem Bock neben dem
+Kutscher hockte und auf den Knien einen schmalen, schwarzpolierten
+Kasten trug ...</p>
+
+<p>Nebeldurchdunstet lagen die Straßen. Das Weiß des
+frischen Schnees war längst in ein kotiges Braun verwandelt,
+das der Frost der jüngsten Nacht mit tausend
+Rauhreifkristallen überzogen hatte. Ringsum erwachte das
+Leben der großen, fleißigen Stadt der Arbeit.</p>
+
+<p>Den Rockkragen hochgeschlagen, dampfenden Atems
+schritten die Männer, huschten die Frauen einher, jeder
+an sein Geschäft. Schwarz und finster reckten sich die
+Fronten der alten Straßen, deren Häuser sich im Laufe
+der Jahrhunderte aus eleganten Wohnpalästen in dumpfe,
+mit Affichen überladene Geschäftshäuser verwandelt
+hatten.</p>
+
+<p>Aber die Nebel sanken, von Osten wuchs die junge
+Tageshelle. Erste, schüchterne Sonnenstrahlen spielten
+droben um die Giebeldächer, ein Tag voll winterlicher
+Herrlichkeit flammte herauf.</p>
+
+<p>Nun wurden die Anlagen durchquert. Weißleuchtend
+zackte sich das Gewirr der umreiften Aeste ins junge Blau.</p>
+
+<p>Ivo Volkner aber und Hans Thumser studierten eifrig
+den S.&#x202f;C.-Pistolen-Komment, der in einem handschriftlichen
+Exemplar auf ihren Knien lag, und zündeten eine
+Zigarette an der anderen an.</p>
+
+<p>Ganz kühl und geschäftsmäßig sprachen sie immer und
+immer wieder den vorgeschriebenen Gang der Mensur durch,
+um später auch nicht den leisesten Schnitzer zu begehen.</p>
+
+<p>Endlich aber hielt es Hans Thumser nicht mehr aus.
+Er schob das schwarzgebundene Heft zurück, riß das frostbeschlagene
+Wagenfenster auf, atmete in tiefen Zügen die
+Morgenfrische und sog mit brennenden Augen das Bild
+der Morgenwelt in sich hinein.</p>
+
+<p>Und eine wilde Sehnsucht kam über ihn &mdash; Sehnsucht
+nach all dem Unsagbaren, das von da draußen in seine
+Seele hineinflutete, nach all dem unendlich Schönen des
+Lebens, das er doch kaum mit erstem Erwachen des Begreifens
+gegrüßt ... und das doch schon tausend Vorahnungen
+künftiger Glücksmöglichkeiten in ihm geweckt
+hatte. Ach, Glücks&shy;<em class="gesperrt-in">möglich&shy;keiten</em>?! Nein, er <em class="gesperrt">war</em>
+ja schon glücklich gewesen!</p>
+
+<p>Asta Thöny! klagte es in seiner Seele. Gott! so undankbar
+konnte man sein? An sie hatte er noch gar nicht
+gedacht ... Daß er von ihr sich verabschieden mußte, das
+war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen ... Und
+doch &mdash; wieviel hatte sie ihm geschenkt! Wie unsäglich
+gut war sie zu ihm gewesen, und er ... er hatte sie achtlos
+beiseite geschoben. Und das letzte, das er von ihr gesehen,
+waren bittere Tränen gewesen.</p>
+
+<p>Zu spät ... Nun mußte das Schicksal seinen Gang
+gehen. Nun blieb nur noch eins: der Feindeskugel die
+Brust zu bieten und die Stirn dem wahllosen Walten des
+Geschicks.</p>
+
+<p>Und doch, wie schön die Welt! Wie reich, was sich
+barg hinter den weißen Nebelschwaden, die das Kommende
+verhüllten. Wie selig selbst dieser Augenblick ahnungsvollen
+Grauens ...</p>
+
+<p>Und Hans Thumsers Seele fühlte sich leben in diesem
+Augenblick. Leben, wie sie nie zuvor gelebt ... In
+langen, schmerzvollen Zügen trank sie das Glück des
+Augenblicks hinein. Das Glück, noch da zu sein, noch ein
+paar schmerzvoll süße Minuten lang die tiefe Wonne des
+Daseins atmen zu dürfen.</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">In einem billigen Zimmer des Hotel de Russie &mdash;
+dritter Stock nach hinten hinaus &mdash; hatte Valentin
+Pilgram sich einquartiert und die halbe Nacht mit Briefeschreiben
+zugebracht. Erst nach Mitternacht hatte er sich
+aufs Bett gestreckt und ein paar Stunden hingedämmert ...</p>
+
+<p>Nun marschierte er auf dem Reitweg, der erst rechts,
+dann links der »Neuen Linie« durch das Streitholz führte,
+dem Kampfplatz entgegen, ein einsamer Wanderer ...</p>
+
+<p>Er hatte sich nicht entschließen können, die letzten
+Augenblicke in Gesellschaft seines ihm tief unsympathischen
+Sekundanten Borgmann zuzubringen, mit dem er zweimal
+die Klinge und noch viel öfter in hitzigen Debatten des
+S.&#x202f;C. das Schwert des Wortes gekreuzt.</p>
+
+<p>Um nicht mit dem Wagen zusammenzutreffen, war er
+vom Fahrdamm abgebogen, auf den Reitweg hinüber,
+auf dem um diese Morgenstunde noch keine Begegnung
+zu befürchten war. Er sah nicht die Pracht des jungen
+Tages, fühlte nicht die Schönheit des Daseins, die ringsum
+tausend Wunder winterlicher Herrlichkeit erblühen ließ.
+Er fühlte nichts als seinen Haß &mdash; sah nichts als die Gestalt
+des Gegners, wie sie nun gleich vor ihm stehen würde,
+ein sicheres Ziel dem stählernen Druck seiner Hand, dem
+unbeirrbaren Blick seines Auges.</p>
+
+<p>Da ließ ein Geräusch ihn aufschauen, ein Geräusch,
+das rasch sich näherte. Pferdegetrappel war's, gedämpft
+durch den Schnee &mdash; nur wenn die Hufe ab und an gegen
+die harte Eiskruste stießen, die den Boden überzog, dann
+gab's einen klirrenden Ton. Der hatte ihn geweckt.</p>
+
+<p>Da vorne, in den silbernen Nebeln, die noch über der
+Pleißeniederung lagerten, tauchten, schattenhaft abgehoben
+vom umgoldeten Himmel, zwei Reitersilhouetten auf: ein
+Herr und eine Dame. In raschem Trabe näherten sich
+die schnaubenden Gäule.</p>
+
+<p>Valentin Pilgram konnte keines Menschen Blick ertragen
+in diesem Augenblick. Er trat rasch hinter den
+mächtigen Schaft einer Eiche und ließ die Reiter vorüberflitzen.
+Im letzten Augenblick erkannte er sie: es waren
+Jucunda und der Erbprinz.</p>
+
+<p>Es war ihm, als hätte er einen Stoß vor die Brust
+erhalten. Er taumelte, starrte ein paar Sekunden wie ein
+Blödsinniger hinter den enteilenden Schatten her. Noch
+klang Jucundas übermütiges Lachen, des Prinzen
+näselnde Stimme in sein Ohr:</p>
+
+<p>»... mal sehen, ob der Generalintendant meines
+alten Herrn für ein Gastspiel in diesem Winter ...«</p>
+
+<p>Das waren die Worte, die er aufgefangen ...</p>
+
+<p>Ha ha! &mdash; ha ha ha ha ha &mdash;!! Das also war das
+Ende! Darauf lief es hinaus!</p>
+
+<p>Während er zum Todesgange schritt mit jenem andern,
+der ihm der Glückliche gewesen war bis zu diesem Augenblick
+... In derselben Stunde ... pfui Deubel! pfui Deubel!</p>
+
+<p>In dumpfer Betäubung trottete er weiter.</p>
+
+<p>Wo war der blindwütende Haß, der ihm den Nacken
+gestählt, die Sehnen gestrafft? Verweht &mdash; verflattert,
+wie die weißen Nebelschwaden um die rauhreifumsilberten
+Kronen der Bäume zerwehten.</p>
+
+<p>Und plötzlich ward er sich des grausamen Wahnsinns
+bewußt, der in all den Geschehnissen lag, die er selbst ins
+Rollen gebracht, und die nun abschwirrten, wie ein gräßlich
+zermalmender Mechanismus, unhemmbar, unwiderstehlich.</p>
+
+<p>Da blinkte schon der Lauf der Pleiße ... da vorn
+tauchte aus den Morgendünsten der Umriß eines Wagens
+auf, der sich im Schritt gen Süden bewegte, und hinter
+ihm klang das Rollen eines zweiten Wagens.</p>
+
+<p>Er beschleunigte den Gang, er mochte sich nicht überholen
+lassen, weder von seinem Sekundanten noch von
+der ... andern Partei.</p>
+
+<p>Nun hatte er die »Linie« erreicht, verfolgte sie einige
+hundert Schritte weit gen Osten ... und sieh, da öffnete
+sich rechts eine weite Lichtung: die Heiderwiese ...</p>
+
+<p>Am Wegekreuz hielt der Wagen, der vor ihm gefahren
+war. Er sah, wie drei männliche Gestalten ihm entstiegen
+und durch den Schnee ins Innere der Lichtung hinein
+wateten. Das waren die andern: Hans Thumser, Volkner,
+der Korpsdiener.</p>
+
+<p>Valentin Pilgram blieb am Chausseerand stehen und
+wartete auf seinen Sekundanten. Nach wenigen Minuten
+war der Wagen heran. Ihm entstiegen Herr Borgmann
+im grellkarierten Winterpaletot, sehr zeremoniös, platzend
+vor Feierlichkeit, und Graf Schmettow, der Meißner-Senior,
+der als Unparteiischer zu fungieren hatte, verkatert,
+die Scherbe im Auge. Und ferner der alte Sanitätsrat
+Dr. Collwitz, der sich als zweiten Paukarzt einen
+seiner Assistenten mitgebracht hatte. Einen jüngeren, bebrillten
+Herrn mit langflutendem blonden Vollbart.
+Dieser wurde als Doktor Köllicker vorgestellt.</p>
+
+<p>Pilgram dankte den Aerzten für ihr Erscheinen, die
+üblichen Redensarten wurden getauscht in gezwungen
+nachlässigem Tone, den der Ernst der Stunde mit frostigem
+Schauer durchzitterte. Dann stapften die Herren der
+Gegenpartei nach gen Süden.</p>
+
+<p>Hinter ihnen schritt der Korpsdiener der Neo-Borussia,
+er trug einen mit gelben Messingknöpfen benagelten
+Koffer, der Instrumente und Materialien für die Aerzte
+enthalten mochte.</p>
+
+<p>Valentin Pilgrams Blicke suchten den Gegner und
+erkannten die schlanke, geschmeidige Gestalt. Aber wohin
+war der Haß geschwunden, der ihn durch Wochen gemartert,
+wenn er Hans Thumsers bloß gedachte?! Er
+sah nur noch den Freund, den Korpsbruder aus drei
+Semestern.</p>
+
+<p>Thumser hatte seinen Paletot abgelegt und stand mit
+offenem Jackett, über der Weste blitzte das grün-gold-rote
+Band.</p>
+
+<p>Und dahin sollte man nun zielen, dahin das Todesblei
+entsenden?!</p>
+
+<p>Und doch, es gab kein Zurück ... Und ob er wollte
+oder nicht, die grausame Farce mußte nun mit Anstand
+zu Ende gespielt werden ...</p>
+
+<p>Und rasch und vorschriftsmäßig wickelte sich nun der
+Gang der Dinge ab. In genauestem Anschluß an den
+Wortlaut des Komments wurden nun die Plätze bestimmt,
+so daß das Licht gleichmäßig verteilt war; wurden die
+Waffen geladen, die Duellanten instruiert. Der Unparteiische
+schritt selber mit Riesensätzen seiner langen
+Storchbeine die Barriere ab und bezeichnete sie durch zwei
+niedergelegte Spazierstöcke, hüben und drüben. Noch zehn
+Schritt weiter jenseits wurden durch Kreuze, die in den
+Schnee geritzt wurden, die Plätze für die Duellanten festgelegt,
+die sonach durch fünfunddreißig reichlich bemessene
+Schritte voneinander getrennt waren.</p>
+
+<p>Zuletzt nahmen die Sekundanten ihren Fechtern noch
+Brieftasche, Uhr und Geldbörse ab und geleiteten sie dann
+zu ihrem Platze. Dort übergaben sie ihnen die Waffen
+und traten dann jeder zwanzig Schritt zur Seite.</p>
+
+<p>Der Unparteiische nahm seinen Stand zwanzig Schritte
+seitwärts von der Mitte der Schußlinie.</p>
+
+<p>»Meine Herren!« sprach er mit schallender Stimme,
+»ich wiederhole noch einmal: ich zähle bis vier. Wenn
+ich eins! gezählt habe, dürfen Sie avancieren bis an die
+Barriere, bis vier müssen Sie abgeschossen haben. Herr
+Thumser, als der Beleidigte, hat den ersten Schuß. &mdash;
+Bin ich verstanden?«</p>
+
+<p>Mit stummem Nicken antworteten die Gegner.</p>
+
+<p>Hochaufgerichtet stand Hans Thumser und sah übers
+schneeblinkende Feld. Endlos schien ihm die Entfernung,
+die ihn von dem Feinde trennte. Aber er wußte, daß sie
+sich rasch verringern würde, zusammenschrumpfen zu
+einem schrecklichen Aug' in Auge ...</p>
+
+<p>Ein jähes Frösteln rann durch seine Gestalt, kaum
+konnte er das Klappern seiner Zähne bemeistern, kaum
+den Hahn der Pistole spannen ... Und nun noch ein Blick
+in die goldige Morgenwelt hinaus. Ein Blick in die
+Zukunft, die vor ihm versinken wollte wie der Tau einer
+Nacht. Und da überfiel ihn eine jähe, ingrimmige Wut
+auf den, der ihm das alles rauben wollte. Nein, sich
+wehren ... sich wehren bis zum letzten Atemzug! Ins
+Herz den Gegner treffen &mdash; ins Herz! Wenn einer fallen
+soll, gut, so sei's der andere!!</p>
+
+<p>»Eins!« scholl da schneidend scharf das Kommando des
+Unparteiischen.</p>
+
+<p>Und nun war alles versunken, alles bis auf die hagere,
+starr emporgereckte Gestalt da drüben, die einst geliebte,
+nun bis in den Tod gehaßte ...</p>
+
+<p>Wie fern sie war, wie klein ... und nun, nun kam sie
+heran, nun wuchs sie ... wuchs und wuchs ... und nun
+blieb sie stehen ... bot sich zum Ziel ...</p>
+
+<p>Da raffte auch Hans Thumser sich zusammen. Mit
+hastigen Schritten schoß er vorwärts, bis seine Fußspitzen
+den Spazierstock berührten, der die Barriere bezeichnete.</p>
+
+<p>»Zwei!« klang des Unparteiischen Stimme.</p>
+
+<p>Hans Thumser hob die Waffe bis in die Augenhöhe,
+zielte auf des Gegners Brust, sah ganz deutlich, wie über
+dem Visier die breiten Schultern standen, das fahle Gesicht.</p>
+
+<p>»Drei!«</p>
+
+<p>Da drückte er los ...</p>
+
+<p>Er sah den Gegner wanken, sah, wie die Rechte,
+welche bisher die Waffe gesenkt gehalten, eine rasche,
+zuckende Bewegung nach der linken Schulter machte. Dann
+aber fand der Taumelnde Halt, hob nun ebenfalls den
+Lauf, aber hoch bis über die Stirn, und schoß &mdash; schoß hoch
+in die Luft ...</p>
+
+<p>»Vier!« klang das Kommando des Unparteiischen.</p>
+
+<p>In diesem Augenblick ließ Valentin Pilgram die
+Pistole fallen und griff mit der Rechten krampfhaft in das
+linke Schultergelenk hinein.</p>
+
+<p>Doktor Köllicker sprang zu, riß Pilgrams Rock auf,
+das weiße Hemd wies Blutflecken, er zertrennte es mit
+raschem Zerren, untersuchte das verletzte Gelenk. Dann
+winkte er dem Sanitätsrat, der hinzutrat.</p>
+
+<p>Auch Borgmann, der Sekundant, und Graf Schmettow
+eilten zu dem Verwundeten heran.</p>
+
+<p>Der lächelte mit schmerzverzerrtem Munde. »Viel
+scheint's nicht zu sein, meine Herren. Von mir aus kann's
+weiter gehen!«</p>
+
+<p>Aber der linke Arm hing kraftlos herunter, ein Versuch,
+ihn zu bewegen, mißlang.</p>
+
+<p>Die Herren steckten in flüsternder Beratung die Köpfe
+zusammen. Die Forderung lautete bis zur Kampfunfähigkeit
+... und die lag wohl nicht vor, obwohl das Schultergelenk
+schwer verletzt schien.</p>
+
+<p>Hans Thumser trug's nicht länger. Der andere hatte,
+obwohl getroffen, seinen Schuß verloren gegeben. Was
+konnte das bedeuten? Doch nur dies eine: die Erkenntnis
+begangenen Unrechts.</p>
+
+<p>Hans winkte seinen Sekundanten heran.</p>
+
+<p>»Ich kann nicht mehr, Volkner &mdash; geh und biete Satisfaktion
+an ...«</p>
+
+<p>In derselben Sekunde scholl auf der Chaussee ein
+hastiges Hufegeklacker, und eine atemlose Männerstimme
+keuchte:</p>
+
+<p>»Halt! Im Namen des Gesetzes: halt, meine Herren!«</p>
+
+<p>Zwischen den Büschen des Wiesenrandes tauchte ein
+goldblinkender Helm auf, ein grüner Waffenrock, der
+braune Bug eines Pferdes, in rasendem Galopp gestreckt.
+Fünf Minuten später preschte der Reiter an der Gruppe
+der Herren vorüber, die sich um den Verwundeten zusammengeballt
+hatten, warf den Gaul herum, versuchte den
+Flankenzitternden, Schäumenden zum Stehen zu bringen.</p>
+
+<p>Hans Thumser hielt sich nicht länger. In langen
+Sätzen übersprang er die fünfzehn Schritt, die ihn von
+dem Verwundeten trennten, streckte ihm die Hand hin:</p>
+
+<p>»Komm, Pilgram &mdash; das geht ja doch nicht mehr!«</p>
+
+<p>Die Herren, die den Verwundeten umdrängten, hatten
+ihm Platz gemacht.</p>
+
+<p>Aug' in Aug' standen die einstigen Freunde einander
+gegenüber, tauschten einen Blick, in dem mehr als Versöhnung
+lag ... Genesungsglück schimmerte darin, neue
+Hoffnung, neues Leben ...</p>
+
+<p>Mit der heilen Rechten schlug Valentin Pilgram in
+Hans Thumsers Hand ein ... und auf einmal lagen die
+Jünglinge sich in den Armen.</p>
+
+<p>Da klangen wiederum Hufschläge auf der Chaussee.
+Und sieh, ein Wagen hielt am Wiesenrand, ihm entstiegen
+zwei Herren und eine Dame, die mit hastigen Schritten
+über den schneebedeckten Wiesengrund herankamen.</p>
+
+<p>Nun löste sich aus der Gruppe der drei die hagere
+Gestalt eines alten Herrn in Gehpelz und Zylinder los,
+der mit langen Sätzen über die klirrenden Schollen voranstelzte.
+Immer hastiger ward sein Gang ... ward zum
+Lauf ...</p>
+
+<p>»Donnerwetter!« schrie da Volkner plötzlich, »sieh doch
+nur, Pilgram &mdash; Dein alter Herr!«</p>
+
+<p>Die Aerzte hatten sich ins Mittel gelegt und die Umarmung
+der wiedergefundenen Freunde getrennt, um sich
+ihres Patienten zu bemächtigen und die verletzte Schulter
+genauer zu untersuchen.</p>
+
+<p>Nun hob Valentin Pilgram den Kopf, alles wich zurück,
+so daß die Gruppe der Herankommenden frei wurde &mdash;
+und Pilgram erkannte seinen Vater ...</p>
+
+<p>Schon war der Präsident heran, ergriff mit beiden
+Händen die Rechte des Sohnes, die sich ihm entgegenstreckte.
+Mit zuckenden Augen, mit zuckenden Lippen
+standen Vater und Sohn einander gegenüber.</p>
+
+<p>»Ihr verfluchten Bengels!« sagte der alte Herr, »was
+macht Ihr für Geschichten?«</p>
+
+<p>»Etwas zu spät bist Du doch gekommen, lieber Papa &mdash;
+Du siehst, der Fall ist bereits erledigt!«</p>
+
+<p>»Ich wollt's Euch auch geraten haben! Schlimm genug,
+daß es so weit gekommen ist! Na, was hat's denn abgesetzt?«</p>
+
+<p>»Ach, nicht der Rede wert,« lachte der Junge und zwang
+den grimmigen Schmerz nieder, der von dem verletzten
+Gelenk aus durch den ganzen Oberkörper fraß.</p>
+
+<p>»Nun, und Du wunderst Dich gar nicht, daß ich hier
+bin?!«</p>
+
+<p>Valentins Blicke hatten die Gestalt des jungen Weibes
+erkannt, das nun herankam in Begleitung eines dicken
+Herrn. An diesen ritt der Gendarm heran und machte
+ihm in dienstlicher Haltung eine Meldung, während das
+Mädchen mit glühenden Backen und strahlenden Augen
+nähertrat, um dann ein paar Schritt vor den Herren plötzlich
+tiefbefangen stehen zu bleiben.</p>
+
+<p>»Die da, nicht wahr?« fragte Valentin den Vater.</p>
+
+<p>»Jawohl, die da ... zum Dank für ... vorgestern!«</p>
+
+<p>»Ach, ich glaube, es war ihr weniger um mich zu
+tun ...« sagte Valentin Pilgram und suchte das Auge
+des wiedergefundenen Freundes.</p>
+
+<p>Aber der hatte keinen Blick für ihn. In tiefer Erschütterung,
+regungslos starrte er zu der hellen Gestalt
+hinüber, die über die weißen Schollen herangeschwebt
+kam wie ein Frühlingshauch. Als sie nun aber stehen
+blieb, da sprang er ihr entgegen, die Hände weit ausgestreckt.
+Da hob auch sie ihm die Hände entgegen, und
+er ergriff sie und drückte sein glühendes Gesicht hinein.</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Erbprinz Heribert hatte nach seiner Rückkehr vom
+Morgenritt wie gewöhnlich von neun bis zwölf das
+Kolleg besucht und war dann in seine Wohnung im Hotel
+Hauffe zurückgekehrt, um mit Major von Gorczynski zu
+frühstücken.</p>
+
+<p>»Nun, Durchlaucht, wie war's?« Der Major hob das
+Portweinglas.</p>
+
+<p>»Danke, ganz nett.«</p>
+
+<p>»Nur ganz nett?!«</p>
+
+<p>»Ach, wissen Sie, lieber Gorczynski, ich glaube, das ist
+eine von den ganz Gerissenen ... die sichert sich <em class="gesperrt">vorher</em>
+&mdash; verstehen Sie?«</p>
+
+<p>Der aufwartende Lakai brachte auf silbernem Brett
+eine Besuchskarte. Der Prinz las:</p>
+
+<p class="center">
+<em class="gesperrt">Pilgram</em><br />
+Senatspräsident am Königlichen Oberlandesgericht<br />
+<span style="margin-left: 12em;">Dresden.</span><br />
+</p>
+
+<p>»Haben Sie gesagt, daß wir beim Frühstück sind?«</p>
+
+<p>»Zu Befehl, Durchlaucht, aber der Herr bittet dringend
+um eine Unterredung.«</p>
+
+<p>»Schön &mdash; ins Empfangszimmer.«</p>
+
+<p>Als der Bediente verschwunden war, reichte der Erbprinz
+seinem Erzieher die Karte hinüber.</p>
+
+<p>»Vermutlich der Vater meines ... äh ... meines
+Kollegen!«</p>
+
+<p>»Kollegen?! Wieso?«</p>
+
+<p>»Na, weil der auch auf die Buchner reingefallen ist.
+Kommen Sie mit, lieber Gorczynski &mdash; für alle Fälle.«</p>
+
+<p>Hoch aufgerichtet, die Ordensrosette im Knopfloch
+seines Ueberrocks, erwartete der alte Herr den jungen
+Fürsten. Des Umgangs mit hochgestellten Persönlichkeiten
+gewohnt und seiner guten Sache sicher, neigte er sich mit
+gemessenem Selbstbewußtsein.</p>
+
+<p>»Sehr erfreut &mdash; Herr Präsident, was verschafft mir
+die Ehre? Darf ich bekannt machen? Herr Major
+von Gorczynski &mdash; Herr Präsident Pilgram. &mdash; Stört Sie
+die Gegenwart meines Begleiters, Herr Präsident?«</p>
+
+<p>»Ich bitte, Durchlaucht.«</p>
+
+<p>»Bitte Platz zu nehmen, meine Herren.«</p>
+
+<p>»Durchlaucht, ich komme im Interesse meines Sohnes
+Valentin, den Sie kennen!«</p>
+
+<p>»Ich habe die Freude.«</p>
+
+<p>»Durchlaucht wissen, daß mein Sohn aus dem Korps
+Franconia ausgetreten ist, um Ihnen gegenüber für eine
+Dame eintreten zu können, von der er annahm, daß Sie,
+Durchlaucht, ihr &mdash; &mdash;«</p>
+
+<p>»Hm ...« machte der Erbprinz, »ich weiß.«</p>
+
+<p>»Durchlaucht haben die Güte gehabt, diese Angelegenheit
+in ritterlicher Weise beizulegen. Trotzdem hat das
+Korps Franconia aus Rücksicht auf Durchlaucht davon
+Abstand genommen, meinen Sohn in die Reihen seiner
+Mitglieder wieder aufzunehmen.«</p>
+
+<p>»Allerdings ...« sagte der Erbprinz. »Das habe ich
+mir wohl so gedacht &mdash; aber wenn ich mir eine Zwischenbemerkung
+erlauben darf, Herr Präsident: die Geschichte
+war mir höchst fatal ... und ich habe mich seitdem vom
+Verkehr bei dem Korps fast völlig zurückgezogen ... Es
+war mir kolossal peinlich ... verstehen Sie, Herr
+Präsident?«</p>
+
+<p>»Ich begreife sehr wohl,« sagte der Präsident ruhig.
+»Die jungen Herren haben wohl eine zu geringe Meinung
+von Euer Durchlaucht wohlwollendem Verständnis für die
+korpsstudentische Auffassung gehabt, sonst hätte sich doch
+wohl ein Ausweg finden lassen, um meinem Sohn die
+wohlverdiente Ehre der Zugehörigkeit zu dem Korps &mdash;
+zu dessen Alten Herren ich, beiläufig bemerkt, auch selber
+zähle &mdash; wiederum zu verschaffen. Oder täusche ich mich,
+Durchlaucht?«</p>
+
+<p>»Ne, ne, mein verehrter Herr Präsident. Sie haben
+in der Tat vollkommen recht ... Wenn's nach mir gegangen
+wäre ... aber man hat mich ja gar nicht gefragt.
+Mir für meine Person wär's ja doch zehnmal angenehmer
+gewesen, wäre die ganze Geschichte diskret behandelt
+worden. Aber man hatte ja die Sache dermaßen übers
+Knie gebrochen ... ich stand vor einem <i lang="fr">fait accompli</i> ...
+und da hielt ich's für das beste, mich um gar nichts mehr
+zu bekümmern. Das werden Sie begreifen, nicht wahr,
+Herr Präsident?«</p>
+
+<p>»Ich begreife vollkommen, Durchlaucht. Ich sehe aber
+auch, daß ich mich in meinen Vermutungen über Eurer
+Durchlaucht Ansichten von der Sache in keiner Weise getäuscht
+habe: und darum komme ich jetzt mit der formellen
+Bitte, die der Zweck meines Besuches ist: wollen Durchlaucht
+die große Güte haben, durch meinen Mund dem Korps
+Franconia mitteilen zu lassen, daß einer Rückgabe des Bandes
+an meinen Sohn Ihrerseits nichts im Wege steht?«</p>
+
+<p>»Aber mit dem größten Vergnügen, Herr Präsident!
+Ich bin ja höchst erfreut, daß die fatale Geschichte endgültig
+aus der Welt kommt ...«</p>
+
+<p>»Ich danke ehrerbietigst für diese Gnade, Durchlaucht.
+Ich glaube, sie ist an keinen Unwürdigen verschwendet!
+Da Sie nun aber in so überaus verständnisvoller Weise
+meinem Vorschlage entgegengekommen sind, so darf ich
+wohl auch noch eine andere Begebenheit erzählen, die mit
+der besprochenen nicht ganz ohne Zusammenhang ist, und
+die glücklicherweise ebenfalls eine Wendung zum Besseren
+genommen hat?«</p>
+
+<p>Und nun erzählte der Präsident in knappen Worten
+von dem Renkontre der beiden einstigen Korpsbrüder
+und seinem blutigen Austrag. Die Motive des Zusammenstoßes
+ließ er unberührt. Er konnte sich wohl
+vorstellen, daß der Erbprinz den Zusammenhang auch so
+durchschauen würde ... und darin hatte er sich nicht getäuscht.
+Als er geschlossen hatte, erhob sich der Erbprinz
+und streckte seinem Besucher die hagere Hand hin:</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen, Herr Präsident, Ihre Geschichte soll
+mir eine Lehre sein ... gewisse Leute sind anscheinend ...
+äh ... mit Vorsicht zu genießen. Was meinen Sie, lieber
+Gorczynski? Na, ich werde mir's merken!«</p>
+
+<p>»Gestatten Durchlaucht nochmals meinen ehrerbietigsten
+Dank.«</p>
+
+<p>»Aber ich bitte, mein verehrter Herr Präsident &mdash; nur
+ich habe zu danken, nur ich ... Sie haben mir einen
+größeren Dienst geleistet, als Sie vielleicht ahnen. Grüßen
+Sie Ihren Sohn, oder noch besser: sagen Sie ihm, ich
+hoffe heute abend auf der Frankenkneipe mit ihm auf gute
+Freundschaft anzustoßen ... Doch halt! Vorher müssen
+wir noch einmal ins Theater ... Nicht wahr, lieber
+Major? Heut ist ja die Abschiedsvorstellung der Meininger,
+das dürfen wir uns doch nicht entgehen lassen ...
+Aber nachher, nicht wahr, Herr Präsident, dann treffen
+wir uns im Cafébaum!«</p>
+
+<p>»Ich hatte gleichfalls vor, das Theater zu besuchen,
+Durchlaucht, wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf
+&mdash; und zwar mit meinem Sohn und unserm Korpsbruder
+Thumser. Die Verletzung meines Sohnes ist ja freilich
+nicht ganz unbedeutend: das linke Oberarmbein ist in
+Höhe des unteren Ansatzes des Oberarmkopfes getroffen,
+die Kugel ist im Knochen stecken geblieben, konnte aber
+mit Leichtigkeit entfernt werden.«</p>
+
+<p>»Sehr erfreulich zu hören, Herr Präsident. Also auf
+Wiedersehen heut abend, nicht wahr?«</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Um zwölfeinhalb Uhr fuhr der alte Pilgram am Cafébaum
+vor, stieg die Stufen zur Frankenkneipe hinan
+und wurde vom Korpsdiener in das Konventszimmer geführt,
+wo Franconias Korpsburschen bereits zum C.&#x202f;C.
+versammelt waren.</p>
+
+<p>Ehrerbietig begrüßte die Schar der Studiosen den
+Alten Herrn, der sofort beim Eintreten eine grüne Mütze,
+die der Korpsdiener ihm dargereicht, auf seinen grauen
+Schädel gestülpt hatte.</p>
+
+<p>Volkner bat Platz zu nehmen und eröffnete den C.&#x202f;C.
+Er erteilte dem Alten Herrn Pilgram das Wort. Dieser
+berichtete über seinen Besuch bei dem Prinzen und entledigte
+sich seiner Mission.</p>
+
+<p>Mit strahlenden Gesichtern vernahmen die Korpsburschen
+die frohe Botschaft.</p>
+
+<p>Unmittelbar, nachdem der Alte Herr geendigt, sprach
+der Senior:</p>
+
+<p>»Ich stelle den Antrag, dem früheren C.&#x202f;B. Pilgram,
+gewesenen Zweiten, Ersten, Ersten das Band zurückzugeben.
+Wünscht jemand zu dem Antrage das Wort?«</p>
+
+<p>Alles schüttelte den Kopf, aus jedem Auge strahlte
+helles Glück. Hans Thumser aber schämte sich nicht, daß
+ihm zwei Tränen über die frischen Wangen rollten. Unfähig
+jeden Wortes, reichte er dem Präsidenten über den
+Tisch hinüber die Hand.</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Und nun saßen sie im Carolatheater, auf einer der vordersten
+Parkettreihen. Präsident Pilgram inmitten
+der beiden jungen Gesellen, zur Rechten sein Sohn: er
+trug den linken Arm in der schwarzen Binde, fest im Gipsverband
+verschient, den Rock nur lose über die linke Achsel
+gehängt, den Aermel leer. Ueber die rechte Schulter aber,
+über die Weste und die schwarze Binde zog sich das grün-gold-rote
+Band.</p>
+
+<p>Hans Thumser saß zur Linken. Ueber den alten Herrn
+hinweg aber schauten die Freunde sich immer und immer
+wieder in die Augen. Sie fühlten: so hatten sie sich noch
+nie gehört, so sich noch nie geliebt. Und diese Liebe, die
+würde nun bleiben fürs ganze Leben ...</p>
+
+<p>Oft aber flogen ihre Blicke auch nach der zweiten
+Proszeniumsloge des Parketts vorn rechts hinüber. Da
+saß der Erbprinz, die Scherbe im fahlen Gesicht, und
+hinter ihm verschwanden die groben Züge, der wehende
+Schnurrbart des Majors im Dämmer des Logenhintergrundes.</p>
+
+<p>Aber auf den blasierten Zügen des jungen Fürsten lag
+heute ein seltsames Leuchten, das noch niemand an ihm
+gekannt hatte. Und wenn sein Blick den Augen des alten
+und der beiden jungen Franken da unten im Parkett
+begegnete, dann lachte sein ganzes Gesicht so knabenhaft
+fröhlich, so jung und gut, als sei auch er ein x-beliebiges
+junges Studentlein und nicht der Erbe eines deutschen
+Fürstenthrones.</p>
+
+<p>Ringsum aber drängte sich ganz Leipzig und füllte das
+Haus bis zum letzten Stehplatz droben auf der Galerie.
+Eine festlich dankbare Stimmung lag über der erregten
+Versammlung.</p>
+
+<p>Fünf Wochen lang war dies Haus ein Tempelhaus gewesen.
+Fünf Wochen lang hatte man hier den höchsten
+Offenbarungen gelauscht, welche die edelste Blüte der zeitgenössischen
+Bühnenkunst geschaffen hatte im Bunde mit
+den erhabensten Genietaten der großen Szenenbeherrscher
+des Dramas der Weltliteratur. Und nun wollte man am
+letzten Tage noch einmal mit voller Seele, mit allen
+Sinnen genießen, wollte in sich aufnehmen die gigantischste
+Schöpfung der deutschen Tragödie: »Wallensteins
+Tod«.</p>
+
+<p>Das Spiel begann.</p>
+
+<p>Inmitten der Bilder seiner Gestirne stand der einsam-stolze
+Mann, über dessen Haupte schon die schwarzen
+Fledermausschwingen des Verbrechens, die Rabenfittiche
+des Todes rauschen. Am nächtlichen Himmel suchte er den
+Stern seines Lebens, der sich nun so bald verfinstern
+sollte ... Und in raschen, unfehlbaren Schlägen vollzog
+sich sein Geschick.</p>
+
+<p>Der alte Herr aber da vorn im Parkett und seine
+beiden jungen Gefährten harrten ungeduldig des Augenblicks,
+da der Vorhang sich zum dritten Akt heben und die
+beiden Mädchengestalten auftauchen würden, die so tiefe
+Furchen in die Herzen, in die Geschicke der jungen Männer
+gezogen.</p>
+
+<p>Und sieh &mdash; nun erfüllte sich's.</p>
+
+<p>Die Gardine rauschte empor; und es erschloß sich ein
+dunkler wuchtiger Saal mit Kamin, Gobelins, gepolsterten
+Bänken an den Wänden. Nach hinten stieg eine Treppe
+empor, im Bogen geschweift aus massivem, dunkelgebeiztem
+Eichenholz mit schwerem Renaissance-Geländer.
+Sie führte zu einer langen Galerie, die gegen die Bühne
+zu von einem riesigen, aus zahllosen kleinen Scheiben bestehenden
+Glasfenster abgeschlossen war.</p>
+
+<p>Und wie verloren in dem weiten, angstdurchschauerten
+Raum saßen vorn rechts auf der Bank zwei Frauengestalten
+mit weiblichen Arbeiten beschäftigt, während eine
+dritte oben auf der Galerie stand und aus den Fenstern
+nach drunten spähte &mdash; Wallensteins Schwägerin, die
+Schwester seiner Seele ...</p>
+
+<p>Die zwei da unten aber &mdash; die beiden jungen Franken,
+die kannten sie.</p>
+
+<p>Scheu und wesenlos wie ein gutes, dienstbares Geistlein
+hockte Asta Thöny als Fräulein von Neubrunn neben
+der jungen, schönheitsstrahlenden Herrin.</p>
+
+<p>Die aber saß weiß und blaß, den adligen Kopf in
+schmerzvoller Starrheit zurückgelehnt an die braune
+Täfelung.</p>
+
+<p>Sie war die Schönheit, die versinken muß unterm
+erbarmungslosen Schritt des Schicksals, sie war die
+Tugend, die zermalmt wird von den geifernden Kinnbacken
+des Verbrechens, sie war die leuchtende Seele des gigantischen
+Gedichts, sie war ... das Ideal ...</p>
+
+<p>Und alles vollendete sich nun.</p>
+
+<p>Mit unerhörter Wucht stampfte das Fatum daher und
+ließ den Lügenbau der friedländischen Größe zusammenkrachen.
+Blatt um Blatt sank hernieder von dem ragenden
+Baum, bis er einsam stand, entlaubt, doch herrlich in
+seinem starren Trotz.</p>
+
+<p>Und nun kam jene gewaltigste aller Szenen, die Valentin
+Pilgram und Hans Thumser als Pappenheimer
+Kürassiere mitprobiert hatten, und der sie nun als Zuschauer
+nur lauschen durften, wie damals, als Hans, ein
+scheuer Primaner, sie zum erstenmal erschaut, dahinten,
+weit in der Heimat &mdash; im Barmer Stadttheater, auf dem
+Eckplatz des zweiten Ranges.</p>
+
+<p>Zwischen den zwei eisengeharnischten Männern, dem
+fürstlichen Vater rechts, dem ritterlich prangenden Geliebten
+links stand das unglückselige, geopferte Mädchen.
+Vor die grausame Pflicht gestellt, zu wählen zwischen Gehorsam
+und Liebe.</p>
+
+<p>Und sie wählte den Gehorsam ... Mit den unschuldig
+reinen Händen riß sie die Liebe aus ihrem Herzen
+und stieß sie von hinnen ... in den unerbittlichen
+Schlachtentod ...</p>
+
+<p>War das Jucunda Buchner? War's das junge Ding
+von achtzehn Jahren, mit dem die zwei schlanken Burschen
+da unten an einem Tisch gesessen, in einer Stube? Um
+derentwillen sie heut morgen in der Frühe des leuchtenden
+Wintertages einander mit der Pistole in der Hand
+gegenüber gestanden hatten, während sie mit einem gefürsteten
+Knaben über Feld ritt, nur von dem einen Gedanken
+erfüllt, ein Gastspiel am Hoftheater in Nassau-Dillingen
+für den nächsten Winter herauszuschlagen?</p>
+
+<p>Nein, sie war es nicht. Ihre sterbliche Hülle war's!
+Und doch auch die nicht mehr. Auch die verwandelt, erhöht,
+durchleuchtet, durchseelt von der geheimnisvollen
+Flamme, die tief drinnen in ihr loderte, unerklärlich, unbegreifbar
+... der heiligen Flamme, die, solange sie loderte,
+alles überstrahlte, alles verzehrte, alles verklärte, was
+irdisch, was menschlich, was gewöhnlich, was häßlich war
+an ihr ...</p>
+
+<p>Horch, schon brandete von draußen der Schwall der
+Pappenheimer heran ... Schon klang die wilde Feuerweise
+des Reitermarsches, der zu Kampf und Tode lud ...</p>
+
+<p>Und nun &mdash; nun tobte der rasselnde Schwall die
+Stiegen hinauf, stapfte in die Galerie hinein, daß die
+Scheiben klirrend barsten, strudelte die Treppe hinunter,
+überschwemmte in immer erneuten Güssen blinkender
+Wogen die ganze Bühne ... entblößte Schwerter, haßflammende
+Blicke ...</p>
+
+<p>Und inmitten die zwei jungen Menschen, &mdash; neben dem
+todgeweihten Manne das todgeweihte Weib, die weiße,
+unschuldig leuchtende Gestalt, das tief gesenkte, sterbensmatte
+Haupt.</p>
+
+<p>Und nun, nun ist der grausame Kampf zu Ende gekämpft.
+Aus dem Arm der Geliebten reißt Oberst Max
+sich los.</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Bedenket, was Ihr tut. Es ist nicht wohlgetan,<br /></span>
+<span class="i0">Zum Führer den Verzweifelten zu wählen.<br /></span>
+<span class="i0">Ihr reißt mich weg von meinem Glück, wohlan,<br /></span>
+<span class="i0">Der Rachegöttin weih' ich Eure Seelen!<br /></span>
+<span class="i0">Ihr habt gewählt zum eigenen Verderben,<br /></span>
+<span class="i0">Wer mit mir geht, der sei bereit, zu sterben!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Und mit hochgereckten Armen stürzt er sich hinein in
+die eisenschäumende Woge. Die brüllt hell auf, schäumt
+gischtend empor, schlingt ihn hinunter, reißt ihn von
+hinnen. Die Treppe hinauf strudelt der gärende Schwall
+&mdash; noch einmal taucht der wehende Helmbusch, der silberne
+Harnisch auf ... versinkt aufs neue in den gleißenden
+Fluten. In den wütenden Jubel der todestrunkenen
+Schar gellen die wirbelnden, erzenen Rhythmen des
+Reitermarsches ...</p>
+
+<p>Da unten, da vorn, bricht das verlassene Kind vor des
+starren Vaters eisenumschienten Knien zusammen ... es
+erfüllt sich das tragische Los des Schönen auf der Erde ...
+Das Edle sinkt ... Das Ideal verweht ...</p>
+
+<p>Vorbei ... vorbei ...</p>
+
+<p>Während die Gardine niederrauschte, legte der alte
+Präsident seine beiden Hände um die Schultern der
+jungen Männer zu seiner Rechten und seiner Linken:</p>
+
+<p>»Kinder ... <em class="gesperrt">jetzt</em> versteh' ich Euch ...!«</p>
+
+<p class="start-chapA space-above">Am andern Morgen begleitete Hans Thumser seine
+Asta im Wagen zum Bayrischen Bahnhof. Das Leipziger
+Gastspiel der Meininger war zu Ende &mdash; weiter
+rollte der Thespiskarren ... Schon übermorgen abend
+würde man im Gärtnerplatz-Theater in München mit
+»Jungfrau« eröffnen ...</p>
+
+<p>Auf dem Bock thronte ein riesiger Reisekoffer. Vier
+Kisten mit Kostümen waren schon als Eilgut vorausgegangen.</p>
+
+<p>Drinnen aber im Wagen lachten die zwei und machten
+die tollsten Witze. Das Herz war ihnen gar zu voll und
+gar zu schwer.</p>
+
+<p>»Asta ...« sagte Hans mit einem Male im tiefsten
+Ernst, »&mdash; ich bin ein dummer, grüner Junge ... und ein
+Habenichts dazu ... sonst sagte ich zu Dir: Laß uns zusammenbleiben ...«</p>
+
+<p>»Du Dummerle!« schalt Asta heftig und gab ihm einen
+derben Klaps auf die Backe &mdash; »Du bist doch wirklich
+ein riesengroßes Dummerle! So etwas darf man nicht
+einmal denken ... so ein feiner, nobler Junge wie Du ...
+und eine ... eine Landstreicherin wie ich ...«</p>
+
+<p>Aber ihre Lippen zuckten bitter und sehnsüchtig dabei,
+und in den Augen schimmerte es verdächtig ...</p>
+
+<p>»Pfui, Asta! Abscheulich, so von Dir zu sprechen! Von
+meiner ... meiner süßen Asta &mdash;!«</p>
+
+<p>»Sag's noch einmal!« bat Asta. »Es klingt so schön ...
+und ich werd's ja doch niemals wieder hören ...«</p>
+
+<p>»Niemals wieder?! So oft Du willst, Süße, so oft Du
+willst ... und so oft ... ich ... kann ...«</p>
+
+<p>»Da hast Du's ja ... Du wirst nicht können, mein
+armes Dummerle ... und ich ... ich werde auch nicht
+wollen ... Es war so schön ... nun ist's zu Ende ...
+und das ist gut so. Für uns beide ... für mich auch ...
+Denn wenn's noch länger gedauert hätte ... dann ...
+dann wär ich am Ende doch nicht mehr von Dir los gekommen ...«</p>
+
+<p>»Asta ... Asta ... So viel hast Du für mich
+getan ...«</p>
+
+<p>»Ja siehst Du &mdash; da hast Du wieder so recht mein
+ganzes Pech: alles, was ich für Dich hab' tun wollen, ist
+beim guten Willen geblieben ... Ich hab' Dich glücklich
+machen wollen ... und Du bist zur Jucunda gelaufen ...
+Ich hab' Dir das Leben retten wollen ... und bin zu spät
+gekommen ... Eh wir dazwischen kamen, hattet Ihr
+Euch schon vertragen ... So geht mir's immer &mdash; &mdash;«</p>
+
+<p>»Asta ... mein Mädchen ... ich ... ich hab' Dich ja
+so lieb ... so unsagbar lieb ... ich laß Dich nicht fort ...
+ich ... ich brenne durch ... Ich geh' mit nach München ...
+Ich frage Euren Herrn Burg, ob er einen Volontär
+brauchen kann ... Ich sollte meinen, zu einem Komödianten
+müßt' es doch auch bei mir reichen ...«</p>
+
+<p>Asta tupfte die Augen mit ihrem Spitzentüchelchen,
+und die zuckenden Mundwinkel lachten schon wieder ihr
+lieblichstes Spitzbubenlachen.</p>
+
+<p>»Ne, Hanserl &mdash; das glückt Dir nicht ... Das können
+wir vor Deinen Herren Eltern nicht verantworten! Bleib
+Du, was Du bist ... ein Jurist ... oder ... werd' einmal
+ein Dichter, wenn Du kannst ... ich glaube, Du
+kannst &mdash; &mdash; und dann, in zehn oder zwanzig Jahren
+schreibst Du einmal ein Stück, das über alle Bühnen geht
+&mdash; mit einer wunderhübschen Rolle für die komische Alte
+darin ... Und wenn Du dann auf Reisen zufällig einmal
+nach Krotoschin oder nach Stallupönen kommst und siehst
+an irgendeiner Bauernkneipe oder Scheune den Theaterzettel
+einer Schmiere kleben, die Dein Stück spielt, und
+hinter der Rolle der komischen Alten findest Du den Namen
+Asta Thöny ... dann setz Dich irgendwo unter das 'verehrliche
+Publikum' ... aber ganz, ganz weit hinten ...
+daß ich Dich nicht etwa erkenne ... und denk' daran, daß
+das alte, häßliche Weiblein da oben einmal in Deinen
+Armen gelegen hat ... vor langer, langer Zeit ... als Du
+noch jung warst und unberühmt und nichts weiter als ein
+Korpsstudent in Leipzig ... Gelt, Hans, Das tust Du &mdash;?«</p>
+
+<p>Hans Thumser konnte nicht sprechen. Er küßte nur
+immer wieder die rosige, weiche Hand, die er zwischen
+seinen harten, waffengestählten Tatzen eingepreßt hielt,
+als wollte er sie zerdrücken.</p>
+
+<p>Der Wagen hielt vor dem Abfahrtportal des Bayrischen
+Bahnhofs. Es war zehn Uhr morgens. In grellem
+Weiß standen die beschneiten Dächer gegen das satte Himmelsblau,
+das gleißende Sonnenlicht.</p>
+
+<p>Auf dem Bahnsteig hielt bereits der Münchener
+Schnellzug. Für das Ensemble der Meininger waren auf
+Bestellung ein paar Extrawagen angehängt worden. Im
+Kassenflur, unter der Halle, wimmelte es von glattrasierten
+Männergesichtern, von lebhaften mit betonter Eleganz
+gekleideten Frauen. Riesige Koffermassen wurden in die
+Gepäckwagen verstaut ...</p>
+
+<p>Daß Asta Thöny sich auf dem Bahnhof in Begleitung
+eines grünbemützten Studenten einfand, erregte keinerlei
+besondere Sensation unter ihren Kollegen und Kolleginnen.
+Derartiges war man von ihr gewohnt. Sonst
+war's meist eine Uniform ...</p>
+
+<p>Die große Jucunda schritt mit spöttischem Naserümpfen
+an dem Paare vorüber, einen ungeheuren Strauß der
+wunderbarsten Rosen in der Hand, den ihr soeben ein
+prinzlicher Lakai überbracht hatte. Ja ... den Rosenstrauß
+hatte sie wohl ... aber keinen herzlieben Jungen
+zur Seite, der bei ihr hatte bleiben wollen bis zum letzten
+Augenblick ... Nur ihre Eltern gaben ihr das Geleit,
+Mutter Doris aufgedonnert im unglaublichsten Staat &mdash;
+Vater Kanzleirat im abgeschabten Winterpaletot und zerbürsteten
+Zylinder, ein armseliger, hüstelnder Schatten
+neben den beiden mächtigen Frauengestalten.</p>
+
+<p>Die übrigen Kollegen gingen mit diskret abgewandten
+Gesichtern an Asta und ihrem schmucken Begleiter vorüber.</p>
+
+<p>Nur Franz Burg trat grüßend heran:</p>
+
+<p>»Guten Morgen, Kleine ... Na &mdash; ist das Ihr
+Dichter?«</p>
+
+<p>»Ja, liebster Freund &mdash; das ist er ...«</p>
+
+<p>Burg lüftete lächelnd seinen Hut, nannte seinen
+Namen, streckte dem Studenten die Hand hin:</p>
+
+<p>»Nun, ich sehe, Sie sind noch sehr lebendig ... Höchst
+erfreulich das.«</p>
+
+<p>Mit korrekt eingewinkeltem Arm schlug Hans Thumser
+ein in Franz Burgs Händedruck und zog höchst offiziell
+die Mütze.</p>
+
+<p>»Hm,« machte der Oberregisseur und musterte ungeniert
+das feierlich zurechtgefaltete Jugendgesicht &mdash; »vorläufig
+ist noch nicht viel zu lesen auf der Physiognomie
+da ... aber wer weiß ... vielleicht stehen wir uns noch
+einmal an anderer Stelle gegenüber, und Sie legen mir
+ehrfurchtdurchfröstelt das Manuskript Ihres ersten Dramas
+in die Hand ... wer weiß! Dann wollen wir uns dieses
+Augenblicks erinnern ...«</p>
+
+<p>»Und ich werde mich Ihres 'Wallenstein' erinnern,
+Meister &mdash; &mdash; einstweilen lassen Sie mich Ihnen dafür
+danken ...« sagte der Student ... und Franz Burg sah
+auf einmal mit Staunen, wie auf dem jungen Gesicht die
+feierlich korrekten Falten sich auflösten, wie aus den dunklen
+Augen eine heiße Flamme sehnsüchtiger Leidenschaft schlug.
+Da leuchtete auch sein Blick dem jungen Gesellen freundlich
+und ermunternd ins Gesicht.</p>
+
+<p>»Also &mdash; auf dereinstiges Wiedersehen, junger
+Freund &mdash;! Jetzt aber sollt Ihr zwei die paar letzten
+Augenblicke noch füreinander haben, Kinder ...«</p>
+
+<p>Die paar letzten Augenblicke &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Hans Thumser und Asta Thöny senkten die Häupter
+und die Blicke ... Hoben sie dann und ließen die Augen
+lange, lange ineinander ruhen ... Dabei schwiegen die
+Lippen, Unsagbares quoll auf in ihren Herzen.</p>
+
+<p>»Bitte Platz nehmen!« schnarrten da die Stimmen der
+Schaffner.</p>
+
+<p>Da warf Asta die Arme um Hans Thumsers Nacken.
+Es kümmerte sie nicht, daß die Kollegen vom Fenster aus
+mit Grinsen und halblautem Scherz den Abschied beobachteten
+...</p>
+
+<p>»Leb wohl ... mein Hanserl ... auf ewig ... leb
+wohl ...«</p>
+
+<p>»Nein ... nicht auf ewig ... das ist ja unmöglich ...
+das ertrag ich ja nicht &mdash;«</p>
+
+<p>»Ach, Hanserl &mdash; wie gut Du das ertragen wirst ...
+aber Du ... von Zeit zu Zeit einmal an mich denken ...
+gelt? an ... Dein ... erstes Glück ... gelt, Hanserl?!«</p>
+
+<p>Aus der finstern Halle polterte der Zug in die sonnige
+Morgenhelle hinaus. Grell im Sonnenlichte leuchtete der
+weiße Rauchschwaden, den der enteilende Schlot der Maschine
+hinter sich herzog. Und ein großes Abschiedwinken
+ging aus den Fenstern des Zuges, ging auf dem Bahnsteig,
+wo in ganzen Rudeln die Freunde und Verehrer
+standen, welche die scheidende Künstlerschar bis zum letzten
+Augenblick begleitet hatten ...</p>
+
+<p>Ein Tüchlein aber wehte länger als alle andern ...
+und Hans Thumser blickte ihm nach, winkte ihm nach, bis
+alles vorbei war.</p>
+
+<p>Dann wandte er sich rasch und schritt gesenkten Hauptes
+aus der Halle. Einen Korpsstudenten in Couleur sollte
+niemand weinen sehen.</p>
+</div>
+
+<div class="reference">
+<p class="center">Von <em class="gesperrt">Walter Bloem</em> sind früher
+erschienen:</p>
+
+<p class="tit2">Sonnenland</p>
+
+<p>Eine Fahrt in die Schönheitswelt Griechenlands,
+in die Märchenstädte des Orients an
+Bord eines schmucken Lloyd-Schiffes, auf dem
+der Zufall eine bunte Reisegesellschaft zusammenwürfelt.
+Ein munterer Kreis meist
+humoristisch gesehener Gestalten und im
+Hintergrund ein leuchtender Reigen von
+Kultur- und Landschaftsbildern aus den gesegneten
+Zonen des sonnigen Südens.</p>
+
+<p class="center">Preis 1 Mark</p>
+
+<p class="tb">*</p>
+
+<p class="tit2">Das lockende Spiel</p>
+
+<p>Ein Buch vom Theater, von seiner berauschenden
+Magie, die keinen aus ihrem Zauberkreis
+entläßt, der ihr einmal verfiel. Wer es
+einmal gespielt hat das »lockende Spiel«, er
+kann es nimmer lassen. Eine neue Theatergründung
+in Berlin wird zum Mittelpunkt
+für ein fröhliches Ringen um die Palme
+des Bühnendichters, Schauspielers, Regisseurs.
+In diesen Kampf verkettet sich ein zweites
+»lockendes Spiel«, das Spiel und Gegenspiel
+der Liebe bei zwei jungen Menschenpaaren.</p>
+
+<p class="center">Preis 1 Mark</p>
+
+<p class="center">Verlag Ullstein &amp; Co / Berlin-Wien</p>
+</div>
+
+<div class="figcenter" style="width: 100px;">
+<img src="images/signet.png" width="100" height="200" title="Ullstein &amp; Co Berlin SW 68" alt="Ullstein &amp; Co Berlin SW 68" />
+</div>
+<div class="transnote covernote">
+<p>
+The cover image was created by the transcriber and is placed in the public domain.
+</p>
+</div>
+
+<div class="transnote">
+<p class="tn-header">Anmerkungen zur Transkription</p>
+<p>
+Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originaltextes wurden übernommen,
+nur offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert.
+</p>
+<p>
+ Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt, fremdsprachliche Passagen,
+ die im Original in Antiqua gesetzt sind, sind <i>kursiv</i> dargestellt,
+ für Abkürzungen, wie C.&#x202f;C. und Regentenzahlen wie XIV wurde dies
+ nicht gemacht.
+</p>
+</div>
+
+<div>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 44647 ***</div>
+</body>
+</html>
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+The Project Gutenberg EBook of Komödiantinnen, by Walter Bloem
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+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
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+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org/license
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+
+Title: Komödiantinnen
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+Author: Walter Bloem
+
+Release Date: January 12, 2014 [EBook #44647]
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+Language: German
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+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KOMÖDIANTINNEN ***
+
+
+
+
+Produced by Tor Martin Kristiansen, Jan-Fabian Humann,
+Norbert Müller and the Online Distributed Proofreading
+Team at http://www.pgdp.net
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+ Komödiantinnen
+
+
+
+
+ Ullstein-Bücher
+
+ Eine Sammlung
+ zeitgenössischer Romane
+
+ [Illustration Verlagslogo]
+
+
+
+
+ Ullstein & Co / Berlin und Wien
+
+
+
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+ Komödiantinnen
+
+ Roman von
+ Walter Bloem
+
+ [Illustration Verlagslogo]
+
+
+
+
+ Ullstein & Co / Berlin und Wien
+
+
+
+
+ Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung
+ vorbehalten. -- Copyright 1914 by Ullstein & Co
+
+
+
+
+ 1.
+
+
+Aus tiefdunklem Jugendschlummer fuhr Hans Thumser mit einem Ruck in die
+Höhe. Teufel auch! das nenn' ich dachsen! Und diese Pestbeule von einem
+Korpsdiener hatte mich doch wecken wollen? Wieviel mag's denn sein? Uhr
+steht natürlich -- Skandal! schon wieder mal das Aufziehen verbummelt!
+Und schon ganz hell! Jeden Augenblick muß der Wagen kommen mit Pilgram,
+dem gestrengen Senior, der so verdammt ungemütlich werden kann ... und
+mit Durchlaucht, dem fürstlichen Konkneipanten eines wohllöblichen
+C. C. der Franconia ... und dann warten lassen?! Herrgottsakra -- rin'
+in die Buchsen --!
+
+Durchs offene Fenster schwamm herbstlicher Frühnebel in das schummrige
+Studentenbudchen. Matt flimmerten an den Wänden die dreifarbenen
+Wappenschilde, die gekreuzten Schläger, die langsam einstaubenden Mützen
+und Bänder -- weit matter noch vom Schreibtisch her die Goldtitel des
+_corpus iuris_, der spärlichen Lehrbücher der Rechtswissenschaft ...
+Und weiß blinkte nun der gertengeschmeidige Körper des jungen Studenten:
+Hals und Nacken wurden mit raschen, scharfen Güssen erfrischt, und dann
+wusch der Jüngling sorgsam das dichte braune Haar mit schäumendem
+Bay-Rum durch, um alle septischen Stoffe zu entfernen und der
+Säuberungsarbeit des Paukarztes vorzuarbeiten ... Denn heute bekam Hans
+Thumser Prügel, das stand in den Sternen geschrieben. Herr Borgmann,
+Neo-Borussiae gewesener Zweiter, Erster _ad interim_ war der S. C.
+Fechter ... gegen den konnte der schlanke Fuchsmajor der Franken nicht
+an. Da galt es nur, sich gegen die unvermeidliche Abfuhr zu wehren,
+solange Faust und Klinge hielten ... Schade, daß es gerade der Borgmann
+sein mußte, der einen unterkriegte -- dieser üble Geselle, den man nicht
+riechen konnte, mit seinem suffisanten Gesicht, seinem fatzkigen
+Lächeln, den frostigen Froschaugen -- dem mal einen Streicher über die
+Ohrfeigenvisage ziehen, von der Temporalis bis ins Kinn -- aber nee,
+nich dran zu denken, er konnte zu viel, der Affe, der miserablichte!
+
+So -- die Toilette wäre beendigt! Noch einen Blick in den Spiegel --
+ade, du große schmale Nase, vielleicht auf Nimmerwiedersehen -- na, und
+auf Stirn und Wange ist ja auch noch eine ganze Menge Platz, zwischen
+den alten Abfuhren aus Heidelberg und denen vom Sommer, und nun statt
+der grünen Mütze für heute den weichen Knockabout auf die Stirn gestülpt
+-- denn in jener Stadt, in der das Reichsgericht saß, die erleuchtete
+Körperschaft, welche die Schlägermensur für einen Zweikampf mit
+tödlichen Waffen im Sinne des Strafgesetzbuches erklärt hatte -- im
+guten biedern Leipzig waren Staatsanwaltschaft und Polizei nach der
+Mahnung jenes schönen Würzburger Studentenverses tätig:
+
+ »Darum auf, ihr Wächter des Gesetzes,
+ Hüter des Studentenpaukgehetzes --
+ Lauscht überall
+ Auf Waffenschall
+ Und seid stets der Mensur
+ Auf der Spur!«
+
+Auch das dreifarbene Band wanderte zusammengerollt in die Tasche -- erst
+draußen im braunen Herbstwalde bei Knauthain würde es sich um die junge
+Brust schlingen dürfen ... und nun hinaus ... das Frühstück mußte man
+sich für heut verkneifen, denn Frau Marie Wehe, genannt Mutter Ach,
+stand um fünf Uhr noch nicht auf aus ihrem keuschen Witwenbette ...
+
+Als Hans Thumser im dunklen Korridor an der Tür zu der Nachbarbude
+vorüberschritt -- der Nachbarbude, die dies Semester zu Mutter Achs
+bittrem Schmerz unvermietet geblieben war -- da stolperte er plötzlich
+über etwas Zierliches, Weiches ... was Teufel -- also doch noch
+Nachbarschaft gekommen --?!
+
+Hans Thumser bückte sich und hob ein Etwas auf, das nur ... ein
+Lackschuh sein konnte ... und zwar ein winziger ... mit knisternder
+Seidenschleife besetzter ... ein feiner, geheimnisvoll irritierender
+Duft entstieg ihm ... Hans Thumser trat mit seinem seltsamen Fund an
+die Mattscheibe der Korridortür, die ein falbes Licht einfallen ließ,
+und betrachtete mit der naiven Andacht seiner unverwöhnten zwanzig Jahre
+das zierliche Wunder. Gott, welch eine Wirrnis von Träumen stieg empor
+aus diesem schmalen Kahn der Sehnsucht ... Mit einem tiefen Seufzer,
+von fröstelnden Schauern überrieselt setzte der Jüngling seine Beute
+sacht und herzklopfend wieder vor die Tür, die nun auf einmal ein Eden
+barg. Ein weißes Viereck schimmerte matt vor dem des Dämmers nun
+gewöhnten Blick, als der Student sich wieder zu seiner ganzen Länge
+aufgerichtet ... in unzähmbarer Neugierde tastete er nach seiner
+Zündholzschachtel und las im zuckenden Flackerlichte die
+lithographischen Schriftzüge:
+
+ Asta Thöny
+ Herzoglich Meiningische Hofschauspielerin
+
+Was ... war das?!
+
+Hans Thumser hatte auf eines jener Dämchen geraten, die sich wohl
+bisweilen im _Quartier latin_ einnisteten, um Jugendglut und
+Monatswechsel der akademischen Bürger zu brandschatzen ... und nun --?!
+
+Eine Künstlerin ... ein Mitglied jener erlauchten Komödiantengilde,
+deren Siegeszug dem staunenden Deutschland, nein der Kulturwelt erst
+erschlossen die ganze Herrlichkeit des klassischen deutschen, des
+klassischen germanischen Dramas --?!
+
+Hans Thumser sah sich in der Heimatstadt, auf einem Platze des zweiten
+Ranges, den er vom Taschengeld abgeknausert, abgebettelt dem gütigen
+Vater, der so schlecht nein sagen konnte -- sah sich sitzen als
+ahnungsvollen Primaner und lauschen -- lauschen in Verzückung und
+Tränen ... schauen voll seliger Gier und ungläubig-gläubigen
+Ueberschwangs in eine Wunderwelt hinein, da alle seine Träume die
+Erfüllung fanden ... und sah sich am andern Tage auf der Schulbank,
+stumm und stumpf bei jeder Frage der Lehrer, gleichgültig gegen ihren
+Zorn und den Spott der Mitschüler, die nicht ahnen konnten, was mit dem
+Primus vorgegangen ... was ihm die flinke Zunge, das unfehlbare
+Gedächtnis lähmte ...
+
+Und nun --?! Eine Meiningerin -- und seine Zimmernachbarin?
+
+Was konnte das bedeuten --?
+
+Etwa dies: daß die Meininger in Leipzig wären -- gastierten drüben im
+Carolatheater --?
+
+Und davon -- davon hatte man nichts erfahren?
+
+Freilich -- unmöglich wär's nicht -- wie man so dahinlebte, das
+Gladiatorendasein des aktiven Korpsstudenten ...
+
+Asta Thöny? Nein -- den Namen Asta Thöny verzeichnete seine Erinnerung
+nicht -- das mußte wohl ein neues Mitglied sein, schlank und ... duftig
+wie die Schuhchen, von denen nun, im wachsenden Tageslicht, ein paar
+Lichtpünktchen aufgleißten aus dem Dämmer des Korridors ...
+
+Aber ein anderer Name stieg nun auf, ein weißleuchtendes Mädchenbild
+tauchte glorienumstrahlt aus der Tiefe seiner Visionen: Jucunda Buchner,
+die kaum Sechzehnjährige, die Thekla der Meininger ...
+
+Sie sah er, im dritten Akt der »Piccolomini«, einsam im finstern
+Schloßgemach, mit der Laute hineingeschmiegt in einen faltenstarren
+rotsamtenen Vorhang, scharf abgehoben die weiße Gestalt vom riesigen
+Fenster, durch dessen hundert kreisrunde Scheiben die sternlose Nacht
+hineinglotzte ... und wie ein Kind im Finstern singt, die
+Herzensbangigkeit zu betäuben, so verloren, so verlassen, so
+angstumschauert hatte das junge Weib seine schmachtende Weise vor sich
+hingelallt:
+
+ Der Eichwald brauset, die Wolken ziehn --
+ Das Mägdlein wandelt an Ufers Grün --
+ Das Auge von Weinen getrübet ...
+
+ Du Heilige, rufe Dein Kind zurück --
+ Ich habe genossen das irdische Glück --
+ Ich habe gelebt und geliebet ...
+
+O Erinnerung ... o Ahnung ... o Kunst, du mächtige Weckerin, Vorschule
+des Lebens, Tummelplatz der werdenden, in Werdeschauern erzitternden
+Seele --!
+
+Gelebt und geliebet ... und du, junges Studentlein im finstern Korridor
+-- aus dessen Dunkel die weißen Lichtpünktchen glitzern von Asta Thönys
+Lackschuhchen -- --?!
+
+Hans Thumser schrak zusammen. Ihm war's, als hätte er aus weiter Ferne,
+ungeduldig, seinen Namen rufen gehört ...
+
+Und richtig:
+
+»Thumser! Thumser! Zum Donnerwetter, wenn Du jetzt nicht kommst, fahren
+wir ohne Dich!«
+
+Ach so ... ach ja ... die Stunde, die heischende ... die Stunde des
+Burschenkampfes ...
+
+Hans Thumser fuhr auf, reckte sich -- kein Abschiedsblick mehr zurück zu
+den Lichtpünktchen drunten, dem weißen Kärtchen an der Pforte des
+Geheimnisses -- fort -- hinaus --!
+
+Er flog die krachenden Stiegen hinunter, der mächtige Haustürschlüssel
+knarrte im Schloß -- und draußen auf der morgenstillen, morgenleeren
+Sophienstraße empfing ihn ein Durcheinander von Begrüßung und Vorwurf --
+
+»Na, Du Schlafratze -- endlich ausgepennt?« zürnte der Senior vom
+Rücksitz aus. Und:
+
+»Hatten schon alle Hoffnung aufgegeben, Sie noch unter den Lebenden
+begrüßen zu dürfen!« schnarrte der Major von Gorczynski, dessen kantige
+Reiterfigur sich noch immer nicht in das elegante Zivil des
+Prinzenbegleiters eingewöhnen mochte.
+
+Erbprinz Heribert aber, der durchlauchtigste Konkneipant der Franken,
+zog nur stumm und mit indignierter Miene den steifen grauen Filzhut.
+Also man ließ warten! na ja, an einer deutschen Hochschule funktioniert
+der Betrieb nun einmal nicht wie am herzoglichen Hofe zu
+Nassau-Dillingen ... man mußte Nachsicht üben ...
+
+Mit einem Ruck saß Hans Thumser neben seinem Korpsbruder auf dem
+Rücksitz, dem Prinzen gegenüber, der ihn durch sein Monokel mit
+kühl-durchdringendem Blick niederzuschmettern suchte, was ihm freilich
+nicht gelang.
+
+»Also wenn Durchlaucht gestatten, fahren wir ab!« sagte Valentin Pilgram
+mit korrektem Gesicht. Er war auch nicht sehr erbaut von der Ehre, einen
+prinzlichen Mitkneipanten im Korps durch das Semester schleppen zu
+müssen, zumal einen solchen faden Burschen, der nicht warm wurde unter
+den Kommilitonen, deren Mütze er wie zum Maskenscherz die wenigen Male
+aufsetzte, wenn er gelangweilt und verständnislos an den offiziellen
+Veranstaltungen des Korps teilnahm ... indessen das gehörte nun einmal
+dazu ...
+
+»Also los, Kutscher und lassen Sie gefälligst die Gäule loofen, sonst
+fällt der erschte Hieb, ehe wir draußen sind!«
+
+»I herrjemerschnee, Herr Pilgram, das kann Sie ja gar nich passier'n --
+de Allererschten wär'n mer sein am Platze, da genn' Se sich drauf
+verlass'n!« ...
+
+Als der Wagen anzog, fiel der Blick der Abfahrenden auf eine lange
+Kolonne riesiger Möbeltransportwagen -- drüben waren sie aufgefahren vor
+der nüchternen Häuserfront, deren Erdgeschoß die Einfahrt zum
+Carolatheater durchstieß. Das Theater selber lag verborgen und
+schmucklos dahinter im Hofe. Um die Wagen aber sammelte sich eine Rotte
+herkulischer Blusenmänner und begann sie zu entladen. Was kam da alles
+zum Vorschein!
+
+Das erste, was das Auge der Wageninsassen entdeckte, war der riesige
+Körper eines schwarzen Pferdes, in liegender Stellung, in der Stellung
+des Todes ausgestopft ... Unter derben Späßen hoben die untersetzten
+Arbeiter die Bestie aus dem Finstern des Wagens und trugen sie in die
+Dämmerung des Flurs. Und im schnellen Davonfliegen des Wagens erfaßte
+der Blick der Enteilenden noch ein Chaos von Gegenständen, die bereits
+ausgepackt an den Hauswänden lehnten: ein ganzes Arsenal eiserner
+Rüstungen, Schwerter, Hellebarden, Federhelme ... und noch allerhand
+Dinge, seltsam durch ihre Lage und Zusammenstellung: einen prunkvollen
+gotischen Altar, einen mächtigen Eichbaumstumpf, dessen papierene
+Blätter im Herbstmorgenhauche gespenstisch raschelten -- und endlich ein
+kolossales Renaissance-Büfett, das Hans Thumser auf den ersten Blick
+wiedererkannte: es hatte im Bankettsaal des Grafen Terzky gestanden, der
+Zecherrausch der Friedländischen Generale hatte es umbrandet -- damals,
+im Barmer Stadttheater, als Hans Thumser in Fieberschauern den
+»Wallenstein« erlebte ...
+
+»Die reine Trödelbude --« sagte Valentin Pilgram, der Senior, und zog
+die Winkel des schmalen Mundes verächtlich herab. »Ooch 'n Geschäft,
+sich Abend für Abend die Visage zu beschmieren, sich vor so'ne Lappen
+hinzustellen und mit Armen und Beinen zu fuchteln ...«
+
+Die blassen, matten Züge des Erbprinzen hatten sich plötzlich belebt.
+»Sie vergessen, lieber Pilgram, daß diese Fuchtelei mit Armen und Beinen
+doch manchmal ganz niedlich anzusehen ist ... namentlich wenn diese Arme
+und Beine -- halten Sie sich mal die Ohren zu, Herr Major! -- na also,
+wenn sie schlank, jung und ... _feminini generi_ sind ...«
+
+»-- _gener=is=_, Durchlaucht!« erlaubte sich der Erzieher zu bemerken.
+
+»Echauffieren Sie sich nicht, lieber Major -- als Sprachlehrer sind Sie
+nicht engagiert -- Sie haben nur für meine Moral zu sorgen -- wenn's
+auch schwer fällt ... aber nun sagen Sie mal, Sie Alleswisser -- was
+bedeutet denn dieser Apparat da vor dem ollen muffigen Carolatheater?«
+
+»Die Meininger, Durchlaucht, beginnen in fünf Tagen ein vierwöchiges
+Gastspiel in Leipzig,« sagte der Major.
+
+»Und das haben Sie mir bis jetzt unterschlagen, Sie Cerberus?«
+
+»Ich habe nicht gewußt, daß Durchlaucht sich auch für =ernste= Kunst
+interessieren ...«
+
+»Ah bah -- Theater ist Theater ... und wo kann der Thronfolger eines --
+na sagen wir mal eines Staates von mäßigem Umfang -- wo kann ich mich
+besser auf meinen künftigen Beruf vorbereiten als im Theater? Mein
+Hoftheater, das ist doch der einzige Platz, wo ich später ...
+gewissermaßen ... wirklich mal was zu sagen haben werde ...«
+
+»Durchlaucht ... ich darf wohl bitten ...« warf der Major ein.
+
+»Na, jedenfalls ist das meine Auffassung!« lachte der Erbprinz, »--
+können Sie meinetwillen nach Dillingen berichten! Und das bitte ich mir
+aus, Herr Major: bei den Meiningern belegen Sie heut abend sofort die
+vorderste Proszeniumloge! Ich sehe mir die ... Kunst ... gern aus der
+nächsten Nähe an! Lieber Pilgram -- zur Eröffnungsvorstellung sind Sie
+mein Gast, nicht wahr?«
+
+»Sehr gütig, Durchlaucht ...« sagte Valentin Pilgram und sann nach.
+»Das wäre, soviel ich weiß, am nächsten Mittwoch ... da haben wir
+allerdings offizielle Kneipe, und ich als Erster Chargierter dürfte
+eigentlich nicht ... und dann ... habe ich auch nicht allzuviel fürs
+Theater übrig ...«
+
+»Philister Sie! Na und Sie, Herr Thumser -- wie wär's mit Ihnen?«
+
+Hans Thumser wurde glühendrot ... halb in Glück, halb in Befangenheit
+... er hatte sich bereits schmerzlich bewegt ausgerechnet, daß es gegen
+Ende des Monats gehe, und sein Wechsel ihm einen Besuch der Meininger
+wohl schwerlich vor dem ersten November gestatten würde ... also das
+fiel ja geradezu vom Himmel ... andererseits ... mit diesem blasierten,
+schwunglosen Menschen zusammen -- wie würde er's ertragen, in seine
+Andacht hinein solche Reden vernehmen, gar ihnen ehrerbietig lauschen zu
+müssen?
+
+Dennoch ... besser als gar nichts ...
+
+»Ich nehme mit Freuden an, Durchlaucht ...«
+
+»Also abgemacht! Was gibt's denn, Herr Major?«
+
+»Jungfrau von Orleans ...«
+
+»Ausgerechnet --!« schnarrte der Prinz -- »Schiller --! Gymnasium in
+Wiesbaden -- verfluchten Angedenkens! Schiller! Was ist Schiller? Eine
+Serie von Aufsatzthemen --!!«
+
+»Stimmt!« rief Pilgram. »Keine zehn Pferde ziehen mich ins Theater, wenn
+Schiller gespielt wird! 'Die tragische Schuld der Maria Stuart' --
+'Wallenstein, ein tragischer Charakter' -- 'Die poetische Gerechtigkeit
+in der Braut von Messina' -- pfui Deuwel! um junge Hunde zu kriegen --!«
+
+Wie bin ich unter diese Menschen geraten? dachte Hans Thumser. Warum
+trage ich die gleiche Mütze und die gleichen Farben wie sie? Kein Takt
+des Herzschlags, kein Gefühl, kein Wort ist mir mit ihnen gemeinsam ...
+
+Und derweil rollte der Wagen seitwärts durch die nüchternen,
+morgenleeren, hallenden Straßen der Südstadt, dem fernen Kampfplatz
+entgegen, wo Hans wieder einmal seine Zusammengehörigkeit mit seinen
+Korpsbrüdern, seine Zugehörigkeit zum Frankenbunde mit seinem Herzblut
+besiegeln sollte ...
+
+»Vergessen Sie nicht, Durchlaucht, daß Jucunda Buchner die Jungfrau
+spielt ...«
+
+»Jucunda Buchner? Ist -- wer?«
+
+»Nun, der jugendliche Stern der Meininger -- einfach Sehenswürdigkeit --
+gewissermaßen das deutsche Mädchen in Reinkultur --«
+
+»Schön -- also abgemacht!« sagte der Erbprinz. »Aber halten Sie mich
+fest, lieber Major, sonst mach' ich Dummheiten...«
+
+»Buchner?« sagte der Senior, »hm -- da fällt mir was ein. Mein Hauswirt,
+der Kanzleirat Buchner, der hat ja, soviel ich weiß, irgendwo 'ne
+Tochter beim Theater ... das wäre doch ulkig ... soviel ich weiß, wurde
+ihre Ankunft erwartet ... und ich mein' auch, daß sie in Leipzig spielen
+sollte, hätte die Alte erzählt -- ich hab' aber nicht recht hingehört --
+was geht mich das Theater an ...«
+
+»Herrgott, Mensch -- das Theater!« platzte Thumser heraus. -- »Hier
+handelt sich's doch um die Meininger! Hast Du davon überhaupt eine
+Ahnung, was dieses -- dieses Theater bedeutet? Die Entdeckung der
+Klassiker, ihre Eroberung für die Bühne unserer Zeit, die Entbindung all
+der tausend köstlichen Sinnlichkeiten, die im Drama unserer Großen
+schlummern -- bist Du denn solch ein Barbar, solch ein Banause, daß Du
+von all dem nichts weißt -- daß all das für Dich nicht existiert?«
+
+»Na, entschuldige schon, daß ich existiere!« schnarrte der Erste. »Ne
+wirklich, teures Thumserherz, das alles ist mir schnuppe, schnupper, am
+schnuppesten! Ich halt's mit meinem Vater, der nie in seinem Leben ins
+Theater gegangen ist und doch Senatspräsident am Oberlandesgericht in
+Dresden geworden ist, und jedenfalls noch ein Endchen weiter kommen wird
+im Leben, eh er Schluß macht! Kunst ist Spielzeug für charakterlose
+Müßiggänger -- unsere Zeit aber braucht Arbeiter, Charaktere -- Männer,
+verstehste?!«
+
+»Bumm, bumm, bumm! Tusch!« sagte der Prinz. »Sie sind zum
+Landtagsabgeordneten qualifiziert, lieber Pilgram ...«
+
+»Verzeihung, Durchlaucht, es muß auch -- Landtagsabgeordnete geben! Ne,
+lieber Thumser, lauf Du nur immer ins Theater und laß Dir -- wie hast Du
+so schön gesagt? -- laß Dir Deine tausend köstlichen Sinnlichkeiten
+entbinden -- mein Bedarf ist mit Fechtboden, Kneipe und Windscheids
+Drogenweltkolleg vollkommen gedeckt!«
+
+»Und so was hat nun das Glück, mit Jucunda Buchner unter einem Dache zu
+wohnen ...« seufzte Erbprinz Heribert.
+
+»Das weiß ich noch nicht, das ist nur eine Vermutung von mir,
+Durchlaucht ... Uebrigens ist die Sache wirklich ohne Interesse für
+mich. Mit einer Komödiantin möcht' ich noch nicht mal eine Poussage
+haben ... man kann ja doch nie wissen, ob sie einem nicht was vormimt
+und einen innerlich auslacht ...«
+
+»Na, teurer Pilgram, nu sei'n Se aber friedlich!« schmunzelte der
+Erbprinz. »Davon versteh'n Sie nu wirklich nischt -- det haben Sie noch
+nich gehabt!«
+
+»Sie doch auch nicht, wie ich hoffe, Durchlaucht!« sagte der Major
+und blinzelte seinem jungen Herrn unter grimmig zusammengezogenen
+Brauen verschmitzt zu. Und Erzieher und Zögling wechselten ein
+Augurnlächeln ...
+
+Der Wagen rollte. Niederer wurden die Häuser, die beiderseits die
+Connewitzer Landstraße umsäumten. Und bald wurde die Bebauung offener,
+ländlicher. Dann bog die Fahrt nach rechts, und in die braunen
+Schattenhaine des Streitholzes ging's hinein, die Pleiße wurde
+überschritten auf knarrender Holzbrücke, unter der sich die gelben
+Fluten träge hinwälzten, noch angeschwollen von den ersten Herbstregen,
+welche die vergangene Woche gebracht. Aber heut rang sich aus
+Nebelbrodem die verschlafene Morgensonne mühsam durch, umgoldete das
+rötliche Buchenlaub zu Häupten der Dahinrollenden, verhieß einen lustig
+blanken Fechtertag, den letzten unter freiem Himmel für dies Jahr: der
+nächste würde schon im benachbarten Halle, richtiger im Vorort
+Cröllwitz, steigen müssen, an der murmelnden Saale, gegenüber den
+reckenhaften Trümmern des Giebichenstein.
+
+Allmählich wandte sich das Gespräch von dem strittigen Thema des
+Theaters zum minder kontroversenreichen des nahen Bestimmtages hinüber.
+Daß der Fuchsmajor der Franken heute seine todsichern Senge bekommen
+würde, galt als ausgemachte Sache, über die niemand Worte zu verlieren
+brauchte. Es fragte sich bloß, ob Hans Thumser auf seine notorische
+vielgeprüfte Quartblöße oder auf Borgmanns allgefürchteten Durchzieher
+abgestochen werden würde -- von dem Valentin Pilgrim, der Senior, im
+Gesicht bereits ein stattliches Exemplar trug, welches Ohrläppchen und
+Mundwinkel mit einem linealgraden breiten Strich verband ...
+
+Aber während man also über Hans Thumsers nächste Zukunft verhandelte,
+das Schicksal seiner linken Gesichtshälfte sachverständig abtaxierte
+-- -- war Hans Thumsers Inneres auf geheimnisvolle Weise in
+Gleichgültigkeit und Fernsein untergetaucht.
+
+Jungfrau von Orleans ... sang es in seinem Herzen ... Jucunda Buchner
+... das war wie eine leuchtende, gnadenvolle Nähe, wie ein offener
+Himmel, aus dem eine lichte Madonna sich neigt, gegenwärtig und doch
+unnahbar, bekannt und doch undurchdringlich ...
+
+Und zwischen die Choralmelodien, die Harfenarpeggien, welche das
+Heiligenbild umschauerten, kicherte und schwirrte es hinein wie
+Flötentriller, wie kecke Geigenpizzicati:
+
+Asta Thöny ... Asta Thöny ...
+
+Und ein paar neckische, blinkende Lackschuhchen tanzten auf und nieder,
+aus denen zwei schlanke, seidenbestrumpfte Knöchel guckten -- was
+darüber war, verschwand in rosigen Schleiern, aus denen es lachte und
+girrte wie Taubengurren:
+
+Asta Thöny ... Asta Thöny ...
+
+Ernsthaft und aufrecht saß Valentin Pilgram, der gestrenge Senior des
+Korps Franconia. Als läge die Regierungslast eines Millionenstaates auf
+seinen Schultern, so pflichtdurchdrungen, so würdeumbauscht saß er und
+übersann das Programm des Tages ... Ob Heinz Hartwig, das muntre,
+taprige, ewig korkende Füchslein, wohl heute endlich eine einwandfreie
+Mensur liefern würde und daraufhin ins engere Korps rezipiert werden
+könnte? Und Ivo Volkner, der leichtblütige Rheinländer aus Düsseldorf,
+dessen letzte Mensur auch keineswegs tadelsfrei gewesen war -- ob er
+wohl sein unstätes Musikantentemperament heute so weit im Zaume halten
+würde, um sich herausreißen zu können?
+
+Und was sollte der C. C. auf den merkwürdig schnoddrigen Brief unseres
+lieben Kartellkorps Pomerania zu Göttingen antworten? Ob es nicht doch
+besser war, das alte Kartellverhältnis zu lösen und ein
+frisch-fröhliches P. P. zu fechten?! Aber was würden die gemeinsamen
+Alten Herren sagen?
+
+Und ob man den Rektor zur C. C.-Antrittskneipe einladen mußte --
+anläßlich der hohen Ehre, daß ein richtiggehender Prinz und Thronfolger
+zu den Konkneipanten des Korps zählte?
+
+Ja, man hatte schon seine Sorgen ... Der Reichskanzler war am Ende auch
+nicht viel schlimmer dran als der Erste Franconiae-Leipzig ...
+
+Der Erbprinz aber träumte von einer fernen Zukunft ... noch war der alte
+Herr ja ... hm, hm! -- erheblich rüstig ... und seine Altersgenossen,
+die Leutnants des Sophien-Regiments, hatten ihm gelegentlich in später
+Stunde, wenn der Sekt die Zungen gelöst, das Gefühl der Distanz ein
+wenig gemildert hatte -- na ja, dann hatten sie ihm gelegentlich etwas
+gesteckt von all dem Gemunkel, das in der Residenzstadt umlief über die
+zarten Beziehungen des hohen Herrn zu der weiblichen Elite des
+Hoftheaters ...
+
+Er, Heribert Hans Herwig, würde sich das erlauchte Vorbild seines
+gnädigsten Vaters zum Muster nehmen, wenn er einmal als Heribert XIV.
+das Thrönchen seiner Väter bestiegen haben würde.
+
+Inzwischen hielt man sich studienhalber in Leipzig auf und würde auch da
+auf seine Rechnung zu kommen wissen ...
+
+Jucunda Buchner ... das klang recht verheißungsvoll ... und Jungfrau von
+Orleans ... Himmel, es gibt allerhand Arten von Jungfrauen ...
+
+Nun war man »draußen«. Mitten im tiefschattigen Buchenwald ein
+wuchtender Eichbaum, sonst von tiefem Dämmerfrieden umwirkt, heut
+umbraust von einem bunten, farbentollen Leben. Die wilden
+Völkerschaften, die inmitten moderner Gesittung ein mittelalterliches
+Reckendasein führten bei Waffenklirren, rauhem Sang und schäumenden
+Kannen, die Franken und die Neo-Borussen, die Westfalen und Meißner und
+Thüringer, hier hatten sie sich Stelldichein gegeben zur
+allwöchentlichen feierlichen Rauferei. Und diesmal, als am ersten
+Bestimmtage des Semesters, war alles in besonders gehobener Stimmung.
+Die alten Bekannten in den verschiedenen Korps begrüßten sich hinüber
+und herüber, mit besonderer Herzlichkeit jene, die bereits einmal oder
+gar mehrmals die Klinge gekreuzt hatten -- wesentlich zeremonieller
+schon jene, denen heute der blutige Gang bevorstand. Alles war in Wagen
+gekommen, die nun als langer Park auf der Chaussee aufgefahren waren,
+stets bereit, mit den Paukanten in Windesschnelle davonzusausen, wenn
+die weithin aufgestellten Schnarrposten die Annäherung von Pickelhauben
+und grünen Waffenröcken melden sollten. Alles war im »Bummel« gekommen,
+das heißt im Hut, die Couleur in der Tasche; nun wurden schleunigst
+Mützen und Bänder angelegt: gar lustig flimmerten auf dem bunten Tuch,
+der dreifarben-gestreiften Seide, die Sonnentupfen, die durchs braune
+Laubdach sich niederringelten. Und bald stand das erste Paar bereit:
+Pilgram, Franconiae Erster, gegen den stämmigen Zweitchargierten der
+Meißner.
+
+Und nun -- heiho! Gellende Kommandorufe hinein in die lauschende Stille,
+widerhallend an den schlanken, weißleuchtenden Buchenstämmen ... und
+nun: klirr, klirr der helle Klang, wenn Eisen scharf auf Eisen traf, im
+Wechsel mit dem dumpfen Knall der flachen Hiebe, die über Stulp und
+Schädel krachten -- heiho! uralte Reckenlust am tollen Raufen, am harten
+Widereinander der jugendlichen Kräfte ...
+
+Jähes Halt der Sekundanten, Pause, Blut rinnend hüben über die schmalen,
+herrischen Züge des Frankenseniors, drüben über die feisten Speckbacken
+des Fechtchargierten der Meißner ... und wiederum Kommandos, hageldichte
+Hiebe, Stahl auf Stahl ...
+
+Und dann war's plötzlich aus: der Meißner hatte seine Abfuhr weg, eine
+lange Quart, fast unpariert, überm linken Ohr. Und in die
+blutbeschmierte Bandage mußte nun Hans Thumser hinein.
+
+Schon stand er dem verhaßten Borgmann gegenüber, schon faßten die Gegner
+einander fest ins Auge, schon flogen die Klingen in die Auslage,
+kauerten die Sekundanten wie sprungbereite Katzen zu ihrer Kämpfer
+Seiten -- da entstand eine Bewegung unter der lauschenden Korona. Auf
+dem weichen Waldboden scholl ein dumpfes Klackern wie von Huftritten,
+und auf dem schmalen Pfade, der am Wiesensaum entlang sich zog, flitzten
+zwei Reiter heran -- aber nicht die Grünröcke der Gendarmen --
+Zivilisten waren's, ein Herr und eine Dame. Hans Thumser sah, wie alle
+Köpfe sich wandten -- doch ihm blieb nicht Zeit -- nur einen grauen
+Schleier sah er wehen von einem hohen, schwarzglänzenden Seidenhut; sah
+etwas Lichtes, Klares darunter, hell abgehoben vom dämmernden Waldgrund
+-- und dann --
+
+»Auf die Mensur -- bindet die Klingen!«
+
+»Gebunden sind --!«
+
+»Los!«
+
+Und nun alles Leben in Aug und Handgelenk hinein sich krampfend -- und
+ein Wille nur -- sich wehren -- und treffen! treffen --!!
+
+»Halt!«
+
+»Halt --!!«
+
+Und auch hier schon nach dem ersten Gange helle rote Bäche rinnend über
+weiße Stirnen, zernarbte Wangen ...
+
+Und während der Paukarzt mit dem Wattebausch in Hansens klaffende
+Stirnwunde tupft, vernimmt des Fechters Ohr ganz deutlich aus der Mitte
+der Umstehenden die Worte:
+
+»Das ist die Buchner!«
+
+Und eine andere Stimme fragt:
+
+»Und der Herr -- wer ist das?«
+
+»Das ist Franz Burg -- der Heldenspieler ...«
+
+Inzwischen hat der Paukarzt seine Untersuchung beendigt; er lächelt:
+
+»Weiter!«
+
+»Herr Unparteiischer -- von unserer Seite kann's weitergehen ...«
+
+Aber drüben bei den Neo-Borussen scheint man noch nicht so recht im
+Klaren ... na, wenn Hans Thumser auch schließlich wird dran glauben
+müssen: auch Herr Borgmann hat sein Teil bekommen, scheint's!
+
+Er lugt umher: dort halten sie, die Reiter, unterm Eichbaum und spähen
+neugierig hinüber ... Ja, das glaub' ich, ihr Komödianten -- so etwas
+bekommt ihr nicht alle Tage zu sehen -- hier schwingt man die Waffe
+nicht nur zum Spiel -- und was hier Stirn und Wange färbt, ist
+wirkliches Blut, nicht Schminke ...
+
+Und dies schmale, feine junge Gesichtchen -- das ist ... Thekla -- das
+ist Johanna von Arc?!
+
+Nun werden auch die Neo-Borussen wieder munter:
+
+»Herr Unparteiischer, von unserer Seite kann's weitergehen!«
+
+»_Silentium_ -- Pause _ex_!«
+
+»Auf die Mensur -- bindet die Klingen!«
+
+Jucunda! betet irgend etwas in Hans Thumsers Seele. Er fühlt, wie alle
+Sehnen sich straffen.
+
+»Gebunden sind!«
+
+»Los!«
+
+Und zweimal, dreimal schmettert Hieb auf Hieb -- und:
+
+»Halt!«
+
+»Halt!«
+
+»Herr Unparteiischer, bitte drüben nachzusehen und einen Blutigen zu
+konstatieren!« ruft Valentin Pilgram, Hansens Sekundant, wilden Triumph
+in der Stimme -- sich aufrichtend, zischt er seinem Paukanten ins Ohr:
+
+»Du -- das ist Rest!!«
+
+»Rest? Bei wem? Bei mir?« fragt Hans Thumser ganz verdutzt.
+
+»Ne -- da drüben -- bei Borgmann! Teufel auch, Thumser -- der
+Durchzieher -- so was darfste öfters schlagen!«
+
+Was? Er -- Hans Thumser -- er hätte den S. C. Fechter -- --?
+Donnerwetter!
+
+An des Gegners Stirn klaffte ein breiter roter Spalt, aus dem zwei feine
+warme Strahlen spritzten --
+
+»'raus!« sagt drüben der Paukarzt.
+
+»Herr Unparteiischer, wir erklären die Abfuhr!«
+
+Borgmann stampfte vor Wut mit dem Fuß, als der Paukarzt von hinten mit
+kräftigem Griff seine Stirn zusammenpreßte und ihn herumdrehte. Was
+half's?
+
+»_Silentium_ -- Neo-Borussia erklärt Abfuhr nach anderthalb Minuten!«
+
+Als Hans Thumser sich aus dem Schwall der Glückwünsche seiner
+Korpsbrüder losmachte und Ausschau hielt -- war das Reiterpaar
+verschwunden.
+
+»Gratuliere!« sagte Erbprinz Heribert. »Fabelhaft, lieber Thumser, meine
+vollste Bewunderung! Haben Sie übrigens die Buchner gesehen?! Vollkommen
+tadelloses Mädchen ...«
+
+
+
+
+ 2.
+
+
+Wenn Hans Thumser auf ein Glück wartete, so machte die Ungeduld ihn
+krank, verdarb ihm jede Minute mit zehrender Sehnsucht. So war es schon
+immer gewesen, solange er sich seiner erinnern konnte. Die letzten
+Wochen vor dem Weihnachtsfest, vor dem Beginn der Sommerfrische waren
+ihm stets eine endlose Tortur gewesen ... Und als er später begonnen
+hatte zu empfinden, daß nur die Stunden wahrhaft lebenswert seien, in
+denen er mit einem gewissen braunbezopften Menschenkind unter einem
+Dache weilen durfte ... da war alles, was zwischen diesen Stunden lag,
+nur wie ein unermeßlich langer, böser, dumpfer Traum und Alpdruck
+gewesen ...
+
+Und so bedrückend, so angstumschnürt wälzten sich auch die Tage dahin,
+die Hansens Mensurtriumph noch von der Eröffnungsvorstellung des
+Meininger Gastspiels schieden. Er saß inmitten seiner Korpsbrüder,
+schwatzte und trank mit ihnen wie immer, ließ ihre Lobesbezeigungen mit
+der gleichen Gelassenheit über sich ergehen wie den boshaften Spott der
+Neider, es sei nur ein »Schweinedusel« gewesen, daß er den S. C.
+Fechter hinabgetan habe ... Er ließ auf offizieller Kneipe seine Füchse
+in die Kanne steigen, daß sie quietschten, und schrieb morgens bei
+Windscheid und Binding im Kolleg mit einem ganz ungewohnten,
+krampfhaften Eifer nach, als steure er auf ein Prädikatexamen los -- --
+und all dies Tun blieb seiner Seele so fern, so fern ...
+
+Manchmal fragte er sich, ob er wohl bei ganz gesundem Verstande sei --
+ob es nicht eine fixe Idee, ein krampfhaftes Wahngebilde sei, das ihn so
+grenzenlos hungern ließ nach -- nach einem Nichts, einem Spiel, dem
+flüchtigen Schattenbilde eines Dichtertraums ... Und dann wieder genoß
+er mit einer phantastischen Seligkeit sein Wesen, das ihn vom wachen
+Leben hinweg so unwiderstehlich in luftige Spukwelten drängte ...
+
+Nur die Stunden zählten wenigstens halb, die er am Fenster seiner Bude
+verbrachte, hinüberstarrend zur nüchternen Front jener Gebäude an der
+langweiligen Sophienstraße, hinter denen der kahle Bau des
+Carolatheaters sich barg. Dort war um die Vormittagsstunden ein
+lebhaftes Kommen und Gehen. Früh um neun begannen die Proben, natürlich
+nur für die neuangeworbene Statisterie, denn für die Solo-Rollen
+»standen« selbstverständlich alle Stücke des Repertoires. Aber die
+stattliche Schar des »Volkes«, die in jeder Stadt aufs neue
+zusammengebracht und gedrillt werden mußte, die wimmelte heran, füllte
+die sonst stille Straße mit Lachen und Geschwätz ... braunäugige Töchter
+kleiner Bürgersleute, stellungslose Ladenfräulein und Kommis,
+Stadtreisende und Konservatoristen -- vor allem aber Studenten,
+Studenten von jener Sorte, die der Waffenstudent eigentlich nicht
+mitrechnete, und die trotzdem die weitaus überwiegende Mehrzahl der
+akademischen Bürgerschaft bildete: die »Finken«, auch »Bummler« genannt,
+obwohl sie natürlich weit weniger bummelten als die jungen Herren in
+Mützen und Bändern ... gar zu gerne hätte Hans Thumser sich mit ins
+Gewühl der Statisten gemengt, um als »Volk« oder »Friedländischer
+Soldat« oder als römischer Quirite sich an den großen, festlichen
+Unternehmungen zu beteiligen, die da drüben vorbereitet wurden ... Und
+eines Tages hatte er sich's getraut, vor den Ersten hinzutreten mit der
+Bitte:
+
+»Sag' mal, Pilgram, wie ich höre, wirken eine ganze Menge Studenten in
+den Vorstellungen der Meininger als Statisten mit -- hättest Du was
+dagegen, wenn ich da ebenfalls mittäte?«
+
+Der Erste sah den Fuchsmajor mit einem Blick an, als bäte dieser um
+Erlaubnis, silberne Löffel zu stehlen.
+
+»Hör mal, Du, Dein Kopfschmiß von Sonnabend eitert wohl nach innen,
+he?!«
+
+Also damit war es nichts ... und so mußte man sich denn begnügen, von
+weitem zuzuschauen, wie die glücklicheren Kommilitonen, frei des
+korpsstudentischen Zwanges, nach Schluß der Probe froh erregt, mit
+glühenden Köpfen, lebhaft diskutierend dem Eingangstor des Theaters
+entströmten, um die namenlosen Kneipen aufzusuchen, in denen sie nach
+eigener Wahl und entsprechend der Rücksicht auf die Dimensionen ihres
+Monatswechsels verkehrten. Und inmitten dieser Beneidenswerten kamen
+auch die Helden und Heldinnen aus der Probe -- natürlich mußten ja auch
+sie wenigstens die Massenszenen immer wieder aufs neue mit probieren ...
+
+Und noch ein andres heimliches Fest blühte für Hans Thumser innerhalb
+seiner bescheidenen vier Wände, die glücklicherweise so dünn waren, daß
+sie manch ein Geräusch durchließen von jener geheimnisvoll lockenden
+Welt, die hinter ihnen sich barg: das Klappern zierlicher Pantöffelchen,
+das Rascheln seidener Röcke, keckes Mädchenlachen und halblautes
+Geschwätz, wenn Kolleginnen drüben zum Besuch kamen ... Aber noch immer
+war's ihm nicht geglückt, seine Nachbarin von Angesicht zu Angesicht zu
+sehen.
+
+Inzwischen baute Hans in seinem Herzen ein seltsam Kirchlein auf: droben
+war ein feierliches gotisches Heiligtum, in dem Jucunda Buchners weiße
+Gestalt auf ernstem Altare stand, von Weihrauch und Kerzengeflacker
+umspielt ... darunter aber, tief unter der Erde, barg sich eine dämmrige
+romanische Krypta, in der tolle Orgien verbotener, heidnischer Kulte
+nächtens gefeiert wurden vor einem üppig lächelnden Götzenbild -- seine
+Züge waren nicht genau erkennbar -- verschwammen im hüpfenden
+Fackellicht, das durch den Raum dunstete ...
+
+Aber Hänschen Thumser war nicht der Mann des tatenlosen Zuwartens. Es
+mußte etwas geschehen, die dumpfe Qual dieser sehnsüchtigen Tage zu
+verkürzen. Aber was? Immer wieder mündeten seine Pläne in die
+Erkenntnis, daß man einem jungen verwöhnten Mädchen -- und eine
+Schauspielerin konnte man sich ja doch nicht anders vorstellen als jung
+und verwöhnt, nicht wahr? -- daß man solch einem Liebling der Götter und
+Menschen nur nahen könne mit gebenden Händen ... und seine Hände waren
+leer ... der Monatswechsel heidt -- knapp noch das Nötigste für die
+letzten Tage vorhanden ...
+
+Auf einmal -- welch glorreicher Gedanke! Hänschen Thumser konnte ja
+etwas, das am Ende doch nur die wenigsten unter Asta Thönys Verehrern --
+gewiß hatte sie unzählige -- reiche Bankiersöhne und Gardeleutnants und
+-- na und solche Leute mit unerschöpflichen Portemonnaies -- aber gewiß
+konnten solche Leute meistens eines nicht, oder wenigstens nicht so gut
+wie Hänschen Thumser -- nämlich =dichten=!
+
+Juchhe! Hänschen hat kein Geld, um kunstvolle Blumenarrangements zu
+kaufen -- aber wunderschöne Verse kann er machen! -- Also los! ein Blatt
+aus dem Kollegheft gerissen und gereimt auf Deuwel komm heraus!
+
+ »Ich bin ein junger Korpsstudent,
+ Die Schuhe Lack, der Rock patent --
+ Korrekt und schick an mir ist alles --«
+
+lauter unbestreitbare Wahrheiten! aber nun kommt der Haken.
+
+ »-- im Portemonnaie nur haust der Dalles --«
+
+So -- immer frisch heraus mit dem sauren Bekenntnis, dann weiß Asta auch
+gleich, wie sie mit mir dran ist -- was sie von mir zu erwarten hat --
+und was nicht ...
+
+ »Doch da das Schicksal über Nacht
+ Zu Budennachbarn uns gemacht --«
+
+(Ach du liebes, gnädiges Schicksal du!)
+
+ »-- müßt' ich Dich eigentlich begrüßen,
+ Und Rosen legen Dir zu Füßen --
+ Wie gerne würd' ich mich erdreisten --
+ Doch leider --«
+
+Alle Wetter: das wird ja ein prachtvoller Reim:
+
+ »-- kann ich mir's nicht leisten ...«
+
+Nun ein zweites offenes Bekenntnis:
+
+ »Noch kenn' ich Dich, Du Schelmin, nicht,
+ Sah nicht einmal Dein Angesicht --
+ Nur --«
+
+Gott, bleiben wir doch schon bei der Wahrheit:
+
+ »-- hab' ich morgens früh gesehn
+ Vor Deiner Tür zwei Schuhchen stehn --
+ So winzig, duftig, elegant --«
+
+Hans! du imponierst mir! So viel edle Dreistigkeit hätt' ich dir gar
+nicht zugetraut -- aber freilich: auf dem Papier, und mit einer
+schützenden Scheidewand dazwischen -- -- Aug' in Auge würde das Debüt
+wohl etwas kümmerlicher ausfallen, wie? -- Aber weiter, weiter -- einen
+Reim auf »elegant« -- pah, Spielerei!
+
+ »-- daß gleich mein Herz in Flammen stand --«
+
+-- nein, das ist doch zu billig, zu abgeschabt:
+
+ »Da gab es Funken -- Flammen -- Brand!«
+
+Ja, es ist eine alte Sache: Verse werden immer am besten, wenn man ganz
+geradezu ausspricht, was wirklich passiert ist:
+
+ »Und seitdem träum' ich wahnbetört,
+ Von dem, was da hineingehört --«
+
+Ist das nicht ... doch ... gar zu unverschämt?! Ach was, mehr wie hauen
+kann sie schließlich nicht!
+
+ »Willst Du mir's auf den Nacken setzen,
+ Mir wär's ein sklavisches Ergetzen --«
+
+-- ne, das ist ein falscher Ton -- von der Sorte sind wir doch nicht! --
+
+ »Ach, dürft' ich's einmal -- einmal küssen --
+ Wirst mir's schon noch -- erlauben müssen --
+ O welche süße Phantasie --
+ Und ach -- probiert hab ich's noch nie -- --«
+
+Hans überlas das Geschriebene. Himmel, ist das schnurrig, wenn's auf
+einmal so in einem zu dichten anfängt! Ein ganz andrer Mensch kommt da
+plötzlich zum Vorschein als der, den man so im Leben darstellt ...
+
+Hatte er das wirklich geschrieben, er, der wohlerzogene Beamtensohn, der
+geschniegelte, korrekte Korpsstudent, der künftige Richter des Volkes?!
+
+Ach, und es gefiel ihm so gut -- daß er's ganz hastig und mit fliegenden
+Fingern ins Reine schrieb und kuvertierte ... dann stülpte er die grüne
+Mütze auf, lauschte, ob seine Nachbarin daheim sei ... und da er
+keinerlei Geräusch hörte, klinkte er im Vorbeigehen sachte die Tür zum
+Nebenstübchen auf und sah --
+
+Sah durch den Spalt eine zierliche Mädchengestalt in weißem Unterrock
+und weißem Frisiermantel schlafend aufs Sofa hingestreckt ... ein
+schwarzes Wuschelköpfchen ... und über den Rand des Sofas guckten ein
+paar schwarzbestrumpfte Füße, an denen zierliche rote Halbpantöffelchen
+baumelten ...
+
+Und schon hatte er mit einem Ruck den Briefumschlag mit seinen
+unverschämten Versen mitten in die Stube geschleudert, die Tür mit
+hartem Knall zugeklinkt -- und flog nun die Stufen hinunter -- die grüne
+Mütze war ihm in den Nacken gerutscht, seine Wangen brannten, und
+draußen zog er mit seinem spanischen Rohr einen Durchzieher durch die
+Luft, daß es nur so pfiff.
+
+
+Wie in Hans Thumsers unoffiziellem Herzen, so war auch in Valentin
+Pilgrams korrekter Chargiertenseele Revolution ausgebrochen, und auch
+die um einer Zimmernachbarschaft willen. Aber diese Revolution war doch
+von einer ganz anderen Sorte und gipfelte in der Erklärung, die der
+Senior in energischem Tone an die Frau Kanzleirat Buchner abgab: er
+kündige hiermit seine Bude und werde sofort ein andres Quartier suchen,
+wenn man den ruhestörenden Lärm und groben Unfug da nebenan nicht
+abzustellen die Mittel finden würde ...
+
+Und das war so gekommen:
+
+Valentin Pilgram stand im sechsten Semester. Er war bereits zwei
+Semester in Berlin inaktiv gewesen und nur nach Leipzig zurückgekehrt,
+weil er als Königlich sächsischer Untertan sein Referendarexamen in
+Sachsen ablegen mußte. Er war auf dringendes Bitten des C. C. zu Anfang
+des Semesters noch einmal wieder aktiv geworden und hatte die erste
+Charge interimistisch übernommen, weil kein anderer geeigneter
+Korpsbursch für diesen Posten da war, und der Vertreter des Marburger
+Kartellkorps, der die erste Charge später definitiv bekommen sollte,
+doch erst einmal in Leipzig und im Korps warm werden mußte.
+Interimistisch bekleidete dieser junge Herr die zweite Charge. Und so
+teilte Pilgram mit seiner ganzen feierlichen Gewissenhaftigkeit seine
+Zeit zwischen dem Korps und der Vorbereitung fürs Examen. Und in der
+letzteren war er nun plötzlich und gründlich unterbrochen worden durch
+ein grollendes Getöse, das aus der Nachbarkammer in seinen
+Studienfrieden hinüberklang, aus der Nachbarkammer, in der, wie er
+gelegentlich mit halbem Ohr vernommen hatte, die Tochter seiner
+Hauswirte, die herzoglich meiningische Hofschauspielerin Jucunda
+Buchner, für die Dauer des Gastspiels ihres Ensemble einquartiert
+worden war. Mitten in die Lektüre der Windscheidschen Drogenweltweisheit
+war da plötzlich eine sonore Altstimme hineingeklungen, zunächst in
+sachtem, murmelndem Repetieren, dann aber in selbstvergessen wildem
+Ausbruch:
+
+ »Und =einer= Freude Hochgefühl entbrennet,
+ Und =ein= Gedanke schlägt in jeder Brust --«
+
+Da war der reckenhafte _candidatus iuris_ mit einem Wutknurren
+aufgefahren ... aber umsonst: die sonore Stimme drinnen grollte weiter
+-- sänftigte sich nun zu herzbeklommener Klage:
+
+ »Doch mich, die all dies Herrliche vollendet,
+ Mich rührt es nicht, das allgemeine Glück,
+ Mir ist das Herz verwandelt und gewendet,
+ Es flieht von dieser Festlichkeit zurück ...«
+
+Aber bald schrillte sie wieder auf mit jähem Wehlaut, daß sich vor Wut
+und Entsetzen dem Rechtskandidaten die Gedärme umkehrten.
+
+ »Sollt' ich ihn tö--öten? Konnt' ich's, da ich ihm
+ Ins Auge sah? I--h--n tö--ö--öten? Eher hätt' ich
+ Den Mordstahl auf die eig'ne Brust gezückt!«
+
+Das war zuviel! Der Student riß einen seiner Lederpantoffeln von den
+Füßen und pfefferte ihn krachend gegen die Nachbartür.
+
+Einen Augenblick verblüffte Stille -- doch o weh -- sein Warnsignal war
+offenbar nicht verstanden worden -- schon nach wenigen Sekunden setzte
+das Gegroll und Gewimmer drüben wieder ein:
+
+ »Und bin ich strafbar, weil ich menschlich war?
+ Ist Mitleid Sünde?«
+
+»Nee!« brüllte Valentin Pilgram. »Mitleid is keene Sinde nich! Haben Sie
+ruhig Mitleid mit mir und halten Sie den Mund -- ich muß lernen!!«
+
+Einen Augenblick war drüben alles stumm -- todesstarres Schweigen. Und
+plötzlich fauchte ... ja fauchte, anders war's nicht zu nennen -- keifte
+-- ja man muß schon sagen, keifte die sonore Stimme von nebenan:
+
+»So? Lernen müssen Sie? Na -- ich auch ... stopfen Sie sich Watte in die
+Ohren!« Und noch dreimal mächtiger und markerschütternder grollte nun
+der majestätische Alt:
+
+ »Ist Mitleid Sünde? Mitleid! Hörtest Du
+ Des Mitleids Stimme und der Menschlichkeit
+ Auch bei den andern, die Dein Schwert geopfert?!«
+
+Da sprang Valentin Pilgram wütend auf, riß den Klingelzug, daß es
+schrill durch den Flur gellte, und als die stattliche runde Frau
+Kanzleirätin ganz entsetzt ins Zimmer schoß, schnauzte er sie an:
+
+»Was ist das für ein gottverfluchter Spektakel daneben? Wenn das nicht
+in fünf Sekunden aufhört, zieh' ich!«
+
+»Erlooben Se mal, mei gutester Herr Pilgram!« entrüstete sich die
+behäbige Dame im geblümten Morgenrock sehr energisch. »Se wissen,
+scheint's, nich so recht, mit wäm Se's zu tun ha'm! Das is Se nämlich
+meine Tochter, die große Jucunda Buchner von die Meininger -- die
+Jungfrau von Orleans!«
+
+»Und wenn je die Jungfrau Maria selber wär' -- hier verlang' ich meine
+Ruhe, versteh'n Se mich, Frau Kanzleirat?! Ich hab' diese Bude
+gefälligst zum Studieren gemietet -- versteh'n Se? Wir sind Se hier nich
+im Theater!!«
+
+»Se sollten Ihn' was schämen, Herr Pilgram, daß Se nich mal kenn'n
+bißchen Ricksicht nähm' auf Studium von eener gottbegnadeten Ginstlerin,
+wo ganz Leipz'g stolz drauf is!«
+
+»Wenn eener ä Vierteljahr vor'm Examen steht, dann hört die
+Rücksichtnahme ergebenst auf!« brüllte Pilgram. »Ich muß ooch studieren,
+aber mei Studium is wenigstens geräuschlos! Wenn Se e gottbegnadetes
+Mädchen zur Tochter haben, die beim Studieren einen Schkandal macht, wo
+die Mauern von Jericho von könnten einstürzen, dann vermieten Se
+gefälligst keene Buden an Studenten nich!«
+
+»Herr Pilgram -- wenn ich gewußt hätte, was für e ungeschliffener Mensch
+Sie sein kenn' -- nie wär'n Se mir ieber de Schwell gekomm', weeß
+Knebbchen!«
+
+»Mamaa!« tönte da plötzlich der sonore Alt aus dem Nebenzimmer, »rege
+Dich doch bitte ja nicht auf, Mamaaa! Der Herr mag ruhig ziehen -- ich
+komme Deiner Haushaltungskasse für den Schaden auf!«
+
+Frau Kanzleirat musterte den Studenten von oben bis unten mit einem
+Blick tiefster Verachtung. »Da heer'n Se's, Herr Pilgram! So benimmt
+sich e wahrhaft vornähmer Mensch! -- Also wenn Se zieh'n woll'n, ich hab
+Sie nich das mindeste dagegen -- lieber heut als morgen! Adieu, Herr
+Pilgram -- ziehen Se glicklich!«
+
+Und die stattliche Dame rauschte hinaus mit der Würde einer Königin. Die
+Schleppe des geblümten, nicht mehr ganz saubern Morgenrockes waberte
+hinter ihr drein.
+
+Valentin Pilgram aber blieb etwas benommen an seinem einsamen
+Studiertisch. Es war doch höchst fatal, nun so mitten in den
+Examensvorbereitungen das lieb gewordene Quartier gegen ein noch
+unbekanntes eintauschen zu müssen ... am Ende hätte er auch ein bißchen
+weniger hitzig sein können ... vielleicht mit einem guten Wort hätte
+sich die Sache viel besser einrenken lassen ... Aber das machte diese
+verfluchte Kandidatenstimmung, das Bangen vor diesem fahlen Gespenst,
+das am Ende der Studentenzeit hockte mit stieren Augen und sich ganz,
+ganz unmerklich immer näher heranschob ... da sollte der Teufel nicht
+nervös werden ... Was keine sausende Säbelklinge fertiggebracht hatte:
+das Schreckbild der drei Männer hinterm grünen Tisch hatte es erreicht:
+Valentin Pilgram hatte Angst ... und dieser Zustand, so ungewohnt, so
+unmöglich, der hatte ihn toll gemacht ... Eigentlich hatte er sich ja
+doch wirklich unqualifizierbar benommen ... es waren doch weibliche
+Wesen, beinahe Damen, mit denen er so gröblich umgesprungen ... zwar ein
+Kanzleirat war ein Subalternbeamter, und seine Frau gehörte nicht zur
+Gesellschaft ... und vollends eine Komödiantin ... aber wenn auch ...
+wenn auch ... Valentin Pilgram, ich glaube, dein Benehmen war durchaus
+nicht auf der Höhe der berühmten korpsstudentischen Direktion ... deren
+eifriger Hüter du selber so lange im C. C. gewesen ...
+
+Valentin wartete mit Spannung, ob nicht alsbald da drinnen wieder der
+dunkeltönige Alt mit dröhnendem Jambenschwall einsetzen würde ... er
+wartete mit Spannung und Verlangen ... das Fortdauern der Störung wäre
+wie eine nachträgliche halbe Entschuldigung seiner Hitze gewesen ...
+aber er wartete umsonst. Alles blieb still darinnen. Er hätt' also
+triumphieren, den ertrotzten Arbeitsfrieden eifrig büffelnd genießen
+können ... aber seltsam ... die richtige Streberstimmung wollte nicht
+wiederkommen ...
+
+Teufel auch, Valentin Pilgram, du hast doch nicht etwa einen
+»Moralischen«?
+
+Franconias Senior stand langsam auf und räumte Drogenweltlehrbuch und
+Repetitorien zusammen. Er stülpte die grüne Mütze auf den strohblonden
+Schädel und stieg sinnend die altehrwürdigen Holzstiegen hinab auf die
+»Kleine Fleischergaß«. Drüben im ersten Stockwerk des »Cafébaums« winkte
+über dem in Sandstein gemeißelten Amor, der schon seit Jahrhunderten
+einem gleichfalls sandsteinernen Türken »e Schälchen Heeßen« kredenzte,
+winkte Franconias Wappenschild, lockte, unter den morgendlich geöffneten
+Fenstern des Kneipzimmers, im Morgengolde sich bauschend, das
+grün-gold-rote Banner ... aber der Erste stieg nicht hinauf. Er ging
+auch nicht auf Wohnungsuche: er tat etwas, was er im Leben noch nicht
+getan hatte: er ging zur Universität und kämpfte inmitten eines
+Massenandranges von Kommilitonen, ganz gewöhnlichen Nichtinkorporierten,
+um ein Studentenbillett zur morgigen Eröffnungsvorstellung der Meininger
+-- zur »Jungfrau von Orleans« ...
+
+
+Ecke Roßplatz, und Roßstraße, vor dem Hotel Hauffe, in dessen erstem
+Stockwerk der _studiosus iuris et cameralium_ Heribert Hans Herwig
+Erbprinz von Nassau-Dillingen mit seinem militärischen Begleiter und
+seiner Dienerschaft die ganze Zimmerflucht an der Straßenfront inne
+hatte, harrten frühmorgens um sechse zwei Reitknechte in Livree mit drei
+prächtigen Gäulen. Sie plauderten mit dem galonierten Portier.
+
+»Nanu?« meinte der Hotelgestrenge, »schon wieder? Ihr seid ja
+Frühuffsteher geworden uff eemal?«
+
+»Was will mer mache?« meinte der ältere der herzoglich nassauischen
+Pferdepfleger. »Unser junger Herr hat widder mal e funkelnagelneies
+Veegelche g'fange ...«
+
+»Ei herrjemerschnee!« machte der Portier. »Was das nur zu bedeiten hat?
+Das is doch ganz unnatierlich fier so 'n jungen Herrn -- Morgen fier
+Morgen drei Stunden durch den Wald zu flitzen un sich den Schlaf um die
+Ohr'n zu schlagen ...«
+
+»Ich glaub, ich weeß, was da derhinner steckt!« meinte der jüngere
+Bursche. »Ich hab' neilich so ebb's uffg'schnappt, wie se beim Reite
+g'sproche habe. Er und der Major!«
+
+»Da wär' ich Ihn' aber doch wahrhaft'g neigierig!« kicherte der Portier
+und schob sich von seiner Treppe hinunter auf den Bürgersteig.
+
+»Nu -- e Weibsbild steckt da derhinner!« triumphierte der Reitknecht.
+»Ich hann's neilich ganz g'nau geheert: Lasse mer heemreite, hat der
+Major g'sagt -- heit morge finne mer se doch nit -- hat er g'sagt!«
+
+»I nee so was!« staunte der Portier. »Un dann sind se wärklich alle zwee
+heemgeritten?«
+
+»Ja -- ganz wahrhaftig sinn se heemg'ridde!«
+
+»Wer das bloß sinn mag?« meinte der Portier. »Gewiß ganz was Vornähmes
+-- sonst tät der gnädige Herr doch gewiß nich so viel Umstände dann
+machen um so e Weibsbild!«
+
+»Pscht -- die Herre komme!«
+
+Der Erbprinz federte mit dem natürlichen Schwung seiner einundzwanzig
+Jahre in den Sattel -- der Major mit der wohlkonservierten, doch
+immerhin etwas gewollteren Elastizität seiner zweiundvierzig. Und im
+Schritt ging's die gutgepflasterten Straßen der erwachenden Großstadt
+hinab, am massiven Bau und klobigen Rundturm der Pleißenburg vorüber bis
+zu den Anlagen jenseits des Flüßchens, wo man antraben konnte.
+
+»Wenn Sie ahnten, Durchlaucht, wie komisch Ihnen die Maske eines
+schmachtenden Toggenburg steht -- Sie würden sich selber erheblich
+auslachen!« meinte Herr von Gorczynski.
+
+»Gott, wenn mir's doch Vergnügen macht, lieber Major -- lassen Sie mir
+schon den kindlichen Spaß!«
+
+»Ich versteh' Sie nicht, Durchlaucht -- Sie benehmen sich wie ein
+Sekundaner von einem Kleinstadtpennal und nicht wie ein Fürst ... So'n
+Theatermädel ... der schickt man doch einfach ein Rosenarrangement und
+seine Visitenkarte -- und das Weitere findet sich!«
+
+Ueber das blasierte Knabenantlitz des Erbprinzen flog ein flüchtiges
+Rot. »Wenn ich glaubte, bei der Buchner ginge das auch so, dann pfiff'
+ich auf das ganze Abenteuer. Die Nummer kenn' ich nun allmählich! Die
+Weiber, die sich kommandieren lassen, die hab' ich satt! Ich möchte
+einmal ein Erlebnis haben -- ein richtiggehendes Erlebnis!«
+
+»Na, auf Ihre Manier werden Sie's höchstens bis zu einem richtiggehenden
+Korbe bringen!« meinte der Major. »Ein Mann, der schmachtet, hat von
+vornherein alle Chancen verloren! Selbst wenn er der Erbprinz von
+Nassau-Dillingen wäre!«
+
+»Ich will aber diesmal überhaupt nicht der Erbprinz von Nassau-Dillingen
+sein! Versteh'n Sie mich, Herr Major?! Es paßt mir nicht, immer nur auf
+das Prinzenkonto geliebt zu werden! Schließlich bin ich doch ganz
+simplement als junger Mann nicht zu verachten, wie? Sehen Sie -- und das
+möcht' ich mal ausprobieren! Ich hab' mir's nun mal in den Kopf gesetzt!
+Und gestern hab' ich der Buchner ein Rosenarrangement geschickt mit
+einem Kärtchen, auf das ich nichts weiter geschrieben habe als: Herbert
+von Dillingen, _studiosus iuris et cameralium_!«
+
+»Na, ich sag's ja, Durchlaucht! Sie sind auf dem besten Wege, einen
+hahnebüchenen Unsinn aufzustecken! Aber was ich Ihnen sage: Ich habe
+Ihnen viel durch die Finger gesehen -- aus unerschütterlicher Liebe zu
+Ihnen --«
+
+»Na ja, aus unerschütterlicher Liebe zu mir. Und weil Ihnen Ihr gesunder
+Menschenverstand sagt, daß Sie aller Voraussicht nach unter Bernhard dem
+Sechzehnten noch zehn Jahre, unter Heribert dem Vierzehnten aber, will's
+Gott, den ganzen Rest Ihrer Erdenlaufbahn abzuleisten haben werden!«
+
+»Oh -- aber Durchlaucht!« sagte der Major und legte mit pathetischer
+Bewegung seine Hand auf jene Stelle seines Busens, unter der man den
+Sitz seiner unerschütterlichen Liebe zu seinem jungen Herrn und Zögling
+annehmen mußte.
+
+»Bitte, lieber Gorczynski -- stürzen Sie sich nicht in Unkosten -- ich
+denke, wir beide kennen uns!« lachte Erbprinz Heribert.
+
+»Ernsthaft gesprochen, Durchlaucht!« sagte der Major etwas verärgert,
+indem er seinen Gaul in Schritt fallen ließ, »ich lasse Ihnen jede
+harmlose Affäre durchgehen -- wenn sich aber etwas Ernsthaftes anspinnt,
+berichte ich _a tempo_ nach Dillingen! Ihr erlauchter Herr Vater hat
+mich kategorisch dahin instruiert: keine Weibergeschichten! Und ich
+glaube diese Instruktion ganz im Sinne meines gnädigen Herrn
+aufzufassen, wenn ich --«
+
+»Wie kann man sich nur so sinnlos aufregen, mein Teuerster! Also weil es
+mir Vergnügen macht, mal ein paar Vormittage im Leipziger Ratsholz
+spazieren zu reiten, und weil ich dabei gelegentlich die Hoffnung
+ausgesprochen habe, einen gewissen grauen Schleier noch einmal wehen zu
+sehen, wittern Sie bereits allerlei Tragödien!«
+
+»Ich gestatte mir, Durchlaucht, mich auf meine Menschenkenntnis zu
+berufen. Es ist wider die Natur, wenn ein von seinem gnädigen Herrn
+Vater mit überaus auskömmlicher Apanage ausgestatteter und dank meiner
+überaus riskierten Nachsicht bereits einigermaßen erfahrener junger
+Prinz einer Theatermamsell wegen, die er ein einziges Mal von weitem
+gesehen hat, an drei nacheinanderfolgenden Tagen um fünf statt um neun
+Uhr aufsteht. Wenn ich das nach Dillingen berichte, gibt's eine
+Katastrophe! Hab' ich nicht recht?«
+
+»Von weitem gesehen?« schmunzelte der Prinz. »Ich habe mir bereits
+eingehenderes Material verschafft!« Und er holte einen großen Umschlag
+aus seiner Rocktasche, reichte ihn von Schimmel zu Rappen zum Major
+hinüber. Dem fielen beim Oeffnen drei Bilder in die Hand: es waren
+Darstellungen eines jungen Mädchens; zunächst im Straßenkleide --
+Pelzjäckchen, Barett, Muff -- und dann im Eisenharnisch mit bloßem
+Haupt, aufgelösten Haaren, ein Schwert und eine Fahne in Händen --
+und endlich im Samt, mit riesigen Puffenärmeln, das Gesicht von
+langen Ringellocken umwallt und von einem starren weißen Rundkragen
+eingesäumt ...
+
+»Kreuzmillionen --!« entfuhr es dem Major. »Das ist --?!«
+
+»Das ist -- =sie=,« sagte der Erbprinz, und über seinem fahlen
+Lebemannsangesicht lag eine Sekundanerröte, die dem Major völlig fremd
+war an seinem Zögling. Er starrte den jungen Mann an, als sehe er ihn
+zum erstenmal.
+
+Verdammt -- also so stand die Sache?! Nun hieß es aber wahrhaftig
+aufpassen ...
+
+Der Major reichte die Bilder zurück. »Na ja,« sagte er im Tone völliger
+Wurstigkeit, »die Buchner ... Gott, warum nicht? Wenn Sie sich auf die
+nun mal kaprizieren, Durchlaucht -- von meiner Seite aus steht nichts im
+Wege! Nur fangen Sie's vernünftig an und halten Sie sich nicht zu lange
+bei der Vorrede auf! Also wir werden sie auf -- na sagen wir auf morgen
+abend, heut nach der Premiere wird sie schwerlich abkömmlich sein -- wir
+werden sie auf morgen abend zum Souper einladen -- sie mag noch eine
+Kollegin mitbringen -- und dann entwickelt sich alles weitere glatt und
+prompt historisch!«
+
+Der Erbprinz antwortete nicht. Er gab dem Gaul die Schenkel, und zwar so
+heftig, daß das rassige Tier ganz erschrocken zusammenfuhr und dann in
+tollen Sätzen von dannen raste. Der Major flitzte hinterdrein und
+überlegte im Hinsausen, ob er das als eine Zustimmung zu seinem
+Vorschlage aufzufassen habe.
+
+Auf jeden Fall -- geschehen mußte es. Und wenn sein Schützling, ein
+wenig verspätet allerdings -- na, wie nannte man das noch -- hm, hm!
+sein -- sagen wir also: Herz entdeckt hätte -- dann möglichst schnell
+diese kleine Entgleisung auf den Normalweg zu dem üblichen, gefahr- und
+schmerzlosen Ausgang leiten ... So befahl es Pflicht und Instruktion ...
+
+Und in Gedanken redigierte er folgendes Billett, das er heut abend bei
+der Premiere mit einer aufmunternd luxuriösen Blumenspende auf die Bühne
+lancieren wollte -- heut abend? Nein -- da würde die Aktion vermutlich
+ihren Effekt verfehlen -- würde untergehen in einem Wust und
+Ueberschwall ... nein, morgen früh zum Frühstück -- das wird das
+richtige sein! Also ungefähr folgendermaßen würde er schreiben:
+
+
+ »Mein sehr verehrtes _etcaetera_! Zwei aufrichtige und hingerissene
+ (gerissen ist sehr gut!) Verehrer Ihrer Kunst würden es sich zur
+ höchsten Ehre und Freude rechnen, Ihre nähere Bekanntschaft _etcaetera
+ etcaetera_. Wir wagen deshalb die dreiste Bitte, daß es Ihnen,
+ Verehrungswürdige, gefallen möge, morgen, Donnerstag abend, nach der
+ ersten Wiederholung der »Jungfrau« mit uns im Hotel Hauffe zwanglos zu
+ soupieren ... Sollten Sie unter Ihren liebenswürdigen Kolleginnen eine
+ nähere Freundin haben, die es nicht verschmähen würde, eine Stunde in
+ harmlos vergnügter Gesellschaft _etcaetera_, so würde uns das eine
+ ganz besondere _etcaetera_ ... In Voraussetzung Ihrer Zustimmung
+ werden wir uns erlauben, nach Schluß der Vorstellung ein Coupé zur
+ Verfügung der Damen am Bühneneingange _etcaetera_. Mit der
+ Versicherung unserer vollkommensten Bewunderung Ihre aufrichtigen
+ Verehrer
+
+ v. Dillingen. v. Gorczynski.«
+
+Na ja -- das übliche Schema -- das nie versagende ... pöh ... eine
+Komödiantin ... wenn's weiter nichts ist ...
+
+Und schließlich die Hauptsache: zwei blaue Lappen hinein -- für jede
+einen -- damit die guten Kinder auch gleich merken, daß man ernsthafte
+Absichten hat -- nicht wahr?
+
+
+
+
+ 3.
+
+
+Am Mittwoch nachmittag um fünf war der allwöchentliche Seniorenkonvent:
+die Zusammenkunft der Korpsburschen sämtlicher Leipziger Korps. Sie fand
+auf der Kneipe des präsidierenden Korps statt: zurzeit war's
+Neo-Borussia, die ihr Heim in nächster Nähe der Franken aufgeschlagen
+hatte, im ersten Stock eines gleich uralten, verräucherten,
+verwahrlosten Kneiphauses, wie der altberühmte Cafébaum eins war, in dem
+Franconia residierte. Es stand irgendeine der welterschütternden Fragen
+auf der Tagesordnung, um welche sich ein hoher S. C. an jedem Mittwoch
+Nachmittag die Köpfe zu zerbrechen pflegte. Diesmal lag vor -- na was
+noch? -- lag vor ein Antrag von Misnia und Thuringia, ein wohllöblicher
+S. C. wolle beschließen, daß die Klingen der Mensurspeere an der Spitze
+in Zukunft nicht mehr rechtwinklig und scharfkantig abgeschliffen
+würden, wie es bisher üblich war, sondern abgerundet ... Infolge des
+eckigen Schliffs waren nämlich an den letzten Bestimmtagen ein paar so
+hahnebüchene Knochensplitter herausgekommen, daß die Paukärzte
+kategorisch Wandel verlangten: die Klingen sollten in Zukunft an der
+Spitze halbkreisförmig geschliffen werden ... Das war natürlich ein
+Problem von fundamentaler Bedeutung, und so erhitzten sich die Gemüter
+immer mehr und mehr, immer stärker wurde der Bierkonsum, immer massiver
+der Zigarren- und Zigarettenqualm ... und immer hastiger rückte der
+Zeiger jener Stunde zu, da im Carolatheater das Gastspiel der Meininger
+beginnen sollte ... Theater -- pah! Wer hat Zeit, ans Theater zu denken,
+wenn der bittre Ernst des Lebens einen im Bann hält?
+
+Einer hatte Zeit: der schlanke Fuchsmajor der Franken natürlich -- er
+saß auf Kohlen und hätte sich mit Vergnügen bereit erklärt, sich am
+Sonnabend auf Mensur mit einem kantig geschliffenen Speer ein halbes
+Dutzend Knochensplitter aus dem Schädel hauen zu lassen, wenn er dadurch
+diese entsetzliche Debatte hätte abkürzen und den Anschluß an den Beginn
+der Vorstellung hätte erreichen können ...
+
+Endlich wagte er ein Aeußerstes. Er ging leise zum Ersten hinüber,
+neigte sich und flüsterte ihm -- der mit aller Nervenanspannung der
+hitzigen Rede seines Gegenpaukanten vom vergangenen Sonnabend, des
+Meißner Zweiten, folgte -- flüsterte ihm ins Ohr:
+
+»Pilgram, ich darf Dich vielleicht daran erinnern, daß Durchlaucht mich
+auf heut abend in seine Loge eingeladen hat -- da darf ich doch
+keinesfalls zu spät kommen ... würdest Du wohl gestatten, daß ich den
+S. C. verlasse?«
+
+»Du bist verrückt!« knurrte Pilgram halblaut. »S. C. geht doch vor allem
+andern vor! Du siehst, ich muß ja auch aushalten!«
+
+»Du --?! Ja, wie soll ich das verstehen, Pilgram? Gehst Du ... denn auch
+... ins ...«
+
+Der Erste errötete tief. Es war ihm herausgefahren, das Geheimnis,
+dessen er sich vor allen Korpsbrüdern schämte: daß der traditionelle
+Feind aller neun Musen sich ein Theaterbillett erstanden hatte -- und
+noch dazu eine Studentenkarte zu einer Mark und zwanzig Pfennigen, um
+gänzlich unstandesgemäß -- selbstverständlich im Bummel, also im
+tiefsten Inkognito -- zwischen allerhand proletigen Kommilitonen, das
+Parterre, ganz hinten, zu bevölkern -- sintemalen und alldieweilen es
+auch bei ihm am Monatsschluß nicht mehr zu dem für das Korps
+vorgeschriebenen Platz im ersten Rang hatte reichen wollen ...
+
+»Allerdings -- ich geh' auch!« zischte Pilgram. »Wir gehen nachher
+zusammen -- aber im S. C. wird ausgehalten, und wenn uns die ganze
+Affenkomödie durch die Lappen gehen sollte!«
+
+Vor solchem Pflichteifer verstummte Hans Thumser -- völlig erschüttert
+... Freilich, was galt diesem Banausen die Versäumnis eines, zweier,
+dreier Akte Schiller! Wie mochte der bloß auf die Idee gekommen sein,
+ins ... Hallo -- sollte da am Ende ein ... trotz allem ... erwachtes
+Interesse für seine berühmte _filia hospitalis_?! Alle Wetter -- das war
+am Ende doch wohl die einzige Erklärung!
+
+Und während ein wohllöblicher S. C. sich weiterhin über krummen oder
+geraden Schliff der Klingenspitzen aufregte, griff Hans Thumser alle
+fünf Minuten heimlich nach seiner Taschenuhr ... halb sieben -- --
+sieben Uhr jetzt -- verflucht! War denn diese verdammte Zwiebel rasend
+geworden? Und nun -- nun war es auf einmal halb acht -- in diesem
+Augenblick hob sich da unten fern in der Südstadt, in der Sophienstraße,
+der Vorhang zum Prolog, und der biedere Thibaut d'Arc verlobte seine
+zwei ältesten Töchter ... Nun stand sie auf der Bühne -- sie, die
+Madonna aus der oberen Kirche seines Herzens ... noch im schlichten
+Kleide der Bäuerin, doch schon überlagert vom tragischen Schatten ihrer
+göttlichen Sendung ...
+
+»Meine Herren,« sagte der Vorsitzende, Herr Borgmann, Neo-Borussiae, die
+linke Stirnseite noch immer von mächtigem Wattebausch unter schwarzer
+Kompresse bedeckt, da, wo Hans Thumsers kecker Durchzieher ihm wider
+alle Vorsicht Schwarte, Knochenhaut und alle Aeste der Temporalis
+durchgesäbelt -- »meine Herren, meiner Ueberzeugung nach würden wir uns
+vor sämtlichen Glocke schlagenden S. C. eines hohen Kösener unsterblich
+blamieren, wenn wir als einziger S. C. den allgemein üblichen
+scharfkantigen Schliff abschaffen wollten -- und zwar aus einer
+Anwandlung von Humanitätsdusel heraus, der für mein Empfinden einen
+bedenklichen Beigeschmack von Kneiferei hat --«
+
+»Ich bitt' ums Wort!«
+
+»Ich auch! Ich auch!« so scholl's heftig aus der Korona.
+
+»Silentium für Herrn von Schubart, Misniae!« sagte Borgmann gelassen.
+
+»Ich muß mir aufs entschiedenste verbitten,« schrie Herr von Schubart,
+der Zweite der Meißner, in den Zigarrenbrodem hinein, »daß der Herr
+Erste Chargierte des präsidierenden Korps von einer Maßregel, die mein
+C. C. befürwortet, erklärt, sie habe einen Beigeschmack von Kneiferei!
+Ich verlange, daß der Herr Vorsitzende diese Aeußerung mit dem Ausdruck
+des Bedauerns zurücknimmt -- andernfalls behält sich mein C. C. weitere
+Schritte vor, sowohl gegen einen wohllöblichen C. C. des präsidierenden
+Korps als auch gegen Herrn Borgmann persönlich!«
+
+Dreiviertel acht --! wimmerte Hans Thumsers sehnsüchtige Seele -- und in
+seinem Herzen klang's:
+
+ »Nichts von Verträgen! nichts von Uebergabe!
+ Der Retter naht, es rüstet sich zum Kampf --
+ Vor Orleans soll das Glück des Feindes scheitern,
+ Sein Maß ist voll, er ist zur Ernte reif!«
+
+Thuringia schloß sich den Erklärungen Misnias an; Guestphalia schwankte,
+während Franconia und Neo-Borussia gemeinschaftlich gegen den Antrag auf
+Abänderung des Klingenschliffs auftraten. Unter allgemeiner Erregung
+schritt der Vorsitzende endlich um zehn Minuten vor acht zur Abstimmung,
+und nun fiel Guestphalia definitiv zur Partei des runden Schliffs.
+Franconia und Neo-Borussia waren überstimmt: die holde Menschlichkeit
+oder, wie Herr Borgmann Neo-Borussiae es nannte, der Geist der Kneiferei
+hatte gesiegt ... Und mit dem Zigarrenrauch hingen unzählige P. P.
+Suiten und Säbelforderungen in der Luft ... Morgen früh zum Frühschoppen
+würden sie explodieren ...
+
+»Nu aber raus!« zischte Pilgram seinem Korpsbruder zu. »Weh Dir, wenn Du
+den andern was davon sagst, daß ich ins Theater geh -- offiziell büffle
+ich heut abend!«
+
+Drunten wartete des Ersten Chargierten der Korpsdiener mit Hut und
+Regenschirm. Pilgram riß ihm beides aus der Hand, zog Mütze und Band ab
+und übergab sie dem Getreuen. Thumser, der vornehm in der
+Proszeniumsloge sitzen würde mit dem Erbprinzen, blieb natürlich in
+Couleur. Und in rasendem Tempo hasteten nun die beiden Studenten die
+kleine Fischergasse hinab.
+
+Auf dem Alten Markt standen Droschken aufgefahren. Die Wanderer warfen
+einen wehmütigen Blick hinüber:
+
+»Wenn's doch schon der Erste wäre!« knirschte Hans Thumser.
+
+»Beine in die Hand!« knurrte Pilgram.
+
+
+Als Hans Thumser sich auf Zehenspitzen in die Proszeniumsloge schob,
+hatte der erste Akt bereits begonnen. Der Erbprinz und der Major wandten
+kaum zu flüchtiger Begrüßung die Köpfe -- schon waren sie im Bann. Und
+hinter den schwarzen Silhouetten der Vordermänner sah Hans nur mit einem
+flüchtigen Blick die von der Bühne her matt erleuchteten vordersten
+Reihen des Publikums im Parkett -- lauter Gesichter, im Lauschen und
+Schauen erstarrt. Und schon schlugen auch über ihm die Wogen zusammen.
+
+Ein hoher gotischer Saal am Hoflager König Karls von Frankreich. Düstere
+pfeilergetragene Holzdecke, die Wände eichengetäfelt, darüber Gobelins
+mit steifen Reihen buntgewandeter Ritter und Edeldamen. Und ganz
+tief hinten ein buntes Fenster, durch das sich ein paar verirrte
+Sonnenstrahlen stehlen. Und mit zweien Getreuen der unglückliche
+weichherzige König, dessen Knabenhand wohl seine Agnes Sorel zu kosen
+vermag, nicht aber die Zeit, die aus den Fugen gegangen, wieder
+einzurenken ... drei Ratsherren knien vor ihm, seine vielgetreuen Bürger
+von Orleans, und flehen um Hilfe, um Entsatz ihrer hartbedrängten Stadt
+... Verzweiflungsvoll ringt der König die kraftlosen Arme:
+
+ »Kann ich Armeen aus der Erde stampfen?
+ Wächst mir ein Kornfeld in der flachen Hand?«
+
+Doch sieh: ein Lichtstrahl zittert in das Dunkel der Szene: Die Geliebte
+kommt: Sie bringt opfermutig all den blinkenden kostbaren Tand, den ihr
+König in süßen Stunden ihr um den Nacken gewunden ... Ein
+schwarzlockiges, schmiegsames, kätzchenweiches Geschöpfchen ... Ihre
+Augen schimmern in koketten Tränen, ihre Hände, weich und rosig wie
+Frühlingswolken, umschmeicheln den Freund, noch in der Angst der
+Verzweiflung liebeheischend, sehnsuchtsweckend ...
+
+ »Agnes Sorel ... Asta Thöny«
+
+sagt der Theaterzettel. Herrgott ... das ist sie ...
+
+Und einen Moment ist Hans Thumser wieder Hans Thumser ... Er tastet nach
+seiner Brusttasche, wo ein etwas zu stark parfümiertes rosa Billetchen
+steckt: Die Worte, die es enthält, ach, die kann er auswendig, im
+Träumen, von vorn und von hinten:
+
+ »Nach zierlichen Schuhchen und dem, was drin steckt,
+ Liegt mancher Fuchs auf der Lauer --
+ Eintritt verboten! Hier wird nicht geschleckt!
+ Füchschen, die Trauben sind sauer!«
+
+Also -- das ist sie ... das ... Füßchen werden nicht vorgezeigt, nur
+zwei zierliche Goldspitzen lugen im Schreiten ab und an für einen
+winzigen Moment unterm schweren Brokat des gotisch starren Gewandes
+vor ... dafür aber läßt dies neidische Gewand einen Hals frei ... einen
+Hals ... o Gott, o Gott ...
+
+Einen Augenblick ist Hans Thumser Hans Thumser -- der sehnsüchtige Knabe
+an der Schwelle des Lebens ... nur einen Augenblick ... und schon wieder
+ist er ... niemand und alles ... nur Auge, nur weitgeöffnet schauendes
+Gottesauge -- nur Seele, alliebende, alldurchdringende Weltseele ...
+
+Höher schwillt die Flut des Entsetzens um den verlorenen Königsknaben
+und sein zitterndes Lieb ... Eine Hiobspost jagt die andere, das Maß des
+Ertragens ist voll, sein Land und seine Ehre gibt der Schwache preis,
+und empört fallen die letzten seiner Getreuen von ihm ab ... Verlassen
+steh'n die beiden Kinder ...
+
+Da auf einmal ... kommt einer der Entwichenen zurück ... auf seinem
+zuckenden Gesicht, seinen stammelnden Lippen glüht ein Wort ... ein
+Wort, das längst ins Fabelland entschwunden schien ... das Wort:
+=Sieg= ...
+
+Und sieh -- da führen die edlen Herren aus des Königs Gefolge einen
+riesigen Krieger heran: einen Ritter im zerhauenen, blutbekrusteten
+Harnisch: ein blutiger Fetzen windet sich um seine kampfglühende Stirn,
+aus seinem blutunterlaufenen Auge lodert das gleiche Zauberwort: das
+unfaßbare: Sieg ... Sieg ...
+
+Und atemlos, stockend oft und nun in wahnwitzigen Jubel ausbrechend,
+kündet er die phantastische Mär:
+
+Das Wunder ist herabgestiegen vom Himmel ... Ein weißes Mädchen ist in
+die Mitte der umzingelten Franzosen getreten -- hat dem Fahnenträger das
+Banner entrissen und an der Reisigen Spitze sich in den Feind gestürzt!
+
+ »Ein Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen!«
+
+Und daß fassungsloser Unglaube kniebeugender Glaube werde -- -- wird sie
+selber kommen! wird kommen -- hierher, an diese Stelle, auf der wir
+stehen, harrend, bis ins Mark erschüttert und dennoch zweifelnd ...
+
+Und horch! Schon kündet sich's an: Da draußen, in den fernen Gassen der
+Stadt, hören wir den Lärm eines jäh triumphierenden Empfangs ... Näher
+und näher kommt das festliche Getös ...
+
+Und da -- da fangen ja die Glocken von allen Türmen plötzlich an zu
+schwingen ... und heller tönt draußen das tolle Jauchzen der
+Begeisterung ... und nun stürzen sie alle, die in der dumpfen, ragenden
+Kammer weilen, in kindischer Hast ans Fenster da hinten und beugen sich
+hinaus, und sieh, sie sehen's schon, das Wunder, das Unmögliche -- sie
+schreien und winken und schreien --
+
+Und horch, nun stürmt's da draußen die Stufen hinauf, nun stürzt, nun
+strömt es herein. Ratsherren und Rittersleute und Bürger und Weiber und
+Soldknappen und Kindervolk und ... eben Menschen, schreiende, tobende,
+vor Erlösungstaumel sinnlose Menschen ... Vor dem König, der mit der
+Geliebten, zitternd, schwindelnd, da vorn geblieben, werfen sie sich auf
+die Knie, in den Staub, heulen und jauchzen: Sieg! Sieg! Sieg!
+
+Und nun -- nun öffnet sich auf einmal, wie die Flut des Roten Meeres vor
+dem Durchzug der Kinder Israel, so klaffend öffnet sich durch die
+Menschenflut eine Gasse ... und durch die Gasse ... schwebenden
+Schrittes ... kommt ... sie ...
+
+Kommt ein weißes Mädchen, nein, kein Mädchen, kein Mensch ... ein
+Gedanke, ein Gottgedanke, der Gedanke der Erlösung, der Gerechtigkeit,
+der Freiheit, des Vaterlandes ...
+
+Und steht so vor dem König ... das Ewige, das Heilige, das Unendliche
+selbst ...
+
+Und doch ... nur ein Mädchen ... ein junges, weißes Weib ...
+
+
+In der winzigen Garderobe, rechts vom Schauspieler, auf der Frauenseite,
+wartete Mutter Buchner ihrer berühmten Tochter. Sie hatte es sich zwar
+nicht versagen können, sich von einem Eckplatz des Parketts aus an
+Jucundas Spiel, den neidisch-ehrfurchtsvollen Blicken der Bekannten, dem
+Jubelsturm des Publikums zu weiden; aber am Anfang des zweiten Aktes,
+das wußte sie, trat Jucunda nicht auf, und da drängte es sie in die
+Garderobe ihres Kindes, um ihr Zofendienste zu leisten. Ach, am liebsten
+wäre sie ja von Ort zu Ort mitgereist ... Wenn ein Mädchen so ungeheuer
+viel Talent hatte ... und so gut gewachsen war -- na, man wußte ja, von
+wem sie das hatte! -- und so heißblütig -- ach Himmel, man war ja selber
+auch mal jung gewesen! -- Das war ja ganz selbstverständlich, daß die
+Mannsbilder hinter so einer her waren wie verrückt -- da hätte man ja
+doch als Mutter eigentlich auf Schritt und Tritt aufpassen müssen ...
+Aber da war ihr Alter, der Herr Rat ... der konnte ja nicht leben ohne
+seine Doris ... Na, solange das Kind in Leipzig war, sollte es
+wenigstens fühlen, was man an einer Mutter hat ... Und kaum war der
+Vorhang nach dem ersten Akt gefallen, da flog -- während das Publikum
+noch immer tobte, die Gardine auf und nieder tanzte, die Darsteller sich
+immer und immer wieder süß lächelnd verneigten -- flog Mutter Doris aus
+dem Zuschauerraum zu dem bekannten Pförtchen, das nur denen vom Bau sich
+öffnet, hastete die steinerne Treppe hinauf in das winzige, von
+Schminke, Puder und Menschendunst geschwängerte Kämmerchen und wendete
+das gewärmte Hemd, das auf der Heizung bereit hing ... Denn wie ihre
+Jucunda schwitzte bei so'ner großen Szene, das war schon nicht mehr
+schön ... Von Kopf bis zu Füßen mußte sie die Unterwäsche wechseln
+jedesmal, wenn irgend Zeit blieb ... Freilich, wie das Mädchen sich auch
+ins Zeug legte ...
+
+Und nun kam sie -- kochend, dampfend, wie aus dem Backofen ... fiel in
+den Frisierstuhl und streckte alle Viere von sich ... Frau Doris umarmte
+sie zärtlich und drückte ihr einen begeisterten Mutterkuß auf die
+triefende Stirn ...
+
+»Schinderei, verfluchte!« pustete Jucunda. »Wie aus dem Wasser gezogen
+ist man -- und das schon nach dem ersten Akt! Schnell, Muttel, die
+Lappen runter und frische Wäsche! Ich komm' ja um!«
+
+In der Tür der Garderobe drängten ein paar Kollegen nach, der Heldin des
+Abends die Hand zu drücken. Alle mochten sie das stramme junge Ding
+leiden, das mit seinen achtzehn Jahren so resolut durch diese
+schminkestarrende Welt stapfte, als sei sie darinnen geboren und nicht
+in einem engbrüstigen Leipziger Spießermilieu ...
+
+»'raus!« befahl Mutter Doris. »Alles 'raus! Meine Tochter wünscht
+alleene zu sein!«
+
+Und rasch vollzog sich die Verwandlung. In kräftiger Frische,
+schweißgebadet, stieg der derbe Mädchenleib aus den klatschnaß
+zusammensinkenden Hüllen, wurde von sorglicher Mutterhand mit lauen
+Güssen überspült und in die frischen gewärmten Unterkleider gesteckt.
+Die Garderobiere, ein verknittertes, verhutzeltes Weiblein, stand müßig
+daneben und träumte von der goldenen Zeit, als auch sie einmal am
+Stadttheater zu Stallupönen erste Naive gewesen und von den Leutnants
+der Garnison mit billigen Buketts und falschen Schmucksachen
+überschüttet worden war ... Dann aber mußte sie eingreifen, denn über
+das weiße Gewand des Bauernmädchens wurde nun die wuchtige Rüstung
+geschnallt und mit einem Dutzend Riemen und Oesen befestigt -- darauf
+verstand Mutter Doris sich denn doch nicht. Inzwischen aber schwatzten
+die Frauen ohn' Unterlaß:
+
+»Gott, war das ein Spektakel zum Aktschluß! Namentlich da hinten im
+Parterre!« sagte Jucunda und warf das langflutende braune Gelock über
+die Rüstung zurück.
+
+»Natierlich -- das gloob' ich ooch!« erwiderte die Mutter und strich mit
+glättendem Kamme bedächtig durch die krause Mähne der Tochter. »Da
+sitzen doch die Herren Studenten! Was die trampeln kenn'! Gott soll mich
+bewahren! 's ganze Parkett war Dir doch eene Staubwolke! Und =unserer=
+is ooch dabei -- wirscht mer's glauben?«
+
+»Wer? Der unverschämte Mensch aus dem Eckzimmer?«
+
+»Freilich, der! Un gezogen is er noch lange nich!«
+
+»I nee so was!« lachte Jucunda.
+
+»Eegentlich is mer'sch ganz lieb, daß er noch nich weg is,« sagte Mutter
+Doris. »Immerhin er is der Erste Scharschierte vons älteste und
+angesehenste Korps in Leipz'g ... Un so lang als ich denken kann, hab'
+ich immer Korpsstudenten bei mir wohnen gehabt -- 's wär doch sehr
+unangenehm für mich gewäsen, wenn er wär' mit'n großen Krach von mir
+fortgegangen -- leicht hätt's kenn' passieren, daß die ganzen Korps mich
+hätt'n in'n Verruf getan -- damit sin se immer sehr fix bei der Hand,
+wenn ma een' von ihn' mal schief angekuckt hat ... Unser Nachbar
+Wunderlich, der Mützenmacher, der kann e Wertchen davon erzählen ... Der
+hat mal een' von die Korpsstudenten, der absolut nich wollt' zahl'n, nu,
+dem hat er en groben Brief geschrieben -- und iebermorgen war er schon
+im S. C. Verruf -- das kost'n an sechshundert Mark jährlich!«
+
+»I herrjemerschnee!« lachte Jucunda, »das hätt' ich wissen sollen, daß
+unser Student so ein großes Tier ist! Da hätt' ich durch meine Grobheit
+ja beinahe Deinen Geschäftsbetrieb ganz bösartig geschädigt! Na,
+hoffentlich kommst Du noch mal mit 'nem blauen Auge davon! Uebrigens,
+Muttel, wenn ich mich recht erinnere, so hast Du den einflußreichen
+Jüngling auch nicht gerade mit Glacéhandschuhen angefaßt ...«
+
+»Nu, ich hab' mich eben lassen hinreißen,« sagte Frau Doris. »Weeßte,
+wenn eener mir mit mein' Goldkinde tut anbinden -- hernach weeß'ch mich
+nich zu beherrschen -- reinweg wie ene Furie werd' ich Dir dann!«
+
+»Muttel!« sagte Jucunda zärtlich und legte einen Augenblick lang das
+lockenumflutete Haupt an den mächtig wallenden Mutterbusen.
+
+In diesem Augenblick trat Franz Burg herein, der Oberregisseur, in der
+klirrenden Rüstung des englischen Oberfeldherrn, in einer Maske so voll
+schrecklichen Ingrimms, daß Jucunda hell auflachte:
+
+»Donnerwetter, lieber Freund -- mit Ihrem Konterfei kann man ja die
+Pferde scheu machen!«
+
+»Himmel -- für die guten Leipziger muß man eben ein bißchen dick
+auftragen ...«
+
+»Schön,« sagte Jucunda, »werd' ich mir merken. Passen Sie mal auf,
+Meister, wie ich jetzt loslegen werde!«
+
+»Aber gefälligst mit einem vernünftigen Stimmansatz, und nicht wieder so
+aufs Organ loswüsten wie im ersten Akt! Ihnen geht's zu gut, Kindchen,
+Sie werden mir zu üppig ... In einem Alter, wo andre Kolleginnen froh
+sind, wenn sie einmal ein Servierbrett mit Kaffeegeschirr hereinbringen
+dürfen, toben Sie schon abendfüllend durch ganz Deutschland -- da muß ja
+so ein achtzehnjähriger Verstand aus dem Leim gehen ...«
+
+»Ach, lassen Sie mich doch ...« Jucunda reckte den herrlichen Körper,
+daß alle Niete und Scharniere der Rüstung knackten ... »Lassen Sie mich
+doch, lieber Freund ... Es ist ja so schön ...«
+
+Franz Burgs Augen schimmerten hinter den grimmigen, rotgrauen Brauen in
+einem ganz seltsam weichen Licht ... Sie glitten über die schlanke,
+waffenblanke Gestalt, wie ein Streicheln.
+
+»Schön ist's, das glaube ich -- Sie sind eben ein Sonnenkind,
+Langbeinchen!« So nannte er sie noch immer, aus jener Zeit, wo sie als
+blutige Novize wegen ihres knabenhaften Wuchses immer die Pagen hatte
+spielen müssen ... Jetzt freilich wäre das nicht mehr zu machen gewesen
+-- sie war ein Weib geworden ...
+
+»Na also -- Sie sind fertig ... Nun halten Sie aber Ruhe, bis Sie geholt
+werden ... Und nicht zu toll mit dem Organ aasen, verstanden? Adieu,
+Langbeinchen!«
+
+»Adieu, Sie Bester!«
+
+Ein Blick so voll dankbarer Zärtlichkeit, daß der grimme Talbot rasch
+das Visier herunterklappte ... Und durch die Augenlöcher klang sein
+Knurren:
+
+»Also fang'n mer an!«
+
+Er rasselte von dannen. Jucunda warf ihm ein halbes Dutzend Kußhände
+nach.
+
+»Aber Jucunda!« rief die Mutter ganz entsetzt.
+
+»Ach laß doch, Muttel! Einmal ein Mensch beim Theater, ein einziger,
+der selbstlos gütig ist -- einen lehrt, einem vorwärts hilft, ohne
+gleich -- --«
+
+
+Der zweite, der dritte Akt waren vorübergebraust, mit Schlachtgetöse und
+Siegesjubel und Sterbegrauen ... und hatten geendet mit der
+naiv-gewaltigen Szene, in der Johannas tragisches Geschick sich wendet:
+der Fluch ihrer übernatürlichen Sendung sich wider sie kehrt. Das Herz
+der Jungfrau hat mit Entsetzen sein Mädchentum empfunden ...
+
+Große Pause nun -- alles strömte hinaus in die schmalen,
+schlechtbeleuchteten Gänge, das dürftige Foyer des dumpfen winkligen
+Hauses ...
+
+Und da oben fanden sich die beiden Franken, ihr fürstlicher Konkneipant
+und sein Erzieher. Die Herren begrüßten einander mit dem gewohnten starr
+offiziellen Gesicht, dem korrekten Händeschütteln der hoch gewinkelten
+Arme ... Keiner mochte verraten, wie sehr er gepackt war.
+
+»Ganz nett -- wie?« näselte der Erbprinz.
+
+»Na ja ... Aber immer dies ewige eintönige Pathos, das hält kein Pferd
+auf die Dauer aus!« schnarrte Pilgram.
+
+»Wie fanden Sie die Buchner?« fragte nachlässigen Tones der Prinz.
+
+»Na -- mein Himmel -- spielt eben Schiller!« erwiderte der
+Rechtskandidat.
+
+Hans Thumser blieb stumm. Ihm standen Erregung und Entzücken bis an den
+Hals -- die Tränen, die er mühsam hatte unterdrücken müssen, preßten ihm
+die glühenden Augen. O Gott -- so Erhabenes, so Ungeheures erlebt zu
+haben ... Und dann den gelassenen Weltmann mimen zu müssen mit zwanzig
+Jahren ... Was war das für eine Jugend? Sie schämte sich aller
+jugendlichen Empfindungen ... der Begeisterung, des Glaubens an das
+Große, das Weltbezwingende ...
+
+
+Und schnell vollendete sich's nun. Wie ward es Valentin Pilgram zumut,
+als er nun im festlich geputzten Saale zu Reims die Verse erklingen
+hörte, die er neulich so schmählich unterbrochen?
+
+ »Sollt' ich ihn töten? Konnt' ich's, da ich ihm
+ Ins Auge sah? Ist Mitleid Sünde?!«
+
+Was war denn das, was so heiß und fremd unter der linken Westentasche
+zuckte und hüpfte? Was war dieser geheimnisvolle Schmerz, dieser
+brennende, der durch Hirn und Glieder rumorte, wenn dieses Mädchen
+seine stählernen blauen Augen verloren in den dunklen Raum
+hinausschweifen ließ, in dem er saß, inmitten der proletigen Finken
+ringsum, die er verachtete, wie er alles verachtete, was nicht zu den
+Angehörigen eines hohen Kösener S. C. Verbandes zählte?! War es die
+Scham, daß er dies Mädchen, diese weiße, stolze Weibesgestalt da hinten,
+gekränkt, gestört in ihrem Studium -- sich benommen gegen sie wie ein
+Rauhbein, ein Knote ohne Kinderstube und Direktion!
+
+Ja, das mußte es sein, das und nichts andres ... Er wird morgen früh
+seinen Bratenrock anziehen und seine beste Mütze aufsetzen -- wird sich
+feierlich durch die Frau Kanzleirätin anmelden lassen und förmlich und
+devotest um Verzeihung bitten ... Es ist männlich, begangenes Unrecht
+einzusehen und zu sühnen, und durch Revokation und Deprekation einer
+Dame gegenüber vergibt auch Franconiae gewesener Erster, Erster, Erster
+_ad interim_ sich nichts -- nein, ganz gewiß nicht!
+
+Also das mach' ich! Gesegnet meine wüste Laune, gesegnet meine
+Examensnervosität ... So hab' ich doch wenigstens einen anständigen
+Grund, mich ihr vorzustellen, sie zu sehen, mit ihr zu sprechen ... Und
+ich werde mich dermaßen kavaliermäßig benehmen ... Ich werde ...
+Ueberhaupt ... Ich werde -- hol' mich der Teufel -- Eindruck werd' ich
+machen, so wahr ich Valentin Pilgram bin, Franconiae gewesener Erster,
+Erster, Erster _ad interim_!
+
+
+Hans Thumsers Seele war aber zwiegeteilt, wie fast immer -- fast immer
+... Noch einmal, in der zweiten Szene des vierten Aktes, kam die andere
+-- nach der er ein geheimes, lästerliches und süßes Schmachten verspürt
+hatte, nun sie so lange verschwunden war ... kam Agnes Sorel, stand
+neben der herrischen Gestalt Jucundas in ihrer kätzchenhaften
+Holdseligkeit ... schmiegte an Jucundas gepanzerten Busen die
+unverhüllte, die rosige lockende Brust ... O Hans Thumser, und denken zu
+müssen, daß diese Himmelswonne Nacht für Nacht neben deinem
+Knabenstübchen schläft, nur durch eine dünne Ziegelmauer von dir
+getrennt, in der es gar noch eine Tür gibt, die freilich verschlossen
+ist und mit einem Kleiderschrank verstellt ... O Hans Thumser, wie wirst
+du dies Bewußtsein ertragen, nun du sie kennst, sie gesehen hast mit
+deinen scheuen, brennenden Augen, ihr Bild hineingesogen in deine
+lechzende, lebenshungrige Seele ... Wie wirst du's ertragen?
+
+Füchschen, die Trauben sind sauer ... So hat sie geschrieben. Ach, du
+Schelm, du böser, neckender Traumspuk du -- du warmes, weiches, nahes,
+fernes, weltenfernes Menschenkind -- --!
+
+Still -- es erfüllt sich Johannas Geschick ... Vor dem Bannspruch des
+Vaters, der sie höllischer Blendekünste zeiht, verstummt sie ...
+verstummt vor dem Donner des Himmels ... flieht in Einsamkeit und
+Verzweiflung -- fällt stumm und wehrlos in die Hand der Feinde ...
+
+Doch dann, in letzter, höchster Not, kommt noch einmal über sie die
+alte, magische Kraft: Sie zerreißt ihre Ketten, entrafft sich den
+entsetzten Feinden, trägt noch einmal das Banner der Jungfrau zum
+Kampf ... und dann, die Todeswunde in der Brust, von Siegesbannern
+überbauscht, läßt sie ihre reine Seele ins All hinüberströmen ...
+
+O Dichter! Dichter! betet Hans Thumser -- großer, herrlicher mit Deiner
+wunderbaren Cherubseele -- einen Tropfen von Deinem Geist in mein
+junges Herz -- einen Flammenfunken von Deinem Himmelsfeuer!
+
+ »Wie wird mir? -- leichte Wolken heben mich --
+ Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide --
+ Hinauf -- hinauf -- die Erde flieht zurück --
+ Kurz ist der Schmerz, und ewig ist die Freude!«
+
+
+Ein heftig gestammelter Dank an den Prinzen, ein feierliches Schütteln
+der korrekt eingewinkelten Hände mit ihm und dem Major, und dann hinaus
+-- hinaus in die herbstliche Abendluft ... O glühende Stirn, o glühendes
+Herz ...
+
+Und nun -- warten -- sie noch einmal sehen, sie, »die alles Herrliche
+vollendet« ... nicht jene andre, das Kätzchen, den Spukgeist ... Nein,
+die eine, die weiße, die königliche ...
+
+Warten auf sie -- sie warten ja alle ... Eine dichtgedrängte Schar,
+lauter blutjunges Volk. Konservatoristinnen und Ladenmamsellchen
+untermischt mit Primanern und Studenten ... Sie warten vor dem Portal,
+vor dem ein einziger Wagen noch hält, ein einziger, während all die
+andern mit ihrer Fracht schleierumhangener, kapuzenverhüllter
+Weiblichkeit von dannen donnern -- ein einziger Wagen, in dem, hüstelnd
+und frierend, ein bebrilltes Männlein hockt mit grauem Kragenbart: der
+Kanzleirat Buchner ...
+
+Es dauert lange, dies Warten ... Aber Hans Thumser wartet nicht allein:
+An seiner Seite, geduldig fröstelnd, harrt der gestrenge Senior, ganz
+gegen jede Wahrscheinlichkeit und Psychologie ...
+
+»Ne, Pilgram, wie =Du= mir heute vorkommst!«
+
+»Na, was denn? Wieso denn?« knurrt der Erste. »Denkste vielleicht, Du
+hast die Kunstbegeisterung alleene gepachtet?!«
+
+Und endlich -- endlich -- -- am Bühneneingang fliegen die Hüte, die
+Mützen von den Köpfen --
+
+»Jucunda Buchner -- hoch! hoch!«
+
+Voran schiebt sich eine derbe Matrone in uraltmodischer
+schleifenbesetzter Kapuze -- und dann kommt -- sie -- so mädchenhaft auf
+einmal, so spießbürgerlich schlicht ... Wie ein Backfisch schaut sie
+aus, so menschlich, so nahe ...
+
+»Hoch! hoch!« brüllen die Studenten, juchzen die Mädels -- sie huscht
+vorüber, kopfnickend, so lieb, so einfach, so -- so fabelhaft nett --
+sie schlüpft in die Wagentür, nickt noch einmal vom Fensterrand -- neuer
+Jubel --
+
+Ach was -- längst nicht genug!
+
+Eine neue, eine würdige Huldigung dem wundervollen Menschenkind!
+
+»Kommilitonen!« ruft Hans Thumser und schwenkt die grüne Mütze,
+»Kommilitonen! Wir spannen ihr die Pferde aus, wir fahren sie im Triumph
+nach Hause!«
+
+Ein Beifallsgeheul ist die Antwort. Und auf die Gäule stürzt sich
+der Schwall -- im Nu sind die Scheuenden, Schäumenden abgesträngt,
+der fluchende, peitschenschwingende Kutscher entwaffnet und vom Bock
+gezerrt ...
+
+»Verrickt seid 'r! Alle mitenander seid 'r übergeschnappt! Der Deifel
+soll Euch hol'n!«
+
+Und hundert Hände packen zu, langen nach der Deichsel, den Zugscheiten,
+den Strängen -- hundert Hände greifen in die Speichen -- hurra! Der
+Wagen rollt, rollt mit seiner vielgeliebten Fracht ... Und allen voran
+als Führer, den Hut auf dem Stock balancierend, den Stock im Takt
+schwingend wie ein Tambourmajor schreitet einer, der den Weg kennen
+muß: Franconiae gewesener Erster, Erster, Erster _ad interim_!
+
+Und der Wagen rollt die Sophienstraße entlang, umdröhnt vom Jauchzen
+schönheitstrunkener, größeberauschter Jugend ... Rollt die Zeitzer
+Straße, den Peterssteinweg hinab, der Altstadt zu ... Und immer
+zahlreicher wird das Huldigungsgefolge hinter dem Triumphzug, den Jugend
+der Jugend, der Schönheit, der Kunst bereitet, immer betäubender
+schwillt der allgemeine Jubel:
+
+»Jucunda Buchner -- hoch -- hoch Jucunda -- unsre Jucunda!«
+
+
+
+
+ 4.
+
+
+Als der Triumphwagen endlich in der Katharinenstraße hielt, zog der alte
+Buchner den riesigen Hausschlüssel aus der Tasche und stieg als erster
+aus. Ein hundertstimmiger Jubel empfing ihn ...
+
+»Das ist der Vater -- Jucundas Alter ist das -- Papa Buchner hoch!
+hoch!«
+
+Ein Dutzend Hände waren ihm behilflich, hoben ihn über die Bordschwelle,
+ganz betäubt humpelte er durch die Gasse, die sich vor seinen Schritten
+öffnete, fand die Tür seines Hauses zu seiner Verwunderung bereits
+geöffnet und schlüpfte hinein, wie erlöst, daß er dem Getös entronnen
+...
+
+Und nun schob sich Mama Buchners massives Gestell aus der Droschke.
+
+»Achtung, jetzt kommt Mamachen!« schrien kecke Stimmen. »Platz für
+Mamachen!« Geblendet vom grellen Licht der Gaslaterne, dicht neben dem
+finstern Hauseingang, verwirrt vom Stimmengewirr, dem Glanz blitzender
+Augen, dem Durcheinander winkender Hände, flatternder Tücher verfehlte
+Mutter Doris mit unbehilflich suchendem Fuß den Wagentritt und wäre
+gestürzt, hätte nicht ein sehniger Arm sie gefaßt und ihre schwerfällige
+Gestalt mit sicherem Griff aufs Trottoir, auf die Beine gestellt. Und
+gleich darauf fühlte sie ihre Hand in diesen sehnigen Arm hineingezogen,
+fühlte sich sicher und ritterlich der Haustür zugeführt -- sah dankbar
+zu ihrem Beschützer empor und -- sah in das verlegenheitglühende Gesicht
+ihres Mieters ...
+
+»Gnädige Frau --« stammelte Pilgram.
+
+Gnädige Frau --?! Es war das erstemal, daß ihr Student diese Anrede für
+die Frau Kanzleirätin fand ... sie war direkt erschüttert ...
+
+»Herr Pilgram -- nee heer'n Se, das is aber hibsch von Ihn' ...«
+
+»Darf ich Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch zu dem Riesenerfolge
+Ihres Fräulein Tochter -- gnädige Frau? und zugleich auch meine Bitte um
+Entschuldigung wegen meines unqualifizierbaren Benehmens von vorgestern
+morgen --«
+
+»Ach sei'n Se still, Herr Pilgram -- scheen war's ja grade nich ... Aber
+Sie haben's ja gut gemacht ... Also woll'n mer uns wieder vertragen!
+Aber wo bleibt denn 's Kind?«
+
+'s Kind war noch nicht abkömmlich. Sie mußte draußen die Dutzende von
+Händen schütteln, die sich ihr entgegenstreckten ... Und dabei liefen
+ihr die hellen Tränen nervöser Seligkeit über die Backen ...
+
+»Dank ... tausend, tausend Dank!« Das war das einzige, was sie nur immer
+wieder stammeln konnte ...
+
+Und endlich fiel die Pforte denn doch ins Schloß, während die
+begeisterte Jugend draußen weiter jubelte und tobte. Kanzleirat Buchner
+wollte abschließen, aber Valentin Pilgram kam ihm zuvor. Und dann
+entzündete er ein Wachsstreichholz und geleitete Mama Doris mit der
+Galanterie eines Oberhofmarschalls die knackenden Treppen des
+altehrwürdigen Baues hinan, der einstmals ein feierlich elegantes
+Patrizierhaus gewesen war ... Der Kanzleirat und die Heldin des Abends
+folgten.
+
+Oben wollte sich Valentin verabschieden, um in seinem Zimmer zu
+verschwinden, aber Jucunda rief:
+
+»Was? Sie wollen schon schlafen? Nee, gibt's nich! Muttel, mach' Licht
+in der guten Stube! Wir schwatzen noch eins! Und Du, Alter, rück' mal
+ein paar Pullen Gose heraus! Ich hab' einen Pferd'sdurst!«
+
+Und sieh -- nach wenigen Minuten war's hell und mollig in der
+behaglichen Wohnstube, und während Mutter Buchner drinnen Bemmchen
+schmierte und Papa Kanzleirat Zigarren und Aschenbecher bereit stellte,
+sorglich aus den dickbauchigen Goseflaschen das bernsteingelbe
+bitterliche Naß in die hohen Stangengläser plätschern ließ, stand
+Valentin Pilgram voll nie gefühlter Empfindungen am Fenster, hinter
+Jucundas hoher Gestalt, die noch immer hinaus auf die Straße winkte und
+Kußhände warf, während von drunten, vom Straßendamm empor ohn' Ermatten
+das Begeisterungsgebrüll der Burschen tönte, die Taschentücher der
+Mädels flatterten ...
+
+»So, Kind,« sagte Mutter Doris endlich, »nu mache schon Schluß, daß Du
+was zu essen und zu trinken kriegst ... Bitte, Herr Pilgram, nehmen Sie
+Platz!«
+
+Valentin und Jucunda traten vom Fenster zurück. Jetzt erst fand das
+Mädchen Zeit, den jungen Gesellen zu mustern.
+
+»Sie sind wohl einen halben Kopf größer als ich,« sagte sie anerkennend.
+
+»Aber Sie -- Sie sind ... etwas ganz Besonderes ... eine ganz andre
+Sorte von Mensch als ... nu als wir gewöhnlichen Leute, wir simplen
+Rechtskandidaten ... und so was.«
+
+»Erlauben Sie mal -- Sie sind doch auch was Besonderes ... Erster
+Chargierter des ältesten und angesehensten Korps in Leipzig ...« Sie
+wies auf einen Stuhl.
+
+»Gott -- gnädiges Fräulein ... Wie können Sie so was überhaupt ... das
+sind doch Kindereien, wenn man's mit ... mit Ihrer Kunst vergleicht ...«
+
+O Valentin Pilgram -- wer dir das gestern prophezeit hätte ... daß du so
+zu einer Komödiantin sprechen würdest ... daß die Heiligtümer deiner
+Seele so schnell verbleichen würden ...
+
+»Na, nu nähmt mal gefälligst ä bißchen Platz, Kinder!« rief der
+Kanzleirat ...
+
+Kinder --?! Es durchfuhr die beiden jungen Menschen ... ein seltsames,
+ahnungsvolles Gefühl ... Mit einem Male war Jucunda Buchner nicht die
+glückverwöhnte, reichbegnadete Künstlerin, sondern ein Backfisch von
+achtzehn Jahren ... und Valentin Pilgram nicht der Sohn des
+Senatspräsidenten am Dresdener Oberlandesgericht, nicht der Erste
+Chargierte eines wohllöblichen C. C. der Franconia, sondern ein Knabe
+von vierundzwanzig, in all seiner senioralen Würde doch noch immer ein
+junger, lebensunkundiger Novize des Daseins ...
+
+Zwei blutjunge Menschen ... zwei Kinder ... beide gewachsen wie ein paar
+Tannen, beide jung, stark und heiß ...
+
+»Kinder!« hatte der alte Mann gesagt ... Wie seltsam das die Seele traf
+...
+
+Beider Augen waren gesenkt, beider Stirnen glühten, als sie sich setzten
+...
+
+Man stieß mit den langschäftigen Gosengläsern an, Jucunda tat einen
+tiefen, herzhaften Schluck und biß dann nicht minder herzhaft in ihre
+Butterbemme.
+
+»Donnerkiel!« sagte sie, »das tut aasig gut ...«
+
+»Nu sagen Se, Herr Pilgram, wie sind Sie denn bloß in's Theater
+gekommen? Ich hab' gedacht, Sie haben gar nischt iebrig für die Kunst?«
+erkundigte sich Mama Buchner.
+
+»Ja ... Frau Rätin,« sagte Valentin, »wie soll ich Ihnen das erklären?
+Sie haben nämlich recht ... Ich hab' wirklich nicht viel Sinn für die
+Kunst ... Ich -- nu ich war eben ... neugierig war ich -- auf meine
+Budennachbarin ...«
+
+»Sehr schmeichelhaft!« lachte Jucunda und zündete sich eine Zigarette
+an. »Na und -- und was sagen Sie nu?«
+
+»Gar nischt sag' ich --« bekannte der Student. »Wissen Sie ... zum
+Komplimente machen ... bin ich nicht maulgewandt genug ... ich kann nur
+sagen: dies war der schönste Tag meines Lebens.«
+
+»Hehe -- da siehst es, Jucunda, was fier ä Kerle Du bist!« schmunzelte
+der Kanzleirat.
+
+»Ach -- das geht doch nicht auf mich!« wehrte Jucunda ab. »Herr Pilgram
+ist eben von Schillers großer Dichtung so ergriffen gewesen ...«
+
+»Ne, gnädiges Fräulein, das könnt' ich nu gerade nich sagen,« erklärte
+Valentin. »Ich bin eben doch, wie mein Korpsbruder Thumser sagt, ich bin
+doch ein Banause. Schiller? Ich weeß nich ... es ist mir doch zu viel
+Schmalz an der Brühe ... Wenn Sie nicht gewesen wären, gnädiges
+Fräulein, ich glaube nicht, daß ich wäre bis zum Ende dageblieben ...«
+
+»Schämen Sie sich!« zürnte das Mädchen.
+
+»Ja -- 's tut mir selber leid, daß ich so wenig Verständnis habe für die
+sogenannte Kunst ... Sehen Sie ... ich stamme aus einer alten Juristen-
+und Beamtenfamilie ... bei uns zu Hause ist nie von was anderm die Rede
+gewesen wie von Dienst und Vorgesetzten und Karriere machen und Orden
+kriegen und Gesetzesnovellen ... und das Theaterspielen und Musikemachen
+und Bilderklexen und Verseschmieren -- nee, davon hat man bei uns nie
+was wissen wollen. Aber was Arbeit und Pflicht und Gehorsam ist und
+Gewissenhaftigkeit und Treue ... das ist mir eingepaukt worden von
+Kindesbeinen an ... und nicht nur mit der Moralpredigt, sondern mit dem
+guten Beispiel, dem nachahmungswürdigen Vorbild ...«
+
+»Das is sähr scheen, wenn man das von sein' Elternhause kann sagen --«
+meinte der Kanzleirat. »Prost, Herr Pilgram -- Ihre Herren Eltern sollen
+leben.«
+
+Andächtig tat Pilgram Bescheid. Aber Jucunda war des trockenen Tones
+satt:
+
+»Erzählen Sie mir lieber von heut abend -- erzählen Sie mir, wie ich
+Ihnen gefallen habe! Sie können's ruhig ein bißchen dicke machen ... Sie
+haben ja gar keine Ahnung, wieviel Honig und Weihrauch unsereins
+vertragen kann nach so einer gewonnenen Schlacht ...«
+
+»Aber Jucunda -- so schäme Dich doch! Was soll denn Herr Pilgram von Dir
+denken?«
+
+»Na -- nichts als was wahr ist! Daß ich eine ganz eitle, verwöhnte
+Komödiantin bin! Nicht wahr, Herr Pilgram, so denken Sie doch! Nur
+heraus damit ...«
+
+»Gnädiges Fräulein, ich denke an nichts andres als an den Augenblick, wo
+Sie zuerst herauskamen ... Wir waren zu spät gekommen, aus dem S. C.,
+wissen Sie? da muß man aushalten -- und als wir kamen, hatte der erste
+Akt schon angefangen ... und ich langweilte mich und dachte: na ja,
+Schiller ... und überlegte, was für ein Aufsatzthema mein alter
+vermickerter Professor auf Prima in Dresden wohl aus diesem ersten Akt
+herausgeschlagen hätte: Würde Johanna d'Arc ihr Vaterland auch errettet
+haben, wenn Karl der Siebente anstatt mit den Engländern mit den
+Deutschen Krieg geführt hätte? oder so ähnlich ... Und da -- da kamen
+Sie -- und auf einmal wurde alles wahr und richtig und interessant und
+... na ja eben schön ... mit einem Wort ...«
+
+»Ich seh's kommen, daß se Dich noch ganz närr'sch werden machen, Jucunda
+--« kicherte der Kanzleirat.
+
+»Ach ja ... macht mich nur ruhig närrisch, Kinder -- es ist ja so schön,
+gefeiert zu werden ... und begraben zu werden unter Lorbeer und Rosen --
+und die Pferde ausgespannt zu kriegen ... hören Sie, Herr Pilgram -- die
+Idee, die war wohl von Ihnen?«
+
+»Ehrlich gestanden, nein -- so leid mir's tut -- aber den glorreichen
+Einfall, den hat mein Korpsbruder Thumser gehabt ...«
+
+»Schade -- sonst hätten Sie wahrhaft'gen Gott 'nen Kuß gekriegt dafür
+--«
+
+Der Kanzleirat drohte der Tochter lächelnd mit dem Finger.
+
+»Säh'n Se, Herr Pilgram, wie se Ihn' schon überschnappt?«
+
+Und er ließ frische Gosefluten in die Gläser kluckern.
+
+Aber allmählich fielen dem alten, hageren Männchen, das sein ganzes
+Leben in der muffigen, überhitzten Luft der Königlichen Justizbureaus
+zugebracht hatte, die geröteten Aeugelchen zu. Er verabschiedete sich
+und humpelte ins Schlafzimmer.
+
+Auch Mutter Doris fiel allmählich ab.
+
+»Nu, Herr Pilgram, wie denken Sie über's Schlafengehen?«
+
+»Gibt's nich!« erklärte Jucunda. »Wenn Du müde bist, Mamachen, kriech in
+Gottes Namen in die Posen ... Ich bin noch nicht fällig, und Herr
+Pilgram wird mir Gesellschaft leisten, bis meine Nerven ausgezappelt
+haben ...«
+
+Und die jungen Menschen waren allein. Es wurde still, ganz still
+ringsum. Von der Katharinenstraße klang ab und an noch das schläfrige
+Geklapper eines heimwärts trottenden Droschkengauls ... Vom nahen
+Rathausturme meldeten die Glocken mit hallenden Schlägen Viertelstunde
+um Viertelstunde ... sonst nichts mehr. Leipzig schlief.
+
+»Erzählen Sie mir mehr von sich!« sagte Jucunda und legte sich mit
+behaglichem Gähnen in die gestickten Schoner des grünen Plüschsofas
+zurück. »Aber nicht so was Langweiliges vom Korps und von Ihren
+Fechtereien und vom Examen und so! Was Schönes ... was Interessantes!«
+
+»Ach, gnädiges Fräulein -- ich bin ein schrecklich uninteressanter
+Mensch ... ich schäme mich ordentlich, ich werde ganz klein, wenn ich
+mein Leben mit Ihrem vergleiche.«
+
+»Na, aber Sie müssen doch irgend was Besonderes erlebt haben ... Waren
+Sie denn nie verliebt? Haben Sie nie ein Mädchen geküßt?« Sie zündete an
+dem Rest ihrer Zigarette eine frische an, pustete eine dicke Rauchwolke
+zu Valentin hinüber und schielte durch den Qualm hindurch neckisch
+blinzelnd zu ihm hin.
+
+Valentin Pilgram wurde verlegen. »Hm ... ich weiß nicht recht, was ich
+da antworten soll ... als Künstlerin wissen Sie doch jedenfalls schon
+manches vom Leben ... und wissen, was wir jungen Männer, Studenten und
+so -- wie soll ich mich nur ausdrücken?«
+
+»Na, daß Ihr gerade keine Tugendspiegel seid ... Euch mit Kellnerinnen
+und ... so 'ner Sorte von Weibsbildern herumtreibt ... Herr Pilgram, ich
+bin ein Leipziger Kind, das alles ist mir nichts Neues. Aber -- sowas
+zählt doch hoffentlich nicht?«
+
+»Nein -- Sie haben ganz recht ... es zählt nicht ... Sehen Sie, man
+betrinkt sich ja auch zuweilen mal ganz stumpfsinnig ... so ähnlich ist
+das ...«
+
+»Und -- sonst? Sonst haben Sie noch gar nichts ... erlebt? Niemals eine
+richtige ... eine Leidenschaft ... ein Gefühl, daß Sie so richtig die
+Zügel aus der Hand verloren haben? Daß es mit Ihnen durchgegangen ist
+wie ein wildes Pferd, so zuck, zuck, hoppla, hopp, über Stock und Stein,
+nur vorwärts, ins Weglose, ins Nichts -- nur vorwärts ... komme was
+wolle?!«
+
+Hingerissen hing Valentins Blick an den flackernden Augen, dem zuckenden
+Munde des Mädchens. »Ach nein ... gnädiges Fräulein ... so was hab' ich
+nie erlebt ... ich glaube auch, so was kann mir nie passieren ... dazu
+sind wir Pilgrams viel zu korrekt ... viel zu gewissenhaft ...«
+
+»Schade --« sagte Jucunda. »Ich denke mir, das müßte schön sein ...«
+
+»Das ... glaube ich auch ...« sagte Valentin langsam. »Schön ... und
+schrecklich ...«
+
+»Wie wär's, wenn wir nun schlafen gingen? Ich fange doch allmählich an,
+abzufallen ...«
+
+»Schade!« sagte nun der Student. Seine Augen überflogen noch einmal die
+weiße Gestalt, die sich in so fester, straffer Leiblichkeit abhob von
+dem verschlissenen Samt, auf dem sie ruhte, beide Ellbogen nach vorn
+emporgewinkelt, die Hände nach rücklings um die Lehne des Sofas
+geklammert.
+
+»Gott, war das ein Tag!« sagte das Mädchen. »Ein Schlachten war's, nicht
+eine Schlacht zu nennen! Aber das Hübscheste daran war doch, daß ich Sie
+nun kenne, Nachbar ... daß ich Sie Grobian doch ein bißchen gebändigt
+habe ... nicht wahr? Und daß wir zwei nun allein noch übrig sind von all
+dem Trubel und Trara ... was? Ist das nicht nett? Aber Sie sagen ja gar
+nichts?«
+
+»Was ... soll ich sagen?« stotterte der Student. »Ich ... sehe Sie
+an ... und denke, daß morgen ... morgen das alles vorbei ist ... daß Sie
+morgen wieder die allgefeierte Jucunda Buchner sind ... und ich ...
+irgendein simpler, gleichgültiger Rechtskandidat ... der Ihnen nichts
+sein kann ... nichts für Sie tun ... Ihnen nichts bedeutet als eben ein
+Stück Publikum ... einer von den Tausenden, die Ihnen allabendlich
+zujubeln, ohne daß Sie sie kennen, mehr für sie übrig haben als ein
+geschäftsmäßiges Lächeln, wenn der Vorhang sich noch einmal hebt ...«
+
+»Wer weiß!« sagte Jucunda mit einem gnädigen Blick. »Vielleicht, daß ich
+doch einmal einen ... einen Ritter brauchen kann ... dann will ich mich
+an diese Stunde erinnern ... und Sie rufen ... Soll ich?«
+
+»Gnädiges Fräulein ...« sprach Valentin Pilgram heiser ... »Das wäre
+mehr Gunst vom Schicksal, als ich Mut habe zu hoffen ...«
+
+Sie reichte ihm die feste, warme Hand. Er küßte sie ... ehrfurchtsvoll,
+als sei es einer Fürstin Hand ... und ging.
+
+Als er die Tür zu seinem Kämmerchen hinter sich geschlossen, stand er
+einen Augenblick im tiefen Dunkel, regungslos. Ihm war's, als drehe sich
+alles um ihn im Wirbel. Und der reckenhafte Gesell, der
+zweiundzwanzigmal dem Schläger und fünfmal dem Säbel Stirn und Brust
+geboten, fühlte ein rätselhaftes Grauen vor etwas Kommendem, dem er
+keine Deutung wußte ... das im Dunkel hockte und ihn ansah mit den
+blauen, hellen, befehlenden Augen, von denen er fühlte, daß er ihnen
+gehorsam sein müßte, was immer sie ihm gebieten würden.
+
+
+
+
+ 5.
+
+
+Die zwölf halben Liter Tucher, die Hans Thumser nach dem Jucunda-Rummel
+auf der Kneipe noch in seine ausgepichte Fuchsmajorskehle gepumpt,
+hatten die Erregung der zappelnden Nerven untergekriegt und für die
+nötige Bettschwere gesorgt -- zum Anfang wenigstens. Aber dennoch -- als
+der Student plötzlich aus dumpfen, wirbelnden Träumen in die Höhe fuhr,
+so daß der kaum verheilte Schädel krachend gegen die Rückwand seines
+Bettes bumste -- da war es noch stockfinster, und wie er ein Streichholz
+entzündete, wies die Uhr halb vier ...
+
+Und wieder Dunkelheit und Schweigen, und im Herzen schwirrend und
+rumorend viel hundert Bilder, viel tausend Farben und Klänge ...
+
+Wo soll es hin, das alles?! Was will's von dir, dies tolle, glühende
+Leben?!
+
+Da horch ... ein seltsamer Laut ... ein zager, verzitternder ... von
+irgendwoher aus dem Dunkel ... und wieder ... und wieder ... derselbe
+bang verschwebende Klageton ...
+
+Weinen ... Weinen einer Frauenstimme -- ganz leise, mühsam unterdrückt
+... von Tränen umschleiert ... erschütternd ...
+
+Nun scheint's zu verstummen ... horch -- kein Laut mehr ... doch nein --
+nur heftiger jetzt die wimmernde Klage ...
+
+Um Gott -- das ist -- da nebenan -- das ist ... Asta Thöny ...
+
+Tränen ... Tränen in Frauenaugen -- entsetzlicher Gedanke für einen
+Jüngling, einen tatensehnsüchtigen, weltgläubigen -- wer konnte
+glücklich sein, ach nur ruhig sein, nur schlafen -- wenn ein Mensch, ein
+Mädchen weinen mußte?!
+
+Himmel -- vielleicht ist sie krank geworden -- Agnes Sorel, die
+kätzchenweiche, mit dem süßen, rosigen Hals, den dunklen, flirrenden
+Augensternen ... windet sich in Schmerzen ... und niemand hört sie,
+niemand steht ihr bei, denn sie ist nicht ein gehegtes, umsorgtes
+Haustöchterlein wie Hansens Schwestern daheim -- sie ist ganz allein auf
+der Welt -- einsam, schutzlos, hilflos ...
+
+Gott, wenn das doch enden wollte! Das ist ja nicht zu ertragen, diese
+hilflose Klage ... Aber was kann man tun?
+
+Sich melden -- seinen Beistand anbieten ...
+
+Aber -- könnte das nicht -- mißverstanden werden? Nachdem er nun einmal
+die dummen, zudringlichen Verse hinübergeschickt? Und einen so
+wohlverdienten, ach, eigentlich noch viel zu schmuck bebänderten Korb
+gekriegt?
+
+Aber -- wenn sie nun wirklich leidend wäre -- Hilfe brauchte -- gewiß,
+sie würde nicht böse werden ...
+
+Oder -- wenn man Mutter Ach weckte -- und ihr mitteilte, das Fräulein
+scheine nicht wohl zu sein?
+
+Aber -- wenn's nun gar nichts Ernstes wäre -- vielleicht nur eine Laune,
+eine kindische Gereiztheit -- was weiß ich -- dann hätte man um nichts
+und wieder nichts den schnarchenden Schlummer der ehrsamen Wittib
+gestört ... und es gäbe gar noch eine Szene, nachts um halb vier ...
+
+_Enfin_ -- was geht's mich an? Decke über die Ohren und weiter dachsen!
+
+Ja, wenn das so ginge! Die Phantasie hebt an zu spielen -- dringt durch
+die Finsternis, die Tapetenwand und malt in rosigen Farben das Bild des
+einsam weinenden Kindes da drinnen ... und ach, das bange Schluchzen
+dringt auch zum verbarrikadierten Ohr ...
+
+Mut! Es muß!
+
+»Gnädiges Fräulein --?« ganz leise, kaum geflüstert ...
+
+Das Weinen geht weiter, still und bitter ...
+
+»Gnädiges Fräulein --?«
+
+Auf einmal ist's still da drüben -- Finsternis und lastende Stille
+ringsum ...
+
+»Verzeihen Sie, mein gnädiges ... Fräulein ... ich ... hörte ... ich
+ängstige mich ... Sie möchten nicht wohl sein ... Hilfe brauchen ...
+darum hab' ich mir die Freiheit genommen ...«
+
+Noch immer alles still ... offenbar ist man böse ...
+
+»Gnädiges Fräulein ... ich ... ich will nicht weiter beschwerlich fallen
+... Sie wissen nun, daß jemand zur Hand ist, wenn's not sein sollte ...
+Wenn Sie also nichts weiter von sich hören lassen -- dann -- na dann
+darf ich ja wohl annehmen, daß ... daß alles in Ordnung ist ... und dann
+werd' ich also in Gottes Namen weiterschlafen!«
+
+Auf einmal ein Laut ... kein Weinen ... auch kein Wort ... etwas
+andres ... etwas Silbern-Zwitscherndes -- ein ganz feines, ersticktes
+Kichern ...
+
+»Ach so --!« sagte der Student völlig beruhigt. »Na, denn gut' Nacht,
+mein gnädiges Fräulein, und sei'n Sie nicht böse!«
+
+Und krachend warf er sich auf die rechte Seite, fest entschlossen, nun
+aber auch _a tempo_ --
+
+Da horch! Noch einmal ein Lachen, nun aber hell, übermütig -- und dann
+die Stimme, die girrende, die streichelnde der Agnes Sorel:
+
+»Aber bitte ... ich muß ja doch danken für die gute Meinung! Aber sei'n
+Sie ganz ruhig -- mir fehlt wirklich nix -- ich hab' nur so ein bissel
+für mich geweint -- das kann doch vorkommen -- gelt?«
+
+»Na -- wenn's weiter nichts ist ... ich hab' ja solch einen Schrecken
+bekommen ...«
+
+»O -- das tut mir leid -- ich hab' Sie so friedlich -- na ja, so
+friedlich schnarchen gehört -- da hab' ich gedacht: den störst du
+nicht ... und da hab' ich halt ein bissel geweint ... Nehmen Sie's nicht
+übel, es soll nicht wieder passieren ...«
+
+»Aber bitte -- von meinetwegen -- ich weiß ja jetzt, daß es nichts
+weiter zu bedeuten hat, wenn Sie einmal nachts weinen -- da werd' ich
+mich also künftig auch nicht mehr drum aufregen ...«
+
+»Ach du lieber Gott -- zu bedeuten hat's schon was ...«
+
+»Hm ... also doch?! -- -- Können Sie mir's nicht sagen?«
+
+»Ach ... so durch die Tür hindurch ...«
+
+Jetzt fingen Hans Thumsers Hände denn doch ein bißchen an zu zittern. Er
+suchte nach einer Antwort ... fand keine ... Himmel! Meine unsterbliche
+Seele für einen Einfall ...
+
+»Ja ... so durch die Tür ... das geht natürlich nicht recht ...«
+
+Endlich ... das erlösende Wort: da ist's:
+
+»Aber ... wenn ich Ihnen ... morgen früh ... einmal ... meine
+nachbarliche ... Aufwartung machen dürfte ...«
+
+»Hm ... morgen früh?!« Es klang so gedehnt ... so ... nach einem leisen
+Bedauern ... ach nein ... das war ja doch ... da mußte Hans Thumser sich
+doch wohl ... verhört haben ...
+
+»Morgen früh? Da hab ich ja Probe von zehn bis zwei ... Da müssen Sie
+schon morgen nachmittag kommen ... zum Tee um fünf, wenn Sie mögen --
+gelt?«
+
+O Gott ... solch eine Einladung ... zum erstenmal in diesem jungen Leben
+einem so schönen ... so ... verlockenden ... Mädchen gegenüber ... mit
+ihr allein ... Gibt's denn so etwas?! Ist das denn möglich?!
+
+»Nu -- Sie antworten ja gar nicht?« klang's ganz leise. »Sind Sie am
+Ende gar -- schon wieder eingeschlafen?«
+
+»Aber mein gnädiges Fräulein -- wie können Sie nur denken ...«
+
+»Also Sie kommen? Das ist schön. -- Na, nu wollen wir aber auch ... gut
+Nacht, Sie -- Sie Füchschen Sie!«
+
+»Bitte -- Fuchsmajor!« rief Hans Thumser fast laut vor Selbstbewußtsein.
+»Also ... wenn's denn sein muß -- gut Nacht, Agnes Sorel!
+
+ Auch jenseits der Loire liegt noch ein Frankreich,
+ Wir gehen in ein glücklicheres Land,
+ Da lacht ein milder, nie bewölkter Himmel,
+ Und schöner blüht das Leben und die Liebe!«
+
+Ja! Wenn man so ein phänomenales Versgedächtnis hat! Und seinen Schiller
+_intus_!
+
+»Donnerwetter -- allerhand Achtung!« kicherte es von drinnen. »Da möchte
+man ja wahrhaftig -- aber nein -- jetzt wird geschlafen -- gut Nacht,
+Herr Fuchs=major=!«
+
+Tiefe Stille ... Dunkelheit ... und zitternde Sehnsucht ... zitternde
+Hoffnung ...
+
+Hans Thumser fand keinen Schlaf. Zu toll rumorte die Jugendbangigkeit in
+seinen Gliedern ...
+
+Er lauschte, ob er wohl noch einen Laut vernähme von da drüben ... aus
+der Märchenwelt der Träume ... aber alles blieb stumm ... und endlich
+vernahm er durch den lastenden Frieden der Nacht geruhig schwellende,
+leise Atemzüge ...
+
+Sie schlief ...
+
+Da streckte sich auch Hans Thumser mit einem langen Seufzer ... und
+versank.
+
+
+
+
+ 6.
+
+
+Valentin Pilgram war erst spät aufgestanden. In wüstem Halbschlaf, von
+tollen Träumen gequält, hatte er die Nacht verbracht. Nun saß er über
+seinem Drogenwelt-Geruch und knuffte die vier Klassen der
+Gradualerbfolge der Novelle 118 in den schmerzenden Schädel hinein.
+
+Da klopfte es heftig an die Tür seiner Bude, und im selben Augenblick,
+noch eh er: herein! hatte rufen können, schoß auch schon die Frau
+Kanzleirätin herein, im geblümten Morgenrock, dessen Schleppe hinter ihr
+drein waberte, in schleifenbesetztem Häubchen, unter dem die grauen
+Strähnen des ungeordneten Haares hervorlugten:
+
+»Ach herrjeses, Herr Pilgram, Herr Pilgram, kommen Se doch nur mal
+schnell -- 's Kind hat ja en Weinkrampf -- ach es is gräßlich! Kennten
+Se nich gehn und en Doktor holen? Ich hab ja keen' Menschen nich im
+Hause ...«
+
+Valentin schoß in die Höhe. »Einen Weinkrampf? Um Gottes willen, was ist
+denn passiert?«
+
+»Ä Rosenbukett is gekommen, groß wie ä Turm ... un dabei ä Brief, ne, so
+was von einer Unverschämtheit is überhaupt noch gar nich dagewäsen ...«
+
+»Ist sie denn ohnmächtig? Kann ich vielleicht helfen? Darf ich zu ihr
+hinein?«
+
+»I du mein Himmel, Herr Pilgram, se is noch im Neglischee ... na aber, ä
+Kinstlerin -- ä Kinstlerin sieht ja schließlich ooch im Neglischee ganz
+anständ'g aus ... kommen Se nur, Herr Pilgram, helfen Se!«
+
+Aus der geöffneten Tür kam ein warmer Strom von Rosenduft ... und Rosen
+überall, ein Rosenschwall, ein Rosenwald ... betäubend duftende, schon
+leise welkende Rosen ... dazwischen die eigentlichen Blumen der Saison:
+Dahlien, Astern, Erika ... und inmitten, auf eine Chaiselongue
+hingeworfen, in leidenschaftlichem Schluchzen -- sie ...
+
+Ein riesiges Arrangement von Rosen und Chrysanthemen, in Manneshöhe,
+lag umgestürzt auf dem Boden -- daneben ein aufgerissenes Kuvert
+mit aufgeprägtem Wappen, ein zerknitterter Bogen schweren
+Elfenbeinbriefpapieres, und -- -- zwei Hundertmarkscheine ...
+
+Auf dem Tisch aufgereiht die Karten der Spender der übrigen
+Blumenherrlichkeiten -- Jucunda war offenbar eben beschäftigt gewesen,
+den Gebern zu danken, prompt und akkurat, wie es zu den geschäftlichen
+Pflichten einer vielgefeierten Künstlerin gehört ... da war =das da=
+gekommen ...
+
+Frau Buchner hob das Briefchen auf, glättete es und hielt es Pilgram
+hin. »Da läsen Se's -- und sagen Se, ob so was meeglich is -- so eene
+Gemeinheit --!«
+
+Jucunda hatte sich beim Klang der Stimme ihrer Mutter aufgerichtet ...
+nun tupfte sie rasch mit dem nassen Tüchlein die Tränen von den
+glühenden Augen, ordnete das wirre Haar und verfolgte mit gierigen
+Blicken Valentins Gesichtsausdruck, während er das Briefchen durchflog
+...
+
+Valentin Pilgram las ... und eine dunkle Zornesflamme schlug über sein
+feierliches Gesicht.
+
+»Halunken!« knurrte er.
+
+Er las weiter -- nun wendete er das Blatt und sah nach der Unterschrift
+... und plötzlich wurden seine Züge ganz starr, und seine Hände ballten
+sich zur Faust. Dann las er zu Ende ... ließ das Blatt sinken und
+starrte die Schauspielerin an mit Augen, in denen Schreck, fassungs- und
+ratlose Bestürzung stand.
+
+»Sie ... kennen, scheint's, die Herren --?« fragte die Kanzleirätin.
+
+»Es scheint, fast -- ja ... entsetzlich fatal ...«
+
+»Am Ende gar -- Korpsbrüder von Ihnen --?«
+
+»Hm -- wenn's richtige Korpsbrüder von mir wären -- denen wollt ich die
+Flötentöne schon beibringen!! -- aber so ...«
+
+»Aber -- Sie kennen die Absender?«
+
+»Ich ... fürchte ... ich kenn' sie ... von Dillingen ... von Gorczynski
+...« Und mit heftig stammelnden Worten erklärte er den Damen, wer es
+sei, den er hinter diesen Namen vermuten müsse ... und in wie naher
+Beziehung diese Herren zu seinem Korps, zu ihm selbst standen ...
+
+»Da sehen Sie's!« sagte Jucunda. »Ein Erbprinz! Ein Fürst! das muß man
+eben einstecken ... nicht mal verklagen kann man so 'n großes Tier --
+sonst engagiert einen kein Hoftheater mehr ... ganz wehrlos und
+schutzlos ist man ...«
+
+Und wiederum flossen die Tränen über das weiße, herrische Gesicht ...
+und auch die Mutter, vom herzbrechenden Weinen der Tochter angesteckt,
+schluchzte nun los. Um die Wette weinten die Frauen.
+
+Es arbeitete heftig in Valentin Pilgrams festem, offenem Gesicht.
+
+»Nein,« sagte er plötzlich hart und stand mit einem Ruck auf.
+»Schutzlos? Das sind Sie nicht. Guten Morgen, meine Damen.«
+
+»Wohin, Herr Pilgram? Was haben Sie denn? Was ist Ihnen?« rief Jucunda
+und hielt den Studenten am Aermel seines Bratenrockes fest.
+
+»Ich werde Ihnen Genugtuung verschaffen!«
+
+»Sie -- mir? Nein, Herr Pilgram, das ... das geht nicht ... Sie werden
+ja die entsetzlichsten Unannehmlichkeiten haben ... werden sich
+womöglich gar um meinetwillen -- nein, das will ich nicht -- das sollen
+Sie nicht, Herr Pilgram!«
+
+»Nee, nee, Herr Pilgram!« sprudelte auch die Frau Kanzleirätin, »das
+dürfen Se nich machen! Das kenn' wir ja gar nich von Ihn' verlangen! Das
+dürfen wir ja gar nich von Ihn' annähm'!«
+
+»Seien Sie ohne Sorge meinetwegen!« sagte Valentin und reckte sich zu
+seiner ganzen Länge. »Ich bin Manns genug, so eine Affäre standesgemäß
+zu erledigen.«
+
+»Nein, Herr Pilgram, das dulde ich unter keinen Umständen! Wie kämen Sie
+denn dazu, sich für mich ... ich bitte Sie, was gehe ich Sie denn
+überhaupt an?«
+
+Da sah der Student das schöne Mädchen mit einem Blick an, vor dem sie
+die Augen niederschlagen mußte in Schreck und stolzem Machtgefühl
+zugleich. Gott, war das entsetzlich ... war das berauschend schön ...
+was sie da so jäh, so unerwartet erlebte ...
+
+»Erinnern sie sich noch an ... gestern abend?« sagte der Jüngling. »Was
+Sie mir da versprochen haben?«
+
+»Ach ... das war so leichtsinnig daher geredet ...«
+
+»Von =mir= nicht!«
+
+Ach ... wie süß das war ... dies Bewußtsein, daß ein Starker, ein Kühner
+sich einsetzt für dich ...
+
+Aber nein ... das durfte nicht sein ... mit Blitzesschnelle flogen die
+Bilder von hundert schrecklichen Möglichkeiten an ihrem Geiste vorbei.
+Er war doch wohl Jurist -- seine Karriere würde er sich ruinieren --
+sein Examen zunächst ... und wer weiß -- zwar Prinzen -- die schlugen
+sich ja wohl nicht -- aber der Major ... ein Offizier ... ein Duell ...
+Himmel, und der junge Mensch hatte ja doch Eltern daheim ... und
+schließlich -- auch sie selber konnte eigentlich keinen Skandal
+gebrauchen ... was wohl Franz Burg dazu sagen würde ... und ihr
+gnädiger, gütiger Herr daheim in Meiningen ...
+
+»Herr Pilgram -- das darf nicht sein! Ich bitte Sie, wenn Sie wüßten,
+wie oft unsereine so etwas erleben muß -- wenn man da jedesmal Krach
+machen wollte! Die Herren haben's ja wahrscheinlich gar nicht so schlimm
+gemeint -- haben sich wohl gar nichts dabei gedacht --«
+
+»Sie haben ... weinen müssen ...« sagte Valentin Pilgram durch die Zähne
+... »das sollen sie mir bezahlen ... die zwei.«
+
+Und mit sanftem Druck machte er die große, schlanke Hand los, die seinen
+Rockärmel noch immer gefaßt hielt, küßte sie ehrerbietig und ging zur
+Tür.
+
+»Ach -- die dummen Tränen --« rief Jucunda -- »das macht nichts, die
+sitzen einem Mädchen ja so lose ... sehen Sie, ich lache ja schon wieder
+... ich lache ja doch --«
+
+Und sieh: da liefen ihr wirklich aufs neue die heißen, hellen Tropfen
+über die glühenden Backen ... sie schluchzte wie ein Kind:
+
+»Ich will aber doch nicht -- Sie sollen nicht, Herr Pilgram --!«
+
+Der war schon aus der Tür, schritt in seine Bude hinüber, riß die neuste
+grüne Mütze vom Nagel und stülpte sie auf den Schädel. Nahm sein
+silberbeschlagenes spanisches Rohr und ging zum Flur ... klinkte mit
+hartem Ruck die Pforte auf und stieg mit hallenden Tritten die Treppen
+hinab. Aus der steinumschnörkelten Pforte des altersgeschwärzten
+Barockhauses trat er auf die belebte Katharinenstraße, ging den Markt
+hinunter am Ladengewimmel des Rathausparterres vorbei und stolzierte
+grimmigen Schrittes die Grimm'sche hinab.
+
+Und dabei sann er, was zu tun. Also jetzt werde ich die beiden Burschen
+ankontrahieren müssen -- nicht auf Pistolen, bah! Vor die Klinge sollen
+sie mir, vor die krumme! Freilich, der Prinz wird sich wohl hinter seine
+Hausgesetze verkriechen und mir einen Ersatzmann präsentieren ... aber
+der Major, dieser aalglatte Streber -- der muß 'ran! Hat ja auch wohl
+jedenfalls den saubern Wisch verfaßt -- denn des Prinzen kindliche Pfote
+war das nicht, die kenn' ich doch! Na, und dann wollen wir dem mal
+zeigen, was 'ne Prim ist!
+
+Hm ... aber ... wie stellt sich das Korps dazu? Der Prinz ist
+Konkneipant unseres Bundes, trägt offiziell seine Farben ... also ...
+ich werde austreten müssen ... und nicht nur _pro forma_, denn sie
+können mir ... nach dem Skandal können sie mir niemals das Band
+zurückgeben ...
+
+Teufel auch, da hab' ich mir ja eine schöne Suppe eingerührt ...
+
+Aber was kann das helfen ... Ritterpflicht ist Ritterpflicht ... kein
+Mädchen, und wär's zehnmal eine Komödiantin -- keine soll klagen, daß
+ihre Ehre schutzlos sei, solange Valentin Pilgram noch eine Klinge
+führen kann ... Hatte er sich nicht ihrem Dienste gelobt -- gestern
+abend? Und wie rasch war das nun gekommen, daß dies Gelöbnis ihn zu
+Taten rief!
+
+Geld hatte man ihr zu bieten gewagt ... ihr, die ganz Deutschland
+vergötterte ... ihr, die vor seinen Augen dastand in so stolzer
+Reinheit, wie eine Heilige ... die hatte man kaufen wollen wie eine ...
+wie eine aus den dunklen Gäßchen der Stadt, durch die am hellsten Tage
+niemand gehen mochte --?! Das forderte Blut -- nur mit Blut war das zu
+sühnen --!
+
+Aber ... du selber, Valentin Pilgram --?
+
+Hm ... ist das nun nicht eigentlich doch ein Narrenstreich? Hat sie
+nicht doch recht gehabt, als sie sagte: was geh' ich Sie an --?!
+
+O Valentin Pilgram, Rechtskandidat im achten Semester -- greif' in deine
+Brust und frage dich: geht sie dich an -- diese -- diese da?!
+
+Ja -- wenn eine in der Welt, dann geht diese da dich an ... denn,
+Valentin Pilgram, so närrisch das auch klingen mag ... Du bist ...
+diesem Mädchen bist du verfallen seit dem Augenblick, als sie durch die
+Gasse des jauchzenden Volkes vor Karl den Siebenten trat ... und
+zugleich in dein Leben, Valentin Pilgram, schicksalsgewaltig ... für
+immer -- für alle deine Tage --!
+
+Nun lag vor dem Schreitenden, herbstsonnenübergoldet, der Augustusplatz:
+zur Rechten flimmerten die Wasser des Mendebrunnens, reckte sich die
+finsterblinkende Front des Museums; zur Linken stieg in heiterer Anmut
+der köstliche Bau des Neuen Theaters ins duftige Blau. Dorthin strebte
+Franconias Senior, denn er wußte zu dieser Stunde das Korps im
+Restaurant auf der Theaterterrasse zum Frühschoppen versammelt. Vor ihm
+wanderte noch eine andere grüne Mütze: Pilgram ließ den Frankenpfiff
+schallen: da fuhr der Kopf unter der grünen Fuchsmütze herum:
+
+»Ah ... Pilgram --«
+
+Ehrerbietig zog das blonde Füchschen vor dem gestrengen Ersten den
+Deckel und sprang heran.
+
+»Also, Hartwig, geh' zum Frühschoppen und sage dem Fuchsmajor, er möge
+sofort die Korpsburschen zum außerordentlichen Korpskonvent
+zusammenbitten! Ich erwarte die Herren im Flügelzimmer des Restaurants
+-- verstanden?«
+
+»Gewiß, gewiß, Pilgram -- ich laufe ...«
+
+Und vom muntern Frühtrunk weg, von der sonnüberglühten Terrasse, wo bei
+rauschender Musik die Korps ihren offiziellen Frühschoppen hielten
+inmitten neugierig beobachtender Fremden, verschwand ein wohllöblicher
+C. C. der Franconia unter dem Rundbogen, der zum inneren Lokal führte,
+und versammelte sich in einem kühlen, abseitigen Gastzimmer zum Konvent
+-- gespannt, was diese unerwartete Ladung zu bedeuten haben möge.
+
+Die Franken waren's gewohnt, daß ein Ausdruck beklemmender Feierlichkeit
+sich über das hagere Gesicht ihres Ersten legte, wenn er den
+Korpskonvent eröffnete: aber so ... so unheimlich offiziell hatten sie
+ihn doch noch niemals gesehen.
+
+»Ich habe dem C. C. von einer persönlichen Angelegenheit Mitteilung zu
+machen, die -- zu meinem größten Bedauern -- mich in einen Widerspruch
+mit den Interessen des Korps bringt. Unser Konkneipant, Seine
+Durchlaucht der Erbprinz, und dessen Begleiter Major v. Gorczynski haben
+sich einer schweren Beleidigung gegen eine Dame schuldig gemacht. Diese
+Dame ... diese Dame steht unter meinem Schutze ... und deshalb sehe ich
+mich genötigt, diesen Herren eine schwere Forderung zu übersenden. Ich
+kann natürlich nicht erwarten, daß das Korps den Erbprinzen zur
+Verantwortung zieht ... und deshalb bleibt mir nichts übrig, als den
+C. C. zu bitten, mir die Entlassung ohne Farben zu gewähren, damit ich
+den Ehrenhandel mit einem Herrn, der offiziell zu den Angehörigen des
+Korps zählt, zum Austrag bringen kann. Wünscht jemand zu meinem Antrage
+das Wort?«
+
+In stummer Verblüffung hatten die jungen Herren den Vortrag ihres
+Häuptlings angehört -- angesteckt von seiner Erregung, seinem fiebernden
+Ernst. Nun baten fast sämtliche Korpsburschen ums Wort und verlangten
+nähere Erklärungen. Man fragte, wie es möglich sein könne, daß der junge
+Prinz mit einer Dame, welche der nächsten Verwandtschaft ihres
+Korpsbruders angehörte -- denn nur um eine solche Dame konnte es sich
+doch handeln -- überhaupt in Berührung gekommen sein könne?
+
+»Die Dame, für die ich einzutreten habe, ist keine Verwandte von mir ...
+es handelt sich um ein junges Mädchen, das außer seinem Vater, einem
+älteren, gebrechlichen Herrn, keinen männlichen Schutz zur Seite hat --
+und für das einzutreten mir deshalb als die Pflicht eines Ehrenmannes
+erscheint, zumal diese junge Dame zugleich eine berühmte und gefeierte
+Künstlerin ist ... es handelt sich um die herzoglich meiningische
+Hofschauspielerin Jucunda Buchner.«
+
+Ein unwillkürlicher Laut des Staunens, der tiefsten Ueberraschung
+entfuhr jedem der jungen Herren. Keiner konnte sich den Zusammenhang
+erklären ... wußte doch außer Hans Thumser noch nicht ein einziger von
+ihnen, daß ihr Erster, der notorische Verächter alles dessen, was Kunst
+und Künstler hieß, überhaupt gestern abend bei den »Meiningern« gewesen
+war ...
+
+»Ich bitt' ums Wort!« rief Ivo Volkner, der temperamentvolle
+Rheinländer, und als der Erste dem Konvent Silentium für Volkner
+anbefohlen: »Ja, lieber Pilgram -- ohne uns in Deine persönlichen
+Angelegenheiten hineinmischen zu wollen -- aber Deine Erklärungen sind
+doch für uns alle dermaßen -- überraschend, daß wir doch wohl um etwas
+genauere Auskunft bitten müssen ... was ist der ... jungen Dame ... denn
+eigentlich passiert ... und wie kommst Du -- gerade Du dazu, Dich zu
+ihrem Ritter aufzuwerfen?«
+
+»Ich will ... zuerst diese letzte Frage beantworten. Oder vielmehr nicht
+beantworten. Liebe Korpsbrüder, Ihr kennt mich und wißt: ich weiß im
+allgemeinen, was ich tue ... Und wenn ich Euch sage, das, was ich zu tun
+vorhabe, das muß sein -- na, dann darf ich vielleicht von Euch erwarten,
+daß Ihr mir das glaubt. Hab' ich recht?«
+
+Allgemeines Gemurmel der Zustimmung.
+
+»Also noch einmal: ich halte mich für verpflichtet, für die Dame
+einzutreten ... und bitte den C. C. ... von einer näheren Darlegung
+meiner Motive ... Abstand zu nehmen.«
+
+Volkner bat ums Wort und fragte:
+
+»Ohne weiter in Dich dringen zu wollen, Pilgram: wir hören doch alle in
+diesem Augenblick zum ersten Male, daß Du die Dame überhaupt kennst.
+Sollten wir dann nicht wenigstens erfahren, wann und ... unter welchen
+Umständen Du ... ihr denn eigentlich dermaßen nähergetreten bist, daß Du
+-- hm! daß Du nun dermaßen für sie in die Verlängerung springen willst?«
+
+»Das kann ich Euch mitteilen ... aber zur Erklärung meiner ... meines
+Entschlusses wird's Euch wenig nützen ... ich muß da schon an ... an
+Euer korpsbrüderliches Vertrauen appellieren ... ich kenne Fräulein
+Buchner erst seit gestern abend ... sie ist die einzige Tochter des
+Kanzleirats Buchner ... bei dem ich zur Miete wohne.«
+
+»Also sozusagen -- _filia hospitalis_!« sagte Volkner, und ein kurzes,
+verständnisvolles Schmunzeln ging über die erregten Gesichter der
+Korpsbrüder.
+
+»Nun, ich denke, ich habe Euch zu diesem Punkte mitgeteilt, was ... was
+sich irgend mitteilen läßt. Und zweitens -- was wolltest Du ferner noch
+wissen, Volkner?«
+
+»Ja -- was denn der Erbprinz eigentlich gemacht hat ...«
+
+»Er hat sie durch seinen Begleiter zum Souper einladen lassen -- na, das
+möchte ja allenfalls gehen ... aber er hat dieser Einladung dadurch
+einen nicht mißzuverstehenden Charakter gegeben -- daß er ... daß er
+zwei Hundertmarkscheine beigefügt hat ...«
+
+Das Lächeln, das bei Erwähnung der Soupereinladung um die Lippen der
+jungen Herren aufgezuckt hatte, erlosch ... Rufe wurden laut:
+
+»Geschmacklosigkeit!«
+
+»Donnerwetter, der geht aber aufs Ganze!«
+
+»Na ja -- ein Förscht -- der denkt eben, er braucht bloß auf'n Knopp zu
+drücken ...«
+
+»Ich denke, liebe Korpsbrüder, Ihr seht ein, daß eine solche infame
+Beleidigung -- einem anständigen Mädchen gegenüber -- Fräulein Buchner
+=ist= ein anständiges Mädchen, und wenn sie zehnmal eine Komödiantin ist
+-- was sagst Du, Thumser? Du kennst sie ja auch?«
+
+Hans Thumser hatte mit einem wahren Toben der Gefühle die Verhandlung
+verfolgt, ohne selbst das Wort zu nehmen. Mein Gott, wie war aus dem
+strahlenden Spiel von gestern so rasch ein grotesker, tragikomisch
+grinsender Ernst geworden! Und was war doch dieser offizielle,
+banausische Pilgram für ein Prachtkerl, daß er sich für ein jählings
+erwachtes Gefühl gleich so ganz und rückhaltlos in die Schanze warf!
+
+Ach, und du, Hans Thumser? was soll denn heut nachmittag werden? Mit was
+für Träumen, was für Begehrnissen, Hans Thumser, trägst du dich?!
+
+»Ein anständiges Mädchen?« rief er zur Antwort auf die Frage des Ersten.
+»Eine Königin ist sie ... eine Göttin ... Pilgram, ich beneide Dich um
+das Glück, für sie vom Leder ziehen zu dürfen!«
+
+»So überschwenglich brauchen wir das gar nicht mal auszudrücken,« sagte
+der Erste. »Aber ein anständiges Mädchen ist sie ... und da ich nun mal
+zufällig das Pech oder ... das Glück habe, mit ihr unter einem Dache zu
+wohnen ... und der erste honorige Mensch zu sein, dem sie sich
+anvertraut hat ... so bleibt ja wohl nichts andres übrig, als die
+Konsequenzen zu ziehen ...«
+
+Bei diesen so nüchtern klingenden Worten schwoll's in all den jungen
+Burschenherzen. Es war der romantische Glanz, der diese Tat ihres
+Korpsbruders, ihres Führers, umwob, der ihnen allen Sinne und Urteil
+blendete. Wenn auch der Idealismus, den das Gymnasium in ihnen erzogen,
+durch die Formen blasierten, kaltschnäuzigen Lebemannstums verdeckt, ja
+stellenweise überwuchert sein mochte -- noch lebte in ihnen allen etwas
+von dem Adelsgeiste, unter dessen Herrschaft ihre ganze Jugend, die
+Formung ihrer Seelen gestanden ... Wohl stieg in manchem von ihnen das
+Gefühl auf, als hätte sich doch am Ende ein Kompromiß finden lassen ...
+noch bedächtigere Seelen bedachten gar insgeheim, daß eine solche
+Katastrophe, auch wenn Pilgram vorher offiziell aus dem Korps
+ausschiede, doch nicht ohne Folgen für die Beziehungen des Korps zu dem
+Erbprinzen und damit vielleicht überhaupt zu den deutschen Fürstensöhnen
+bleiben könne ... In weiter Ferne dämmerte gar hie und da etwas wie der
+Gedanke an verpfuschte Karriere, verspielte Zukunftsaussichten ... aber:
+
+ »Wer die Folgen ängstlich zuvor erwägt,
+ Der beugt sich, wo man die Tiefquart schlägt --
+ Frei ist der Bursch!«
+
+-- das galt auch heute noch, das galt, das sang man nicht nur, so
+handelte man auch -- hol's der Teufel!
+
+Einstimmig ging Pilgrams Antrag durch, ihm die ehrenvolle Entlassung
+ohne Band zu erteilen ... Aber durch jedes Herz ging's wie ein schriller
+Riß, als nun Valentin Pilgram stumm das grün-gold-rote Band von der
+Brust zog, es stumm auf die Mütze legte, die auf dem Tische lag, sich
+mit schweigendem Händedruck von den ... ehemaligen Korpsbrüdern
+verabschiedete ... und, mit einem Handwink im Kreise, an ihnen
+vorüberschritt ...
+
+Er ging durch den Schenkraum des Theaterrestaurants, schritt barhaupt
+quer über den Augustusplatz, kaufte sich in der Passage für seinen
+letzten Taler (Gott sei Dank, morgen ist der Erste!) einen einigermaßen
+schäbigen Filzhut und kehrte dann zur Theaterterrasse zurück. Grüßend
+schritt er am Frankentisch vorbei, wo die harrenden Füchse in stummer
+Verwunderung ihre Mützen zogen, lüftete flüchtig den Hut zu den Tischen
+der übrigen Korps und trat auf den Neo-Borussentisch zu, an dessen
+Spitze der Erste, Herr Borgmann, mit dem gewohnten süffisanten Lächeln
+präsidierte.
+
+»Herr Borgmann -- kann ich Sie einen Moment sprechen?«
+
+»Mit dem größten Vergnügen, Herr Pilgram ...«
+
+Die beiden jungen Herren traten abseits an den Rand der Terrasse, von
+der der Blick hinschweifte zum zitternden Spiegel des Schwanenteiches,
+auf das braune, rieselnde Laub der Anlagen auf dem alten
+Umwallungsgebiet.
+
+»Zunächst gestatte ich mir, Ihnen anzuzeigen, daß ich aus dem Korps
+Franconia ausgeschieden bin ...«
+
+»Herr Pilgram --!«
+
+»Sie werden den Grund sogleich erraten: Ich bitte einen wohllöblichen
+C. C. der Neo-Borussia um Waffenschutz und zugleich Sie persönlich um
+die große Liebenswürdigkeit, Seiner Durchlaucht dem Erbprinzen von
+Nassau-Dillingen und Herrn Major von Gorczynski je eine Forderung auf
+schwere Säbel ohne Binden und Bandagen auf fünfundzwanzig Minuten bis
+zur Abfuhr zu überbringen.«
+
+
+In ratloser Verblüffung waren Mutter und Tochter zurückgeblieben, als
+ihr Student sich so unerwartet und kategorisch zu Jucundas Ritter
+aufgeworfen. Nun sie allein waren, wich die erste Rührung und
+Ergriffenheit bald einem kaltblütigen Erwägen.
+
+»Das gibt weeß Knebbchen än richt'gen Schkandal!« platzte Mutter Doris
+heraus. »Gucke, das hast Du nu davon, daß Du Dich so hast vergessen
+kenn'! Schließlich -- so gefährlich war doch am Ende die ganze
+Geschichte nu nich! Man hätte den Herrn ihr Geld einfach sollen
+wiederschicken -- mit Abzug von's Porto nadierlich -- un den Korb zum
+Gärtner zurück, un all's war in Ordnung! Statt dem wird der nun hingehn
+und wird'n fordern, den Erbprinz, un der Krach is fertig! Un
+schließlich, was wer'n die Leite sagen? Die Buchner hat's mit ä
+Studenten, wer'n se sagen!«
+
+Eine Flut von wirren Gedanken wirbelte durch Jucundas Hirn. Da
+war so unendlich Vieles, was beglückte, erregte, schmeichelte,
+stachelte, berauschte! Welch eine Macht ging von ihr aus -- trieb den
+langen Jungen, einen Sohn aus gutem Hause, den Ersten Chargierten
+des ältesten und angesehensten Korps in Leipzig -- sie war ihren
+Kindheitserinnerungen noch nahe genug, fühlte sich noch immer als
+Tochter eines Hauses, das jahraus, jahrein nur Korpsstudenten
+beherbergte -- wußte das als eine Ehre zu schätzen ... ihn trieb sie in
+tolle, aberwitzige Abenteuer, diese unheimliche Macht, die von ihr
+ausging ... Achtzehn Jahre, und schon der Mittelpunkt von Tragödien und
+Katastrophen ...
+
+Aber da war noch eine andere Stimme: die Stimme der kalt rechnenden
+Vernunft, die Stimme der kleinbürgerlichen Gerissenheit, die das früh
+gewitzigte Töchterchen einer engbegrenzten Spießerwelt auf ihrem Anstieg
+in lichte Höhen des Daseins bisher so sicher geleitet hatte: die warnte
+vor dem Skandal ... mahnte zur Ruhe, zur Vorsicht ...
+
+»Wenn ich nur wüßte, was Hoheit in Meiningen zu so einer Geschichte
+sagen würde ...«
+
+»Nu, ich glaub' nich, daß der gnädigste Herr sähre entzickt mechte sinn,
+wenn's Geschichten gibt wegen en Prinzen aus fürstlichem Hause ...«
+meinte die Mutter.
+
+Jucunda sann, an wen sie sich wohl um Rat wenden könnte. Franz Burg!
+schoß es ihr durch den Sinn. Der wackere, selbstlose Freund und Förderer
+hätte es wohl verdient, daß sie sich überhaupt zuerst an ihn gewandt
+hätte ... Und das hätte sie ja auch sicherlich getan, wenn nicht ihre
+Nerven, noch nachzitternd von den gestrigen Fiebern, ihr den Streich mit
+dem Weinkrampf gespielt hätten ... ja, und da war's eben alles so von
+selbst gekommen, das Andre, das Unwahrscheinliche, das süß Berauschende
+und Erschreckende ...
+
+Mutter Doris war natürlich sehr einverstanden ... Und alsbald war
+Jucunda auf dem Wege zu Franz Burg ... wie sie immer zu Franz Burg
+gegangen war, wenn sie nicht mehr aus noch ein wußte ... es gingen
+sehr viele Menschen zu Franz Burg, wenn sie nicht mehr aus noch ein
+wußten ...
+
+Ach, wie ging sie gern zu Franz Burg! Erstens war es ein behagliches
+Bewußtsein, daß er verheiratet war -- sehr glücklich verheiratet.
+Zweitens war's ein sehr behagliches Bewußtsein, daß -- nun daß er
+trotzdem heftig für sie schwärmte -- so was merkt man doch, nicht wahr?
+-- daß sich hinter seiner trockenen, reservierten Freundschaft eine
+Empfindung versteckte, die gewaltsam gebändigt werden mußte ...
+
+Gott, ist das entzückend, so zu fühlen, zu wissen, daß man wie eine
+allvergötterte Königin durchs Leben schreitet ... Ihr fiel ein, daß sie
+einmal von den Indianern gelesen hatte, sie sammelten die Skalpe ihrer
+erlegten Feinde ... O Jucunda -- wenn du die Skalpe deiner zur Strecke
+gebrachten Verehrer sammeln würdest ... was für ein Museum käme da
+zusammen!
+
+So sann Jucunda, während sie hastig die Petersstraße hinabschritt, den
+Weg, den man sie gestern im Triumphzug heimwärtsgeführt ... Unter dem
+Torweg kaufte sie sich die Morgenzeitungen, außer dem Tageblatt, das
+sie daheim zum Frühstück schon verschlungen, und las die Kritiken ...
+eitel Hosianna über den ganzen Abend, und sie natürlich der Mittelpunkt
+... und hier ein Bericht über ihre Heimkehr, feuilletonistisch
+zurechtgestutzt -- brav so, brav, na ja, so was macht eine bildschöne
+Reklame, das darf öfter passieren!
+
+Erst während sie die Anlagen am Roßplatz kreuzte, den Königsplatz
+überschritt, kam ihr wieder in den Sinn, weshalb sie sich eigentlich
+heut morgen zum Theater aufgemacht hatte, wo sie doch auf Rechnung
+der gestrigen Strapaze von der Probe dispensiert war. Nein, dieser
+gute Pilgram -- so ein Starrschädel! Eigentlich rührend ... und doch
+ein bißchen zum Lachen, daß er sich ihretwegen ... des lumpigen Billetts
+wegen, das doch wahrhaftig nicht das erste gewesen war und auch nicht
+das letzte sein würde ... daß er sich deswegen mit Tod und Teufel
+schlagen wollte -- sich sein Leben verpfuschen reineweg! Also solche
+Männer gab es doch auch ... eigentlich eine Wohltat, wenn man so
+inmitten dieses marklosen, irrlichtelierenden, an großen Worten sich
+betrinkenden und vor jeder Tat mit eingekniffenem Schwanz abseits
+schleichenden Künstlervolks lebte ... Franz Burg war ja eine Ausnahme
+... aber ob er sich ihretwegen auch nur einem Schnupfen ausgesetzt
+hätte statt einer Degenklinge -- das bezweifelte Jucunda denn doch
+eigentlich ...
+
+Da war das Carolatheater ... Jucunda schritt durch den Eingang,
+überquerte das schmale Höfchen, den Kassenflur, in dem sich bereits
+wieder das Publikum um die Abendplätze prügelte -- Gott, wie wird Hoheit
+sich über die Kassenrapporte freuen! -- schlüpfte durch die knarrende
+Eisentür in den Bühnenumgang und horchte am Pförtchen, das zur Bühne
+führte. Burg arrangierte eben das »Lager« ...
+
+»Kinder,« hörte sie seine Stimme, »faßt Eure Kriegsknechte man recht
+feste um 'n Hals -- Ihr seid jetzt keine höheren Töchter mehr, Ihr seid
+Lagerdirnen des Friedländers, die hatten etwas weniger etepetetige
+Umgangsformen als die Leipzigerinnen von 1888! Und wenn's aus Versehen
+mal 'nen handfesten Kuß absetzt -- na, für die Kunst muß man eben Opfer
+bringen können!«
+
+Ja -- das konnte natürlich bis zur Erschlaffung so weitergehen ... und
+dabei war doch Eile not ... Es half nichts, sie mußte unterbrechen ...
+obschon sie wußte, daß er das auf den Tod nicht leiden konnte ... Sie
+trat in den halbdunklen Bühnenraum, den nur die offenen Gasflammen der
+Proberampe matt erhellten. Da stand Franz Burg neben dem Regietisch,
+umringt von der andächtig lauschenden Schar des »Volkes«.
+
+»Suchen Sie mich, Buchner?«
+
+»Wenn Sie einen Moment Zeit für mich hätten, Meister ... es ist dringend
+...«
+
+Jucunda störte nicht ohne Grund -- dafür kannte er sie. Aber allzu
+gnädig klang es nicht, wie er drinnen im Konversationszimmer ein kurzes
+»Also los!« hervorstieß.
+
+Und Jucunda berichtete. Ausführlich entschuldigte sie sich, daß sie sich
+nicht zuerst an ihn gewandt ... ließ deutlich durchblicken, daß ihr die
+ganze Geschichte nur so über den Kopf gekommen ...
+
+Ein sardonisches Schmunzeln zog über's ausgearbeitete Gesicht des
+Oberregisseurs, in seinen dunklen, tiefliegenden Augen tanzten tausend
+Teufelchen.
+
+»Un wat sall ick dorbi dauhn?«
+
+»Helfen sollen Sie, lieber Freund! Das darf doch nicht geschehen!«
+
+»Ganz im Gegenteil, Kindchen -- einer von den dreien muß auf der Strecke
+bleiben -- noch besser alle! Die Schädel sollen sie sich spalten --
+einander auffressen wie die beiden Löwen in dem berühmten Liede:
+
+ Zwei Löwen gingen einst selband
+ In einem Wald spazoren,
+ Und haben da, von Wut entbrannt,
+ Einander aufgezohren!«
+
+»Das -- kann Ihr Ernst nicht sein!«
+
+»Aber blutiger! Was liegt an einem Rechtskandidaten, einem Erbprinzen,
+einem Stabsoffizier! Hin müssen sie allesamt werden, damit Jucunda
+Buchner im Triumph über ihren Leichnamen zum Tempel des Ruhms
+emporwandelt!«
+
+»Ach -- mir ist wirklich nicht nach Späßen zumut!«
+
+»Denken Sie, mir?! Merken Sie nicht, Kindchen: alles, was nicht zum Bau
+gehört, ist Publikum, das heißt, einzig und allein dazu da, uns zu
+bewundern, zu feiern, zu erhöhen ... Gestern abend haben sie Ihnen die
+Pferde ausgespannt und Sie im Wagen nach Hause gezogen: geben Sie mal
+acht, wenn Ihr Student und Ihr Erbprinz sich Ihretwegen gegenseitig
+aufgespießt haben -- was die Leute dann erst mit Ihnen aufstecken! Auf
+Händen werden Sie dann nach Hause getragen!«
+
+»Und ... was wird Hoheit zu der Geschichte sagen?«
+
+»Hm ... Hoheit ...« Burg sann einen Augenblick nach. Allerdings, das war
+zu erwägen ... An Hoheit durfte so eine kindische Affäre natürlich nicht
+herankommen ...
+
+Aber ... würde es denn überhaupt eine Affäre werden? Franz Burg kannte
+die Welt und wußte, daß in ihr nichts so heiß gegessen wird, wie
+jugendlicher Ueberschwang es kochen möchte ...
+
+»Na ... so weit sind wir ja noch lange nicht!« lachte er. »Vorläufig
+wollen wir mal ruhig zusehen, wie das Rummelchen sich historisch
+entwickelt ... Is ja ganz nett, auch mal Zuschauer spielen zu dürfen!
+So, und nun muß ich wieder Affen dressieren -- komm her, Langbeinchen,
+gib mir 'n Kuß!«
+
+
+Als Jucunda auf der Straße stand, sah sie ihre Kollegin Thöny drüben in
+einem Fenster des ersten Stockes liegen. Sie winkte ihr zu.
+
+»Was haben Sie denn da drinnen gemacht, Buchner? Kommen Sie 'nauf, wir
+schwatzen ein bissel!«
+
+Die beiden Rivalinnen kamen rasch ins Gespräch. Plötzlich fiel's Jucunda
+ein, daß ihre Mutter daheim mit dem Mittagessen wartete: Na, dem ließ
+sich abhelfen -- es war nicht alle Tage so nett -- nicht alle Tage
+vertrug man sich so gut mit seinen Kolleginnen -- das mußte man
+auskosten. Sie pfiff sich einen barfüßigen Jungen von der Straße herauf
+und schickte ihn mit einem Markstück und einem Stadttelegramm zum
+nächsten Postamt.
+
+ »Muß probieren, nicht zum Essen erwarten. Jucunda.«
+
+Die Mädchen teilten das frugale Mittagsmahl, das Mutter Ach ihrer
+Pensionärin gekocht hatte, und schwatzten, küßten sich, schworen sich
+ewige Freundschaft ... und Asta Thöny hatte ganz vergessen, daß sie noch
+heut nacht so heiß geweint hatte, weil man Jucunda Buchner die Pferde
+ausgespannt hatte und ihr nicht ...
+
+Und Jucunda Buchner dachte nicht mit einem Sterbensgedanken mehr daran,
+daß um ihretwillen ein junger, wackerer Gesell im Begriff war, seine
+Zukunft und sein Leben auf ein tolles Spiel zu setzen ...
+
+
+Erbprinz Heribert und sein Mentor waren beim Dessert ... Zwei junge
+Leutnants vom hundertsiebenten Regiment, Söhne verarmter
+Nassau-Dillingenscher Adelsfamilien, deren alte Herren nur
+Infanteriezulage erschwingen konnten, waren zu Tische geladen. Man trank
+Pommery und beklatschte Hofskandäler der benachbarten Fürstenhöfe -- da
+wurde in dringlicher, persönlicher Angelegenheit Herr Studiosus Borgmann
+Neo-Borussiae gemeldet.
+
+»Hm ... dringliche, persönliche Angelegenheit? Also bitte ins
+Empfangszimmer ... Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, meine
+Herren ...«
+
+Sporenklirrend ging der Prinz -- den militärischen Gästen zu Ehren war
+er heut in der Uniform seiner Sophiendragoner -- in den Salon hinüber,
+dessen konventionelle Hoteleleganz durch ein paar erlesene Stücke aus
+dem erbprinzlichen Schloß Beauregard eine Art persönliche Note empfangen
+hatte.
+
+Herr Borgmann verneigte sich tief. Unter seiner schwarzen Kompresse
+waren Stirn und Nase erblaßt vor feierlicher Erregung.
+
+»Durchlaucht ... ich bedaure unendlich ... furchtbar peinliche Mission
+...«
+
+»Darf ich bitten, Platz zu nehmen?«
+
+Stotternd entledigte sich Herr Borgmann seines Auftrages.
+
+»Hören Sie mal, mein Verehrtester -- das ist ein Witz ... aber ein
+fader!« sagte der Erbprinz. »Einen Augenblick ... ich werde Herrn von
+Gorczynski rufen lassen, der ist ebenfalls beteiligt ...«
+
+Er klingelte und befahl, den Major zu bitten.
+
+»Nehmen Sie mir die Frage nicht übel, Herr Borgmann -- ist bei Ihrem
+Herrn Auftraggeber vielleicht eine Schraube los?«
+
+»Ich bedaure, als Kartellträger eine Kritik an dem Inhalt meines
+Auftrages ... weder selbst ausüben noch ... entgegennehmen zu dürfen
+...«
+
+»Sehr korrekt!« lobte der Erbprinz. »Sie haben ganz recht -- verzeihen
+Sie. Aber ich bin einstweilen dermaßen baff ... So was hab' ich denn
+doch nicht für möglich gehalten.«
+
+Und zu dem eintretenden Major mit einem boshaften Schmunzeln:
+
+»Nun sagen Sie mal, mein Verehrtester -- was haben Sie uns da denn
+eigentlich eingebrockt? Wir werden gefordert! Wir sollen uns prügeln --
+weil wir den perversen Wunsch geäußert haben, mit der Jungfrau von
+Orleans zu soupieren!«
+
+Der Major begriff nicht -- mußte erst völlig aufgeklärt werden -- und
+dann platzte er hell heraus ... Der Prinz stimmte ein, auch Borgmann
+glaubte aus schuldiger Höflichkeit mitlachen zu müssen ...
+
+»In der Tat, die Sache ist zum Wälzen,« sagte der Prinz -- »aber Teufel
+auch, wie bringen wir diesen rabiaten Burschen, den guten Pilgram, zur
+Ruhe? Wie die ganze verfahrene Karre wieder ins Gleis? Ich danke für
+einen Skandal ... die Sache muß unbedingt in aller Stille arrangiert
+werden.«
+
+»Durchlaucht,« sagte der Major, »ich bin natürlich schuld. Ich habe
+unsre ... hm, hm ... unsre vollkommen harmlose Soupereinladung scheinbar
+doch ein bißchen zu herausfordernd stilisiert ... ich übernehme
+selbstverständlich jede Verantwortung. Zunächst werde ich zu Fräulein
+Buchner hinfahren, mich als den Schreiber des ... verhängnisvollen
+Zettels bekennen ... und für mich, als den allein schuldigen Teil -- die
+Verzeihung dieser ... nun der jungen Dame erbitten. Damit dürfte dann
+wohl die Angelegenheit vollkommen erledigt sein -- nicht wahr, Herr
+Borgmann?«
+
+»Hm ... ich will's hoffen,« meinte Herr Borgmann etwas kleinlaut. »Wenn
+ich den Fall richtig taxiere, ist mein Herr Auftraggeber in ... na, in
+gewissen ... heiligen ... Gefühlen gekränkt ... die bei etwas
+temperamentvollen jungen Leuten leicht eine ... etwas explosive Form
+annehmen ...«
+
+»Ach so -- Koller nennt man das ja wohl,« näselte der Erbprinz. »Ja ...
+aber wenn ein solcher -- hm ... pathologischer Zustand gemeingefährlich
+wird, dann muß eben eine Radikalkur versucht werden. Aeh -- die Sache
+ödet mich ... Ich wünsche, lieber Herr von Gorczynski, daß Sie die
+Angelegenheit völlig ins Reine bringen, verstehen Sie mich?«
+
+»Gewiß, gewiß, Durchlaucht, ich werde es an nichts fehlen lassen ...«
+hastete der Major beflissen.
+
+»Und Sie, Herr Borgmann? Ich rechne auf Ihre Mitwirkung zu einer absolut
+geräuschlosen Beilegung!«
+
+»Durchlaucht wollen versichert sein, daß ich mein möglichstes tun
+werde!«
+
+Mit kurzer Verneigung schritt der Prinz an den beiden Herren vorüber und
+überließ sie ihrer Ratlosigkeit. Auf dem Wege zum Speisesalon brach er
+in ein schallendes Gelächter aus.
+
+So eine gerissene Katze -- bringt's fertig, einen Prinzen, einen
+Prinzenbegleiter und einen langen Laban von Schlagetot vor ihren
+Reklamewagen zu spannen ... und sowas ist achtzehn Jahre alt und spielt
+weißgewaschene Tugendengel dermaßen überzeugend, daß einem ganz
+kniefällig dabei zumute wird ... Na, warte Du, Dich zähm' ich mir noch
+mal, Du süße, weiße Bestie Du -- das lohnt doch noch der Mühe!
+
+»Sie, lieber Aldringen, geben Sie mal 'n Glas Pommery -- aber etwas
+lebhaft, bitte!«
+
+
+
+
+ 7.
+
+
+Major von Gorczynski hatte beschlossen, den Stier bei den Hörnern zu
+packen. So etwas Blödsinniges war ihm in seinem ganzen Leben noch nicht
+passiert! Eine Soupereinladung an eine Bühnenprinzessin, die mit einer
+Säbelforderung seitens eines Korpsstudenten beantwortet wird! Und noch
+dazu eines Korpsstudenten, von dem man mit positiver Bestimmtheit weiß,
+daß er allem, was Theater und Theaterweiber heißt, weltenfern steht! Das
+war zu abgeschmackt ... Was konnte nur vorgegangen sein, das diese
+ausgefallene Konstellation ermöglicht hatte! Das mußte man
+herausbekommen ... Und das Einfachste war, man ging gleich vor die
+rechte Schmiede ... Mit dem Mädel war jedenfalls noch am ehesten fertig
+zu werden ... Absolut geräuschlose Erledigung hatten Durchlaucht
+verlangt? Herr von Gorczynski kannte sich jedenfalls mit Mädeln noch
+besser aus als mit dieser rauf- und trinkfesten Männerjugend in Band und
+Mütze, deren Begriffe und Sitten so was mittelalterlich
+Unkontrollierbares an sich hatten ... Also auf zu Jucunda!
+
+Frau Kanzleirätin Buchner öffnete selbst die Tür und war nicht wenig
+entsetzt, als ein nicht mehr ganz junger, höchst eleganter und --
+hm! -- pikfein parfümierter Herr in Gehrock, Zylinder, hechtgrauen
+Glacés an der Entreetür stand und Fräulein Jucunda Buchner zu sprechen
+wünschte ...
+
+»Fräul'n Buchner is aus -- tut m'r unendl'ch leid ... Aber wenn ich was
+kennte bestell'n -- ich bin die Mutter.«
+
+Herr von Gorczynski musterte die stattliche, rundliche Frau mit
+Kennerblick. Es war nachmittags um vier, aber die ... Dame war noch
+immer in Morgentoilette ... geblümter Schlafrock und Schleifenhäubchen
+... Also aus so einem ... Milieu entstammte das Dämchen, für das der
+Sohn eines hohen sächsischen Justizbeamten Korpsband und Karriere in den
+Wind schlug ... Hm ... Das vereinfachte die Situation allerdings
+außerordentlich. Herr von Gorczynski war auf eine feingebildete Familie
+gefaßt gewesen ... Vielleicht Justiz, Universität, ein Predigerhaus ...
+Und nun ... Na, wenn man mit so etwas nicht geräuschlos fertig werden
+sollte ...
+
+»So ... Sie sind die Mutter ... Na da ist es vielleicht am besten, ich
+unterhalte mich erst mal ein wenig mit Ihnen ... Major von Gorczynski
+ist mein Name.«
+
+Frau Doris fühlte, wie ihr das Herz in die flanellenen Unterhosen
+rutschte. »Ja, aber ... Sie sehen, Herr Major ... Ich bin Sie ja doch
+gar nich angezogen ...«
+
+»Bitte, das macht nichts ... Was ich Ihnen zu eröffnen habe, das können
+Sie auch unangezogen hören. Also wenn ich bitten darf -- oder wünschen
+Sie meine Erklärungen auf dem Hausflur entgegenzunehmen?«
+
+»Ach nee ... Aber gewiß nicht, Herr Major ... Bitte treten Sie ein ...
+in die gute Stube ...«
+
+Herr von Gorczynski überflog mit demonstrativer Geringschätzung die
+verschlissene Herrlichkeit des Buchnerschen Salons. Dann setzte er sich
+mit einer gewissen Vorsicht, als fürchte er, der Samtfauteuil könne
+unter ihm zusammenbrechen, in den grünen Plüsch und sah die vor Erregung
+fiebernde Frau mit durchdringendem Blick an.
+
+»Sie werden sich wohl ungefähr vorstellen können, weswegen ich komme,
+Frau -- Buchner!« begann er scharf. »Nicht wahr?«
+
+Frau Doris' Kinnbacken schlotterten. Da hatte man die Bescherung!
+Und ihr Rat war fern ... Und das Kind ... Und sie mußte den ersten
+Ansturm des Schicksals ganz allein aushalten, von Gott und aller Welt
+verlassen ...
+
+»Nu ja, nu nee ... denken ... kann ich mersch am Ende ...«
+
+»Na also: Um's kurz zu machen: Ihr Fräulein Tochter hat eine Einladung,
+wie sie in der ganzen Welt Abend für Abend an tausend und abertausend
+Kolleginnen Ihrer Tochter ergeht -- die hat sie damit beantwortet, daß
+sie mir und ... meinem jungen Freunde, in dessen Namen ich mit
+unterzeichnet hatte, eine Forderung auf schwere Waffen hat überbringen
+lassen. Darf ich mich zunächst erkundigen, in welchen Beziehungen der
+... junge Herr, der sich zum Beschützer Ihrer Familienehre aufgeworfen
+hat, zu Ihrer Tochter steht?«
+
+»Aber ich bitt' Ihn', Herr Major -- in gar keener Beziehung. Er wohnt
+hier im Haus ... zur Miete ... un da is er ... ganz zufäll'g is er dazu
+gekommen, wie meine Tochter een Weinkrampf hat gekriegt, als das Bukett
+ist angekommen ... un der Brief ... un ... un das Geld ...«
+
+Hm ... das Geld ... und ... ein Weinkrampf ... verdammt peinliche
+Vorstellung ... aber was war zu machen ... man mußte oben bleiben.
+
+»So ... also in gar keinen Beziehungen ... verehrteste Dame, Sie haben
+keinen dummen Jungen vor sich, dem Sie Lederstrumpfgeschichten
+aufbinden können. Ich will also mal annehmen, der junge Herr ist der ...
+Bräutigam Ihrer Tochter ...«
+
+»Ne, ne, wahrhaft'gen Gott nich -- aber gar keene Ahnung ... e junger
+Student, ne, ne, wie kenn' Se nur so was denken ... So was hat meine
+Jucunda wahrhaft'gen Gott nich neetig!«
+
+»Hm ... also nicht ... Na dann wollen wir's dahingestellt sein lassen,
+welcher Art das ... Verhältnis zwischen den beiden jungen Leuten ist
+...«
+
+Jetzt hatte Frau Doris sich denn doch gefunden. Die Ehre ihres Hauses,
+ihres Mädchens --? Ne, ne, damit durfte man denn doch nicht spaßen ...
+
+»Heer'n Se, Herr Major,« rief sie zitternd, doch mit Entschiedenheit,
+»das muß ich mir denn doch ganz ergäbenst verbitt'n! Meine Tochter hat
+kein ... kein Verhältnis nich!«
+
+»In dem Sinne, in dem Sie das Wort verstanden zu haben scheinen, habe
+ich es durchaus nicht gebraucht ... und verbitte mir meinerseits eine
+derartige Auslegung meiner Worte! Nun aber zu Ihrem Fräulein Tochter!
+Hat sie -- und haben Sie als Mutter -- oder wenn Ihr Mann noch unter den
+Lebenden ist --«
+
+»Allerdings -- mein Mann ist der Kanzleirat Buchner -- ein königlicher
+Beamter ...« warf Frau Doris ein, »Ritter des Albrechtkreuzes zweiter
+Klasse ...« Sie richtete sich ordentlich auf an all diesen ehrenvollen
+Tatsachen.
+
+»Na also! Haben Sie alle zusammen sich denn eigentlich nicht klar
+gemacht, was ein so ... rabiates Vorgehen denn eigentlich für Ihre
+Tochter ... vielleicht auch für Ihren Mann ... bedeutet? Ich nehme an,
+daß Sie bereits in Erfahrung gebracht haben, wer wir eigentlich sind --
+wer sich hinter dem Namen von Dillingen versteckt -- hä? Wissen Sie das,
+Frau Kanzleirat Buchner?«
+
+»Ja, ja, ich weeß -- ich weeß,« stammelte die geängstigte Frau und fuhr
+mit dem Rücken der fleischigen Hand über die feucht gewordene Stirn.
+
+»Na also! Bilden Sie sich denn im Ernste ein, ein solcher Herr werde
+sich wegen ... wegen einer Lappalie von einem x-beliebigen jungen
+Menschen zur Rechenschaft ziehen lassen? Nee, verehrte Dame, die Sache
+kommt anders: Es möchte Ihrer Tochter vielleicht doch peinlich sein,
+wenn an ... eine gewisse Stelle ein Bericht über das ... eigentümliche
+Interesse erginge, dessen Ihre Tochter sich in -- hm! Studentenkreisen
+erfreut! Und wenn Ihre Tochter sich überlegt, daß ihr Kontrakt doch
+am Ende noch nicht lebenslänglich und unkündbar ist, und daß es sich
+wenig empfiehlt, sich die Gunst eines jungen Fürsten zu verscherzen,
+der einmal der Brotherr eines der größeren deutschen Hoftheater sein
+wird ... dann wird ihr am Ende klar werden, daß es ein bißchen übereilt
+von ihr war, eine kleine Unbedachtsamkeit -- ich gebe ja zu, daß es
+eine Unbedachtsamkeit war, Ihre Tochter ohne weiteres in eine Linie mit
+der Mehrzahl ihrer Kolleginnen zu setzen ... Aber deshalb gleich nach
+Blut -- nach Fürstenblut zu lechzen -- das scheint mir doch einigermaßen
+kindisch!«
+
+Völlig zerschmettert hatte Frau Buchner die Suada ihres vornehmen
+Besuchers über sich ergehen lassen. Vor ihrem Auge tanzten hundert
+gräßliche Bilder ... Der gnädigste Herr in Meiningen hatte Jucunda seine
+Gunst entzogen -- ihr Vertrag war gekündigt ... Vergebens klopfte sie an
+die Pforten aller deutschen Bühnen ... Als »schwieriges Mitglied« wurde
+sie überall abgelehnt ... Das Elend lauerte, der Hunger ...
+
+»Ne ... ne ... das is ja äne schreckliche Geschichte ...« stammelte sie.
+
+»Nun, Sie scheinen ja Vernunft annehmen zu wollen. Ich empfehle Ihnen
+also, unverzüglich mit Ihrer Tochter Rücksprache zu nehmen: Sie soll
+ihren ... ihren jugendlichen Beschützer veranlassen, seine höchst
+törichte und kindische Herausforderung zurückzuziehen ... Damit dürfte
+die Angelegenheit eine für alle Beteiligten befriedigende Erledigung
+finden. Sind Sie dazu bereit?«
+
+»Aber mit dem greeßten Vergniegen -- 's wird sich doch am Ende noch
+alles lassen ins reine bringen!« ächzte aufatmend die geängstigte Frau.
+
+»Na also --« der Major erhob sich -- »ich rechne darauf, daß Sie Ihren
+mütterlichen Einfluß in diesem Sinne geltend machen. Meine Empfehlung
+an Ihr Fräulein Tochter ... und ... böse ... braucht sie uns nicht zu
+sein ... Die ganze Sache war vollkommen harmlos gemeint ... also ...
+adieu, Frau Kanzleirätin!«
+
+Frau Buchner knixte ein übers andre Mal, während sie den Gast zur
+Entreetür geleitete.
+
+Auf der Schwelle wandte der Major sich noch einmal um.
+
+»Apropos -- soweit ich unterrichtet bin, hat man bei Ihnen besonders
+daran Anstoß genommen, daß meinem Briefchen ein ... ein kleines Geschenk
+... in barem Gelde ... beigelegt war. Vermutlich haben Sie diese ...
+diese kleine Aufmerksamkeit ... in Verwahrung genommen?«
+
+»Allerdings ... das hab' ich ... in meine Wirtschaftskasse hab' ich die
+Scheine eingeschlossen ... Jucunda wollte sie zur Post bringen, aber ...
+sie wollte sich erscht noch nach Ihrer ... genaueren ... Adresse
+erkundigen ... Na un von dem Wege, da is se noch nich zurück ...«
+
+»Na, dann kann ich ihr ja den Gang ersparen ... Wenn Sie's mir gleich
+aushändigen wollten ... und vielleicht --« ganz harmlos, nachlässig
+wurde das hingelegt -- »vielleicht händigen Sie mir auch gleich das
+Briefchen mit aus, das die Gemüter so sehr erregt hat -- und damit wäre
+ja dann alles in schönster Ordnung ...«
+
+»Gewiß, gewiß, Herr Major -- das hab' ich ooch ... alles kenn' Se
+kriegen -- ich bin ja froh, wenn ich's aus 'm Hause hab ...«
+
+
+Teufel auch ... das war mehr, als ich gehofft habe! schmunzelte der
+Major, als er mit seinem Raube die halbdunkle Stiege hinunterknarrte.
+
+Unten im Hausflur zog er den Brief hervor, entzündete ein Streichholz
+und ließ das _corpus delicti_ in Flammen auflodern. Die beiden Scheine
+aber, die er beim Empfang nur nachlässig in die Westentasche geschoben,
+barg er nun sorgfältig in seinem Portefeuille. Es waren immerhin
+zweihundert bare Mark ...
+
+Und dann ging er zu Aeckerlein hinüber und bestellte eine Flasche
+Heidsieck.
+
+
+
+
+ 8.
+
+
+Als Hans Thumser inmitten seiner Korpsbrüder das Theaterrestaurant
+verließ und über den sonnenflimmernden Augustusplatz, die mittäglich
+durchhastete Grimmaische Straße nach dem Baarmannschen Lokal am Markt
+hinüberspazierte, wo das Korps speiste -- da wirbelte ihm der Kopf
+dermaßen vom Fieber des Erlebens, daß die erregten Gespräche der Freunde
+nur wie aus weiter Ferne zu ihm herüberklangen. Und doch disputierte er
+selber eifrigst mit ... Es war ja kein Ende zu finden des Ueberlegens
+und Projektierens -- wie alles kommen würde -- ob man sich nicht
+übereilt, ob Pilgram, ob das Korps richtig gehandelt, ob sich nicht eine
+minder schroffe Lösung des Konflikts hätte finden lassen ... Wie der
+Erbprinz sich stellen würde ... und schließlich doch auch der Hof in
+Nassau-Dillingen ... was der für Weisungen erteilen würde ... und was
+all der welterschütternden Schicksalsfragen mehr noch waren.
+
+Und dabei immer der heimlich bohrende, süß erregende, wonnesam
+beklemmende Hintergedanke an ... heut nachmittag ...
+
+Und so in Wirrnis und Ahnung verrannen die Stunden ... Jetzt ward alles
+andre verdrängt durch das Mitgefühl mit Valentin Pilgrams Schicksal, des
+Korpsbruders, der so ganz anders geartet war, mit dessen Wesen das
+eigene niemals harmonisch hatte zusammenklingen wollen ... und dessen
+starkgemute Jungmännlichkeit dennoch die lebenshungrige Seele fest in
+ihren Bann geschlagen hatte -- längst eh dies opferstolze Einsetzen
+seines ganzen Daseins für ein fremdes Mädchen, das Kind einer andern
+Welt ... eh' diese Tat sein Bild in eine fast heroische Sphäre
+emporgehoben ...
+
+Und dann wieder schwirrten mit scheuem Flügelschlage die Gedanken um das
+eigene Hoffen und Bangen ...
+
+Und seltsam: Astas und Jucundas Bilder, sie rannen zusammen in der Seele
+... Wer war's eigentlich, der ihn erwartete heut um fünf? War's nicht
+jener Dämon, der in seines Korpsbruders Leben so verhängnismächtig
+hineingegriffen? Jucunda! Jucunda! Der Name klang aus allen Gesprächen,
+die in der Runde hin und wider flogen ... Daß es überhaupt eine Asta
+Thöny gab, das wußte ja nur einer von seinen Freunden, und dieser eine
+-- der war fern ... war ausgeschieden aus dem Bunde, dem sein ganzes
+Herz gehörte, für dessen Farben er in siebenundzwanzig Waffengängen sein
+junges Herzblut vergossen ... ausgeschieden um jener andern willen ...
+und selbst dieser eine hatte sie doch nur auf der Bühne gesehen -- ahnte
+nicht, daß sie mit Hans Thumser unter einem Dache wohnte ... konnte
+nicht ahnen, daß sie heimlich nächtens in ihre Kissen weinen und dann
+plötzlich lachen konnte, so girrend, so atemversetzend.
+
+Nach dem Mittagessen blieb das Korps beim Kaffee noch lange zusammen.
+Die Füchse wurden fortgeschickt, und immer und immer wieder in heftigen
+Disputen drehten und wendeten die Korpsburschen das Ereignis des Tages.
+Hans aber zog von Zeit zu Zeit heimlich die Uhr und zählte, wie eine
+Viertelstunde um die andere verrann von jenen, die ihn noch von dem
+größten Erlebnis seines jungen Daseins trennten ... Und einmal zog er
+heimlich auch sein Portemonnaie und stellte fest, daß er heute, am
+einunddreißigsten Oktober, noch fünfundachtzig Pfennige sein eigen
+nannte ...
+
+Teufel auch! Wenn man die Farben eines Korps trägt, kann man unmöglich
+ohne ein bescheidenes Blümchen in der Hand bei einer Dame zum Tee
+antreten ... Und Hans Thumser pumpte sich von Volkner, der immer Geld
+hatte, eine Mark ...
+
+Und endlich war's dreiviertel fünf ... Und wie ein Träumender strich
+Hans Thumser die Petersstraße hinunter, einen Busch rosa Dahlien, in
+Seidenpapier gewickelt, in der Hand ... Zu wem ging's? Zu Asta? Zu
+Jucunda? Er wußte es nicht ... es ging ... zu =ihr= ...
+
+Und so war's fast eine Selbstverständlichkeit, daß er sie nun =beide=
+fand ...
+
+Die Stube schwamm von Zigarettenrauch ... Und auf dem Sofa, eng
+aneinandergelehnt, zwei Mädchen ... die, die er zu suchen kam -- und die
+andere ...
+
+»Ach Gott ...« lachte Asta in komischem Entsetzen auf, »Herr ... na wie
+heißen Sie noch? Herr ...«
+
+»Thumser,« stotterte Hans und blieb ganz verdonnert an der Tür stehen.
+
+»Richtig, Herr Thumser -- mein Zimmernachbar -- nicht wahr, Sie sind's
+doch? Mein Gott, Sie hatt' ich wahrhaftig total vergessen --«
+
+»O bitte, dann will ich nicht stören,« sagte Hans und griff zur Tür.
+
+Ein Kübel Eiswasser, einem glutgedörrten Saharawanderer jählings über
+den Nacken gegossen ...
+
+»Aber nein! Stören! Weglaufen! Gibt's nicht!« Und das weiche Figürchen
+in der nicht ganz tadellos frischen Batist-Matinee sprang auf, stand vor
+dem schlanken Studenten, eine Hand, zart und warm wie ein
+sonnendurchglühtes Rosenblatt, legte sich auf die seine und zog ihn ins
+Zimmer.
+
+»Nicht böse sein! Meine Kollegin ist mich besuchen gekommen, und da
+haben wir uns verschwatzt ... Ist's denn schon fünf Uhr? Himmel -- und
+wie's hier ausschaut! Frau Wehe! Frau Wehe! Schnell kommen Sie mal her
+und räumen S' ab! Gestattest Du, Jucunda? Mein Zimmernachbar, Herr
+Studiosus Dummler --«
+
+»Thumser,« verbesserte Hans etwas pikiert.
+
+»Pardon -- Thumser -- meine Kollegin Buchner -- die große Buchner,
+wissen S'!«
+
+Jucunda grüßte stumm und königlich. Sie hatte die grüne Mütze, die drei
+Farben um die Brust des jungen Mannes wiedererkannt ...
+
+»Ich weiß ...« sagte Hans. »Ich war gestern abend in der 'Jungfrau' ...
+und ich bin auch unter denen gewesen, die --«
+
+»-- ihr die Pferde ausgespannt haben -- natürlich! Das nächste Mal, Sie
+Schlingel, spannen Sie mir die Pferde aus -- verstanden? Sonst ist's aus
+mit der guten Nachbarschaft!«
+
+»Wird gemacht!« sagte Hans, der sich wiederfand. »Inzwischen darf ich
+wohl als bescheidene Entschädigung diese Blümchen ...«
+
+»Ach -- das ist famos! Sehen Sie, Jucunderl, es wachsen heuer doch nicht
+alle Blumen bloß für Dich ...« Und sie drückte den Studenten in einen
+der verschlissenen, fettigen Damastfauteuils, welche Mutter Achs beste
+Bude verherrlichten.
+
+Einen raschen Blick warf Hans Thumser in der Bude umher. Wild sah's
+aus ... auf dem Tisch noch die Reste des bescheidenen Mittagsmahls,
+Aepfelschalen und die zerknautschten Mundstücke abgerauchter Zigaretten
+trieben sich auf dem fleckigen Tischtuch herum ... und drüben auf dem
+Bette aufgestapelte Mullröcke und Spitzenhöschen, auf dem Schreibtisch
+ein zusammengerolltes Korsett, dazwischen unsaubere Hefte mit
+ausgeschriebenen Rollen und zerflederte Reclambändchen ...
+
+Asta war diesem Blick gefolgt und sah den Ausdruck von Mißbehagen, der
+ununterdrückbar das schmissebedeckte tadellos rasierte Gesicht des
+korrekten und gepflegten Jünglings überzog.
+
+»Bös schaut's aus da drin, gelt? Aber warten S' nur, ich schaff' schon
+eine Ordnung! Faß an, Jucunderl, Du bist ja schuld, daß ich so einen
+feschen, jungen Herrn in so einer Schlamperei muß empfangen! Und Sie,
+Frau Wehe« -- die noch immer hübsche, kugelrunde Wittib stand mit
+nachmittagschlafgeröteten Augen in der Tür -- »hinaus mit dem Abfall da!
+Und ein' Tee kochen S' uns, und Kuchen will ich seh'n und Schlagsahn'
+und was sich sonst gehört! Da haben S' ein Geld!« Und wie ein Irrlicht
+fegte das dunkellockige Mädchen in der Stube umher, hob den Bettbezug
+aus gewebter, leidlich defekter Spitze, das Ueberbett in die Höhe,
+stopfte die herumliegenden intimen Kleidungsstücke drunter und deckte
+mit einem Spitzbubenlächeln wieder zu, griff in die Nachttischschublade
+und warf ein paar Markstücke auf den Tisch, daß zwei, drei in die Stube
+kollerten und Hans Thumser sich bücken mußte, um sie wieder aufzulesen;
+griff dazwischen in die Zigarettenschachtel, schob ihren beiden
+Besuchern, sich selbst und schließlich auch der verlegen grinsenden
+Wittib eine Zigarette zwischen die Lippen:
+
+»Da, Herr Dummser -- haben S' Feuer?«
+
+Und da flimmerten auch die feuchten Lippen, die dunklen, flackernden
+Augen dicht vor Hansens Gesicht, loderten ihn an, während sie mit ihm
+zugleich am nämlichen Zündholz ihre Zigarette anbrannte ...
+
+Inzwischen saß Jucunda stumm und königlich auf dem Sofa, ohne eine Hand
+zu rühren, und ließ ihre runden blauen Augen von einem zum andern
+leuchten. Und auch Hans Thumsers Blicke gingen hin und her, von dem
+Schalk zu der jungen Königin, von der jungen Königin zu dem rastlosen
+Schelm ...
+
+Und endlich gab's Ruhe und so etwas wie Ordnung, und mit einem tiefen
+Aufseufzen warf Asta Thöny sich in das Sofa, kuschelte sich an Jucundas
+kräftige Schulter ... und nun sahen zwei Augenpaare, das blaue, das
+schwarze, den braunäugigen Studenten an ...
+
+»So, Herr Dummser, nu erzählen S' uns was!«
+
+Hans Thumser war des Umgangs mit weiblichen Wesen wenig gewohnt. Seine
+Schwestern waren um vier und fünf Jahre jünger als er, die zählten, samt
+ihrer Freundinnenschar, noch nicht mit, waren Gören, oder wie man daheim
+sagte, Blagen ... unfähig, die erhabene Größe eines Studenten, eines
+Korpsstudenten, eines Fuchsmajors richtig einzuschätzen. Und das Korps?
+Es lebte außerhalb der Leipziger Gesellschaft, war völlig durch Mensur
+und Kneipe absorbiert und kam höchstens auf dunklen und verschwiegenen
+Pfaden einmal mit verachteten Parias der Weiblichkeit in Berührung ...
+
+Aber ... er war ein werdender Poet ... und der Zauber der Situation
+löste ihm die Zunge, gab ihm Worte, wie sie gesellschaftliche Routine
+nicht kennt ...
+
+»Erzählen soll ich Ihnen ... meine Damen? Ach ... ich hab' nichts
+erlebt, was des Erzählens wert wär' in solch einem Augenblick ...
+aber ... das darf ich ja wohl sagen, nicht wahr? daß ich sehr glücklich
+bin ... Ich denke an gestern abend ... ich habe Sie beide gesehen und
+bewundert und beneidet um das Glück Ihres Berufs ... den Menschen das
+Schöne zu offenbaren ... und nun sitz' ich hier ... Ihnen gegenüber ...
+seien Sie mir nicht böse, wenn das mir zu Kopf steigt und ... mich dumm
+und stumm macht ... Sie nennen mich noch immer Dummser, gnädiges
+Fräulein ... und das stimmt, ich bin auch ein dummer Bub, das fühl' ich,
+jetzt, wo ich mit Ihnen zusammensitzen darf ... Nein, ich kann Ihnen
+nichts erzählen ... ersparen Sie es mir, mich mit Konversationmachen
+abzuquälen ... erlauben Sie mir nur ... da zu sein ... und Sie
+anzuschauen ... und zu fühlen, ja bis ins Tiefste zu fühlen, wie schön
+das ist ... was für ein Glück das ist!«
+
+»Aber warum machen Sie sich selber so schlecht?« sagte Jucunda und sah
+ihn groß an -- »Sie sprechen gar nicht übel ... im Gegenteil -- ich
+meine, ich hätte noch niemals einen Menschen so sprechen gehört ...«
+
+»Du --?« sagte Asta, »daß Du mir dem Jungen nicht zuviel Komplimente
+machst! Das ist =meiner=, verstehst Du mich? Aber Du mußt immer alles
+für Dich haben ... die Blumen -- die Kränze -- die ausgespannten Pferde
+-- die Verehrer, alles muß sie allein haben! Und so was redet von
+Freundschaft und Kollegialität! Schämen sollten S' Ihnen, mein
+Fräulein!«
+
+Hans wurde glühendrot. »Ach, meine Damen, machen Sie sich nur immer über
+mich lustig ... ich weiß ganz genau, wie wenig ich Ihnen sein kann. Nur
+das eine muß ich Ihnen sagen: Sie ahnen gar nicht, was dieser Tag für
+mich bedeutet ... Sie können sich wohl nicht vorstellen, wie barbarisch
+und rauh dies Leben ist, das wir jungen Dächse so führen auf deutschen
+Hochschulen ... Und seit gestern ist's auf einmal bunt und licht und ...
+groß und ... schön um mich her ... seit ich Sie beide kenne ...«
+
+»Gott, wie süß er ist -- gelt, Jucunda?« sagte Asta und streichelte dem
+Studenten mit einer raschen, zärtlichen Bewegung ganz leise und flüchtig
+die glühende, narbenzerrissene Wange. »Nur mehr so Schönes, nur mehr! So
+was kann man gar nicht genug hören!«
+
+»Ach -- Sie scherzen wieder, Gnädigste --« sagte Hans. »Sie sind weit
+schönere Worte gewohnt ... Sie verkehren am Hof -- inmitten von Geist
+und Grazie ... die Dichter, deren Werke Sie verkörpern, huldigen Ihnen
+...«
+
+»Der hat Ahnung, gelt?« lachte Asta halb verschmitzt halb schmerzlich zu
+ihrer Kollegin hinauf, in deren Arm sie sich drückte.
+
+»Nein, Herr Thumser,« sprach Jucunda langsam, »Sie haben doch wohl eine
+etwas -- na sagen wir mal zu ideale Vorstellung von unserm Leben ...
+Glauben Sie mir nur, es gibt nicht viel Männer, die so zu reden wissen,
+daß es einem wohltut ...«
+
+»Gewiß, ich glaub's -- so verwöhnt, so anspruchsvoll wie Sie sein müssen
+... denn so jung wie Sie sind, Sie sind berühmt, alles liegt Ihnen zu
+Füßen, Sie kommen wie das Schicksal ... wehe dem, der Ihnen verfällt
+...«
+
+Ein Schatten war bei diesen Worten über die enthusiastischen Züge
+geflogen, die flammenden Augen hatten sich verdunkelt.
+
+Jucundas Stirn hatte sich langsam zusammengezogen.
+
+»Wie das Schicksal?« fragte sie, »wie meinen Sie das?«
+
+»O ... ich dachte an ... eine gewisse Geschichte ... eine sonderbare,
+aufregende Geschichte ... von der Sie doch wohl auch wissen müssen ...«
+
+»Sie ... meinen ... die Sache ... mit Herrn Pilgram? Von der wissen Sie
+also auch schon?«
+
+»Ich weiß ... selbstverständlich weiß ich ... wir sind ja doch
+Korpsbrüder ...«
+
+»Eine ... Sache?« fragte Asta ganz erstaunt. »Was hat's gegeben? Hast
+mir ja doch gar nichts davon erzählt, daß es was gegeben hat? Heraus mit
+der Geschichte!«
+
+»Ich möchte ... eigentlich überhaupt nicht davon sprechen ...« meinte
+Jucunda.
+
+»Und ich ... ich halte mich ebenfalls nicht für berechtigt ...« setzte
+Hans befangen hinzu.
+
+»Schöne Sachen sind mir das!« zürnte Asta. »Ich bring' Euch zwei
+zusammen, und schon habt Ihr Geheimnisse miteinander, und ich werd'
+ausgesperrt und hab 's Zuschau'n! Na wartet -- jetzt kommt der Tee mit
+dem Kuchen, hernach setz' ich Euch vor die Tür und ess' alles alleinig!«
+
+Jucunda hatte einen Moment sinnend den Rauchwölkchen ihrer Zigarette
+nachgestarrt. Es war dämmrig im Zimmer geworden. Frau Wehe kam mit dem
+Tee, dem Gebäck, zündete die Petroleum-Hängelampe über dem Tische an,
+und hell gleißten nun die drei jungen Gesichter auf dem Hintergrunde der
+abgenutzten Stube, die rasch in völliges Dunkel versank.
+
+Als die Wirtin gegangen, sagte Jucunda langsam: »Ich verstehe, daß Sie
+sich über die ... Angelegenheit ... die bewußte ... nicht gern
+aussprechen. Aber Sie werden begreifen: ich bin ziemlich gespannt. Sie
+wissen schon drum ... also die Sache kommt doch, scheint's, wirklich an
+die große Glocke. Ich bin ja schließlich doch ein bißchen beteiligt ...
+Wollen Sie mir nicht sagen, was inzwischen eigentlich passiert ist?«
+
+»Hm ... wenn unsre ... gütige Gastgeberin gestattet, daß wir uns in
+ihrer Gegenwart über ... eine Sache unterhalten, die sie nicht ... in
+die wir sie nicht einweihen dürfen?« »Na macht schon, macht schon ...«
+maulte Asta, »Ihr brennt ja darauf, Eure Geheimnisse auszutauschen ...
+ich ess' Kuchen.« Und wütend bissen ihre blinkenden Zähne in einen
+braunlächelnden Mohrenkopf.
+
+»Also kurz ... Er ... ist aus dem Korps ausgetreten ... und hat die ...
+die bewußten beiden Herren auf Säbel ohne ohne gefordert ... Genügt
+Ihnen diese Andeutung?« fragte Hans.
+
+»Hm ... und mehr ... wissen Sie also noch nicht?«
+
+»Noch nicht.«
+
+»Immerhin ... also der Skandal ist fertig. Schöne Bescherung ...«
+
+»Hol Euch der Satan, Kinder, Ihr macht eins aber wirklich neugierig wie
+eine Ziege!« sagte Asta und ließ die kuchenstopfenden Finger sinken.
+»Säbelforderung -- Skandal ... und dabei habt Ihr Euch vor einer halben
+Stunde erst kennen gelernt vor meinen sehenden Augen ...«
+
+»Gott, warum soll man's ihr schließlich nicht erzählen?« meinte Jucunda.
+»Morgen weiß es ganz Leipzig ...«
+
+»Hast einmal wieder was, womit Du Dich kannst int'ressant machen,
+Jucunderl? Gott, das Mädel hat einen Dusel! Daß es um Dich geht, soviel
+hab' ich schon heraus ... Also es werden zwei sich die Köpf'
+entzweischlagen Deinetwegen ... hernach schauen die Leut' unsereins
+überhaupt nicht mehr an ... und so ist's in allem! Schon wie's heißt --
+Jucunda! Wie kommt bloß ein Vater auf die Idee, so ein Wurm 'Jucunda' zu
+taufen? Als ob er damals schon geahnt hätt', daß das Kind einmal wird
+unters Theater gehen! Sag' doch, Mädel -- wo kommst an so einen Namen,
+so ein' ausgefall'nen?«
+
+»Ach -- das ist einfach genug ... da war eine alte Tante, die eine
+Beamtenpension zu verzehren hatte und so schöne uralte Möbel und Bilder
+gehabt hat aus der Goethezeit ... um die sind alle Verwandte herum
+gewesen erbschleichen ... aber meine Eltern haben den Vogel abgeschossen
+und mich nach ihr getauft ... das hat sie so erschüttert, daß sie mir
+den ganzen Krempel vermacht hat ...«
+
+»Ach -- und nun hast Du das ganze schöne Zeugs?«
+
+»I Gott bewahre -- verkauft hat's mein Vater und für mich in einem
+Sparkassenbuch angelegt ... und davon sind mein Studium und meine
+modernen Kostüme bezahlt worden -- paar Groschen werden wohl auch noch
+da sein, denk' ich ...«
+
+»Ja schaust, was Du für ein Glückskind gewesen bist ...« Astas Augen
+irrten in die Ferne, ein ganz fremder Ausdruck von Bitterkeit und Ekel
+umschattete das pfirsichweiche Oval. -- »So eine Tante wenn ich gehabt
+hätt', meinetwegen hätten s' mich Eulalia mögen taufen! Ich hab' das
+alles allein müssen schaffen, so gut oder -- so hundsfött'sch wie's hat
+gehen mögen ... Dabei wird man ein armes, gerissenes, mit allen Hunden
+gehetztes Wildkatzerl allenfalls ... und wenn man ein bisserl Talent
+hat, hernach wurschtelt sich eins am End' auch noch rechtzeitig in die
+Höh' ... aber eine Priesterin, vor der die Menschen sich platt auf den
+Bauch schmeißen, eine Jungfrau von Orleans wird man nicht auf die Art!«
+
+Mit herablassender Zärtlichkeit streichelte Jucunda die zierliche
+Kollegin. »Ich sollte meinen, Asta, Du könntest noch ganz zufrieden sein
+mit Dir -- nicht wahr, Herr ... Gott, dieser lächerliche Name -- schon
+wieder hab' ich ihn verschwitzt --«
+
+»Herr Dummerle!« half Asta ein, und um die schmerzlich verzogenen Lippen
+huschte schon wieder der Schalk.
+
+Hans Thumsers Blicke wanderten rastlos von einer zur andern. Welches
+Glück, daß er den goldenen Apfel des Paris nicht zu vergeben hatte!
+
+Und Valentin Pilgram? Und die Affäre? Schon längst wieder versunken ...
+kaum die Oberfläche des Gesprächs hatte sie gekräuselt, die Geschichte
+von dem wackren Gesellen, der um dieses achtzehnjährigen Weibes willen
+sein Blut, sein Schicksal aufs Spiel gesetzt hatte -- als Dank für ein
+paar freundliche Worte, die sie ihm geschenkt ...
+
+Dieser Gedanke tauchte dann und wann flüchtig auf in Hans Thumsers
+Denken -- aber die Gegenwart, die nie erlebte, der beiden jungen,
+blutjungen und doch schon aller Machtmittel ihres Geschlechtes kundigen
+Geschöpfe verdrängte das Bild des Korpsbruders, das heut morgen in so
+lichtem Heroenglanze gestrahlt hatte.
+
+»Sagen Sie, Herr Thumser, was studieren Sie eigentlich?« fragte Jucunda.
+
+»Gott, was studier' ich? Die Geheimnisse des S. C. Paukkomments -- die
+Kunst, eine Tiefquart unter der steilsten Auslage hindurch in die
+Nasenspitze des Gegners zu dirigieren ...«
+
+»Das glaub' ich nicht ... so sehen Sie nicht aus, als ob das alles wäre,
+was Sie treiben ...«
+
+»Na ... meine kümmerlichen Versuche, mich mit der Juristerei
+anzufreunden, werden Sie mir doch wohl kaum am Gesicht ansehen können?«
+
+»Das nun schon gar nicht! Nein, es steckt noch etwas andres hinter Ihnen
+--«
+
+»Soll ich's verraten?« fiel Asta ein -- »ich weiß es nämlich ...«
+
+Und mit ihrem Spitzbubenlächeln, das Köpfchen tief auf die weiche
+Schulterlinie geneigt, fing sie an zu rezitieren:
+
+ »Ich bin ein junger Korpsstudent,
+ Die Schuhe Lack, der Rock patent,
+ Korrekt und schick an mir ist alles --
+ Im Portemonnaie nur --«
+
+»Halt! Gnade!« rief Hans und legte seine Hand beschwörend auf Astas
+runden Unterarm -- von dessen Wärme süße Schauer in seine Fingerspitzen,
+seine Arme, sein Blut hinüberströmten.
+
+»Ach -- sieh da -- Verse -- und von Ihnen?« fragte Jucunda. »Also ein
+junger Schiller -- oder Goethe? Sieh da!«
+
+»Ach Gott -- diese elenden Knittelreime -- wenn man nichts Besseres
+könnte ...«
+
+»Oh -- das ist aber nicht hübsch von Ihnen, daß Sie sich meinetwegen so
+wenig angestrengt haben --« sagte Asta. »Na, was können Sie denn
+Besseres? Heraus damit!«
+
+»Jawohl, Herr Poet, eine Probe Ihrer Kunst!«
+
+Hans Thumser ließ sich nicht lange bitten. Er sann einen Augenblick
+nach. Dann richtete er sich unwillkürlich etwas auf, ein feierlicher,
+strahlender Ausdruck kam in seine Züge; und in tiefinnerer Bewegung
+sprach er:
+
+ »Abgründe klaffen rechts und links
+ Von meinem schwindelschmalen Pfade,
+ Und hinter mir schleicht stumm die Sphinx --
+ Doch über mir geigt Engelsgnade.
+ Ich aber will nachtwandlerkühn
+ Den Gratgang bis ans Ende wagen,
+ Und hell durchsonnt von Morgenglühn
+ Der Harfe gold'ne Saiten schlagen!«
+
+»Ah ... bravo ... das ist wirklich ein Gedicht ...« sagte Jucunda. »Sieh
+da -- wer hätte das hinter diesem wandelnden Modejournal gesucht ...«
+
+»Oh ... seh' ich aus wie ein wandelndes Modejournal?«
+
+»Na, so seht Ihr Korpsstudenten doch alle aus ...«
+
+»Gott ja -- es braucht ja nicht jeder Poet auszusehen wie die Jünglinge
+aus dem Café Größenwahn -- von denen mir ein Berliner Korpsbruder
+neulich erzählt hat.«
+
+»Nein, da haben Sie recht,« sagte Jucunda. »Die Sorte kenn' ich auch --
+aus der Zeit unseres Gastspiels am Viktoriatheater ... ich denke mir,
+der junge Goethe ist hier in Leipzig auch so etwa wie ein wandelndes
+Modejournal herumgelaufen, während seine Kollegen lange fettige Haare
+und schmutzige Hemdkragen trugen ... Sieh da -- also so schaut ein
+junger Dichter aus ... alte kenn' ich ja schon diesen oder jenen, aber
+das waren alles sehr verschlissene, sehr diplomatische, sehr nüchterne
+und ... ernüchternde Herren ... Sie sind nicht nüchtern, Herr Thumser,
+Sie laufen wie in einem ewigen Rausch herum -- wenn Sie auch noch so
+schneiderelegant aufgemacht sind ...«
+
+»Ja, das ist wahr!« sagte Hans lebhaft. »Ewiger Rausch! Sie haben recht!
+Ich bin immer wie betrunken von ... von all dem Herrlichen um mich her
+-- von all dem Neuen und Gewaltigen, das jede Stunde bringt! Ist nicht
+die Welt ein einziges, ungeheures Wunder? Und so ein armes Menschenherz
+viel zu klein und eng, um das alles zu fassen? Und wenn man's nun so
+erleben darf, die Schönheit, die Kunst, die Poesie leibhaftig vor sich
+zu sehen ... wie in Ihnen, Jucunda Buchner ...«
+
+Die braunen Augen hingen an den blauen, die blauen an den braunen -- mit
+hochaufgerichteten Leibern saßen die jungen Menschen einander gegenüber,
+und Ströme des Lebens rauschten von einem zum andern.
+
+Jucunda fühlte sich wachsen in dieser naiven Bewunderung eines Menschen,
+in dem ihr weiblicher Instinkt die gärenden, schäumenden Kräfte witterte
+... und Hans Thumsers gläubiges Märchenherz erblickte in dem weißen, vom
+Schöpfer in einer Künstlerlaune so edel ausgeformten Gesicht die
+fleischgewordene Schönheit, herabgestiegen vom Himmel, um ihm, dem
+Werdenden, die Fülle zu offenbaren ...
+
+Auf einmal fuhren beide herum: ein Ton, ein erstickter, war in ihre
+Versunkenheit gedrungen -- ein Ton, den Hans schon einmal vernommen zu
+haben meinte: der Ton eines bittren, unbezwinglichen Weinens ...
+
+Asta Thöny hatte den Kopf in die Finger gedrückt, die Hände auf die Knie
+gepreßt ... ganz in sich zusammengekauert saß sie da, die zierlichen
+Schultern zuckten, aus dem Nest der schwarzen Flechten hatten sich ein
+paar glänzende Locken gelöst und rollten über den weißen Nacken ...
+
+»Aber Kind -- was ist Dir nur?« fragte Jucunda und legte den Arm um die
+Hüften der Kollegin.
+
+Aber die schüttelte die Umschlingung ab, sprang auf, eilte zum Fenster
+hinüber und lehnte den hochgehobenen Arm, die tiefgesenkte Stirn an die
+Scheiben ...
+
+»Aber ... was ist Ihnen denn nur, gnädiges Fräulein?« stammelte Hans
+Thumser.
+
+»Ach, geht mir doch -- laßt mich doch in Ruh, Ihr zwei! Poussiert doch
+miteinander, so viel Ihr Lust habt -- aber nicht in meiner Gegenwart!«
+
+»Aber Kind!« sagte Jucunda, stand auf, sah Hans an mit einem Blick, der
+für die Kollegin um wohlwollende Nachsicht zu bitten schien, wie für ein
+törichtes, verzogenes Kind, und trat zu ihr ans Fenster.
+
+»Ach, gehen Sie doch, Buchner -- lassen Sie mich! Es ist ja immer
+dieselbe Geschichte! Alles müssen Sie für sich haben, alles belegen Sie
+mit Beschlag -- alles muß zu Ihren Füßen liegen, keiner andern gönnen
+Sie was! Den Jungen da, den hab' ich nun entdeckt -- und kaum hab' ich
+ihn eingeladen, schon sind Sie da, als wenn Sie's gewittert hätten --
+und gleich geht's los, das alte Spiel -- nur Jucunda Buchner redet, man
+sieht nur sie, man hört nur sie, man vergafft sich nur in sie, nichts
+existiert auf Gottes weiter Welt, nichts und gar nichts, als einzig und
+immer wieder Jucunda Buchner!«
+
+»Herr Thumser, ich bitte Sie um Ihr unparteiisches Zeugnis!« sagte
+Jucunda ruhig, ganz beherrschte Weltdame -- »ist das nun gerecht, wie
+diese Dame mich behandelt? Habe ich auch nur den geringsten Versuch
+gemacht, Sie -- wie hat sie gesagt? -- mit Beschlag zu belegen? Haben
+wir nicht vollkommen harmlos geplaudert alle drei? Und auf einmal aus
+heitrem Himmel diese Explosion? Habe ich das verdient, Herr Thumser?
+Bitte, sprechen Sie.«
+
+In tödlichster Verlegenheit hatte Hans Thumser diesen Ausbruch, dieses
+Zwiegespräch der Kolleginnen über sich ergehen lassen. Er suchte
+vergebens nach der rechten Antwort auf Jucundas Frage.
+
+»Gnädiges Fräulein ...« stammelte er zuletzt, »verzeihen Sie, wenn ich
+auf Ihre Frage nicht antworte. Wir sind beide Fräulein Thönys Gäste ...
+Ich bin untröstlich, daß ich Ihr Mißfallen erregt habe, Fräulein Thöny
+... ich darf Ihnen zwar versichern, daß es keineswegs meine Absicht war,
+Sie irgendwie zu ... wie soll ich sagen? ... zu vernachlässigen ... Wenn
+ich dennoch ... es an der schuldigen Rücksicht habe fehlen lassen -- so
+bitte ich tausendmal um Entschuldigung ...«
+
+Asta Thöny antwortete nicht. Sie stand noch immer am Fenster ... der
+Schein der Straßenlaternen von drunten umrandete ihre dunkle Silhouette
+mit einem silbernen Streif -- den weißen Batist, den zarten Flaum des
+Armes, die Flimmerlöckchen des schwarzen Haars. Wie das Kabinettstück
+eines der holländischen Kleinmeister sah das aus.
+
+Jucunda und Hans blickten einander an -- der Jüngling in ratloser
+Befangenheit, das Mädchen gelangweilt, mit verdrossenem Achselzucken ...
+
+In diesem Augenblick erklang draußen eine heftige, erregte Stimme, die
+Jucunda auffahren machte:
+
+»Na, Gott sei Dank und Lob -- endlich also! G'sucht hab' ich das Mädchen
+durch die halbe Stadt ... nee so was, nee so was!«
+
+Die Tür sprang auf, und eine massive Frauengestalt füllte den Rahmen --
+Frau Wehe verschwand fast ganz hinter dem roten, schwitzenden Gesicht,
+das von den Samtschleifen, den Seidenbändern eines schwarzen Kapothutes
+eingesäumt war -- hinter den mächtigen Schultern unterm perlbesetzten
+Samtcape ...
+
+»Jucunda -- endlich ... Wenn Du wüßtest, was ich hab' müssen aussteh'n
+diesen Nachmittag Dir zuliebe ... Daß mich der Schlag nicht hat
+gerührt, das is mir ä blaues Wunder ...«
+
+»Mutter -- Du?« sagte Jucunda langsam und ungnädig. Sie empfand dunkel,
+daß diese Erscheinung in schroffem Widerspruch stand zu dem mystischen
+Glanz, der, sie wußte es, von ihr ausging, wenn sie wollte, und wenn der
+Glückliche, der in diesem Glanze stand, die nötige Naivität besaß.
+
+»Was ist denn passiert? Darf ich zunächst bekannt machen? Meine Kollegin
+Fräulein Asta Thöny -- Herr Studiosus -- na wie war's doch noch?
+Dummser, nicht wahr?«
+
+»Thumser,« sagte Hans.
+
+»-- meine Mutter, Frau Rat Buchner. Also was steht Dir zu Diensten,
+Mama?«
+
+»Nu nee -- ich weeß nich recht, ich mecht wohl mal e Wertchen mir Dir
+alleene sprech'n, Jucunda ... Entschuldigen Se nur, meine Herrschaft'n
+-- aber kannste nich e bißchen mit mir uff de Straße 'nunter kommen,
+Kind?«
+
+»O bitte, gnädige Frau, wenn Sie mit Ihrem Fräulein Tochter etwas unter
+vier Augen zu besprechen haben« -- fiel Hans Thumser ein -- »meine Stube
+ist nebenan, die steht Ihnen mit Vergnügen zur Verfügung -- darf ich
+Mutter Ach -- Frau Wehe, wollt' ich sagen, darf ich ihr Auftrag geben,
+daß sie Licht macht?«
+
+Jucunda dankte mit einem Lächeln, kühl und hoheitsvoll, wie nie zuvor,
+als gälte es, den etwas befremdlichen Eindruck, den das Erscheinen ihrer
+Mutter gemacht, durch doppelt königliches Wesen wettzumachen. Und Hans
+und Asta blieben allein zurück.
+
+Stumm war's im Zimmer, während jenseits der Tür, jenseits der beiden
+Kleiderschränke, die sie hüben und drüben verbarrikadierten, ein
+erregtes Flüstern anhob. In weißen Schwaden lag der Zigarettenqualm über
+dem Tisch, wob um die Hängelampe, ward von Wärmestrudeln in ihren Schirm
+hineingesogen und stieg um ihren Zylinder steil wie aus einem Schlot
+empor.
+
+Ein weiches, brüderliches Gefühl zog Hans zu dem Mädchen hin, das noch
+immer schweigend am Fenster stand, vom Laternenlicht umsilbert, von
+stoßweis zuckendem Schluchzen den schlanken Leib geschüttelt.
+
+»Fräulein Asta!« sagte er und trat ein paar Schritte auf sie zu; das
+Herz schlug ihm bis in den Hals. Nun war es da: er war zum erstenmal in
+seinem Leben mit einem Mädchen allein.
+
+Sie antwortete nicht, nur heftiger flossen ihre Tränen beim Klang der
+gedämpften Stimme, die so erregt, so gütig ihren Namen sprach.
+
+»Fräulein Asta,« sagte Hans noch einmal, »so wahr ich lebe, ich habe
+nicht daran gedacht, daß mein Benehmen Sie kränken könnte. Und Sie
+müssen mir's glauben, wenn ich Ihnen sage: es war reiner Zufall, daß
+ich ... daß ich mich mehrmals hintereinander mit meinem Gespräch
+nur an Fräulein Buchner gewendet habe -- ich weiß wohl, daß ich
+gesellschaftlich noch nicht sehr gewandt bin ... aber ... Fräulein
+Buchner ... Ihnen ... vorziehen ... daran hab' ich ja mit keinem
+Sterbensgedanken gedacht ... ich wäre doch auch ein Narr ... Sie ...
+Sie sind ja so ein ... so ein wundervolles Geschöpf ... Sie ahnen ja gar
+nicht, wie ich ... hingerissen gewesen bin ... gestern, wie ich Sie auf
+der Bühne sah ...«
+
+Er lauschte, ob eine Antwort käme ... aber regungslos stand das Mädchen,
+Arm und Stirn an die Scheiben gepreßt, die von der Wärme ihrer Glieder
+mit einem feinen Nebel beschlugen. Und wie Hans sich zage, Schritt um
+Schritt, der Fensternische näher schob, fiel sein Blick auf die
+Sophienstraße: drüben, vorm Eingang des Carolatheaters, drängte sich
+schon wieder, noch weit über eine Stunde vor Beginn der Vorstellung, ein
+dichter Menschenhauf, des Augenblicks wartend, da die Kasse sich zur
+ersten Wiederholung der »Jungfrau« öffnen würde. Noch nicht
+vierundzwanzig Stunden waren vergangen, seit er Asta Thöny zum ersten
+Male gesehen ...
+
+Aber ihre Tränen waren versiegt: sie harrte, ohne sich zu rühren ... es
+war, als lausche sie ... als lechze sie, mehr zu hören ... mehr ...
+
+Hans Thumser fühlte, wie alle seine Glieder nur ein einziges banges,
+verlangendes Beben wurden ... auch seine Stimme bebte heftig, als er
+weitersprach, ohne zu wissen, was er sagte ...
+
+»Asta ... ich habe noch nie ... noch nie ein Mädchen berührt ... ich bin
+ein ganz dummer, dummer Bub ... Sie ... Sie müssen Geduld mit mir haben
+... Wenn Sie ahnen könnten, wie mir zumut ist ... wie ich mich sehne ...
+ach, wie namenlos ich mich sehne ... ach, und ich hab' mich ja schon so
+gesehnt ... seit ich Sie gesehen hab' da drüben ... in Ihrer Schönheit
+... und heut nacht, o Mädchen, wie haben meine Gedanken, meine Träume
+sich an Dich gedrängt ... hast Du das denn nicht gefühlt? nicht geahnt?
+Seien Sie doch nicht so stumm, sagen Sie mir doch, daß Sie mir verziehen
+haben ... mir ist ja so bang, so namenlos bang ist mir nach Dir ...«
+
+Da wandte das junge Weib sich um ... Ihre duftenden Arme warf sie dem
+Knaben um den Nacken und überflutete ihm die Lippen, die Augen, den Hals
+mit dem schäumenden Strom ihrer Küsse.
+
+
+»Also, Jucunda, Du weeßt nu, was die Glocke geschlagen hat ...« beendete
+drüben in Hans Thumsers Studentenbudchen Mutter Doris ihren Bericht über
+die schwerste Stunde ihres Lebens -- wie sie den Nachmittagsbesuch des
+Herrn vom Nassau-Dillingenschen Hofe genannt hatte. Sie thronte auf dem
+Kanapee unter den gekreuzten durchbohrten Mützen, den staubigen,
+verblichenen Bändern in ihrer ganzen schnaubenden, dampfenden
+Leiblichkeit ... Die Korsettstangen knackten unter den keuchenden
+Atemstößen der eingepreßten Lungen, die fleischige Hand wedelte ohn'
+Unterlaß mit dem feuchten Taschentuch den beperlten Hängebacken
+Erfrischung zu. Jucunda saß stumm in einem der geblümten Fauteuils, mit
+zusammengepreßten Lippen, das stolze Haupt ein wenig zurückgeneigt, die
+blauen Augen starr zur Decke gerichtet. Sie schwieg auch, als die Mutter
+ihren Bericht geendet und erwartungsvoll an den Zügen der Tochter hing.
+
+»Nu rede Du aber gefälligst ooch en Ton!« polterte Mutter Doris
+schließlich heraus. »Ich mein', ich hätte mich nu genügend abgerackert
+für Dich!«
+
+»Na, wenn Du meine Meinung denn wirklich hören willst, Mutter: Du
+scheinst mir eine märchenhafte Dummheit begangen zu haben.«
+
+»I herrjemersch nee ... nu wird mer'sch aber doch zu tolle! Und was wär'
+das fier ä Dummheit, wenn's gefällig wär?«
+
+»Wie Du den Brief hast herausgeben können, Mutter, das versteh ich
+einfach nicht ... das Geld, mag sein, obgleich mir's schon lieber wäre,
+ich hätte einen Postquittungsschein in Händen ... aber den Brief --
+unglaublich einfach!«
+
+Sie sprang heftig auf, stieß den Fauteuil mit einem Ruck zur Seite, daß
+er in seinen Grundfesten krachte, und rannte zum Fenster -- starrte
+hinaus, wie drüben vorher die zierliche Kollegin ...
+
+Ach ... da drunten drängten sich die Massen -- eben war der Kassenflur
+geöffnet worden -- stießen sich, balgten, prügelten sich um den Vorrang
+... wem galt das alles als ihr? Die alle da unten, hatten die einen
+anderen Gedanken als -- Jucunda Buchner?
+
+Und nach der Tortur dieser letzten Viertelstunde, nach all dem Ekel, der
+Zukunftsbangigkeit, die in ihr aufgequollen war beim Bericht der Mutter
+-- kam da auf einmal eine wunderbare Gelassenheit über das Mädchen. Pah
+-- was konnte ihr geschehen?!
+
+Inzwischen hatte Mutter Doris sich von ihrem ersten Schreck erholt.
+
+»Nee, weeßte, Jucunda, ich versteh Dich nich, wahrhaft'gen Gott, ich
+versteh Dich nich. Erscht stellst Du Dich an wer weeß wie sähre, daß De
+so än Brief kriegst, un ... un das andre ... un nu kommt der, der Dir's
+geschickt hat, und holt sich's wieder ab -- un nu is ooch wieder nicht
+recht -- -- un ich hab' Dir doch bloß die scheißliche Geschichte woll'n
+vom Halse halten ... nee, nee, so was! Das hätt' ich wissen sollen, dann
+hätt' ich dem dicknäsigen Herrn ganz einfach gesagt: kommen Se
+gefälligst wieder, wenn Fräulein Jucunda Buchner derheeme is -- mich
+geht's nischt an!«
+
+»Hättest Du das man getan, Mutter ... Ich hätte dem Herrn schon
+beigebracht, wie man mit Jucunda Buchner spricht -- das kannst mir
+glauben! Ach -- aber es ist ja alles egal ...«
+
+Sie reckte sich ... ein harter Glanz kam in ihre Augen ... Noch eine
+knappe Stunde, und die Rampenlichter flammten auf, und sie tauchte
+hinein in ihren blendenden Schimmer -- und von jenseits, aus dem dunkel
+gähnenden Zuschauerraum, dampfte die Vergötterung der anderthalb Tausend
+ihr entgegen ...
+
+»Was wirscht De denn nu anfangen?« fragte Mutter Doris ganz halblaut.
+»Wo der Herr Major doch verlangt hat, Du sollst machen, daß der ... der
+Herr Korpsstudent seine ... seine Aufforderung zum Duell ... daß er die
+zurück tut nähm'!«
+
+Jucunda versank in einen Wirbel der Gedanken. Das Bild des jungen
+Gesellen stieg in ihr auf, der so viel für sie getan ... aus einem
+ritterlichen Empfinden heraus, das so einfach, so natürlich war, daß
+Jucunda es wohl verstehen mußte, würdigen konnte in seiner schlichten,
+starken Mannhaftigkeit ... Und nun sollte sie selber von ihm verlangen,
+daß er den kühnen, verhängnisvollen Schritt, den er zu ihrem Schutze
+getan -- rückwärts tun sollte ... Sie war in einer Luft groß geworden,
+in die immerfort, aus den Stübchen der Mieter ihrer Eltern in die gute
+Stube da hinten mit den grünen Plüschmöbeln, in die Träume ihres eigenen
+Mädchenkämmerleins hinein -- die romantischen Vorstellungen und Begriffe
+von korpsstudentischem Schneid, von Burschenehre hineingeweht waren ...
+
+O sie wußte ganz genau, was es für den weiland Ersten Chargierten der
+Franconia bedeutete, aus dem Korps auszutreten, um einen Prinzen, der an
+offiziellen Kneipabenden die grüne Mütze anlegte, zum Säbelduell fordern
+zu können ... und was es nun erst bedeuten mußte, wenn sie ihm
+zumutete, seine Forderung zurückzunehmen, ohne daß eine Sühne erfolgt
+war ... ohne selbst eine formelle Bitte um Entschuldigung ... denn als
+eine solche konnte doch der Besuch des Majors, seine unverblümten
+Drohungen, die Erlistung des Briefes und des Geldes aus der Hand der
+hilf- und ahnungslosen Mutter unmöglich aufgefaßt werden ...
+
+Immerhin -- hier war der Ansatzpunkt. Die Sache mußte dem Studenten so
+dargestellt werden, als habe der Major den Auftrag gehabt, eine Bitte um
+Verzeihung im eigenen Namen und im Namen seines prinzlichen Zöglings
+zu überbringen ... als ob er diese Bitte auch tatsächlich überbracht
+habe ... und wenn sie, die Beleidigte, sich mit dieser Genugtuung
+einverstanden erklärte, dann war ja doch wohl für ihren Beschützer kein
+vernünftiger Grund mehr, seine Forderung aufrecht zu erhalten ... und
+alles in schönster Ordnung ...
+
+Alles in Ordnung? Nein ... Jucunda war ein viel zu klarer Kopf, als daß
+sie die Folgen des Geschehenen nicht zu Ende gedacht hätte ...
+
+Also er zieht seine Forderung zurück, und dann? Nun dann ist er, auf gut
+deutsch gesagt, der unrettbar Blamierte ... Er ist aus dem Korps
+ausgetreten und hat ein Mitglied des Korps gefordert -- die Forderung
+ist zwar nicht zum Austrag gekommen, aber die unsühnbare Feindschaft
+zwischen den beiden jungen Männern besteht -- sie können nicht mehr auf
+der Kneipe zusammensitzen, nicht mehr die gleichen Farben tragen ... Und
+da das Korps seiner ganzen Tradition nach, um seiner Beziehungen zu Hof,
+Behörden, Gesellschaft willen den Prinzen nicht fallen lassen kann, so
+wird eben Pilgram dran glauben müssen ... Er hat sein Band verloren,
+ist ausgeschieden aus dem Kreise der Freunde seiner Jugend ... All das
+tapfere Ringen, Mensuren, Chargen, verbummelte Semester umsonst ...
+
+Das alles wußte Jucunda und wurde sich im angestrengten Nachsinnen
+weniger Minuten über all diese Folgen klar, mitleidslos gegen sich und
+ihn ...
+
+Und wieder meinte sie sein hartes, herrisches Gesicht zu sehen, wie es
+weich, selbstlos, opferfreudig aufglühte um ihrer Ehre willen ...
+
+»Sie haben weinen müssen -- -- -- das sollen sie mir bezahlen, die zwei
+...«
+
+Wie gut, wie tapfer, wie ... heldenhaft seine Worte, seine Tat ... und
+nun?!
+
+Hieß das nicht ... ihn schmählich verleugnen ... wenn sie nun
+zurückwich, sie ... und dadurch seiner Tat den ritterlichen Glanz
+raubte ... sie zu einer Narrensposse, zu einem Dummenjungenstreich
+erniedrigte?
+
+Aber ... ihre eigene Zukunft? Ihre Karriere? War das nicht alles, alles
+das, was der Major ihrer Mutter angedeutet hatte ... waren das nicht
+alles Wahrheiten?!
+
+Einen Augenblick lang war sie geneigt, das alles in den Wind zu schlagen
+... Pah ... Engagement in Frage gestellt ... Bericht gegen sie beim Hof
+in Meiningen ... War sie nicht Jucunda Buchner? Brauchte sie die
+Hoftheater? Oder brauchten die Hoftheater -- sie?!
+
+Ach nein ... So stand es doch nicht ... Man war nicht immer achtzehn
+Jahre, nicht immer eine neue Entdeckung, eine Sensation, eine Mode ...
+Jucunda wußte schon viel, viel zu viel von den brutalen Gesetzen der
+Macht, der Laune, des Glücks, des Wechsels, welche die schillernde Welt
+regierten, in der es ihr bislang so herrlich, so unverdient und
+unfaßbar glänzend gegangen ... sie dachte an ihre alte, verknitterte
+Garderobiere, die auch einmal eine vergötterte junge Liebhaberin gewesen
+war -- freilich nur am Stadttheater in Stallupönen, aber je höher der
+Anstieg, um so grimmiger die Gefahr, um so steiler und zerschmetternder
+der Sturz ... Nein, beim Theater konnte sich niemand erlauben, nur auf
+sein Talent, seine eigene Kraft und Persönlichkeit zu bauen und die
+Gunst der Mächtigen, der Brotgeber leichtsinnig zu verscherzen ...
+Niemand konnte sich das erlauben, auch Jucunda Buchner nicht ...
+
+Er ... oder ich -- -- so stellte sich schließlich die Frage ... und
+waren da die Chancen nicht doch zu ungleich? Schließlich ... ersparte
+sie nicht auch ihm durch ihren Entschluß, ihn fallen zu lassen, das
+größere Opfer, das noch ausstand? Das Risiko eines, nein zweier
+Zweikämpfe mit schweren Waffen, unter den schärfsten Bedingungen?
+Ersparte sie ihm nicht den definitiven, den viel größeren, gar nicht
+wieder gut zu machenden Skandal?!
+
+Eine ... Enttäuschung ... eine schmerzliche Wunde für sein jugendlich
+enthusiastisches Empfinden bedeutete es ihm, wenn sie sich zurückzog ...
+mehr doch nicht ... Für sie aber stand ihre ganze Zukunft, ihre Zukunft
+als Künstlerin wie ihre materielle Existenz auf dem Spiele ...
+
+Gab es da eine Wahl?
+
+Und letzten, allerletzten Endes: Hatte er das alles nicht sich selber
+zuzuschreiben? Hatte sie ihn um seinen Schutz -- gebeten?! Nein, das
+hatte sie nicht getan, mit keinem Wort, keinem Blick ... Er hatte sich
+zum Verteidiger ihrer Ehre aufgeworfen ... Hatte sich eigentlich, wenn
+man es einmal mit einem etwas scharfen Ausdruck bezeichnen wollte,
+aufgedrängt ... Und hatte sie nicht alles Mögliche versucht, ihn von
+diesem unerbetenen Opfer abzuhalten?! Aber er war ja fortgestürmt, als
+ging's um seine eigene Ehre, um sein Leben ...
+
+Jucunda stand am Fenster, noch immer regungslos. Und hinüber, herüber
+schossen die Gedanken, anklagend und entschuldigend ...
+
+Mutter Doris saß ganz still und gedrückt in ihrem Kanapee ... Daß sie
+eine furchtbare Dummheit gemacht, als sie das verhängnisvolle Briefchen
+aus der Hand gegeben ... das war ihr nun völlig klar ... Ihre
+spießbürgerliche Verschlagenheit sagte ihr ja nun selber, daß man aus
+solchen Beweisstücken Kapital hätte schlagen müssen ...
+Selbstverständlich nicht im materiellen Sinne -- o nein, so etwas hatte
+man ja gottlob nicht nötig ... Aber man kann doch nie wissen, wozu man
+ein solches Zettelchen einmal gebrauchen kann ... So etwas läßt man sich
+doch nicht ganz umsonst aus den Fingern drehen ...
+
+Und dies Bewußtsein: die einzige Waffe, die ihre Tochter besaß, blöde,
+gedankenlos aus der Hand gegeben zu haben -- das machte sie klein und
+stumm ...
+
+Jucunda schloß unterdessen ab. Ganz kühl, ganz klar hatte sie alles
+abgewogen. Nein, es ging nicht ... Sie konnte sich nicht, wider ihre
+innersten Lebensinteressen, von dem Don-Quichotte-Streich des jungen
+Burschen durch dick und dünn fortschleppen lassen ... Losketten mußte
+sie das Schiff ihres Glücks von der toll und steuerlos dahinrasenden
+Fahrt des überheizten Dampfers, der sie so mir nichts dir nichts ins
+Schlepptau genommen ...
+
+Und doch ... und doch ...
+
+'Sie haben weinen müssen ... Das sollen sie mir bezahlen ... die
+zwei ...'
+
+Wenn man -- diesen Ton, diesen Blick nur los werden könnte ...
+
+Pah ... Es =mußte= sein ...
+
+Und schließlich und endlich -- wer war Herr Pilgram?! Ein gleichgültiger
+junger Mensch, von dem sie nichts wußte, als daß er sie einmal sehr grob
+in ihrer Arbeit gestört ... sich für diese Grobheit dann freilich sehr
+manierlich entschuldigt ... und eine Abendstunde mit ihr geplaudert
+hatte ... in der sie, das wußte sie ganz genau, ihm nicht die leiseste
+Andeutung einer Sympathie gemacht hatte, die sie ja auch nie empfunden
+hatte ... Denn schließlich, sie machte sich ja doch nicht das mindeste
+aus ihm ... Er war ein kreuzbraver, aber doch durchaus alltäglicher
+Geselle ... Ja, wenn noch etwas in ihrem Herzen sich geregt hätte bei
+dem Gedanken an ihn ... die Ahnung von etwas Besonderem ... wie sie es
+eben, vor einer halben Stunde, so deutlich gefühlt hatte im Gespräch
+mit ... jenem andern grünbemützten Studenten, in dessen Zimmer sie jetzt
+stand ... der so schöne Verse machen konnte und so seltsam verhaltene
+Worte reden... in dem irgend etwas gärte und brodelte, das ihrem eigenen
+Wesen und Wollen auf eine geheimnisvolle Weise verwandt war ...
+
+Nein ... Herr Pilgram war ... irgendein Herr Pilgram ... war nichts und
+niemand ... Herr Pilgram hatte sich in ihr Leben eingedrängt ... man
+würde ihn mit möglichster Schonung, doch unmißverständlich wieder
+hinauskomplimentieren müssen ...
+
+»Es ist gut, Mutter ...« sagte Jucunda und wandte sich ruhig um. »Ich
+will Herrn Pilgram schreiben ... jetzt gleich ... er soll seine
+Forderung zurückziehen ... Den Brief kannst Du ihm hernach -- wenn wir
+aus dem Theater nach Hause kommen -- dann kannst Du ihm den Brief auf
+die Stube legen ... Hoffentlich ist er nicht zu Hause, wenn wir kommen
+-- sonst -- na sonst mußt Du ihm den Brief eben geben.«
+
+»Na, das is verninft'g von Dir, Mädchen!« seufzte die stattliche Frau
+und atmete tief auf, daß die Korsettstangen knackten. »Hier, mache nur
+schnell ... Da is ja der Schreibtisch, und Briefpapier liegt ooch genug
+herum -- gleich setz' Dich und schreib'! Kannst Dich ja hernach bei dem
+Herrn entschuld'gen ...«
+
+Jucunda ging zum Schreibtisch des Studenten hinüber, fand Briefbogen,
+entdeckte aber, daß sie sämtlich oben in der linken Ecke den Zirkel des
+Korps Franconia und darunter das Monogramm des Eigentümers trugen. Da
+drehte sie kurz entschlossen einen Bogen herum und schrieb auf die
+Rückseite:
+
+ »Leipzig, den 31. Oktober 1888.
+
+ Sehr geehrter Herr!
+
+ Ihr ritterliches Eintreten für mich hat den gewünschten Erfolg gehabt:
+ die beiden Herren, die mir diesen abscheulichen Brief geschickt haben,
+ haben mündlich bei mir um Entschuldigung gebeten. Ich bin über diese
+ Lösung hocherfreut und danke Ihnen innigst für Ihren gütigen Beistand,
+ ich weiß wohl, daß Sie mir ein großes Opfer gebracht haben. Nun ist
+ der Zweck Ihres Handelns erreicht. Bitte tun Sie mir nun auch den
+ Gefallen und nehmen Sie so bald als möglich Ihre Herausforderung zum
+ Duell zurück, damit nicht noch weitere Unannehmlichkeiten entstehen.
+
+ Ich bin mit der nochmaligen Versicherung meines aufrichtigen Dankes
+
+ Ihre ganz ergebene
+ J. B.«
+
+In einem Zuge, ohne Besinnen, hatte Jucunda geschrieben: Nun überlas
+sie die Zeilen und wunderte sich, wie klar und einfach und
+selbstverständlich das alles klang. Und darum wunderte sie sich noch
+viel mehr, weshalb ihr nur so übel dabei zumute war. Sie hatte ja doch
+recht, tausendmal recht ... Es war eine so klare vernünftige Lösung --
+es konnte ja doch schlechterdings nicht anders gemacht werden ...
+
+'Sie haben weinen müssen ... Das sollen sie mir bezahlen, die zwei ...'
+
+Das war ja doch eigentlich ein Unsinn ... Was gingen ihn, den fremden
+jungen Mann, ihre Tränen an? Was berechtigte ihn, für diese Tränen Sühne
+zu fordern? Da war irgend etwas, das stimmte nicht ... ein Fehler, ein
+Gedankenfehler ... Und aus diesem Fehler war alles entstanden ...
+
+Dennoch ... Sie fühlte es ganz deutlich: Um das törichte, unbesonnene
+Handeln des Jünglings war etwas Leuchtendes, etwas, das den Taten des
+Mädchens von Orleans verwandt war ... Und es war wie in Talbots Worten,
+des eisigen Vernünftlers, dessen hundeschnäuzige Kriegsmathematik vor
+dem frommen Wahn der Jungfrau zusammenbrach:
+
+ »Unsinn, du siegst ... und ich muß untergehn ...«
+
+Und während Jucunda Buchner den Brief kuvertierte und die Adresse darauf
+schrieb:
+
+ »Herrn Stud. Pilgram«
+
+-- seinen Vornamen entsann sie sich auf der Visitenkarte gelesen zu
+haben, die er an seine Tür genagelt hatte, aber er wollte ihr nicht
+einfallen -- als sie so schrieb, da empfand sie es ganz deutlich, ganz
+unabweisbar, daß sein Tun gut und groß gewesen war ... und ihres frostig
+und häßlich und gemein ...
+
+»Da, Mutter, steck den Brief in Deinen Pompadour ... und jetzt« -- sie
+zog die Uhr -- »sieben bereits!« Donnerwetter! Jetzt revidierte der
+Inspizient drüben schon die Garderoben! Teufel auch -- höchste Zeit ins
+Theater -- »Vorwärts, Mutter!«
+
+»Willste nich Deine Kollegin daneben abholen?«
+
+»Na -- die wird wohl schon hinüber sein -- aber ich kann ja mal
+nachsehen ...«
+
+Sie klopfte an die Tür des Nachbarstübchens, und da keine Antwort kam,
+klinkte sie auf. Die kleine Kammer lag dunkel und still. Nur durch die
+Fenster fiel der Schein der Gaslaternen von der Straße durch die
+Gardinen, malte ein paar große Rechtecke an die weißgetünchte Decke.
+Also Asta Thöny warf sich drüben bereits wieder in den steiflinigen
+Brokat der Agnes Sorel ...
+
+»Sie ist schon hinüber -- und kommt doch erst im ersten Akt -- und ich
+muß schon zum Prolog 'raus ... Glücklicherweise nur das Bauernkleid ...
+Vorwärts, Mutter ...«
+
+Das hatte sie freilich nicht sehen können oder wenigstens nicht gesehen
+in der Finsternis, daß auf dem Sofa noch einsam und regungslos der
+junge Student gesessen hatte, das Poetlein, um dessen »schwindelschmalen
+Pfad Abgründe klafften rechts und links ...«
+
+Daß er noch immer da saß, seitdem das Mädchen sich aus seinen Armen
+gerissen ... Alle Glieder und das Herz wie mit Blei beschwert vor
+trunkener Zärtlichkeit, sein ganzes Wesen durchschauert von
+Erfüllungsglück ...
+
+Jucunda schritt über den Hof, der mit Dekorationsstücken vollgepfropft
+war, die zum Schutze gegen den Regen mit Wachsleinwand verhangen waren
+-- stolperte über die Beine des ausgestopften schwarzen Pferdes, dessen
+Leichnam im dritten Akt so überzeugend die Stimmung des blutgedüngten
+Schlachtfeldes heraufbeschwor -- nahm dies Stolpern für ein gutes Omen,
+hastete weiter, so schnell, daß Mutter Doris in weitem Abstande hinter
+ihr drein schnaufte ... Und als sie nun das schmale Pförtchen aus
+Eisenblech öffnete, das zum Bühnenraum führte, als ihr der vertraute
+Dunst von Schminke, wirbelndem Staub und Menschenbrodem entgegenschlug,
+als sie den schlechterleuchteten Korridor, den halbdunklen Bühnenraum
+kreuzte, auf dem die Arbeiter eben den Prospekt zum Prolog anbohrten ...
+als sie dann die hallende Steintreppe hinanflog, in ihr Kämmerchen
+schoß, wo die zerknitterte Krausen herzklopfend ihrer harrte -- (»Ach
+Gottchen nee, gnäd'ges Fräulein, daß Se nu endlich kommen! Der
+Inspizient und der Herr Oberregisseur sind schon sechsmal mind'stens
+dagewäsen nach Ihn' fragen!«) als ihr weißes Gewand, als das blanke
+Eisen ihrer Rüstung, ihres Helmes aufgleißten im hellen Licht der
+Spiegellampen --
+
+-- da fühlte sie, wie alles, alles abfiel, was dieser Tag ihr Fremdes,
+Verworrenes, unheimlich Störendes gebracht. Fühlte, daß sie noch
+dieselbe war wie gestern abend um diese Stunde -- dieselbe, die sie
+immer sein würde, so oft der Rausch des Komödienspiels, des
+Im-Spiele-Gestaltens über sie kam.
+
+Sie riß die Taille ihres Straßenkleides ab, reckte die herrlichen Arme,
+schmetterte durch den Raum, daß die Wände wankten:
+
+ »Ins Kriegsgewühl hinein will es mich reißen,
+ Es treibt mich fort mit Sturmes Ungestüm,
+ Den Feldruf hör' ich mächtig zu mir dringen,
+ Das Schlachtroß steigt, und die Trompeten klingen!«
+
+Ja, es parierte, das erzene Organ ... vor dem sogleich die anderthalb
+Tausend da drunten erzittern würden ... Ja, sie war es noch, um
+derentwillen die alle da draußen vor allem doch gekommen waren -- die
+Heldin des Stückes, die Heldin dieses Abends ...
+
+Kaum stand sie im Bäuerinnengewand, die braunen Haare zu schlichtem
+Flechtenbau um das runde Haupt gelegt, da trat Franz Burg ein, im
+ledernen Koller bereits, doch noch ohne das rasselnde Blech drüber, noch
+ohne Maske:
+
+»Nun, Langbeinchen? Das kennt man ja gar nicht von Ihnen, daß Sie mal zu
+spät kommen! Wie ist die Stimmung?«
+
+»Prima prima!« lachte sie und leuchtete den Freund an.
+
+»Nichts Neues in der Affäre?« fragte er leise.
+
+»Nichts von Belang ... Ich denke, es renkt sich ein.«
+
+»Oh!« Franz Burg zog die tiefschattenden Augenbrauen hoch -- »das wäre
+aber jammerschade ... Können Sie denn nichts dazu tun, daß die
+Geschichte mit dem nötigen Theaterdonner zum Klappen kommt?«
+
+»Ach ... Ich bin froh, wenn sie aus der Welt ist ... Ich muß freien Kopf
+haben, freie Arme zum Arbeiten, zum Schaffen ...«
+
+»Soll ich Ihnen mal was verraten? -- Ihr Erbprinz ist im Theater -- hat
+noch vor einer halben Stunde einen Levkoyen geschickt und eine Loge
+bestellen lassen ... Da alles futsch war, hat der Intendant die
+Direktionsloge zur Verfügung gestellt ...«
+
+»Hm ... Das ist ja interessant ... Werde mir den jungen Herrn doch mal
+anschaun ...«
+
+»Sie kennen ihn noch gar nicht?«
+
+»Keine Ahnung ...«
+
+»Na -- die Hauptsache ist: Er ist da -- jedenfalls ein Beweis, daß man
+nicht ungnädig ist ... Na, die Reklame haben Sie verscherzt, nun halten
+Sie sich wenigstens den hochgeborenen Verehrer warm ...«
+
+Der Inspizient steckte den Kopf zur Tür herein:
+
+»Fräulein Buchner -- bitte auf die Szene!«
+
+»Also, Langbeinchen, wieder mal: Hals- und Beinbruch!«
+
+»Danke, Meister!«
+
+Mit Wohlgefallen sah Franz Burg der weißen, stolzen Gestalt nach.
+Künstlerblut! dachte er, kennt nichts als sich und ihre Arbeit ... Alles
+andre ist Dreck ...
+
+Und Jucunda schritt die Treppe hinunter. Alles grüßte mit vertraulicher
+Höflichkeit, wenn sie vorüberging: die Friseure, die Bühnenarbeiter, die
+Statisten, die Volontäre ...
+
+Und in ihrer Seele schwoll die unbändige Lust des Schaffens. Es schwang
+und klang in ihr von dröhnendem Jambenstrom und schmelzender
+Trochäenklage ... »Frommer Stab, o hätt' ich nimmer mit dem Schwerte
+dich vertauscht« ... Kaum konnte sie das Maß, die scheue, entrückte
+Gebärde für die Stimmung des Anfangs finden, da sie noch ein schlichtes
+Hirtenmädchen ist, von geheimen Stimmen, phantastischen Visionen
+geängstigt, doch ihrer Sendung noch ahnungsvoll unbewußt ...
+
+Und endlich rauschte die Gardine empor, wogte drunten das Gebraus, das
+wohlbekannte, von Zettelknistern und Räuspern und Zurechtrücken,
+klappten die Sitze der Zuspätkommenden, tönte das leise Zischen der
+Gestörten ... Und all dies wirre Durcheinander verebbte nach und nach,
+und die große schaurige Stille ward, in die ihrer Partner Verse
+hineinklapperten, wie eine belanglose Ouvertüre, ein gleichgültiger
+Auftakt des Augenblicks, da sie die ersten Worte zu sprechen haben würde
+... Ach, aber wie endlos lang dieser Auftakt! Die kamen ja heut wohl gar
+nicht vom Fleck, der alte Thibaut, ihre Schwestern, die Bräutigame --
+biedre Chormitglieder, die heute ein paar Verse zu lallen hatten ...
+
+Gesenkten Hauptes, stumm stand das Hirtenmädchen im Hintergrund ... Nur
+zuweilen hob sie zaghaft und scheu die großen Augen, ließ sie von einem
+zum andern flattern, als verstände sie die Sprache ihrer nächsten
+Menschen nicht mehr ... Und aus den verträumten Augen Johannas d'Arc
+spähte Jucunda Buchners ganz wacher, lauernder Sinn in den
+Zuschauerraum, dorthin, wo dicht an der Rampe links die Direktionsloge
+lag ... Die Lichter blendeten abscheulich -- dennoch konnte sie
+allmählich ganz vorn, matt angestrahlt vom Widerschein des hellen
+Bühnentages, zwei Gesichter erkennen: ein fahles, junges mit der
+blinkenden Scherbe im Auge -- und daneben ein verwettertes,
+tiefgebräuntes mit flatterndem Schnurrbart ... Also das waren die zwei
+-- »von Dillingen -- von Gorczynski« -- das waren die Schreiber des
+verhängnisvollen Briefchens -- die Spender des Rosenturms und der ...
+beiden ... blauen ... Lappen ...
+
+Achtung jetzt! Bertrand kommt, den blinkenden Helm in der Hand, den »ein
+Bohemerweib« ihm aufgedrungen im Gewühl ... Gleich wird das Stichwort
+kommen ... Horch ... Die letzten Verse rannen hin:
+
+ »Da war das Weib mir aus den Augen schnell --
+ Hinweggerissen hatte sie der Strom
+ Des Volkes, und der Helm blieb mir in Händen.«
+
+In diesem Augenblick versank alles, alles ... Jucunda Buchner versank,
+und nichts mehr war als Johanna von Orleans ... Die schoß nun wie ein
+Meteor aus der scheuen Zurückgezogenheit vor, riß dem alten Bauern den
+Helm aus der Hand:
+
+ »Gebt mir den Helm!«
+
+Erschrocken fragt der Alte:
+
+ »Was frommt Euch dies Gerät?
+ Das ist kein Schmuck für ein jungfräulich Haupt!«
+
+Und wie eine Fanfare jauchzt es aus der endlich entfesselten Brust der
+jungen Heldin:
+
+ »Mein ist der Helm -- und mir gehört er zu!«
+
+Alles -- alles ist versunken -- nur eines wirkt und wogt: der große
+Rausch des Schaffens ...
+
+Und Johanna wurde erst wieder Jucunda, als nach dem ersten großen
+Monolog die Gardine sank und gleich darauf, wie hinweggerissen vom Orkan
+des Beifalls, wieder emporrauschte ... als tausendstimmiger Jubelruf sie
+umbrandete ...
+
+Da war Jucunda wieder da -- ganz wach, ganz klar ... Und sie neigte sich
+... neigte sich zuerst mit tiefem Hofknix nach der Direktionsloge.
+
+
+
+
+ 9.
+
+
+Als Herr Borgmann Neo-Borussiae das Hotel Hauffe verließ und verloren,
+ziellos nach dem Augustusplatz hinüberschlenderte, kam er sich
+entsetzlich dumm vor. Was sollte er nun seinem Auftraggeber und
+Doppelgegenpaukanten ausrichten? Man hatte seine Forderung nicht
+angenommen, aber auch nicht abgelehnt ... Ein Witz ... aber ein fader
+... Ist bei Ihrem Auftraggeber eine Schraube los? Rabiater Bursche --
+ich danke für einen Skandal ... Koller ... Pathologischer Zustand ...
+Verlange absolut geräuschlose Erledigung ... Rechne dabei auf Ihre
+Mitwirkung ... Das waren so ungefähr die Schlagworte, die Herrn Borgmann
+noch im Gedächtnis hängen geblieben waren und nun in der korrekten
+Chargiertenseele einen tollen Tanz vollführten ... Ja, was sollte man
+auch einem Prinzen antworten, der von korpsstudentischer Direktion und
+Haltung keinen Schimmer hatte? Der eine so blutig ernste Sache wie eine
+Säbelforderung einfach behandelte ... wie ... na wie einen
+Hanswurststreich ... wie einen faulen Kalauer?!
+
+Und das hatte man sich gefallen lassen? Man hatte Ja und Amen gesagt zu
+der ungeheuerlichen Zumutung, nach solch einem Affront auch noch an
+einer ... hm, hm! geräuschlosen Beilegung mitzuwirken?!
+
+Herr Borgmann nahm die weiße Mütze mit dem weiß-schwarz-weißen
+Randstreifen ab und tupfte die von weißblonden, seltsamerweise schon
+etwas gelichteten Haaren umsäumte Stirn. Was konnte man seinem
+Auftraggeber nun eigentlich berichten? Hatte der Prinz irgend eine
+Erklärung zur Sache selbst abgegeben? Eine Entschuldigung bei der
+beleidigten jungen Dame in Aussicht gestellt? Nicht das mindeste ... Er
+hatte nichts weiter geäußert als Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des
+Mandanten -- und das kategorische Verlangen, die Sache müsse aus der
+Welt geschafft werden!
+
+Na, und du, Wilhelm Borgmann, Neo-Borussiae gewesener Zweiter, Erster?!
+Was für eine Antwort hast du gefunden?
+
+Gar keine! Völlig aus dem Konzept hat man dich gebracht, verblüfft,
+verhohnepiepelt ... Schindluder hat man mit dir getrieben, ganz einfach!
+
+Und warum? Warum hast du nicht aufgemuckt? Warum hat deine ganze
+mühevoll erworbene korpsstudentische Direktion, deine Haltung, dein
+Schimmer dich verlassen? Weil dies junge hagere Herrchen im hellblauen
+Dragonerüberrock mit den silberblinkenden Knöpfen ein ... Prinz von
+Geblüt war ... Da war von deiner Spießbürgerseele der dünne Firnis des
+Kavaliers abgefallen, den man dir in einer Dressur von fünf Semestern
+aufgepinselt -- und du warst in Lakaiendevotion submissest
+zusammengeknickt!
+
+Und drüben im Theaterrestaurant sitzt der unglückselige Pilgram, weiland
+Franconiae, und wartet auf Antwort ... Wartet auf das Schicksal ...
+
+Ja, was sagt man ihm nur? So wie die Geschichte in Wirklichkeit
+abgelaufen ist, so kann man sie ja gar nicht erzählen -- der rabiate
+Bursche schlägt sonst Krach! Das muß man sich erst ein bißchen
+zurechtlegen ...
+
+Herr Borgmann suchte einen Zufluchtsort. Café Felsche? Viel zu viel
+Betrieb jetzt da, wahrscheinlich auch ein Tisch voll Neo-Borussen -- --
+
+Ein Einfall! Das Museum! Das war zu dieser Stunde vielleicht noch
+geöffnet ...
+
+Und Studiosus Borgmann tat etwas, was ihm in seinen fünf Semestern, die
+er in Leipzig zugebracht, noch niemals passiert war: Er ging ins Museum
+hinein, stieg die prächtige Marmortreppe hinan, schritt gleichgültig
+durch die Säle voll bemalter Lappen in goldenen Rahmen und versank in
+einem Plüschsofa des großen Oberlichtsaales ... Und sann, wie er die
+Sache deichseln könne, ohne seine Blamage eingestehen zu müssen.
+
+Inzwischen saß Valentin Pilgram in regungslosem Warten in einer dunklen
+Ecke des Theaterrestaurants. Was werden würde? Nun das war ja ganz klar:
+Sowohl der Major als auch der Erbprinz, der die Charge eines
+Rittmeisters bekleidete, würden die militärisch korrekte Erklärung
+abgeben, daß sie die Tatsache der erfolgten Forderung ihrem zuständigen
+Ehrenrat unterbreiten würden ... Der würde dann einen formellen
+Ausgleichsversuch machen -- wenn dieser, wie selbstverständlich,
+gescheitert wäre, würde der Erbprinz einen Ersatzmann stellen, einen
+möglichst fechtgewandten Offizier eines Gardekavallerieregiments ... Und
+dann stiegen eben die beiden Partien ... Na Himmel, das hatte man ja
+doch schon fünfmal durchgemacht -- zwar nicht unter ganz gleich schweren
+Bedingungen ... Aber -- na ja, Eisen ist Eisen, und fechten haben wir ja
+gottlob gelernt ...
+
+Und dann ...
+
+Valentin Pilgram versank in Träume ... Dann mußte irgend etwas kommen,
+etwas Schönes, von dem man sich keine rechte Vorstellung machen konnte.
+So ganz ohne Dank und Lohn würde man ihn doch nicht laufen lassen ...
+
+Dank und Lohn? Aber wie?
+
+Valentin Pilgram hatte bewiesen, daß er bereit war, sich jeden vors
+krumme Messer zu langen, der an dies Mädchen anders dachte denn an eine
+Heilige ... Und Heilige ... Wie belohnen sie denn?
+
+Mit ihrer Gnade ... Mit Fürsprache im Himmel ...
+
+Sie belohnen von ferne ... Mit Gaben, für die man sich auf Erden
+verdammt wenig kaufen kann ...
+
+Na, und das wird ja auch wohl dein Fall sein, mein guter Valentin --
+nicht wahr?!
+
+Na -- und wenn auch! Wir haben eben getan, was wir mußten ...
+
+Ein alter Reckenspruch aus den goldenen Tagen des Rittertums klang ihm
+durch den Sinn:
+
+ _A Dieu mon âme,
+ Ma vie au roi,
+ Mon coeur aux dames,
+ L'honneur pour moi._
+
+_Pour moi_ ... Na eben, das war's: das Bewußtsein: So gehört sich's --
+und so hab' ich's gemacht ...
+
+Endlich! Da kam sein Kartellträger ...
+
+»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Borgmann ...«
+
+»Gewiß, gern ... Herr Ober, eine Schale Schwarz ...«
+
+»Also ... Angenommen?«
+
+»Hm ... Die Herren haben Erklärungen abgegeben, die vielleicht ... als
+befriedigend gelten könnten ...«
+
+»Was! sie kneifen?!«
+
+»Hm ... Doch wohl etwas zu schroffer Ausdruck ... Der Prinz hat den
+Major beauftragt, die Angelegenheit in Güte zu arrangieren ... Ich nehme
+also an, daß er Familie Buchner im beiderseitigen Namen um Verzeihung
+bitten wird ... Was macht's, Ober? Fünfundzwanzig? Schön -- ziehen Sie
+fünfunddreißig ab ...«
+
+Valentin Pilgram war wie vor den Kopf gestoßen.
+
+In Güte arrangieren ... Fräulein Buchner um Verzeihung bitten ... Hm ...
+Verteufelt einfache Lösung ... Und das hatte man sich nicht mal im
+Traume vorgestellt, daß es so kommen würde ... kommen ... müßte ...
+
+Himmel ja -- man war eben Korpsstudent -- trat für alles, was man gesagt
+und getan -- selbst in der Hitze gesagt und getan -- für das trat man
+eben stramm und rücksichtslos ein mit Waffe und Blut, mit Schädeldach
+und Nase, mit Brustbein und Armknochen -- konnte sich gar nicht
+vorstellen, daß jemand auswich -- revozierte und deprezierte -- den
+Schwanz einzog und ... na eben kniff.
+
+Und ... jeden andern Kneifer durfte man einen Kneifer schimpfen ...
+Dieser aber stand außerhalb der Lebensgesetze der akademischen Welt --
+der er _pro forma_ doch angehörte ... Der konnte sich eine Kneiferei
+leisten, obwohl er doch auch Student, offiziell sogar Korpsstudent war
+...
+
+Was für ein Hohn ... Was für eine blöde Farce!
+
+»Hm ... Und Sie meinen, Herr Borgmann -- mit diesen Erklärungen müsse
+ich mich begnügen?«
+
+»Ich ... glaube wenigstens nicht, daß ... nach diesen Erklärungen ...
+das Ehrengericht Ihre Forderung noch genehmigen würde, wenn Sie darauf
+bestehen wollten ... Selbst ein S. C. Ehrengericht nicht ... Aber vor
+das kommt die Sache ja überhaupt nicht ... Die kommt vor den
+Offiziersehrenrat ... Na und der wird eben selbstverständlich die Sache
+für erledigt erklären unter diesen Umständen ...«
+
+Ach so ... Also alles in schönster Ordnung ... Die Ehre der
+angegriffenen jungen Dame _in integrum_ restituiert durch die
+Deprekation ... und nur er selber ... er selber um sein Korpsband
+gekommen ... und eigentlich ... der ... Blamierte ...
+
+Hm ... es stimmte ... Da war nichts zu machen ... Aber auch gar nichts
+...
+
+Ja ... Wie war denn das aber möglich? Hatte er denn irgend einen ...
+Fehler gemacht?
+
+Nein ... Er hatte den Geboten der Ehre, der Ritterlichkeit gefolgt ...
+Und was sich da wider ihn aufreckte ... das war etwas, was er bis dahin
+noch nicht geahnt hatte -- der Unsinn des Daseins ... die Tragikomödie
+des Idealismus ... dieses phantastischen romantischen Idealismus, der
+den eigenen Adel, die eigene heroisch-naive Auffassung von Pflicht und
+Ehre noch für das Gesetz des Weltganges hält ...
+
+Valentin Pilgram stand auf ... stumm ... stieren, korrekten Antlitzes.
+
+»Ich danke Ihnen verbindlichst für Ihren gütigen Beistand, Herr Borgmann
+... Nun, dann wird sich die Sache ja wohl in aller Güte und Freundschaft
+erledigen ... zwischen den ... =Nächstbeteiligten= ... Adieu, Herr
+Borgmann ...«
+
+Donnerwetter -- dachte Wilhelm Borgmann -- das hat besser gegangen, als
+ich mir's träumen ließ ...
+
+Valentin Pilgram irrte durch die Straßen ... Dies Menschengewoge, der
+Spätherbstglanz über der Welt, die Wagen, die klingelnde Pferdebahn, das
+alles machte ihn rasend. Er floh ins Rosental, strich ziellos durch die
+Laubgänge ...
+
+Jucunda! Das war sein einziger Trostgedanke ... Jucunda würde zu ihm
+stehen ... ihm danken, ihn belohnen ... irgendwie ... für alles, was er
+ihr geopfert ...
+
+Er rannte immer weiter, immer tiefer ins Holz hinein -- über die Elster
+hinüber, kreuzte die sumpfigen Wiesen jenseits der Marienbrücke, verlor
+sich in den braunen Forsten des Leutzscher Holzes. Es kam die frühe
+Dämmerung, es wurde feucht und frostig unter dem Laubdach, von dem
+langsam Blatt um Blatt niederrieselte im melancholischen Schweigen des
+windstillen Herbstabends -- Valentin Pilgram bemerkte es nicht. Und wie
+die Fledermäuse, die lautlos um die schattenhaften Säume der Gebüsche
+schwirrten, über den perlmuttfarbenen Spiegeln der Sumpfteiche huschten,
+so flatterten durch des wackern Gesellen Hirn die aberwitzigen
+Gedanken.
+
+Er hatte doch recht getan -- gehandelt wie ein Mann und Kavalier ... Und
+eine lächerliche Blamage war die Folge ... Das Korpsband, das geliebte,
+war von seiner Brust hinweggeweht, wie ein klagender Abendhauch die
+ziehenden Nebelstreifen dort auf den Wiesen hinwegstreifte ...
+
+Das konnte doch das Ende nicht sein -- so dummejungenmäßig beiseite
+geschoben werden, das war doch kein Abschluß für Valentin Pilgrams
+stolze, prangende Burschenherrlichkeit ...
+
+Nein ... Es mußte noch irgend etwas kommen -- die Ahnung irgend eines
+süßen oder schrecklichen Ereignisses düsterte durch die Seele des
+einsamen Wanderers.
+
+Es war schon Nacht, sternüberflimmerte Spätherbstnacht, als er vor sich
+die dunklen Umrisse des Leutzscher Bahnhofes auftauchen, die
+grellfarbigen Lichter des Bahnkörpers flimmern sah. Eine dumpfe
+Sehnsucht nach der Stadt zurück überkam ihn plötzlich, nach wogenden
+Menschenmassen, nach Wagenlärm und glitzernden Schaufenstern. Er
+erkundigte sich: der nächste Zug fuhr erst in einer halben Stunde. In
+dem schmutzigen Bahnhofsrestaurant schüttete er hastig, gedankenlos ein
+paar Glas Bier in die brennende Gurgel. Als der Zug herannahte und er
+die Börse zog, bemerkte er, daß er an seiner Uhrkette noch den
+Bierzipfel trug, ein Stück des grün-gold-roten Korpsbandes mit goldenen
+Beschlägen ... Da hakte er mit einem bitteren Zucken der Mundwinkel den
+blanken Zierat ab und barg ihn in seiner Brieftasche.
+
+Als er auf dem Thüringer Bahnhof ankam, war es gegen neun Uhr. Er
+hastete heimwärts. Jetzt war Jucunda im Theater -- spielte abermals die
+Jungfrau ... An allen Anschlagsäulen hing der Theaterzettel, der ihren
+Namen trug ... Es trieb ihn nach Hause, dahin, wo sie geboren und groß
+geworden war, eine seltene, phantastische Wunderblume, in einem
+abgezirkelten, banalen Spießergärtchen erblüht ...
+
+Alles war still und finster in dem engen, muffigen Korridor, als er die
+Entreetür öffnete. Natürlich, die Eltern waren ja mit im Theater, ihr
+Goldkind zu bewundern ...
+
+Er suchte seine Zündholzschachtel, fand sie, aber sie war leer.
+Vergebens tappte er nach Licht. Die Tür zur Wohnstube war angelehnt, ein
+matter Lichtreflex von der Straßenbeleuchtung fiel heraus. Valentin
+konnte der Versuchung nicht widerstehen und trat ein. Stumm und dunkel
+und dumpfig lag das Zimmer. Dort am Fenster hatte er mit ihr gestanden
+-- wann doch nur? Vor einer Ewigkeit?! Pah -- es war noch nicht
+vierundzwanzig Stunden her ... Und hier auf dem verschlissenen Plüsch
+hatte sie gesessen, das weiße Königinnenhaupt zurückgelehnt ... und --
+wie hatte sie nur gesagt? 'Vielleicht kann ich doch einmal einen Ritter
+gebrauchen -- dann will ich an diese Stunde denken und Sie rufen ...'
+Und jetzt? Hatte sie ihn nicht gerufen? -- Nein -- das eigentlich wohl
+nicht ... Aber hatte sie nicht geweint?! Sie ... sie ... und hatte
+geweint um einer bübischen Kränkung willen ...
+
+Und da hatte er getan, was er genau so rasch, so selbstverständlich und
+geradezu getan hätte für seine Schwesterchen daheim in Dresden ... Und
+morgen würde ganz Leipzig über ihn lachen ...
+
+Hastig trat er auf den stockfinstern Korridor zurück und tappte nach
+seiner Stube hinüber. Zufällig bekam er die Klinke zu Jucundas
+Kammertür in die Hand ... Er drückte sie nieder, und ein Duft wehte ihm
+entgegen, der ihn mit einem Schwall stummer, wirrer Sehnsuchtswünsche
+bedrängte. Das Zimmer lag nach einem Seitengäßchen hinaus und war fast
+völlig finster. Nur aus einem gegenüberliegenden Fenster fiel ein ganz
+matter Lichtschein hinein. In diesem Schein leuchtete das weiße Bett,
+schon aufgeschlagen, für die Nachtruhe der Künstlerin ...
+
+Ein Grausen des Verlangens schnürte dem reckenhaften Burschen die Kehle
+zusammen. Er schloß hastig die Tür und stand einen Augenblick lang in
+der Dunkelheit. Alle Glieder bebten, seine Kinnbacken schlugen im Frost
+zusammen. Dann übergoß ihn glühende Scham. Er war der Mann nicht, sich
+an dem Dunste der Geliebten verstohlen schnüffelnd zu erletzen. Er
+rannte hinaus, fand endlich die Tür seiner Bude und saß lange mit
+fiebernden Gliedern in der Finsternis, auf seinem Sofa. Endlich fuhr er
+auf, schwankte zu seinem Nachttischchen hinüber, machte Licht, zündete
+die Petroleumlampe an und sah die aufgeschlagenen Repetitorien liegen,
+wie er sie morgens verlassen hatte, als die Kanzleirätin in sein Zimmer
+gestürzt war ...
+
+Und eine stumpfe Ruhe kam über ihn. Arbeiten! Arbeiten! Er wühlte sich
+in die schematisch öde Zusammenstellung der elementaren Grundbegriffe
+seiner Wissenschaft hinein. Seiner Wissenschaft -- ah bah! Die Quelle
+des Wissens, die hell in seiner Nähe sprudelte, hatte er ängstlich
+gemieden sieben Semester lang und nur dem Korps gedient ... Nun galt es
+hastig und mechanisch einen Haufen seelenloser Notizen in sich
+hineinzustopfen, um den toten Popanz, die pappdeckelne Attrappe einer
+fadenscheinigen Examensweisheit aufzurichten ...
+
+Immerhin ... wenigstens Vergessen wirkte dies stumpfsinnige Büffeln ...
+
+Und eine Stunde verrann -- zwei Stunden ... Plötzlich draußen auf dem
+Flur die Stimmen der heimkehrenden Familie Buchner. Valentin lauschte
+angestrengt ... Ob sie ihn denn nicht noch zu sprechen wünschte? Ihm zu
+danken für die ... glückliche Lösung, die sein Eingreifen doch
+herbeigeführt?
+
+Und wirklich -- es pochte an seine Tür ...
+
+»Herein!«
+
+Mutter Kanzleirätin stand auf der Schwelle. Ein wenig rot und verlegen
+... In der schleifenbesetzten Kapuze, dem altmodischen Abendmantel,
+genau wie gestern, als er sie aus dem Wagen gehoben ...
+
+»Sie wär'n entschuld'gen, Herr Pilgram -- hier is Sie nämlich ä
+Briefchen von meiner Tochter ...«
+
+Ein -- Brief? Und warum konnte sie denn nicht selber --?!
+
+So deutlich stand diese Frage in des jungen Mannes starr aufgerissenen
+Augen, daß Frau Buchner die unausgesprochene beantwortete:
+
+»Nämlich, Se dürfen's ihr nich iebel nähm', selber kann se's Ihn' nich
+sagen, sie is Ihn' nämlich gar zu sähre angegriff'n von der Vorstellung
+... Gut Nacht, Herr Pilgram, wünsch' gute Ruh ...«
+
+Und hastig war die massive Gestalt aus der Tür ... Nur der Brief blieb
+zurück, lag weiß und fremd auf dem fleckigen, grellgemusterten
+Tischtuch.
+
+Mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge nahm Valentin das Kuvert und
+studierte die großen, fahrigen Züge der Aufschrift:
+
+ »Herrn Stud. Pilgram ...«
+
+Weder Fakultät noch Vorname ...
+
+Was steht darin? Nun, es kann doch nur eins sein: Dank und abermals
+Dank, feuriger, inniger Dank ...
+
+Er riß den Umschlag auf und las:
+
+ »Sehr geehrter Herr ...«
+
+Er las und las ... »erwünschte Erfolg« -- »Herren haben mündlich bei mir
+um Entschuldigung gebeten« -- »danke Ihnen innigst« -- »großes Opfer« --
+»Zweck erreicht« -- »nehmen Sie Ihre Herausforderung zurück, damit
+nicht noch ... weitere ... Unannehmlichkeiten entstehn ...« -- »mit
+der nochmaligen Versicherung meines aufrichtigsten Dankes Ihre ganz
+ergebene ...«
+
+Na ja ... na also ...
+
+Völlig korrekt das alles ... Nichts fehlte, was man so erwarten und
+verlangen konnte ...
+
+Nichts fehlte ... gar nichts ...
+
+Valentin Pilgram sah lange und regungslos in den hellen Lichtkegel der
+Petroleumlampe, bis die Augen ihn zu schmerzen anfingen.
+
+Na ja ... na also ...
+
+Und endlich klappte er den Brief zusammen. Wollte ihn in den Umschlag
+schieben ... Da auf einmal blieben seine Augen an etwas hängen, das er
+nicht begriff. Auf der letzten Seite des Bogens, am unteren Rande und
+mit dem Kopfe nach unten, fand sich ein Monogramm aus den Buchstaben T
+und H und darüber der Zirkel eines wohllöblichen C. C. der Franconia zu
+Leipzig.
+
+Was war das?!
+
+T. H.? Oder ... H. T.? Und darüber der Frankenzirkel?
+
+Kein Name der verflossenen Korpsbrüder fing mit einem H an, aber mit
+einem T? Thumser? Hans ... Thumser ... Das ... stimmte ...
+
+Was war das? Wie kam Jucunda Buchner zu einem Briefbogen von Hans
+Thumser?! Teufel --
+
+Hatte der am Ende den Makler gespielt? Und geholfen, ihm diese ungeheure
+Blamage einzubrocken?!
+
+Valentin Pilgram dachte nach. Nun, der kleine Thumser war ein Faselhans,
+hatte den Kopf voll konfuser Ideen, voll unvorschriftsmäßiger,
+inkorrekter, umstürzlerischer Gedanken über allerhand heilige,
+unantastbare Dinge, Dinge, die immer so gewesen waren und immer so
+bleiben sollten ... Sah ein bißchen von oben herab auf alle Menschen und
+Zustände -- aber eine Gemeinheit, eine heimtückische Verräterei und
+Niedertracht -- die war ihm denn doch nicht zuzutrauen ...
+
+Aber -- wie war dies -- Unfaßbare da -- zu erklären?!
+
+War denn irgendeine Möglichkeit, daß Jucunda und der versedrechselnde,
+kunstsimpelnde Korpsbruder in Berührung hätten kommen können?
+
+Gestern abend -- so viel stand fest -- kannte Thumser die Künstlerin
+noch nicht persönlich -- hatte zwar die Idee gehabt mit dem
+Pferdeausspannen, aber nicht ein Wort mit dem Mädchen gewechselt ...
+
+Aber -- hatte nicht er selber, Valentin, gestern abend im Gespräch mit
+der Familie Buchner den Namen Thumsers genannt als desjenigen, der den
+glorreichen Einfall mit der Pferdeausspannerei ausgeheckt ...
+
+'Dafür hätten Sie 'nen Kuß gekriegt,' hatte Jucunda gesagt ... Noch ganz
+deutlich entsann sich Valentin einer dunklen Regung von Eifersucht ...
+
+Wär's möglich -- sie hätte sich vielleicht an den gewandt um ... um
+einen Ausweg aus der Verlegenheit, in die Valentin Pilgrams rasche
+Ritterschaft sie hineingestürzt?!
+
+Oder?! Hatte er -- Hans Thumser -- die Bekanntschaft eingeleitet? Er
+wußte aus dem C. C., was vorgefallen war ... Er war sehr schweigsam
+gewesen im C. C. ... Sollte er diese ... Gelegenheit ... seine
+Wissenschaft um die Situation -- sollte er die benutzt haben, um sich
+bei Jucunda lieb Kind zu machen?!
+
+Wie es auch sein mochte -- es war etwas geschehen zwischen den beiden
+... Hans Thumser hatte seine Hand im Spiel -- in dem falschen,
+ränkevollen Spiel, an dessen Ende seine, Valentins, hilflose Blamage
+stand ...
+
+Himmel und Hölle! Da stand ja auf einmal ein neuer Feind auf -- ein
+Feind, der eine harmlos grinsende Freundesmaske trug ... und einer, der
+nicht unangreifbar war, wie die andern -- nicht geschützt wie diese
+Jucunda durch ihr Geschlecht -- nicht durch Rang, durch Pflichten der
+Rücksichtnahme, durch die Ausnahmegesetze der militärischen
+Standesordnung -- wie das fürstliche Käsegesicht mit der Scherbe im Auge
+oder sein schnurrbärtiger Begleiter ...
+
+Einer, den man sich langen konnte!
+
+Ein Korpsbruder?! Pah ... er selber war ja nicht mehr Korpsstudent ...
+Konnte ramschen, mit wem es ihm beliebte ... Seine Rache kühlen an dem
+ersten besten, der seinem Grimm in den Weg lief ...
+
+Ja, seinem Grimm -- der besinnungslosen Wut, die ihm nun auf einmal in
+die Augen stieg mit blutrotem Schimmer, ihm Blick und Fassung trübte --
+daß er aufsprang, die Halsbinde, den Kragen aufriß, um nicht zu
+ersticken ...
+
+Nebenan raschelten Kleider, klapperten die leisen Tritte müder
+Mädchenfüße ...
+
+Sie -- und nur eine dünne Wand zwischen ihm und seinem Schicksal ...
+
+Er lauschte ... flüsternde Frauenstimmen klangen: Mutter Kanzleirätin
+brachte wohl das Goldkind schlafen ... Nun knarrte die Tür, nun
+schlürften die Pantoffeln der Alten über den Korridor, zum ehelichen
+Schlafgemach hinüber ... Und ein herzhaftes, langgezogenes Gähnen ...
+Und nun krachte das Bett, rauschten die Kissen ...
+
+Valentin Pilgram saß noch immer steif und regungslos an seinem
+Schreibtisch und starrte in den Lichtkegel der Petroleumlampe ... Und in
+der Faust hielt er den halbzerknüllten Briefbogen, der vorne Jucunda
+Buchners Brief und hinten Hans Thumsers Monogramm und den Frankenzirkel
+trug ...
+
+Na ja ... Na also -- -- --!!
+
+
+
+
+ 10.
+
+
+Die Franken hatten C. C. gehabt und Chargenwahl vollzogen. Ivo Volkner
+aus Düsseldorf war Erster geworden an Pilgrams Statt. Hartwig, der
+Vertreter des Marburger Kartellkorps, hatte die zweite Charge bekommen,
+und der eben erst rezipierte Jungbursch Feldmann die dritte. Volkner
+Senior -- das bedeutete einen Wechsel des Regimes. Statt des zähen,
+wortkargen, sparsamen und fechtgewaltigen Sachsen der leichtsinnige,
+wohlhabende, lebenslustige Rheinländer -- das war ein wahrer Umschwung
+für den Geist des Frankenbundes ...
+
+Hans Thumser säumte nicht, von diesem Umschwung zu profitieren. Alle
+paar Tage bat er um Dispens zum Besuch der Konzerte, des Theaters,
+schwänzte regelmäßig Sonnabends das gemeinsame Mittagessen, um der
+Motette des Knabenchors in der Thomaskirche zu lauschen ...
+
+Und eines Morgens erlangte er gar die Erlaubnis, bei den Meiningern zu
+statieren ...
+
+Die Meininger ... sie hielten ihn völlig im Bann. Er versäumte keine
+Premiere. Drama auf Drama reckten sich die genialen Machtschöpfungen der
+erhabensten Meisterwerke des germanischen Theaters vor dem
+schönheitshungrigen Auge des jungen Studenten auf ...
+
+Und all die heiße Inbrunst, die solch aufrüttelnde, seelenentzückende
+Schau in ihm entflammt hatte, die küßte er der zierlichen Asta Thöny auf
+den feuchten, bebenden Mund ... Es war ein toller Märchenrausch von
+Begeisterung und Liebe, in dem die Tage, die Nächte dahinrasten. Und so
+ganz versunken war alles, was sich nicht der Erinnerung aufdrängte, daß
+er nicht ein einziges Mal auf den Einfall gekommen war, sich nach dem
+armen Valentin Pilgram umzusehen, mit dem er doch drei Semester lang die
+gleichen Farben getragen -- der aus dem Korps geschieden war um eines
+Entschlusses willen, den er heiß bewunderte wie alle Korpsbrüder ... Er
+wußte, die andern pflegten eifrig den Verkehr mit dem ausgeschiedenen
+Freunde -- er nahm sich täglich vor, ihn aufzusuchen, und täglich vergaß
+er's in seinem Taumel von Sehnsucht und Erfüllung, Erfüllung und
+Sehnsucht ...
+
+Ja, Erfüllung ... und Sehnsucht ... Denn wenn Hans Thumsers flaumige
+Jugend in Asta Thönys schimmernden Armen lag, dann am heißesten
+verlangte seine Seele nach der andern, die Abend für Abend die ganz
+großen, ganz lichten Visionen der Dichter verkörperte, statt jener
+kleinen, sündigen, irdischen Geschöpfe, die Asta Thönys Kunst umspannte
+...
+
+Aber außerhalb der Bühne hatte er sie niemals wieder zu sehen bekommen
+-- Jucunda, die allvergötterte. Es war ein förmliches Jucundafieber
+ausgebrochen unter der Leipziger Jugend, der männlichen wie der
+weiblichen, der akademischen wie der Philisterwelt ... Allabendlich
+schritt die Künstlerin durch ein jubeltrunkenes Spalier ihrer Verehrer
+zu ihrem Wagen -- nach jeder Premiere wiederholte sich die gleiche
+Komödie. -- Der Kutscher strängte die Gäule schon vorher ab und stellte
+sie auf Seite und sich daneben, damit ihm die Tiere nicht ganz verrückt
+wurden und er selber ohne blaue Flecke vom Bock herunterkäme ...
+
+Und Liebesbriefe ohne Zahl, voll ungelenker Gedichte, stammelnder
+Mädchenverzückung und kecker Jungmännerwerbung flatterten in das
+bescheidene Kämmerchen an der Katharinenstraße ...
+
+Selbst die Waffenstudenten, deren Gesichtskreis doch sonst mit ihren
+Couleurangelegenheiten völlig ausgefüllt war, wurden in den allgemeinen
+Theatertaumel mit hineingezogen. Wenn Jucundas Triumphwagen mit seiner
+keuchenden, brüllenden Bespannung durch die Straßen südlich des
+Königsplatzes der Altstadt zurollte, dann blinkten in der Schar der
+Ziehenden und der Geleitenden die Mützen der Korps neben denen der
+Burschenschaften, der Turner neben denen der Landsmannschaften -- Arion
+und Paulus wetteiferten mit dem heiligen Wingolf im Dienste der
+Jucundabegeisterung ... Es war wie im Paradiese, da das Lämmlein bei dem
+Tiger weidete ...
+
+Und der regelmäßigste Besucher war der Gast der fest abonnierten
+Proszeniumsloge vorn links vom Schauspieler, neben der Direktionsloge
+... war der Erbprinz von Nassau-Dillingen. Zu jeder Premiere schleppten
+die herzoglichen Leibdiener ein kostbares Blumenarrangement von
+schier unermeßlichen Dimensionen auf die Bühne, daran ein Kuvert mit
+geprägtem Wappen hing ... Es enthielt des Erbprinzen Visitenkarte,
+darauf immer nur die Worte: »In Verehrung« ... geschrieben in einer
+unausgeschriebenen Knabenschrift. Niemals aber hatte sich Jucunda
+künftighin über den leisesten Versuch einer Annäherung zu beklagen
+gehabt.
+
+Und Jucundas Dank beschränkte sich stets auf den Hofknix vor der ersten
+Parkettloge links ...
+
+»So ist's recht, Langbeinchen,« sagte Franz Burg mehr als einmal zu der
+jungen Freundin -- »so muß man's machen: hübsch in Distanz halten die
+hochgeborenen Verehrer -- aber keinesfalls wegöden ... das hat keinen
+Sinn -- immer warm halten -- man kann nie wissen, wozu man so etwas
+einmal brauchen kann ...«
+
+Und Jucunda begriff. Es blieb doch nicht nur bei dem Hofknix. Wie jeder
+andre Spender einer Blumengabe bekam auch Erbprinz Heribert ein paar
+Dankesworte auf goldgerändertem Kärtchen ... Anfangs waren's nur drei
+konventionelle, schematische Zeilen ... Bei der dritten Spende aber
+stellte sich ein Zusatz ein:
+
+ »Sie beschämen mich, Durchlaucht, -- ich weiß nicht, wodurch ich
+ soviel gnädige Anteilnahme verdient habe.«
+
+Das nächste Mal enthielt das wappengeprägte Kuvert an der riesigen
+Seidenschleife, die in den Nassau-Dillingenschen Landesfarben von einem
+riesigen Lorbeerrade niederrauschte -- enthielt das Kuvert ein Briefchen
+von zwanzig Zeilen:
+
+ »... Sie sind mir böse gewesen, und ich muß leider zugeben, nicht ganz
+ ohne Grund, obwohl ich für die geschmacklose Form der Huldigung, die
+ Ihnen in meinem Namen überreicht wurde, nichts kann. Sind Sie wieder
+ gut? Ich bitte Sie um ein Zeichen ...«
+
+In der Premiere des »Wintermärchens«, die kurz auf dies Briefchen
+folgte, lockte der tumultuarische Applaus nach der Gerichtsszene die
+eben hinter den Kulissen gestorbene Hermione-Jucunda auf die Bühne ...
+Und wieder schleppten livrierte Diener eine weißleuchtende Kaskade von
+rieselnden Chrysanthemen heran ... Da zog Hermione aus dem Blütenschwall
+eine ganze Handvoll der märchenhaften, hundertstrahligen Blumensterne
+und steckte sie an ihre Brust, um sich dann erst mit feierlichem Lächeln
+im tiefen Hofknix zu neigen gegen die Proszeniumsloge vorn links vom
+Schauspieler ...
+
+
+Also Hans Thumser durfte statieren -- mit hoher Genehmigung des Herrn
+Ersten Chargierten. Er ging sonach eines Morgens um zehn nach dem
+Fechtboden zum Bureau des Carolatheaters und meldete sich als Statist
+für »Wallensteins Tod«. Er wurde sofort und freundlich angenommen. Denn
+es war hier wie immer und überall: Nach den ersten Tagen der
+Begeisterung waren von den angeworbenen und mühsam eingedrillten
+Komparsen viele Dutzende abgefallen, hatten sich schriftlich
+entschuldigt oder waren einfach weggeblieben. Er mußte gleich in die
+Probe. Es handelte sich nur um zwei Szenen: die große Kürassierszene am
+Schluß des dritten Aktes und die Mordszene am Ende des fünften.
+
+Vom Bureau aus schickte man Hans Thumser auf die Bühne. Aber den Weg
+mußte er sich selber suchen und erfragen. Er wurde durch sechs bis acht
+verschiedene Türen gewiesen, kam sechs- bis achtmal an das weglose Ende
+dunkler, verschlossener Korridore, stieß sich die Schienbeine wund an
+allerhand unbeschreiblichen, geheimnisvollen Gegenständen, welche in der
+Finsternis herumstanden ... Endlich fand er ein eisernes Pförtchen, an
+dem in Weiß die Aufschrift stand: Zur Bühne ... und voll Ehrfurcht trat
+er in einen hohen, frostigen Raum, in dem im halben Tageslicht ein
+Gewirr von hölzernen Lattenrahmen, mit grauer Leinwand überspannt,
+erkennbar war. An diesen Wänden war vielfach die aufgepinselte Inschrift
+zu erkennen: »W. T. III. Saal.«
+
+Man wies ihn an, eine hohe bretterne Treppe hinanzuklimmen, auf deren
+oberem Podest er plötzlich ein seltsames Schauspiel sah: eine Wand wie
+ein riesiges, aus zahllosen kleinen Scheiben bestehendes Fenster, hinter
+dem der Treppenpodest wie eine lange Galerie sich hinzog. Das
+Glasfenster lief jenseits der Treppe in eine eichene Tür aus, von der
+aus dann eine andere Treppe zum Bühnenpodium hinunterführte ... Diese
+Treppe aber war im Bogen geschweift und aus massivem, dunkelgebeiztem
+Eichenholz mit schwerem Renaissancegeländer -- wenigstens sah sie so
+aus. Unten ein dunkler, wuchtiger Saal mit Kamin, Gobelins, gepolsterten
+Bänken an den Wänden, und da standen an siebenzig jüngere Männer und
+lauschten andächtig der Instruktion des Oberregisseurs Burg.
+
+»Aha -- noch 'n Kürassier?« unterbrach dieser seinen Vortrag. »Kennen
+Sie 'n Wallenstein?«
+
+»Auswendig ...«
+
+»Um so besser ...
+
+ »Geselle Dich zu uns -- komm hier!
+ Es ist ein pudelnärrisch Tier ...«
+
+Also bitte weiter zu hören, meine Herren. Ihr wollt Euren geliebten
+Oberst Max -- hier steht er, Barthel ist sein Name, Alexander Barthel,
+na, Ihr werdet doch unsern großen, schönen Alexander kennen?«
+
+»Ja! ja!« murmelten die Kürassiere mit Begeisterung.
+
+»Also den wollt Ihr dem Friedländer -- das heißt mir! -- entreißen ...
+Ihr bildet Euch nämlich ein, ich hielte ihn in Gefangenschaft. Einzeln,
+truppweise strömt Ihr herein, und wie Ihr in den Saal kommt, seht Ihr
+etwas ganz Unerwartetes: Euer Kommandeur ist nicht gefesselt, sondern
+frei: nicht ich halte ihn, sondern etwas anderes, der stärkste Magnet,
+den es gibt, natürlich ein Frauenzimmer: die da, meine Tochter Jucunda,
+ich wollte sagen Thekla ...«
+
+Ein weißer Schatten im halbdunklen Raum: sie, die Erträumte, von tausend
+Sehnsuchtsgedanken Umschwärmte, die Verkörperung des Mädchenideals
+deutscher Jugend im neunten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts ...
+da stand sie im fußfreien grauen Rock, eine schlichte graue Bluse um den
+festen Oberkörper ...
+
+»Nun stutzt natürlich jede Gruppe,« fuhr der Oberregisseur in seiner
+Instruktion fort, »und es verstummen die Rufe, mit denen Ihr einander
+angefeuert ... Die erstaunten Blicke gehen von ihm zu mir, von mir zu
+ihr -- befangen flüstert einer dem andern zu, was er sich bei der Sache
+denken mag ... und so steht Ihr schweigend, mit gesenkten Schwertern ...
+nichts ist vernehmbar, als das leise Rascheln der eisernen Rüstungen --
+bis Euer Führer sich an Euch wendet und Euch warnt, ihm zu folgen. --
+Schlagen Sie an, Barthel!«
+
+Und der schöne Alexander trat einen halben Schritt vor, sprach lächelnd,
+mit halber Stimme:
+
+ »Bedenket, was ihr tut! Es ist nicht wohlgetan,
+ Zum Führer den Verzweifelten zu wählen --
+ Ihr reißt mich weg von meinem Glück -- wohlan,
+ Der Rachegöttin weih' ich Eure Seelen ...«
+
+»Bitte halt!« unterbrach Burg. »In diesem Augenblick richtet sich jeder
+auf, die Augen blitzen mutig den Führer an: Herr befiehl! Wir sind Dein
+-- führ' uns in die Schlacht, führ' uns in den Tod, wir folgen Dir ...
+Das geht wie ein Ruck durch die ganze eisenstarrende Gesellschaft durch,
+versteht Ihr? Und nun weiter, Barthel!«
+
+ »Ihr habt gewählt zu eigenem Verderben --
+ wer mit mir geht, der sei bereit zu sterben!«
+
+so schmetterte der schöne Barthel heraus, berauscht von der klingenden
+Herrlichkeit seines erzenen Organs.
+
+»So -- und auf dies Wort wirft er sich herum und stürzt sich in Eure
+Mitte -- mit einem einzigen Aufschrei des Jubels, des wilden,
+todbereiten Jubels umringt Ihr ihn, so daß die Eisenmasse ihn
+gewissermaßen einschluckt, die Schwerter schießen in die Höhe wie eine
+schäumende Flut, die über seinem Helmbusch zusammenschlägt ... Noch
+einmal taucht er auf, als er in Eurer Schar die Treppe hinaufstürzt, Ihr
+hinter ihm drein; der Schwall wälzt sich durch die Galerie, im Gedränge
+werden ein paar Glasscheiben eingestoßen und klirren schneidend in das
+Getös des Sterbejauchzens, der Hörner hinein, die von drunten zum
+letzten Kampfe werben -- und denn Vorhang und aus!«
+
+Mit sprühenden Augen, mit langhin malenden Gesten seiner hageren Arme
+hatte der Oberregisseur die ganze ungeheure Szene aufgebaut vor den
+Augen der lauschenden Statistenlehrlinge ... die brachen nun in lauten
+Beifall aus, als ihr Meister aus der hinreißenden Beredsamkeit in einen
+trockenen Ulkton am Schluß fiel ...
+
+»So, Herrschaften, nun zählt mal von vorne nach hinten ab, und jeder
+merke sich genau seine Zahl!«
+
+Dann wurden die zweiundsiebenzig in sieben Gruppen eingeteilt nach der
+Nummer, und jede bekam ihr Stichwort zugeteilt ... »Scheidet -- Gott!«
+hieß dasjenige für die erste Gruppe -- »Dein ewig teures und verehrtes
+Antlitz« das für die zweite -- und so fort. Und dann mußten sie alle
+über die breite Renaissancetreppe zurück -- »damit Ihr Euch an die
+Stufen gewöhnt,« -- und draußen in der Dunkelheit wurden sie vom
+Inspizienten zu einzelnen Klumpen zusammengeballt und aufgestellt ...
+
+»Sind Sie fertig, Ruperti?« klang dann Burgs Stimme von drinnen. »Ja? Na
+dann bitte -- ich fange an: Dreiundzwanzigster Auftritt, ich komme mit
+Illo und Buttler die Treppe hinunter --«
+
+Und nun herrenhaft, mit grollendem Erzklang in der Stimme. »Terzky!«
+
+»Mein Fürst!« antwortete drinnen eine andere Stimme, erregt, geschmeidig
+--
+
+ »Laß unsre Regimenter
+ Sich fertig halten, heut noch aufzubrechen,
+ Denn wir verlassen Pilsen noch vor Abend ...«
+
+Und auf einmal war alles im Fluß. Der Zauber wirkte, der ungeheure, dem
+einst der zitternde Knabe erlegen war, im Barmer Stadttheater, auf dem
+Eckplatz des zweiten Ranges ... nur daß der Jüngling nun hineinschaute
+in das Innere des komplizierten Mechanismus, der das Wunder wirkte ...
+und eine dumpfe Sehnsucht sprang auf -- diesen geheimnisvollen Apparat
+einmal aus eigener Machtvollkommenheit heraus zum Funktionieren zu
+bringen ...
+
+Gott ... welch ein Gedanke ... selbst einmal etwas zu schaffen aus der
+Magie des eigenen Innern heraus ... etwas, das die hundert Geister
+dieses dunklen Heerbannes zur Tat, zur Heeresfolge zwingen könnte ...
+
+Scheuer Knabentraum, bist du mehr als nur ein Traum -- bist du die
+mystische Vorahnung kommender Kraft, der Vorklang künftigen Schicksals?!
+
+Und Gruppe auf Gruppe der jungen Männer wurde vom Inspizienten
+losgelassen, tobte die Treppe hinauf, erstarrte droben in staunender
+Verständnislosigkeit, schob sich dann scheu und verhalten drüben die
+breite Treppe hinunter in den Saal, wo Max Piccolominis todgeweihte
+Liebe ihren letzten Verzweiflungskampf mit dem Dämon der Eidespflicht
+ausfocht ...
+
+Freilich, manchesmal empfing sie drunten ein Hohngelächter des
+Spielleiters.
+
+»Ne, Kinder, so geht das nicht -- Ihr seid ja keine Verbrecherbande ...
+Ihr macht ja auf einmal Gesichter, als hättet Ihr alle einen Sack
+silberne Löffel gestohlen! Ihr seid Soldaten, wüste Kerle, schlichte
+Burschen, die nicht recht verstehen, weshalb man eines Mädels wegen
+soviel Umstände macht ... dazu ein Rest von Scheu vor dem geliebten,
+gefürchteten Auge Eures Feldherrn, 'das Eure Sonne war in heißer
+Schlacht' -- aber vor allem doch Trotz, Empörertrotz, verhalten,
+verbissen, gedämpft, aber Entsetzen einflößend, Schauer aushauchend,
+kalt wie das blanke Eisen in Eurer Faust -- so will ich's haben, so hat
+der Schiller sich's gedacht!«
+
+Das alles klang nur durch die bemalten Lappen hindurch an Hans Thumsers
+Ohr. Denn er gehörte ja zur allerletzten Gruppe ... er würde nicht viel
+mehr zu sehen bekommen ... und er ahnte nur die Gegenwart des Mädchens,
+um dessen Bild all seine Gedanken kreisten, ihr Bild, das ihm die Seele
+dieser wundersamen Kunst erschien, die aus Schein und Flitter das
+ungeheure Widerspiel des Lebens webt, wahrer als alle Wirklichkeit,
+tiefer als alles reale Erdengeschehen ...
+
+Als er so in stummem Lauschen den Gang der gigantischen Maschine
+verfolgte, die das werdende Werk schuf -- da sah er plötzlich aus der
+Gruppe sechs ein Augenpaar mit hartem, feindlichem Ausdruck zu sich
+herüberblitzen. Es waren Valentin Pilgrams Augen ...
+
+Im Nu war er an der Seite des einstigen Korpsbruders.
+
+»Pilgram, Du? Also endlich ... endlich seh' ich Dich mal wieder ...«
+
+»Hm ... hat Dir wohl wenig dran gelegen -- sonst hättest Du das
+Vergnügen früher haben können ...«
+
+»Hast ganz recht, es ist meine Schuld ... es ist ein Skandal, daß ich
+mich so gar nicht um Dich gekümmert habe ... Aber wenn Du wüßtest ...
+ich will mich auch bessern, sei mir nicht bös ... Und nun sag' nur, wie
+kommst Du hierher?«
+
+»Das könnte ich Dich fragen,« sagte Pilgram hart.
+
+»Nu -- ich ... Du weißt doch, daß ich Dich selber seinerzeit schon um
+Erlaubnis gebeten hatte -- Du wolltest nicht ... Na, nun haben wir den
+Volkner, der ... denkt ein bißchen anders über solche Sachen ...«
+
+»Jawohl ... und seid mich glücklich los ... gratuliere.«
+
+»Aber Pilgram! Du weißt doch, wie furchtbar leid es uns allen getan hat
+...«
+
+»Dir auch?!« fragte Pilgram finster.
+
+»Ich versteh Dich nicht, Pilgram ... so wie Du und ich doch immer
+miteinander gestanden haben ...«
+
+»Hm ... wenn Deine korpsbrüderlichen Gefühle für mich ... echt gewesen
+wären ... dann hätten sie sich wohl ein bißchen besser gehalten ...«
+
+»Aber Pilgram --!«
+
+»Ruhe, meine Herren!« fuhr der Inspizient dazwischen. »Sie da, Sie
+gehören doch überhaupt zur Gruppe sieben -- nu bleiben Sie gefälligst
+aber auch bei Ihrem Haufen! Ausquatschen können Sie sich ja genügend,
+wenn's hier aus geworden ist!«
+
+»Wir sprechen uns noch!« sagte Thumser und trat zu seiner Gruppe zurück.
+
+Himmel -- was hatte der Pilgram nur? Und wie schrecklich er sich
+verändert hatte in den wenigen Tagen seit seinem Austritt aus dem
+Korps ... Die Augen, tiefumrändert, waren in ihre Höhlen gesunken ...
+der sonst so peinlich korrekte Anzug vernachlässigt ... die früher
+straffen und sicheren Bewegungen unruhig und zerfahren ...
+
+Und Valentin Pilgram fragte sich: Wie ist es möglich, daß ich es bis
+heute ausgehalten habe, diesen falschen Hund nicht zu stellen? -- Es
+kann ja nur sein böses Gewissen sein, das ihn von mir ferngehalten
+hat ... alle die Tage, die zwei Wochen seit ... damals ...
+
+Ha, warum hatte er's nicht getan? Aus Furcht vor ... einer neuen
+Uebereilung ... einer neuen Blamage ...
+
+Daß Thumser seine Hand in dem schändlichen Spiele gehabt haben müsse,
+das man ihm gespielt, das war ja klar. Der Briefbogen mit dem
+Frankenzirkel und dem H. T. auf der Rückseite und mit Jucundas
+Absagebrief auf der Vorderseite -- das war ja doch ein untrüglicher
+Beweis. Mit Jucundas Absagebrief! Ja, ein Absagebrief, das war's, und
+nichts andres! Die glatten, gleißnerischen Dankesworte, ihn, den
+Desillusionierten, blendeten sie nicht mehr. Er verstand, sie hatte ihn
+verleugnet, er hatte sie verloren. Aber wie kam der andere dazu? Welche
+Rolle hatte er gespielt in dem Gewirr von Ränken und Tücken, von denen
+Valentin Pilgram sich umstrickt sah? Das war nicht zu erraten und nicht
+zu erfahren ... Und aufs Geratewohl abermals unbedacht zufahren mit
+einem züchtigenden Wort, einem rächenden Schlag -- Valentin Pilgram
+besaß nicht mehr die frühere Sicherheit des Handelns, seit sein Instinkt
+ihn so schmählich in die Irre, in die Wirrnis, in die lächerliche
+Don-Quichottiade hineingestoßen hatte. So hatte er von einem zum andern
+Tage gewartet und gewartet in der dumpfen Hoffnung, daß irgend etwas
+sich ereignen würde, das ihm Klarheit gäbe ... Er hatte auf ein
+Wiedersehen mit Jucunda, auf einen Besuch Thumsers gehofft, auf eine
+Aussprache mit ihr und mit ihm, in deren Verlauf er brüsk und
+kategorisch die Frage hätte stellen können: Wie war das möglich? Wie ist
+dieser Brief auf dieses Blatt geraten? Erklärt mir den Zusammenhang,
+zerstreut meinen grausamen Verdacht und bekennt, bekennt und empfangt
+den Lohn, den Euer Verrat verdient!
+
+Aber nichts von alledem war geschehen. So häufig er den teilnahmsvollen
+Besuch seiner ehemaligen Korpsbrüder erhielt, so oft er mit ihnen am
+dritten Orte zusammentraf -- der schlanke Fuchsmajor blieb aus. Und
+Jucunda? Sie war wie aus der Welt verschwunden. Wohl hörte er abends ihr
+Heimkommen aus dem Theater, ihr herzhaftes Gähnen, den energischen
+Plumps, mit dem sie sich arbeitsmüde auf ihr krachendes Bettchen warf,
+und nachts, wenn er sich schlaflos auf seinem Lager wälzte, ihr
+geruhsames, selbstzufriedenes Schnarchen ... denn bei Gott, sie
+schnarchte wie ein Mann ... Und morgens vernahm er wohl, wie sie leise
+ihre Rollen repetierte. Ach, wie gern hätte er noch einmal den sonoren
+Alt in seinem vollen Glanze von da drüben schmettern gehört! Aber sie
+hatte einen Flor über ihr Organ gebreitet, und er fühlte, das war die
+Scheu vor ihm. Und die gleiche Scheu mußte es sein, unter deren Druck
+sie es darauf anlegte, ihm um jeden Preis aus dem Wege zu gehen. Es war,
+als überwache sie sein Gehen und Kommen und richte ihre eigenen
+Ausgänge, ihre Rückkunft danach ein. Oft legte er es geradezu darauf an,
+mit ihr im Korridor, auf der Treppe zusammenzutreffen, aber wie ein
+Geist war sie dann von hinnen gehuscht, hinter irgend einer Tür
+verschwunden, die Treppe hinuntergeschnurrt ...
+
+Der tolle Wirrwarr von Wut und Sehnsucht, von Ekel und Hingebung, in dem
+seine Tage, seine Nächte dahinrannen, trieb ihn immer und immer wieder
+ins Theater. Und dann sah und hörte er nichts von dem Stück -- er sah,
+er fühlte, er träumte nur Jucunda. In welcher Gestalt, welcher Maske,
+welchem Gewande sie auf der Bühne stand, ihm galt es gleich. Er sah
+nicht die Künstlerin, er sah nur das Mädchen, dem seine Seele wie sein
+Leben verfallen war. Fiebernd, stumpfsinnig harrend ließ er die
+Auftritte an sich vorübergehen, bis sie erschien. Von folternden
+Schmerzen zermartert und doch an ihr Bild gebannt, weit vorgebeugten
+Oberkörpers, verfolgte er jeden Schritt, jede Bewegung, bis sie wieder
+die Bühne verließ oder der Vorhang fiel -- er hätte seinen Nachbarn an
+die Kehle fahren können, wenn sie fanatisch Beifall trampelten, wenn sie
+wie toll ihr »Buchner! Buchner!« riefen ... Und wenn's zu Ende war, dann
+stand er draußen unter der harrenden Rotte der Verehrer, den Kragen
+seines Paletots hoch aufgeklappt, den Hut tief in die Stirn geschoben,
+sah sie vorüberschweben und mit königlicher Gnade ein Lächeln rechts,
+ein Lächeln links verteilen, atmete tief und stöhnend auf, wenn der
+Wagenschlag klappte, die Pferde anzogen ... Wenn aber nach der Premiere
+die schäumende Begeisterung der Jugend abermals den gewohnten Triumphzug
+entfesselte, dann stellte sich Valentin Pilgram inmitten derer auf, die
+von hinten Jucundas Wagen schoben, und arbeitete im Schweiße seines
+Angesichts. Dann war ihm am wohlsten, dann fühlte er sich ihr am
+nächsten ...
+
+Und als er eines Tages auf den Anschlagsäulen ersah, daß der
+»Wallenstein« in Vorbereitung sei, da fiel ihm Thumsers Bitte ein,
+in diesem Stücke mit statieren zu dürfen. Damals hatte er als Senior
+diese Bitte abgeschlagen, nun nickte er sich selbst ein bitter
+lächelndes Ja, als eine Stimme in ihm befahl, er solle sich in die Schar
+der Pappenheimer Kürassiere mischen, um den Geliebten aus Theklas Armen
+und in den Schwertertod hineinzureißen ... Und so war er nun hier, in
+dieser pappdeckelnen, bretternen Trödelwand. Nie hätte er sich's träumen
+lassen ... Nun war er, der weiland Erste Franconias, ein Statist in
+Gruppe sechs ...
+
+Die Probe ging ihren Gang.
+
+Wie eines Meisters Hände den bildsamen Ton, so knetete Franz Burgs
+zielsichere Regie die Schar der zweiundsiebenzig jungen und älteren
+Männer in eine Horde entfesselter Pappenheimscher Soldateska um. Immer
+und immer wieder wurde eine Gruppe nach der andern die Treppe hinauf-
+und hinuntergejagt, jedes Knurren der Wut, jedes Aufheulen der
+Begeisterung wurde einstudiert, jede Bewegung, jeder Blick festgelegt
+und in das tausendmaschige Gewebe des farbenleuchtenden Teppichs
+eingefügt, den der Szenenmeister vor dem lauschenden Publikum zu
+entrollen gedachte. Und immer klarer, immer überzeugender modellierte
+sich das Bild des kurzen, erschütternden Vorganges heraus, wie die
+todestrunkene Schar der Kürassiere sich ihren Führer aus den
+Verstrickungen der Liebespflicht herausholt und ihn auf schäumender Woge
+hinwegreißt in Tod und Vernichtung. Keiner spürte Ermüdung, keiner nahm
+Anstoß am derbsten Poltern, am spitzigsten Spotte des eisernen Mannes,
+der diese Zweiundsiebzig am Drahte seines Willens zappeln ließ wie
+ebensoviel Marionetten.
+
+Und endlich schien's getan: tief aufatmend lachte Franz Burg: »So,
+Herrschaften, ich denk', nun könnt Ihr's, jetzt kommt der Tragödie
+zweiter Teil: Rüstungen verpassen! Also Pause zum Verschnaufen und dann
+gefälligst gruppenweise hinauf zur Rüstkammer, dort laßt Ihr Euch die
+klapprigen Konservenbüchsen um den Leib hängen, holt Euch Euren
+Eisentopf und Eure Bratspieße -- und denn geht's wieder von vorne los!«
+
+Da leuchteten die ermüdeten Augen der abgejagten Schar wieder hell auf.
+Das hatte ja nur noch gefehlt, das Kostüm, das vollendete die
+Verwandlung, das brachte das Letzte an Stimmung, was noch fehlte ... Und
+während die Gruppen zwei bis sieben sich plaudernd und lärmend in dem
+dunklen Hintergrunde des schwarzgähnenden Bühnenraumes verloren,
+kletterte Gruppe eins unter Führung des Inspizienten lachend und
+prustend die hallenden Steintreppen hinauf, um droben das Eisengewand
+der Pappenheimer anzulegen.
+
+Hans Thumser hatte sich vergebens den Kopf zerbrochen, weshalb wohl der
+Korpsbruder so maßlos gereizt auf ihn sein könne. Himmel ja, er hatte
+ihn ja unverantwortlich vernachlässigt in der letzten Zeit -- aber
+schließlich war das doch kein Grund, ihn dermaßen hundemiserabel zu
+behandeln. Na, man würde nochmals um Entschuldigung bitten, und dann
+müßte der arme Kerl doch schließlich Vernunft annehmen. Also, wo steckt
+er denn bloß?
+
+Gruppe sechs -- wo ist Gruppe sechs? jawohl -- alles durcheinander
+gewürfelt, alles wie verschluckt von der schwarzen Finsternis dahinten
+jenseits des Prospekts.
+
+Hans Thumser drängte sich durch die Gruppen der »Kürassiere«, rief hin
+und wieder halblaut Pilgrams Namen, aber umsonst, der Freund ließ sich
+nicht sehen -- schließlich postierte er sich unten an der Treppe, die
+zur Rüstkammer hinaufführte. Aber selbst als Gruppe sechs, der er
+angehörte, vom Inspizienten zum Empfang der Rüstungen geführt wurde, war
+Valentin Pilgram nicht darunter. Es schien, er wolle sich nicht sehen
+lassen ... und schließlich konnte Hans das am Ende begreifen: er war
+eben böse, weil Hans ihn so schnöde vernachlässigt hatte. Nun, das ließ
+sich am Ende nachholen ...
+
+Und mit ganz wunderlichen Empfindungen ließ sich auch Hans Thumser den
+rasselnden Eisenharnisch der Pappenheimer Kürassiere um die
+geschmeidigen Glieder schnallen. Es war ja nur Spiel, nur Mummenschanz
+-- und doch, welch sonderbare Macht lag in diesem starren Eisengewand,
+lag überhaupt im Kostüm! Hans meinte ordentlich zu fühlen, wie er ein
+anderer wurde, wie schlichte, rohe und starke Gefühle aus
+jahrhundertfernen Tiefen sich an die Oberfläche seiner Seele drängten,
+wie er verschmolz mit der gepanzerten Schar seiner Gefährten ...
+
+Und nun hinunter! Die matt erhellten Korridore, der stockfinstere Raum
+hinter dem Prospekt war nun von geheimnisvollem Rascheln und Klirren
+erfüllt. Es war, als sei der Geist der Wallensteinschen Soldateska über
+die ganze junge Schar gekommen: rauher und härter klangen die Stimmen,
+derber und knapper die Scherze, das Gelächter.
+
+Und von neuem begann die Probe. Teufel! war das schwer, sich in diesem
+niederwuchtenden Gewand, in den kolossal steifen Stulpenstiefeln zu
+bewegen, den mächtigen Pallasch mit dem breit ausladenden Stahlkorb
+nicht zwischen die Beine zu bekommen! Und nun gar die Treppen hinauf,
+hinunter! Da verhedderte sich mancher in den handlangen stählernen
+Sporen, stolperte, krachte zu Boden und mußte schwerfällig, wie eine
+Schildkröte, von den Kameraden aufgerichtet werden.
+
+Und unten auf dem Podium inmitten des Schloßsaales stand Franz Burg und
+hielt sich beide Seiten vor Lachen ... und neben ihm im Halbkreis
+gruppiert: Thekla, Terzky, Illo, Buttler, Max Piccolomini -- und alle
+lachten sie sich schier zu Tode über die stolpernde, prustende,
+schwitzende Kürassiergarde.
+
+Und doch, allmählich klärte sich auch dies neue Chaos. Und endlich sagte
+Franz Burg:
+
+»So, meine Herrschaften, nun fangen wir richtig zu probieren an! Also
+bitte, Kürassiere von der Bühne, die Soloherrschaften an ihre Plätze!«
+
+Und abermals stand die harrende Schar der Eisenreiter im Hintergrunde zu
+Füßen der schmalen Holztreppe versammelt -- und abermals klang's von
+drinnen herrenhaft in grollendem Erzklang:
+
+ »Terzky!«
+ »Mein Fürst!«
+ »Laß unsre Regimenter
+ Sich fertig halten, heut noch aufzubrechen,
+ Denn wir verlassen Pilsen noch vor Abend.«
+
+Und Gruppe auf Gruppe erhielt ihr Stichwort, Gruppe auf Gruppe klirrte
+die Treppe hinauf, strudelte die Galerie entlang, ergoß sich in den Saal
+hinab ...
+
+Als aber Gruppe sechs aus dem Finster der Bühnentiefe die Treppe
+hinanstieg, sah Hans Thumser, daß Pilgram doch noch vorhanden war. Seine
+riesige Gestalt, sein hartes Herrengesicht standen vortrefflich zu der
+blanken Wehr -- aber kein Blick für den einstigen Korpsbruder ...
+
+Was er nur haben mochte? -- Das war doch Kinderei, so offiziell zu tun.
+
+»Also Gruppe sieben!« zischte der Inspizient. »Los! Los!«
+
+Und Hans Thumser keucht die schmalen Stufen empor, stößt wie die
+Kameraden rauhe gurgelnde Töne aus, stutzt droben am Treppenrande,
+stutzt und verstummt ...
+
+Aber nicht nur, weil es so probiert ist ... Im gelben Lichte
+der Proberampe sieht er drunten Jucunda Buchners schmales
+Prinzessinnengesicht ... aber jetzt nicht mehr wie vorhin, von Lachen
+und Schelmerei gerötet -- nein, nun ist sie plötzlich Thekla,
+das verzweifelnde Kind, das Liebe, Glück, Leben versinken sieht in
+den eisenschäumenden Wogen des Schicksals. So abgrundtief, so
+herzdurchbohrend der Ausdruck des Schmerzes auf ihren tränengefurchten
+Wangen -- Hans Thumser kann den Blick nicht lassen von diesem Bild
+adligen Grams ...
+
+Aber die Masse der Kameraden schiebt ihn vorwärts -- und plötzlich fühlt
+er keinen Boden mehr unter seinen Füßen, er strauchelt, schlägt krachend
+nach vorn, alle Glieder knacken -- tausend Feuerräder kreiseln in seinem
+Hirn -- ein lauter Aufschrei übertönt das Knacken und Klirren der
+hundert Eisenringel, die seine Glieder umschlossen halten und im Sturz
+in Schulter und Schienbein sich hineinzwängen -- und dann nichts mehr.
+
+Eine hilflose Masse, so war des Studenten Körper die fünfundzwanzig
+Stufen der Freitreppe hinuntergekollert, anfangs noch ein wenig
+aufgehalten durch die Schienbeine seiner Vordermänner, dann aber, als
+alles instinktiv zur Seite sprang, ganz hemmungslos. Nun lag er bleich,
+mit geschlossenen Augen am Fuß der Treppe. Die Sturmhaube war ihm vom
+Kopf gefallen und in weiten Sprüngen ihm voran in den Saal
+hineingehüpft. Einen Augenblick hatte alles vor Schrecken erstarrt
+gestanden, nun sprangen fünf, sechs der nächststehenden Kürassiere zu
+und richteten den schwerfälligen Körper auf.
+
+Durch den Wall der Geharnischten aber drängte sich Jucunda Buchner
+hindurch. Sie hatte den Jüngling straucheln und vornüber stürzen gesehen
+und in dem Augenblick sein Gesicht erkannt, ohne daß sie gleich wußte,
+woher. Nun kniete sie neben dem aufgerichteten Oberkörper des Studenten
+nieder, umfaßte seine Schultern und legte seinen zerschundenen Kopf
+behutsam auf ihr Knie. Und da schlug Hans Thumser die Augen auf -- und
+in diesem Augenblick wußte Jucunda, wo sie diesen leuchtenden Blick
+schon einmal gesehen hatte -- der junge Poet ... er, neben dessen
+»schwindelschmalem Pfade Abgründe klafften rechts und links« -- nun, in
+einen dieser Abgründe war er nun glücklich hineingeplumpst ... freilich,
+es schien ihm ganz gut bekommen zu sein, denn mit einem zufriedenen
+Lächeln schloß er die erstaunten Augen, reckte sich ganz behaglich und
+machte sich's ordentlich bequem auf dem weichen Kissen, auf das er sich
+gebettet fühlte.
+
+Und nun löste sich der allgemeine Schreck in ein befreites Aufatmen. Da
+schlug der Student die Augen abermals auf, und nun schien ihm das
+Komische seiner Situation bewußt geworden zu sein: mit einem Ruck
+richtete er den Oberkörper auf, sprang auch sofort auf die Beine und
+reckte die Knochen.
+
+»Na? Kein edlerer Teil entzwei?« fragte der dröhnende Baß des
+Szenenleiters. Hans Thumser versuchte sich diejenige Stelle seines
+Körpers zu reiben, welche bei dem Fall am meisten in Mitleidenschaft
+gezogen war, aber das gelang ihm nicht -- sie war zu gut gepanzert ...
+
+Nun brach ein endlos dröhnendes Gelächter aus, dazu rasselten die
+Rüstungen der Pappenheimer, die sich die eisenbewehrten Bäuche hielten.
+Am hellsten aber lachte Jucunda. In einer raschen Wallung trat sie auf
+den jungen Burschen zu und klopfte ihm mit beiden Händen die glühenden
+Backen.
+
+»Dunnerwetter!« tönte da aus den Reihen der Kürassiere eine neiderfüllte
+Stimme. »Ich wär' nächstens ooch mal de Treppe 'nunner purzeln!«
+
+»Na, ich dächte, nach diesem kleinen Zwischenfall probieren wir weiter!«
+rief Burg, »also alles zurück, meine Herrschaften, und noch einmal von
+vorne!«
+
+Hans Thumser war's nun aber doch zumut, als klapperten alle seine
+Knochen einzeln und lose in dem großen Blechtopfe durcheinander, der sie
+einschloß -- und er bat um die Erlaubnis, sie wieder zusammenzusuchen.
+
+Als dies gewährt worden war, trat er vorn an die Proberampe und kam
+neben Jucunda zu stehen. Die lachte ihn an und flüsterte ihm zu:
+
+»Ich habe ja so lange nichts mehr von Ihnen gehört -- warten Sie nach
+der Probe auf mich -- ich möchte wissen, wie es Ihnen inzwischen
+ergangen ist!«
+
+Da wurde es Hans Thumser klar, daß er wieder mal mehr Glück als Verstand
+gehabt hatte ...
+
+Noch eine weitere halbe Stunde voll schwitzenden Bemühens -- dann war's
+geschafft. Und nun harrte der Student am Bühnenpförtchen seiner Göttin.
+Er drückte sich in den dunklen Schatten der Donnermaschine und ließ den
+Schwall der Geharnischten an sich vorüber strudeln. Und endlich kam sie
+-- kam nicht allein, sondern am Arm der majestätischen Kollegin Frau
+Anna Cederlund, welche die Gräfin Terzky spielte. Im ersten Augenblick
+verließ den Studenten der Mut ... Als aber die beiden ragenden
+Frauengestalten an ihm vorüberschritten, ohne ihn zu bemerken, da
+sprach's in ihm: Sei kein Narr! Und er schoß aus seiner Finsternis
+hervor, daß die Frauen ordentlich zusammenschraken.
+
+»Gnädigste haben mich zu sprechen befohlen!«
+
+»Ah, sieh da, Herr Dummerle! Nun? Was macht die Poesie? Gestatten Sie,
+Annerl -- Herr Studiosus Dummerle, dichtet -- hat immer die Nase in der
+Luft und purzelt deswegen mit Vorliebe die Treppen hinunter -- meine
+Kollegin, Frau Cederlund. Ja, also was fang' ich nun mit Ihnen an?
+Wissen Sie was? Sie könnten ja auch mal zu mir zum Tee kommen -- wollen
+Sie?«
+
+»Darf es heute sein?« antwortete Hans Thumser.
+
+»Aber warum denn nicht? Also um fünf -- soll's gelten?«
+
+Hans Thumser konnte sich nur stumm verneigen -- tief, tief auf die
+schlanke Hand, die sich ihm entgegenstreckte -- und dann war's vorbei
+...
+
+Und wie ein Begnadeter stolperte Hans Thumser die hallenden Steintreppen
+zur Rüstkammer hinauf, um sich aus einem Pappenheimer wieder in einen
+Fuchsmajor zu verwandeln. Zwei Minuten aber, nachdem das Eisenpförtchen,
+das vom Bühnenraum zum Garderobenumgang führte, hinter ihm zugeklappt
+war, löste sich aus dem Dunkel der Kulissen noch eine zweite
+Kürassiergestalt los. Die einsame Glühbirne, die am Inspizientenpulte
+brannte, beleuchtete ein finstres, verzerrtes Jungmännergesicht unter
+dem tiefschattenden Doppelschirm der Sturmhaube: es war das Gesicht des
+weiland Ersten der Franconia.
+
+
+
+
+ 11.
+
+
+Asta Thöny war ein wenig eingenickt nach dem bescheidenen Mittagsmahl,
+das Frau Wehe ihr aufgetischt. Nun fuhr sie empor, flog ans Fenster,
+steckte den glühenden Kopf hinaus und klatschte jubelnd in die Hände,
+als sie die ersten Schneeflocken durch das mürrische Grau der
+Sophienstraße wirbeln sah ...
+
+Köstlich! köstlich! Würde das ein fröhliches Streifen werden mit dem
+geliebten Jungen durch dies wattige Weiß hindurch an der graulich
+gurgelnden Pleiße entlang! Sie wußte, wie gut ihr die prachtvolle
+Sealskingarnitur stand, das splendide Andenken ihres Rittmeisters in
+Gera ... Und nun schmückte sie sich nach Herzenslust für den Leipziger
+Freund. Ob er wohl schon daheim war? Sie klopfte an die Wand -- keine
+Antwort. Na, er würde schon nicht auf sich warten lassen, um vier Uhr
+hatte er ja versprochen sie zum Spaziergang abzuholen. -- Aber es wurde
+vier -- und kein Hans Thumser! Na, vielleicht war er schon längst zu
+Hause und lag drüben auf seinem Kanapee in den geliebten
+Nachmittagsschlaf versunken. Sie hatte eine Tüte Pralinees für ihn
+gekauft, sie kannte seine schwache Stelle. Die steckte sie in die
+Jackettasche, hüpfte zur Tür hinaus und pochte an die seine; da keine
+Antwort kam, klinkte sie auf -- und richtig -- da lag er auf dem Sofa,
+lang hingestreckt, in Hemdsärmeln, das blinkende Korpsband über der
+Weste. Auf Zehen schlich sie heran und hielt ihm die duftende Tüte unter
+die Nase. Da schlug er blinzelnd die Augen auf, lachte sie fröhlich an
+und breitete die Arme aus -- mit einem leisen Jauchzen warf sie sich
+hinein.
+
+Nachdem sie sich satt geküßt, richtete sie sich stramm auf und befahl:
+
+»So, nun antreten zum Spaziergang!« (Die militärischen Allüren ihrer
+jüngsten Vergangenheit saßen ihr noch in den Gliedern.)
+
+Aber statt des erwarteten Entzückens trat in Hans Thumsers Züge
+plötzlich eine peinliche Befangenheit, und ein Erröten stieg ihm langsam
+in die Augen.
+
+»Nun, was ist Dir?«
+
+»Liebes Kind, ich bin trostlos ... Spaziergang ist nicht.«
+
+»Was ist das? Was fällt Dir ein!«
+
+»Ja ... ich ... ja ... ich ... es tut mir entsetzlich leid ... aber ...
+wir haben heute nachmittag C. C. ...«
+
+»Das ist abscheulich, Hans! Wie kommt denn das, was ist denn los?! Und
+ich hatte mich doch so gefreut, habe mich so hübsch für Dich gemacht,
+das hast Du Ungeheuer überhaupt noch gar nicht bemerkt!«
+
+»Ob ich das bemerkt habe! ... aber -- es tut mir riesig leid, Du weißt,
+das Korps spaßt nicht.«
+
+Asta sah, daß er ihren Blick vermied -- lügen hatte er noch nicht
+gelernt.
+
+»Du, das mit dem C. C. das ist geschwindelt, da steckt was andres
+dahinter! Beichte!«
+
+»Aber nein ... ganz wahrhaftig, Kind, wir haben C. C., Du kannst Dich
+drauf verlassen.«
+
+»Sieh mich an, Hans --! Siehst Du, Du kannst es nicht --«
+
+»Aber ja ... ich kann's.«
+
+Nein wahrhaftig, er konnte es nicht.
+
+»Also heraus damit! Was ist los?«
+
+Sie stampfte mit den zierlichen Füßen auf, die in mächtigen
+pelzbesetzten Boots steckten.
+
+Hans kämpfte einen Augenblick, dann sah er ihr gerade ins Gesicht mit
+dem Ausdruck eines trotzigen Buben, der sich auf einer Schandtat ertappt
+sieht:
+
+»Die Buchner hat mich zum Tee geladen.«
+
+»Das ist nicht wahr! Das darf nicht wahr sein!«
+
+»Aber warum soll ich denn nicht auch mal zur Buchner zum Tee gehen?«
+
+»Weil Du mir gehörst. Das gibt's nicht. Da wird nichts draus.«
+
+»Ich hab's versprochen.«
+
+»Dann bleibst Du eben einfach weg. Die Buchner weiß ganz genau, daß Du
+mein bist. Es ist eine Niedertracht von ihr -- ich laß mir's nicht von
+Dir gefallen!«
+
+»Und ich laß mir's nicht von Dir gefallen, daß Du über mich verfügst,
+wie über ein Spielzeug.«
+
+»Hans, so darfst Du nicht zu mir sprechen, das weißt Du auch, daß Du
+das nicht darfst! Du hast auch ein böses Gewissen dabei!«
+
+Hans Thumser ging mit drei raschen Schritten ans Fenster und trommelte
+an die Scheiben. Wahrhaftig, sie hatte recht -- es war ihm hundeelend
+zumute -- nichts als Liebes hatte sie ihm getan, weit über Hoffen und
+Träumen hinaus hatte sie ihn glücklich gemacht ... und er -- er hatte
+immer über sie hinweg geträumt von der andern.
+
+»Nun, hast Du Dich besonnen -- kommst Du mit mir?«
+
+»Ich kann's nicht ... ich hab's versprochen.«
+
+»Und mir? -- Wem hast Du's zuerst versprochen, mir oder ihr?«
+
+»Aber Kindchen, das mußt Du doch einsehen ... daß das für mich -- wie
+soll ich sagen -- daß das für mich eine große Sache ist ... schließlich
+ist sie doch ... die Buchner.«
+
+»Ach so -- und ich, ich bin nur die Thöny, die kleine Thöny, und sie die
+große Jucunda! Hansel, das wird Dir noch mal leid tun!«
+
+Laut aufweinend stürzte sie hinaus ... die Schleppe ihres Pelzjacketts
+fegte die Pralineetüte vom Tisch, und alles kollerte in die Stube. Hans
+Thumser mußte aufsammeln. Dabei glühten seine Backen vor Scham. Es war
+wirklich hundsgemein von ihm, das herzliebe Mädel so ruppig zu versetzen
+-- er fühlte, er hatte sie bis ins Tiefste gekränkt. Mit hundert
+Gewalten zog's ihn hinüber, die Tränen von den schönen Augen
+wegzuküssen, die ihm so manche Stunde durchsonnt hatten ... und dann
+fiel sein Blick auf Jucundas Bild, auf das bronzene Heroinenprofil, das
+unterm Helm der Jungfrau so sieghaft leuchtete. -- Und er wußte, daß
+zehn Astas diese Stunde nicht aufwiegen würden, die ihm bevorstand.
+
+Er lauschte -- wieder wie in jener ersten Nacht klang da drüben jenseits
+der Doppeltür und der beiden Kleiderschränke, die sie verbarrikadierten,
+das herzerschütternde Weinen ... aber diesmal nicht verhalten wie damals
+-- nein -- in wilder leidenschaftlicher Empörung. -- Und diese, diese
+Tränen hatte er auf dem Gewissen ...
+
+Und das war so niederträchtig, so infam: daß man im tiefsten Grunde
+seiner Seele sogar noch etwas wie eine Genugtuung empfand über diese
+Tränen, die man selbst verschuldet hatte. War es nicht eigentlich ein
+verdammt stolzes Gefühl, daß man ein Kerl war, um den so heiße
+Mädchentränen fließen konnten?
+
+Hans Thumser warf einen Blick in den Spiegel: also so sieht so ein
+verfluchter Gesell aus, um den ein Mädchen wie Asta Thöny -- Tausende
+würden ihn beneiden um so einen süßen Kameraden! -- um den so ein
+himmelsüßes Geschöpf sich quält?
+
+Und mit einem verwegenen Ruck stülpte er die grüne Franken-Mütze auf den
+braunen Schädel und ging zu Jucunda Buchner.
+
+
+War's nicht eigentlich toll? Hans Thumser war in einer ganz
+niederträchtig vergnügten Stimmung, als er durch das wirbelnde
+Flockengestiebe den Peterssteinweg, die Petersstraße hinanschlenderte.
+Jedem Mädel guckte er verwegen, wie er's nie getan, unters Pelzbarett:
+Ja, wenn ihr wüßtet, ihr Leipziger Gänschen --! Eben hab' ich die Asta
+Thöny geküßt ... die von den Meiningern, ihr wißt doch! Und nun -- nun
+gehe ich zur Buchner ... und wer weiß -- wer weiß! So ein Kerl bin ich,
+verflucht nich noch mal!
+
+Als er den schneebepuderten Marktplatz überquerte und in die
+Katharinenstraße einbog, fiel ihm plötzlich ein, daß er ja nun endlich
+den Weg zu Valentin Pilgrams Wohnung gefunden habe. Der arme Junge! Ob
+der wohl auch schon mal von Jucunda Buchner zum Tee geladen worden war?
+Wohl schwerlich -- und doch, was alles hatte der an dies Mädchen gesetzt
+... und er --? Er hatte nichts getan, und alles fiel ihm in den Schoß.
+Teufel auch -- man war eben ein Poet, ein Götterliebling --! nischt wie
+verdammte Pflicht und Schuldigkeit vom Schicksal!
+
+Ob er den armen Burschen wohl mal aufsuchte? Eigentlich hätte sich's
+gehört ... daß er gekränkt war, lag ja auf der Hand nach seinem Benehmen
+von heut morgen ... aber freilich ... erst zu Pilgram gehen und dann
+sich von ihm verabschieden mit der Erklärung, man sei zu Jucunda Buchner
+zum Tee geladen -- das war doch wahrhaftig mehr eine Kränkung, wie die
+Dinge nun einmal lagen, als die Erfüllung der längst geschuldeten
+Freundschaftspflicht. Also lassen wir's doch lieber ...
+
+Glücklicherweise, im letzten Augenblick, fiel's ihm ein, daß er ja noch
+ohne Blumen war. Er fand eine Gärtnerei, wählte die herrlichsten Rosen,
+die es gab, und erschrak nicht im mindesten, als die Verkäuferin ihm
+fünf Mark abverlangte. Denn diesmal war's ja in der ersten Hälfte des
+Monats und nicht Ultimo, wie damals, als er mit dem gepumpten Markstück
+ein Dahliensträußchen für Asta erstand ... Und so bewaffnet bis an die
+Zähne kletterte er die wohlbekannten Stufen im dunklen Treppenhause
+empor und zog die gellende Klingel an der Korridortür des Kanzleirats
+Buchner.
+
+Eine stattliche Frau öffnete ihm. Er erkannte in ihr sofort Jucundas
+Begleiterin von jenem ersten Triumphzuge wieder. Alle Wetter ja, seine
+Idee von damals hatte Schule gemacht ... das blitzte ihm so durch den
+Kopf, als er seiner Führerin durch den dunklen Korridor folgte, bis sie
+haltmachte und anklopfte.
+
+»Bist Du es, Mutter?« tönte von drinnen die wohlbekannte Stimme ... die
+Stimme, die durch sein Wachen und seine Träume klang. So hatte sein
+junges Herz noch niemals an die Rippen gehämmert ... auch nicht bei
+Beginn des Abiturienten-Examens ... auch nicht vor der ersten Mensur.
+
+»Hier ist der Herr, wo Du zum Tee hast eingeladen!«
+
+»Herein -- nur herein!«
+
+Die Tür sprang auf, und als dunkle Silhouette gegen die schimmernd
+weißen Vorhänge abgehoben, stand Jucunda. Mit ausgestreckten Händen kam
+sie ihm entgegen:
+
+»Wie freue ich mich! -- Die Poesie bei mir zu Gast ... das ist das
+erstemal. Laß uns allein, Mutter.«
+
+Hans warf einen Blick in der Stube umher. Tausend ja, hier sah's anders
+aus als damals bei Asta. Jucunda, das sah er sofort, hatte nicht
+vergessen, daß sie sein Kommen gewünscht -- alles war sorgfältig für
+seinen Empfang vorbereitet, der Tisch zierlich gedeckt und mit Rosen
+bestreut, die Teemaschine dampfte, Zigaretten, Zigarren standen bereit,
+eine gehäufte Schüssel Gebäcks. Und ringsum herrschte Ordnung,
+Sauberkeit, noch mehr: Schönheit ... oder doch wenigstens die deutliche
+Absicht sie hervorzuzaubern ... überall Blumenarrangements und Körbe
+lebender Pflanzen, an den Wänden die welkenden Lorbeerkränze mit
+riesigen langflutenden goldbedruckten, goldbefransten Atlasschleifen.
+Uebers Bett aber war ein hermelinbesetzter Mantel von Purpursamt
+königlich hingebreitet, und ein frischer Strauß tiefdunkelroter Rosen
+lag oben drauf. Alles war abgetönt mit einem naiven Sinn für Eleganz und
+Repräsentation.
+
+Hans Thumser sah nicht, daß die Möbel abgeschabt, die Bezüge
+verschlissen waren, fühlte nicht, daß der Stuhl wackelte, auf den
+er sich setzte, der Tisch, auf dem das Teegeschirr brannte ... auch
+nicht, daß die Tassen gesprungen waren, und hier und da gar ein Henkel
+fehlte ... ihm war zumut, als sei er in einem Königsschloß, in einem
+Märchenpalast. Und wie eine Königin erschien ihm auch Jucunda. Sie
+trug ein lang hinschleppendes Spitzenkleid, das ihm vorkam wie eine
+märchenhafte Kostbarkeit -- er konnte ja nicht beurteilen, daß es
+maschinengewebte Spitzen waren, nur bestimmt auf die Entfernung zu
+wirken -- er war im Bann, im Traum. Und nur die eine Empfindung
+durchdrang ihn mit wohligen Schauern: hier war er erwartet, hier hatte
+man Staat für ihn gemacht, hier wollte man ihn ehren, ihn entzücken.
+
+Er saß ganz still, als Jucundas große, schlanke Hände den Tee
+bereiteten, und sah nichts als das anmutige Spiel der elfenbeinfarbenen
+Arme, die aus den Spitzenärmeln hervorlugten:
+
+»Erinnern Sie sich noch, daß wir schon einmal beim Tee zusammengesessen
+haben?«
+
+»Wie können Sie fragen, gnädigstes Fräulein! Ich habe seitdem von nichts
+geträumt, als daß dies einmal kommen könnte ... dies, was jetzt ist.«
+
+Jucunda stellte den dampfenden Tee vor ihn hin, sah ihn von oben her mit
+ironischem Lächeln an und fragte:
+
+»Und Asta?! Haben Sie die Courage gehabt, ihr zu verraten, daß Sie heute
+bei mir sind?«
+
+»Warum sollte ich nicht? Das ist doch nicht verboten!«
+
+»Nun, und was sagte sie?«
+
+Hans wurde rot. Ob Asta geschwatzt hatte? Ob Jucunda wußte, wie er mit
+ihr stand?
+
+»Sehen Sie wohl,« lachte das Mädchen, »Sie können nicht antworten -- Sie
+haben Schelte bekommen --! Dacht' ich mir's doch.«
+
+»Ich wüßte nicht, daß irgend jemand das Recht hätte mich zu schelten,«
+sagte der Student etwas kleinlaut und trotzig.
+
+»Sagen Sie das nicht!« sagte Jucunda. »Wohltun verpflichtet -- oder ist
+die ... Episode schon zu Ende?«
+
+»Welche Episode?«
+
+»Fragen Sie nicht so dumm!«
+
+Hans Thumser sah sich durchschaut. Aber wenn Jucunda doch wußte, daß
+Asta immerhin doch gewisse ... Ansprüche geltend machen konnte ... warum
+hatte sie ihn geladen, was wollte sie von ihm? Er richtete sich auf:
+
+»Gnädiges Fräulein, ich glaube nicht, daß Sie mich zu sich gebeten
+haben, um mir klar zu machen, daß ich eigentlich wo anders hingehörte.«
+
+»Da haben Sie recht,« lachte die Schauspielerin, »Sie sind nun einmal
+hier, nun seien Sie's auch ganz. Asta ist tot, es lebe Jucunda, nicht
+wahr?«
+
+Sie streckte ihm die Fingerspitzen hin, er neigte sich darüber.
+
+»Nun, blaue Flecke von heute morgen?«
+
+»An allen Gliedern!« gestand Hans. »Na, irgend etwas muß der Mensch doch
+schließlich tun, um eine solche Stunde zu verdienen.«
+
+»O, seien Sie nur ruhig, man wird von Ihnen vielleicht noch mehr
+verlangen!«
+
+»Verlangen Sie.«
+
+»Was macht Ihr Korpsbruder Pilgram?«
+
+»Mein ... früherer Korpsbruder, wollten Sie sagen.«
+
+»Hm ... er tut mir so leid, aber ich habe ihm nicht helfen können, er
+hatte es gar zu eilig, sich in die Bredouille zu stürzen -- also, was
+treibt er? Erzählen Sie!«
+
+»Ja, haben Sie ihn denn heute morgen nicht bemerkt?«
+
+»Wo? doch nicht etwa auch unter den Kürassieren?«
+
+»Gewiß! der Längste und Schönste unter den Pappenheimern.«
+
+»Nein wahrhaftig -- er ist mir nicht aufgefallen! Er hat sich ja auch
+nicht so bemerkbar gemacht wie Sie!«
+
+»Ja, es hat eben nicht jeder den Dusel, über fünfundzwanzig
+Treppenstufen Ihnen geradewegs vor die Füße zu kollern.«
+
+»Wie denkt er denn über mich und -- über die ganze Affäre?«
+
+»Das weiß ich nicht. Ich schäme mich es zu gestehen, aber ich sah ihn
+seitdem nicht mehr -- meine Schuld -- doch was will ich machen? Wenn ich
+nicht Franke bin, so bin ich Meininger, in jeder Stunde, Tag und Nacht.
+Ach, gnädigstes Fräulein, ich habe nie gedacht, daß es so etwas gäbe,
+daß man sich so ganz verlieren, so ganz vergessen kann! Ich lebe wie im
+Fieber -- mir ist, als hätte ich Flügel -- ich möchte tausend Augen,
+tausendfache Sinne haben, um all das festzuhalten, was in mir strudelt
+und braust. Was für Hexenmeister seid Ihr: alles, was ich ahnte, wenn
+ich in meinem Knabenstübchen die großen Dichter las, ist Leben geworden,
+Wirklichkeit, Erfüllung ... Und damit nicht genug, ich selber, ich
+schaue nicht nur, ich selber stehe mitten drin, in all dem Schwall --
+ein Strom von Glück und Sehnsucht braust unter mir und wirbelt mich auf
+und nieder. Wo soll ich hin mit all dem Drang -- wo soll ich hin?!«
+
+Lächelnd hob Jucunda die Hand und streichelte die glühenden Wangen des
+Jünglings, wie sie es heut morgen im Theater getan.
+
+»Sie Dichter!« sagte sie, »Sie Dichter --! Lassen Sie es doch brodeln
+und gären, lassen Sie's doch! Machen Sie Gedichte daraus, schön wie das,
+welches Sie mir damals sprachen ... so schön und schöner noch!«
+
+»Ja,« sagte er, »das will ich tun ... später einmal, später, wenn alles
+das vorüber ist ... denn ich weiß ja, es währt nicht ewig ... acht Tage
+noch, dann zieht Ihr fort ... und ich bin wieder, was ich war -- ein
+armes Studentlein, Franconiae Fuchsmajor, einer von Tausenden -- und um
+mich ist wieder nichts als Bier und klirrende Speere und Drogenwelt und
+die Dutzendgesichter meiner Kommilitonen -- o Gott! wie soll ich das
+ertragen! Ich weiß, ich werde irgendeine Dummheit machen -- ich laufe
+fort, in die weite Welt, dahin, wo Ihr seid -- wo Sie sind, Sie
+wunderbarer Mensch -- Sie Zauberin!«
+
+»Das werden Sie nicht tun!« sagte Jucunda. »Ich weiß, daß Sie das nicht
+tun werden -- ich weiß, Sie werden dann stille Stunden der Besinnung
+haben ... es wird Ihnen werden, wie es denen gewesen ist, deren Verse,
+deren Szenen wir abends sagen und gestalten. Sie werden dichten --
+glauben Sie's mir.«
+
+»Ach, wenn das wahr wäre -- wenn das möglich sein könnte!«
+
+»Es wird so sein,« sagte Jucunda. Ihre Stimme war weich, ihre blauen
+Augen hingen an den braunen des Knaben. Soviel lebendige Dichter
+hatte sie nun schon gesehen in ihrem Leben: was waren das alles für
+reservierte, verbrauchte, zermürbte, grauköpfige Herren gewesen --
+wie hatten sie gezittert hinter den Kulissen, wenn ihre Stücke vom
+Stapel gingen, da draußen -- wie hatten sie ängstlich auf den Applaus
+gelauert, wenn der Vorhang sank, wie hilflos sich hinausziehen lassen
+ins blendende Rampenlicht, um sich linkisch und schweratmend nach dem
+schwarz gähnenden Zuschauerraum hin zu verneigen, wo das Publikum über
+das Schicksal ihrer Schöpfungen entschied! -- Dieser hier war noch ganz
+Poet, er wußte noch nichts von all dem Gräßlichen, das auf ihn wartete
+hinter den grauen Schleiern, die seine Zukunft verhüllten, ihn trennten
+von diesem schauderhaften Leben des angstvollen Ringens um Erfolg,
+um Gold und Lorbeer, in das sie selbst, die Achtzehnjährige, schon so
+tiefe Blicke hineingetan. In ihm sprudelten noch ganz ungetrübt die
+heiligen Quellen der Phantasie, darinnen Sonn' und alle Sterne sich
+spiegelten ...
+
+Einen Augenblick war's ganz still im Zimmer -- der Tee wurde kalt in den
+Tassen, und sein Duft mengte sich mit dem Rosenhauch, mit den blauen
+Wölkchen der Zigaretten, die durch die Stube kräuselten. Von der Straße
+her fiel der erste Laternenschein in die umdunkelte Stube und ließ die
+goldigen Schriften der Kranzschleifen matt aufglimmern. -- Mit langsamen
+Bewegungen stand Jucunda auf, um Licht zu machen.
+
+»Nicht doch,« wehrte Hans -- »nicht Licht machen ... es ist so schön
+so.«
+
+»Aber anders ist es besser!« sagte Jucunda mit leisem Lächeln und
+entzündete die Lampe. Und wieder ließ sie sich in das Sofa fallen und
+neigte den flechtenbeschwerten Kopf auf die Lehne zurück.
+
+Wie seltsam das doch war --! Sie kannte so viel Männer von Geist und
+Rang ... wie kam's, daß ihr heut zumut war wie nie zuvor --? War's die
+Kraft, die ungebrochene, die ihrer selbst noch unbewußte, die sie ahnte
+in den Tiefen dieser empor sich ringenden Seele? War's die edlere Rasse,
+die sie witterte, sie, das Kind einer enggebundenen Welt, einer Welt
+ohne Schwung und Größe? Sie war Künstlerin genug, dies alles zu ahnen,
+was in dem jungen Menschen da vor ihr wirkte und wallte ...
+
+Und Hans fragte sich immer wieder im stillen, ob das denn wahr, ob das
+denn möglich sei ... ob das Leben wirklich so schön sein könne, so
+maßlos reiche Gaben spende ...
+
+Still war's. Von der Katharinenstraße heraus klapperten behäbig
+trottende Pferdehufe, der Schritt der Fußgänger, die von ihrer Arbeit
+heimwärts steuerten.
+
+»Wie gut,« sagte Jucunda, »daß ich heut abend mal ausnahmsweise nicht
+spiele, so gehört uns diese Stunde wenigstens ganz!«
+
+»Und wehe dem, der kommen wollte sie uns zu stören -- Sie wissen das
+alles ja gar nicht -- Sie wissen nicht, was das alles mir bedeutet, was
+Sie mir bedeuten -- ich weiß es selber erst seit wenig Augenblicken. Ich
+denke zurück an zwei Abende meiner Jugend, die der Wendepunkt waren, ich
+fühle es nun. Ihr spieltet daheim, in dem alten engen Stadttheater an
+der Rathausbrücke -- Sie waren eben entdeckt worden, ein märchenhaft
+aufleuchtender Stern -- und ich, ein sehnsüchtiger Primaner droben auf
+dem zweiten Rang im »Wallenstein« -- Sie drunten als Thekla mit der
+Laute in den rotsamtnen Vorhang geschmiegt, weißleuchtend abgehoben von
+dem riesigen Glasfenster, durch das die sternlose Nacht hineingähnte.
+Sie sangen Ihr Lied, Sie wissen's ja -- Sie singen's übermorgen wieder
+-- Und wissen Sie, wie ich Sie empfand? Sie waren die leuchtende Seele
+des gigantischen Gedichts, Sie waren die Schönheit, die versinken muß
+unterm erbarmungslosen Schritte des Schicksals -- Sie waren die Tugend,
+die zermalmt wird von den geifernden Kinnbacken des Verbrechens, Sie
+waren ... das Ideal, das waren Sie ... ach! und Sie sind's mir
+geblieben. Jetzt fühl' ich's, daß Sie immer mit mir gegangen sind in den
+zwei Jahren -- und nun, ist's möglich! Nun sitze ich Ihnen gegenüber,
+könnte Ihre Hand erreichen, wenn ich's wagte, darf in Ihre Augen sehen
+und fühlen: das Geschick meines Lebens ist über meinem Haupt.«
+
+Seine Stimme zitterte -- die braunen Augen leuchteten, der Atem flog.
+
+»Und dennoch --« sagte Jucunda langsam, großäugig -- »und dennoch haben
+Sie Asta Thöny geküßt.«
+
+»Ja, Jucunda, ich habe Asta Thöny geküßt. -- -- Wie soll ich Ihnen das
+erklären -- sie war die erste, die kam, damit ist alles gesagt. Sie hat
+mich genommen, weil alles in mir nach der Erfüllung lechzte, die nur
+Jucunda heißen durfte. Ach! so ist's wohl stets im Leben, daß man sich
+bescheiden muß und dankbar sein, wenn man Kupfer bekommt für Gold. Das
+andere, das ganz große Glück, das gibt's ja nicht, das darf's ja gar
+nicht geben -- denn gäb' es das, wir wären Götter und nicht Menschen ...
+und Götterschicksal erträgt sie ja wohl nicht, diese arme, irdische
+Seele, dieser schwache, tönerne Leib. -- Und doch, ich fühl's: daß ich
+das habe tun können, daß ich, Ihr Bild im Herzen, die andere umarmt
+habe, das hat mich Ihrer unwert gemacht und unwert auch all dessen, was
+ich mir an eigenem Wert und Werden erträumt habe. Ja, Jucunda, ich habe
+Asta Thöny geküßt -- und nun muß ich ja wohl auch gehen, nicht wahr?«
+
+Er war aufgestanden, gesenkten Auges stand er neben ihr. Da griff sie
+nach seiner Hand:
+
+»Du lieber, süßer, dummer Junge, Du ... Hans Thumser, kleiner dummer
+Bub, komm, sei vernünftig, setz' Dich mal her zu mir aufs Sofa. Ja, es
+ist schade, lieber Freund, daß Sie so zu mir kommen -- aus den Armen der
+andern. Aber vielleicht bin ich selber dran schuld ... warum habe ich
+Sie nicht erkannt beim erstenmal, da wir uns sahen? Ich, ich bin in
+Ihrer Schuld, ich war in Wirklichkeit die Dumme ... die Blinde ... Doch
+was tut's, das alles? Ich will, daß es nicht gewesen sein soll -- und es
+ist fort -- ich wisch' es aus, ich streiche den Namen Asta Thöny von der
+Tafel Deines Lebens ... Und nun ist nichts mehr da als ich, nicht, mein
+Hans?!«
+
+»O nichts, nichts als Du --!« stammelte er und sank neben dem Sofa in
+die Knie. Seine glühende Stirn sank in ihren Schoß, ihre weißen Hände
+glitten über seine braunen Locken. -- Da richtete er sich auf, irren
+Auges, die Wangen feucht, und sah sie an, so ganz Inbrunst, Ergebung und
+Verlangen, daß es sie niederzog zu ihm. Sie umschlang seinen Nacken,
+ihre Lippen hingen über den seinen.
+
+In diesem Augenblick wurde heftig an die Tür geklopft. Die beiden jungen
+Menschen fuhren empor -- das war nicht wahr, das durfte nicht sein ...
+aus solchem Traume gibt's kein Erwachen, eh er zu Ende geträumt ist. Und
+doch -- es klopfte abermals.
+
+»Jucunda, darf' ich 'rein kommen?« klang Frau Buchners fette Stimme.
+
+Die beiden Kinder richteten sich auf. Die mühevoll eindressierte
+Haltung, sie versagte nicht in diesem trauervollsten Augenblick. Im Nu
+saß Hans Thumser auf seinem Stuhl, ganz Korpsstudent, ganz korrekter
+junger Gentleman -- und sie, ihm gegenüber, auf dem Sofa, ganz Dame,
+ganz Komödiantin:
+
+»Bitte, Mama ...«
+
+Frau Buchner trat ein, mit einem Lächeln des Triumphs auf den Lippen.
+Ein wenig stutzig sah sie von einem zum andern, doch ihr prüfender
+Mutterblick fand keine Spur, die Besorgnis erregt hätte.
+
+»Nu, Jucunda, was sagste nu?« Mit spitzen Fingern hielt sie eine
+Visitenkarte in den Bereich der Lampe, eine vielzackige Krone darauf und
+darunter die Worte:
+
+Heribert Hans Herwig, Erbprinz von Nassau-Dillingen
+
+»Was?« rief Jucunda, »er ist draußen?«
+
+»Ei, herrjemerschnee! Ne so was -- ne so was ... Natierlich ist er
+draußen -- in höchsteigener Person! Soll ich 'n 'rinlassen?«
+
+Mit einem Blick hatte auch Hans Thumser die Schrift auf der Karte
+entziffert, der zweite flog mit schreckhafter Spannung zu Jucunda
+hinüber.
+
+Und -- sie? Das Gesicht, das ihm eben geleuchtet hatte wie der Genius
+seines Lebens selbst, es hatte den Ausdruck völlig gewandelt: ein dünnes
+Lächeln befriedigter Eitelkeit spielte um die schmalen, herrischen
+Lippen, die Augen flackerten einen Augenblick in unstetem Sinnen, die
+Stirn hatte sich gekraust. Aber schon war der kurze Kampf zu Ende:
+
+»Selbstverständlich, Mama. Sie haben ja wohl nichts dagegen, Herr
+Thumser, wie? Der Herr ist ja doch ein Korpsbruder von Ihnen.«
+
+Mit einem Ruck war Hans Thumser emporgeschnellt:
+
+»Dann verzeihen Sie wohl, wenn ich mich empfehle, mein gnädigstes
+Fräulein -- ich wünsche nicht zu stören.«
+
+»Aber ich bitte Sie, was heißt stören? Wir könnten ja so nett zu dreien
+...«
+
+Starr und förmlich verneigte sich der Student:
+
+»Adieu, meine Damen.«
+
+Er griff nach seiner grünen Mütze, die auf einem Stuhl an der Tür lag,
+dem spanischen Rohr mit Silberbeschlag, das daneben lehnte, und schritt
+hinaus.
+
+Im engen Korridor stand der Erbprinz, in Ueberrock und spiegelnden
+Lackschuhen, den Zylinder in der Hand, die Scherbe im Auge. Sein Gesicht
+wies den Ausdruck blöder Verblüffung. Mit einer kurzen Verneigung
+stürmte Hans Thumser an ihm vorüber und ließ die Korridortür ins Schloß
+fallen.
+
+
+
+
+ 12.
+
+
+Vor ihrem Bett war Asta Thöny in die Knie gesunken und hatte geweint,
+wie nie zuvor in ihrem Leben -- und doch, wieviel Tränen waren schon
+über ihre vergangenen Tage geflossen ... Wie teuer hatte sie die
+flüchtigen Augenblicke des Glücks erkaufen müssen, zwischen denen nichts
+gewesen war als Kampf -- Kampf mit zusammengebissenen Zähnen -- Hunger
+und Verzicht -- Abschied und Sehnsucht ... Und nun war's wieder einmal
+tief, tief dunkel geworden um sie her ...
+
+Sie sprang in die Höhe. Die eingeschlossene Luft in dem engen Stübchen
+preßte ihr die Brust zusammen -- sie riß das Fenster auf: da draußen auf
+der Sophienstraße noch immer das Flockentreiben und all die Fenstersimse
+der schwarzen Häuserzeilen schon weiß überlagert, die Straßen drunten
+wie versunken unter der weißen Last -- die aufgespannten Regenschirme
+bestäubt, die Hutkrempen, die Mäntel schneebepudert. Da hinein, in dies
+wehmütig tolle Treiben hatte sie mit dem Liebsten schwärmen wollen -- da
+hinein zog's sie nun, die glühenden Augen zu kühlen, die schneidende
+Luft in tiefen Atemzügen in die schmerzende Brust zu saugen.
+
+Einen kurzen Blick warf sie in den Spiegel und sah ihre Lider, ihr
+ganzes Gesicht fieberisch gerötet. Sie suchte den dichtesten Schleier,
+den sie hatte, und knüpfte ihn fest ums Gesicht. Dabei fiel ihr Auge auf
+die schönen neuen pelzgefütterten Glacéhandschuhe. Sie waren ganz
+verdorben vom Strom ihrer Tränen ... ach, wie gleichgültig das war.
+
+Nun war sie drunten auf der Straße -- wie dunkel es schon war um diese
+frühe Nachmittagsstunde -- wie sie emporblickte, lag's über den Dächern
+wie eine graue Decke, aus der es unablässig niederrieselte. Im Nu trug
+auch sie die Livree des Winters.
+
+Den wirbelnden Flockenschauern entgegen stapfte sie gen Westen, kreuzte
+die Zeitzer Straße und überschritt auf schmalem Brückchen den Mühlgraben
+... In den Wald hinaus, nur fort von den Menschen, fort aus der Stadt --
+in die Einsamkeit, dahin, wo sie hatte einsam sein wollen mit ihm.
+Nun dehnte sich zur Rechten die endlose Schneefläche der Rennbahn, und
+vor ihr stand der Wald, ein schwarzer Saum, weiß überzackt. Unter
+der Schleußiger Brücke gurgelten gelb und angeschwollen die trägen
+Pleißefluten -- ohn' Unterlaß sanken die leuchtenden Flocken in die
+schmutzigen Gewässer und wurden eingeschluckt -- wie der Schwall des
+Lebens Wesen um Wesen verschluckt. Den schmalen Pfad schlug sie ein, der
+hart am Ufer drüben aufwärts führte zu den graulich aufragenden
+Eichenschäften, dem Gewirr des Ufergestrüpps, dran jedes Zweiglein
+schon seine feuchte weiße Last trug ... Und wirr durcheinander, wie
+die stäubenden Flocken, jagten ihre Gedanken. Gott, wie grenzenlos
+allein sie doch war auf der Welt: Tochter eines kleinen Gerichtsbeamten
+in München, war sie von der strengen katholischen Rechtgläubigkeit und
+engen Spießbürgersittsamkeit ihrer Eltern um jener ersten Liebschaft
+willen, die sie einem schmucken Leutnant von den Chevauxlegers in
+die Arme geweht hatte, aus Haus und Heimat verstoßen worden. Das
+Gräflein hatte brav an ihr gehandelt. Ihre berufliche Ausbildung, ihren
+ersten Schatz an Kostümen verdankte sie seiner Freigebigkeit. Und
+dennoch hatten am Ende der Abschied, die Tränen, die Verlassenheit
+gestanden ...
+
+Und nun: die kleinen Engagements in Nürnberg, in Regensburg, in
+Augsburg. Immer umringt von einer Verehrerrotte, die nichts von ihr
+wollte als immer das gleiche -- das eine -- für die sie niemals eine
+Seele, ein Mensch, eine Künstlerin gewesen war, sondern immer nur eine
+hübsche Schale, ein Spielzeug, ein Zeitvertreib, eine Sklavin ... Und
+endlich das große Glück: ein einziges Mal ein Mensch, der sie ernsthaft
+nahm, Franz Burg, der Meininger Oberregisseur, der sie entdeckte ganz
+hinten im Ensemble eines Mittelstadtbühnchens. Und nun: Engagement,
+kleine Rollen, mittlere Rollen, Erfolg -- Karriere. Karriere? Ach, du
+lieber Gott! Bis zu den Sternen war man nicht gekommen -- immerhin, man
+war geborgen, man konnte sich ausruhen, konnte arbeiten -- stand
+inmitten eines großen, künstlerischen Treibens, brauchte sich nicht mehr
+wegzuwerfen, zu verkaufen.
+
+Aber ach, verdorben war man nun doch einmal, konnte nicht mehr leben
+ohne Küsse, ohne Rosen, ohne Liebesbriefe, ohne Zärtlichkeiten ... Und
+so flog man doch auch jetzt immer noch aus einem Arm in den andern,
+blieb ein Spielzeug -- blieb der rasch vergessene Kamerad flüchtiger
+Taumelstunden ...
+
+Da war der eine gekommen, dies grasgrüne Studentlein, das so ganz, ganz
+anders war als alle die frühern ... Was war's eigentlich gewesen, was
+ihn von ihnen unterschied? Er hatte sie genommen, sie hatte sich ihm
+gegeben, genau wie's immer gewesen war -- nur eines war anders gewesen
+-- ach, sie wußte es wohl, der Klang seiner Rede war's, die schäumende
+Flut von klingenden, schwingenden Worten, in denen seine Zärtlichkeit,
+sein Rausch sich ausströmte über sie hin -- ach nein -- auch noch ein
+andres. All die andern, die sie gekannt hatte, waren erfahrene,
+abgebrühte, blasierte Burschen gewesen -- diesem einen, sie wußte es,
+hatte sie das erste Glück des Lebens gebracht. Sie hatte träumen dürfen,
+ihm etwas zu sein, etwas, das nicht verfliegen könnte mit dem Rausch der
+flüchtigen Erfüllungsstunden ... Und nun, nun war auch das ein Trug, ein
+Wahn gewesen ...
+
+Tief gesenkten Hauptes schritt das einsame Mädchen fürbaß. Und wie ein
+fernes Brausen klang weit, weit hinten das Treiben der großen Stadt,
+gedämpft durch die rastlos niedersinkenden Flockenmassen. Und in der
+Nähe schien jeder Schall des Lebens erstorben -- nur der eigne Schritt
+knirschte leise im lockren Teppich, der die Welt überzog. Und zur Linken
+glucksten die gelben Wasser. Unter der nassen Last lösten sich die
+letzten gelben Blätter von den Wipfeln und sanken schwer und matt wie
+dunkle Schattengebilde inmitten des weißen Geriesels nieder, lagen ein
+paar Sekunden als schwarze Flecken auf dem leuchtenden Grund und wurden
+dann schnell verschüttet und begraben ... Und Asta sann in die Zukunft
+-- was hatte sie noch zu hoffen? Zu den höchsten Höhen der Kunst,
+dorthin, wo die strahlende Rivalin stand, ach, dorthin würde sie sich
+niemals emporschwingen. Nur die Niederungen waren ihr bestimmt, die
+wenigen Jahre, bis Jugend und Anmut verweht sein würden -- und was dann?
+-- Und was inzwischen? -- Immer nur Neid und Enttäuschungen ... Ab und
+an, wenn einmal eine neue Rolle neue Hoffnung brachte, ein verzweifeltes
+Emporraffen, ein neues zähneknirschendes Einsetzen der ganzen Kraft --
+dem, ach, doch immer wieder das Versagen, das Ermatten, die Erkenntnis
+der Begrenztheit des eigenen Wesens und Könnens folgen müßten, wie noch
+stets bisher.
+
+Und wo war dann Trost als in neuen Umarmungen, in neuen Tändeleien, ohne
+Glauben, ohne Hoffnung, ohne Sinn?
+
+Nein, wenn sie nicht einmal diesen einen dauernd hatte fesseln können,
+wenn selbst dieser eine, in dessen Leben sie am Anfang der Liebe
+gestanden, wenn sie nicht einmal ihn länger hatte binden können denn auf
+ein paar Wochen, dann war sie doch wohl gar nichts wert. Nicht einmal
+als Liebchen, nicht einmal als Weibchen! Und das nun immer und immer
+wieder erleben müssen, hatte das einen Zweck? -- Ließ sich das ertragen?
+
+Und doch, etwas in ihr bäumte sich auf gegen diese Verneinung ihres
+ganzen Daseins. War sie denn wirklich so ein Nichts, so ein Püppchen
+ohne Existenzberechtigung, ohne Lebenswert? Ach nein ... nur den
+falschen Weg war sie gegangen -- nein -- nicht gegangen: gestoßen war
+sie worden von dem aberwitzigen Schicksal. Damals, als sie sich von dem
+blinkenden Rock, der gleißenden Grafenkrone ihres ersten Galans hatte
+blenden lassen, als sie ihren einzigen Besitz, ihr Mädchentum, einem
+eitlen, egoistischen Jungen hingeworfen hatte, ohne zu denken, ohne zu
+fragen wohin, wozu -- damals war sie aus dem Gleise geworfen worden ...
+Irgendwo in der Welt lebte doch gewiß ein braver, schlichter Mensch
+ihres eigenen Standes, des Standes, in dem alle ihre Instinkte
+wurzelten, dem hätte sie in Bescheidenheit und Treue Gesellin und
+Helferin werden müssen. Das wäre dann ein Leben gewesen, für das ihre
+Kräfte gereicht hätten, in das sie Sonne, Glücksgenügen hätte zaubern
+können für ein ganzes Erdendasein. -- Nun hieß sie eine Künstlerin, ohne
+ein Künstlermensch zu sein ... Nun sollte sie gestalten, ohne in sich
+die Fülle der Gesichte zu tragen ... Sollte die Schöpfungen von
+Dichtern verkörpern, ohne selbst ein Stück Dichterin zu sein ...
+
+Die Dämmerung kam. Immer schauriger ängstete die Stille um sie her, und
+lichtlos wie die nebelverhangene Waldeinsamkeit ringsum lagen Zukunft
+und Leben. Eine grenzenlose Müdigkeit kam über das verlassene Kind --
+eine Sehnsucht nach Schlaf ohn' Erwachen. Und in der lastenden Stille,
+in die sie sich hineingesogen fühlte, war nun ein Laut nur noch: das
+einlullende Rieseln und Rauschen der gelben Gewässer neben ihrem Pfad,
+die so erbarmungslos die weißen Flocken einschluckten in ihren
+gurgelnden Schwall. Ach! wer auch so eine weiße Flocke wäre, so rasch
+und völlig versinken, zergehen könnte ...
+
+Aber schreckhafte Gesichte drängen sich vor -- wie schauervoll müßte das
+Ende sein, wären diese Flocken nicht fühllos, wären sie nicht der Flut
+wesensgleich, die sie verschlang? Du aber, Asta, du bist ein junges,
+heißes Menschenkind, du wirst nicht leicht und sanft dich auflösen und
+verschmelzen mit den Gewässern, die meerwärts rollen da unten. Du wirst
+dich quälen müssen, alles in dir wird im letzten verzweifelten Ansturm
+noch einmal nach dem Leben in Glanz und Licht verlangen, dem du verwandt
+bist, in dem du dich umgetrieben, zwar oft in Tränen und Verzweiflung,
+doch bisweilen auch in Schauern von Seligkeit ...
+
+Und dennoch, eine Stille wird kommen nach der kurzen Qual -- eine lange,
+tiefe, wunschlose Stille.
+
+Und noch ein Gedanke kam, der Furcht und Grauen schuf: Asta war in
+römischer Frömmigkeit erzogen, der Kinderglaube war nie ganz versiegt in
+ihrer unbewehrten Seele. Wenn's nun wahr wäre, was man sie gelehrt
+hatte von ewiger Verdammnis, von einem Wiedererwachen zu unnennbarer,
+unendlicher Qual? Ach nein, das war doch wohl nur Märchen und
+Kinderschreck -- ach nein -- wenn erst die Glut hier drinnen verloschen
+war, wenn die Glieder, die so heiß gefiebert hatten im Ueberschwang der
+Daseinswonne -- wenn sie erst so kalt und leblos geworden waren wie
+drunten die strömende Flut, dann war's aus und vorbei, dann kam nichts
+mehr -- kein Glück mehr und kein Schrecknis.
+
+Da stieg aus den falben Nebeln, die mählich den Fluß überlagerten, ein
+niedres Gebäude empor, eine hölzerne Wirtschaftsbaracke, grau
+gestrichen, hart bis an die Strömung des Flüßchens herangeschoben, mit
+einer Galerie, die über das Ufer vorsprang. »Zum Wassergott« lautete die
+Inschrift auf dem getünchten Wirtshausschild. Im Sommer mochte hier zur
+Abendstunde muntres Treiben herrschen, friedliche Philisterbehaglichkeit
+-- nun lag das kleine Anwesen kläglich verödet, ganz versunken in
+trostloses Schweigen.
+
+Asta trat ans Geländer und sah, wie die gelbe Flut in quirlenden
+Strudeln um die schneeverwehte Treppe rauschte, an der sonst das
+Fährboot anlegen mochte. Und nun zu denken, daß man morgen so gefunden
+würde, weit, weit unten irgendwo, entstellt, zerzaust, aufgedunsen -- --
+Aber ... das ging einen ja dann nichts mehr an, das fühlte man ja doch
+nimmer. Dann mochte die Welt laufen, wie sie wollte. Dann mochte der
+kleine Hans Thumser vor Jucunda Buchner auf den Knien rutschen und um
+die Gunst betteln, die Asta ihm, ach, allzu wohlfeil, allzu willfährig
+gewährt. Dann mochten sie Komödie spielen, solange es ihnen noch Spaß
+machte, sich abzuquälen für die undankbare Bande im dunkeln Parkett --
+ach! und wie dankbar war man doch gewesen, wenn die mal ein bißchen
+mitgegangen waren, wenn man ab und an sich hatte vorlügen dürfen, man
+sei auch wer, man habe auch die Kraft in sich, die da hinten zu packen
+und durch und durch zu rütteln, wie die paar es konnten, die paar
+Echten, die paar Großen ... Ja, spielt nur, spielt nur Komödie -- auf
+den Brettern und im Leben. Lügt Euch Gefühle vor und laßt Euch welche
+vorlügen, glaubt daran oder tut doch wenigstens so, als glaubtet Ihr.
+Denn auch Du hast ja gelogen, kleiner Hans Thumser, als Du unter Küssen
+und Tränen mir schwurst, ich habe Dir das Glück geschenkt. Ich weiß es
+ja nun, Du hast in meinen Armen immer nur an die andre gedacht. Ob Du's
+bei ihr finden wirst, das Glück, das sogenannte Glück? Ob Du es
+überhaupt jemals finden wirst im Leben? Ich will Dir's gönnen, kleiner
+Hans, denn ich habe Dich sehr lieb gehabt -- ich will Dir's gönnen,
+kleiner Hans -- ich aber -- ich tu nicht mehr mit, ich habe genug ...
+
+Einen spähenden Blick noch warf Asta in die Runde. Es war nun fast ganz
+dunkel geworden und nichts ringsum, als das sachte Sinken der weißen
+Kristalle, hinter denen die schwarzen Stämme ragten, finster und stumm.
+-- Ob es wohl lange dauern würde? Ob es sie noch einmal emportragen
+würde an die Oberfläche? Hoffentlich würden die nassen Kleider sie rasch
+in die Tiefe ziehen. Es war nicht schade drum, sie hatte sich für einen
+Fußmarsch im Schnee zurecht gemacht. Das bissel Flitter, was daheim
+herumlag, dafür würde sich schon irgendeine Verwendung finden: nur das
+schöne Sealskinjackett und das Barett und der Muff dazu, das war doch zu
+schade für die Pleiße! Irgendein Armes mochte das hier finden und es
+verkaufen und sich einen guten Tag dafür machen ... Sie zog die
+kostbaren Hüllen ab und legte sie sorgfältig zusammengefaltet unter das
+weitvorspringende Holzdach der Wirtschaftsveranda, wo sie einigermaßen
+vor dem Schnee geschützt waren. Nun schauerte sie fröstelnd zusammen im
+Nebelhauch der Waldtiefe. Gott -- und daß nun niemand, niemand morgen
+weinen wird, wenn sie's hören, wenn's in der Zeitung steht, wenn zum
+letzten Mal von Asta Thöny was in der Zeitung steht -- ach, allzu viel
+Schönes hat nie dringestanden über Asta Thöny -- und keiner wird weinen,
+nicht ein einziger von all den vielen, vielen, die mich geküßt und mir
+von Liebe geschwatzt haben, nicht einer. Auch Du nicht, Hans Thumser,
+ach, auch Du nicht ...
+
+Und sachte wie die weißen Flocken in die träge ziehenden Fluten
+niederglitten, so sachte ließ Asta Thöny sich niedergleiten von der
+schneeverwehten Treppe an der Holzveranda des Restaurants »Zum
+Wassergott« ...
+
+
+Valentin Pilgram war nachmittags gegen halb vier von dem Repetitor nach
+Hause gekommen, um sich in das gewohnte, besinnungslose Arbeiten
+hineinzustürzen, mit dem er nun schon seit Wochen sich zu betäuben
+gewohnt war.
+
+Als er durch den dunklen Korridor schritt, kam die Frau Kanzleirätin aus
+der Küche mit einem Brett voll Teegeschirr und ging zu Jucundas Stube
+hinüber. Verlegen erwiderte sie seinen Gruß; wie die Tochter, so wich
+auch die Mutter dem Zimmerherrn aus, wo irgend möglich, seit jenem
+verhängnisvollen Morgen ...
+
+Als sich die Tür zu der Stube der Schauspielerin öffnete, sah Valentin
+Pilgram mit einem Blick, daß dort Vorbereitungen für den Empfang eines
+Besuches getroffen wurden: festlich gedeckt glänzte der Tisch,
+sorgfältig waren die Blumenspenden der letzten Abende arrangiert, kurz,
+alles verriet ein nahes Fest.
+
+Wer mochte erwartet werden? Ein paar Kolleginnen oder Kollegen ... oder?
+-- Valentin wußte, daß der Erbprinz keine Vorstellung versäumte, in der
+Jucunda auftrat, er hatte bei jeder Premiere unter den Riesenschleifen
+der Lorbeerkränze die Farben von Nassau-Dillingen erkannt. Also zum
+mindesten war Seine Durchlaucht nicht mehr in der Ungnade ...
+
+Merkwürdig: der gewohnte Arbeitsfriede wollte heute nicht kommen. Immer
+lauschte der Kandidat auf Stimmen da drüben, in der ingrimmigen,
+quälenden Hoffnung, sie möchten recht behalten, jene ekelhaften
+Vermutungen, die sich immer deutlicher in ihm emporreckten: der
+Erwartete möchte der Erbprinz sein ...
+
+Und endlich schlug die Glocke im Hausflur an. Valentin Pilgram fuhr in
+die Höhe, schlich zur Tür und lauschte. Dabei überkam ihn brennende
+Scham: was war aus ihm geworden, daß er das Tun und Treiben anderer
+Menschen zu beschnüffeln und zu bespitzeln gelernt hatte? Das war doch
+früher nie gewesen ...
+
+Und horch -- die Stimme eines jungen Mannes ... aber das näselnde,
+gequetschte Organ des Prinzen war's nicht, es war eine frische,
+klangvolle Stimme ... es war ... Hans Thumsers Stimme ... Ach -- also
+der!
+
+Er hörte ganz genau, wie Mutter Kanzleirätin den Besuch zur Stube der
+Tochter führte, wie sie anklopfte, wie des Mädchens volltöniger Alt das
+Herein ertönen ließ, wie sie lebhaft und freudig den Besucher begrüßte,
+wie jener verbindlich und bewegt erwiderte.
+
+Das Blut stieg dem Lauscher ins Hirn, in die Augen -- die Gedanken
+quirlten einander überstürzend empor und machten ihn schwindeln. Also er
+--! Wundervoll! wundervoll! Wie das alles sich zusammenfand, wie die
+vagen Vermutungen, die greulichen Phantasien der letzten Wochen sich nun
+zu festen, zweifelsbaren Schlüssen zusammenfügten! Nun freilich -- nun
+war's ja klar, wie der Frankenzirkel und Hans Thumsers Initialen auf
+jenen Bogen geraten waren, der Jucundas Absagebrief trug! Man hatte es
+verstanden, ihn beiseite zu schieben -- hatte seine schnelle
+Ritterschaft lächerlich zu machen gewußt, um seine eigenen Chancen zu
+verbessern! Freilich, daß man mit einer solchen Gemeinheit auf dem
+Gewissen den Mut nicht gefunden hatte, den Hintergangenen, den an die
+Wand Gedrückten in seiner Einsamkeit zu besuchen -- kein Wunder
+schließlich! Und auch heute hatte man den Weg zur Tür des einstigen
+Korpsbruders nicht gefunden, obwohl man unter einem Dache mit ihm war!
+Also so etwas gab's -- so viel Infamie barg sich hinter der zur Schau
+getragenen Besonderheit, der phantastischen Eigenart des
+Reimedrechslers! -- -- Na warte, Bursche!
+
+Valentin Pilgram hatte kein Talent zum Lauscher an der Wand. Er schlich
+an seinen Schreibtisch zurück, vergrub den Kopf in den Händen und wühlte
+sich in das krause System des römischen Erbrechts hinein. Aber die
+Buchstaben hüpften vor seinen Augen, die Sätze verwirrten sich, führten
+sinnlose Tänze auf, und etwas Unwiderstehliches zog ihm immer wieder die
+geballten Fäuste von den Ohren ... Da drüben klapperten die Tassen,
+plätscherte munteres Gespräch ... kein Satz zu verstehen, höchstens
+einmal ein einzelnes Wort. Nun ein erregtes Lachen, nun Schritte durchs
+Zimmer, nun in raschem Wechsel Geplauder, ein Hinüber und Herüber von
+Scherz und Neckerei jetzt und nun von Rede, deren Sinn man nicht
+verstand, deren Klang aber deutlich genug von wachsender
+Vertraulichkeit, von innigem Austausch redete ... Ja freilich, der wußte
+besser, wie man mit Frauen, mit Künstlerinnen reden muß, um Eindruck zu
+machen!
+
+Valentins Gedanken verwirrten sich. Es war ihm nun, als müsse Hans
+Thumser das alles mit diabolischem Raffinement ausgeheckt haben, was
+sich vollzogen hatte. Gewiß war er schon längst hinter Jucunda her --
+war er's nicht gewesen, der die Idee mit dem Pferdeausspannen ausgeheckt
+-- und war er nicht an jenem Abend als des Erbprinzen Gast an seiner
+Seite im Theater gewesen? Gewiß hatte er auch in Erfahrung gebracht, mit
+welch geschmackloser Zudringlichkeit der Erbprinz und der Major sich bei
+Jucunda einführen wollten, und hatte schon damals sein Plänchen
+geschmiedet ... Alle Wut und Qual der letzten Wochen knäuelte sich
+zusammen zu einem einzigen, alles verdrängenden Gefühle der Empörung,
+des Ingrimms, der Rachelust ... ihn, diesen glatten Lächler, diesen
+geschmeidigen Buben, stellen ... züchtigen!
+
+Aber nein -- das war nicht länger zu ertragen, dieser Zusammenklang der
+zwei Stimmen da drüben, der gehaßten und der ach ... in tausend
+Schmerzen geliebten! War er denn verdammt, all jenes Glückes Ohrenzeuge
+zu sein, das er für sich selbst nur in fernen Träumen zu ersehnen gewagt
+hatte? Und das dem Buben da drüben in den Schoß fiel. Nein, das nicht,
+das doch nicht! Fort, hinaus, in das Schneegetriebe da draußen, weg aus
+diesem dumpfen Zimmer, dessen Luft bis zum Ersticken angefüllt war mit
+vergangener und gegenwärtiger Gedankenqual!
+
+Valentin Pilgram stand auf. Er warf seinen Winterpaletot um, stülpte den
+weichen, zerknüllten Filzhut auf den unfrisierten Kopf, nicht achtend,
+daß beide Kleidungsstücke seit Tagen nicht gebürstet, von dickem Staub
+umlagert waren. Er, der sonst so peinlich gestriegelte Korpsstudent,
+hatte seit Wochen sein Aeußeres schlimmer vernachlässigt als der
+armseligste Prolet unter den Kommilitonen ... Er griff nach dem wüsten
+Knotenstock, den er sich für fünfzig Pfennig in irgend einem Kram
+gekauft, seit er das silberbeschlagene spanische Rohr mit der Dedikation
+seines Leibburschen nicht mehr führen durfte ... und nun hinaus -- nur
+hinaus!
+
+In der kurzen Stunde, seit der Jungschnee sich eingestellt, waren
+Bürgersteig und Straße mit fußhohen Schneemassen überschüttet. Mühsam
+bahnten sich die Fußgänger ihren Weg, trübselig stapften die
+Droschkengäule daher, wie schwarze Silhouetten schoben Menschen, Tiere,
+Gefährte einander vorüber, die ersten Laternen äugelten mit trübem
+Blinzeln durch den Flockennebel, der ohn' Unterlaß herniederwogte. Von
+weißen Kanten eingesäumt, reckten sich die finstern Fronten der alten
+Barockpaläste zu beiden Seiten der engen Straße. Jedes Geräusch war
+eingesogen von den weichen Polstern des Grundes, den stiebenden
+Flockenmassen, welche die Luft verhängten.
+
+Der junge Gesell, der mit aufgeschlagenem Rockkragen, die Hände in den
+Manteltaschen vergraben, verloren und ziellos durch die Straßen
+pendelte, hielt es nicht aus inmitten des lautlosen Lebens, das sich
+schattenhaft an ihm vorbeidrängte. An der Thomaskirche vorüber, deren
+schwarzer Giebel sich droben in dem weißen Dunst verlor, pendelte er auf
+den Ring hinaus, wo die Zweige der Baumreihen, des Gebüschs unter der
+Wucht ihrer weißen Last sich bogen und knackten. Zur Linken stieg das
+finster dräuende Massiv der Pleißenburg in die silbernen Schwaden, das
+Rund des Turmes hob sich als riesiger Schattenriß von den Lichtfluten um
+den Roßplatz und Königsplatz ab. Und nun der winterstille, menschenleere
+Johannispark! Hier ließ sich aufatmen, hier wurde die Brust freier. Hier
+klärte sich das Gedankenchaos ...
+
+Ja, es mußte gehandelt werden. Die ganze Fülle der verhängnisvollen
+Ereignisse, die Valentin Pilgram aus seines Lebens sicher
+vorgezeichneter Bahn so jählings hinausgeschleudert in ein uferloses
+Nichts, das alles drängte zu einer entladenden, entlastenden Tat. Und
+diesmal würde seinem Vorsatz Erfüllung werden -- diesmal würde er nicht
+wie Don Quichotte gegen die Windmühlenflügel anrennen, um alsbald
+entsattelt an der Erde zu zappeln, ein Spott der Welt ... Diesmal würde
+er den waffengeübten Arm zum sicher treffenden Schlag zu brauchen
+wissen, mitten in des Feindes Fratze!
+
+Des Feindes! -- es gab ja nur den einen! In ihm schien dies aberwitzige
+Schicksal der letzten Wochen Gestalt angenommen zu haben -- in jenem
+jungen Burschen, der sich jetzt gewiß von Jucundas Lippen den Dank holte
+für eine ganze Kette von Niederträchtigkeiten und Bübereien. Ihn
+züchtigen -- ja das war's! Das forderte die Stunde!
+
+Und dann? Was kam dann?! Dann würde man sich gegenüberstehen, Aug'
+in Auge, den Lauf der Waffe auf des Feindes Herz gerichtet ... das war
+dann das Gottesgericht ... Dann würde sich's zeigen, wer von ihnen
+beiden weichen müsse von dieser Welt, die nicht Raum mehr hatte für sie
+beide ...
+
+Und ... dann?!
+
+Hans Thumser sollte fallen. Er wollte es. All die eiserne Willenskraft,
+die bis zu dieser Stunde sein junges Leben vorwärts getrieben, er würde
+sie in das kleine Stückchen Blei hineinlegen, das des Feindes Herz
+finden sollte. Das war dann die Sühne, das war die Wiederherstellung
+der heiligen Weltordnung, welche von den Gesetzen der Ehre regiert wird,
+der Ehre, deren Ritter er gewesen war, und die jener andere mit Füßen
+getreten hatte ... jener andere, der heut noch das dreifarbene Band
+um die Brust trug, das er, der Getreue, eingebüßt hatte dank jenem
+sinnlosen Schicksal, dem er unterlegen war bis heut. Aber dies
+stumpfsinnige, brutale Schicksal, es sollte nicht Meister bleiben
+in der Welt, solange er noch Kraft hatte, den Hahn einer Pistole
+abzudrücken ...
+
+Und dann?! Er wußte den Gesetzesparagraphen zu nennen, dem er dann
+verfallen war; die Höhe der Strafe, welche seiner wartete. Das war ja
+wiederum der groteske Unsinn dieser Zeit, daß die Gesetze des Staates
+das Recht der Selbsthilfe dem Manne versagten, der am Heiligsten seines
+Lebens gekränkt war: an seiner Ehre ... Dieselben Gesetze, die den
+Beleidiger der Ehre mit Strafen von kindischer Winzigkeit bedrohten ...
+
+Immerhin -- lieber zwei Jahre lang als Gefangener auf dem Königstein,
+lieber das, was liberale Zeitungsschmierer einen Duellmord nannten,
+lieber das alles, als dieses zermürbende Gefühl der Ohnmacht, der
+Wehrlosigkeit gegen menschliche Infamie und den Aberwitz des Fatums!
+
+Schon war des einsamen Wanderers Hutkrempe von einem dichten Schneekranz
+umlagert. Nasse Schauer sprühten ihm um die glühenden Wangen, eisige
+Tropfen rieselten ihm über Hals und Nacken. Er achtete es nicht. Den
+Kopf tief in den Schultern vergraben, stolperte er fürbaß. Schon lag der
+Park hinter ihm, mechanisch verfolgte er den nächsten Pfad, der hart am
+Saume des rechten Pleißeufers zwischen den reckenhaften Schäften der
+hochstämmigen Eichen und dem dürren Gestrüpp der Erlen entlang führte.
+Als sein Blick zufällig die gelben Fluten der gurgelnden Pleiße
+streifte, stieg mitten in sein finsteres Brüten hinein ein lachendes
+Bild heiterer Jugendlust:
+
+Die S. C.-Kahnfahrt nach Connewitz, welche die Leipziger Korps in jedem
+Sommersemester gemeinsam unternommen hatten ...
+
+Wann war doch das gewesen? Vor einer Ewigkeit ... in einem andern,
+versunkenen Leben ... Damals hatte die Welt in tausend Farben
+geleuchtet, hatten bunte Mützen und grellfarbige Bänder geblinkt, heiter
+abgehoben vom dunklen Grün der Ufersäume, vom Blau des klaren Himmels,
+das sich in den freundlichen Wellen des Flusses spiegelte ... Flüchtig,
+wie es herangeweht, zerstob das Bild, und wieder war nichts als der
+schneestarrende Wald und drunten die blaugraue Flut und ringsum
+Dämmerung und lastende Einsamkeit. Nur drüben, am jenseitigen Ufer, wohl
+zwanzig Schritte vor Pilgram, ging noch ein anderer einsamer Mensch,
+ein schwarzer, formloser Schatten, vorüberhuschend vor dem silbernen
+Reif, der den ganzen Wald, der alle Welt überflitterte.
+
+Und wieder tauchte Valentin Pilgram tief in den schaurigen Abgrund
+seiner Grübeleien.
+
+Wie, wenn es nun anders kam? Wenn das Gottesgericht gegen ihn entschied?
+Nun dann war eben alles aus -- und er brauchte doch wenigstens nicht
+mehr zu leben auf einer Welt ohne Sinn ...
+
+Aber -- die daheim --?! Die Eltern, deren Stolz er war, er wußte das ...
+Der eifrige Vater, der in rastloser Arbeit zu einer der obersten
+Stellungen in der Königlich sächsischen Rechtspflege emporgestiegen war
+und in den zwanzig Jahren rüstiger Arbeit, die noch vor ihm liegen
+sollten, noch höher zu steigen hoffte? Er, in seiner starren
+Rechtlichkeit, seiner tadellosen Korrektheit der Art des Sohnes so innig
+verwandt? Nie hatten Vater und Sohn voreinander Worte zu machen
+gebraucht von dem, was sie beide längst wußten: daß sie Menschen einer
+Rasse, eines Wesens waren, würdige Glieder einer uralten Familie
+hochangesehener Gelehrten, Geistlichen, Beamten, die stets eine Zierde
+der Stadt, des Staates gewesen waren ... und die gute Mutter, ein
+Mensch, so recht zur Ergänzung dieses Schlages geschaffen, ohne starke
+Persönlichkeit, voll tiefsten Respekts gegenüber dem Gatten und dem
+Sohne, denen sie sich allzeit als freudige und nützliche Dienerin
+untergeordnet hatte, entsprechend den Traditionen der ehrbaren
+Geschlechter, aus denen auch sie entsprossen war, und die allzeit
+aufrechte Säulen der Ordnung und Tüchtigkeit gewesen waren. Die
+Schwestern, von der Mutter nach ihrem Vorbilde erzogen zu braven
+Gattinnen für diese ehrenfeste Art Männer, wie das Vaterland sie immer
+gebraucht hatte und, will's Gott, immer brauchen würde ... und nun --
+ein Sohn im Duell gefallen ... in einem Duell, in dem eine Rolle, eine
+wenn auch noch so entfernte Rolle immerhin ... eine Schauspielerin ...
+gespielt hatte? War das nicht wider den Stil der Familie? wider alle
+Gewohnheit ihrer Daseinsführung?
+
+Nein, das war es nicht. Untadelig war, was immer er getan, seit Jucunda
+Buchners Bild emporgetaucht war in seinem jungen Leben, das nichts als
+Ehre gewesen war. Untadelig ... Und so würde er's vor jenem ernsten
+Gange für die Lieben daheim aufzeichnen, würde für jeden seiner Schritte
+die Motive, die Handlungen angeben, die Zeugen benennen. Und so würden
+die Seinen des Gefallenen mit tiefer und reiner Trauer ohne Groll und
+ohne Scham gedenken können, ja mit Stolz als eines Menschen, der auch
+diesem absurden Spiel dämonischer Mächte gegenüber geblieben, was er
+stets gewesen: ein Mensch ihrer Art ...
+
+In diesem Augenblick trieb ein Windstoß dem einsamen Wanderer einen
+heftigeren Guß prickelnden Schnees ins Gesicht und scheuchte ihn aus
+seiner Versunkenheit auf. Es war fast völlig finster geworden, und
+Valentin Pilgram entschloß sich zur Stadt zurückzukehren. Seine
+Entschlüsse waren gefaßt, klar vor ihm lag der Weg, den seine Pflicht
+ihn gehen hieß. Zu was noch länger ziellos durch die Einsamkeit
+streifen? Daheim waren die Bücher ... und in wenig Tagen würde das
+Examen beginnen ... und Ruhe würde ja nun auch geworden sein daheim.
+Heut abend waren wieder die »Piccolomini« -- Jucunda würde schon im
+Theater sein ...
+
+Schon war Valentin Pilgram im Begriff kehrtzumachen, da fiel sein Blick
+zum jenseitigen Ufer, und er sah im letzten Dämmerschein etwas
+Unbegreifliches:
+
+Kaum noch in matten Umrissen erkennbar, lag drüben die Sommerwirtschaft
+»Zum Wassergott«. Dort hatte er nach manchem Spaziergange mit
+Korpsbrüdern die Hitze des Marsches an einer Gose gekühlt und dem
+munteren Treiben der sonntäglichen Kähne auf dem Flusse zugeschaut. Und
+seitlich, an der Treppe, wo die Fähre anzulegen pflegte, stand ein
+Mensch, eine Frau. Auch sie nur ein grauer Schatten vor dem Dunkel, das
+unter der Galerie lastete. Und dieser Mensch tat nun etwas ganz
+Sonderbares: dieses Weib legte seine Kopfbedeckung ab -- es schien eine
+Pelzmütze zu sein -- und zog das Jackett aus, schob beides
+zusammengefaltet nach hinten in das Dunkel und stieg nun die Treppe
+hinunter bis dicht ans Wasser. Und nun -- -- in jähem Schrei entlud sich
+Valentins Entsetzen!
+
+Schon in der nächsten Sekunde aber reagierte ganz automatisch sein
+Instinkt auf das grauenhafte Schauspiel, das sich bot. Mit einem Ruck
+riß er die Knöpfe seines Paletots und seines Rockes auf, schleuderte
+beide Kleidungsstücke mit einer jähen Bewegung in den Schnee und war mit
+einem Satz am Ufersaum, mit einem zweiten schoß er in die gelbe Flut
+hinaus. -- Die markerschütternde Kälte des Wassers lähmte eine Sekunde
+lang seine Glieder wie sein Hirn, im nächsten Augenblick aber durchschoß
+ihn ein siedender Feuerstrom. Jeder Nerv, jeder Muskel spannte sich an
+wider das eisige Grauen -- Arme und Beine strafften sich, mit heftigen,
+ruckartigen Stößen setzte er sich zur Wehr gegen die zähe Umklammerung
+des kalten Elements, in dem er trieb. Er schwamm, er wußte sein Ziel.
+Ueber der fernen Stadt lag ein roter Schwaden, dessen Widerschein sich
+in den träge hingleitenden Fluten spiegelte. In diesem matten
+Perlmutterglast glitt eine dunkle Masse, auf die schwamm er zu. Wenig
+Stöße, dann war's getan. Er griff in ein nasses Bündel Kleider hinein,
+fühlte warme Menschenglieder, umspannte eine schlanke Gestalt. Kaum
+spürte der wehrlose Körper die fremde Berührung, da zuckte er in
+aufbäumendem Entsetzen zusammen, krümmte sich, warf sich hin und her in
+den Eisstrudeln, welche die hintreibenden Leiber umquirlten. Doch nicht
+umsonst hatte der Student seine Muskeln in der harten Zucht des
+Fechtbodens gestählt und ihre Kraft in mehr denn zwanzig Waffengängen
+erprobt. Mit eisernem Griff umschlang er das zarte Figürchen, rang die
+strampelnden Arme nieder und lenkte mit heftigen Beinstößen dem nahen
+Ufer zu. Die nassen Kleider legten sich wie stählerne Klammern um seine
+Beine, der Druck der Schuhe machte die Füße schwer und hilflos, doch mit
+wildem Ungestüm zwang der Wille jedes Hemmnis nieder, den Frost, den
+Verzweiflungskampf der zuckenden Glieder, die er mit seinen Armen
+umschloß. Nach wenigen Sekunden fühlten die Füße Grund, Schlammgrund,
+doch er hielt. Nun packten beide Arme mit unwiderstehlichem Griff das
+leichte Körperchen um Hüften und Knie -- noch ein kurzes, heftiges
+Ringen, dann griff die Linke einen tiefniederhängenden Weidenast, die
+Rechte schleifte die zappelnde Last durch die gurgelnden Wellen. Nun
+spannten beide Arme noch einmal sich an und hoben mit hartem Ruck den
+gefangenen Leib in die knackenden Büsche der Uferböschung hinein. Nun
+klang ein wimmerndes Stöhnen, nun keuchten klagende Laute wie eines
+kranken Kindes Stimme:
+
+»Lassen Sie mich doch ... o bitte ... bitte, lassen Sie mich doch los!«
+
+»Ne -- gibt's nich!« keuchte der Student. Mit letzter versagender Kraft
+würgte er sich selber durch die schneeüberstäubten Zweige des
+Ufergestrüpps hindurch, zog den Körper der Geretteten vollends hinauf
+und ließ ihn in den lockeren Schnee gleiten, weil die ausgepumpten
+Muskeln nichts mehr hergaben. Schwarze Finsternis ringsum -- nichts
+hörte Valentin, als das raschelnde Keuchen der eigenen Lungen, das
+ratternde Hämmern des eigenen Herzschlages und dazu aus der
+geheimnisvollen Dunkelheit zu seinen Füßen das wimmernde Schluchzen
+einer Mädchenstimme -- immer nur dies wimmernde Schluchzen, dies
+hilflose Greinen.
+
+»Lassen Sie mich doch los ... o bitte, bitte ... lassen Sie mich doch!«
+
+»Ne,« keuchte Valentin Pilgram, »das können Sie nun wirklich nich ...
+von mir ... verlangen, Verehrteste ... ich hab' mich dermaßen für Sie
+... abgeschunden ... jetzt lass' ich Sie nich wieder ... in die nasse
+Sauce da!«
+
+Mit der Ueberwindung der Gefahr war ein grimmiger Humor über ihn
+gekommen. Er richtete sich auf, reckte die stählernen Glieder, schlug
+ein paar mal die Arme über der Brust mit kräftigem Ruck zusammen, um
+sich gegen die Frostschauer zu wehren, die sich in seine Haut einfraßen.
+Dann bückte er sich zu der Geretteten, bekam das schlanke Figürchen um
+die Taille zu fassen und setzte es mit einem energischen Hub auf die
+Beine.
+
+»So, nun bleiben Sie gefälligst stehen ... aber nein, kommen Sie mit
+mir, wir rennen zum »Wassergott« zurück ... das macht warm ... Sie
+haben ja da meines Wissens Ihre Oberkleider gelassen, die holen wir ...«
+
+Dabei versuchte er die Dunkelheit zu durchdringen, um etwas von den
+Zügen der Gesellin dieser seltsamen Begebenheit zu erkennen. Umsonst --
+nur etwas Nasses, Zitterndes hielt er in seinen Armen, dessen Wärme
+langsam die eisige Nässe der Hüllen durchdrang, die um ihre Glieder
+schlotterten. Die zarte Gestalt wollte wieder in die Knie sinken, aber
+er raffte sie empor, zog sie herzhaft an seine Seite und zwang sie, in
+raschem Schritt durch den lockeren Schnee mit ihm den Fußpfad
+pleißeaufwärts zu verfolgen.
+
+Dabei redete er ohn' Unterlaß auf das junge Menschenkind ein, das
+wankend und noch immer leise wimmernd an seiner Seite schritt.
+
+»Nun sagen Sie bloß, meine Gnädigste, wie sind Sie auf die verrückte
+Idee gekommen, bei so schauderhaftem Wetter Schwimmversuche in der
+Pleiße zu machen? -- Dabei können Sie sich ja einen Schnupfen holen, den
+Sie in diesem Leben nicht mehr los werden. Denken Sie bloß, wenn ich
+nicht zufällig des Weges gekommen wäre ... Und noch dazu in Kleidern,
+das bringt ja nicht einmal ein Mann fertig, geschweige denn so ein
+kleines zartes Mädel wie Sie. -- Oder sind Sie gar eine junge Frau? Dann
+sagen Sie's mir, damit ich Sie richtig anrede ... kommen Sie, wir müssen
+schneller laufen ... damit wir warm werden, Sie zittern ja
+gottserbärmlich. Schade, daß der »Wassergott« zugemacht hat, ich wäre
+kolossal für einen Grog oder auch deren mehrere, Sie nicht auch?«
+
+So schwatzte er drauf los, allerhand banales Zeug, was ihm gerade in den
+Kopf kam, und nahm mit Befriedigung wahr, daß das Wimmern schwächer und
+schwächer ward und schließlich ganz verstummte.
+
+Und dann kam eine wilde Lust an dem unerwarteten Abenteuer über ihn, das
+in seine verzweifelte Stimmung hineingeplatzt war wie ein Weckruf zu
+neuem Leben ... Und immer brennender wurde in ihm die Neugierde, die
+Züge der Unbekannten zu sehen, in deren Schicksal er hatte eingreifen
+dürfen wie vom Himmel gefallen.
+
+Als die beiden einen Augenblick verpusteten, griff er in seine
+Hosentasche und zog die Zündholzschachtel hervor, sie war ganz trocken.
+Die wenigen Sekunden, die er in dem nassen Element zugebracht, hatten
+nicht genügt, um seine Kleidung gänzlich zu durchfeuchten. Da ließ er
+ein Hölzchen aufflammen und sah mit jähem Entzücken, welchen holdseligen
+Fang er gemacht. Dabei weckte ihm das triefende, glühende Gesicht, von
+langen dunklen Haarsträhnen überhangen, unbestimmte Erinnerungen ...
+
+Aber eine Scheu verbot ihm zu fragen ...
+
+Und das Flämmchen verlosch, das angstvolle Gesicht, die hilflos
+blickenden Augen versanken wieder in der Finsternis. Nein, jetzt nicht
+fragen -- wie wund mußte diese arme flüchtige Seele sein ...
+
+Da war der »Wassergott«. Valentin stapfte in die schneeverwehte Galerie
+hinein, aber die Gerettete ließ er dabei nicht los.
+
+»Ne, ne, kommen Sie ruhig mit, Gnädigste, ich habe Angst, Sie möchten zu
+viel Geschmack an Ihren Schwimmkünsten gefunden haben ... und ob ich Sie
+zum zweiten Male da herausbrächte? Ich weiß wirklich nicht.«
+
+In der Finsternis fand er die weichen, duftigen Pelzhüllen, ahnte voll
+Respekt, daß es sich um Kostbarkeiten handeln müsse, und hüllte seine
+Gefangene sorglich hinein. Sie wehrte sich nicht ...
+
+Und nun der Heimweg. Durch das schneebepuderte Gitterwerk des dürren
+Waldes am jenseitigen Ufer leuchtete der Widerschein der fernen Stadt,
+der einen gelblichen Lichtbogen wie eine matte Aureole in die
+niederwallenden Schneenebel hineinzeichnete. Perlmutterfarben
+widerleuchtete sein Schein auf den friedlich meerwärts gleitenden
+Pleißefluten.
+
+Das junge Blut, vom raschen Gang, von der fiebernden Erregung der Herzen
+aufgepeitscht, besiegte mählich die Frostschauer, die von den nassen
+Kleidern her die Glieder überrieselten. Und mit einem geheimnisvollen
+Gefühl brüderlichen Stolzes hielt der Student das zarte Figürchen
+umschlungen, preßte es an sich, wie um ihm abzugeben von der Siedeglut,
+die ihn durchpulste.
+
+Noch immer schwieg sie, und wie ein Wasserfall redete Valentin auf sie
+ein:
+
+»Das hätt' ich mir weiß Gott auch nicht träumen lassen, daß ich meinen
+Spaziergang in so angenehmer Gesellschaft beenden würde. -- Und Sie?
+Finden Sie es nicht doch viel netter, zu zweit hier im Schnee zu waten,
+als einsam da unten in der dreckigen Pleiße zu paddeln? -- Sehen Sie
+mal, wie hübsch sich drüben das Gezweige von dem roten Himmel abhebt! Da
+kann man's wahrhaftig sehen, wie helle die Leipziger sind -- sogar der
+ganze Himmel ist hell über dem guten alten Biernest ... Aber nu sagen
+Sie doch auch mal was, Fräulein! oder haben Sie Ihre Stimme da unten im
+Wasser gelassen? Das wäre doch schade. Ich denke mir, Sie müssen sehr
+niedlich plaudern können ... Soll ich Sie vielleicht noch einmal
+erleuchten und mich auch, damit Sie sehen, daß Sie es mit einem ganz
+ordentlichen Kerl zu tun haben? Sie haben doch am Ende nicht gar Angst
+vor mir?«
+
+Und horch!
+
+Da klang's auf einmal aus der Dunkelheit neben seiner Schulter, leise
+wie ein Taubengirren:
+
+»Angst ... ach nein -- wie könnte ich Angst vor Ihnen haben, Sie sind ja
+so gut zu mir --«
+
+»Hurra! sie kann wieder reden!« jauchzte der Bursch. »Herrlich!
+herrlich! Und nun -- nun sagen Sie mir's mal gleich, wohin ich Sie
+bringen darf? Denn nach so einer Strapaze gehören kleine Mädchen ins
+Bett ... Auch ein Glühwein könnte nicht schaden. Also -- wohin soll's
+gehen? Heraus damit!«
+
+Leise nannte das Mädchen seine Adresse. Unwillkürlich schmiegte sie sich
+fester in den führenden, schützenden Arm. Ihr war, als sei ihr noch nie
+so wohl gewesen, so geborgen wie in diesem Augenblick. Das Dasein, das
+ihr vor einer Viertelstunde noch schal und wertlos erschienen war, nun
+glomm es wieder auf in ihr voll Sehnsucht nach neuem Erleben, voll
+Dankbarkeit, noch da zu sein, die eigene Wärme siegen zu fühlen über die
+eisige Nässe, der sie sich anvertraut -- das ferne Leuchten zu sehen
+über der Stadt, wo die Menschen hausten, wo das Leben brandete, wo man
+Komödie spielte -- aß und trank, lachte und küßte ... Gott, welch ein
+Wahn, welch eine Raserei war doch nur über sie gekommen und hatte sie da
+hinuntergetrieben --?
+
+Ach leben -- nur leben. Besser, sich prügeln lassen vom Schicksal,
+besser, sich auf und ab wirbeln lassen zwischen Glückseligkeit und
+Tränen, Tränen und Glückseligkeit, als dies kalte Nichts da unten.
+
+»Ich danke Ihnen,« stammelte sie. »Ich danke Ihnen!«
+
+Und lustig schwatzend von den gleichgültigsten, törichtsten Dingen, als
+seien sie zwei alte Bekannte, die sich beim Spaziergang begegnet,
+stapften die zwei Menschen fürbaß durch den knietiefen Schnee.
+
+»Haben Sie warme Backen?« fragte der Student. »Au! Teufel ja, die
+brennen ja wie ein Oefchen -- und die Hände? Ziehen Sie doch die nassen
+Handschuhe aus, das gibt ja Rheumatismus -- richtig, die sind wie zwei
+Eiszapfen. Da weiß ich Rat, wir werden uns schneeballen. Los! Greifen
+Sie zu, ich laufe voraus. Daß Sie mir aber nicht wieder auskneifen und
+in die Pleiße spazieren!«
+
+Nein -- Asta hatte keine Sehnsucht mehr nach der Pleiße. Sie bückte
+sich, griff mit den erstarrten Händen in die lockere Masse, die alles
+überlagerte -- und klatsch, da flog ein raschgeformter Ball dem riesigen
+Begleiter vor die Brust, daß es nur so knallte ... Und lachend, rennend,
+prustend, wie zwei Kinder, tollten die zwei den Weg entlang.
+
+Schon schatteten die dunklen Fronten der Vorstadthäuser in das silberne
+Flockengeflitter hinein. Nun galt's sittsam und verständig nebeneinander
+durch die Straßen zu schreiten, in denen nur wenige schneebepuderte
+Gestalten unter weißbezuckerten Regenschirmen hastig und lautlos ihren
+Behausungen zustrebten.
+
+Als aber der erste Laternenschein dem wandelnden Paar die Gestalt des
+Partners zeigte, schrie das Mädchen plötzlich auf:
+
+»Um Gottes willen, Sie sind ja in Hemdärmeln! Sie werden sich den Tod
+holen!«
+
+»Ach! keine Spur!« lachte der Student. »Ich glühe nur so! vorwärts, nur
+vorwärts!«
+
+Jeder Vorüberwandelnde stutzte, als er das seltsame Schauspiel sah, daß
+ein junger Mann barhäuptig und hemdärmelig neben einer elegant bepelzten
+Dame herschritt.
+
+Rasch war Valentin des Anstarrens, des Stehenbleibens satt. Auf der
+Zeitzer Straße rief er eine Droschke an, deren schneebepackter Gaul
+mühselig und dampfend dahin keuchte. Und nun war nach wenigen Minuten
+die Sophienstraße erreicht, die Hausnummer, die das Mädchen angegeben.
+
+Es kostete Mühe, in den nassen Kleidern die Treppe hinan zu kommen, den
+Korridorschlüssel zu finden.
+
+Mit Ueberraschung bemerkte der Student, daß es die wohlbekannte Wohnung
+war, in der Mutter Ach schaltete, sie, die ganze Generationen von
+Franken beherbergt hatte. Sie, bei der jetzt jener andere wohnte, dem
+Valentin Pilgram in ingrimmiger Einsamkeit eine fürchterliche Vergeltung
+geschworen ...
+
+Starr vor Entsetzen stand die behäbige Witwe, als im matten Schein des
+Flurlämpchens ihre Mieterin vor ihr stand:
+
+»Ei, herrjemerschnee! ne so was -- ne so was ... Was hab'ns denn nur
+gemacht, Freilein? ... Und wer is denn das? -- Weeß Knebbchen, das is
+Sie ja der Herr Pilgram! Herr Pilgram, is es meeglich?! Nu komm' Se doch
+bloß mal in die Stube 'nein -- ich wer' gleich Feier machen -- und Tee
+wer' ich 'n kochen, i nee so was, nee so was.«
+
+Bei dem Namen Pilgram hatte das Mädchen gestutzt. Höher noch flammte ihr
+glühendes Gesicht. Stumm klinkte sie ihre Stubentür auf und huschte
+hinein. Die Tür ließ sie offen in dem dunklen Gefühl, daß ihr Retter
+einen Anspruch auf die behagliche Wärme habe, die ihr von drinnen
+entgegenschlug.
+
+Doch der folgte ihr nicht -- starr hingen seine Augen an dem weißen
+Kärtchen, das an der Stubentür befestigt war.
+
+»=Das= -- sind Sie?« fragte er mit zusammengebissenen Zähnen.
+
+»Ja, das bin ich -- kommen Sie doch herein -- wärmen Sie sich.«
+
+Zögernden Schrittes trat der Student näher. In scheuem Staunen musterten
+sich die beiden jungen Menschen, das Hirn von wirren Gedanken
+durchkreuzt ...
+
+Frau Wehe hastete herein, rannte geschäftig zum Feuer, um frische Kohlen
+aufzuschütten.
+
+»Nu sagen Se bloß, Herr Pilgram, was haben Se denn angefangen alle zwei?
+Wer looft denn bloß in so en' Wetter hemdärmlig 'rum und mit bloßem
+Koppe?! Und naß wie de Katzen seid 'r alle zwee! Da soll wer anders
+draus klug wer'n!«
+
+»Das Fräulein ist spazierengegangen an der Pleiße, hat im Dunkeln den
+Weg verfehlt, ist ins Wasser gefallen, ich habe sie herausgezogen,«
+erklärte Pilgram hastig.
+
+»Gott soll mich bewahr'n!« schrie Frau Wehe. »Nu aber mal schnell ins
+Bett mit dem Kind! -- Und Sie, Herr Pilgram, Sie gehen nebenan zum Herrn
+Thumser und nehm' sich Wäsche und Kleider, versteh'n Se mich?! Am besten
+wär's schon, Sie legten sich einfach da nebenan ins Bette! Herr Thumser
+wird schon nich beese sinn! Und dann koch' ich Euch Tee oder Grog, 'ne
+paar Wärmepullen unter de Decke, ich wer' schon machen!«
+
+»Nein!« schrie da Asta Thöny. »Herr Thumser, nein -- das geht nicht --
+der darf nichts davon wissen ... der auf keinen Fall!«
+
+»Ach Quatsch!« rief die stämmige Wirtin. »Ihr holt Euch ja den Tod alle
+zwee, da gibt's nischt zu reden -- machen Se fort, Herr Pilgram, in's
+Bette mit Ihn' --!«
+
+Mit angstvollen, flehenden Blicken hingen des Mädchens Augen an den
+erstarrten Zügen ihres Retters, seiner finster zusammengekrausten Stirn.
+-- Sie schwieg, sie wußte, daß sie nicht länger bitten durfte, wo es um
+seine Gesundheit ging, vielleicht um sein Leben ...
+
+Heiser fragte da Valentin Pilgram:
+
+»Thumser? Warum darf der nicht wissen --? Kennen Sie Thumser?«
+
+Tief senkte das Mädchen den Kopf, stand regungslos, schauerte plötzlich
+in Frösten zusammen. Auch der Student schwieg. In wirrem Grübeln, in
+finstrem Forschen gingen seine dunklen Blicke zwischen dem zitternden
+Mädchen, der hilflos, verständnislos dreinglotzenden Frau hin und wider.
+
+»Kennen Sie Hans Thumser, gnädiges Fräulein?« fragte er noch einmal,
+hart und befehlend. Ein Verdacht reckte sich dräuend in ihm auf. So
+phantastisch, so aberwitzig, daß der Verstand sich sträubte, ihn zu
+formulieren ...
+
+Asta antwortete nicht. Sie sank immer tiefer in sich zusammen. Und
+plötzlich knickte sie in die Knie, ihre Arme fielen auf einen Stuhlsitz,
+das Köpfchen mit den triefenden, zerzausten Flechten glitt in die
+silbernen Falten des Pelzwerks, das sich um ihre Glieder schmiegte, und
+ein jähes Schluchzen durchrüttelte die hingeworfene Gestalt.
+
+Valentin Pilgram begriff ... Das fehlte noch, das war das letzte ... Und
+die ganze, kochende sinnverwirrende Wut, die den Nachmittag über sein
+Inneres verwüstet, schlug in roter Lohe aus den Tiefen seines Wesens
+empor, stieg ihm in die Augen, in die Stirn, in die Fäuste. --
+
+»Der Hund --! Ah, der Hund!« knirschte er. »Sorgen Sie mir gut für das
+Fräulein, Frau Wehe! Adieu!«
+
+Er stürzte hinaus. Die Stubentür, die Korridortür krachten hinter ihm
+ins Schloß.
+
+Asta Thöny war emporgefahren. Blitzschnell schloß sich die
+Gedankenkette: Also der da, ihr Retter, das war Valentin Pilgram -- er,
+den sie kannte aus Hansens Erzählungen, von dem sie wußte, wie er in
+jähem Zorn sich zur Sühne für eine Schmach gedrängt, die ihrer großen
+Kollegin widerfahren ... Und nun, nun stürmte er von hinnen,
+unvollkommen bekleidet wie er war, schäumend vor Wut, wie sie ihn mit
+einem letzten Blick gesehen. Und sein letztes Wort war eine gräßliche
+Drohung für Hans Thumser gewesen. Für ihn, von dem er nicht einmal in
+dieser Not trockene Kleider hatte annehmen wollen.
+
+Das bedeutete Gefahr -- Todesgefahr für den geliebten, den treulosen
+Jungen --!
+
+Todesgefahr --! Noch meinte sie den stählernen Druck des Armes zu
+fühlen, der sie aus dem kalten Flutengraus gerissen, der sie so sicher
+und brüderlich heimgeleitet.
+
+Wehe dem, der diesem Arm verfiel.
+
+Nein, nein ... das nicht, das nicht! Um diesen Preis gerettet zu sein,
+nein, das nicht ... o Gott, das nicht --!
+
+»I herrjemerschnee, Fräulein Thöny, was hat er denn nur, der Herr
+Pilgram, was hat er nur?« stammelte Frau Wehe.
+
+»Still, still!« winkte Asta ab. »Lassen Sie mich einen Augenblick.« Und
+hastig sann sie, wo Hans Thumser nur stecken könne in diesem Augenblick
+...
+
+Ach so -- Mittwoch -- offizielle Kneipe ... Ach, sie kannte den
+Wochenkalender des Korps in- und auswendig. Also im Cafébaum, auf der
+Frankenkneipe ... Und da ... da würde ja auch der Rächer ihn suchen ...
+nein -- das nicht ... o Gott, das nicht --
+
+Und mit einem Ruck stülpte sie das Barett wieder auf, klappte den Kragen
+des Pelzjacketts in die Höhe, und triefend und schlotternd, wie sie war,
+rannte sie an der verblüfften Wirtin vorüber, flog die halbdunkle Stiege
+hinunter, stand auf der Sophienstraße ...
+
+Drüben fluteten dichte Menschenströme, vom Glast der Laternen des
+Carolatheaters überstrahlt, vom Flockengestiebe silbern umflittert, in
+die dunkel gähnenden Pforten des Kassenflurs hinein.
+
+Gott sei Dank, »Piccolomini« --! Asta war dienstfrei. In die erste
+Droschke, die drinnen ihre Fracht abgeladen hatte und aus der dunklen
+Ausfahrt herausrumpelte, sprang Asta hinein, rief im Einsteigen dem
+Kutscher zu:
+
+»Kleine Fleischergasse, Cafébaum, so schnell das Pferd laufen kann --
+einen Taler Trinkgeld sollen Sie haben, wenn's rasch geht!«
+
+Der Wagenschlag klappte, der Kutscher schlug die Peitsche dem Gaul um
+die dampfenden Flanken, und durch die dunklen, schneeverwehten Straßen
+schwerfällig von dannen rollte das Gefährt.
+
+
+
+
+ 13.
+
+
+Auf der Sophienstraße geriet Valentin Pilgram in den Schwall der
+Theaterbesucher hinein, der zum Carolatheater drängte.
+
+Ach so -- ha, ha! natürlich, da spielte man ja Komödie, heut' wie alle
+Abende!
+
+Und Jucunda Buchner natürlich wieder der Stern des Abends, der Zielpunkt
+aller Blicke, die Sehnsucht aller Herzen! Ja gewiß: wie er sich durch
+die Menge schob, auf allen Lippen das leise, andächtig hingesprochene:
+Die Buchner ... die Buchner ...
+
+Der lange Gesell, der im tollen Schneetreiben hemdärmelig und barhaupt
+sich durch die Menge zwängte, machte alles stutzen, alle Hälse sich
+wenden.
+
+»Nanu, was hat denn der? Das is wohl ä Verrickter am Ende! Schutzmann!
+he, Schutzmann! Nähmen Se'n doch feste, den Langen da!«
+
+Nein -- so ging's nicht weiter. Er erwischte eine Droschke, warf sich
+hinein, befahl Katharinenstraße zweiundzwanzig. Er konnte ja auch
+unmöglich so auf Korpskneipe erscheinen, sie hätten ihn da wohl auch für
+wahnsinnig gehalten -- hätten sein Rächeramt, seine heilige Mission, die
+beleidigte Ehre des grün-gold-roten Bandes wiederherzustellen, für einen
+Ausfluß des Aberwitzes genommen. Und dann: es schüttelte ihn. Fieberglut
+und Frostschauer tobten abwechselnd durch seine Reckenglieder.
+
+Herrgott! Dieser alte Klepper wollte gar nicht vom Fleck.
+
+Und doch -- es wurde geschafft. Er flog die Treppe hinauf, langte
+keuchend oben an. Als er den Schlüssel suchte, taumelte er -- das
+Fieber verwirrte sein Hirn. Kaum gelang es ihm, den Schlüssel
+einzustecken -- so leise er konnte, drehte er um, schlich sich auf
+Zehenspitzen durch den dunklen Flur, machte drinnen Licht -- erschrak,
+als er sein fahles Gesicht im Spiegel sah mit den stieren Augen, den
+rotfleckigen Wangen.
+
+Einerlei -- nur fort, nur es zu Ende bringen!
+
+Er riß die triefenden, dunstigen Kleider vom Leibe, die schweißnasse
+Wäsche, zog sich vom Kopf bis zu Füßen frisch an, schauerte zusammen in
+der Siedeglut, die ihn durchrann. Er fühlte sich plötzlich müde zum
+Sterben -- das aufgeschlagene Bett zog ihn magnetisch an. War's nicht
+das beste, da hineinzukriechen, die Decke über die Ohren zu ziehen und
+unterzusinken in bleiernes Vergessen ...?
+
+Aber nein -- das ging ja nicht. Die Mission! die Mission ... Abrechnung
+mußte gehalten werden. -- Sauber mußte die Welt wieder werden ... Der
+Schandfleck mußte weg ... Und mit fliegenden Händen kleidete er sich an.
+Taumelte abermals, als er die Stiefel anziehen wollte, biß die Zähne
+zusammen, bezwang die todgleiche Erschlaffung.
+
+Als er vor dem Spiegel die Halsbinde zu schlingen versuchte, versagten
+die Hände. Da knüpfte er nur die Enden in einen wüsten Knoten, stülpte
+statt des Hutes, der draußen an der Pleiße geblieben, eine
+schwarzseidene Mensurmütze auf, hing statt des Winterpaletots, den er
+ebenfalls im Schnee gelassen, einen dünnen Sommerhavelock um ... und nun
+fort -- fort ...
+
+Er warf einen Blick auf die Uhr -- dreiviertel neun, gerade recht. Die
+offizielle Kneipe mußte eben begonnen haben, und bis zur Kleinen
+Fleischergasse waren's ja nur zwei Minuten.
+
+Halt! Einen Stock brauchte man noch, man konnte nicht wissen ...
+
+Nun, so mochte es schon das silbern beschlagene spanische Rohr sein, die
+Dedikation seines Leibburschen. Daß er kein Recht mehr hatte, dieses
+Stück zu führen, das mit dem Zirkel Franconias geschmückt war, was
+verschlug's in dieser Stunde --?! Es war eben doch ... ein Stock ...
+
+
+Noch einer war an diesem Nachmittage bis tief in den endlosen
+Novemberabend hinein draußen im Schnee umhergeirrt: Hans Thumser.
+
+Als er aus Jucundas Zimmer gestürzt, an dem verblüfften Erbprinzen
+vorüber, da war es auch ihm unmöglich gewesen, es auszuhalten zwischen
+den hastenden Menschen, den keuchenden, dampfenden Droschkengäulen, in
+den engen, finstern Straßen, unter den blinzelnden Laternen.
+
+Er war ins Rosental geraten und stundenlang durch die schweigende
+Einsamkeit des schneeverwehten Parks geirrt.
+
+Ha! ha! Also so lief die Karre! Freilich, freilich! Wenn Fürstengnade
+winkte, was galten da ein paar armselige Studentlein ...? Denen spielte
+man eine nette kleine Komödie vor: Hilflose, beleidigte,
+schutzbedürftige Unschuld dem einen, glühendes Verständnis, tiefinnige
+Seelenharmonie dem andern ... Und dann -- dann ließ man einfach im
+rechten Augenblick den Vorhang fallen, und ein neues Stück fing an.
+
+Komödie -- Komödie -- jedes Wort, jeder Blick, nichts als Reminiszenzen
+aus abgespielten Stücken, nichts als der Nachhall erlogenen,
+erheuchelten Gefühls ... Komödie ... Komödie ... Komödie --!
+
+War das nicht Strafe? War dieser Abfall, diese Blamage, die fressende
+Scham -- da drinnen -- war das alles nicht verdient?! Hatte nicht auch
+er selber leichtherzig den Vorhang fallen lassen über einem lieblichen
+Spiel voll erster Seligkeit, voll flammender Glut und reizender
+Tändelei, das die vergangenen Wochen seinem jungen Leben beschert
+hatten?
+
+War er besser als jene Jucunda? Er, der danklos und roh die Gesellin so
+köstlicher Entzückungen beiseite geschoben, um diesem gleißenden Phantom
+nachzujagen, das heute vor seinen entsetzen Augen die Larve hatte fallen
+lassen?
+
+Asta! Asta! Dich hatte ich. Du hast dich mir geschenkt ... und ich ließ
+dich los und rannte einem Irrwisch nach ...
+
+Ja, Hans Thumser ging streng mit sich ins Gericht. Er kam sich so klein
+vor, so dummejungenhaft, so unwert alles dessen, was die vergangenen
+Wochen ihm in den Schoß geworfen. Eine jähe Sehnsucht kam über ihn, sich
+in Astas Arme zu flüchten, die Stirn an ihre Knie zu drücken und um
+Verzeihung zu betteln.
+
+Und doch -- Knabentrotz und Knabenscham jagten ihn immer tiefer in die
+Schneewildnis hinein. Jetzt vor Asta hintreten und bitten: vergiß --?!
+
+Sie würde sogleich begreifen, daß er -- nun, daß er eben ... abgefallen
+war bei Jucunda. Und würde sie dann nicht triumphieren, sich bedanken
+für das Vergnügen, ihn über seinen Abfall trösten zu sollen?
+
+Nein -- das ging nicht. Das mußte man allein hinunterwürgen. Ha ha!
+Gab's nicht ein Mittel, die Qual dieser Beschämung, dieser
+fürchterlichen Blamage abzukürzen? Wozu war man denn Student --
+Korpsstudent -- Fuchsmajor?! Und wozu heut abend offizielle Kneipe?
+
+Ganz recht: besaufen werden wir uns! einen Eimer Bier in uns
+hineinpumpen, bis wir mitsamt der ganzen Corona der Füchse unterm Tisch
+liegen und den Himmel für 'nen Dudelsack ansehen. Hol' der Teufel die
+Weiber --!
+
+Und morgen früh auf dem Fechtboden -- Filzmaske aufgesetzt, drauflos
+gedroschen, solange Arm und Schädel halten wollen --!
+
+Kaum konnte Hans die Stunde der offiziellen Kneipe erwarten. Als er zum
+Cafébaum schlenderte, grinsten ihm von allen Anschlagsäulen die riesigen
+Lettern entgegen:
+
+ »Wallensteins Lager«
+ »Die Piccolomini«
+
+Pah! was für Hieroglyphen waren das eigentlich?! Was ging das alles ihn
+an? Pah, die Meininger! Pah! Schiller --!
+
+Komödie ... Komödie!
+
+Damit war man fertig, das mußte versunken sein und vergessen. -- Und was
+stand ganz unten am Rande des Zettels?
+
+ »Freitag: Wallensteins Tod« --?!
+
+Ja, hatte man gestern nicht selbst probiert, sollte morgen früh wiederum
+probieren für die Komödie von übermorgen? Hatte man nicht im Eisenwams
+der Pappenheimer Kürassiere gesteckt und sich als Friedländischer
+Reitersknecht gefühlt, eine Stunde lang?
+
+Lüge, alles Lüge ... äffisches Spiel mit längst verpulster Glut, längst
+verschütteter Leidenschaft -- Komödie das alles! Unwürdig des jungen
+sehnenden Menschentums, das man in allen Knochen fühlte, das leidend
+sich aufkrampfte gegen die Not der Stunde -- das nach wildem Rausch,
+nach taumelnder Betäubung sich sehnte, das sich selbst vergessen wollte
+und vergessen alles um sich her --!
+
+Nein -- Hans Thumser wird niemals wieder Komödie spielen ...
+
+Hans Thumser wird mehr nicht sein wollen, als er ist: ein ungarer,
+unfertiger Mensch, dessen verdammte Pflicht und Schuldigkeit das eine
+nur ist: zu lernen, zu arbeiten, sich zu stählen für die kommenden
+Kämpfe des wahren, des wachen Lebens. Morgen, morgen soll's beginnen --
+heut aber: Bier her! Saufen bis zum Umsinken! Vergessen ... vergessen
+... vergessen ...
+
+Da war der »Cafébaum«. Da winkte vom Sims des ersten Stockwerks das
+dreifarbene Schild, schneeüberlagert. Und der steingemeißelte riesige
+Türke, der sich von dem feisten kleinen Putten die Mokkaschale kredenzen
+läßt, trug über seinem steinernen Turban einen doppelt so hohen aus
+Schnee ...
+
+Nun die enge, muffige Stiege hinauf, nun die Klingel gezogen. Drinnen
+lärmten schon die Korpsbrüder, die sich zum gewohnten Zechgelage
+versammelten. Als der Korpsdiener öffnete, empfing den Ankömmling schon
+auf dem Korridor, wo rings die grünen Kneipjacken mit den rot und
+goldenen Schnüren an den Wänden hingen, lautes Hallo.
+
+Volkner, der Senior, hatte geschwatzt: er war Hans Thumser begegnet, als
+dieser mit einem mächtigen, seidenpapierumhüllten Rosenstrauß in das
+Haus Katharinenstraße zweiundzwanzig hineingegangen war. Daß dieser
+Besuch nicht etwa dem früheren Korpsbruder Pilgram gegolten habe, das
+hatte der Blumenstrauß verraten. Wo also konnte Thumser gewesen sein als
+bei Jucunda Buchner? Halb mit Ulk und halb mit Neid empfing man den
+Glücklichen. Der Name Jucundas war ein bißchen verdächtig von dem Fall
+Pilgram her. Obwohl der weiland Senior sich bei den Besuchen der
+früheren Korpsbrüder hartnäckig über seine Beziehungen zu der Diva
+ausschwieg, hatten die Korpsbrüder doch allmählich herausbekommen, daß
+jenem sein ritterliches Eintreten für das gekränkte Mädchen wenig Dank
+eingetragen hatte ...
+
+Sich mit Jucunda Buchner einzulassen, das hatte also beinahe schon einen
+Beigeschmack von Komik und drohendem Hereinfall ...
+
+Und dennoch ... der Duft des Lorbeers, der eine ganze Stadt berauschte,
+zog wie lichter Weihrauchdunst auch durch die Hirne, welche die grünen
+Mützen bedeckten ...
+
+Der Schwall der Neckereien, die sich über Hans Thumser ergossen, ging
+ihm heiß in das siedende Blut -- immer wilder schwoll die sinnlose
+Saufstimmung in ihm empor.
+
+»Füchse, _ad loca_!« brüllte er und nahm am unteren Ende der Kneiptafel
+Platz, auf dem hochlehnigen Stuhl, der in Eichenschnitzerei die
+Märchengestalt eines aufrechtstehenden Fuchses zeigte, in Cerevis,
+Couleurband und Kanonenstiefeln, den Vorderlauf mit einem Schläger
+bewehrt. Und um ihren jungen Herrn und Meister zur Rechten und zur
+Linken scharte sich die Fuchscorona, sieben junge Bürschlein, darunter
+vier Krasse, die erst seit ein paar Wochen der Zucht ihres
+Schulmeisters entronnen waren, um der noch viel gestrengeren des
+Fuchsmajors zu verfallen -- und drei Brander, Wangen und Nasen schon mit
+den ersten Dokumenten bewährten Mensurschneids verziert.
+
+»Füchse, ich komm Euch den ersten und den zweiten Halben!« rief Hans
+Thumser und schüttete das volle Glas hinunter, das der Korpsdiener vor
+ihn hingesetzt.
+
+Gleichzeitig beschied auch der Senior Volkner alles, was der Fuchtel des
+Fuchsmajors bereits entwachsen war, an das obere Ende der Kneiptafel:
+die Korpsburschen, die Inaktiven der Kartell- und befreundeten Korps,
+die sich in Leipzig studienhalber aufhielten und beim Korps verkehrten,
+und einzelne Alte Herren aus der Stadt, die sich dann und wann zu den
+Zusammenkünften des Korps einfanden.
+
+Und nun entwickelte sich das altvertraute Bild: von allen Wänden
+schauten die Wappenschilder, die gekreuzten Fahnen und Schläger, die
+Ehrenhumpen und silberbeschlagenen Trinkhörner, die zahllosen
+jahrzehntealten Gruppenbilder, Silhouetten, Porträte der einstigen
+Mitglieder des Bundes auf die zechende und lärmende Schar herunter.
+
+Mit zeremoniellem Anstand erhob sich der Erste:
+
+»_Silentium!_ Wir trinken zur Eröffnung einer fidelen, offiziellen
+Kneipe unser Glas in Gestalt eines Schoppens Salamander! _Ad exercitium
+salamandri_ -- eins, zwei, drei!«
+
+In langen Güssen kollerte der erste Ganze in die zechbereiten Mägen,
+rasselnd wirbelte der Salamander und endete mit einem krachenden
+Aufklappen aller Gläser auf die massive Eichenplatte der Kneiptische.
+
+»_Silentium!_« klang da wieder die Stimme des Präsidenten: »Wir singen
+als erstes offizielles Lied auf Seite 159: Brüder, zu den festlichen
+Gelagen ...«
+
+In rauhem, taktfestem Unisono schwoll das Lied durch den niedern Raum,
+in dem das Brandopfer der Pfeifen und Zigarren sich mystisch über der
+Sängerschar emporkreiselte:
+
+ »Brüder, zu den festlichen Gelagen
+ Hat ein guter Gott uns hier vereint,
+ Allen Sorgen laßt uns jetzt entsagen,
+ Trinken mit dem Freund, der's redlich meint.
+ Da, wo Nektar glüht,
+ Holde Lust erblüht,
+ Wie den Blumen, wenn der Frühling scheint.«
+
+Und Hans Thumser fühlte beglückt, wie die dumpflastende Beklemmung der
+einsamen Spätnachmittagstunden von ihm abfiel, und in grimmigem Behagen
+stürzte er sich hinein in den schäumenden Strudel des Gelages, spürte,
+wie alles, was ihn so im Tiefsten erschüttert, verschwamm, versank,
+verflog -- und nichts mehr war, als der tolle Rausch der Stunde.
+
+»Füchse! Ich komme Euch den elften und zwölften Halben!«
+
+ »Lasset nicht die Jugendkraft verrauchen,
+ In dem Becher winkt der goldne Stern!
+ Honig laßt uns von den Lippen saugen,
+ Lieben ist des Lebens süßer Kern!
+ Ist die Kraft versaust,
+ Ist der Wein verbraust,
+ Folgen, alter Charon, wir Dir gern!«
+
+-- so verscholl das hellaufrauschende Lied ...
+
+»_Silentium_ -- schönes Lied _ex_! Ein Schmollis den Sängern!«
+
+Da trat der Korpsdiener ein. Das glänzende Bemmchengesicht verstört,
+fassungslos. Er schlich sich zu dem ragenden Stuhl des Ersten heran,
+flüsterte mit vorgehaltener Flosse seinem jungen Herrn etwas ins Ohr,
+das diesen stutzen und auffahren machte. Einen Augenblick sann Volkner
+nach -- dann flüsterte er dem Korpsdiener zu:
+
+»Es ist gut -- sagen Sie's Herrn Thumser -- er mag hinausgehen.«
+
+Mit scharfen Blicken verfolgte Volkner den Gang des Korpsdieners, der
+sich nun mit so lächerlicher Behutsamkeit, als tripple er auf Eiern,
+hinter den Stühlen seiner Herren entlang zum Fuchsmajor schob und auch
+diesem seine Botschaft zuraunte:
+
+»Entschuld'gen Se, Herr Thumser -- da draußen is Sie nämlich der Herr
+Pilgram -- der läßt Ihn' bitten, ob Se nich mächten so freindlich sinn
+und gomm'n een Augenblickchen auf'n Flur -- er hat 'n ä wicht'ge
+Mitteilung zu machen!«
+
+Ganz deutlich sah Volkner, wie Thumser zusammenschrak, hastig aufsprang,
+einen Augenblick nachsann, dann mit einem fragenden Blick die Erlaubnis
+erbat, die Kneiptafel zu verlassen. Nachdem Volkner Gewährung genickt,
+bat Thumser den ihm zunächst sitzenden Korpsburschen, ihn in seinem Amt
+als Vorsitzender der Fuchsentafel eine Weile zu vertreten. Dann raffte
+er sich zusammen und schritt aufrecht, doch blaß, mit zusammengezogenen
+Brauen zur Tür hinaus.
+
+Als er mit dem Korpsdiener durch das anstoßende Konventszimmer schritt,
+flüsterte der Alte ihm zu:
+
+»Se missen nämlich wissen, Herr Thumser, es is Sie schon vor eener
+Viertelstunde eene sähre hiebsche, junge Dame dagewesen und hat mich
+gefragt, ob der Herr Pilgram mächte uff der Kneipe sinn. Nu, da hab'ch
+ihr natierlich nur kennen sagen, daß der Herr Pilgram ieberhaupt nich
+mehr wirde uff Kneipe komm' -- und da is se denn wieder abgemacht. Ich
+kann Ihn' nur sagen, Herr Thumser, sähr ä hiebsche Dame is es gewesen!
+Nobel, püh, ich kann Ihn' sagen, Herr Thumser --!«
+
+Hans Thumser war einen Augenblick stehengeblieben. Wirre Vermutungen
+schossen hin und wider. Pilgram --? Und eine Dame, die nach Pilgram
+fragte? Was für unwahrscheinliche Begebenheiten -- auch nicht den
+Schimmer eines Verständnisses fand Hans.
+
+Wer konnte die Dame sein, die Pilgram auf der Frankenkneipe vermutete
+--? Was wollte Pilgram von ihm selber --?!
+
+Nun -- man würde ja hören ... Und abermals straffte Hans den Nacken und
+öffnete die Tür zum Korridor.
+
+
+Herzklopfend, von Glut und Frost hin und wider geschüttelt, war Asta
+Thöny vor dem Cafébaum aus der Droschke in den weichen Schnee
+gesprungen, der nun schon fußtief Bürgersteig und Fahrdamm der schmalen
+Gasse überzog. Ob ihr Retter wohl schon drüben sein mochte?
+
+Hell erleuchtet glänzten die Fenster des ersten Stocks in das
+schummerige Dunkel der Straße hinaus, während die ragenden Fronten der
+geschwärzten Gebäude ringsum nur noch wenige matte Lichtspuren zeigten.
+Auf der Kleinen Fleischergasse wohnte nur bescheidenes Bürgertum, da
+ging man früh zur Rast.
+
+Asta trat auf das jenseitige Trottoir und spähte hinauf. Ab und an
+huschte droben schattenhaft der Umriß einer jungen bemützten
+Männergestalt vorüber. Durch die verschlossenen Doppelfenster drang
+Lachen, vielstimmiges Gespräch, Tabakwolken kräuselten zur Decke,
+Wappenschilder, Schläger blinkten an den Wänden -- sonst war nichts zu
+erkennen.
+
+Es blieb nichts übrig: Asta mußte sich in das dunkle jahrhundertalte
+Gebäude hineinwagen, mußte fragen, ob droben Herr Pilgram schon
+eingetroffen. Mit versagendem Herzschlag kletterte sie die winklige,
+dunstige Stiege hinan, hielt einen Augenblick vor der Tür still, an der
+ein grün-gold-rotes Farbenschild angebracht war und ein längliches
+Porzellanschildchen mit der Aufschrift:
+
+ »Corps Franconia.«
+
+Drinnen klang lauter nun Lärm und Gelächter. Was half's -- sie mußte es
+wagen ...
+
+Eine schrille Klingel schlug an, Schritte tappten heran, ein ältliches,
+gerötetes, glattrasiertes Männergesicht lugte durch den Spalt und
+blinzelte befremdet, als es des ungewohnten Besuches ansichtig ward.
+
+Mit stammelnden Lippen fragte Asta, ob Herr Pilgram schon angekommen.
+Verblüfft grinste der Türhüter und erklärte: Herr Pilgram gehöre nicht
+mehr zum Korps, er komme überhaupt nicht mehr.
+
+Gottlob -- also jedenfalls noch nicht zu spät gekommen ...
+
+Und Asta huschte wieder die Treppe hinunter, stapfte in den Schnee
+hinaus und patrouillierte auf dem jenseitigen Bürgersteig,
+frostgeschüttelt, erwartungfiebernd.
+
+Ab und zu kam noch eine grünbemützte Jünglingsgestalt und bog in den
+schlechterleuchteten Flur des Cafébaums ein. Von Pilgram keine Spur! --
+Ob er seinen Vorsatz aufgegeben hatte? Sie wußte ja nicht, was er
+eigentlich geplant hatte, aber etwas Grausames, etwas Wildes, etwas
+Schauerliches mußte es gewesen sein! Davon hatten seine Züge deutlich
+genug gesprochen. Und geduldig trippelte das Mädchen auf und ab, ohne
+einen Blick von dem schmalen Lichtspalt zu wenden, der durch die
+angelehnte Tür des Restaurants auf die Straße lugte.
+
+Der Schneefall hatte aufgehört. In winterlicher Schwermut gähnte die
+menschenleere Straße. Und in die lautlose Stille, welche die abendliche
+Stadt überlagerte, klang nun von drüben ein munterer Burschensang,
+gedämpft durch die Doppelfenster, doch deutlich vernehmbar. Die Weise
+meinte Asta zu kennen, aber Worte dazu wußte sie nicht. Ach, da oben war
+er, der liebe, böse Junge ...
+
+Schau! zur Rechten, vom Marktplatz her glitt lautlos ein riesiger
+Schatten heran, scharf abgezeichnet von dem weißen Grunde der Straße,
+vom gelben Lichthof, den die Laternen in die Nebel der Nacht zeichneten.
+
+Er war's! Mit raschen Schritten steuerte er dem »Cafébaum« zu. Da schoß
+Asta über den schmalen Straßendamm, traf hart an der Tür auf Pilgram:
+
+»Herr Pilgram -- ach, Herr Pilgram!«
+
+Gesenkten Blickes war jener geschritten, nun schrak er zusammen bei der
+unerwarteten Begegnung.
+
+»Ah -- Sie, mein gnädiges Fräulein? -- Ja, um Gottes willen, sind Sie
+denn toll? Warum nicht im Bett -- warum hier -- was soll das heißen?!«
+
+»Ich hatte solch entsetzliche Angst, Herr Pilgram!«
+
+»Angst? Was fällt Ihnen ein! Angst? Um wen?«
+
+»Um Sie, Herr Pilgram, um Sie und ... ach! Sie wissen's ja ... um wen --
+um wen noch. Herr Pilgram, ich bitte Sie -- ich flehe Sie an, was haben
+Sie vor gegen Herrn Thumser?«
+
+Flehend hatte sie mit beiden Händen den linken Arm des Studenten
+umklammert.
+
+»Aber Verehrteste ... ich begreife faktisch nicht ... wie kommen Sie auf
+derartige Vermutungen?«
+
+»Ach, ich weiß ... ich weiß ... Sie wollen sich rächen an Herrn Thumser!
+Ich weiß alles -- alles weiß ich ... Fräulein Buchner, meine Kollegin --
+Sie sind für sie eingetreten damals ... und dann ... dann hat sie sich
+schlecht gegen Sie benommen ... und Sie, Sie hatten doch so viel für sie
+dahingegeben, nicht wahr, so war's doch? Und heut -- heut ist Herr
+Thumser bei Fräulein Buchner zum Tee gewesen, nicht wahr? ... Und Sie,
+Sie haben das gehört und sind wütend auf ihn -- weil Sie denken, er hat
+mehr Glück bei Fräulein Buchner als Sie nicht wahr? O, gestehen Sie's
+nur, es ist ja keine Schande -- und dann, dann haben Sie mich gefunden
+da draußen und denken, er hat mich auf dem Gewissen ... Sie sehen, ich
+weiß, ich weiß alles. Und nun, nun wollen Sie ihn -- ich weiß nicht, was
+Sie mit ihm machen wollen, aber etwas Schreckliches ist's gewiß. Sehen
+Sie -- Sie schweigen -- sehen Sie, ich habe alles begriffen, alles!
+Ist's nicht so?«
+
+Mit zusammengekniffenen Lippen, die Augen fast geschlossen, regungslos
+hatte Valentin Pilgram den Schwall dieser bebenden Fragen über sich
+dahinschauern lassen. Mit grimmiger Scham fühlte er sich durchschaut,
+fühlte den geheimsten Trieb seines Wollens bloßgelegt, den er vergeblich
+mit dem lügnerischen Pomp eines Rächers verratener Ehre verhüllt hatte,
+und der doch nichts anderes war im letzten Grunde als der Neid des
+Verschmähten gegen den Glücklichen, als Eifersucht -- ganz ordinäre,
+banale Eifersucht ...
+
+Doch nein, das war ja nicht wahr -- das durfte ja nicht wahr sein! Da
+oben klang der muntere Burschensang -- da oben tafelte die Runde derer,
+die sich Mitglieder des ältesten Korps der Hochschule nennen durften,
+die das grün-gold-rote Band tragen durften, das nur den Makellosen
+schmücken soll. Und in ihrer Mitte saß einer, der doppelten Verrats
+schuldig war: an dem Gefährten dreier Semester und an der Gesellin
+glückseliger Liebesstunden.
+
+Und er --? Er hatte auf all das verzichtet, verzichten müssen um der
+Ehre willen. Hatte das einen Sinn? Durfte das so bleiben? Nein, beim
+Himmel, das sollte es nicht, solange es einen Valentin Pilgram gab. Wenn
+er denn schon selber die geliebten Farben nicht mehr tragen durfte,
+deren er doch wahrhaft würdig war wie einer, sollte dann der andere sich
+mit ihnen brüsten dürfen, der das Recht auf sie schmählich verscherzt
+hatte ...?!
+
+»Herr Pilgram,« klang's da in schmelzendem Flehen neben ihm, »so
+sprechen Sie doch! Bitte, bitte, so sprechen Sie doch, habe ich nicht
+recht?«
+
+»Mein verehrtes Fräulein,« sagte der Student, indem er seinen linken
+Arm der flehenden Umschlingung entzog, »ich bedaure, Ihnen über mein
+Tun und Lassen keine Rechenschaft ablegen zu können. Es mag sein, daß
+ich etwas Aehnliches, wie Sie denken -- nun, daß ich ... das gewollt
+habe ... und noch will. Wenn es so ist, so dürfen Sie überzeugt sein:
+ich weiß genau, was meine Pflicht ist ... Und darum muß ich Sie schon
+bitten, mich gewähren zu lassen.«
+
+Da trat ihm das Mädchen in den Weg, legte beide Hände auf seine
+Schultern, brennende Augen starrten zu ihm empor, aus denen Tränen
+rannen, hell aufblitzend im matten Lichtstreifen, der aus der Flurtür in
+den Schnee der Gasse fiel:
+
+»Nein -- nein, das dürfen Sie nicht! Mir zuliebe dürfen Sie's nicht ...
+Ja, es ist wahr, wegen dem da oben hab' ich heute das Leben wegwerfen
+wollen -- nun haben Sie mich gerettet -- aber wenn Sie ihm etwas zuleide
+tun, dann ist alles aus, dann hätten Sie mich nur lieber gleich da unten
+in der Pleiße lassen sollen ... Ich will nicht, daß ihm ein Leids
+geschieht um meinetwillen -- ich will's nicht -- und Sie, Sie dürfen's
+nicht -- Sie dürfen mich nicht wieder dahin zurückstoßen, woher Sie mich
+heut abend geholt haben -- nein! Herr Pilgram, das dürfen Sie nun und
+nimmermehr.«
+
+»Gnädiges Fräulein,« sagte Valentin, »wenn es Sie beruhigen kann, so
+will ich Ihnen versichern: das, was jetzt gleich geschehen wird, war
+beschlossene Sache schon ehe ich Sie ... da draußen ... fand. Ich kann
+mich nicht darauf einlassen, Ihnen das alles so auseinanderzusetzen. Was
+Sie von mir denken mögen oder nicht denken mögen -- ich kann's bedauern,
+aber ich kann's nicht ändern. Das alles muß nun seinen Lauf gehen.
+Versuchen Sie nicht mich aufzuhalten, es hat keinen Zweck.«
+
+Es sollte wohl nur ein sanfter Druck sein, mit dem die hageren Hände des
+weiland Frankenseniors die runden Gelenke der Schauspielerin von seinen
+Schultern lösten, doch er war unwiderstehlich, wie das Zupacken
+stählerner Zangen. Mit der gleichen unerbittlichen Gewalt, mit der er
+vor wenig Stunden des Mädchens Glieder der Flutenumschlingung entrissen,
+schob er sie nun zur Seite, wie ein willenloses Püppchen, und war mit
+zwei raschen Schritten im gähnenden Toreingang verschwunden.
+
+Asta taumelte, als der Druck der gewaltigen Hände plötzlich nachließ.
+Dabei trat sie unversehens einen halben Schritt rückwärts, geriet mit
+dem Fuß in den lockeren Schneeaufwurf über dem Rinnstein, sank tief ein,
+strauchelte, fiel in die Knie, stieß einen Schmerzenslaut aus: sie mußte
+sich den Fuß verstaucht haben. Aber die heiße Angst um das, was werden
+mochte, jagte sie wieder empor. Sie humpelte mit schmerzverzogenem
+Gesicht zur Tür, stieß sie auf, lauschte hinein. Droben auf der Treppe
+waren Pilgrams Schritte schon verhallt. Nur das Burschenlied brauste
+noch immer weiter, klang und schwang durch das ganze altersmüde Gebäude.
+In dem kleinen Restaurant des Erdgeschosses zur Linken das schläfrige
+Stammtischgeschwätz, das Auftrumpfen der Karten, das Klappern der
+Biergläser. Asta schlich durch den Hausflur, hinkte mühsam die Treppe
+hinauf, stand wieder an der Tür mit dem Porzellanschildchen: Corps
+Franconia, legte das Ohr an die dünne Holzwand und lauschte.
+
+Ganz deutlich dröhnte nun ein neuer Vers des feierlichen Liedes da
+drinnen, dazwischen halblaute Stimmen, es schien Pilgram zu sein,
+welcher im Flur mit dem alten Mann verhandelte, der sie vorhin an der
+Pforte beschieden. Aber dies leise Gespräch blieb unverständlich,
+dagegen war der Text des Liedes Wort für Wort zu verstehen. In frohem
+Trotz scholl die alte Jugendweise daher:
+
+ »Lasset nicht die Jugendkraft verrauchen,
+ In dem Becher winkt der gold'ne Stern!
+ Honig laßt uns von den Lippen saugen,
+ Lieben ist des Lebens süßer Kern!
+ Ist die Kraft versaust,
+ Ist der Wein verbraust,
+ Folgen, alter Charon, wir Dir gern!«
+
+Und nun plötzlich war das Lied zu Ende, ein paar unverständliche,
+kommandoartige Worte klangen von drinnen, ein lustiger Aufschrei von
+vielen Stimmen, dann munter durcheinander schwirrendes Stimmengewirr.
+Einige Sekunden verflossen so: dann hörte Asta ganz deutlich, wie
+drinnen eine Tür heftig aufgerissen wurde und jemand in den Flur trat --
+und jetzt klang drinnen gedämpft, doch klaren, festen Klanges des
+geliebten Jungen Stimme:
+
+»Guten Abend, Pilgram -- Du hast mich zu sprechen gewünscht? Bitte, was
+steht zu Deinen Diensten?«
+
+Da fühlte Asta, wie der Puls ihres Herzens aussetzte. Ganz fest preßte
+sie ihr Ohr an das glatte, ölgestrichene Holz, ihre froststarren Hände
+umklammerten krampfhaft den messingenen Türgriff, und in schlotterndem
+Lauschen vernahm sie jedes Wort, das drinnen gesprochen wurde, vernahm
+sie alles, was drinnen geschah ...
+
+
+Hochaufgerichtet standen die zwei schlanken Jünglingsgestalten einander
+drinnen gegenüber in dem schmalen Flur, den nur eine schwelende
+Petroleumlampe erleuchtete. Rechts und links hingen Kneipjacken und
+Garderobenstücke an den Regalen, welche die Wände umzogen -- ein fader
+Dunst von altem Tabak und Bierneigen füllte den dumpfen Raum. Hinter der
+mittleren Tür, die zum Kneipzimmer führte, klang heftiges Stimmengewirr,
+das stiller und stiller ward. Offenbar war man drinnen aufmerksam
+geworden, daß hier draußen sich Ungewöhnliches vollziehe, wartete man
+gespannt, wie das wohl werden möchte.
+
+Hans Thumser hatte Pilgram die Hand hingestreckt. Der übersah sie, griff
+stumm in die Brusttasche seines Rockes und reichte Hans Thumser einen
+Brief hin.
+
+»Lies!« sagte er.
+
+Hans ließ die erstaunten Blicke hin und wider gleiten zwischen dem
+Schreiben und dem, der es ihm gereicht, dann trat er in den Lichtbereich
+des mattglänzenden Flurlämpchens und erkannte, daß der Brief mit
+fahrigen, steilen Schriftzügen einer Frauenhand bedeckt war:
+
+ »Sehr geehrter Herr! Ihr dankenswertes Eintreten für meine Ehre hat
+ schnell den gewünschten Erfolg gehabt. Die beiden Herren, welche mir
+ zu nahe getreten waren, haben mündlich bei mir um Entschuldigung
+ gebeten. Ich danke Ihnen innigst für das große Opfer, das Sie mir
+ gebracht haben ...«
+
+Verblüfft ließ Hans den Brief sinken:
+
+»Was soll ich damit?« fragte er, »was geht das mich an?!«
+
+»Dreh doch gefälligst einmal den Bogen um!« befahl Pilgram in
+ingrimmiger Ruhe.
+
+Hans wandte den Bogen um und entdeckte mit grenzenlosem Staunen rechts
+an der unteren Ecke der vierten Seite, auf dem Kopfe stehend, seine
+Initialen und darüber den Frankenzirkel. Er drehte den Bogen um, und
+richtig: es war kein Zweifel, das war einer von seinen eigenen
+Briefbogen. Völlig verdutzt sah er den einstigen Korpsbruder an, um
+dessen festgeschlossene Lippen ein mattes Lächeln des Triumphes irrte.
+
+»Von wem ist der Brief?« fragte Hans Thumser mit unsicherer Stimme.
+
+»Spiel' mir gefälligst keine Komödie vor!« brauste Pilgram auf.
+
+»Aber ich versichere Dir, ich habe nicht den leisesten Schimmer.«
+
+»Pfui Deubel -- nicht mal den Mut hast Du ... Gib her den Brief! Und nun
+weiter! Warst Du heut' nachmittag bei Fräulein Buchner?«
+
+»Aber ich verstehe faktisch nicht,« stammelte Hans. »Wenn ich Dir sage,
+daß ich auch nicht die entfernteste Ahnung habe --!«
+
+»Ich frage Dich, ob Du heut nachmittag bei Fräulein Buchner warst? Gib
+Antwort -- oder ich mache kurzen Prozeß mit Dir!«
+
+Nun richtete sich Hans denn doch aus der unsicheren Haltung verlegenen
+Staunens zu seiner ganzen Größe auf. Zwar reichte er nicht an die
+riesige Länge des einstigen Freundes, aber gleich straff emporgereckt
+stand er ihm gegenüber, sah ihm von unten frei und trotzig ins Gesicht,
+und funkelnd, wie zwei Säbelklingen in der Auslage, so blitzten das
+braune, das blaue Augenpaar einander an.
+
+»Ich frage Dich,« sprach er kalt gemessen, »was Dich berechtigt, mich in
+einem derartigen Ton zur Rede zu stellen?«
+
+»Das weißt Du.«
+
+»Nein, ich weiß es nicht. Ich wünsche es von Dir zu hören.«
+
+»Ich verzichte darauf, Dir Aufklärung zu geben. Ich wiederhole Dir meine
+Frage -- willst Du antworten?!«
+
+»Wer mich in diesem Tone fragt, bekommt keine Antwort!«
+
+»Schön! Was wirst Du nun aber sagen, wenn ich Dir mitteile, daß in
+derselben Stunde, in der Du bei Jucunda Buchner warst, Fräulein Asta
+Thöny am 'Wassergott' in die Pleiße gesprungen ist --?!«
+
+Da wurde Hans Thumsers fester Blick plötzlich stier und starr. Die
+Kinnbacken klappten herunter, langsam schob sich seine Rechte an der
+Brust empor, glitt tastend nach dem Achtzentimeterkragen.
+
+»Das ist ... das ist nicht wahr!«
+
+»Mein Ehrenwort, daß es wahr ist ... und Du weißt, scheint's, auch, wer
+sie hineingetrieben hat?!«
+
+Da umklammerte Hans Thumser plötzlich mit beiden Händen des ehemaligen
+Korpsbruders Arm und stammelte, schlotternd vor Entsetzen:
+
+»Sie ist tot?!«
+
+Valentin Pilgram machte sich frei, trat einen halben Schritt zurück.
+
+»Ich hatte das Glück sie zu retten ... bedank' Dich also bei mir, daß Du
+nicht als Mörder vor mir stehst.«
+
+Ein stöhnender Laut, ein Jauchzen halb und halb ein Schluchzen brach aus
+Hans Thumsers Brust zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor:
+
+»Erzähl' doch -- so erzähl' mir doch.«
+
+»Nein,« sagte Valentin Pilgram hart, »Du hast Fräulein Thöny von Dir
+gestoßen -- es mag Dir genügen, daß sie lebt -- alles weitere geht Dich
+nichts mehr an.«
+
+»Also was willst Du von mir?« schrie Hans Thumser, »sag' mir endlich,
+was Du von mir willst?!«
+
+»Du sollst bekennen, daß Du ein elender, wortbrüchiger Bube bist ... Du
+sollst das Korpsband da abziehen ... Du verdienst nicht mehr, es zu
+tragen. Willst Du? Oder soll ich Dich dazu zwingen?«
+
+Da straffte sich Hansens Gestalt aufs neue. Seine Fäuste ballten sich,
+als erwarteten sie den Angriff des Feindes -- ja, des Feindes, denn was
+in den blauen Augen drüben düster flammte, war Feindschaft --
+Todfeindschaft ...
+
+»Versuch's!« sagte er nur.
+
+In diesem Augenblick ward die Tür zum Kneipzimmer hastig von drinnen
+aufgerissen, blendender Lichtglanz quoll hervor, und hinter der Tür,
+Kopf an Kopf, drängte sich das Korps: ein zu Tode erschrockenes
+Jungmännergesicht hinter dem andern, ganz hinten stand man auf Stühlen
+und Tischen, um das entsetzenerregende Schauspiel zu erreichen, wie da
+zwei Jünglinge, die einst die gleichen Farben getragen, auf Leben und
+Tod einander gegenüberstanden.
+
+»Pilgram! Thumser!« schrie alles durcheinander, »um Gottes willen, was
+habt Ihr nur?!«
+
+Gleichzeitig schlug mit gellendem Schrillen die Etagenklingel an, und
+gegen das Holz der Flurtür hämmerten matte Schläge, wie von einem zarten
+Kinderhändchen. Und wie ein Schrei klang draußen das wimmernde Flehen
+einer Frauenstimme:
+
+»Herr Pilgram -- tun Sie's nicht, Herr Pilgram!«
+
+Mit halbem Blick nur überflog Valentin Pilgram die hervordrängende Schar
+der einstigen Korpsbrüder ... dann, als sei er noch allein mit dem
+Gegner Aug' in Auge, wandte er sich wieder zu ihm und wiederholte:
+
+»Also noch einmal: Gibst Du es zu, daß Du ein elender Schelm bist?
+unwürdig des Bandes, das Du trägst?«
+
+Mit eisiger Festigkeit hielt Hans Thumser des Feindes haßsprühenden
+Blick aus.
+
+»Geh!« sagte er, »das weitere findet sich morgen.«
+
+In derselben Sekunde hatte Valentin Pilgram dem Gegner das Korpsband von
+der Brust gerissen und es zu Boden geschleudert. Nun holte seine Rechte
+weit aus, um ihm die Mütze vom Kopf zu schlagen. Im selben Augenblick
+aber warfen sich die Korpsburschen mit lauten Entsetzensschreien auf
+beide Gegner von hüben und drüben, trennten sie, alles schrie wie toll
+durcheinander:
+
+»Pilgram, Du bist wohl wahnsinnig!«
+
+»Zurück, haltet Ruhe, zum Teufel!«
+
+»Was fällt Euch ein?!«
+
+»Wir sind auf Korpskneipe!«
+
+»Schmeißt ihn hinaus, er hat hier nichts mehr zu suchen!«
+
+»Laß gut sein, Thumser, er wird Dir Satisfaktion geben, morgen findet
+sich alles -- morgen!«
+
+Volkner, der Senior, brach sich Bahn durch die dicht zusammengekeilte
+Schar der jungen Männer.
+
+»_Silentium!_« schrie er. »Ich bin hier der Herr im Haus. Tritt vor,
+Pilgram, was soll das, was fällt Dir ein? Dich hier einzudrängen und
+Dich an einem von uns zu vergreifen? Du weißt, Du hast kein Recht mehr,
+hier zu sein!«
+
+Die Zucht vieler Semester, die eiserne Disziplin des Korps rief Pilgram
+zur Besinnung zurück.
+
+»Du hast recht, Volkner,« sagte er. »Habt die Freundlichkeit mich
+loszulassen ... es wird nichts weiter passieren, verlaßt Euch drauf.«
+
+Und ruhig und gemessen trat er vor den Senior:
+
+»Verzeih mir -- ich hatte mich vergessen. Ich denke, Ihr verzichtet wohl
+alle auf eine weitere Aufklärung ... dafür ist ja das Ehrengericht da.«
+
+»Allerdings,« sagte Volkner, »dafür ist ja wohl das Ehrengericht da.«
+
+»Gut,« sagte Pilgram. »Ich bitte das Korps also nochmals feierlichst um
+Entschuldigung -- ich bin morgen vormittag bis ein Uhr in meiner
+Wohnung. Guten Abend.«
+
+Alles wich zur Seite. Noch einmal maß Valentin Pilgram mit kurzem Blick
+der Todfeindschaft seinen Gegner, der schwer atmend, mit
+rotunterlaufenen Augen, doch völlig gefaßt inmitten seiner Korpsbrüder
+stand ... schritt zur Tür, riß sie auf.
+
+Da bot sich ein unerwartetes Schauspiel: Auf der Schwelle kniete,
+tränenüberströmt, zusammengekauert, ein Mädchen im grauen Pelzjackett.
+Nun sprang sie auf die Füße, starrte mit angstverzerrten Zügen, blöden
+Blicks in den Korridor hinein, in dem Kopf an Kopf Grünbemützte sich
+drängten, warf sich dann jählings herum und floh wie gejagt die Treppe
+hinunter.
+
+Und langsam, schwerfälligen Schritts ging Valentin Pilgram von dannen
+und ließ die Tür ins Schloß fallen.
+
+
+
+
+ 14.
+
+
+Asta hatte nicht schlafen können. Das Fieber hatte in dem zierlichen,
+doch kerngesunden Körperchen rumort -- doch der Gedankensturm, der ihr
+Hirn durchbrauste, der Drang zu leben, zu helfen, ihr armes bißchen Sein
+dafür einzusetzen, daß nicht unsagbar Entsetzliches geschähe -- dies
+inbrünstige Wollen hatte die heraufbrauende Krankheit niedergeworfen.
+Und früh um neun schon klopfte sie an Jucunda Buchners Tür.
+
+Frau Kanzleirätin, noch in Nachtjacke und Unterrock, hatte hoch und
+teuer geschworen, Jucunda sei noch nicht zu sprechen. Asta Thöny hatte
+sich nicht abweisen lassen.
+
+»Sie wird mir's danken, gnädige Frau!«
+
+Aber Jucunda Buchner dankte nicht.
+
+Aus unruhigen Morgenträumen voll ehrgeiziger Hoffnungen und
+ahnungsvoller Beklemmungen hatte das Pochen der Kollegin sie
+aufgeschreckt. Nun saß sie aufrecht im Bett, sehr ungnädiger Laune,
+kaum, daß sie der Besucherin einen Stuhl anbot. Sie liebte es nicht,
+sich unvorbereitet überraschen zu lassen.
+
+Mit fliegenden Worten berichtete Asta: ihren Spaziergang an der Pleiße
+verschwieg sie allerdings, um so genauer aber erzählte sie von dem
+Renkontre zwischen Pilgram und Thumser auf der Frankenkneipe und sparte
+nicht an grellen Farben. Sie war überzeugt gewesen, Jucunda würde
+alsbald um Hans Thumsers willen mit allen Anzeichen des Entsetzens aus
+dem Bette springen und Hals über Kopf zu dem Geliebten wollen, um ihm
+nicht von seiner Seite zu weichen, bis die Gefahr an ihm vorübergegangen
+war ...
+
+Statt dessen sah Jucunda sie stillschweigend mit spöttisch
+zusammengebissenen Lippen an, als sie hocherglühend ihren Bericht
+geendet.
+
+»Nun?« fragte Asta ganz erstaunt.
+
+»Mir fällt etwas auf an Deiner Erzählung, liebes Kind,« sagte Jucunda.
+»Du erzählst mir da von einem Auftritt, der sich auf der Frankenkneipe
+zugetragen hat ... und zwar wenn ich recht verstanden habe, hast Du
+nicht nur vom Hörensagen berichtet, sondern Du warst selber dabei
+gewesen -- stimmt's oder stimmt's nicht?!«
+
+Astas Wangen, vom heftigen Gang durch den Schnee gerötet, glühten noch
+höher auf.
+
+»Ja ... ich habe alles ... selbst mit angehört ...« gestand sie.
+
+»Hm -- dann darf ich mir wohl die Frage gestatten: wie kommst denn Du
+auf die Frankenkneipe?«
+
+Astas Hände zupften unstet an den Falten ihres Rockes.
+
+»Ja, wie soll ich Dir das ... erklären? Es ist ja auch ... eigentlich
+gleichgültig ... wie ich hingekommen bin -- ich war eben ... da.«
+
+»Nun, so gleichgültig kann ich das eigentlich nicht finden,« meinte
+Jucunda. Sie lehnte sich zurück in die Kissen, stützte sich auf die
+Ellbogen und fixierte die niedliche Kollegin mit überlegen spöttischem
+Blick. »Na, also lassen wir das einstweilen mal dahingestellt. Aber: zu
+welchem Zweck teilst Du mir denn das alles mit?«
+
+»Ja, aber um Gottes willen, Jucunda, das geht doch nicht, das darf doch
+nicht sein, daß die zwei guten Jungens sich totschießen Deinethalb!«
+
+»Meinethalb?« Jucunda hatte sich hochaufgerichtet. »Wieso meinethalb?
+Erkläre mir das!«
+
+»Ja, aber Jucunda -- das ist doch ganz klar! Uebrigens, um Gottes
+willen, der eine, der Pilgram, der wohnt doch hier nebenan, gelt, kann
+der uns auch nicht etwa hören?«
+
+»Beruhige Dich, liebes Kind, meine Mutter hat mir schon mitgeteilt, daß
+er heut nacht nicht nach Hause gekommen ist. Also bitte, wie kommst Du
+auf diesen Einfall?«
+
+»Aber begreifst Du denn das noch immer nicht?! Der Pilgram ist doch nur
+eifersüchtig auf den Thumser, weil Du ihn hast abfallen lassen und den
+andern -- --«
+
+»Und den andern?!« fragte Jucunda scharf. »Na, was denn! Bitte, was
+denn?!«
+
+»Nun, der andere ... ist denn der andere nicht gestern nachmittag bei
+Dir ... bei Dir gewesen --?«
+
+»Er war gestern nachmittag zum Tee bei mir, nu! Und was weiter?«
+
+»Zum -- Tee --?!« fragte Asta mit einem halb wehmütigen, halb
+verschmitzten Lächeln. »Nur zum Tee --?«
+
+»Na! zu was denn sonst, bitte?!« fragte Jucunda heftig.
+
+»Na, wir wollen nicht streiten,« meinte Asta. »Also: ob die zwei braven
+Kerle sich Löcher in den Leib schießen Deinethalb, Dir ist's rund herum
+egal, scheint's?!«
+
+»Meinethalb? Ich weiß nicht, ob sie's meinethalb tun, mir haben sie's
+nicht gesagt. Und übrigens -- ich möchte wissen, was ich daran ändern
+kann, wenn die zwei sich's in den Kopf gesetzt haben, aufeinander
+loszuknallen. Ich habe sie nicht geheißen, ich kann sie nicht hindern!«
+
+Asta Thöny spielte mit den Zipfeln ihres Pelzjacketts und sann
+angestrengt nach mit zusammengekniffenen Brauen. Dabei stieg eine helle
+Freude, ja ein lustiger Uebermut langsam, aber immer mächtiger in ihr
+empor. Das war ja eigentlich wunderschön, was sie da erfuhr. Sieh da,
+Hanschen! Viel Glück scheinst du mit deinem Teebesuch bei der großen
+Jucunda ja nicht gehabt zu haben! Und für das bißchen Ehre auch noch
+totgeschossen zu werden -- nein, das wollen wir doch mal sehen, ob wir
+das nicht hintertreiben können. Aber dazu brauchen wir ja wohl nicht die
+große Jucunda -- das können wir uns schließlich auch allein verdienen
+...
+
+»Verzeih, liebe Jucunda,« sagte sie. »Ich habe mir eingebildet, Du
+hättest was übrig für Hans Thumser, da habe ich mich also anscheinend
+geirrt. Nun dann freilich --«
+
+»Allerdings, mein Kind, da hast Du Dich geirrt. Vielleicht erinnerst Du
+Dich daran, daß Herr Thumser zwanzig Jahr und ein Student ist. Es mag ja
+Kolleginnen geben, die sich aus derartig -- ungaren jungen Herren was
+machen. Ich für meine Person -- ich lege auf derartige Bekanntschaften
+keinen Wert.«
+
+Ach so, die Großartige willst du spielen! Na warte --!
+
+»Wenigstens nicht, wenn's ein x-beliebiger Bürgerlicher ist, willst Du
+sagen, nicht wahr? Wenn's freilich ein Prinz wäre -- das ist was andres,
+gelt, Jucunderl, denn kann er so ungar sein wie er will, hab' ich
+recht?«
+
+Da fuhr Jucunda Buchner so heftig in die Höhe, daß Asta Thöny
+unwillkürlich aufstand und einen halben Schritt zurückwich. Die schönen
+Hände krallten sich, das majestätische Gesicht verzerrte sich zum
+Ausdruck einer Medusa, die stahlblauen Augen funkelten Wut gleich den
+Lichtern einer gereizten Katze:
+
+»Was fällt Dir ein, was erlaubst Du Dir?!« Doch rasch glätteten sich
+ihre Züge zum Ausdruck eiskalter Verachtung, sanken die schönen
+Schultern nachlässig in die Kissen zurück, und mit einer Handbewegung,
+gleich jener, mit der eine Königin eine unbotmäßige Kammerfrau entläßt,
+befahl sie:
+
+»Verlassen Sie mein Zimmer, mein Fräulein!«
+
+Asta Thöny lächelte ihr boshaftes Spitzbubenlächeln. Sie sank in einem
+tiefen Hofknix zusammen:
+
+»Zu Befehl, Frau Marquise, wünsche gute Karriere.« Und schon war sie
+hinaus.
+
+Während sie die Katharinenstraße hinunterschritt und den Marktplatz
+überquerte, dessen Schneedecke grell im duftumschleierten Lichte des
+frühen Wintermorgens gleißte, fühlte sie sich fast erstickt von der
+Seligkeit, die verhaßte Rivalin einmal bis aufs Blut geärgert zu haben.
+
+So eine Hundeschnauze! so eine eiskalte! Tut, als hätte sie keine
+Ahnung, daß sie es doch allein ist, die all den Unfug angestiftet hat in
+den Brauseköpfen hüben und drüben -- Gott! und wer weiß, was für
+Dummheiten sie sonst noch alles auf dem Gewissen hat! Ist nicht dies
+ganze Nest wie verrückt nach ihr? Aber das ist das Blödsinnige an dem
+Ruhm: hat unsereins sich erst mal durchgesetzt, dann liegt die Welt vor
+ihr auf dem Bauch, und das verrückte Mannsvolk bringt sich um für das
+Glück, von ihr mit Füßen getreten zu werden ...
+
+Aber jetzt -- jetzt ist sie wild. Jetzt faucht sie zu Hause, jetzt hat
+sie einmal gespürt, daß auch noch andere Katzen Krallen haben --!
+
+Aber schau -- wer war denn das? Da kamen aus der Kleinen Fleischergasse
+zwei grüne Mützen heraus, zwei Franken-Korpsburschen, sehr feierlich.
+Der eine, der ältere, trug den Paletot nachlässig geöffnet, und man sah
+darunter den bis hoch hinauf zugeknöpften Bratenrock ... Handschuhe
+trugen sie, gestreifte Hosen und Gummigaloschen. Der ältere, den kannte
+sie, den hatte ihr Hans einmal von ihrem Fenster aus gezeigt, es war
+Volkner, der jetzige Häuptling des Frankenbundes. Ingrimmigen Ernst auf
+den jungen Gesichtern, steuerten die zwei über den Marktplatz, bogen in
+die Katharinenstraße und verschwanden in der Tür, die sie selber soeben
+verlassen.
+
+O Gott -- sie wußte, was die zwei zu suchen hatten bei Valentin Pilgram
+da droben ... sie wußte: die sollten ihm Hans Thumsers Forderung
+überbringen ... das waren die Kartellträger ...
+
+Daß Hans Thumser kein Glück gehabt bei Jucunda ... und daß sie selber es
+der verhaßten Rivalin einmal gründlich gegeben -- über dieses doppelte
+Glück hatte Asta völlig den blutigen Ernst der Situation vergessen ...
+Sie wußte: Kavaliere -- und waren sie auch erst seit ein paar Semestern
+flügge geworden, wie die Herren Korpsstudenten -- die fackeln nicht
+lange mit dem Austrag solcher Händel. Und wenn erst die Pistolen geladen
+sind, dann kommt guter Rat zu spät ... und dabei mußte sie ja doch in
+die Probe. Morgen abend war ja Abschiedsvorstellung -- »Wallensteins
+Tod« -- und wenn sie auch nur ein winziges Röllchen hatte, das Fräulein
+von Neubrunn, Theklas Gesellschafterin und Vertraute -- die Probe
+versäumen, das hätte sie sich doch nicht getraut. Der stramme
+Pflichtgeist, der das Meininger Ensemble beseelte, ließ einen solchen
+Gedanken selbst in höchster Not niemals aufkommen. Schon dreiviertel
+zehn, also höchste Zeit! Asta sprang in eine Droschke, befahl »Zum
+Carolatheater!« und drückte sich fröstelnd in den verschlissenen Plüsch.
+All ihr Uebermut war verweht. Was auf den starren, korrekten
+Amtsgesichtern der zwei jungen Gesellen da gestanden hatte, das legte
+sich wie eisig umklammernde Knochenfinger um ihr Herz.
+
+Die zwei suchten Pilgram ... und wenn er jetzt noch nicht daheim war, er
+würde kommen, sie würden ihn finden, würden ihre Botschaft ausrichten
+... Und dahinter lauerte ein Schreckensbild: das Bild einer
+tiefverschneiten Waldblöße, die in unberührter, weiter Fläche daliegt im
+ersten Morgenschein ... Nun rollen von hüben und drüben zwei Wagen
+heran, lautlos ... ein paar junge Männer entsteigen ihnen, rüsten sich
+zu geheimnisvoll grausigem Tun -- nun treten sie alle rechts und links
+zur Seite, und zweie nur bleiben inmitten stehen, wenige Schritte nur
+voneinander, sie heben blitzende Läufe -- einer zielt nach des andern
+Herzen ... und der eine von ihnen heißt Hans Thumser ...
+
+Was tun? o Gott, was tun?!
+
+Da, ein rettender Gedanke: Franz Burg ... der war doch einmal
+akademischer Bürger ... Wenn einer der Meininger nicht mehr ein noch aus
+wußte, ging er ja immer zu Franz Burg ...
+
+Ja, das war's! Franz Burg mußte Rat schaffen. Aber wie den Gestrengen
+erreichen? Wenn sie auf die Bühne kam, würde die Generalprobe bereits
+begonnen haben -- und bis die beendigt war, durfte man dem Szenenleiter
+mit nichts anderm kommen, aber auch mit gar nichts. Solange gehörte er
+nur seinem Werk. Und jeder Versuch, ihn mit andern Dingen zu befassen,
+würde höchstens eine erstaunliche Grobheit eingetragen haben.
+
+Und darüber würde es drei Uhr werden ... Gott, was konnte inzwischen
+alles geschehen! So lange war man machtlos, war man im Dienst ... war
+man »Fräulein von Neubrunn, Hofdame der Prinzessin«.
+
+Und die Prinzessin? -- Selbstverständlich Jucunda Buchner ... die große
+Jucunda ...
+
+
+Drei Uhr nachmittags.
+
+Auf der Kneipe des Korps Misnia tagte das S. C. Ehrengericht zur
+Entscheidung über die hängende Pistolenforderung des Korpsburschen eines
+wohllöblichen C. C. der Franconia Thumser wider den früheren C. B.
+Pilgram.
+
+Der Kneipsaal, sonst nur »zu den festlichen Gelagen« bestimmt, war nun
+zu verhängnisschwerer Tagung eingerichtet. An den hufeisenförmigen
+Tischen saßen die Ehrenrichter, je zwei von jedem der fünf Leipziger
+Korps, und von dem präsidierenden Korps Misnia noch ein dritter
+Korpsbursch als Protokollführer.
+
+Wie um das feierlich Eindrucksvolle des Femgerichts zu unterstreichen,
+waren die Schlagläden heruntergelassen, und die gelben Flammen der
+Gaslichtkrone warfen zuckende Reflexe auf die bunten Mützen, die
+dreifarbenen Bänder, die blinkenden Scheiben der Klemmer und Monokels,
+die schmißdurchsetzten Jugendwangen, die in feierlich offizielle Falten
+gelegt waren.
+
+Hans Thumser, als der Beleidigte, wurde zuerst gehört.
+
+Mit knappen Worten berichtete er den Vorfall, der sich am gestrigen
+Abend auf der Kneipe seines Korps zugetragen. Als er geendet, fragte der
+Vorsitzende, Graf Schmettow, der Erste der Meißner, ein über die Maßen
+patenter, hagerer Gesell, dessen linke Wange eine furchtbare Säbelnarbe
+von der Schläfe über den Mundwinkel bis ins Kinn hinein durchzog:
+
+»Danke, Herr Thumser. Ihre Erzählung ist natürlich so, wie sie da
+vorgetragen worden ist ... äh ... nicht so recht verständlich ...
+offenbar ist doch zwischen Ihnen beiden ... äh ... noch irgend etwas
+andres vorgekommen ...? Wollen Sie uns auch darüber Auskunft geben, oder
+wünschen Sie, daß zunächst sich Ihr Herr Gegner ... äh ... über den von
+Ihnen vorgetragenen Tatbestand erklärt?«
+
+Hans Thumser sann einen Augenblick nach. Astas Bild, Jucundas tauchte
+einen Augenblick vor seinem Geiste auf. Hatte es einen Zweck, diese
+Erlebnisse in die Verhandlung mit hineinzuziehen? -- Es war ja
+schließlich ganz gleichgültig, wie das alles geworden war ... wie es
+hatte kommen können, daß der einstige Korpsbruder ihm das Band von der
+Brust gerissen ... das war nun einmal geschehen. Die Tat lag vor, nackt
+und unerbittlich ... Für sie hatte er Sühne zu fordern -- sie zu
+erklären war allenfalls des andern Sache, nicht die seine ...
+
+»Ich habe vorläufig nichts weiter mitzuteilen, Herr Vorsitzender.«
+
+Damit war er entlassen.
+
+Und mit angespannter Neugier hingen nun die Blicke der jugendlichen
+Ehrenrichter an der Reckengestalt des Jünglings, der so lange als der
+Besten einer in ihrer Mitte gestanden hatte, dessen scharfe Klinge nicht
+nur, dessen scharfes Wort, dessen ganzes vorbildliches Wesen einem jeden
+stets den vollkommensten Respekt abgezwungen. Da war keiner im
+Leipziger S. C., der nicht den Fall Pilgram mit brennendem Interesse,
+mit aufrichtiger Sympathie verfolgt hätte. Und jeder hatte Gelegenheit
+gehabt zu beobachten, wie Franconias einstiger Senior schon gar bald
+nach seinem Ausscheiden aus dem Korps wie unter der Last eines
+grundstürzenden Erlebnisses förmlich in sich zusammengesunken war,
+verändert, verwildert, tiefster Verbitterung anheimgefallen.
+
+Nun schien er wieder der Alte, zum mindesten in seiner äußeren
+Erscheinung. Korrekt gescheitelt und gekleidet, in tadellosem Gehrock
+und Lackschuhen stand er vor dem Ehrengericht, nur um seine Brust fehlte
+das Band und auf seinem Gesicht das alte trotzig-heitere
+Selbstbewußtsein ...
+
+»Herr Pilgram,« begann der Vorsitzende, »ich brauche Ihnen nicht zu
+sagen, worum es sich handelt. Herr Thumser Franconiae hat Ihnen eine
+Pistolenforderung auf fünfzehn Schritt Barriere und Kugelwechsel bis zur
+Kampfunfähigkeit übersandt wegen eines Renkontres, das Sie mit ihm
+gestern abend gegen neun Uhr auf der Frankenkneipe gehabt haben.
+Entsinnen Sie sich der Ausdrücke, die Sie gebraucht haben, und ist es
+Ihnen auch bewußt, daß Sie ihm das Korpsband von der Brust gerissen,
+dann zum Schlage ausgeholt haben, und nur durch das Dazwischentreten der
+Herren Korpsbrüder des Herrn Thumser verhindert worden sind, Herrn
+Thumser noch weiter tätlich anzugreifen?«
+
+»Allerdings,« erklärte Pilgram ruhig. »Ich entsinne mich des Vorfalls
+genau. Ich war vollständig Herr meiner Sinne und übernehme für meine
+Handlungsweise die volle Verantwortung.«
+
+»Sie sind also bereit, Herrn Thumser die standesübliche Genugtuung mit
+der Waffe zu geben? Und haben andrerseits nicht die Absicht,
+irgendwelche andere Formen der Sühne in Vorschlag zu bringen?«
+
+»Nein!« sagte Valentin Pilgram.
+
+Einer der Ehrenrichter bat ums Wort. Herr ten Brink, der Erste
+Chargierte der Guestphalia, ein langer, semmelblonder, sommersprossiger
+Sohn der roten Erde.
+
+»Es ist mir was aufgefallen in der Erzählung des Herrn Thumser,« sagte
+er. »Herr Thumser hat erzählt, Sie hätten ihm einen Brief zu lesen
+gegeben, dessen Inhalt ihm vollständig unbekannt gewesen sei. Wollen Sie
+sich über diesen Punkt vielleicht auslassen?«
+
+»Darf ich mir die Frage gestatten, Herr Vorsitzender,« erwiderte
+Pilgram, »ob Herr Thumser über diesen Punkt bereits nähere Erklärungen
+gegeben hat?«
+
+»Nein!« sagte Graf Schmettow. »Wir haben vorläufig darauf verzichtet,
+uns überhaupt mit der Frage zu beschäftigen, was für ... äh ... Motive
+hinter dem ... Renkontre vorhanden gewesen sein mögen.«
+
+»Dann --« sagte Valentin Pilgram, »dann würde ich für meine Person
+vorziehen, diese Seite der Sache ebenfalls unerörtert zu lassen,
+vorausgesetzt, daß ein hohes Ehrengericht nicht seinerseits darauf
+besteht.«
+
+»Ich verstehe,« sagte der Vorsitzende. »Die Herren scheinen also einig
+darüber zu sein, daß der Tatbestand der Beleidigungen lediglich an und
+für sich hier zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden soll, ohne
+daß auf ihre Veranlassung weiter einzugehen sein würde -- aus Gründen
+der Diskretion vermutlich, nicht wahr?«
+
+Pilgram nickte stumm.
+
+»Wenn ich recht verstehe,« fuhr der Vorsitzende fort, »so stellen die
+beiden Herren Gegner sonach den Sachverhalt übereinstimmend dar. Danach
+würde wohl eine Vernehmung von Zeugen und jede weitere Aufklärung des
+Sachverhalts erübrigen, nicht wahr, meine Herren?!«
+
+Zustimmend nickten die Ehrenrichter, und der Vorsitzende entließ den
+Beleidiger.
+
+Die Beratung war nur kurz. Der Fall lag ganz klar: es handelte sich um
+eine tätliche Beleidigung, die zur Ausführung gekommen war, und um eine
+solche, deren Ausführung nur durch das Eingreifen Dritter verhindert
+worden war. Die erstere, das Abreißen des Korpsbandes, kam an Schwere
+der zweiten, vereitelten mindestens gleich. Neben diesen Realinjurien
+spielen die vorgefallenen wörtlichen Beleidigungen nur eine
+nebensächliche Rolle. Der Beleidiger hatte zugegeben, bei klarem
+Verstande und wohlüberlegt vorgegangen zu sein. Unter diesen Umständen
+war es vollkommen klar, daß die Forderung genehmigt werden mußte, und
+zwar ohne daß ein Anlaß vorlag, die sehr scharfen Bedingungen zu
+ermäßigen.
+
+Schon neigte sich die Verhandlung ihrem Ende, da erbat Herr ten Brink
+Guestphaliae Erster noch einmal das Wort:
+
+»Ich weiß nicht, meine Herren, die Sache kommt mir eigentlich ein
+bißchen merkwürdig vor. Die Geschichte mit dem Brief will mir nicht
+aus dem Kopf, ich habe das Gefühl, da steckt ein Mißverständnis hinter.
+Ich meine, das Ehrengericht ist doch schließlich nicht bloß dazu da,
+über eine Forderung zu entscheiden -- ich meine, unter Umständen wäre es
+doch unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, Mißverständnisse
+aufzuklären ... kurz, zwischen den Parteien zu vermitteln. Ich meine,
+wir sollten in diesem Fall doch ein wenig genauer auf die Vorgeschichte
+des Renkontres eingehen. Um so mehr, als meines Erinnerns Herr Thumser
+geäußert hat, der fragliche Brief sei von einer Dame geschrieben
+gewesen. Na, meine Herren, wir wissen doch alle, wenn die Weiber in so
+'ne Affäre hineinspielen, dann ist es meistens halb so schlimm.«
+
+Ein kurzes, verständnisinniges Schmunzeln auf allen Gesichtern, das aber
+schnell der gewohnten, feierlichen Korrektheit wich. Der Vorsitzende
+meinte:
+
+»Ich halte uns nicht für befugt, in die persönlichen Angelegenheiten
+der Kontrahenten einzudringen, wenn diese nicht selbst Wert darauf
+legen. Ich glaube -- der Versuch einer Vermittlung zwischen den Herren
+würde ... äh ... eine Ueberschreitung unserer Kompetenz sein ... und
+zugleich ein Eingriff in die Verfügungsfreiheit der Herren, den sie sich
+nicht gefallen zu lassen brauchten. Aber ich weiß nicht, wie die anderen
+Herren darüber denken? Bitte sich zu äußern!«
+
+Es stellte sich heraus, daß ten Brink mit seiner Auffassung ganz allein
+stand. So wurde denn die Forderung mit den Stimmen aller Ehrenrichter
+gegen die seinige genehmigt und dies den beiden Parteien mitgeteilt.
+
+Das Schicksal war gefallen.
+
+Gleich nach dem Ehrengericht traten die Sekundanten der beiden Parteien
+zusammen. Volkner für Thumser und Herr Borgmann Neo-Borussiae Erster für
+Pilgram. Sie verabredeten als Platz für das Duell die Heiderwiese, eine
+Waldlichtung im Ratsholz, südwestlich von Connewitz, unfern des linken
+Pleißeufers, am Reitwege nach Gautzsch, und als Zeit für die Austragung
+punkt sechs Uhr am folgenden Morgen.
+
+Hiervon benachrichtigten sie ausschließlich den Grafen Schmettow und
+ersuchten ihn, als Senior des derzeit präsidierenden Korps das Amt
+eines Unparteiischen zu übernehmen.
+
+Dann wurden die Korpsdiener unter Hinweis auf ihre Pflicht zu absoluter
+Verschwiegenheit ins Vertrauen gezogen und angewiesen, den
+Pistolenkasten instandzusetzen, Wagen zu bestellen. Den Vertrauensarzt
+des S. C. in derartigen Fällen, den Sanitätsrat Dr. Collwitz, einen
+Alten Herrn der Neo-Borussia, übernahm Herr Borgmann zu bestellen.
+
+Diese Vereinbarungen hatten im Konventszimmer der Misnia stattgefunden,
+welches den Herren für diesen Zweck zur Verfügung gestellt war. Nun
+verabschiedete man sich voneinander mit dem üblichen Händedruck bei
+hochgehobenen, eingewinkelten Ellenbogen und zeremonieller Verbeugung.
+
+Volkner begab sich in eine gegenüberliegende Konditorei, in der Hans
+Thumser seine Mitteilungen abwartete, und benachrichtigte ihn vom
+Geschehenen.
+
+Das alles geschah in kurzen, formelhaften Wendungen. Kein Wort wurde
+gesprochen zwischen den beiden jungen Leuten, das über das sachlich
+absolut Notwendige hinausging. Jeder mußte die letzte Kraft aufwenden,
+Haltung zu bewahren angesichts des Grauens, das von diesem Unabwendbaren
+ausging, von diesem Unabwendbaren, das nun herankroch mit dem
+schleichenden Schritt der Sekunden und Minuten; das sich vollenden
+mußte, bevor es abermals Tag geworden.
+
+
+Nach Schluß der Probe mußte Asta lange warten, bevor sie den
+Oberregisseur für sich allein bekam. Tausend Geschäfte, tausend Bitten
+drängten sich noch an ihn heran. Schließlich wurde es ihm zu toll:
+
+»Kinder, ich bin auch nur ein Mensch und muß heut abend den Wallenstein
+spielen. Jetzt schert Euch gefälligst alle zum Teufel! Ich will
+schlafen.«
+
+Asta schoß hinter ihm drein.
+
+»Meister, eine Bitte, Sie müssen mich anhören, es geht um Tod und
+Leben!«
+
+»Und wenn's um sechsundzwanzig Paar Regensburger Würschte geht, ich kann
+nicht mehr.«
+
+»Helfen Sie mir, Meister, oder soll ich hier auf dem Korridor einen
+Kniefall tun?«
+
+»Nützt Ihnen auch nichts, kommt alle Tage vor. Lassen Sie mich in
+Frieden!«
+
+Asta brach in Tränen aus und hängte sich an des Davonhastenden Arm.
+
+»Pah!« brummte der, »auch noch flennen! nützt Dir auch nichts, kommt
+auch alle Tage vor!«
+
+Aber er schüttelte sie doch nicht ab, als sie sich an seinen Arm hing
+und das feuchte Gesichtchen an seiner Schulter barg -- als sie sich
+hinter ihm in seine Garderobe drängte.
+
+»Also in drei Teufels Namen, was gibt's? Aber kurz, bitte!«
+
+Er ließ seine lange Gestalt mit einem Grunzen halb des Grimms, halb des
+Behagens auf das schminkfleckige Sofa fallen. Wies der Besucherin mit
+Handwink den Frisierstuhl als Sitzgelegenheit. Asta drehte den Stuhl
+herum, hockte auf seiner vordersten Kante, erzählte stockend, befangen,
+verwirrt ...
+
+Als sie schwieg, tippte Franz Burg mit dem Mittelfinger der Rechten auf
+seine Brust und zuckte ein paarmal langsam die Schultern. Seine Brauen
+waren hochgezogen, um die schmalen Lippen spielte in tausend Fältchen
+ein Mephistoschmunzeln.
+
+»Sie sollen mir raten, was ich tun soll, Meister!«
+
+»Ja, Kindchen, soweit ich aus der Geschichte klug geworden bin, handelt
+es sich also um zwei Studenten, und einer von ihnen ist momentan
+Quartiergast in dem Kämmerchen da drüben unter Ihrem Pelzjackett, das
+freilich, soviel mir bekannt ist, häufig seinen Mieter wechselt. Aber,
+wat sall ick dorbi dauhn?«
+
+»Einen Rat -- einen Rat will ich, lieber Herr Burg. Sie sind doch
+Student gewesen -- was fängt man nur an, um die zwei wieder
+auseinanderzukriegen? Was soll ich tun, sagen Sie mir, was soll ich
+tun?!«
+
+»Die Karre laufen lassen, wie sie laufen will! Ich bitt' Sie -- die
+jungen Leute müssen doch was erleben ... Sehen Sie sich doch um in der
+Welt! da geht ja heute alles so verflucht ehrbar, korrekt und
+vorschriftsmäßig zu, es passiert nichts -- und passieren muß doch was in
+der Welt ... wovon sollen wir denn sonst leben, wir armen Komödianten,
+und die Poeten, die für uns Komödie schreiben! Ist ja 'n wahrer Segen,
+daß wenigstens auf deutschen Hochschulen noch manchmal 'n bißchen
+gerauft und geknallt wird. Ich freue mich immer, wenn ich sehe, daß noch
+Leidenschaft in der Jugend drin steckt ... daß noch Tragödien passieren.
+Das wäre ja doch ein wahrer Jammer, wenn man so was hintertreiben
+wollte.«
+
+»Aber wenn nun ein Menschenleben dabei zugrunde ginge, bedenken Sie
+doch, Meister! So ein blühendes, herziges, junges Studentenleben!«
+
+»Na -- wenn schon!« knurrte Burg, »Studenten gibt's doch weiß Gott genug
+auf der Welt. Eine große Sensation ... eine -- na, einen Stoff -- das
+ist wahrhaftig so'n Allerweltsstudentenleben wert!«
+
+»Herr Burg, Sie sagen Allerweltsstudentenleben ... das stimmt hier aber
+nicht; der eine, das ist kein Allerweltsstudent, das ist was ganz
+Besonderes --«
+
+»Der eine? Also =Ihrer= selbstverständlich, nicht wahr?«
+
+»Gott ja, meiner, wenn Sie wollen.«
+
+»Nun, was ist denn so Besonderes an ihm?!«
+
+»Er ist ein Dichter! Ach, so wundervolle Gedichte macht er. Wenn ich
+doch nur eins bei mir hätt'!«
+
+»Sieh, sieh!« schmunzelte der Oberregisseur. »Also ein zukünftiger
+Bühnenlieferant. Na, dann soll er sich erst recht schießen!«
+
+»Aber Herr Burg ... um Gottes willen!«
+
+»Ja gewiß soll er. Entweder er geht drauf -- na, in Gottes Namen: er ist
+der erste nicht. Wie mancher Homer ist blind geworden, =ehe= er Zeit
+gehabt hat, die Welt, das Leben so tief in sich hineinzusaugen wie der
+alte Griechenbarde ... Wie mancher Aeschylos mag in der Seeschlacht
+gefallen sein, wie mancher Schiller auf der Karlsschule in Verzweiflung
+und Verblödung hineingeknutet ... Das ist Kismet ... Wenn er aber übrig
+bleibt, glauben Sie nicht, daß er dann ein ganz andrer Kerl ist wie
+vorher, wenn er mal dem Tode ganz nahe ins Gesicht gesehen hat? Glauben
+Sie nicht, daß er Ihnen nachher noch viel schönere Verse machen wird;
+daß er noch 'ne ganz andere Nummer von Tragödie zustandebringt, wenn er
+erst mal erlebt hat, wie einem zumute ist, der die Nase hinhalten muß,
+wenn's drüben blitzt und knallt?«
+
+Asta sprang auf, rannte schluchzend zum Fenster.
+
+»Das ist entsetzlich, Herr Burg, das ist grausam!«
+
+»Ne, das ist klug, das ist weise, Kindchen!«
+
+»Also gut!« schrie die Kleine, warf sich herum, stand mit geballten
+Fäusten vor dem Oberregisseur, das reizende Gesicht von Grimm und Haß
+verzehrt. »Also gut! Sie sollen sich schießen ... einer soll auf dem
+Platze bleiben, alle beide -- was kommt dabei heraus?! Nur eine neue
+Reklame für sie, für die große Jucunda! Was wird's heißen? Zwei
+Studenten haben sich geschossen ... wegen ihr, wegen Jucunda Buchner!
+Das ist's ja auch, was sie will, darauf hat sie's ja auch angelegt mit
+allem Raffinement, die Katze, die verdammte! Der ist's recht, wenn ein
+paar so fesche junge Kerle zum Teufel gehen ihretwegen -- das paßt ihr
+grad in ihren Kram, dem hundeschnauzenkalten Weibsbild, das an nichts
+denkt -- nur an sich, nur an sich!«
+
+»Ach so!« lächelte Franz Burg. »Da zielt's hinaus! Mag sein, Sie haben
+recht, Kindchen ... Vielleicht ist unsere große Jucunda wirklich eine
+ganz haarsträubende Egoistin -- aber ich wollte zu Ihrem Besten, Kleine,
+Sie selber wären's auch. Wenn Sie das erfreuliche Temperament, das Sie
+anscheinend im Leben besitzen, ein bißchen mehr zusammenhielten und auf
+Ihre Kunst losließen, statt auf Ihre ... auf die Mieter Ihres
+Herzenskämmerleins -- glauben Sie mir, Sie wären eine größere
+Künstlerin, als Sie's leider sind. Sagen Sie mir nichts gegen die
+Jucunda, die ist ganz gut so wie sie ist. Die ist, was Sie nicht sind:
+eine Komödiantin. Die fühlt und weiß, wozu sie auf der Welt ist: nämlich
+zum Komödienspielen! Lieben und sich lieben lassen -- schöne Sache, o
+ja, für die andern, für die Alltagsweiber -- aber nicht für Euch.
+Zusammenhalten sollt Ihr Eure Glut, kalt wie Hundeschnauzen sollt Ihr
+meinetwegen sein im Leben, wenn Ihr nur abends, sobald der Lappen in die
+Höhe fliegt, Vulkane seid, wie die Jucunda einer ist! -- Na, haben Sie
+noch weiter Schmerzen, Kleine?«
+
+Gesenkten Blickes, mit zuckendem Kinn hatte Asta die Standrede des
+Meisters über sich ergehen lassen. Nun warf sie den Kopf trotzig in den
+Nacken, stampfte mit dem Fuß auf:
+
+»Ich will aber nicht, ich will nicht, daß der lange Pilgram mir meinen
+süßen Jungen totschießt! Wollen Sie mir helfen, wollen Sie mir einen
+vernünftigen Rat geben?! Oder soll ich meiner Wege gehen?«
+
+»Hm ... also das sage ich Ihnen, Astachen, gehen Sie weg vom Theater,
+aus Ihnen wird niemals was. -- Also, wenn's denn absolut sein muß, die
+Sache ist doch entsetzlich einfach: Wenn Studenten Dummheiten machen,
+dann steckt man sich hinter ihre Eltern. Leben die respektiven Herren
+Väter noch?«
+
+»Beide, soviel ich weiß.«
+
+»Na also, und wo wohnen sie denn, die würdigen Erzeuger der beiden
+Hitzschädel?«
+
+»Der eine wohnt da hinten im Rheinland irgendwo, soviel ich weiß.«
+
+»Welcher? Ihr moralischer Schwiegerpapa oder der andere?«
+
+»Nein, der =eine=,« sagte Asta, und das alte Schelmenlächeln blitzte
+durch Grimm und Tränchen wieder hindurch.
+
+»Also an den wird bis morgen nicht dranzukommen sein -- und der andere?«
+
+»Der andere, der ist, soviel ich weiß, irgendein hohes Tier in
+Dresden!«
+
+»Teufel, das trifft sich ja glänzend! Also, setzen Sie sich auf die
+Bahn, Kindchen, und rücken Sie dem Alten -- wie heißt er? -- dem alten
+--?«
+
+»Pilgram,« half Asta ein.
+
+»Also, rücken Sie dem alten Pilgram auf die Bude und petzen Sie ihm, daß
+sein wackerer Sprößling seinen Monatswechsel dazu mißbraucht, statt
+hinter seinen Büchern zu hocken, andern jungen Leuten Löcher in den
+Bauch zu schießen. Ich wette, dann entwickelt sich alles weitere
+historisch.«
+
+Asta sprang auf den Oberregisseur zu, der noch immer langhingestreckt
+auf dem schminkfleckigen Sofa lag, fiel ihm um den Hals und küßte ihn
+stürmisch.
+
+»Ach, Franzel, Sie sind doch der Allerbeste! Das wird gemacht, das ist
+die Rettung!«
+
+»Aber bitte, erst nach dem 'Lager' -- die kleine Oerzen ist krank
+geworden. Sie spielen heut abend die Gustel von Blasewitz. Nachher
+reisen Sie meinetwegen, wohin Sie wollen.«
+
+»Ich danke Ihnen, oh, ich danke Ihnen tausendmal, Sie Goldiger!«
+
+»Es ist ein Skandal,« knurrte Franz Burg. »Da hat unser Herrgott endlich
+mal wieder eine richtiggehende Tragödie angelegt, und so ein dummes,
+kleines Gör zerreißt ihm das Konzept und macht eine Posse draus!«
+
+
+
+
+ 15.
+
+
+Wenige Minuten nach halb zwölf stieg Asta Thöny am Böhmischen Bahnhof in
+Dresden aus dem Leipziger Schnellzuge. Sie hatte schon in Leipzig das
+Dresdener Adreßbuch eingesehen und festgestellt, daß der
+Senatspräsident am Oberlandesgericht Heinrich Pilgram in der
+Marschallstraße Nummer zweiundzwanzig wohnte.
+
+In dem milderen Klima der Residenzstadt war der Neuschnee des gestrigen
+Tages schon geschmolzen und hatte das Pflaster mit einer zähen
+Schlammkruste überzogen. In den Straßen war schon alles Leben erstorben.
+Trübselig spiegelte sich der Schein der Straßenlaternen in den Kotlachen
+der überschwemmten Rinnsteine. Trübselig klapperte der Gaul durch die
+physiognomielosen Straßen der Vorstadt und durch die kaum angebauten
+Alleen an der Grenze der Altstadt.
+
+Eigentlich doch ein wahnsinniger Plan: um Mitternacht einer wildfremden
+Familie auf die Bude zu rücken! Aber schließlich, man hatte doch wohl
+alle Veranlassung, ihr dankbar zu sein. -- Endlich: da stand sie vor der
+Pforte einer vierstöckigen Mietskaserne, und während der Wagen von
+dannen rollte, riß sie sich schier die Hände ab in dem Bemühen, den
+Portier zu alarmieren.
+
+Ein Tattergreis, der hastig Hose und Rock über sein Nachtgewand gezogen,
+mit wirrem Graukopf und schlampigen Pantoffeln empfing sie, bösartig
+knurrend, und war nur durch etliche Markstücke so weit zu bezähmen, daß
+er sie bei der schwankenden Beleuchtung einer schwelenden Handlaterne
+bis zum dritten Stock hinaufbegleitete, wo ein Porzellanschild mit der
+Aufschrift »Pilgram« an einer breiten, mit Vorhängen abgeblendeten
+Glastür den Eingang wies.
+
+Drinnen alles finster.
+
+Wahnsinnige Situation! Aber was half's! Die Klingel schrillte, und zu
+Astas freudiger Ueberraschung erschien schon nach wenigen Minuten ein
+verschlafenes Dienstmädchen, das entsetzt zurückprallte, als es der
+fremden, eleganten Dame ansichtig wurde.
+
+Die Herrschaften seien in Gesellschaft, würden aber wohl bis ein Uhr
+wieder zurück sein ...
+
+Den unbekannten Besuch in die Wohnung einzulassen, dazu war das Mädchen
+nicht zu bewegen, und so mußte Asta unter Führung des Tattergreises
+abermals die drei Stiegen hinunter, um draußen auf der ganz verlassenen
+Straße in Schlamm und Tauwind auf und ab zu patrouillieren, wie sie
+abends vorher im Schnee auf der Kleinen Fleischergasse auf- und
+abpatrouilliert war ...
+
+Endlich nach einer Stunde Wartens nahten von der Altstadt her vier
+vermummte Gestalten: ein Herr im Zylinder, den Rockkragen
+hochgeschlagen, und drei Damen, eine kugelrunde und zwei schlanke,
+hochgewachsene, in Abendmänteln und Kapuzen.
+
+Im Augenblick, als der alte Herr den Schlüssel einschob, um zu öffnen,
+trat Asta auf ihn zu:
+
+»Um Verzeihung! Ich habe wohl die Ehre, Herrn Präsidenten Pilgram ...«
+
+Der alte Herr richtete sich aus seiner gebückten Stellung auf, stand
+völlig verblüfft, musterte die Fragerin.
+
+Im selben Augenblick sah Asta durch goldgefaßte Brillengläser hindurch
+zwei scharfe, klare Augen mit durchdringendem Blick auf sich gerichtet.
+
+»Allerdings! Ich heiße Pilgram -- Sie wünschen?!«
+
+Inzwischen waren die Damen herangekommen, starrten völlig verblüfft und
+verständnislos auf die zierliche Gestalt im silbergrauen Jackett, deren
+Züge ein grauer Schleier fast ganz verbarg.
+
+»Entschuldigen Sie gütigst, Herr Präsident, könnte ich Sie wohl einen
+Moment allein sprechen?«
+
+»Was für eine Angelegenheit, bitte, meine Dame? Es ist ein Uhr!«
+
+»Eine sehr dringende Angelegenheit,« stammelte Asta, »ich komme aus
+Leipzig, es handelt sich um Ihren Sohn.«
+
+Ein noch schärferer Augenblitz traf das Mädchen.
+
+»Hm ...« sagte er nur, dann bückte er sich aufs neue, schloß auf und
+sagte zu seinen Damen:
+
+»Ihr seid wohl so freundlich und geht schon hinauf solange.«
+
+Mit angstvoller Neugier musterten die drei Damen die Fremde, aber ein
+scharfes: »Also bitte!« veranlaßte sie, dem Wunsche des
+Familienoberhauptes Folge zu leisten. Die Tür fiel ins Schloß.
+
+»Also zuvörderst, wer sind Sie?« fragte der alte Herr.
+
+»Ich bin die Herzoglich Meiningische Hofschauspielerin Asta Thöny.«
+
+»Hm ... und Sie wünschen?«
+
+»Ihr Sohn Valentin wird sich morgen früh mit einem andern Studenten
+schießen.«
+
+Die buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen, der graue
+Fransenschnurrbart zuckte.
+
+»Und dieser andere Student ist wer?«
+
+»Ein Herr Hans Thumser.«
+
+»Hans Thumser?! Das ist ja ein Korpsbruder meines Sohnes!«
+
+»Ihr Herr Sohn ist schon vor Wochen aus dem Korps ausgetreten ...«
+
+»Was ist das?!«
+
+Der Präsident richtete sich straff auf:
+
+»Das müßte ich denn doch wohl wissen, mein Fräulein!«
+
+»Es ist aber so, Herr Präsident.«
+
+»Hm ... lassen wir's zunächst einmal dahingestellt, ob Sie recht haben.
+Was veranlaßt Sie, mir diese Mitteilung zu machen?«
+
+Asta war auf diese Frage vorbereitet und hatte sich ihre Antwort
+zurechtgelegt.
+
+»Ich bin ... mit Herrn Thumser ... nahe befreundet.«
+
+»Hm -- mit Herrn Thumser? Sie machen mir also Ihre Mitteilungen weniger
+im Interesse meines Sohnes als vielmehr in dem des Herrn Thumser, wenn
+ich recht verstanden habe?«
+
+»Nein, das doch nicht, Herr Präsident. Allerdings ... vor allem doch
+wohl Herrn Thumser zuliebe ... Aber Ihren Herrn Sohn kenne ich auch,
+zwar nur sehr flüchtig, aber ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet, er
+hat mich ... er hat mir gestern ... das Leben gerettet.«
+
+Der alte Herr sah das erregte Mädchen mit einem Blick an, in dem ganz
+deutlich zu lesen war, er zweifle an ihrem Verstand.
+
+»Darf ich Sie bitten, meine Gnädigste, Ihren Schleier zu heben, damit
+ich sehe, wen ich eigentlich vor mir habe?!«
+
+Mit zwei raschen Bewegungen streifte Asta Thöny den Schleier in die
+Höhe. Sie fühlte sich mit scharfer Prüfung gemustert. Aber das Ergebnis
+mußte wohl nicht ungünstig sein, denn erheblich liebenswürdiger als
+zuvor fuhr der alte Herr fort:
+
+»Darf ich Sie bitten, mein gnädiges Fräulein, sich mit mir hinauf in
+meine Wohnung zu bemühen: Sie werden mir erzählen.«
+
+Er entzündete ein Wachsstreichholz und leuchtete dem seltsamen Gast die
+Treppe hinauf. Der Hausflur war nun hell erleuchtet. An einer
+halboffenen Tür drängten sich drei weibliche Köpfe, die hastig
+verschwanden, als der Präsident mit seinem Besuch eintrat. Sehr höflich
+nahm er dem Gaste den Regenschirm ab und geleitete ihn in ein dunkles
+Zimmer zur Rechten, entzündete zwei Gasflammen, bat, ihn einen Moment zu
+entschuldigen.
+
+Einen raschen Blick warf Asta in dem Zimmer umher. Die übliche,
+gutbürgerliche Einrichtung der sechziger Jahre: Mahagonimöbel, grüner
+Plüschbezug, an den Wänden ehrwürdige Familienbilder in Oel mit
+Darstellungen von Priestern und Gelehrten aus den beiden letzten
+Jahrhunderten. Am Fenster ein Mahagonisekretär mit Rolljalousie, darauf
+zahlreiche Photographien in Ständerrahmen, unter denen Asta sofort die
+eines schlanken Studenten in Mütze und Band herauserkannte.
+
+Der Präsident kam zurück, bat, auf dem Sofa Platz zu nehmen, und setzte
+sich ihr gegenüber in einen Plüschsessel. Er hatte abgelegt. Auf der
+linken Brust seines Fracks schimmerte eine blinkende Ordenreihe.
+
+Und abermals mußte Asta die Geschichte des gestrigen Abends erzählen.
+Der Präsident lauschte gespannt, ohne sie mit einem Wort, mit einer
+Frage zu unterbrechen. Als sie geendet, trat er auf sie zu, streckte ihr
+die Hand hin:
+
+»Ich danke Ihnen, meine Gnädigste. Das war sehr gescheit von Ihnen, daß
+Sie gekommen sind. Ich fahre mit Ihnen nach Leipzig. Ich habe schon
+nachgesehen, um drei Uhr vierzig fährt der Zug, um halb sechs sind wir
+drüben. Darf ich Sie inzwischen meinen Damen zuführen?«
+
+»Sehr gütig, Herr Präsident. Und was wird werden, was wollen Sie tun?«
+
+»Den beiden jungen Herren klar machen, daß ihre Eltern sie nicht deshalb
+großgezogen haben, damit sie sich untereinander als Zielscheibe
+benutzen.«
+
+»Aber werden wir auch nicht zu spät kommen? Wollen Sie nicht vielleicht
+vorher noch ein dringliches Telegramm an Ihren Sohn ablassen?«
+
+»Liebes Fräulein, ich war selbst einmal Student -- bin sogar Alter Herr
+des Korps Franconia --, wie ich die Buben kenne, scheren sie sich in
+solchen Fällen den Teufel um ein väterliches Telegramm. Im Gegenteil:
+wenn sie erst wittern, daß wir ihnen auf der Spur sind, dann kriegen wir
+sie morgen früh überhaupt nicht mehr zu fassen. Um halb sechs Uhr sind
+wir dort, vor sechs Uhr wird's ja überhaupt nicht hell um diese
+Jahreszeit; inzwischen werden wir überlegen, was zu tun ist. Darf ich
+Sie jetzt bitten, zu meiner Frau und zu meinen Töchtern
+hinüberzukommen?«
+
+»Verzeihung, Herr Präsident, würden Sie es nicht für besser halten, wenn
+Sie zunächst Ihre werten Damen über den Zweck meines Besuchs
+aufklärten?«
+
+»Da haben Sie recht, liebes Fräulein. Wenn Sie mich also einen
+Augenblick beurlauben wollen ...?«
+
+Nur wenige Minuten blieb Asta allein. Dann flogen zwei schlanke Mädels
+herein, in Balltoilette, mit glühenden Backen, glänzenden Augen, in
+denen die Angst um den Bruder und dabei doch auch brennende Neugier und
+gespannte Erregung standen, und stellten sich mit befangenen Knixen vor.
+Achtzehn und zwanzig mochten sie sein, die ältere dem Vater und Bruder
+wie aus den Augen geschnitten; die jüngere, ein munteres, molliges Ding,
+das Ebenbild der Mutter, wie sich alsbald herausstellte, als nun auch
+die rundliche Frau Präsidentin auf der Bildfläche erschien. Und alsbald
+saß Asta mit Valentin Pilgrams Mutter und Schwestern unter der
+Hängelampe eines altmodisch-behaglichen Speisezimmers. Man stopfte sie
+mit Butterbrot und Süßigkeiten, man fragte sie aus nach tausend Dingen,
+von denen sie keine Ahnung hatte.
+
+Während dessen hatte sich der Präsident entfernt, kam nach ein paar
+Minuten zurück.
+
+»So, mein gnädiges Fräulein, ich habe mir die Sache überlegt. Ich werde
+jetzt gleich zum nächsten Telegraphenamt gehen und eine dringliche
+Depesche an die Leipziger Polizei aufgeben. Hören Sie, was ich
+aufgesetzt habe:
+
+ 'Königl. Kreishauptmannschaft Leipzig! Morgen früh soll dort
+ Pistolenduell zwischen meinem Sohn Valentin und Stud. Hans Thumser
+ stattfinden. Ort und Zeit unbekannt. Abreise sofort, um selbes zu
+ verhindern. Ankomme 5.29 dort Dresdener. Erbitte Unterstützung,
+ womöglich berittenen Gendarmen, am Bahnhof.
+
+ Pilgram,
+ Senatspräsident am Oberlandesgericht.'
+
+So, ich nehme an, daß man einem königlichen Beamten meines Ranges in
+angemessener Weise entgegenkommen wird. Wenn die Polizei einigermaßen
+ihre Pflicht und Schuldigkeit tut, so kommen die jungen Herren morgen
+früh überhaupt nicht aus ihrer Bude heraus, sondern werden gleich mit
+Beschlag belegt. Sollte aber wider alles Erwarten die Sache nicht
+klappen, so sind wir ja da!«
+
+»Ja, aber um Gottes willen, Herr Präsident,« meinte Asta, »wir haben
+doch keine Ahnung, wo die schreckliche Geschichte eigentlich vom Stapel
+gehen soll -- wie wollen Sie das denn herauskriegen?«
+
+»Ja, Papachen, wie willst Du das nur herauskriegen?« echoten die
+Töchter.
+
+»Liebe Kinder, ich war doch selbst mal in dem Geschäft. Gebt acht: Wenn
+man sich schlagen will, geht man nicht zu Fuß heraus, sondern bestellt
+sich einen Wagen. Wenn man aber Korpsstudent ist, so hat man für diesen
+Wagen eine ganz bestimmte Bezugsquelle: das Korps nimmt nämlich seinen
+Wagen immer bei ein und demselben Fuhrwerksbesitzer, der ihm
+Vorzugspreise gewährt. Den Namen aber des Wagenlieferanten der
+Franconia, den kenne ich leider nur zu genau. Oder soll ich jetzt sagen:
+glücklicherweise? Ich habe nämlich am Schluß des vorigen Semesters für
+unseren guten Valentin noch eine ganz erkleckliche Wagenrechnung
+berappen müssen ... Der gute Mann wohnt in der Nähe des Bayrischen
+Bahnhofs, an ihn also wenden wir uns zunächst und versuchen
+herauszubekommen, wohin die Fahrt gehen soll.«
+
+»Aber wird er's auch verraten?« meinte Asta, »das könnte das Korps ihn
+doch teuer entgelten lassen?«
+
+»Ich glaube, wenn ich mit der Polizei drohe und darauf aufmerksam mache,
+daß man ihn wegen Beihilfe zum Zweikampf mit tödlichen Waffen am
+Schlafittchen kriegen könnte, dann wird er wohl mit sich reden lassen!«
+
+»Ach, Papachen, wie klug Du bist!« riefen die Töchter, strahlend vor
+Entzücken über das unerwartete Abenteuer. Himmel, wie interessant endete
+der Abend, der so langweilig, ganz nach dem Schema F verlaufen war.
+
+»Nun aber müssen Sie schlafen, liebes Fräulein,« meinte die Präsidentin,
+nachdem ihr Gatte sich entfernt hatte, um das Telegramm aufzugeben. »In
+einer Stunde müssen Sie schon wieder zum Bahnhof, die sollen Sie
+wenigstens zur Ruhe benutzen.«
+
+Aber Asta dankte. Sie könne nachher in der Eisenbahn noch genug
+schlafen, sie würde jetzt doch kein Auge zutun. Nur Hunger habe sie
+noch, wenn sie's denn schon sagen solle, und Durst auch.
+
+Und die vier Frauen schwatzten und lachten zusammen wie alte Freundinnen
+... und nur selten einmal ging's einer von ihnen durch den Kopf, was für
+morgen auf dem Spiele stand.
+
+Papachen würde schon alles machen. Wenn Papachen eine Sache in die Hand
+genommen hatte, dann konnte es ja nicht schief gehen!
+
+
+Als Asta und der Präsident fast als einzige Passagiere dem Frühzuge
+entstiegen, trat ein behäbiger Herr in einem undefinierbaren Räuberzivil
+auf den alten Herrn zu.
+
+»Verzeihen Sie gütigst, ich habe wohl die Ehre, Herrn Senatspräsidenten
+Pilgram ... Mein Name ist Gensel, Königlicher Kriminalkommissar. Stelle
+mich im Auftrage der Kreishauptmannschaft zu Ihrer Verfügung.«
+
+»Ah, charmant, Verehrtester. Haben Sie auch einen Gendarmen zur Hand?«
+
+»Der wartet draußen mit seinem Gaul.«
+
+»Nun, und was ist sonst geschehen?«
+
+»Ja, Herr Präsident, wir haben unser Möglichstes getan. Wir haben sofort
+zwei Kriminalschutzleute zu den Wohnungen der beiden jungen Leute
+geschickt und feststellen lassen, ob sie zu Hause wären. Ihr Herr Sohn
+hat seine bisherige Wohnung bei dem Kanzleirat Buchner seit gestern ganz
+aufgegeben und ist ins Hotel übergesiedelt, in welches, das wußten die
+Leute nicht. Und der andere, Herr Thumser heißt er ja wohl, der ist heut
+nacht nicht nach Hause gekommen.«
+
+»Teufel! Das ist scheußlich -- was nun?!«
+
+»Ja, was nun, Herr Präsident? Ich weiß auch nicht, was ich machen soll!«
+
+Der Jurist sann eine Weile nach, dann erklärte er dem Polizeibeamten
+seinen Plan, durch den Fuhrwerksbesitzer den Duellanten auf die Spur zu
+kommen.
+
+Der Kommissar war völlig einverstanden. Man stieg in eine Droschke und
+rollte durch die hier noch immer mit kotigem Schnee bedeckten Straßen
+zum Bayrischen Bahnhof.
+
+Im trüben Laternenschein huschten hastige Fußgänger vorüber, das Leben
+der großen Stadt erwachte -- die Arbeit begann.
+
+Die Herren berieten eifrig während der kurzen Fahrt. Der Präsident im
+Rücksitz, der Kriminalkommissar ihm gegenüber. Asta lehnte in ihrer
+Ecke, fröstelnd, übernächtig, von Angst geschüttelt, und lauschte der
+halblauten Unterhaltung der Herren.
+
+Der Gendarm war vorausgetrabt. Als man vor dem Fuhrhof ankam, hielt er
+bereits an dem Portal mit dem Geschäftsinhaber, einem grobknochigen Mann
+in Flausrock und Holzpantoffeln.
+
+Schnell kletterte der Kommissar aus dem Wagen und inquirierte sofort den
+Fuhrherrn:
+
+»Ist der Wagen für das Korps Franconia schon fort?«
+
+»Weeß Knebbchen, ja, Herr Kommissar, schon seit zehn Minuten is er
+weg ... tut mir sähre leid.«
+
+»Und wohin geht die Fahrt?«
+
+»Das kann ich Sie nich sagen, uff mei Ehrenwort nich. Der Wagen is
+bestellt für um den Herrn Volkner abzuholen, Kleine Fleischergasse fünfe
+... aber da wird er nu ja woll ooch schon nich mehr sinn.«
+
+Der Präsident war ebenfalls ausgestiegen und fragte: »Na, lieber Herr,
+Sie werden ja doch wohl eine Ahnung haben, wohin es geht?! Wo fahren
+denn die jungen Herren gewöhnlich hin, wenn sie was Besonderes vorhaben,
+he?!«
+
+»Nu, mei gutester Herr, wenn ich's ehrlich sagen soll, gewehnlich machen
+se doch so was im Ratsholz ab, un da gibt's eigentlich nur een' Weg:
+Kaiser-Wilhelm-Straße 'runter, dann Kaiserin-Augusta-Straße, am alten
+Wasserwerk vorbei und ins Streitholz hinein. Freilich, was für ä
+Plätzchen se sich dasmal haben ausgesucht, davon habe ich Sie natierlich
+de leiseste Ahnung nich, mei gutester Herr.«
+
+»Also, Herr Robolski,« sagte der Kriminalkommissar, »ich mache Sie
+darauf aufmerksam: Wenn sich's herausstellt, daß Sie uns nicht die reine
+Wahrheit gesagt haben, dann krieg' ich Sie bei die Hammelbeene,
+verstehen Sie mich?!«
+
+»Mein Ehrenwort,« sagte der Fuhrherr, »mein heiligstes Ehrenwort, Herr
+Kommissar, das, was ich gesagt habe, ist alles, was ich weeß.«
+
+»Schön! Also, Gendarm Mehlhorn, Sie haben gehört: sitzen Sie auf, traben
+Sie was haste was kannste nach dem Streitholz. Wir kommen nach. Sie
+reiten bis zum Schnittpunkt der 'Neuen Linie' und der 'Linie',
+meinetwegen auch die 'Linie' hinauf, bis zum Flußgraben, dann zurück bis
+zum Wegekreuz, dort warten! Merken Sie inzwischen was von den
+Duellanten, so greifen Sie selbständig ein, verstanden?!«
+
+»Zu Befehl, Herr Kommissar!« sagte Mehlhorn dienstlich, schwang sich auf
+seinen Braunen und klapperte die Bayrische Straße hinunter.
+
+Die beiden anderen Herren verabschiedeten sich mit flüchtigem Gruß und
+Dank von dem Fuhrwerksbesitzer, wiesen den Kutscher an, hinter dem
+Gendarmen drein zu fahren, stiegen ein, und die Gäule zogen an.
+
+Die drei im Wagen schwiegen und sannen.
+
+Vom Bayrischen Bahnhof blinkten grelle Signallichter, schrillten
+Lokomotivenpfiffe, ratterten mit dumpfen Stößen ausfahrende Züge über
+die Schienen. Drüber stand schon heller Tagesglast. Auf der matt
+erleuchteten Kreisscheibe der Bahnhofsuhr standen die beiden Zeiger in
+einer geraden, senkrechten Linie ...
+
+O Gott, wenn man zu spät kam! Es konnte sich ja nur um Minuten handeln.
+
+
+
+
+ 16.
+
+
+Hans Thumser erwachte. Oben an der Decke war irgend etwas, das blendete
+ihn. Mit verschlafenen Augen blinzelte er hinauf und sah, daß es
+Laternenschein war, der, von drunten herauffallend, das Lichtbild eines
+Fensters auf die weiße Tünche zeichnete. Teufel ja, wo kam das denn her?
+Das war sonst doch nicht so?!
+
+Mit einem Mal fiel's ihm ein: er war ja gar nicht in seinem eigenen
+Zimmer, lag nicht in seinem Bett ... aber wo nur? Richtig, er war ja
+doch auf Volkners Bude -- aber warum nur, was war denn eigentlich los?
+
+Mit einemmal krampfte sich sein Herz zusammen in siedendem Schreck: o
+Gott, morgen früh --!
+
+Eigentlich doch eine sehr vernünftige Idee von Volkner, ihn nicht allein
+zu lassen in dieser Nacht, in dieser vielleicht ... letzten Nacht. Und
+auch sonst war alles sehr vernünftig gewesen, was der Senior gesagt und
+geraten:
+
+»Weißt Du, Thumser, vor einer solchen Affäre ist das einzig Richtige,
+sich so zu betragen, als sei gar nichts Besonderes los. Um Gottes
+willen, bloß sich nicht hinsetzen und ein halbes Dutzend Abschiedsbriefe
+schreiben: an die Eltern, an den Schatz, an die Erbtante, und wer weiß
+an wen sonst noch. Das hat ja gar keinen Zweck. -- Mein Gott, so'n
+bißchen Knallerei! Ja, wenn Du jedesmal Dein Testament machen wolltest,
+wenn Du Dich in Lebensgefahr begibst, dann müßtest Du es von Rechts
+wegen machen, so oft Du vor die Tür gehst! Ueberall kann Dir ein
+Dachziegel auf den Schädel fallen. Und wenn Du in Deiner Bude und im
+Bette bleibst, kann schließlich die Decke einstürzen ...«
+
+Des Korpsbruders rheinischer Leichtsinn hatte Hans Thumser über die
+Abendstunden hinweggeholfen. Man war auf der Kneipe gewesen, hatte
+Quodlibet gespielt und den blödesten Bierulk betrieben. Dann hatte
+Volkner ihn mit auf seine Bude geschleift, ihm großmütig sein Bett
+abgetreten und sich dann selber auf dem Kanapee einlogiert. Von dort
+herüber drang jetzt sein melodisches Schnarchen. Na ja, der hatte gut
+schnarchen!
+
+Vorher aber, vor dem Einschlafen, hatten die zwei noch einen besonderen
+Trall ausgeheckt: Volkner hatte seine Geige genommen, und beide waren
+sie vor die Kammertür von Volkners bejahrter Hauswirtin gezogen und
+hatten ihr ein Ständchen gebracht, indem sie zu sanft hinschmelzender
+Violinbegleitung das schöne Lied gesungen hatten:
+
+ Seh ich ein Haus von weitem,
+ Wo ein lieb Mädel träumt,
+ Sing ich zu allen Zeiten
+ Ein Lied ihr ungesäumt.
+ Und wird's im Fenster helle,
+ Sei es auch noch so spat:
+ So weiß ich auf der Stelle
+ Wieviel's geschlagen hat.
+
+Erst als die Pantoffeln der Alten von drinnen gegen die Tür knallten,
+hatten sie Ruhe gegeben und waren dann beide auch sofort eingeschlafen.
+
+Volkners Bude befand sich im ersten Stock des Hauses, das an der Kleinen
+Fleischergasse dem Cafébaum direkt gegenüber lag. Und der Lichtschein
+der Laterne, die neben dem Eingang des Restaurants stand, war es, der
+Hans Thumser geweckt hatte. Er tastete nach seiner Taschenuhr und
+stellte im matten Reflex des Deckenlichts fest, daß es zwei Uhr war.
+
+Auf halb fünf war der Korpsdiener zum Wecken, auf viertel sechs der
+Wagen bestellt. Um viertel sieben sollte der erste Schuß fallen ... also
+noch zwei und eine halbe Stunde Schlaf und vielleicht noch vier und eine
+viertel Stunde zu leben ...
+
+Die ganze vorige Nacht hindurch hatte Hans Thumser wie ein Sack
+geschlafen. Die nötige Bettschwere hatte er sich ja schon vor dem
+Zusammenstoß mit Pilgram angezecht. Der gestrige Tag war in beständiger
+Unrast hingegangen, und so kam jetzt in nächtlicher Stille zum erstenmal
+Ordnung in den Wirrwarr der Gedanken, die um das Schicksal der kommenden
+Morgenstunde flatterten.
+
+Also sterben vielleicht ... und warum denn eigentlich? Nun, die Antwort
+war sehr einfach: Ein anderer war Hansens Ehre zu nahe getreten, hatte
+ihn tätlich aufs schwerste beleidigt, dafür galt es eben die
+standesübliche Sühne zu fordern.
+
+Schön! Das klang ja ganz vernünftig. Aber schließlich ... eine
+Beleidigung hatte doch irgendeinen Grund, ein Motiv. Was hatte er
+Pilgram denn eigentlich zuleide getan? Was hatte er begangen, daß
+Pilgram ihn wie einen ehrlosen Buben behandelt hatte? Nun, das eine war
+ja klar: Pilgram war eifersüchtig, er bildete sich ein, er selber, Hans
+Thumser, sei sein Nebenbuhler bei Jucunda, und zwar ein begünstigter.
+Ein begünstigter? Ach, du lieber Gott ...!
+
+Freilich, an ihm selber hatte es ja nicht gefehlt ... Und wer weiß, was
+geschehen wäre, wenn nicht im Augenblick, als Jucunda anfing, gnädig zu
+werden, sehr gnädig -- -- wenn nicht der andere dazu gekommen wäre,
+dieser fade Laffe, über dessen blasiertem Geckenschädel der Nimbus einer
+Fürstenkrone schwebte?
+
+Aber schließlich, es war doch ein Irrtum, wenn Pilgram sich einbildete,
+Thumser sei glücklicher gewesen als er selber.
+
+Also ein Mißverständnis! Ein Wahn!
+
+Aber da war noch etwas andres, das nicht stimmte: Was das nur mit dem
+Brief gewesen war, den Pilgram ihm vorgehalten? Offenbar ein Brief von
+Jucunda, ein Brief, in dem sie sein Eintreten für ihre Ehre mehr oder
+weniger verblümt abgelehnt hatte. Und dieser Brief hatte auf einem
+Briefbogen gestanden, der seine, Hans Thumsers, Initialen trug. Wie kam
+der Brief auf dieses Papier? Erst jetzt in der Stille der Nacht fand
+Hans Zeit, um über dies Phänomen nachzugrübeln ...
+
+Und plötzlich stand ihm der Augenblick vor der Seele, wie er Jucunda
+und ihrer Mutter sein Zimmer zur Verfügung gestellt hatte, um sich
+auszusprechen. Natürlich, das war's ja! Da hatten die Frauen das
+Uriasbrieflein ausgeheckt und das liebliche Plänchen gleich realisiert.
+Sie hatten genommen, was gerade zu erreichen war, das Briefpapier
+des Mannes, der ihnen vertrauensvoll seine Behausung zur Verfügung
+gestellt ...
+
+Pilgram aber, der hatte natürlich für die sonderbare Erscheinung sich
+eine ganz andere Erklärung in den Kopf gesetzt. Er mußte sich
+eingebildet haben, der Korpsbruder sei mitschuldig an der Abfassung des
+Briefes, habe ihn vielleicht sogar redigiert ...
+
+Also Mißverständnis Numero zwei.
+
+Schön! Zwei grobe Irrtümer in der Rechnung. Wenn man sich aber einmal in
+Pilgrams vermutliche Auffassung hineinzudenken versuchte, so konnte man
+ihm schließlich nicht so unrecht geben, wenn er bis aufs Blut gereizt
+war, wenn er den einstigen Korpsbruder infamer Gesinnung und
+Handlungsweise verdächtigte.
+
+Und darum Mord und Totschlag! Darum zwei junge Leben vor die Mündung
+geladener Pistolen gestellt! War das nicht Wahnsinn? War es nicht noch
+in diesem Augenblick Pflicht, eine offene Aussprache herbeizuführen, den
+Irrtum aufzuklären?!
+
+Aber bei dem Irrtum war es nicht geblieben. Er hatte eine schreckliche
+Folge gehabt: die rasche Tat, eine Tat, die nicht milder war denn ein
+Schlag mitten ins Angesicht des Feindes. Und auch zu diesem Schlag wär's
+ja gekommen, wenn nicht die Korpsbrüder dazwischen getreten wären.
+
+Mißverständnisse und Irrtümer ließen sich aufklären -- die Tat war nicht
+ungeschehen zu machen. Der Kavalier, der von einem Kavalier einen Schlag
+erhält, muß blutige Sühne fordern. Das war das eiserne Gebot des
+Ehrenkodex, daran war nicht zu deuteln noch zu rütteln.
+
+Und dann -- wer mochte den ersten Schritt tun? Machte der sich nicht
+verdächtig, als sei es nur die Angst vor der blauen Bohne, die ihn zur
+Aussöhnung geneigt machte? Würde man ihn nicht der Kneiferei zeihen?
+
+Der Kneiferei? Nun, wer vierzehn Schlägermensuren mit Ehren bestanden
+hatte, brauchte der sich vor dem Verdacht der Kneiferei zu fürchten?
+
+Halt! So eine Knipserei, das war doch was andres als das bissel
+Bestimmungsmensur mit Binden und Bandagen.
+
+Nein, da war nichts zu wollen, dafür war man Korpsstudent! Der andere,
+der war an allem schuld. Der hätte die Aussprache herbeiführen müssen
+vor der Tat. Daß er dem Freund, dem Korpsbruder aus drei Semestern eine
+ehrlose Gesinnung überhaupt zugetraut, das war die eigentliche
+Beleidigung, das war die Schmach, die nur mit Blut abgewaschen werden
+konnte. Die Worte, die Handlungen, die aus dieser abscheulichen
+Unterstellung erwachsen waren, die waren schließlich nichts anderes als
+der zufällige Ausdruck für einen Verdacht, der auch ohne Wort und Schlag
+ins Herz der Ehre traf.
+
+Nein, es gab keinen anderen Ausweg -- und so würde man morgen früh
+aufeinander losknallen »bis zur Kampfunfähigkeit«.
+
+Und nun kamen die Gedanken an daheim. An Eltern und Geschwister -- nein,
+das ging ja doch nicht, einen solchen Gang zu tun, ohne sich vorher von
+den liebsten Menschen verabschiedet zu haben. Wenn er nun fiel -- wie
+sollten sie diese wirre, dunkle Geschichte verstehen? Sie würden doch
+nachforschen, würden wissen wollen, was denn eigentlich geschehen war,
+wie es hatte so weit kommen können -- und dann war's zu spät. Dann war
+sein Mund, der allein Licht in die Wirrnis hätte bringen können,
+verstummt. Sein Tod würde den Lieben ein düsteres, grauenhaftes Rätsel
+bleiben.
+
+Also das geht nicht. Hans wird aufstehen und einen langen, langen Brief
+an die Geliebten daheim schreiben. Ihnen alles erzählen, ohne
+Verschweigen, auch das Glück -- die landläufige Moral nannte es ja wohl
+ein sündiges Glück --, das er in Asta Thönys Armen genossen, auch die
+verworrenen Dränge, die ihn zu Jucunda getrieben. Alles, alles wird er
+berichten, und so wird wenigstens Klarheit liegen über seinem
+schauerlichen Ende ...
+
+Ob sie ihn verstehen werden daheim? Mein Himmel, der Vater ist doch auch
+einmal jung gewesen ...
+
+Und in Gedanken entwarf Hans Thumser den Wortlaut seiner Beichte. Immer
+eindringlicher, immer inbrünstiger vertiefte er die Schilderung seines
+Seelenzustandes, immer heißer und drängender formte er seine Bitte um
+Verständnis, um Vergebung, um ein Gedenken ohne Groll. Und über all dem
+Sinnen und Grübeln war er plötzlich versunken und verschwunden und
+wachte erst wieder auf, als Volkner ihn wach rüttelte, und die
+schlampige Alte, die sie beide gestern abend angeserenadet, in
+Nachthaube und Nachtjacke, grimmigen Gesichts und knurrenden Mundes den
+Kaffee auf den Tisch setzte.
+
+Nun war's zu spät, nach Hause zu schreiben. Nun blieb's doch bei
+Volkners Theorie.
+
+Die trockenen Semmeln von gestern wollten nicht in die Kehle, der
+glühheiße Bliemchenkaffee blieb fast unberührt. Ein Glück, daß Volkner
+mit ein paar Tafeln Schokolade und einem besseren Schnaps versehen war.
+
+Geschäftig bediente er den Korpsbruder, wie man um einen Kranken, um
+einen Sterbenden sich müht. Und dabei fühlte Hans Thumser ganz deutlich,
+daß der andere sich im tiefsten Innern höchst mollig fühlte bei dem
+Gedanken: Gott sei Dank, daß ich selber nicht derjenige welcher bin!
+
+Um Punkt halb sechs knallte drunten die Peitsche des Kutschers. Die
+jungen Männer machten sich bereit.
+
+Im Schauer des dämmrigen Morgens fuhr Hans Thumser fröstelnd zusammen,
+als sie vor die Tür traten, als sein Blick auf die eingeschnurrte
+Gestalt des Korpsdieners fiel, der übernächtig auf dem Bock neben dem
+Kutscher hockte und auf den Knien einen schmalen, schwarzpolierten
+Kasten trug ...
+
+Nebeldurchdunstet lagen die Straßen. Das Weiß des frischen Schnees war
+längst in ein kotiges Braun verwandelt, das der Frost der jüngsten Nacht
+mit tausend Rauhreifkristallen überzogen hatte. Ringsum erwachte das
+Leben der großen, fleißigen Stadt der Arbeit.
+
+Den Rockkragen hochgeschlagen, dampfenden Atems schritten die Männer,
+huschten die Frauen einher, jeder an sein Geschäft. Schwarz und finster
+reckten sich die Fronten der alten Straßen, deren Häuser sich im Laufe
+der Jahrhunderte aus eleganten Wohnpalästen in dumpfe, mit Affichen
+überladene Geschäftshäuser verwandelt hatten.
+
+Aber die Nebel sanken, von Osten wuchs die junge Tageshelle. Erste,
+schüchterne Sonnenstrahlen spielten droben um die Giebeldächer, ein Tag
+voll winterlicher Herrlichkeit flammte herauf.
+
+Nun wurden die Anlagen durchquert. Weißleuchtend zackte sich das Gewirr
+der umreiften Aeste ins junge Blau.
+
+Ivo Volkner aber und Hans Thumser studierten eifrig den
+S. C.-Pistolen-Komment, der in einem handschriftlichen Exemplar auf
+ihren Knien lag, und zündeten eine Zigarette an der anderen an.
+
+Ganz kühl und geschäftsmäßig sprachen sie immer und immer wieder den
+vorgeschriebenen Gang der Mensur durch, um später auch nicht den
+leisesten Schnitzer zu begehen.
+
+Endlich aber hielt es Hans Thumser nicht mehr aus. Er schob das
+schwarzgebundene Heft zurück, riß das frostbeschlagene Wagenfenster auf,
+atmete in tiefen Zügen die Morgenfrische und sog mit brennenden Augen
+das Bild der Morgenwelt in sich hinein.
+
+Und eine wilde Sehnsucht kam über ihn -- Sehnsucht nach all dem
+Unsagbaren, das von da draußen in seine Seele hineinflutete, nach all
+dem unendlich Schönen des Lebens, das er doch kaum mit erstem Erwachen
+des Begreifens gegrüßt ... und das doch schon tausend Vorahnungen
+künftiger Glücksmöglichkeiten in ihm geweckt hatte. Ach,
+Glücks=möglichkeiten=?! Nein, er =war= ja schon glücklich gewesen!
+
+Asta Thöny! klagte es in seiner Seele. Gott! so undankbar konnte man
+sein? An sie hatte er noch gar nicht gedacht ... Daß er von ihr sich
+verabschieden mußte, das war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen ...
+Und doch -- wieviel hatte sie ihm geschenkt! Wie unsäglich gut war sie
+zu ihm gewesen, und er ... er hatte sie achtlos beiseite geschoben. Und
+das letzte, das er von ihr gesehen, waren bittere Tränen gewesen.
+
+Zu spät ... Nun mußte das Schicksal seinen Gang gehen. Nun blieb nur
+noch eins: der Feindeskugel die Brust zu bieten und die Stirn dem
+wahllosen Walten des Geschicks.
+
+Und doch, wie schön die Welt! Wie reich, was sich barg hinter den weißen
+Nebelschwaden, die das Kommende verhüllten. Wie selig selbst dieser
+Augenblick ahnungsvollen Grauens ...
+
+Und Hans Thumsers Seele fühlte sich leben in diesem Augenblick. Leben,
+wie sie nie zuvor gelebt ... In langen, schmerzvollen Zügen trank sie
+das Glück des Augenblicks hinein. Das Glück, noch da zu sein, noch ein
+paar schmerzvoll süße Minuten lang die tiefe Wonne des Daseins atmen zu
+dürfen.
+
+
+In einem billigen Zimmer des Hotel de Russie -- dritter Stock nach
+hinten hinaus -- hatte Valentin Pilgram sich einquartiert und die halbe
+Nacht mit Briefeschreiben zugebracht. Erst nach Mitternacht hatte er
+sich aufs Bett gestreckt und ein paar Stunden hingedämmert ...
+
+Nun marschierte er auf dem Reitweg, der erst rechts, dann links der
+»Neuen Linie« durch das Streitholz führte, dem Kampfplatz entgegen, ein
+einsamer Wanderer ...
+
+Er hatte sich nicht entschließen können, die letzten Augenblicke in
+Gesellschaft seines ihm tief unsympathischen Sekundanten Borgmann
+zuzubringen, mit dem er zweimal die Klinge und noch viel öfter in
+hitzigen Debatten des S. C. das Schwert des Wortes gekreuzt.
+
+Um nicht mit dem Wagen zusammenzutreffen, war er vom Fahrdamm abgebogen,
+auf den Reitweg hinüber, auf dem um diese Morgenstunde noch keine
+Begegnung zu befürchten war. Er sah nicht die Pracht des jungen Tages,
+fühlte nicht die Schönheit des Daseins, die ringsum tausend Wunder
+winterlicher Herrlichkeit erblühen ließ. Er fühlte nichts als seinen Haß
+-- sah nichts als die Gestalt des Gegners, wie sie nun gleich vor ihm
+stehen würde, ein sicheres Ziel dem stählernen Druck seiner Hand, dem
+unbeirrbaren Blick seines Auges.
+
+Da ließ ein Geräusch ihn aufschauen, ein Geräusch, das rasch sich
+näherte. Pferdegetrappel war's, gedämpft durch den Schnee -- nur wenn
+die Hufe ab und an gegen die harte Eiskruste stießen, die den Boden
+überzog, dann gab's einen klirrenden Ton. Der hatte ihn geweckt.
+
+Da vorne, in den silbernen Nebeln, die noch über der Pleißeniederung
+lagerten, tauchten, schattenhaft abgehoben vom umgoldeten Himmel, zwei
+Reitersilhouetten auf: ein Herr und eine Dame. In raschem Trabe näherten
+sich die schnaubenden Gäule.
+
+Valentin Pilgram konnte keines Menschen Blick ertragen in diesem
+Augenblick. Er trat rasch hinter den mächtigen Schaft einer Eiche und
+ließ die Reiter vorüberflitzen. Im letzten Augenblick erkannte er sie:
+es waren Jucunda und der Erbprinz.
+
+Es war ihm, als hätte er einen Stoß vor die Brust erhalten. Er taumelte,
+starrte ein paar Sekunden wie ein Blödsinniger hinter den enteilenden
+Schatten her. Noch klang Jucundas übermütiges Lachen, des Prinzen
+näselnde Stimme in sein Ohr:
+
+»... mal sehen, ob der Generalintendant meines alten Herrn für ein
+Gastspiel in diesem Winter ...«
+
+Das waren die Worte, die er aufgefangen ...
+
+Ha ha! -- ha ha ha ha ha --!! Das also war das Ende! Darauf lief es
+hinaus!
+
+Während er zum Todesgange schritt mit jenem andern, der ihm der
+Glückliche gewesen war bis zu diesem Augenblick ... In derselben
+Stunde ... pfui Deubel! pfui Deubel!
+
+In dumpfer Betäubung trottete er weiter.
+
+Wo war der blindwütende Haß, der ihm den Nacken gestählt, die Sehnen
+gestrafft? Verweht -- verflattert, wie die weißen Nebelschwaden um die
+rauhreifumsilberten Kronen der Bäume zerwehten.
+
+Und plötzlich ward er sich des grausamen Wahnsinns bewußt, der in all
+den Geschehnissen lag, die er selbst ins Rollen gebracht, und die nun
+abschwirrten, wie ein gräßlich zermalmender Mechanismus, unhemmbar,
+unwiderstehlich.
+
+Da blinkte schon der Lauf der Pleiße ... da vorn tauchte aus den
+Morgendünsten der Umriß eines Wagens auf, der sich im Schritt gen Süden
+bewegte, und hinter ihm klang das Rollen eines zweiten Wagens.
+
+Er beschleunigte den Gang, er mochte sich nicht überholen lassen, weder
+von seinem Sekundanten noch von der ... andern Partei.
+
+Nun hatte er die »Linie« erreicht, verfolgte sie einige hundert Schritte
+weit gen Osten ... und sieh, da öffnete sich rechts eine weite Lichtung:
+die Heiderwiese ...
+
+Am Wegekreuz hielt der Wagen, der vor ihm gefahren war. Er sah, wie drei
+männliche Gestalten ihm entstiegen und durch den Schnee ins Innere der
+Lichtung hinein wateten. Das waren die andern: Hans Thumser, Volkner,
+der Korpsdiener.
+
+Valentin Pilgram blieb am Chausseerand stehen und wartete auf seinen
+Sekundanten. Nach wenigen Minuten war der Wagen heran. Ihm entstiegen
+Herr Borgmann im grellkarierten Winterpaletot, sehr zeremoniös,
+platzend vor Feierlichkeit, und Graf Schmettow, der Meißner-Senior, der
+als Unparteiischer zu fungieren hatte, verkatert, die Scherbe im Auge.
+Und ferner der alte Sanitätsrat Dr. Collwitz, der sich als zweiten
+Paukarzt einen seiner Assistenten mitgebracht hatte. Einen jüngeren,
+bebrillten Herrn mit langflutendem blonden Vollbart. Dieser wurde als
+Doktor Köllicker vorgestellt.
+
+Pilgram dankte den Aerzten für ihr Erscheinen, die üblichen Redensarten
+wurden getauscht in gezwungen nachlässigem Tone, den der Ernst der
+Stunde mit frostigem Schauer durchzitterte. Dann stapften die Herren der
+Gegenpartei nach gen Süden.
+
+Hinter ihnen schritt der Korpsdiener der Neo-Borussia, er trug einen mit
+gelben Messingknöpfen benagelten Koffer, der Instrumente und Materialien
+für die Aerzte enthalten mochte.
+
+Valentin Pilgrams Blicke suchten den Gegner und erkannten die schlanke,
+geschmeidige Gestalt. Aber wohin war der Haß geschwunden, der ihn durch
+Wochen gemartert, wenn er Hans Thumsers bloß gedachte?! Er sah nur noch
+den Freund, den Korpsbruder aus drei Semestern.
+
+Thumser hatte seinen Paletot abgelegt und stand mit offenem Jackett,
+über der Weste blitzte das grün-gold-rote Band.
+
+Und dahin sollte man nun zielen, dahin das Todesblei entsenden?!
+
+Und doch, es gab kein Zurück ... Und ob er wollte oder nicht, die
+grausame Farce mußte nun mit Anstand zu Ende gespielt werden ...
+
+Und rasch und vorschriftsmäßig wickelte sich nun der Gang der Dinge ab.
+In genauestem Anschluß an den Wortlaut des Komments wurden nun die
+Plätze bestimmt, so daß das Licht gleichmäßig verteilt war; wurden die
+Waffen geladen, die Duellanten instruiert. Der Unparteiische schritt
+selber mit Riesensätzen seiner langen Storchbeine die Barriere ab und
+bezeichnete sie durch zwei niedergelegte Spazierstöcke, hüben und
+drüben. Noch zehn Schritt weiter jenseits wurden durch Kreuze, die in
+den Schnee geritzt wurden, die Plätze für die Duellanten festgelegt, die
+sonach durch fünfunddreißig reichlich bemessene Schritte voneinander
+getrennt waren.
+
+Zuletzt nahmen die Sekundanten ihren Fechtern noch Brieftasche, Uhr und
+Geldbörse ab und geleiteten sie dann zu ihrem Platze. Dort übergaben sie
+ihnen die Waffen und traten dann jeder zwanzig Schritt zur Seite.
+
+Der Unparteiische nahm seinen Stand zwanzig Schritte seitwärts von der
+Mitte der Schußlinie.
+
+»Meine Herren!« sprach er mit schallender Stimme, »ich wiederhole noch
+einmal: ich zähle bis vier. Wenn ich eins! gezählt habe, dürfen Sie
+avancieren bis an die Barriere, bis vier müssen Sie abgeschossen haben.
+Herr Thumser, als der Beleidigte, hat den ersten Schuß. -- Bin ich
+verstanden?«
+
+Mit stummem Nicken antworteten die Gegner.
+
+Hochaufgerichtet stand Hans Thumser und sah übers schneeblinkende Feld.
+Endlos schien ihm die Entfernung, die ihn von dem Feinde trennte. Aber
+er wußte, daß sie sich rasch verringern würde, zusammenschrumpfen zu
+einem schrecklichen Aug' in Auge ...
+
+Ein jähes Frösteln rann durch seine Gestalt, kaum konnte er das Klappern
+seiner Zähne bemeistern, kaum den Hahn der Pistole spannen ... Und nun
+noch ein Blick in die goldige Morgenwelt hinaus. Ein Blick in die
+Zukunft, die vor ihm versinken wollte wie der Tau einer Nacht. Und da
+überfiel ihn eine jähe, ingrimmige Wut auf den, der ihm das alles rauben
+wollte. Nein, sich wehren ... sich wehren bis zum letzten Atemzug! Ins
+Herz den Gegner treffen -- ins Herz! Wenn einer fallen soll, gut, so
+sei's der andere!!
+
+»Eins!« scholl da schneidend scharf das Kommando des Unparteiischen.
+
+Und nun war alles versunken, alles bis auf die hagere, starr
+emporgereckte Gestalt da drüben, die einst geliebte, nun bis in den Tod
+gehaßte ...
+
+Wie fern sie war, wie klein ... und nun, nun kam sie heran, nun wuchs
+sie ... wuchs und wuchs ... und nun blieb sie stehen ... bot sich zum
+Ziel ...
+
+Da raffte auch Hans Thumser sich zusammen. Mit hastigen Schritten schoß
+er vorwärts, bis seine Fußspitzen den Spazierstock berührten, der die
+Barriere bezeichnete.
+
+»Zwei!« klang des Unparteiischen Stimme.
+
+Hans Thumser hob die Waffe bis in die Augenhöhe, zielte auf des Gegners
+Brust, sah ganz deutlich, wie über dem Visier die breiten Schultern
+standen, das fahle Gesicht.
+
+»Drei!«
+
+Da drückte er los ...
+
+Er sah den Gegner wanken, sah, wie die Rechte, welche bisher die Waffe
+gesenkt gehalten, eine rasche, zuckende Bewegung nach der linken
+Schulter machte. Dann aber fand der Taumelnde Halt, hob nun ebenfalls
+den Lauf, aber hoch bis über die Stirn, und schoß -- schoß hoch in die
+Luft ...
+
+»Vier!« klang das Kommando des Unparteiischen.
+
+In diesem Augenblick ließ Valentin Pilgram die Pistole fallen und griff
+mit der Rechten krampfhaft in das linke Schultergelenk hinein.
+
+Doktor Köllicker sprang zu, riß Pilgrams Rock auf, das weiße Hemd wies
+Blutflecken, er zertrennte es mit raschem Zerren, untersuchte das
+verletzte Gelenk. Dann winkte er dem Sanitätsrat, der hinzutrat.
+
+Auch Borgmann, der Sekundant, und Graf Schmettow eilten zu dem
+Verwundeten heran.
+
+Der lächelte mit schmerzverzerrtem Munde. »Viel scheint's nicht zu sein,
+meine Herren. Von mir aus kann's weiter gehen!«
+
+Aber der linke Arm hing kraftlos herunter, ein Versuch, ihn zu bewegen,
+mißlang.
+
+Die Herren steckten in flüsternder Beratung die Köpfe zusammen. Die
+Forderung lautete bis zur Kampfunfähigkeit ... und die lag wohl nicht
+vor, obwohl das Schultergelenk schwer verletzt schien.
+
+Hans Thumser trug's nicht länger. Der andere hatte, obwohl getroffen,
+seinen Schuß verloren gegeben. Was konnte das bedeuten? Doch nur dies
+eine: die Erkenntnis begangenen Unrechts.
+
+Hans winkte seinen Sekundanten heran.
+
+»Ich kann nicht mehr, Volkner -- geh und biete Satisfaktion an ...«
+
+In derselben Sekunde scholl auf der Chaussee ein hastiges Hufegeklacker,
+und eine atemlose Männerstimme keuchte:
+
+»Halt! Im Namen des Gesetzes: halt, meine Herren!«
+
+Zwischen den Büschen des Wiesenrandes tauchte ein goldblinkender Helm
+auf, ein grüner Waffenrock, der braune Bug eines Pferdes, in rasendem
+Galopp gestreckt. Fünf Minuten später preschte der Reiter an der Gruppe
+der Herren vorüber, die sich um den Verwundeten zusammengeballt hatten,
+warf den Gaul herum, versuchte den Flankenzitternden, Schäumenden zum
+Stehen zu bringen.
+
+Hans Thumser hielt sich nicht länger. In langen Sätzen übersprang er die
+fünfzehn Schritt, die ihn von dem Verwundeten trennten, streckte ihm die
+Hand hin:
+
+»Komm, Pilgram -- das geht ja doch nicht mehr!«
+
+Die Herren, die den Verwundeten umdrängten, hatten ihm Platz gemacht.
+
+Aug' in Aug' standen die einstigen Freunde einander gegenüber, tauschten
+einen Blick, in dem mehr als Versöhnung lag ... Genesungsglück
+schimmerte darin, neue Hoffnung, neues Leben ...
+
+Mit der heilen Rechten schlug Valentin Pilgram in Hans Thumsers Hand
+ein ... und auf einmal lagen die Jünglinge sich in den Armen.
+
+Da klangen wiederum Hufschläge auf der Chaussee. Und sieh, ein Wagen
+hielt am Wiesenrand, ihm entstiegen zwei Herren und eine Dame, die mit
+hastigen Schritten über den schneebedeckten Wiesengrund herankamen.
+
+Nun löste sich aus der Gruppe der drei die hagere Gestalt eines alten
+Herrn in Gehpelz und Zylinder los, der mit langen Sätzen über die
+klirrenden Schollen voranstelzte. Immer hastiger ward sein Gang ... ward
+zum Lauf ...
+
+»Donnerwetter!« schrie da Volkner plötzlich, »sieh doch nur, Pilgram --
+Dein alter Herr!«
+
+Die Aerzte hatten sich ins Mittel gelegt und die Umarmung der
+wiedergefundenen Freunde getrennt, um sich ihres Patienten zu
+bemächtigen und die verletzte Schulter genauer zu untersuchen.
+
+Nun hob Valentin Pilgram den Kopf, alles wich zurück, so daß die Gruppe
+der Herankommenden frei wurde -- und Pilgram erkannte seinen Vater ...
+
+Schon war der Präsident heran, ergriff mit beiden Händen die Rechte des
+Sohnes, die sich ihm entgegenstreckte. Mit zuckenden Augen, mit
+zuckenden Lippen standen Vater und Sohn einander gegenüber.
+
+»Ihr verfluchten Bengels!« sagte der alte Herr, »was macht Ihr für
+Geschichten?«
+
+»Etwas zu spät bist Du doch gekommen, lieber Papa -- Du siehst, der Fall
+ist bereits erledigt!«
+
+»Ich wollt's Euch auch geraten haben! Schlimm genug, daß es so weit
+gekommen ist! Na, was hat's denn abgesetzt?«
+
+»Ach, nicht der Rede wert,« lachte der Junge und zwang den grimmigen
+Schmerz nieder, der von dem verletzten Gelenk aus durch den ganzen
+Oberkörper fraß.
+
+»Nun, und Du wunderst Dich gar nicht, daß ich hier bin?!«
+
+Valentins Blicke hatten die Gestalt des jungen Weibes erkannt, das nun
+herankam in Begleitung eines dicken Herrn. An diesen ritt der Gendarm
+heran und machte ihm in dienstlicher Haltung eine Meldung, während das
+Mädchen mit glühenden Backen und strahlenden Augen nähertrat, um dann
+ein paar Schritt vor den Herren plötzlich tiefbefangen stehen zu
+bleiben.
+
+»Die da, nicht wahr?« fragte Valentin den Vater.
+
+»Jawohl, die da ... zum Dank für ... vorgestern!«
+
+»Ach, ich glaube, es war ihr weniger um mich zu tun ...« sagte Valentin
+Pilgram und suchte das Auge des wiedergefundenen Freundes.
+
+Aber der hatte keinen Blick für ihn. In tiefer Erschütterung, regungslos
+starrte er zu der hellen Gestalt hinüber, die über die weißen Schollen
+herangeschwebt kam wie ein Frühlingshauch. Als sie nun aber stehen
+blieb, da sprang er ihr entgegen, die Hände weit ausgestreckt. Da hob
+auch sie ihm die Hände entgegen, und er ergriff sie und drückte sein
+glühendes Gesicht hinein.
+
+
+Erbprinz Heribert hatte nach seiner Rückkehr vom Morgenritt wie
+gewöhnlich von neun bis zwölf das Kolleg besucht und war dann in seine
+Wohnung im Hotel Hauffe zurückgekehrt, um mit Major von Gorczynski zu
+frühstücken.
+
+»Nun, Durchlaucht, wie war's?« Der Major hob das Portweinglas.
+
+»Danke, ganz nett.«
+
+»Nur ganz nett?!«
+
+»Ach, wissen Sie, lieber Gorczynski, ich glaube, das ist eine von den
+ganz Gerissenen ... die sichert sich =vorher= -- verstehen Sie?«
+
+Der aufwartende Lakai brachte auf silbernem Brett eine Besuchskarte. Der
+Prinz las:
+
+ =Pilgram=
+ Senatspräsident am Königlichen Oberlandesgericht
+ Dresden.
+
+»Haben Sie gesagt, daß wir beim Frühstück sind?«
+
+»Zu Befehl, Durchlaucht, aber der Herr bittet dringend um eine
+Unterredung.«
+
+»Schön -- ins Empfangszimmer.«
+
+Als der Bediente verschwunden war, reichte der Erbprinz seinem Erzieher
+die Karte hinüber.
+
+»Vermutlich der Vater meines ... äh ... meines Kollegen!«
+
+»Kollegen?! Wieso?«
+
+»Na, weil der auch auf die Buchner reingefallen ist. Kommen Sie mit,
+lieber Gorczynski -- für alle Fälle.«
+
+Hoch aufgerichtet, die Ordensrosette im Knopfloch seines Ueberrocks,
+erwartete der alte Herr den jungen Fürsten. Des Umgangs mit
+hochgestellten Persönlichkeiten gewohnt und seiner guten Sache sicher,
+neigte er sich mit gemessenem Selbstbewußtsein.
+
+»Sehr erfreut -- Herr Präsident, was verschafft mir die Ehre? Darf ich
+bekannt machen? Herr Major von Gorczynski -- Herr Präsident Pilgram. --
+Stört Sie die Gegenwart meines Begleiters, Herr Präsident?«
+
+»Ich bitte, Durchlaucht.«
+
+»Bitte Platz zu nehmen, meine Herren.«
+
+»Durchlaucht, ich komme im Interesse meines Sohnes Valentin, den Sie
+kennen!«
+
+»Ich habe die Freude.«
+
+»Durchlaucht wissen, daß mein Sohn aus dem Korps Franconia ausgetreten
+ist, um Ihnen gegenüber für eine Dame eintreten zu können, von der er
+annahm, daß Sie, Durchlaucht, ihr -- --«
+
+»Hm ...« machte der Erbprinz, »ich weiß.«
+
+»Durchlaucht haben die Güte gehabt, diese Angelegenheit in ritterlicher
+Weise beizulegen. Trotzdem hat das Korps Franconia aus Rücksicht auf
+Durchlaucht davon Abstand genommen, meinen Sohn in die Reihen seiner
+Mitglieder wieder aufzunehmen.«
+
+»Allerdings ...« sagte der Erbprinz. »Das habe ich mir wohl so gedacht
+-- aber wenn ich mir eine Zwischenbemerkung erlauben darf, Herr
+Präsident: die Geschichte war mir höchst fatal ... und ich habe mich
+seitdem vom Verkehr bei dem Korps fast völlig zurückgezogen ... Es war
+mir kolossal peinlich ... verstehen Sie, Herr Präsident?«
+
+»Ich begreife sehr wohl,« sagte der Präsident ruhig. »Die jungen Herren
+haben wohl eine zu geringe Meinung von Euer Durchlaucht wohlwollendem
+Verständnis für die korpsstudentische Auffassung gehabt, sonst hätte
+sich doch wohl ein Ausweg finden lassen, um meinem Sohn die
+wohlverdiente Ehre der Zugehörigkeit zu dem Korps -- zu dessen Alten
+Herren ich, beiläufig bemerkt, auch selber zähle -- wiederum zu
+verschaffen. Oder täusche ich mich, Durchlaucht?«
+
+»Ne, ne, mein verehrter Herr Präsident. Sie haben in der Tat vollkommen
+recht ... Wenn's nach mir gegangen wäre ... aber man hat mich ja gar
+nicht gefragt. Mir für meine Person wär's ja doch zehnmal angenehmer
+gewesen, wäre die ganze Geschichte diskret behandelt worden. Aber man
+hatte ja die Sache dermaßen übers Knie gebrochen ... ich stand vor einem
+_fait accompli_ ... und da hielt ich's für das beste, mich um gar nichts
+mehr zu bekümmern. Das werden Sie begreifen, nicht wahr, Herr
+Präsident?«
+
+»Ich begreife vollkommen, Durchlaucht. Ich sehe aber auch, daß ich mich
+in meinen Vermutungen über Eurer Durchlaucht Ansichten von der Sache in
+keiner Weise getäuscht habe: und darum komme ich jetzt mit der formellen
+Bitte, die der Zweck meines Besuches ist: wollen Durchlaucht die große
+Güte haben, durch meinen Mund dem Korps Franconia mitteilen zu lassen,
+daß einer Rückgabe des Bandes an meinen Sohn Ihrerseits nichts im Wege
+steht?«
+
+»Aber mit dem größten Vergnügen, Herr Präsident! Ich bin ja höchst
+erfreut, daß die fatale Geschichte endgültig aus der Welt kommt ...«
+
+»Ich danke ehrerbietigst für diese Gnade, Durchlaucht. Ich glaube, sie
+ist an keinen Unwürdigen verschwendet! Da Sie nun aber in so überaus
+verständnisvoller Weise meinem Vorschlage entgegengekommen sind, so darf
+ich wohl auch noch eine andere Begebenheit erzählen, die mit der
+besprochenen nicht ganz ohne Zusammenhang ist, und die glücklicherweise
+ebenfalls eine Wendung zum Besseren genommen hat?«
+
+Und nun erzählte der Präsident in knappen Worten von dem Renkontre der
+beiden einstigen Korpsbrüder und seinem blutigen Austrag. Die Motive des
+Zusammenstoßes ließ er unberührt. Er konnte sich wohl vorstellen, daß
+der Erbprinz den Zusammenhang auch so durchschauen würde ... und darin
+hatte er sich nicht getäuscht. Als er geschlossen hatte, erhob sich der
+Erbprinz und streckte seinem Besucher die hagere Hand hin:
+
+»Ich danke Ihnen, Herr Präsident, Ihre Geschichte soll mir eine Lehre
+sein ... gewisse Leute sind anscheinend ... äh ... mit Vorsicht zu
+genießen. Was meinen Sie, lieber Gorczynski? Na, ich werde mir's
+merken!«
+
+»Gestatten Durchlaucht nochmals meinen ehrerbietigsten Dank.«
+
+»Aber ich bitte, mein verehrter Herr Präsident -- nur ich habe zu
+danken, nur ich ... Sie haben mir einen größeren Dienst geleistet,
+als Sie vielleicht ahnen. Grüßen Sie Ihren Sohn, oder noch besser:
+sagen Sie ihm, ich hoffe heute abend auf der Frankenkneipe mit ihm auf
+gute Freundschaft anzustoßen ... Doch halt! Vorher müssen wir noch
+einmal ins Theater ... Nicht wahr, lieber Major? Heut ist ja die
+Abschiedsvorstellung der Meininger, das dürfen wir uns doch nicht
+entgehen lassen ... Aber nachher, nicht wahr, Herr Präsident, dann
+treffen wir uns im Cafébaum!«
+
+»Ich hatte gleichfalls vor, das Theater zu besuchen, Durchlaucht, wenn
+ich mir die Bemerkung gestatten darf -- und zwar mit meinem Sohn und
+unserm Korpsbruder Thumser. Die Verletzung meines Sohnes ist ja freilich
+nicht ganz unbedeutend: das linke Oberarmbein ist in Höhe des unteren
+Ansatzes des Oberarmkopfes getroffen, die Kugel ist im Knochen stecken
+geblieben, konnte aber mit Leichtigkeit entfernt werden.«
+
+»Sehr erfreulich zu hören, Herr Präsident. Also auf Wiedersehen heut
+abend, nicht wahr?«
+
+
+Um zwölfeinhalb Uhr fuhr der alte Pilgram am Cafébaum vor, stieg die
+Stufen zur Frankenkneipe hinan und wurde vom Korpsdiener in das
+Konventszimmer geführt, wo Franconias Korpsburschen bereits zum C. C.
+versammelt waren.
+
+Ehrerbietig begrüßte die Schar der Studiosen den Alten Herrn, der sofort
+beim Eintreten eine grüne Mütze, die der Korpsdiener ihm dargereicht,
+auf seinen grauen Schädel gestülpt hatte.
+
+Volkner bat Platz zu nehmen und eröffnete den C. C. Er erteilte dem
+Alten Herrn Pilgram das Wort. Dieser berichtete über seinen Besuch bei
+dem Prinzen und entledigte sich seiner Mission.
+
+Mit strahlenden Gesichtern vernahmen die Korpsburschen die frohe
+Botschaft.
+
+Unmittelbar, nachdem der Alte Herr geendigt, sprach der Senior:
+
+»Ich stelle den Antrag, dem früheren C. B. Pilgram, gewesenen Zweiten,
+Ersten, Ersten das Band zurückzugeben. Wünscht jemand zu dem Antrage das
+Wort?«
+
+Alles schüttelte den Kopf, aus jedem Auge strahlte helles Glück. Hans
+Thumser aber schämte sich nicht, daß ihm zwei Tränen über die frischen
+Wangen rollten. Unfähig jeden Wortes, reichte er dem Präsidenten über
+den Tisch hinüber die Hand.
+
+
+Und nun saßen sie im Carolatheater, auf einer der vordersten
+Parkettreihen. Präsident Pilgram inmitten der beiden jungen Gesellen,
+zur Rechten sein Sohn: er trug den linken Arm in der schwarzen Binde,
+fest im Gipsverband verschient, den Rock nur lose über die linke Achsel
+gehängt, den Aermel leer. Ueber die rechte Schulter aber, über die Weste
+und die schwarze Binde zog sich das grün-gold-rote Band.
+
+Hans Thumser saß zur Linken. Ueber den alten Herrn hinweg aber schauten
+die Freunde sich immer und immer wieder in die Augen. Sie fühlten: so
+hatten sie sich noch nie gehört, so sich noch nie geliebt. Und diese
+Liebe, die würde nun bleiben fürs ganze Leben ...
+
+Oft aber flogen ihre Blicke auch nach der zweiten Proszeniumsloge des
+Parketts vorn rechts hinüber. Da saß der Erbprinz, die Scherbe im fahlen
+Gesicht, und hinter ihm verschwanden die groben Züge, der wehende
+Schnurrbart des Majors im Dämmer des Logenhintergrundes.
+
+Aber auf den blasierten Zügen des jungen Fürsten lag heute ein seltsames
+Leuchten, das noch niemand an ihm gekannt hatte. Und wenn sein Blick den
+Augen des alten und der beiden jungen Franken da unten im Parkett
+begegnete, dann lachte sein ganzes Gesicht so knabenhaft fröhlich, so
+jung und gut, als sei auch er ein x-beliebiges junges Studentlein und
+nicht der Erbe eines deutschen Fürstenthrones.
+
+Ringsum aber drängte sich ganz Leipzig und füllte das Haus bis zum
+letzten Stehplatz droben auf der Galerie. Eine festlich dankbare
+Stimmung lag über der erregten Versammlung.
+
+Fünf Wochen lang war dies Haus ein Tempelhaus gewesen. Fünf Wochen lang
+hatte man hier den höchsten Offenbarungen gelauscht, welche die edelste
+Blüte der zeitgenössischen Bühnenkunst geschaffen hatte im Bunde mit den
+erhabensten Genietaten der großen Szenenbeherrscher des Dramas der
+Weltliteratur. Und nun wollte man am letzten Tage noch einmal mit voller
+Seele, mit allen Sinnen genießen, wollte in sich aufnehmen die
+gigantischste Schöpfung der deutschen Tragödie: »Wallensteins Tod«.
+
+Das Spiel begann.
+
+Inmitten der Bilder seiner Gestirne stand der einsam-stolze Mann, über
+dessen Haupte schon die schwarzen Fledermausschwingen des Verbrechens,
+die Rabenfittiche des Todes rauschen. Am nächtlichen Himmel suchte er
+den Stern seines Lebens, der sich nun so bald verfinstern sollte ... Und
+in raschen, unfehlbaren Schlägen vollzog sich sein Geschick.
+
+Der alte Herr aber da vorn im Parkett und seine beiden jungen Gefährten
+harrten ungeduldig des Augenblicks, da der Vorhang sich zum dritten Akt
+heben und die beiden Mädchengestalten auftauchen würden, die so tiefe
+Furchen in die Herzen, in die Geschicke der jungen Männer gezogen.
+
+Und sieh -- nun erfüllte sich's.
+
+Die Gardine rauschte empor; und es erschloß sich ein dunkler wuchtiger
+Saal mit Kamin, Gobelins, gepolsterten Bänken an den Wänden. Nach hinten
+stieg eine Treppe empor, im Bogen geschweift aus massivem,
+dunkelgebeiztem Eichenholz mit schwerem Renaissance-Geländer. Sie führte
+zu einer langen Galerie, die gegen die Bühne zu von einem riesigen, aus
+zahllosen kleinen Scheiben bestehenden Glasfenster abgeschlossen war.
+
+Und wie verloren in dem weiten, angstdurchschauerten Raum saßen vorn
+rechts auf der Bank zwei Frauengestalten mit weiblichen Arbeiten
+beschäftigt, während eine dritte oben auf der Galerie stand und aus den
+Fenstern nach drunten spähte -- Wallensteins Schwägerin, die Schwester
+seiner Seele ...
+
+Die zwei da unten aber -- die beiden jungen Franken, die kannten sie.
+
+Scheu und wesenlos wie ein gutes, dienstbares Geistlein hockte Asta
+Thöny als Fräulein von Neubrunn neben der jungen, schönheitsstrahlenden
+Herrin.
+
+Die aber saß weiß und blaß, den adligen Kopf in schmerzvoller Starrheit
+zurückgelehnt an die braune Täfelung.
+
+Sie war die Schönheit, die versinken muß unterm erbarmungslosen Schritt
+des Schicksals, sie war die Tugend, die zermalmt wird von den geifernden
+Kinnbacken des Verbrechens, sie war die leuchtende Seele des
+gigantischen Gedichts, sie war ... das Ideal ...
+
+Und alles vollendete sich nun.
+
+Mit unerhörter Wucht stampfte das Fatum daher und ließ den Lügenbau der
+friedländischen Größe zusammenkrachen. Blatt um Blatt sank hernieder von
+dem ragenden Baum, bis er einsam stand, entlaubt, doch herrlich in
+seinem starren Trotz.
+
+Und nun kam jene gewaltigste aller Szenen, die Valentin Pilgram und Hans
+Thumser als Pappenheimer Kürassiere mitprobiert hatten, und der sie nun
+als Zuschauer nur lauschen durften, wie damals, als Hans, ein scheuer
+Primaner, sie zum erstenmal erschaut, dahinten, weit in der Heimat -- im
+Barmer Stadttheater, auf dem Eckplatz des zweiten Ranges.
+
+Zwischen den zwei eisengeharnischten Männern, dem fürstlichen Vater
+rechts, dem ritterlich prangenden Geliebten links stand das
+unglückselige, geopferte Mädchen. Vor die grausame Pflicht gestellt, zu
+wählen zwischen Gehorsam und Liebe.
+
+Und sie wählte den Gehorsam ... Mit den unschuldig reinen Händen riß sie
+die Liebe aus ihrem Herzen und stieß sie von hinnen ... in den
+unerbittlichen Schlachtentod ...
+
+War das Jucunda Buchner? War's das junge Ding von achtzehn Jahren, mit
+dem die zwei schlanken Burschen da unten an einem Tisch gesessen, in
+einer Stube? Um derentwillen sie heut morgen in der Frühe des
+leuchtenden Wintertages einander mit der Pistole in der Hand gegenüber
+gestanden hatten, während sie mit einem gefürsteten Knaben über Feld
+ritt, nur von dem einen Gedanken erfüllt, ein Gastspiel am Hoftheater in
+Nassau-Dillingen für den nächsten Winter herauszuschlagen?
+
+Nein, sie war es nicht. Ihre sterbliche Hülle war's! Und doch auch die
+nicht mehr. Auch die verwandelt, erhöht, durchleuchtet, durchseelt von
+der geheimnisvollen Flamme, die tief drinnen in ihr loderte,
+unerklärlich, unbegreifbar ... der heiligen Flamme, die, solange sie
+loderte, alles überstrahlte, alles verzehrte, alles verklärte, was
+irdisch, was menschlich, was gewöhnlich, was häßlich war an ihr ...
+
+Horch, schon brandete von draußen der Schwall der Pappenheimer heran ...
+Schon klang die wilde Feuerweise des Reitermarsches, der zu Kampf und
+Tode lud ...
+
+Und nun -- nun tobte der rasselnde Schwall die Stiegen hinauf, stapfte
+in die Galerie hinein, daß die Scheiben klirrend barsten, strudelte die
+Treppe hinunter, überschwemmte in immer erneuten Güssen blinkender Wogen
+die ganze Bühne ... entblößte Schwerter, haßflammende Blicke ...
+
+Und inmitten die zwei jungen Menschen, -- neben dem todgeweihten Manne
+das todgeweihte Weib, die weiße, unschuldig leuchtende Gestalt, das tief
+gesenkte, sterbensmatte Haupt.
+
+Und nun, nun ist der grausame Kampf zu Ende gekämpft. Aus dem Arm der
+Geliebten reißt Oberst Max sich los.
+
+ »Bedenket, was Ihr tut. Es ist nicht wohlgetan,
+ Zum Führer den Verzweifelten zu wählen.
+ Ihr reißt mich weg von meinem Glück, wohlan,
+ Der Rachegöttin weih' ich Eure Seelen!
+ Ihr habt gewählt zum eigenen Verderben,
+ Wer mit mir geht, der sei bereit, zu sterben!«
+
+Und mit hochgereckten Armen stürzt er sich hinein in die eisenschäumende
+Woge. Die brüllt hell auf, schäumt gischtend empor, schlingt ihn
+hinunter, reißt ihn von hinnen. Die Treppe hinauf strudelt der gärende
+Schwall -- noch einmal taucht der wehende Helmbusch, der silberne
+Harnisch auf ... versinkt aufs neue in den gleißenden Fluten. In den
+wütenden Jubel der todestrunkenen Schar gellen die wirbelnden, erzenen
+Rhythmen des Reitermarsches ...
+
+Da unten, da vorn, bricht das verlassene Kind vor des starren Vaters
+eisenumschienten Knien zusammen ... es erfüllt sich das tragische Los
+des Schönen auf der Erde ... Das Edle sinkt ... Das Ideal verweht ...
+
+Vorbei ... vorbei ...
+
+Während die Gardine niederrauschte, legte der alte Präsident seine
+beiden Hände um die Schultern der jungen Männer zu seiner Rechten und
+seiner Linken:
+
+»Kinder ... =jetzt= versteh' ich Euch ...!«
+
+
+Am andern Morgen begleitete Hans Thumser seine Asta im Wagen zum
+Bayrischen Bahnhof. Das Leipziger Gastspiel der Meininger war zu Ende --
+weiter rollte der Thespiskarren ... Schon übermorgen abend würde man im
+Gärtnerplatz-Theater in München mit »Jungfrau« eröffnen ...
+
+Auf dem Bock thronte ein riesiger Reisekoffer. Vier Kisten mit Kostümen
+waren schon als Eilgut vorausgegangen.
+
+Drinnen aber im Wagen lachten die zwei und machten die tollsten Witze.
+Das Herz war ihnen gar zu voll und gar zu schwer.
+
+»Asta ...« sagte Hans mit einem Male im tiefsten Ernst, »-- ich bin ein
+dummer, grüner Junge ... und ein Habenichts dazu ... sonst sagte ich zu
+Dir: Laß uns zusammenbleiben ...«
+
+»Du Dummerle!« schalt Asta heftig und gab ihm einen derben Klaps auf die
+Backe -- »Du bist doch wirklich ein riesengroßes Dummerle! So etwas darf
+man nicht einmal denken ... so ein feiner, nobler Junge wie Du ... und
+eine ... eine Landstreicherin wie ich ...«
+
+Aber ihre Lippen zuckten bitter und sehnsüchtig dabei, und in den Augen
+schimmerte es verdächtig ...
+
+»Pfui, Asta! Abscheulich, so von Dir zu sprechen! Von meiner ... meiner
+süßen Asta --!«
+
+»Sag's noch einmal!« bat Asta. »Es klingt so schön ... und ich werd's ja
+doch niemals wieder hören ...«
+
+»Niemals wieder?! So oft Du willst, Süße, so oft Du willst ... und so
+oft ... ich ... kann ...«
+
+»Da hast Du's ja ... Du wirst nicht können, mein armes Dummerle ... und
+ich ... ich werde auch nicht wollen ... Es war so schön ... nun ist's zu
+Ende ... und das ist gut so. Für uns beide ... für mich auch ... Denn
+wenn's noch länger gedauert hätte ... dann ... dann wär ich am Ende doch
+nicht mehr von Dir los gekommen ...«
+
+»Asta ... Asta ... So viel hast Du für mich getan ...«
+
+»Ja siehst Du -- da hast Du wieder so recht mein ganzes Pech: alles,
+was ich für Dich hab' tun wollen, ist beim guten Willen geblieben ...
+Ich hab' Dich glücklich machen wollen ... und Du bist zur Jucunda
+gelaufen ... Ich hab' Dir das Leben retten wollen ... und bin zu spät
+gekommen ... Eh wir dazwischen kamen, hattet Ihr Euch schon vertragen
+... So geht mir's immer -- --«
+
+»Asta ... mein Mädchen ... ich ... ich hab' Dich ja so lieb ...
+so unsagbar lieb ... ich laß Dich nicht fort ... ich ... ich brenne
+durch ... Ich geh' mit nach München ... Ich frage Euren Herrn Burg, ob
+er einen Volontär brauchen kann ... Ich sollte meinen, zu einem
+Komödianten müßt' es doch auch bei mir reichen ...«
+
+Asta tupfte die Augen mit ihrem Spitzentüchelchen, und die zuckenden
+Mundwinkel lachten schon wieder ihr lieblichstes Spitzbubenlachen.
+
+»Ne, Hanserl -- das glückt Dir nicht ... Das können wir vor Deinen
+Herren Eltern nicht verantworten! Bleib Du, was Du bist ... ein Jurist
+... oder ... werd' einmal ein Dichter, wenn Du kannst ... ich glaube,
+Du kannst -- -- und dann, in zehn oder zwanzig Jahren schreibst Du
+einmal ein Stück, das über alle Bühnen geht -- mit einer wunderhübschen
+Rolle für die komische Alte darin ... Und wenn Du dann auf Reisen
+zufällig einmal nach Krotoschin oder nach Stallupönen kommst und siehst
+an irgendeiner Bauernkneipe oder Scheune den Theaterzettel einer
+Schmiere kleben, die Dein Stück spielt, und hinter der Rolle der
+komischen Alten findest Du den Namen Asta Thöny ... dann setz Dich
+irgendwo unter das 'verehrliche Publikum' ... aber ganz, ganz weit
+hinten ... daß ich Dich nicht etwa erkenne ... und denk' daran, daß das
+alte, häßliche Weiblein da oben einmal in Deinen Armen gelegen hat ...
+vor langer, langer Zeit ... als Du noch jung warst und unberühmt und
+nichts weiter als ein Korpsstudent in Leipzig ... Gelt, Hans, Das tust
+Du --?«
+
+Hans Thumser konnte nicht sprechen. Er küßte nur immer wieder die
+rosige, weiche Hand, die er zwischen seinen harten, waffengestählten
+Tatzen eingepreßt hielt, als wollte er sie zerdrücken.
+
+Der Wagen hielt vor dem Abfahrtportal des Bayrischen Bahnhofs. Es war
+zehn Uhr morgens. In grellem Weiß standen die beschneiten Dächer gegen
+das satte Himmelsblau, das gleißende Sonnenlicht.
+
+Auf dem Bahnsteig hielt bereits der Münchener Schnellzug. Für das
+Ensemble der Meininger waren auf Bestellung ein paar Extrawagen
+angehängt worden. Im Kassenflur, unter der Halle, wimmelte es von
+glattrasierten Männergesichtern, von lebhaften mit betonter Eleganz
+gekleideten Frauen. Riesige Koffermassen wurden in die Gepäckwagen
+verstaut ...
+
+Daß Asta Thöny sich auf dem Bahnhof in Begleitung eines grünbemützten
+Studenten einfand, erregte keinerlei besondere Sensation unter ihren
+Kollegen und Kolleginnen. Derartiges war man von ihr gewohnt. Sonst
+war's meist eine Uniform ...
+
+Die große Jucunda schritt mit spöttischem Naserümpfen an dem Paare
+vorüber, einen ungeheuren Strauß der wunderbarsten Rosen in der Hand,
+den ihr soeben ein prinzlicher Lakai überbracht hatte. Ja ... den
+Rosenstrauß hatte sie wohl ... aber keinen herzlieben Jungen zur Seite,
+der bei ihr hatte bleiben wollen bis zum letzten Augenblick ... Nur ihre
+Eltern gaben ihr das Geleit, Mutter Doris aufgedonnert im
+unglaublichsten Staat -- Vater Kanzleirat im abgeschabten Winterpaletot
+und zerbürsteten Zylinder, ein armseliger, hüstelnder Schatten neben den
+beiden mächtigen Frauengestalten.
+
+Die übrigen Kollegen gingen mit diskret abgewandten Gesichtern an Asta
+und ihrem schmucken Begleiter vorüber.
+
+Nur Franz Burg trat grüßend heran:
+
+»Guten Morgen, Kleine ... Na -- ist das Ihr Dichter?«
+
+»Ja, liebster Freund -- das ist er ...«
+
+Burg lüftete lächelnd seinen Hut, nannte seinen Namen, streckte dem
+Studenten die Hand hin:
+
+»Nun, ich sehe, Sie sind noch sehr lebendig ... Höchst erfreulich das.«
+
+Mit korrekt eingewinkeltem Arm schlug Hans Thumser ein in Franz Burgs
+Händedruck und zog höchst offiziell die Mütze.
+
+»Hm,« machte der Oberregisseur und musterte ungeniert das feierlich
+zurechtgefaltete Jugendgesicht -- »vorläufig ist noch nicht viel
+zu lesen auf der Physiognomie da ... aber wer weiß ... vielleicht
+stehen wir uns noch einmal an anderer Stelle gegenüber, und Sie legen
+mir ehrfurchtdurchfröstelt das Manuskript Ihres ersten Dramas in die
+Hand ... wer weiß! Dann wollen wir uns dieses Augenblicks erinnern ...«
+
+»Und ich werde mich Ihres 'Wallenstein' erinnern, Meister -- --
+einstweilen lassen Sie mich Ihnen dafür danken ...« sagte der Student
+... und Franz Burg sah auf einmal mit Staunen, wie auf dem jungen
+Gesicht die feierlich korrekten Falten sich auflösten, wie aus den
+dunklen Augen eine heiße Flamme sehnsüchtiger Leidenschaft schlug. Da
+leuchtete auch sein Blick dem jungen Gesellen freundlich und ermunternd
+ins Gesicht.
+
+»Also -- auf dereinstiges Wiedersehen, junger Freund --! Jetzt aber
+sollt Ihr zwei die paar letzten Augenblicke noch füreinander haben,
+Kinder ...«
+
+Die paar letzten Augenblicke -- --
+
+Hans Thumser und Asta Thöny senkten die Häupter und die Blicke ... Hoben
+sie dann und ließen die Augen lange, lange ineinander ruhen ... Dabei
+schwiegen die Lippen, Unsagbares quoll auf in ihren Herzen.
+
+»Bitte Platz nehmen!« schnarrten da die Stimmen der Schaffner.
+
+Da warf Asta die Arme um Hans Thumsers Nacken. Es kümmerte sie nicht,
+daß die Kollegen vom Fenster aus mit Grinsen und halblautem Scherz den
+Abschied beobachteten ...
+
+»Leb wohl ... mein Hanserl ... auf ewig ... leb wohl ...«
+
+»Nein ... nicht auf ewig ... das ist ja unmöglich ... das ertrag ich ja
+nicht --«
+
+»Ach, Hanserl -- wie gut Du das ertragen wirst ... aber Du ... von Zeit
+zu Zeit einmal an mich denken ... gelt? an ... Dein ... erstes Glück ...
+gelt, Hanserl?!«
+
+Aus der finstern Halle polterte der Zug in die sonnige Morgenhelle
+hinaus. Grell im Sonnenlichte leuchtete der weiße Rauchschwaden, den der
+enteilende Schlot der Maschine hinter sich herzog. Und ein großes
+Abschiedwinken ging aus den Fenstern des Zuges, ging auf dem Bahnsteig,
+wo in ganzen Rudeln die Freunde und Verehrer standen, welche die
+scheidende Künstlerschar bis zum letzten Augenblick begleitet hatten ...
+
+Ein Tüchlein aber wehte länger als alle andern ... und Hans Thumser
+blickte ihm nach, winkte ihm nach, bis alles vorbei war.
+
+Dann wandte er sich rasch und schritt gesenkten Hauptes aus der Halle.
+Einen Korpsstudenten in Couleur sollte niemand weinen sehen.
+
+
+
+
+ Von =Walter Bloem= sind früher erschienen:
+
+
+ Sonnenland
+
+
+ Eine Fahrt in die Schönheitswelt Griechenlands, in die
+ Märchenstädte des Orients an Bord eines schmucken
+ Lloyd-Schiffes, auf dem der Zufall eine bunte
+ Reisegesellschaft zusammenwürfelt. Ein munterer Kreis
+ meist humoristisch gesehener Gestalten und im
+ Hintergrund ein leuchtender Reigen von Kultur- und
+ Landschaftsbildern aus den gesegneten Zonen des
+ sonnigen Südens.
+
+ Preis 1 Mark
+
+
+ *
+
+
+ Das lockende Spiel
+
+
+ Ein Buch vom Theater, von seiner berauschenden Magie,
+ die keinen aus ihrem Zauberkreis entläßt, der ihr
+ einmal verfiel. Wer es einmal gespielt hat das
+ »lockende Spiel«, er kann es nimmer lassen. Eine neue
+ Theatergründung in Berlin wird zum Mittelpunkt für ein
+ fröhliches Ringen um die Palme des Bühnendichters,
+ Schauspielers, Regisseurs. In diesen Kampf verkettet
+ sich ein zweites »lockendes Spiel«, das Spiel und
+ Gegenspiel der Liebe bei zwei jungen Menschenpaaren.
+
+ Preis 1 Mark
+
+
+ Verlag Ullstein & Co / Berlin-Wien
+
+
+
+
+
+
+
+ Ullstein & Co
+
+ [Illustration Verlagslogo]
+
+ Berlin SW 68
+
+
+
+
+ Anmerkungen zur Transkription
+
+
+ Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originaltextes wurden
+ übernommen, nur offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert.
+
+ Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt, fremdsprachliche Passagen,
+ die im Original in Antiqua gesetzt sind, sind _so_ gekennzeichnet,
+ für Abkürzungen, wie C. C. und Regentenzahlen wie XIV wurde dies
+ nicht gemacht. Text der im Original g e s p e r r t gesetzt ist,
+ ist hier =so= gekennzeichnet.
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Komödiantinnen, by Walter Bloem
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KOMÖDIANTINNEN ***
+
+***** This file should be named 44647-8.txt or 44647-8.zip *****
+This and all associated files of various formats will be found in:
+ http://www.gutenberg.org/4/4/6/4/44647/
+
+Produced by Tor Martin Kristiansen, Jan-Fabian Humann,
+Norbert Müller and the Online Distributed Proofreading
+Team at http://www.pgdp.net
+
+
+Updated editions will replace the previous one--the old editions
+will be renamed.
+
+Creating the works from public domain print editions means that no
+one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
+permission and without paying copyright royalties. Special rules,
+set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
+copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to
+protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project
+Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
+charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you
+do not charge anything for copies of this eBook, complying with the
+rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose
+such as creation of derivative works, reports, performances and
+research. They may be modified and printed and given away--you may do
+practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is
+subject to the trademark license, especially commercial
+redistribution.
+
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+electronic works
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+If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project
+Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the
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+even without complying with the full terms of this agreement. See
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+Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
+and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
+works. See paragraph 1.E below.
+
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+ has agreed to donate royalties under this paragraph to the
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+ must be paid within 60 days following each date on which you
+ prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax
+ returns. Royalty payments should be clearly marked as such and
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+ you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
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+electronic work or group of works on different terms than are set
+forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
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+Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark. Contact the
+Foundation as set forth in Section 3 below.
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+1.F.
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+effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
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+works, and the medium on which they may be stored, may contain
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+of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
+Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
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+liability to you for damages, costs and expenses, including legal
+fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
+LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
+PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
+TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
+LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
+INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
+DAMAGE.
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+1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
+defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
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+providing it to you may choose to give you a second opportunity to
+receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy
+is also defective, you may demand a refund in writing without further
+opportunities to fix the problem.
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+1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
+in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
+WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
+WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
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+warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
+If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
+law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
+interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
+the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any
+provision of this agreement shall not void the remaining provisions.
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+1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
+trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
+providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
+with this agreement, and any volunteers associated with the production,
+promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
+harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
+that arise directly or indirectly from any of the following which you do
+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
+
+
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
+http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
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+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at
+809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
+page at http://pglaf.org
+
+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit http://pglaf.org
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including checks, online payments and credit card donations.
+To donate, please visit: http://pglaf.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+
+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
+
+ http://www.gutenberg.org
+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
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+ </head>
+<body>
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+<pre>
+
+The Project Gutenberg EBook of Komödiantinnen, by Walter Bloem
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org/license
+
+
+Title: Komödiantinnen
+
+Author: Walter Bloem
+
+Release Date: January 12, 2014 [EBook #44647]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KOMÖDIANTINNEN ***
+
+
+
+
+Produced by Tor Martin Kristiansen, Jan-Fabian Humann,
+Norbert Müller and the Online Distributed Proofreading
+Team at http://www.pgdp.net
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+</pre>
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+
+<h1>Komödiantinnen</h1>
+<div class="box-container">
+<div class="bbox">
+ <p class="tit1" >Ullstein-Bücher</p>
+
+ <p class="center size1-5" style="margin-left:1em;margin-right:1em">
+ Eine Sammlung<br />
+ zeitgenössischer Romane
+ </p>
+
+ <div class="figcenter" style="width: 50px;">
+ <img src="images/owl.png" width="50" height="100" alt="Signet" />
+ </div>
+
+ <hr class="double" />
+ <p class="center size1-5">Ullstein &amp; Co / Berlin und Wien
+ </p>
+</div>
+</div>
+
+
+<div class="box-container">
+<div class="bbox">
+ <p class="tit1">Komödiantinnen</p>
+
+ <p class="center">Roman von<br />
+ <span class="size1-5 gesperrt"> Walter Bloem</span></p>
+
+ <div class="figcenter" style="width: 50px;">
+ <img src="images/owl.png" width="50" height="100" alt="Signet" />
+ </div>
+
+ <hr class="double" />
+ <p class="center size1-5">Ullstein &amp; Co / Berlin und Wien
+ </p>
+</div>
+</div>
+
+<p class="copyright">Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung
+vorbehalten. &mdash; Copyright 1914 by Ullstein &amp; Co
+</p>
+<div>
+<h2>1.</h2>
+
+<p class="start-chapA">Aus tiefdunklem Jugendschlummer fuhr Hans Thumser
+mit einem Ruck in die Höhe. Teufel auch! das nenn'
+ich dachsen! Und diese Pestbeule von einem Korpsdiener
+hatte mich doch wecken wollen? Wieviel mag's denn sein?
+Uhr steht natürlich &mdash; Skandal! schon wieder mal das Aufziehen
+verbummelt! Und schon ganz hell! Jeden Augenblick
+muß der Wagen kommen mit Pilgram, dem gestrengen
+Senior, der so verdammt ungemütlich werden
+kann ... und mit Durchlaucht, dem fürstlichen Konkneipanten
+eines wohllöblichen C.&#x202f;C. der Franconia ... und dann
+warten lassen?! Herrgottsakra &mdash; rin' in die Buchsen &mdash;!</p>
+
+<p>Durchs offene Fenster schwamm herbstlicher Frühnebel
+in das schummrige Studentenbudchen. Matt flimmerten
+an den Wänden die dreifarbenen Wappenschilde, die gekreuzten
+Schläger, die langsam einstaubenden Mützen
+und Bänder &mdash; weit matter noch vom Schreibtisch her die
+Goldtitel des <i lang="la">corpus iuris</i>, der spärlichen Lehrbücher
+der Rechtswissenschaft ... Und weiß blinkte nun der
+gertengeschmeidige Körper des jungen Studenten: Hals
+und Nacken wurden mit raschen, scharfen Güssen erfrischt,
+und dann wusch der Jüngling sorgsam das dichte braune
+Haar mit schäumendem Bay-Rum durch, um alle septischen
+Stoffe zu entfernen und der Säuberungsarbeit des
+Paukarztes vorzuarbeiten ... Denn heute bekam Hans
+Thumser Prügel, das stand in den Sternen geschrieben.
+Herr Borgmann, Neo-Borussiae gewesener Zweiter,
+Erster <i lang="la">ad interim</i> war der S.&#x202f;C. Fechter ... gegen den
+konnte der schlanke Fuchsmajor der Franken nicht an. Da
+galt es nur, sich gegen die unvermeidliche Abfuhr zu wehren,
+solange Faust und Klinge hielten ... Schade, daß es gerade
+der Borgmann sein mußte, der einen unterkriegte &mdash; dieser
+üble Geselle, den man nicht riechen konnte, mit seinem suffisanten
+Gesicht, seinem fatzkigen Lächeln, den frostigen Froschaugen
+&mdash; dem mal einen Streicher über die Ohrfeigenvisage
+ziehen, von der Temporalis bis ins Kinn &mdash; aber nee, nich
+dran zu denken, er konnte zu viel, der Affe, der miserablichte!</p>
+
+<p>So &mdash; die Toilette wäre beendigt! Noch einen Blick
+in den Spiegel &mdash; ade, du große schmale Nase, vielleicht
+auf Nimmerwiedersehen &mdash; na, und auf Stirn und Wange
+ist ja auch noch eine ganze Menge Platz, zwischen den
+alten Abfuhren aus Heidelberg und denen vom Sommer,
+und nun statt der grünen Mütze für heute den weichen
+Knockabout auf die Stirn gestülpt &mdash; denn in jener Stadt,
+in der das Reichsgericht saß, die erleuchtete Körperschaft,
+welche die Schlägermensur für einen Zweikampf mit tödlichen
+Waffen im Sinne des Strafgesetzbuches erklärt
+hatte &mdash; im guten biedern Leipzig waren Staatsanwaltschaft
+und Polizei nach der Mahnung jenes schönen Würzburger
+Studentenverses tätig:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Darum auf, ihr Wächter des Gesetzes,<br /></span>
+<span class="i0">Hüter des Studentenpaukgehetzes &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Lauscht überall<br /></span>
+<span class="i0">Auf Waffenschall<br /></span>
+<span class="i0">Und seid stets der Mensur<br /></span>
+<span class="i0">Auf der Spur!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Auch das dreifarbene Band wanderte zusammengerollt
+in die Tasche &mdash; erst draußen im braunen Herbstwalde
+bei Knauthain würde es sich um die junge Brust schlingen
+dürfen ... und nun hinaus ... das Frühstück mußte man
+sich für heut verkneifen, denn Frau Marie Wehe, genannt
+Mutter Ach, stand um fünf Uhr noch nicht auf aus ihrem
+keuschen Witwenbette ...</p>
+
+<p>Als Hans Thumser im dunklen Korridor an der Tür
+zu der Nachbarbude vorüberschritt &mdash; der Nachbarbude,
+die dies Semester zu Mutter Achs bittrem Schmerz unvermietet
+geblieben war &mdash; da stolperte er plötzlich über
+etwas Zierliches, Weiches ... was Teufel &mdash; also doch
+noch Nachbarschaft gekommen &mdash;?!</p>
+
+<p>Hans Thumser bückte sich und hob ein Etwas auf, das nur
+... ein Lackschuh sein konnte ... und zwar ein winziger ...
+mit knisternder Seidenschleife besetzter ... ein feiner, geheimnisvoll
+irritierender Duft entstieg ihm ... Hans Thumser
+trat mit seinem seltsamen Fund an die Mattscheibe der
+Korridortür, die ein falbes Licht einfallen ließ, und betrachtete
+mit der naiven Andacht seiner unverwöhnten zwanzig Jahre
+das zierliche Wunder. Gott, welch eine Wirrnis von Träumen
+stieg empor aus diesem schmalen Kahn der Sehnsucht ...
+Mit einem tiefen Seufzer, von fröstelnden Schauern überrieselt
+setzte der Jüngling seine Beute sacht und herzklopfend
+wieder vor die Tür, die nun auf einmal ein Eden barg.
+Ein weißes Viereck schimmerte matt vor dem des Dämmers
+nun gewöhnten Blick, als der Student sich wieder zu
+seiner ganzen Länge aufgerichtet ... in unzähmbarer
+Neugierde tastete er nach seiner Zündholzschachtel und las
+im zuckenden Flackerlichte die lithographischen Schriftzüge:</p>
+
+<p class="center">
+Asta Thöny<br />
+Herzoglich Meiningische Hofschauspielerin<br />
+</p>
+
+<p>Was ... war das?!</p>
+
+<p>Hans Thumser hatte auf eines jener Dämchen geraten,
+die sich wohl bisweilen im <i lang="fr">Quartier latin</i> einnisteten,
+um Jugendglut und Monatswechsel der akademischen
+Bürger zu brandschatzen ... und nun &mdash;?!</p>
+
+<p>Eine Künstlerin ... ein Mitglied jener erlauchten
+Komödiantengilde, deren Siegeszug dem staunenden
+Deutschland, nein der Kulturwelt erst erschlossen die ganze
+Herrlichkeit des klassischen deutschen, des klassischen germanischen
+Dramas &mdash;?!</p>
+
+<p>Hans Thumser sah sich in der Heimatstadt, auf einem
+Platze des zweiten Ranges, den er vom Taschengeld abgeknausert,
+abgebettelt dem gütigen Vater, der so schlecht
+nein sagen konnte &mdash; sah sich sitzen als ahnungsvollen
+Primaner und lauschen &mdash; lauschen in Verzückung und
+Tränen ... schauen voll seliger Gier und ungläubig-gläubigen
+Ueberschwangs in eine Wunderwelt hinein, da
+alle seine Träume die Erfüllung fanden ... und sah sich
+am andern Tage auf der Schulbank, stumm und stumpf
+bei jeder Frage der Lehrer, gleichgültig gegen ihren Zorn
+und den Spott der Mitschüler, die nicht ahnen konnten,
+was mit dem Primus vorgegangen ... was ihm die flinke
+Zunge, das unfehlbare Gedächtnis lähmte ...</p>
+
+<p>Und nun &mdash;?! Eine Meiningerin &mdash; und seine Zimmernachbarin?</p>
+
+<p>Was konnte das bedeuten &mdash;?</p>
+
+<p>Etwa dies: daß die Meininger in Leipzig wären &mdash;
+gastierten drüben im Carolatheater &mdash;?</p>
+
+<p>Und davon &mdash; davon hatte man nichts erfahren?</p>
+
+<p>Freilich &mdash; unmöglich wär's nicht &mdash; wie man so
+dahinlebte, das Gladiatorendasein des aktiven Korpsstudenten ...</p>
+
+<p>Asta Thöny? Nein &mdash; den Namen Asta Thöny verzeichnete
+seine Erinnerung nicht &mdash; das mußte wohl ein
+neues Mitglied sein, schlank und ... duftig wie die
+Schuhchen, von denen nun, im wachsenden Tageslicht,
+ein paar Lichtpünktchen aufgleißten aus dem Dämmer
+des Korridors ...</p>
+
+<p>Aber ein anderer Name stieg nun auf, ein weißleuchtendes
+Mädchenbild tauchte glorienumstrahlt aus der
+Tiefe seiner Visionen: Jucunda Buchner, die kaum
+Sechzehnjährige, die Thekla der Meininger ...</p>
+
+<p>Sie sah er, im dritten Akt der »Piccolomini«, einsam im
+finstern Schloßgemach, mit der Laute hineingeschmiegt in
+einen faltenstarren rotsamtenen Vorhang, scharf abgehoben
+die weiße Gestalt vom riesigen Fenster, durch
+dessen hundert kreisrunde Scheiben die sternlose Nacht
+hineinglotzte ... und wie ein Kind im Finstern singt,
+die Herzensbangigkeit zu betäuben, so verloren, so verlassen,
+so angstumschauert hatte das junge Weib seine
+schmachtende Weise vor sich hingelallt:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">Der Eichwald brauset, die Wolken ziehn &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Das Mägdlein wandelt an Ufers Grün &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Das Auge von Weinen getrübet ...<br /></span>
+</div><div class="stanza">
+<span class="i0">Du Heilige, rufe Dein Kind zurück &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Ich habe genossen das irdische Glück &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Ich habe gelebt und geliebet ...<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>O Erinnerung ... o Ahnung ... o Kunst, du mächtige
+Weckerin, Vorschule des Lebens, Tummelplatz der
+werdenden, in Werdeschauern erzitternden Seele &mdash;!</p>
+
+<p>Gelebt und geliebet ... und du, junges Studentlein im
+finstern Korridor &mdash; aus dessen Dunkel die weißen Lichtpünktchen
+glitzern von Asta Thönys Lackschuhchen &mdash; &mdash;?!</p>
+
+<p>Hans Thumser schrak zusammen. Ihm war's, als
+hätte er aus weiter Ferne, ungeduldig, seinen Namen
+rufen gehört ...</p>
+
+<p>Und richtig:</p>
+
+<p>»Thumser! Thumser! Zum Donnerwetter, wenn Du
+jetzt nicht kommst, fahren wir ohne Dich!«</p>
+
+<p>Ach so ... ach ja ... die Stunde, die heischende ...
+die Stunde des Burschenkampfes ...</p>
+
+<p>Hans Thumser fuhr auf, reckte sich &mdash; kein Abschiedsblick
+mehr zurück zu den Lichtpünktchen drunten, dem
+weißen Kärtchen an der Pforte des Geheimnisses &mdash;
+fort &mdash; hinaus &mdash;!</p>
+
+<p>Er flog die krachenden Stiegen hinunter, der mächtige
+Haustürschlüssel knarrte im Schloß &mdash; und draußen auf
+der morgenstillen, morgenleeren Sophienstraße empfing
+ihn ein Durcheinander von Begrüßung und Vorwurf &mdash;</p>
+
+<p>»Na, Du Schlafratze &mdash; endlich ausgepennt?« zürnte
+der Senior vom Rücksitz aus. Und:</p>
+
+<p>»Hatten schon alle Hoffnung aufgegeben, Sie noch
+unter den Lebenden begrüßen zu dürfen!« schnarrte der
+Major von Gorczynski, dessen kantige Reiterfigur sich noch
+immer nicht in das elegante Zivil des Prinzenbegleiters
+eingewöhnen mochte.</p>
+
+<p>Erbprinz Heribert aber, der durchlauchtigste Konkneipant
+der Franken, zog nur stumm und mit indignierter
+Miene den steifen grauen Filzhut. Also man ließ warten!
+na ja, an einer deutschen Hochschule funktioniert der Betrieb
+nun einmal nicht wie am herzoglichen Hofe zu
+Nassau-Dillingen ... man mußte Nachsicht üben ...</p>
+
+<p>Mit einem Ruck saß Hans Thumser neben seinem
+Korpsbruder auf dem Rücksitz, dem Prinzen gegenüber,
+der ihn durch sein Monokel mit kühl-durchdringendem
+Blick niederzuschmettern suchte, was ihm freilich nicht
+gelang.</p>
+
+<p>»Also wenn Durchlaucht gestatten, fahren wir ab!«
+sagte Valentin Pilgram mit korrektem Gesicht. Er war
+auch nicht sehr erbaut von der Ehre, einen prinzlichen Mitkneipanten
+im Korps durch das Semester schleppen zu
+müssen, zumal einen solchen faden Burschen, der nicht
+warm wurde unter den Kommilitonen, deren Mütze er
+wie zum Maskenscherz die wenigen Male aufsetzte, wenn
+er gelangweilt und verständnislos an den offiziellen Veranstaltungen
+des Korps teilnahm ... indessen das gehörte
+nun einmal dazu ...</p>
+
+<p>»Also los, Kutscher und lassen Sie gefälligst die
+Gäule loofen, sonst fällt der erschte Hieb, ehe wir draußen
+sind!«</p>
+
+<p>»I herrjemerschnee, Herr Pilgram, das kann Sie ja
+gar nich passier'n &mdash; de Allererschten wär'n mer sein am
+Platze, da genn' Se sich drauf verlass'n!« ...</p>
+
+<p>Als der Wagen anzog, fiel der Blick der Abfahrenden
+auf eine lange Kolonne riesiger Möbeltransportwagen &mdash;
+drüben waren sie aufgefahren vor der nüchternen Häuserfront,
+deren Erdgeschoß die Einfahrt zum Carolatheater
+durchstieß. Das Theater selber lag verborgen und
+schmucklos dahinter im Hofe. Um die Wagen aber
+sammelte sich eine Rotte herkulischer Blusenmänner und
+begann sie zu entladen. Was kam da alles zum Vorschein!</p>
+
+<p>Das erste, was das Auge der Wageninsassen entdeckte,
+war der riesige Körper eines schwarzen Pferdes, in liegender
+Stellung, in der Stellung des Todes ausgestopft ...
+Unter derben Späßen hoben die untersetzten Arbeiter die
+Bestie aus dem Finstern des Wagens und trugen sie in
+die Dämmerung des Flurs. Und im schnellen Davonfliegen
+des Wagens erfaßte der Blick der Enteilenden
+noch ein Chaos von Gegenständen, die bereits ausgepackt
+an den Hauswänden lehnten: ein ganzes Arsenal eiserner
+Rüstungen, Schwerter, Hellebarden, Federhelme ... und
+noch allerhand Dinge, seltsam durch ihre Lage und Zusammenstellung:
+einen prunkvollen gotischen Altar, einen
+mächtigen Eichbaumstumpf, dessen papierene Blätter im
+Herbstmorgenhauche gespenstisch raschelten &mdash; und endlich
+ein kolossales Renaissance-Büfett, das Hans Thumser auf
+den ersten Blick wiedererkannte: es hatte im Bankettsaal
+des Grafen Terzky gestanden, der Zecherrausch der
+Friedländischen Generale hatte es umbrandet &mdash; damals,
+im Barmer Stadttheater, als Hans Thumser in Fieberschauern
+den »Wallenstein« erlebte ...</p>
+
+<p>»Die reine Trödelbude &mdash;« sagte Valentin Pilgram,
+der Senior, und zog die Winkel des schmalen Mundes
+verächtlich herab. »Ooch 'n Geschäft, sich Abend für Abend
+die Visage zu beschmieren, sich vor so'ne Lappen hinzustellen
+und mit Armen und Beinen zu fuchteln ...«</p>
+
+<p>Die blassen, matten Züge des Erbprinzen hatten sich
+plötzlich belebt. »Sie vergessen, lieber Pilgram, daß
+diese Fuchtelei mit Armen und Beinen doch manchmal
+ganz niedlich anzusehen ist ... namentlich wenn diese
+Arme und Beine &mdash; halten Sie sich mal die Ohren zu,
+Herr Major! &mdash; na also, wenn sie schlank, jung und ...
+<i lang="la">feminini generi</i> sind ...«</p>
+
+<p>»&mdash; <i lang="la">gener<em class="gesperrt-in">is</em></i>, Durchlaucht!« erlaubte sich der Erzieher
+zu bemerken.</p>
+
+<p>»Echauffieren Sie sich nicht, lieber Major &mdash; als
+Sprachlehrer sind Sie nicht engagiert &mdash; Sie haben nur
+für meine Moral zu sorgen &mdash; wenn's auch schwer fällt ...
+aber nun sagen Sie mal, Sie Alleswisser &mdash; was bedeutet
+denn dieser Apparat da vor dem ollen muffigen Carolatheater?«</p>
+
+<p>»Die Meininger, Durchlaucht, beginnen in fünf Tagen
+ein vierwöchiges Gastspiel in Leipzig,« sagte der Major.</p>
+
+<p>»Und das haben Sie mir bis jetzt unterschlagen, Sie
+Cerberus?«</p>
+
+<p>»Ich habe nicht gewußt, daß Durchlaucht sich auch für
+<em class="gesperrt">ernste</em> Kunst interessieren ...«</p>
+
+<p>»Ah bah &mdash; Theater ist Theater ... und wo kann der
+Thronfolger eines &mdash; na sagen wir mal eines Staates
+von mäßigem Umfang &mdash; wo kann ich mich besser auf
+meinen künftigen Beruf vorbereiten als im Theater?
+Mein Hoftheater, das ist doch der einzige Platz, wo ich
+später ... gewissermaßen ... wirklich mal was zu sagen
+haben werde ...«</p>
+
+<p>»Durchlaucht ... ich darf wohl bitten ...« warf der
+Major ein.</p>
+
+<p>»Na, jedenfalls ist das meine Auffassung!« lachte der
+Erbprinz, »&mdash; können Sie meinetwillen nach Dillingen
+berichten! Und das bitte ich mir aus, Herr Major: bei
+den Meiningern belegen Sie heut abend sofort die vorderste
+Proszeniumloge! Ich sehe mir die ... Kunst ...
+gern aus der nächsten Nähe an! Lieber Pilgram &mdash; zur
+Eröffnungsvorstellung sind Sie mein Gast, nicht wahr?«</p>
+
+<p>»Sehr gütig, Durchlaucht ...« sagte Valentin Pilgram
+und sann nach. »Das wäre, soviel ich weiß, am
+nächsten Mittwoch ... da haben wir allerdings offizielle
+Kneipe, und ich als Erster Chargierter dürfte eigentlich
+nicht ... und dann ... habe ich auch nicht allzuviel fürs
+Theater übrig ...«</p>
+
+<p>»Philister Sie! Na und Sie, Herr Thumser &mdash; wie
+wär's mit Ihnen?«</p>
+
+<p>Hans Thumser wurde glühendrot ... halb in Glück,
+halb in Befangenheit ... er hatte sich bereits schmerzlich
+bewegt ausgerechnet, daß es gegen Ende des Monats
+gehe, und sein Wechsel ihm einen Besuch der Meininger
+wohl schwerlich vor dem ersten November gestatten
+würde ... also das fiel ja geradezu vom Himmel ...
+andererseits ... mit diesem blasierten, schwunglosen
+Menschen zusammen &mdash; wie würde er's ertragen, in seine
+Andacht hinein solche Reden vernehmen, gar ihnen ehrerbietig
+lauschen zu müssen?</p>
+
+<p>Dennoch ... besser als gar nichts ...</p>
+
+<p>»Ich nehme mit Freuden an, Durchlaucht ...«</p>
+
+<p>»Also abgemacht! Was gibt's denn, Herr Major?«</p>
+
+<p>»Jungfrau von Orleans ...«</p>
+
+<p>»Ausgerechnet &mdash;!« schnarrte der Prinz &mdash; »Schiller &mdash;!
+Gymnasium in Wiesbaden &mdash; verfluchten Angedenkens!
+Schiller! Was ist Schiller? Eine Serie von Aufsatzthemen
+&mdash;!!«</p>
+
+<p>»Stimmt!« rief Pilgram. »Keine zehn Pferde ziehen
+mich ins Theater, wenn Schiller gespielt wird! 'Die
+tragische Schuld der Maria Stuart' &mdash; 'Wallenstein, ein
+tragischer Charakter' &mdash; 'Die poetische Gerechtigkeit in
+der Braut von Messina' &mdash; pfui Deuwel! um junge Hunde
+zu kriegen &mdash;!«</p>
+
+<p>Wie bin ich unter diese Menschen geraten? dachte
+Hans Thumser. Warum trage ich die gleiche Mütze und
+die gleichen Farben wie sie? Kein Takt des Herzschlags,
+kein Gefühl, kein Wort ist mir mit ihnen gemeinsam ...</p>
+
+<p>Und derweil rollte der Wagen seitwärts durch die
+nüchternen, morgenleeren, hallenden Straßen der Südstadt,
+dem fernen Kampfplatz entgegen, wo Hans wieder
+einmal seine Zusammengehörigkeit mit seinen Korpsbrüdern,
+seine Zugehörigkeit zum Frankenbunde mit
+seinem Herzblut besiegeln sollte ...</p>
+
+<p>»Vergessen Sie nicht, Durchlaucht, daß Jucunda
+Buchner die Jungfrau spielt ...«</p>
+
+<p>»Jucunda Buchner? Ist &mdash; wer?«</p>
+
+<p>»Nun, der jugendliche Stern der Meininger &mdash; einfach
+Sehenswürdigkeit &mdash; gewissermaßen das deutsche Mädchen
+in Reinkultur &mdash;«</p>
+
+<p>»Schön &mdash; also abgemacht!« sagte der Erbprinz. »Aber
+halten Sie mich fest, lieber Major, sonst mach' ich Dummheiten...«</p>
+
+<p>»Buchner?« sagte der Senior, »hm &mdash; da fällt mir
+was ein. Mein Hauswirt, der Kanzleirat Buchner, der
+hat ja, soviel ich weiß, irgendwo 'ne Tochter beim Theater
+... das wäre doch ulkig ... soviel ich weiß, wurde ihre
+Ankunft erwartet ... und ich mein' auch, daß sie in Leipzig
+spielen sollte, hätte die Alte erzählt &mdash; ich hab' aber nicht
+recht hingehört &mdash; was geht mich das Theater an ...«</p>
+
+<p>»Herrgott, Mensch &mdash; das Theater!« platzte Thumser
+heraus. &mdash; »Hier handelt sich's doch um die Meininger!
+Hast Du davon überhaupt eine Ahnung, was dieses &mdash;
+dieses Theater bedeutet? Die Entdeckung der Klassiker,
+ihre Eroberung für die Bühne unserer Zeit, die Entbindung
+all der tausend köstlichen Sinnlichkeiten, die im
+Drama unserer Großen schlummern &mdash; bist Du denn solch
+ein Barbar, solch ein Banause, daß Du von all dem nichts
+weißt &mdash; daß all das für Dich nicht existiert?«</p>
+
+<p>»Na, entschuldige schon, daß ich existiere!« schnarrte
+der Erste. »Ne wirklich, teures Thumserherz, das alles
+ist mir schnuppe, schnupper, am schnuppesten! Ich halt's
+mit meinem Vater, der nie in seinem Leben ins Theater
+gegangen ist und doch Senatspräsident am Oberlandesgericht
+in Dresden geworden ist, und jedenfalls noch ein
+Endchen weiter kommen wird im Leben, eh er Schluß
+macht! Kunst ist Spielzeug für charakterlose Müßiggänger
+&mdash; unsere Zeit aber braucht Arbeiter, Charaktere
+&mdash; Männer, verstehste?!«</p>
+
+<p>»Bumm, bumm, bumm! Tusch!« sagte der Prinz.
+»Sie sind zum Landtagsabgeordneten qualifiziert, lieber
+Pilgram ...«</p>
+
+<p>»Verzeihung, Durchlaucht, es muß auch &mdash; Landtagsabgeordnete
+geben! Ne, lieber Thumser, lauf Du nur
+immer ins Theater und laß Dir &mdash; wie hast Du so schön
+gesagt? &mdash; laß Dir Deine tausend köstlichen Sinnlichkeiten
+entbinden &mdash; mein Bedarf ist mit Fechtboden, Kneipe und
+Windscheids Drogenweltkolleg vollkommen gedeckt!«</p>
+
+<p>»Und so was hat nun das Glück, mit Jucunda Buchner
+unter einem Dache zu wohnen ...« seufzte Erbprinz
+Heribert.</p>
+
+<p>»Das weiß ich noch nicht, das ist nur eine Vermutung
+von mir, Durchlaucht ... Uebrigens ist die Sache wirklich
+ohne Interesse für mich. Mit einer Komödiantin möcht'
+ich noch nicht mal eine Poussage haben ... man kann ja
+doch nie wissen, ob sie einem nicht was vormimt und
+einen innerlich auslacht ...«</p>
+
+<p>»Na, teurer Pilgram, nu sei'n Se aber friedlich!«
+schmunzelte der Erbprinz. »Davon versteh'n Sie nu
+wirklich nischt &mdash; det haben Sie noch nich gehabt!«</p>
+
+<p>»Sie doch auch nicht, wie ich hoffe, Durchlaucht!« sagte
+der Major und blinzelte seinem jungen Herrn unter
+grimmig zusammengezogenen Brauen verschmitzt zu. Und
+Erzieher und Zögling wechselten ein Augurnlächeln ...</p>
+
+<p>Der Wagen rollte. Niederer wurden die Häuser, die
+beiderseits die Connewitzer Landstraße umsäumten. Und
+bald wurde die Bebauung offener, ländlicher. Dann bog
+die Fahrt nach rechts, und in die braunen Schattenhaine
+des Streitholzes ging's hinein, die Pleiße wurde überschritten
+auf knarrender Holzbrücke, unter der sich die
+gelben Fluten träge hinwälzten, noch angeschwollen von
+den ersten Herbstregen, welche die vergangene Woche
+gebracht. Aber heut rang sich aus Nebelbrodem die verschlafene
+Morgensonne mühsam durch, umgoldete das
+rötliche Buchenlaub zu Häupten der Dahinrollenden,
+verhieß einen lustig blanken Fechtertag, den letzten unter
+freiem Himmel für dies Jahr: der nächste würde schon
+im benachbarten Halle, richtiger im Vorort Cröllwitz,
+steigen müssen, an der murmelnden Saale, gegenüber
+den reckenhaften Trümmern des Giebichenstein.</p>
+
+<p>Allmählich wandte sich das Gespräch von dem strittigen
+Thema des Theaters zum minder kontroversenreichen des
+nahen Bestimmtages hinüber. Daß der Fuchsmajor der
+Franken heute seine todsichern Senge bekommen würde,
+galt als ausgemachte Sache, über die niemand Worte zu
+verlieren brauchte. Es fragte sich bloß, ob Hans Thumser
+auf seine notorische vielgeprüfte Quartblöße oder auf
+Borgmanns allgefürchteten Durchzieher abgestochen werden
+würde &mdash; von dem Valentin Pilgrim, der Senior, im Gesicht
+bereits ein stattliches Exemplar trug, welches Ohrläppchen
+und Mundwinkel mit einem linealgraden breiten
+Strich verband ...</p>
+
+<p>Aber während man also über Hans Thumsers nächste
+Zukunft verhandelte, das Schicksal seiner linken Gesichtshälfte
+sachverständig abtaxierte &mdash; &mdash; war Hans Thumsers
+Inneres auf geheimnisvolle Weise in Gleichgültigkeit und
+Fernsein untergetaucht.</p>
+
+<p>Jungfrau von Orleans ... sang es in seinem Herzen
+... Jucunda Buchner ... das war wie eine leuchtende,
+gnadenvolle Nähe, wie ein offener Himmel, aus dem eine
+lichte Madonna sich neigt, gegenwärtig und doch unnahbar,
+bekannt und doch undurchdringlich ...</p>
+
+<p>Und zwischen die Choralmelodien, die Harfenarpeggien,
+welche das Heiligenbild umschauerten, kicherte und
+schwirrte es hinein wie Flötentriller, wie kecke Geigenpizzicati:</p>
+
+<p>Asta Thöny ... Asta Thöny ...</p>
+
+<p>Und ein paar neckische, blinkende Lackschuhchen tanzten
+auf und nieder, aus denen zwei schlanke, seidenbestrumpfte
+Knöchel guckten &mdash; was darüber war, verschwand in rosigen
+Schleiern, aus denen es lachte und girrte wie Taubengurren:</p>
+
+<p>Asta Thöny ... Asta Thöny ...</p>
+
+<p>Ernsthaft und aufrecht saß Valentin Pilgram, der gestrenge
+Senior des Korps Franconia. Als läge die Regierungslast
+eines Millionenstaates auf seinen Schultern,
+so pflichtdurchdrungen, so würdeumbauscht saß er und
+übersann das Programm des Tages ... Ob Heinz Hartwig,
+das muntre, taprige, ewig korkende Füchslein, wohl
+heute endlich eine einwandfreie Mensur liefern würde
+und daraufhin ins engere Korps rezipiert werden könnte?
+Und Ivo Volkner, der leichtblütige Rheinländer aus Düsseldorf,
+dessen letzte Mensur auch keineswegs tadelsfrei gewesen
+war &mdash; ob er wohl sein unstätes Musikantentemperament
+heute so weit im Zaume halten würde, um
+sich herausreißen zu können?</p>
+
+<p>Und was sollte der C.&#x202f;C. auf den merkwürdig
+schnoddrigen Brief unseres lieben Kartellkorps Pomerania
+zu Göttingen antworten? Ob es nicht doch besser war,
+das alte Kartellverhältnis zu lösen und ein frisch-fröhliches
+P.&#x202f;P. zu fechten?! Aber was würden die gemeinsamen
+Alten Herren sagen?</p>
+
+<p>Und ob man den Rektor zur C.&#x202f;C.-Antrittskneipe einladen
+mußte &mdash; anläßlich der hohen Ehre, daß ein richtiggehender
+Prinz und Thronfolger zu den Konkneipanten
+des Korps zählte?</p>
+
+<p>Ja, man hatte schon seine Sorgen ... Der Reichskanzler
+war am Ende auch nicht viel schlimmer dran als
+der Erste Franconiae-Leipzig ...</p>
+
+<p>Der Erbprinz aber träumte von einer fernen Zukunft
+... noch war der alte Herr ja ... hm, hm! &mdash; erheblich
+rüstig ... und seine Altersgenossen, die Leutnants des
+Sophien-Regiments, hatten ihm gelegentlich in später
+Stunde, wenn der Sekt die Zungen gelöst, das Gefühl der
+Distanz ein wenig gemildert hatte &mdash; na ja, dann hatten
+sie ihm gelegentlich etwas gesteckt von all dem Gemunkel,
+das in der Residenzstadt umlief über die zarten Beziehungen
+des hohen Herrn zu der weiblichen Elite des
+Hoftheaters ...</p>
+
+<p>Er, Heribert Hans Herwig, würde sich das erlauchte
+Vorbild seines gnädigsten Vaters zum Muster nehmen,
+wenn er einmal als Heribert XIV. das Thrönchen seiner
+Väter bestiegen haben würde.</p>
+
+<p>Inzwischen hielt man sich studienhalber in Leipzig auf und
+würde auch da auf seine Rechnung zu kommen wissen ...</p>
+
+<p>Jucunda Buchner ... das klang recht verheißungsvoll
+... und Jungfrau von Orleans ... Himmel, es gibt
+allerhand Arten von Jungfrauen ...</p>
+
+<p>Nun war man »draußen«. Mitten im tiefschattigen
+Buchenwald ein wuchtender Eichbaum, sonst von tiefem
+Dämmerfrieden umwirkt, heut umbraust von einem
+bunten, farbentollen Leben. Die wilden Völkerschaften,
+die inmitten moderner Gesittung ein mittelalterliches
+Reckendasein führten bei Waffenklirren, rauhem Sang
+und schäumenden Kannen, die Franken und die Neo-Borussen,
+die Westfalen und Meißner und Thüringer,
+hier hatten sie sich Stelldichein gegeben zur allwöchentlichen
+feierlichen Rauferei. Und diesmal, als am ersten
+Bestimmtage des Semesters, war alles in besonders gehobener
+Stimmung. Die alten Bekannten in den verschiedenen
+Korps begrüßten sich hinüber und herüber, mit
+besonderer Herzlichkeit jene, die bereits einmal oder gar
+mehrmals die Klinge gekreuzt hatten &mdash; wesentlich
+zeremonieller schon jene, denen heute der blutige Gang
+bevorstand. Alles war in Wagen gekommen, die nun
+als langer Park auf der Chaussee aufgefahren waren,
+stets bereit, mit den Paukanten in Windesschnelle davonzusausen,
+wenn die weithin aufgestellten Schnarrposten
+die Annäherung von Pickelhauben und grünen Waffenröcken
+melden sollten. Alles war im »Bummel« gekommen,
+das heißt im Hut, die Couleur in der Tasche;
+nun wurden schleunigst Mützen und Bänder angelegt:
+gar lustig flimmerten auf dem bunten Tuch, der dreifarben-gestreiften
+Seide, die Sonnentupfen, die durchs braune
+Laubdach sich niederringelten. Und bald stand das erste
+Paar bereit: Pilgram, Franconiae Erster, gegen den
+stämmigen Zweitchargierten der Meißner.</p>
+
+<p>Und nun &mdash; heiho! Gellende Kommandorufe hinein
+in die lauschende Stille, widerhallend an den schlanken,
+weißleuchtenden Buchenstämmen ... und nun: klirr, klirr
+der helle Klang, wenn Eisen scharf auf Eisen traf, im
+Wechsel mit dem dumpfen Knall der flachen Hiebe, die
+über Stulp und Schädel krachten &mdash; heiho! uralte Reckenlust
+am tollen Raufen, am harten Widereinander der
+jugendlichen Kräfte ...</p>
+
+<p>Jähes Halt der Sekundanten, Pause, Blut rinnend
+hüben über die schmalen, herrischen Züge des Frankenseniors,
+drüben über die feisten Speckbacken des
+Fechtchargierten der Meißner ... und wiederum Kommandos,
+hageldichte Hiebe, Stahl auf Stahl ...</p>
+
+<p>Und dann war's plötzlich aus: der Meißner hatte seine
+Abfuhr weg, eine lange Quart, fast unpariert, überm
+linken Ohr. Und in die blutbeschmierte Bandage mußte
+nun Hans Thumser hinein.</p>
+
+<p>Schon stand er dem verhaßten Borgmann gegenüber,
+schon faßten die Gegner einander fest ins Auge, schon
+flogen die Klingen in die Auslage, kauerten die Sekundanten
+wie sprungbereite Katzen zu ihrer Kämpfer Seiten
+&mdash; da entstand eine Bewegung unter der lauschenden
+Korona. Auf dem weichen Waldboden scholl ein dumpfes
+Klackern wie von Huftritten, und auf dem schmalen Pfade,
+der am Wiesensaum entlang sich zog, flitzten zwei Reiter
+heran &mdash; aber nicht die Grünröcke der Gendarmen &mdash;
+Zivilisten waren's, ein Herr und eine Dame. Hans
+Thumser sah, wie alle Köpfe sich wandten &mdash; doch ihm
+blieb nicht Zeit &mdash; nur einen grauen Schleier sah er wehen
+von einem hohen, schwarzglänzenden Seidenhut; sah etwas
+Lichtes, Klares darunter, hell abgehoben vom dämmernden
+Waldgrund &mdash; und dann &mdash;</p>
+
+<p>»Auf die Mensur &mdash; bindet die Klingen!«</p>
+
+<p>»Gebunden sind &mdash;!«</p>
+
+<p>»Los!«</p>
+
+<p>Und nun alles Leben in Aug und Handgelenk hinein
+sich krampfend &mdash; und ein Wille nur &mdash; sich wehren &mdash;
+und treffen! treffen &mdash;!!</p>
+
+<p>»Halt!«</p>
+
+<p>»Halt &mdash;!!«</p>
+
+<p>Und auch hier schon nach dem ersten Gange helle rote
+Bäche rinnend über weiße Stirnen, zernarbte Wangen ...</p>
+
+<p>Und während der Paukarzt mit dem Wattebausch in
+Hansens klaffende Stirnwunde tupft, vernimmt des
+Fechters Ohr ganz deutlich aus der Mitte der Umstehenden
+die Worte:</p>
+
+<p>»Das ist die Buchner!«</p>
+
+<p>Und eine andere Stimme fragt:</p>
+
+<p>»Und der Herr &mdash; wer ist das?«</p>
+
+<p>»Das ist Franz Burg &mdash; der Heldenspieler ...«</p>
+
+<p>Inzwischen hat der Paukarzt seine Untersuchung beendigt;
+er lächelt:</p>
+
+<p>»Weiter!«</p>
+
+<p>»Herr Unparteiischer &mdash; von unserer Seite kann's
+weitergehen ...«</p>
+
+<p>Aber drüben bei den Neo-Borussen scheint man noch
+nicht so recht im Klaren ... na, wenn Hans Thumser auch
+schließlich wird dran glauben müssen: auch Herr Borgmann
+hat sein Teil bekommen, scheint's!</p>
+
+<p>Er lugt umher: dort halten sie, die Reiter, unterm
+Eichbaum und spähen neugierig hinüber ... Ja, das glaub'
+ich, ihr Komödianten &mdash; so etwas bekommt ihr nicht alle
+Tage zu sehen &mdash; hier schwingt man die Waffe nicht nur
+zum Spiel &mdash; und was hier Stirn und Wange färbt, ist
+wirkliches Blut, nicht Schminke ...</p>
+
+<p>Und dies schmale, feine junge Gesichtchen &mdash; das ist ...
+Thekla &mdash; das ist Johanna von Arc?!</p>
+
+<p>Nun werden auch die Neo-Borussen wieder munter:</p>
+
+<p>»Herr Unparteiischer, von unserer Seite kann's weitergehen!«</p>
+
+<p>»<i lang="la">Silentium</i> &mdash; Pause <i lang="la">ex</i>!«</p>
+
+<p>»Auf die Mensur &mdash; bindet die Klingen!«</p>
+
+<p>Jucunda! betet irgend etwas in Hans Thumsers Seele.
+Er fühlt, wie alle Sehnen sich straffen.</p>
+
+<p>»Gebunden sind!«</p>
+
+<p>»Los!«</p>
+
+<p>Und zweimal, dreimal schmettert Hieb auf Hieb &mdash; und:</p>
+
+<p>»Halt!«</p>
+
+<p>»Halt!«</p>
+
+<p>»Herr Unparteiischer, bitte drüben nachzusehen und
+einen Blutigen zu konstatieren!« ruft Valentin Pilgram,
+Hansens Sekundant, wilden Triumph in der Stimme &mdash;
+sich aufrichtend, zischt er seinem Paukanten ins Ohr:</p>
+
+<p>»Du &mdash; das ist Rest!!«</p>
+
+<p>»Rest? Bei wem? Bei mir?« fragt Hans Thumser
+ganz verdutzt.</p>
+
+<p>»Ne &mdash; da drüben &mdash; bei Borgmann! Teufel auch,
+Thumser &mdash; der Durchzieher &mdash; so was darfste öfters
+schlagen!«</p>
+
+<p>Was? Er &mdash; Hans Thumser &mdash; er hätte den S.&#x202f;C.
+Fechter &mdash; &mdash;? Donnerwetter!</p>
+
+<p>An des Gegners Stirn klaffte ein breiter roter Spalt,
+aus dem zwei feine warme Strahlen spritzten &mdash;</p>
+
+<p>»'raus!« sagt drüben der Paukarzt.</p>
+
+<p>»Herr Unparteiischer, wir erklären die Abfuhr!«</p>
+
+<p>Borgmann stampfte vor Wut mit dem Fuß, als der
+Paukarzt von hinten mit kräftigem Griff seine Stirn zusammenpreßte
+und ihn herumdrehte. Was half's?</p>
+
+<p>»<i lang="la">Silentium</i> &mdash; Neo-Borussia erklärt Abfuhr nach
+anderthalb Minuten!«</p>
+
+<p>Als Hans Thumser sich aus dem Schwall der Glückwünsche
+seiner Korpsbrüder losmachte und Ausschau
+hielt &mdash; war das Reiterpaar verschwunden.</p>
+
+<p>»Gratuliere!« sagte Erbprinz Heribert. »Fabelhaft,
+lieber Thumser, meine vollste Bewunderung! Haben Sie
+übrigens die Buchner gesehen?! Vollkommen tadelloses
+Mädchen ...«</p>
+
+</div>
+<div>
+<h2>2.</h2>
+
+<p class="start-chapW">Wenn Hans Thumser auf ein Glück wartete, so machte
+die Ungeduld ihn krank, verdarb ihm jede Minute mit
+zehrender Sehnsucht. So war es schon immer gewesen,
+solange er sich seiner erinnern konnte. Die letzten Wochen
+vor dem Weihnachtsfest, vor dem Beginn der Sommerfrische
+waren ihm stets eine endlose Tortur gewesen ...
+Und als er später begonnen hatte zu empfinden, daß nur
+die Stunden wahrhaft lebenswert seien, in denen er mit
+einem gewissen braunbezopften Menschenkind unter einem
+Dache weilen durfte ... da war alles, was zwischen diesen
+Stunden lag, nur wie ein unermeßlich langer, böser,
+dumpfer Traum und Alpdruck gewesen ...</p>
+
+<p>Und so bedrückend, so angstumschnürt wälzten sich auch
+die Tage dahin, die Hansens Mensurtriumph noch von der
+Eröffnungsvorstellung des Meininger Gastspiels schieden.
+Er saß inmitten seiner Korpsbrüder, schwatzte und trank
+mit ihnen wie immer, ließ ihre Lobesbezeigungen mit der
+gleichen Gelassenheit über sich ergehen wie den boshaften
+Spott der Neider, es sei nur ein »Schweinedusel« gewesen,
+daß er den S.&#x202f;C. Fechter hinabgetan habe ... Er ließ
+auf offizieller Kneipe seine Füchse in die Kanne steigen,
+daß sie quietschten, und schrieb morgens bei Windscheid
+und Binding im Kolleg mit einem ganz ungewohnten,
+krampfhaften Eifer nach, als steure er auf ein Prädikatexamen
+los &mdash; &mdash; und all dies Tun blieb seiner Seele so
+fern, so fern ...</p>
+
+<p>Manchmal fragte er sich, ob er wohl bei ganz gesundem
+Verstande sei &mdash; ob es nicht eine fixe Idee, ein krampfhaftes
+Wahngebilde sei, das ihn so grenzenlos hungern
+ließ nach &mdash; nach einem Nichts, einem Spiel, dem flüchtigen
+Schattenbilde eines Dichtertraums ... Und dann
+wieder genoß er mit einer phantastischen Seligkeit sein
+Wesen, das ihn vom wachen Leben hinweg so unwiderstehlich
+in luftige Spukwelten drängte ...</p>
+
+<p>Nur die Stunden zählten wenigstens halb, die er am
+Fenster seiner Bude verbrachte, hinüberstarrend zur nüchternen
+Front jener Gebäude an der langweiligen Sophienstraße,
+hinter denen der kahle Bau des Carolatheaters
+sich barg. Dort war um die Vormittagsstunden ein lebhaftes
+Kommen und Gehen. Früh um neun begannen
+die Proben, natürlich nur für die neuangeworbene Statisterie,
+denn für die Solo-Rollen »standen« selbstverständlich
+alle Stücke des Repertoires. Aber die stattliche Schar
+des »Volkes«, die in jeder Stadt aufs neue zusammengebracht
+und gedrillt werden mußte, die wimmelte heran,
+füllte die sonst stille Straße mit Lachen und Geschwätz ...
+braunäugige Töchter kleiner Bürgersleute, stellungslose
+Ladenfräulein und Kommis, Stadtreisende und Konservatoristen
+&mdash; vor allem aber Studenten, Studenten von
+jener Sorte, die der Waffenstudent eigentlich nicht mitrechnete,
+und die trotzdem die weitaus überwiegende Mehrzahl
+der akademischen Bürgerschaft bildete: die »Finken«,
+auch »Bummler« genannt, obwohl sie natürlich weit
+weniger bummelten als die jungen Herren in Mützen und
+Bändern ... gar zu gerne hätte Hans Thumser sich mit
+ins Gewühl der Statisten gemengt, um als »Volk« oder
+»Friedländischer Soldat« oder als römischer Quirite sich an
+den großen, festlichen Unternehmungen zu beteiligen, die
+da drüben vorbereitet wurden ... Und eines Tages hatte
+er sich's getraut, vor den Ersten hinzutreten mit der Bitte:</p>
+
+<p>»Sag' mal, Pilgram, wie ich höre, wirken eine ganze
+Menge Studenten in den Vorstellungen der Meininger
+als Statisten mit &mdash; hättest Du was dagegen, wenn ich da
+ebenfalls mittäte?«</p>
+
+<p>Der Erste sah den Fuchsmajor mit einem Blick an, als
+bäte dieser um Erlaubnis, silberne Löffel zu stehlen.</p>
+
+<p>»Hör mal, Du, Dein Kopfschmiß von Sonnabend eitert
+wohl nach innen, he?!«</p>
+
+<p>Also damit war es nichts ... und so mußte man sich
+denn begnügen, von weitem zuzuschauen, wie die glücklicheren
+Kommilitonen, frei des korpsstudentischen
+Zwanges, nach Schluß der Probe froh erregt, mit glühenden
+Köpfen, lebhaft diskutierend dem Eingangstor des
+Theaters entströmten, um die namenlosen Kneipen aufzusuchen,
+in denen sie nach eigener Wahl und entsprechend
+der Rücksicht auf die Dimensionen ihres Monatswechsels
+verkehrten. Und inmitten dieser Beneidenswerten kamen
+auch die Helden und Heldinnen aus der Probe &mdash; natürlich
+mußten ja auch sie wenigstens die Massenszenen immer
+wieder aufs neue mit probieren ...</p>
+
+<p>Und noch ein andres heimliches Fest blühte für Hans
+Thumser innerhalb seiner bescheidenen vier Wände, die
+glücklicherweise so dünn waren, daß sie manch ein Geräusch
+durchließen von jener geheimnisvoll lockenden Welt, die
+hinter ihnen sich barg: das Klappern zierlicher Pantöffelchen,
+das Rascheln seidener Röcke, keckes Mädchenlachen
+und halblautes Geschwätz, wenn Kolleginnen drüben
+zum Besuch kamen ... Aber noch immer war's ihm nicht
+geglückt, seine Nachbarin von Angesicht zu Angesicht zu
+sehen.</p>
+
+<p>Inzwischen baute Hans in seinem Herzen ein seltsam
+Kirchlein auf: droben war ein feierliches gotisches Heiligtum,
+in dem Jucunda Buchners weiße Gestalt auf ernstem
+Altare stand, von Weihrauch und Kerzengeflacker umspielt
+... darunter aber, tief unter der Erde, barg sich
+eine dämmrige romanische Krypta, in der tolle Orgien
+verbotener, heidnischer Kulte nächtens gefeiert wurden
+vor einem üppig lächelnden Götzenbild &mdash; seine Züge
+waren nicht genau erkennbar &mdash; verschwammen im hüpfenden
+Fackellicht, das durch den Raum dunstete ...</p>
+
+<p>Aber Hänschen Thumser war nicht der Mann des
+tatenlosen Zuwartens. Es mußte etwas geschehen, die
+dumpfe Qual dieser sehnsüchtigen Tage zu verkürzen.
+Aber was? Immer wieder mündeten seine Pläne in die
+Erkenntnis, daß man einem jungen verwöhnten Mädchen
+&mdash; und eine Schauspielerin konnte man sich ja doch nicht
+anders vorstellen als jung und verwöhnt, nicht wahr? &mdash;
+daß man solch einem Liebling der Götter und Menschen
+nur nahen könne mit gebenden Händen ... und seine
+Hände waren leer ... der Monatswechsel heidt &mdash; knapp
+noch das Nötigste für die letzten Tage vorhanden ...</p>
+
+<p>Auf einmal &mdash; welch glorreicher Gedanke! Hänschen
+Thumser konnte ja etwas, das am Ende doch nur die
+wenigsten unter Asta Thönys Verehrern &mdash; gewiß hatte
+sie unzählige &mdash; reiche Bankiersöhne und Gardeleutnants
+und &mdash; na und solche Leute mit unerschöpflichen Portemonnaies
+&mdash; aber gewiß konnten solche Leute meistens
+eines nicht, oder wenigstens nicht so gut wie Hänschen
+Thumser &mdash; nämlich <em class="gesperrt">dichten</em>!</p>
+
+<p>Juchhe! Hänschen hat kein Geld, um kunstvolle
+Blumenarrangements zu kaufen &mdash; aber wunderschöne
+Verse kann er machen! &mdash; Also los! ein Blatt aus dem
+Kollegheft gerissen und gereimt auf Deuwel komm heraus!</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Ich bin ein junger Korpsstudent,<br /></span>
+<span class="i0">Die Schuhe Lack, der Rock patent &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Korrekt und schick an mir ist alles &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>lauter unbestreitbare Wahrheiten! aber nun kommt der
+Haken.</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»&mdash; im Portemonnaie nur haust der Dalles &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>So &mdash; immer frisch heraus mit dem sauren Bekenntnis,
+dann weiß Asta auch gleich, wie sie mit mir dran ist &mdash;
+was sie von mir zu erwarten hat &mdash; und was nicht ...</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Doch da das Schicksal über Nacht<br /></span>
+<span class="i0">Zu Budennachbarn uns gemacht &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>(Ach du liebes, gnädiges Schicksal du!)</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»&mdash; müßt' ich Dich eigentlich begrüßen,<br /></span>
+<span class="i0">Und Rosen legen Dir zu Füßen &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Wie gerne würd' ich mich erdreisten &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Doch leider &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Alle Wetter: das wird ja ein prachtvoller Reim:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i10">»&mdash; kann ich mir's nicht leisten ...«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Nun ein zweites offenes Bekenntnis:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Noch kenn' ich Dich, Du Schelmin, nicht,<br /></span>
+<span class="i0">Sah nicht einmal Dein Angesicht &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Nur &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Gott, bleiben wir doch schon bei der Wahrheit:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i6">»&mdash; hab' ich morgens früh gesehn<br /></span>
+<span class="i0">Vor Deiner Tür zwei Schuhchen stehn &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">So winzig, duftig, elegant &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Hans! du imponierst mir! So viel edle Dreistigkeit hätt'
+ich dir gar nicht zugetraut &mdash; aber freilich: auf dem Papier,
+und mit einer schützenden Scheidewand dazwischen &mdash; &mdash;
+Aug' in Auge würde das Debüt wohl etwas kümmerlicher
+ausfallen, wie? &mdash; Aber weiter, weiter &mdash; einen Reim
+auf »elegant« &mdash; pah, Spielerei!</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»&mdash; daß gleich mein Herz in Flammen stand &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>&mdash; nein, das ist doch zu billig, zu abgeschabt:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Da gab es Funken &mdash; Flammen &mdash; Brand!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Ja, es ist eine alte Sache: Verse werden immer am
+besten, wenn man ganz geradezu ausspricht, was wirklich
+passiert ist:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Und seitdem träum' ich wahnbetört,<br /></span>
+<span class="i0">Von dem, was da hineingehört &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Ist das nicht ... doch ... gar zu unverschämt?! Ach
+was, mehr wie hauen kann sie schließlich nicht!</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Willst Du mir's auf den Nacken setzen,<br /></span>
+<span class="i0">Mir wär's ein sklavisches Ergetzen &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>&mdash; ne, das ist ein falscher Ton &mdash; von der Sorte sind
+wir doch nicht! &mdash;</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Ach, dürft' ich's einmal &mdash; einmal küssen &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Wirst mir's schon noch &mdash; erlauben müssen &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">O welche süße Phantasie &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Und ach &mdash; probiert hab ich's noch nie &mdash; &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Hans überlas das Geschriebene. Himmel, ist das
+schnurrig, wenn's auf einmal so in einem zu dichten anfängt!
+Ein ganz andrer Mensch kommt da plötzlich zum
+Vorschein als der, den man so im Leben darstellt ...</p>
+
+<p>Hatte er das wirklich geschrieben, er, der wohlerzogene
+Beamtensohn, der geschniegelte, korrekte Korpsstudent,
+der künftige Richter des Volkes?!</p>
+
+<p>Ach, und es gefiel ihm so gut &mdash; daß er's ganz hastig
+und mit fliegenden Fingern ins Reine schrieb und kuvertierte
+... dann stülpte er die grüne Mütze auf, lauschte, ob
+seine Nachbarin daheim sei ... und da er keinerlei Geräusch
+hörte, klinkte er im Vorbeigehen sachte die Tür zum
+Nebenstübchen auf und sah &mdash;</p>
+
+<p>Sah durch den Spalt eine zierliche Mädchengestalt in
+weißem Unterrock und weißem Frisiermantel schlafend
+aufs Sofa hingestreckt ... ein schwarzes Wuschelköpfchen ...
+und über den Rand des Sofas guckten ein paar schwarzbestrumpfte
+Füße, an denen zierliche rote Halbpantöffelchen
+baumelten ...</p>
+
+<p>Und schon hatte er mit einem Ruck den Briefumschlag
+mit seinen unverschämten Versen mitten in die Stube geschleudert,
+die Tür mit hartem Knall zugeklinkt &mdash; und flog
+nun die Stufen hinunter &mdash; die grüne Mütze war ihm in
+den Nacken gerutscht, seine Wangen brannten, und draußen
+zog er mit seinem spanischen Rohr einen Durchzieher durch
+die Luft, daß es nur so pfiff.</p>
+
+<p class="start-chapW space-above">Wie in Hans Thumsers unoffiziellem Herzen, so war
+auch in Valentin Pilgrams korrekter Chargiertenseele
+Revolution ausgebrochen, und auch die um einer Zimmernachbarschaft
+willen. Aber diese Revolution war doch von
+einer ganz anderen Sorte und gipfelte in der Erklärung,
+die der Senior in energischem Tone an die Frau Kanzleirat
+Buchner abgab: er kündige hiermit seine Bude und
+werde sofort ein andres Quartier suchen, wenn man den
+ruhestörenden Lärm und groben Unfug da nebenan nicht
+abzustellen die Mittel finden würde ...</p>
+
+<p>Und das war so gekommen:</p>
+
+<p>Valentin Pilgram stand im sechsten Semester. Er war
+bereits zwei Semester in Berlin inaktiv gewesen und nur
+nach Leipzig zurückgekehrt, weil er als Königlich sächsischer
+Untertan sein Referendarexamen in Sachsen ablegen
+mußte. Er war auf dringendes Bitten des C.&#x202f;C. zu Anfang
+des Semesters noch einmal wieder aktiv geworden
+und hatte die erste Charge interimistisch übernommen, weil
+kein anderer geeigneter Korpsbursch für diesen Posten da
+war, und der Vertreter des Marburger Kartellkorps, der
+die erste Charge später definitiv bekommen sollte, doch erst
+einmal in Leipzig und im Korps warm werden mußte.
+Interimistisch bekleidete dieser junge Herr die zweite
+Charge. Und so teilte Pilgram mit seiner ganzen feierlichen
+Gewissenhaftigkeit seine Zeit zwischen dem Korps
+und der Vorbereitung fürs Examen. Und in der letzteren
+war er nun plötzlich und gründlich unterbrochen worden
+durch ein grollendes Getöse, das aus der Nachbarkammer
+in seinen Studienfrieden hinüberklang, aus der Nachbarkammer,
+in der, wie er gelegentlich mit halbem Ohr vernommen
+hatte, die Tochter seiner Hauswirte, die herzoglich
+meiningische Hofschauspielerin Jucunda Buchner, für die
+Dauer des Gastspiels ihres Ensemble einquartiert worden
+war. Mitten in die Lektüre der Windscheidschen Drogenweltweisheit
+war da plötzlich eine sonore Altstimme
+hineingeklungen, zunächst in sachtem, murmelndem Repetieren,
+dann aber in selbstvergessen wildem Ausbruch:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Und <em class="gesperrt">einer</em> Freude Hochgefühl entbrennet,<br /></span>
+<span class="i0">Und <em class="gesperrt">ein</em> Gedanke schlägt in jeder Brust &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Da war der reckenhafte <i lang="la">candidatus iuris</i> mit einem
+Wutknurren aufgefahren ... aber umsonst: die sonore
+Stimme drinnen grollte weiter &mdash; sänftigte sich nun zu
+herzbeklommener Klage:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Doch mich, die all dies Herrliche vollendet,<br /></span>
+<span class="i0">Mich rührt es nicht, das allgemeine Glück,<br /></span>
+<span class="i0">Mir ist das Herz verwandelt und gewendet,<br /></span>
+<span class="i0">Es flieht von dieser Festlichkeit zurück ...«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Aber bald schrillte sie wieder auf mit jähem Wehlaut,
+daß sich vor Wut und Entsetzen dem Rechtskandidaten die
+Gedärme umkehrten.</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Sollt' ich ihn tö&mdash;öten? Konnt' ich's, da ich ihm<br /></span>
+<span class="i0">Ins Auge sah? I&mdash;h&mdash;n tö&mdash;ö&mdash;öten? Eher hätt' ich<br /></span>
+<span class="i0">Den Mordstahl auf die eig'ne Brust gezückt!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Das war zuviel! Der Student riß einen seiner Lederpantoffeln
+von den Füßen und pfefferte ihn krachend gegen
+die Nachbartür.</p>
+
+<p>Einen Augenblick verblüffte Stille &mdash; doch o weh &mdash;
+sein Warnsignal war offenbar nicht verstanden worden &mdash;
+schon nach wenigen Sekunden setzte das Gegroll und Gewimmer
+drüben wieder ein:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Und bin ich strafbar, weil ich menschlich war?<br /></span>
+<span class="i0">Ist Mitleid Sünde?«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>»Nee!« brüllte Valentin Pilgram. »Mitleid is keene
+Sinde nich! Haben Sie ruhig Mitleid mit mir und halten
+Sie den Mund &mdash; ich muß lernen!!«</p>
+
+<p>Einen Augenblick war drüben alles stumm &mdash; todesstarres
+Schweigen. Und plötzlich fauchte ... ja fauchte,
+anders war's nicht zu nennen &mdash; keifte &mdash; ja man muß
+schon sagen, keifte die sonore Stimme von nebenan:</p>
+
+<p>»So? Lernen müssen Sie? Na &mdash; ich auch ...
+stopfen Sie sich Watte in die Ohren!« Und noch dreimal
+mächtiger und markerschütternder grollte nun der majestätische
+Alt:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Ist Mitleid Sünde? Mitleid! Hörtest Du<br /></span>
+<span class="i0">Des Mitleids Stimme und der Menschlichkeit<br /></span>
+<span class="i0">Auch bei den andern, die Dein Schwert geopfert?!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Da sprang Valentin Pilgram wütend auf, riß den
+Klingelzug, daß es schrill durch den Flur gellte, und als die
+stattliche runde Frau Kanzleirätin ganz entsetzt ins Zimmer
+schoß, schnauzte er sie an:</p>
+
+<p>»Was ist das für ein gottverfluchter Spektakel daneben?
+Wenn das nicht in fünf Sekunden aufhört,
+zieh' ich!«</p>
+
+<p>»Erlooben Se mal, mei gutester Herr Pilgram!« entrüstete
+sich die behäbige Dame im geblümten Morgenrock
+sehr energisch. »Se wissen, scheint's, nich so recht, mit wäm
+Se's zu tun ha'm! Das is Se nämlich meine Tochter, die
+große Jucunda Buchner von die Meininger &mdash; die Jungfrau
+von Orleans!«</p>
+
+<p>»Und wenn je die Jungfrau Maria selber wär' &mdash;
+hier verlang' ich meine Ruhe, versteh'n Se mich, Frau
+Kanzleirat?! Ich hab' diese Bude gefälligst zum Studieren
+gemietet &mdash; versteh'n Se? Wir sind Se hier nich im
+Theater!!«</p>
+
+<p>»Se sollten Ihn' was schämen, Herr Pilgram, daß Se nich
+mal kenn'n bißchen Ricksicht nähm' auf Studium von eener
+gottbegnadeten Ginstlerin, wo ganz Leipz'g stolz drauf is!«</p>
+
+<p>»Wenn eener ä Vierteljahr vor'm Examen steht,
+dann hört die Rücksichtnahme ergebenst auf!« brüllte Pilgram.
+»Ich muß ooch studieren, aber mei Studium is
+wenigstens geräuschlos! Wenn Se e gottbegnadetes
+Mädchen zur Tochter haben, die beim Studieren einen
+Schkandal macht, wo die Mauern von Jericho von könnten
+einstürzen, dann vermieten Se gefälligst keene Buden an
+Studenten nich!«</p>
+
+<p>»Herr Pilgram &mdash; wenn ich gewußt hätte, was für e
+ungeschliffener Mensch Sie sein kenn' &mdash; nie wär'n Se
+mir ieber de Schwell gekomm', weeß Knebbchen!«</p>
+
+<p>»Mamaa!« tönte da plötzlich der sonore Alt aus dem
+Nebenzimmer, »rege Dich doch bitte ja nicht auf, Mamaaa!
+Der Herr mag ruhig ziehen &mdash; ich komme Deiner Haushaltungskasse
+für den Schaden auf!«</p>
+
+<p>Frau Kanzleirat musterte den Studenten von oben
+bis unten mit einem Blick tiefster Verachtung. »Da heer'n
+Se's, Herr Pilgram! So benimmt sich e wahrhaft vornähmer
+Mensch! &mdash; Also wenn Se zieh'n woll'n, ich hab
+Sie nich das mindeste dagegen &mdash; lieber heut als morgen!
+Adieu, Herr Pilgram &mdash; ziehen Se glicklich!«</p>
+
+<p>Und die stattliche Dame rauschte hinaus mit der Würde
+einer Königin. Die Schleppe des geblümten, nicht mehr
+ganz saubern Morgenrockes waberte hinter ihr drein.</p>
+
+<p>Valentin Pilgram aber blieb etwas benommen an
+seinem einsamen Studiertisch. Es war doch höchst fatal,
+nun so mitten in den Examensvorbereitungen das lieb gewordene
+Quartier gegen ein noch unbekanntes eintauschen
+zu müssen ... am Ende hätte er auch ein bißchen weniger
+hitzig sein können ... vielleicht mit einem guten Wort hätte
+sich die Sache viel besser einrenken lassen ... Aber das
+machte diese verfluchte Kandidatenstimmung, das Bangen
+vor diesem fahlen Gespenst, das am Ende der Studentenzeit
+hockte mit stieren Augen und sich ganz, ganz unmerklich
+immer näher heranschob ... da sollte der Teufel nicht
+nervös werden ... Was keine sausende Säbelklinge
+fertiggebracht hatte: das Schreckbild der drei Männer
+hinterm grünen Tisch hatte es erreicht: Valentin Pilgram
+hatte Angst ... und dieser Zustand, so ungewohnt, so unmöglich,
+der hatte ihn toll gemacht ... Eigentlich hatte er
+sich ja doch wirklich unqualifizierbar benommen ... es
+waren doch weibliche Wesen, beinahe Damen, mit denen
+er so gröblich umgesprungen ... zwar ein Kanzleirat war
+ein Subalternbeamter, und seine Frau gehörte nicht zur
+Gesellschaft ... und vollends eine Komödiantin ... aber
+wenn auch ... wenn auch ... Valentin Pilgram, ich
+glaube, dein Benehmen war durchaus nicht auf der Höhe
+der berühmten korpsstudentischen Direktion ... deren
+eifriger Hüter du selber so lange im C.&#x202f;C. gewesen ...</p>
+
+<p>Valentin wartete mit Spannung, ob nicht alsbald da
+drinnen wieder der dunkeltönige Alt mit dröhnendem
+Jambenschwall einsetzen würde ... er wartete mit Spannung
+und Verlangen ... das Fortdauern der Störung
+wäre wie eine nachträgliche halbe Entschuldigung seiner
+Hitze gewesen ... aber er wartete umsonst. Alles blieb
+still darinnen. Er hätt' also triumphieren, den ertrotzten
+Arbeitsfrieden eifrig büffelnd genießen können ... aber
+seltsam ... die richtige Streberstimmung wollte nicht
+wiederkommen ...</p>
+
+<p>Teufel auch, Valentin Pilgram, du hast doch nicht etwa
+einen »Moralischen«?</p>
+
+<p>Franconias Senior stand langsam auf und räumte
+Drogenweltlehrbuch und Repetitorien zusammen. Er stülpte
+die grüne Mütze auf den strohblonden Schädel und stieg
+sinnend die altehrwürdigen Holzstiegen hinab auf die
+»Kleine Fleischergaß«. Drüben im ersten Stockwerk des
+»Cafébaums« winkte über dem in Sandstein gemeißelten
+Amor, der schon seit Jahrhunderten einem gleichfalls sandsteinernen
+Türken »e Schälchen Heeßen« kredenzte, winkte
+Franconias Wappenschild, lockte, unter den morgendlich
+geöffneten Fenstern des Kneipzimmers, im Morgengolde
+sich bauschend, das grün-gold-rote Banner ... aber der
+Erste stieg nicht hinauf. Er ging auch nicht auf Wohnungsuche:
+er tat etwas, was er im Leben noch nicht getan
+hatte: er ging zur Universität und kämpfte inmitten eines
+Massenandranges von Kommilitonen, ganz gewöhnlichen
+Nichtinkorporierten, um ein Studentenbillett zur morgigen
+Eröffnungsvorstellung der Meininger &mdash; zur »Jungfrau
+von Orleans« ...</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Ecke Roßplatz, und Roßstraße, vor dem Hotel Hauffe,
+in dessen erstem Stockwerk der <i lang="la">studiosus iuris et
+cameralium</i> Heribert Hans Herwig Erbprinz von Nassau-Dillingen
+mit seinem militärischen Begleiter und seiner
+Dienerschaft die ganze Zimmerflucht an der Straßenfront
+inne hatte, harrten frühmorgens um sechse zwei Reitknechte
+in Livree mit drei prächtigen Gäulen. Sie plauderten
+mit dem galonierten Portier.</p>
+
+<p>»Nanu?« meinte der Hotelgestrenge, »schon wieder?
+Ihr seid ja Frühuffsteher geworden uff eemal?«</p>
+
+<p>»Was will mer mache?« meinte der ältere der herzoglich
+nassauischen Pferdepfleger. »Unser junger Herr hat
+widder mal e funkelnagelneies Veegelche g'fange ...«</p>
+
+<p>»Ei herrjemerschnee!« machte der Portier. »Was das
+nur zu bedeiten hat? Das is doch ganz unnatierlich fier
+so 'n jungen Herrn &mdash; Morgen fier Morgen drei Stunden
+durch den Wald zu flitzen un sich den Schlaf um die Ohr'n
+zu schlagen ...«</p>
+
+<p>»Ich glaub, ich weeß, was da derhinner steckt!«
+meinte der jüngere Bursche. »Ich hab' neilich so ebb's
+uffg'schnappt, wie se beim Reite g'sproche habe. Er und
+der Major!«</p>
+
+<p>»Da wär' ich Ihn' aber doch wahrhaft'g neigierig!«
+kicherte der Portier und schob sich von seiner Treppe hinunter
+auf den Bürgersteig.</p>
+
+<p>»Nu &mdash; e Weibsbild steckt da derhinner!« triumphierte
+der Reitknecht. »Ich hann's neilich ganz g'nau geheert:
+Lasse mer heemreite, hat der Major g'sagt &mdash; heit morge
+finne mer se doch nit &mdash; hat er g'sagt!«</p>
+
+<p>»I nee so was!« staunte der Portier. »Un dann sind
+se wärklich alle zwee heemgeritten?«</p>
+
+<p>»Ja &mdash; ganz wahrhaftig sinn se heemg'ridde!«</p>
+
+<p>»Wer das bloß sinn mag?« meinte der Portier.
+»Gewiß ganz was Vornähmes &mdash; sonst tät der gnädige
+Herr doch gewiß nich so viel Umstände dann machen
+um so e Weibsbild!«</p>
+
+<p>»Pscht &mdash; die Herre komme!«</p>
+
+<p>Der Erbprinz federte mit dem natürlichen Schwung
+seiner einundzwanzig Jahre in den Sattel &mdash; der Major
+mit der wohlkonservierten, doch immerhin etwas gewollteren
+Elastizität seiner zweiundvierzig. Und im
+Schritt ging's die gutgepflasterten Straßen der erwachenden
+Großstadt hinab, am massiven Bau und klobigen
+Rundturm der Pleißenburg vorüber bis zu den Anlagen
+jenseits des Flüßchens, wo man antraben konnte.</p>
+
+<p>»Wenn Sie ahnten, Durchlaucht, wie komisch Ihnen
+die Maske eines schmachtenden Toggenburg steht &mdash; Sie
+würden sich selber erheblich auslachen!« meinte Herr
+von Gorczynski.</p>
+
+<p>»Gott, wenn mir's doch Vergnügen macht, lieber Major
+&mdash; lassen Sie mir schon den kindlichen Spaß!«</p>
+
+<p>»Ich versteh' Sie nicht, Durchlaucht &mdash; Sie benehmen
+sich wie ein Sekundaner von einem Kleinstadtpennal und
+nicht wie ein Fürst ... So'n Theatermädel ... der schickt
+man doch einfach ein Rosenarrangement und seine Visitenkarte
+&mdash; und das Weitere findet sich!«</p>
+
+<p>Ueber das blasierte Knabenantlitz des Erbprinzen flog
+ein flüchtiges Rot. »Wenn ich glaubte, bei der Buchner
+ginge das auch so, dann pfiff' ich auf das ganze Abenteuer.
+Die Nummer kenn' ich nun allmählich! Die Weiber,
+die sich kommandieren lassen, die hab' ich satt! Ich möchte
+einmal ein Erlebnis haben &mdash; ein richtiggehendes Erlebnis!«</p>
+
+<p>»Na, auf Ihre Manier werden Sie's höchstens bis zu
+einem richtiggehenden Korbe bringen!« meinte der Major.
+»Ein Mann, der schmachtet, hat von vornherein alle
+Chancen verloren! Selbst wenn er der Erbprinz von
+Nassau-Dillingen wäre!«</p>
+
+<p>»Ich will aber diesmal überhaupt nicht der Erbprinz
+von Nassau-Dillingen sein! Versteh'n Sie mich, Herr
+Major?! Es paßt mir nicht, immer nur auf das Prinzenkonto
+geliebt zu werden! Schließlich bin ich doch ganz
+simplement als junger Mann nicht zu verachten, wie?
+Sehen Sie &mdash; und das möcht' ich mal ausprobieren! Ich
+hab' mir's nun mal in den Kopf gesetzt! Und gestern hab'
+ich der Buchner ein Rosenarrangement geschickt mit einem
+Kärtchen, auf das ich nichts weiter geschrieben habe als:
+Herbert von Dillingen, <i lang="la">studiosus iuris et cameralium</i>!«</p>
+
+<p>»Na, ich sag's ja, Durchlaucht! Sie sind auf dem
+besten Wege, einen <a id="InCorr1">hahnebüchenen</a> Unsinn aufzustecken!
+Aber was ich Ihnen sage: Ich habe Ihnen viel durch die
+Finger gesehen &mdash; aus unerschütterlicher Liebe zu Ihnen &mdash;«</p>
+
+<p>»Na ja, aus unerschütterlicher Liebe zu mir. Und
+weil Ihnen Ihr gesunder Menschenverstand sagt, daß Sie
+aller Voraussicht nach unter Bernhard dem Sechzehnten
+noch zehn Jahre, unter Heribert dem Vierzehnten aber,
+will's Gott, den ganzen Rest Ihrer Erdenlaufbahn abzuleisten
+haben werden!«</p>
+
+<p>»Oh &mdash; aber Durchlaucht!« sagte der Major und legte
+mit pathetischer Bewegung seine Hand auf jene Stelle
+seines Busens, unter der man den Sitz seiner unerschütterlichen
+Liebe zu seinem jungen Herrn und Zögling annehmen
+mußte.</p>
+
+<p>»Bitte, lieber Gorczynski &mdash; stürzen Sie sich nicht in
+Unkosten &mdash; ich denke, wir beide kennen uns!« lachte Erbprinz
+Heribert.</p>
+
+<p>»Ernsthaft gesprochen, Durchlaucht!« sagte der Major
+etwas verärgert, indem er seinen Gaul in Schritt fallen
+ließ, »ich lasse Ihnen jede harmlose Affäre durchgehen &mdash;
+wenn sich aber etwas Ernsthaftes anspinnt, berichte ich
+<i lang="la">a tempo</i> nach Dillingen! Ihr erlauchter Herr Vater
+hat mich kategorisch dahin instruiert: keine Weibergeschichten!
+Und ich glaube diese Instruktion ganz im
+Sinne meines gnädigen Herrn aufzufassen, wenn ich &mdash;«</p>
+
+<p>»Wie kann man sich nur so sinnlos aufregen, mein
+Teuerster! Also weil es mir Vergnügen macht, mal ein
+paar Vormittage im Leipziger Ratsholz spazieren zu
+reiten, und weil ich dabei gelegentlich die Hoffnung ausgesprochen
+habe, einen gewissen grauen Schleier noch
+einmal wehen zu sehen, wittern Sie bereits allerlei
+Tragödien!«</p>
+
+<p>»Ich gestatte mir, Durchlaucht, mich auf meine
+Menschenkenntnis zu berufen. Es ist wider die Natur,
+wenn ein von seinem gnädigen Herrn Vater mit überaus
+auskömmlicher Apanage ausgestatteter und dank meiner
+überaus riskierten Nachsicht bereits einigermaßen erfahrener
+junger Prinz einer Theatermamsell wegen, die
+er ein einziges Mal von weitem gesehen hat, an drei
+nacheinanderfolgenden Tagen um fünf statt um neun Uhr
+aufsteht. Wenn ich das nach Dillingen berichte, gibt's
+eine Katastrophe! Hab' ich nicht recht?«</p>
+
+<p>»Von weitem gesehen?« schmunzelte der Prinz. »Ich
+habe mir bereits eingehenderes Material verschafft!« Und
+er holte einen großen Umschlag aus seiner Rocktasche,
+reichte ihn von Schimmel zu Rappen zum Major
+hinüber. Dem fielen beim Oeffnen drei Bilder in die
+Hand: es waren Darstellungen eines jungen Mädchens;
+zunächst im Straßenkleide &mdash; Pelzjäckchen, Barett, Muff
+&mdash; und dann im Eisenharnisch mit bloßem Haupt, aufgelösten
+Haaren, ein Schwert und eine Fahne in Händen &mdash;
+und endlich im Samt, mit riesigen Puffenärmeln, das
+Gesicht von langen Ringellocken umwallt und von einem
+starren weißen Rundkragen eingesäumt ...</p>
+
+<p>»Kreuzmillionen &mdash;!« entfuhr es dem Major. »Das
+ist &mdash;?!«</p>
+
+<p>»Das ist &mdash; <em class="gesperrt">sie</em>,« sagte der Erbprinz, und über seinem
+fahlen Lebemannsangesicht lag eine Sekundanerröte, die
+dem Major völlig fremd war an seinem Zögling. Er
+starrte den jungen Mann an, als sehe er ihn zum
+erstenmal.</p>
+
+<p>Verdammt &mdash; also so stand die Sache?! Nun hieß
+es aber wahrhaftig aufpassen ...</p>
+
+<p>Der Major reichte die Bilder zurück. »Na ja,« sagte
+er im Tone völliger Wurstigkeit, »die Buchner ... Gott,
+warum nicht? Wenn Sie sich auf die nun mal kaprizieren,
+Durchlaucht &mdash; von meiner Seite aus steht nichts im
+Wege! Nur fangen Sie's vernünftig an und halten Sie
+sich nicht zu lange bei der Vorrede auf! Also wir werden
+sie auf &mdash; na sagen wir auf morgen abend, heut nach
+der Premiere wird sie schwerlich abkömmlich sein &mdash; wir
+werden sie auf morgen abend zum Souper einladen &mdash;
+sie mag noch eine Kollegin mitbringen &mdash; und dann entwickelt
+sich alles weitere glatt und prompt historisch!«</p>
+
+<p>Der Erbprinz antwortete nicht. Er gab dem Gaul
+die Schenkel, und zwar so heftig, daß das rassige Tier
+ganz erschrocken zusammenfuhr und dann in tollen Sätzen
+von dannen raste. Der Major flitzte hinterdrein und
+überlegte im Hinsausen, ob er das als eine Zustimmung
+zu seinem Vorschlage aufzufassen habe.</p>
+
+<p>Auf jeden Fall &mdash; geschehen mußte es. Und wenn
+sein Schützling, ein wenig verspätet allerdings &mdash; na, wie
+nannte man das noch &mdash; hm, hm! sein &mdash; sagen wir also:
+Herz entdeckt hätte &mdash; dann möglichst schnell diese kleine
+Entgleisung auf den Normalweg zu dem üblichen, gefahr- und
+schmerzlosen Ausgang leiten ... So befahl es Pflicht
+und Instruktion ...</p>
+
+<p>Und in Gedanken redigierte er folgendes Billett, das
+er heut abend bei der Premiere mit einer aufmunternd
+luxuriösen Blumenspende auf die Bühne lancieren wollte
+&mdash; heut abend? Nein &mdash; da würde die Aktion vermutlich
+ihren Effekt verfehlen &mdash; würde untergehen in einem
+Wust und Ueberschwall ... nein, morgen früh zum Frühstück
+&mdash; das wird das richtige sein! Also ungefähr
+folgendermaßen würde er schreiben:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>»Mein sehr verehrtes <i lang="la">etcaetera</i>! Zwei aufrichtige
+und hingerissene (gerissen ist sehr gut!) Verehrer Ihrer
+Kunst würden es sich zur höchsten Ehre und Freude
+rechnen, Ihre nähere Bekanntschaft <i lang="la">etcaetera
+etcaetera</i>. Wir wagen deshalb die dreiste Bitte,
+daß es Ihnen, Verehrungswürdige, gefallen möge,
+morgen, Donnerstag abend, nach der ersten Wiederholung
+der »Jungfrau« mit uns im Hotel Hauffe zwanglos
+zu soupieren ... Sollten Sie unter Ihren liebenswürdigen
+Kolleginnen eine nähere Freundin haben,
+die es nicht verschmähen würde, eine Stunde in harmlos
+vergnügter Gesellschaft <i lang="la">etcaetera</i>, so würde uns das
+eine ganz besondere <i lang="la">etcaetera</i> ... In Voraussetzung
+Ihrer Zustimmung werden wir uns erlauben, nach
+Schluß der Vorstellung ein Coupé zur Verfügung der
+Damen am Bühneneingange <i lang="la">etcaetera</i>. Mit der
+Versicherung unserer vollkommensten Bewunderung
+Ihre aufrichtigen Verehrer</p>
+
+<p class="right">
+v. Dillingen. v. Gorczynski.«
+</p></blockquote>
+
+<p>Na ja &mdash; das übliche Schema &mdash; das nie versagende ...
+pöh ... eine Komödiantin ... wenn's weiter nichts ist ...</p>
+
+<p>Und schließlich die Hauptsache: zwei blaue Lappen
+hinein &mdash; für jede einen &mdash; damit die guten Kinder auch
+gleich merken, daß man ernsthafte Absichten hat &mdash; nicht
+wahr?</p>
+</div>
+<div>
+<h2>3.</h2>
+
+<p class="start-chapA">Am Mittwoch nachmittag um fünf war der allwöchentliche
+Seniorenkonvent: die Zusammenkunft der Korpsburschen
+sämtlicher Leipziger Korps. Sie fand auf der
+Kneipe des präsidierenden Korps statt: zurzeit war's
+Neo-Borussia, die ihr Heim in nächster Nähe der Franken
+aufgeschlagen hatte, im ersten Stock eines gleich uralten,
+verräucherten, verwahrlosten Kneiphauses, wie der altberühmte
+Cafébaum eins war, in dem Franconia
+residierte. Es stand irgendeine der welterschütternden
+Fragen auf der Tagesordnung, um welche sich ein hoher
+S.&#x202f;C. an jedem Mittwoch Nachmittag die Köpfe zu zerbrechen
+pflegte. Diesmal lag vor &mdash; na was noch? &mdash;
+lag vor ein Antrag von Misnia und Thuringia, ein wohllöblicher
+S.&#x202f;C. wolle beschließen, daß die Klingen der
+Mensurspeere an der Spitze in Zukunft nicht mehr rechtwinklig
+und scharfkantig abgeschliffen würden, wie es
+bisher üblich war, sondern abgerundet ... Infolge des
+eckigen Schliffs waren nämlich an den letzten Bestimmtagen
+ein paar so <a id="InCorr2">hahnebüchene</a> Knochensplitter herausgekommen,
+daß die Paukärzte kategorisch Wandel verlangten:
+die Klingen sollten in Zukunft an der Spitze
+halbkreisförmig geschliffen werden ... Das war natürlich
+ein Problem von fundamentaler Bedeutung, und so erhitzten
+sich die Gemüter immer mehr und mehr, immer
+stärker wurde der Bierkonsum, immer massiver der Zigarren-
+und Zigarettenqualm ... und immer hastiger
+rückte der Zeiger jener Stunde zu, da im Carolatheater
+das Gastspiel der Meininger beginnen sollte ... Theater
+&mdash; pah! Wer hat Zeit, ans Theater zu denken, wenn
+der bittre Ernst des Lebens einen im Bann hält?</p>
+
+<p>Einer hatte Zeit: der schlanke Fuchsmajor der Franken
+natürlich &mdash; er saß auf Kohlen und hätte sich mit Vergnügen
+bereit erklärt, sich am Sonnabend auf Mensur
+mit einem kantig geschliffenen Speer ein halbes Dutzend
+Knochensplitter aus dem Schädel hauen zu lassen, wenn
+er dadurch diese entsetzliche Debatte hätte abkürzen und
+den Anschluß an den Beginn der Vorstellung hätte erreichen
+können ...</p>
+
+<p>Endlich wagte er ein Aeußerstes. Er ging leise zum
+Ersten hinüber, neigte sich und flüsterte ihm &mdash; der mit
+aller Nervenanspannung der hitzigen Rede seines Gegenpaukanten
+vom vergangenen Sonnabend, des Meißner
+Zweiten, folgte &mdash; flüsterte ihm ins Ohr:</p>
+
+<p>»Pilgram, ich darf Dich vielleicht daran erinnern, daß
+Durchlaucht mich auf heut abend in seine Loge eingeladen
+hat &mdash; da darf ich doch keinesfalls zu spät kommen ...
+würdest Du wohl gestatten, daß ich den S.&#x202f;C. verlasse?«</p>
+
+<p>»Du bist verrückt!« knurrte Pilgram halblaut. »S.&#x202f;C.
+geht doch vor allem andern vor! Du siehst, ich muß ja
+auch aushalten!«</p>
+
+<p>»Du &mdash;?! Ja, wie soll ich das verstehen, Pilgram?
+Gehst Du ... denn auch ... ins ...«</p>
+
+<p>Der Erste errötete tief. Es war ihm herausgefahren,
+das Geheimnis, dessen er sich vor allen Korpsbrüdern
+schämte: daß der traditionelle Feind aller neun Musen
+sich ein Theaterbillett erstanden hatte &mdash; und noch dazu
+eine Studentenkarte zu einer Mark und zwanzig Pfennigen,
+um gänzlich unstandesgemäß &mdash; selbstverständlich
+im Bummel, also im tiefsten Inkognito &mdash; zwischen allerhand
+proletigen Kommilitonen, das Parterre, ganz hinten,
+zu bevölkern &mdash; sintemalen und alldieweilen es auch bei
+ihm am Monatsschluß nicht mehr zu dem für das Korps
+vorgeschriebenen Platz im ersten Rang hatte reichen
+wollen ...</p>
+
+<p>»Allerdings &mdash; ich geh' auch!« zischte Pilgram. »Wir
+gehen nachher zusammen &mdash; aber im S.&#x202f;C. wird ausgehalten,
+und wenn uns die ganze Affenkomödie durch
+die Lappen gehen sollte!«</p>
+
+<p>Vor solchem Pflichteifer verstummte Hans Thumser &mdash;
+völlig erschüttert ... Freilich, was galt diesem Banausen
+die Versäumnis eines, zweier, dreier Akte Schiller! Wie
+mochte der bloß auf die Idee gekommen sein, ins ...
+Hallo &mdash; sollte da am Ende ein ... trotz allem ... erwachtes
+Interesse für seine berühmte <i lang="la">filia hospitalis</i>?!
+Alle Wetter &mdash; das war am Ende doch wohl die einzige
+Erklärung!</p>
+
+<p>Und während ein wohllöblicher S.&#x202f;C. sich weiterhin
+über krummen oder geraden Schliff der Klingenspitzen
+aufregte, griff Hans Thumser alle fünf Minuten heimlich
+nach seiner Taschenuhr ... halb sieben &mdash; &mdash; sieben Uhr
+jetzt &mdash; verflucht! War denn diese verdammte Zwiebel
+rasend geworden? Und nun &mdash; nun war es auf einmal
+halb acht &mdash; in diesem Augenblick hob sich da unten fern
+in der Südstadt, in der Sophienstraße, der Vorhang zum
+Prolog, und der biedere Thibaut d'Arc verlobte seine
+zwei ältesten Töchter ... Nun stand sie auf der Bühne &mdash;
+sie, die Madonna aus der oberen Kirche seines Herzens ...
+noch im schlichten Kleide der Bäuerin, doch schon überlagert
+vom tragischen Schatten ihrer göttlichen Sendung ...</p>
+
+<p>»Meine Herren,« sagte der Vorsitzende, Herr Borgmann,
+Neo-Borussiae, die linke Stirnseite noch immer
+von mächtigem Wattebausch unter schwarzer Kompresse
+bedeckt, da, wo Hans Thumsers kecker Durchzieher ihm
+wider alle Vorsicht Schwarte, Knochenhaut und alle Aeste
+der Temporalis durchgesäbelt &mdash; »meine Herren, meiner
+Ueberzeugung nach würden wir uns vor sämtlichen Glocke
+schlagenden S.&#x202f;C. eines hohen Kösener unsterblich
+blamieren, wenn wir als einziger S.&#x202f;C. den allgemein
+üblichen scharfkantigen Schliff abschaffen wollten &mdash; und
+zwar aus einer Anwandlung von Humanitätsdusel
+heraus, der für mein Empfinden einen bedenklichen Beigeschmack
+von Kneiferei hat &mdash;«</p>
+
+<p>»Ich bitt' ums Wort!«</p>
+
+<p>»Ich auch! Ich auch!« so scholl's heftig aus der Korona.</p>
+
+<p>»Silentium für Herrn von Schubart, Misniae!« sagte
+Borgmann gelassen.</p>
+
+<p>»Ich muß mir aufs entschiedenste verbitten,« schrie
+Herr von Schubart, der Zweite der Meißner, in den
+Zigarrenbrodem hinein, »daß der Herr Erste Chargierte
+des präsidierenden Korps von einer Maßregel, die mein
+C.&#x202f;C. befürwortet, erklärt, sie habe einen Beigeschmack von
+Kneiferei! Ich verlange, daß der Herr Vorsitzende diese
+Aeußerung mit dem Ausdruck des Bedauerns zurücknimmt
+&mdash; andernfalls behält sich mein C.&#x202f;C. weitere
+Schritte vor, sowohl gegen einen wohllöblichen C.&#x202f;C. des
+präsidierenden Korps als auch gegen Herrn Borgmann
+persönlich!«</p>
+
+<p>Dreiviertel acht &mdash;! wimmerte Hans Thumsers sehnsüchtige
+Seele &mdash; und in seinem Herzen klang's:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Nichts von Verträgen! nichts von Uebergabe!<br /></span>
+<span class="i0">Der Retter naht, es rüstet sich zum Kampf &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Vor Orleans soll das Glück des Feindes scheitern,<br /></span>
+<span class="i0">Sein Maß ist voll, er ist zur Ernte reif!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Thuringia schloß sich den Erklärungen Misnias an;
+Guestphalia schwankte, während Franconia und Neo-Borussia
+gemeinschaftlich gegen den Antrag auf Abänderung
+des Klingenschliffs auftraten. Unter allgemeiner
+Erregung schritt der Vorsitzende endlich um zehn Minuten
+vor acht zur Abstimmung, und nun fiel Guestphalia
+definitiv zur Partei des runden Schliffs. Franconia und
+Neo-Borussia waren überstimmt: die holde Menschlichkeit
+oder, wie Herr Borgmann Neo-Borussiae es nannte, der
+Geist der Kneiferei hatte gesiegt ... Und mit dem
+Zigarrenrauch hingen unzählige P.&#x202f;P. Suiten und Säbelforderungen
+in der Luft ... Morgen früh zum Frühschoppen
+würden sie explodieren ...</p>
+
+<p>»Nu aber raus!« zischte Pilgram seinem Korpsbruder
+zu. »Weh Dir, wenn Du den andern was davon sagst,
+daß ich ins Theater geh &mdash; offiziell büffle ich heut abend!«</p>
+
+<p>Drunten wartete des Ersten Chargierten der Korpsdiener
+mit Hut und Regenschirm. Pilgram riß ihm beides
+aus der Hand, zog Mütze und Band ab und übergab sie
+dem Getreuen. Thumser, der vornehm in der Proszeniumsloge
+sitzen würde mit dem Erbprinzen, blieb natürlich in
+Couleur. Und in rasendem Tempo hasteten nun die beiden
+Studenten die kleine Fischergasse hinab.</p>
+
+<p>Auf dem Alten Markt standen Droschken aufgefahren.
+Die Wanderer warfen einen wehmütigen Blick hinüber:</p>
+
+<p>»Wenn's doch schon der Erste wäre!« knirschte Hans
+Thumser.</p>
+
+<p>»Beine in die Hand!« knurrte Pilgram.</p>
+
+<p class="start-chapA space-above">Als Hans Thumser sich auf Zehenspitzen in die
+Proszeniumsloge schob, hatte der erste Akt bereits
+begonnen. Der Erbprinz und der Major wandten kaum
+zu flüchtiger Begrüßung die Köpfe &mdash; schon waren sie im
+Bann. Und hinter den schwarzen Silhouetten der Vordermänner
+sah Hans nur mit einem flüchtigen Blick die von
+der Bühne her matt erleuchteten vordersten Reihen des
+Publikums im Parkett &mdash; lauter Gesichter, im Lauschen
+und Schauen erstarrt. Und schon schlugen auch über ihm
+die Wogen zusammen.</p>
+
+<p>Ein hoher gotischer Saal am Hoflager König Karls
+von Frankreich. Düstere pfeilergetragene Holzdecke, die
+Wände eichengetäfelt, darüber Gobelins mit steifen Reihen
+buntgewandeter Ritter und Edeldamen. Und ganz tief
+hinten ein buntes Fenster, durch das sich ein paar verirrte
+Sonnenstrahlen stehlen. Und mit zweien Getreuen der
+unglückliche weichherzige König, dessen Knabenhand wohl
+seine Agnes Sorel zu kosen vermag, nicht aber die Zeit,
+die aus den Fugen gegangen, wieder einzurenken ...
+drei Ratsherren knien vor ihm, seine vielgetreuen Bürger
+von Orleans, und flehen um Hilfe, um Entsatz ihrer hartbedrängten
+Stadt ... Verzweiflungsvoll ringt der König
+die kraftlosen Arme:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Kann ich Armeen aus der Erde stampfen?<br /></span>
+<span class="i0">Wächst mir ein Kornfeld in der flachen Hand?«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Doch sieh: ein Lichtstrahl zittert in das Dunkel der
+Szene: Die Geliebte kommt: Sie bringt opfermutig all
+den blinkenden kostbaren Tand, den ihr König in süßen
+Stunden ihr um den Nacken gewunden ... Ein schwarzlockiges,
+schmiegsames, kätzchenweiches Geschöpfchen ...
+Ihre Augen schimmern in koketten Tränen, ihre Hände,
+weich und rosig wie Frühlingswolken, umschmeicheln den
+Freund, noch in der Angst der Verzweiflung liebeheischend,
+sehnsuchtsweckend ...</p>
+
+<p class="center">
+»Agnes Sorel ... Asta Thöny«<br />
+</p>
+
+<p>sagt der Theaterzettel. Herrgott ... das ist sie ...</p>
+
+<p>Und einen Moment ist Hans Thumser wieder Hans
+Thumser ... Er tastet nach seiner Brusttasche, wo ein
+etwas zu stark parfümiertes rosa Billetchen steckt: Die
+Worte, die es enthält, ach, die kann er auswendig, im
+Träumen, von vorn und von hinten:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Nach zierlichen Schuhchen und dem, was drin steckt,<br /></span>
+<span class="i0">Liegt mancher Fuchs auf der Lauer &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Eintritt verboten! Hier wird nicht geschleckt!<br /></span>
+<span class="i0">Füchschen, die Trauben sind sauer!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Also &mdash; das ist sie ... das ... Füßchen werden nicht
+vorgezeigt, nur zwei zierliche Goldspitzen lugen im Schreiten
+ab und an für einen winzigen Moment unterm schweren
+Brokat des gotisch starren Gewandes vor ... dafür
+aber läßt dies neidische Gewand einen Hals frei ... einen
+Hals ... o Gott, o Gott ...</p>
+
+<p>Einen Augenblick ist Hans Thumser Hans Thumser &mdash;
+der sehnsüchtige Knabe an der Schwelle des Lebens ...
+nur einen Augenblick ... und schon wieder ist er ...
+niemand und alles ... nur Auge, nur weitgeöffnet schauendes
+Gottesauge &mdash; nur Seele, alliebende, alldurchdringende
+Weltseele ...</p>
+
+<p>Höher schwillt die Flut des Entsetzens um den verlorenen
+Königsknaben und sein zitterndes Lieb ... Eine
+Hiobspost jagt die andere, das Maß des Ertragens ist voll,
+sein Land und seine Ehre gibt der Schwache preis, und
+empört fallen die letzten seiner Getreuen von ihm ab ...
+Verlassen steh'n die beiden Kinder ...</p>
+
+<p>Da auf einmal ... kommt einer der Entwichenen
+zurück ... auf seinem zuckenden Gesicht, seinen stammelnden
+Lippen glüht ein Wort ... ein Wort, das längst ins
+Fabelland entschwunden schien ... das Wort: <em class="gesperrt">Sieg</em> ...</p>
+
+<p>Und sieh &mdash; da führen die edlen Herren aus des
+Königs Gefolge einen riesigen Krieger heran: einen
+Ritter im zerhauenen, blutbekrusteten Harnisch: ein blutiger
+Fetzen windet sich um seine kampfglühende Stirn,
+aus seinem blutunterlaufenen Auge lodert das gleiche
+Zauberwort: das unfaßbare: Sieg ... Sieg ...</p>
+
+<p>Und atemlos, stockend oft und nun in wahnwitzigen
+Jubel ausbrechend, kündet er die phantastische Mär:</p>
+
+<p>Das Wunder ist herabgestiegen vom Himmel ... Ein
+weißes Mädchen ist in die Mitte der umzingelten Franzosen
+getreten &mdash; hat dem Fahnenträger das Banner entrissen
+und an der Reisigen Spitze sich in den Feind gestürzt!</p>
+
+<p class="quote">
+»Ein Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen!«
+</p>
+
+<p>Und daß fassungsloser Unglaube kniebeugender Glaube
+werde &mdash; &mdash; wird sie selber kommen! wird kommen &mdash;
+hierher, an diese Stelle, auf der wir stehen, harrend, bis
+ins Mark erschüttert und dennoch zweifelnd ...</p>
+
+<p>Und horch! Schon kündet sich's an: Da draußen, in
+den fernen Gassen der Stadt, hören wir den Lärm eines
+jäh triumphierenden Empfangs ... Näher und näher
+kommt das festliche Getös ...</p>
+
+<p>Und da &mdash; da fangen ja die Glocken von allen Türmen
+plötzlich an zu schwingen ... und heller tönt draußen das
+tolle Jauchzen der Begeisterung ... und nun stürzen sie
+alle, die in der dumpfen, ragenden Kammer weilen, in
+kindischer Hast ans Fenster da hinten und beugen sich
+hinaus, und sieh, sie sehen's schon, das Wunder, das Unmögliche
+&mdash; sie schreien und winken und schreien &mdash;</p>
+
+<p>Und horch, nun stürmt's da draußen die Stufen hinauf,
+nun stürzt, nun strömt es herein. Ratsherren und
+Rittersleute und Bürger und Weiber und Soldknappen
+und Kindervolk und ... eben Menschen, schreiende,
+tobende, vor Erlösungstaumel sinnlose Menschen ... Vor
+dem König, der mit der Geliebten, zitternd, schwindelnd,
+da vorn geblieben, werfen sie sich auf die Knie, in den
+Staub, heulen und jauchzen: Sieg! Sieg! Sieg!</p>
+
+<p>Und nun &mdash; nun öffnet sich auf einmal, wie die Flut
+des Roten Meeres vor dem Durchzug der Kinder Israel,
+so klaffend öffnet sich durch die Menschenflut eine Gasse ...
+und durch die Gasse ... schwebenden Schrittes ...
+kommt ... sie ...</p>
+
+<p>Kommt ein weißes Mädchen, nein, kein Mädchen,
+kein Mensch ... ein Gedanke, ein Gottgedanke, der Gedanke
+der Erlösung, der Gerechtigkeit, der Freiheit, des
+Vaterlandes ...</p>
+
+<p>Und steht so vor dem König ... das Ewige, das Heilige,
+das Unendliche selbst ...</p>
+
+<p>Und doch ... nur ein Mädchen ... ein junges, weißes
+Weib ...</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">In der winzigen Garderobe, rechts vom Schauspieler,
+auf der Frauenseite, wartete Mutter Buchner ihrer berühmten
+Tochter. Sie hatte es sich zwar nicht versagen
+können, sich von einem Eckplatz des Parketts aus an
+Jucundas Spiel, den neidisch-ehrfurchtsvollen Blicken der
+Bekannten, dem Jubelsturm des Publikums zu weiden;
+aber am Anfang des zweiten Aktes, das wußte sie, trat
+Jucunda nicht auf, und da drängte es sie in die Garderobe
+ihres Kindes, um ihr Zofendienste zu leisten. Ach,
+am liebsten wäre sie ja von Ort zu Ort mitgereist ...
+Wenn ein Mädchen so ungeheuer viel Talent hatte ...
+und so gut gewachsen war &mdash; na, man wußte ja, von wem
+sie das hatte! &mdash; und so heißblütig &mdash; ach Himmel, man
+war ja selber auch mal jung gewesen! &mdash; Das war ja ganz
+selbstverständlich, daß die Mannsbilder hinter so einer her
+waren wie verrückt &mdash; da hätte man ja doch als Mutter
+eigentlich auf Schritt und Tritt aufpassen müssen ...
+Aber da war ihr Alter, der Herr Rat ... der konnte ja
+nicht leben ohne seine Doris ... Na, solange das Kind
+in Leipzig war, sollte es wenigstens fühlen, was man an
+einer Mutter hat ... Und kaum war der Vorhang nach
+dem ersten Akt gefallen, da flog &mdash; während das Publikum
+noch immer tobte, die Gardine auf und nieder tanzte,
+die Darsteller sich immer und immer wieder süß lächelnd
+verneigten &mdash; flog Mutter Doris aus dem Zuschauerraum
+zu dem bekannten Pförtchen, das nur denen vom Bau sich
+öffnet, hastete die steinerne Treppe hinauf in das winzige,
+von Schminke, Puder und Menschendunst geschwängerte
+Kämmerchen und wendete das gewärmte Hemd, das auf
+der Heizung bereit hing ... Denn wie ihre Jucunda
+schwitzte bei so'ner großen Szene, das war schon nicht
+mehr schön ... Von Kopf bis zu Füßen mußte sie die
+Unterwäsche wechseln jedesmal, wenn irgend Zeit blieb ...
+Freilich, wie das Mädchen sich auch ins Zeug legte ...</p>
+
+<p>Und nun kam sie &mdash; kochend, dampfend, wie aus dem
+Backofen ... fiel in den Frisierstuhl und streckte alle Viere
+von sich ... Frau Doris umarmte sie zärtlich und drückte
+ihr einen begeisterten Mutterkuß auf die triefende Stirn ...</p>
+
+<p>»Schinderei, verfluchte!« pustete Jucunda. »Wie aus
+dem Wasser gezogen ist man &mdash; und das schon nach dem
+ersten Akt! Schnell, Muttel, die Lappen runter und
+frische Wäsche! Ich komm' ja um!«</p>
+
+<p>In der Tür der Garderobe drängten ein paar Kollegen
+nach, der Heldin des Abends die Hand zu drücken.
+Alle mochten sie das stramme junge Ding leiden, das mit
+seinen achtzehn Jahren so resolut durch diese schminkestarrende
+Welt stapfte, als sei sie darinnen geboren und
+nicht in einem engbrüstigen Leipziger Spießermilieu ...</p>
+
+<p>»'raus!« befahl Mutter Doris. »Alles 'raus! Meine
+Tochter wünscht alleene zu sein!«</p>
+
+<p>Und rasch vollzog sich die Verwandlung. In kräftiger
+Frische, schweißgebadet, stieg der derbe Mädchenleib aus
+den klatschnaß zusammensinkenden Hüllen, wurde von sorglicher
+Mutterhand mit lauen Güssen überspült und in die
+frischen gewärmten Unterkleider gesteckt. Die Garderobiere,
+ein verknittertes, verhutzeltes Weiblein, stand
+müßig daneben und träumte von der goldenen Zeit, als
+auch sie einmal am Stadttheater zu Stallupönen erste
+Naive gewesen und von den Leutnants der Garnison mit
+billigen Buketts und falschen Schmucksachen überschüttet
+worden war ... Dann aber mußte sie eingreifen, denn
+über das weiße Gewand des Bauernmädchens wurde nun
+die wuchtige Rüstung geschnallt und mit einem Dutzend
+Riemen und Oesen befestigt &mdash; darauf verstand Mutter
+Doris sich denn doch nicht. Inzwischen aber schwatzten die
+Frauen ohn' Unterlaß:</p>
+
+<p>»Gott, war das ein Spektakel zum Aktschluß! Namentlich
+da hinten im Parterre!« sagte Jucunda und warf das
+langflutende braune Gelock über die Rüstung zurück.</p>
+
+<p>»Natierlich &mdash; das gloob' ich ooch!« erwiderte die
+Mutter und strich mit glättendem Kamme bedächtig durch
+die krause Mähne der Tochter. »Da sitzen doch die Herren
+Studenten! Was die trampeln kenn'! Gott soll mich bewahren!
+'s ganze Parkett war Dir doch eene Staubwolke!
+Und <em class="gesperrt">unserer</em> is ooch dabei &mdash; wirscht mer's
+glauben?«</p>
+
+<p>»Wer? Der unverschämte Mensch aus dem Eckzimmer?«</p>
+
+<p>»Freilich, der! Un gezogen is er noch lange nich!«</p>
+
+<p>»I nee so was!« lachte Jucunda.</p>
+
+<p>»Eegentlich is mer'sch ganz lieb, daß er noch nich weg
+is,« sagte Mutter Doris. »Immerhin er is der Erste
+Scharschierte vons älteste und angesehenste Korps in
+Leipz'g ... Un so lang als ich denken kann, hab' ich
+immer Korpsstudenten bei mir wohnen gehabt &mdash; 's wär
+doch sehr unangenehm für mich gewäsen, wenn er wär'
+mit'n großen Krach von mir fortgegangen &mdash; leicht hätt's
+kenn' passieren, daß die ganzen Korps mich hätt'n in'n Verruf
+getan &mdash; damit sin se immer sehr fix bei der Hand,
+wenn ma een' von ihn' mal schief angekuckt hat ... Unser
+Nachbar Wunderlich, der Mützenmacher, der kann e
+Wertchen davon erzählen ... Der hat mal een' von die
+Korpsstudenten, der absolut nich wollt' zahl'n, nu, dem
+hat er en groben Brief geschrieben &mdash; und iebermorgen war
+er schon im S.&#x202f;C. Verruf &mdash; das kost'n an sechshundert
+Mark jährlich!«</p>
+
+<p>»I herrjemerschnee!« lachte Jucunda, »das hätt' ich
+wissen sollen, daß unser Student so ein großes Tier ist!
+Da hätt' ich durch meine Grobheit ja beinahe Deinen Geschäftsbetrieb
+ganz bösartig geschädigt! Na, hoffentlich
+kommst Du noch mal mit 'nem blauen Auge davon!
+Uebrigens, Muttel, wenn ich mich recht erinnere, so hast
+Du den einflußreichen Jüngling auch nicht gerade mit
+Glacéhandschuhen angefaßt ...«</p>
+
+<p>»Nu, ich hab' mich eben lassen hinreißen,« sagte Frau
+Doris. »Weeßte, wenn eener mir mit mein' Goldkinde
+tut anbinden &mdash; hernach weeß'ch mich nich zu beherrschen
+&mdash; reinweg wie ene Furie werd' ich Dir dann!«</p>
+
+<p>»Muttel!« sagte Jucunda zärtlich und legte einen
+Augenblick lang das lockenumflutete Haupt an den mächtig
+wallenden Mutterbusen.</p>
+
+<p>In diesem Augenblick trat Franz Burg herein, der
+Oberregisseur, in der klirrenden Rüstung des englischen
+Oberfeldherrn, in einer Maske so voll schrecklichen Ingrimms,
+daß Jucunda hell auflachte:</p>
+
+<p>»Donnerwetter, lieber Freund &mdash; mit Ihrem Konterfei
+kann man ja die Pferde scheu machen!«</p>
+
+<p>»Himmel &mdash; für die guten Leipziger muß man eben
+ein bißchen dick auftragen ...«</p>
+
+<p>»Schön,« sagte Jucunda, »werd' ich mir merken.
+Passen Sie mal auf, Meister, wie ich jetzt loslegen werde!«</p>
+
+<p>»Aber gefälligst mit einem vernünftigen Stimmansatz,
+und nicht wieder so aufs Organ loswüsten wie im ersten
+Akt! Ihnen geht's zu gut, Kindchen, Sie werden mir zu
+üppig ... In einem Alter, wo andre Kolleginnen froh
+sind, wenn sie einmal ein Servierbrett mit Kaffeegeschirr
+hereinbringen dürfen, toben Sie schon abendfüllend durch
+ganz Deutschland &mdash; da muß ja so ein achtzehnjähriger
+Verstand aus dem Leim gehen ...«</p>
+
+<p>»Ach, lassen Sie mich doch ...« Jucunda reckte den
+herrlichen Körper, daß alle Niete und Scharniere der
+Rüstung knackten ... »Lassen Sie mich doch, lieber
+Freund ... Es ist ja so schön ...«</p>
+
+<p>Franz Burgs Augen schimmerten hinter den grimmigen,
+rotgrauen Brauen in einem ganz seltsam weichen
+Licht ... Sie glitten über die schlanke, waffenblanke Gestalt,
+wie ein Streicheln.</p>
+
+<p>»Schön ist's, das glaube ich &mdash; Sie sind eben ein
+Sonnenkind, Langbeinchen!« So nannte er sie noch
+immer, aus jener Zeit, wo sie als blutige Novize wegen
+ihres knabenhaften Wuchses immer die Pagen hatte spielen
+müssen ... Jetzt freilich wäre das nicht mehr zu machen
+gewesen &mdash; sie war ein Weib geworden ...</p>
+
+<p>»Na also &mdash; Sie sind fertig ... Nun halten Sie aber
+Ruhe, bis Sie geholt werden ... Und nicht zu toll mit
+dem Organ aasen, verstanden? Adieu, Langbeinchen!«</p>
+
+<p>»Adieu, Sie Bester!«</p>
+
+<p>Ein Blick so voll dankbarer Zärtlichkeit, daß der grimme
+Talbot rasch das Visier herunterklappte ... Und durch
+die Augenlöcher klang sein Knurren:</p>
+
+<p>»Also fang'n mer an!«</p>
+
+<p>Er rasselte von dannen. Jucunda warf ihm ein halbes
+Dutzend Kußhände nach.</p>
+
+<p>»Aber Jucunda!« rief die Mutter ganz entsetzt.</p>
+
+<p>»Ach laß doch, Muttel! Einmal ein Mensch beim
+Theater, ein einziger, der selbstlos gütig ist &mdash; einen lehrt,
+einem vorwärts hilft, ohne gleich &mdash; &mdash;«</p>
+
+<p class="start-chapD space-above">Der zweite, der dritte Akt waren vorübergebraust, mit
+Schlachtgetöse und Siegesjubel und Sterbegrauen ...
+und hatten geendet mit der naiv-gewaltigen Szene, in der
+Johannas tragisches Geschick sich wendet: der Fluch ihrer
+übernatürlichen Sendung sich wider sie kehrt. Das Herz
+der Jungfrau hat mit Entsetzen sein Mädchentum empfunden
+...</p>
+
+<p>Große Pause nun &mdash; alles strömte hinaus in die
+schmalen, schlechtbeleuchteten Gänge, das dürftige Foyer
+des dumpfen winkligen Hauses ...</p>
+
+<p>Und da oben fanden sich die beiden Franken, ihr fürstlicher
+Konkneipant und sein Erzieher. Die Herren begrüßten
+einander mit dem gewohnten starr offiziellen Gesicht,
+dem korrekten Händeschütteln der hoch gewinkelten
+Arme ... Keiner mochte verraten, wie sehr er gepackt
+war.</p>
+
+<p>»Ganz nett &mdash; wie?« näselte der Erbprinz.</p>
+
+<p>»Na ja ... Aber immer dies ewige eintönige Pathos,
+das hält kein Pferd auf die Dauer aus!« schnarrte Pilgram.</p>
+
+<p>»Wie fanden Sie die Buchner?« fragte nachlässigen
+Tones der Prinz.</p>
+
+<p>»Na &mdash; mein Himmel &mdash; spielt eben Schiller!« erwiderte
+der Rechtskandidat.</p>
+
+<p>Hans Thumser blieb stumm. Ihm standen Erregung
+und Entzücken bis an den Hals &mdash; die Tränen, die er
+mühsam hatte unterdrücken müssen, preßten ihm die
+glühenden Augen. O Gott &mdash; so Erhabenes, so Ungeheures
+erlebt zu haben ... Und dann den gelassenen Weltmann
+mimen zu müssen mit zwanzig Jahren ... Was war das
+für eine Jugend? Sie schämte sich aller jugendlichen
+Empfindungen ... der Begeisterung, des Glaubens an
+das Große, das Weltbezwingende ...</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Und schnell vollendete sich's nun. Wie ward es Valentin
+Pilgram zumut, als er nun im festlich geputzten
+Saale zu Reims die Verse erklingen hörte, die er neulich
+so schmählich unterbrochen?</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Sollt' ich ihn töten? Konnt' ich's, da ich ihm<br /></span>
+<span class="i0">Ins Auge sah? Ist Mitleid Sünde?!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Was war denn das, was so heiß und fremd unter der
+linken Westentasche zuckte und hüpfte? Was war dieser
+geheimnisvolle Schmerz, dieser brennende, der durch Hirn
+und Glieder rumorte, wenn dieses Mädchen seine stählernen
+blauen Augen verloren in den dunklen Raum hinausschweifen
+ließ, in dem er saß, inmitten der proletigen
+Finken ringsum, die er verachtete, wie er alles verachtete,
+was nicht zu den Angehörigen eines hohen Kösener S.&#x202f;C.
+Verbandes zählte?! War es die Scham, daß er dies
+Mädchen, diese weiße, stolze Weibesgestalt da hinten, gekränkt,
+gestört in ihrem Studium &mdash; sich benommen gegen
+sie wie ein Rauhbein, ein Knote ohne Kinderstube und
+Direktion!</p>
+
+<p>Ja, das mußte es sein, das und nichts andres ... Er
+wird morgen früh seinen Bratenrock anziehen und seine
+beste Mütze aufsetzen &mdash; wird sich feierlich durch die Frau
+Kanzleirätin anmelden lassen und förmlich und devotest
+um Verzeihung bitten ... Es ist männlich, begangenes
+Unrecht einzusehen und zu sühnen, und durch Revokation
+und Deprekation einer Dame gegenüber vergibt auch
+Franconiae gewesener Erster, Erster, Erster <i lang="la">ad interim</i>
+sich nichts &mdash; nein, ganz gewiß nicht!</p>
+
+<p>Also das mach' ich! Gesegnet meine wüste Laune, gesegnet
+meine Examensnervosität ... So hab' ich doch
+wenigstens einen anständigen Grund, mich ihr vorzustellen,
+sie zu sehen, mit ihr zu sprechen ... Und ich werde mich
+dermaßen kavaliermäßig benehmen ... Ich werde ...
+Ueberhaupt ... Ich werde &mdash; hol' mich der Teufel &mdash; Eindruck
+werd' ich machen, so wahr ich Valentin Pilgram bin,
+Franconiae gewesener Erster, Erster, Erster <i lang="la">ad interim</i>!</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Hans Thumsers Seele war aber zwiegeteilt, wie fast
+immer &mdash; fast immer ... Noch einmal, in der zweiten
+Szene des vierten Aktes, kam die andere &mdash; nach der er
+ein geheimes, lästerliches und süßes Schmachten verspürt
+hatte, nun sie so lange verschwunden war ... kam Agnes
+Sorel, stand neben der herrischen Gestalt Jucundas in
+ihrer kätzchenhaften Holdseligkeit ... schmiegte an Jucundas
+gepanzerten Busen die unverhüllte, die rosige lockende
+Brust ... O Hans Thumser, und denken zu müssen, daß
+diese Himmelswonne Nacht für Nacht neben deinem
+Knabenstübchen schläft, nur durch eine dünne Ziegelmauer
+von dir getrennt, in der es gar noch eine Tür gibt, die
+freilich verschlossen ist und mit einem Kleiderschrank verstellt
+... O Hans Thumser, wie wirst du dies Bewußtsein
+ertragen, nun du sie kennst, sie gesehen hast mit
+deinen scheuen, brennenden Augen, ihr Bild hineingesogen
+in deine lechzende, lebenshungrige Seele ...
+Wie wirst du's ertragen?</p>
+
+<p>Füchschen, die Trauben sind sauer ... So hat sie geschrieben.
+Ach, du Schelm, du böser, neckender Traumspuk
+du &mdash; du warmes, weiches, nahes, fernes, weltenfernes
+Menschenkind &mdash; &mdash;!</p>
+
+<p>Still &mdash; es erfüllt sich Johannas Geschick ... Vor dem
+Bannspruch des Vaters, der sie höllischer Blendekünste
+zeiht, verstummt sie ... verstummt vor dem Donner des
+Himmels ... flieht in Einsamkeit und Verzweiflung &mdash;
+fällt stumm und wehrlos in die Hand der Feinde ...</p>
+
+<p>Doch dann, in letzter, höchster Not, kommt noch einmal
+über sie die alte, magische Kraft: Sie zerreißt ihre Ketten,
+entrafft sich den entsetzten Feinden, trägt noch einmal das
+Banner der Jungfrau zum Kampf ... und dann, die
+Todeswunde in der Brust, von Siegesbannern überbauscht,
+läßt sie ihre reine Seele ins All hinüberströmen ...</p>
+
+<p>O Dichter! Dichter! betet Hans Thumser &mdash; großer,
+herrlicher mit Deiner wunderbaren Cherubseele &mdash; einen
+Tropfen von Deinem Geist in mein junges Herz &mdash; einen
+Flammenfunken von Deinem Himmelsfeuer!</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Wie wird mir? &mdash; leichte Wolken heben mich &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Hinauf &mdash; hinauf &mdash; die Erde flieht zurück &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Kurz ist der Schmerz, und ewig ist die Freude!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p class="start-chapI space-above">Ein heftig gestammelter Dank an den Prinzen, ein feierliches
+Schütteln der korrekt eingewinkelten Hände mit
+ihm und dem Major, und dann hinaus &mdash; hinaus in die
+herbstliche Abendluft ... O glühende Stirn, o glühendes
+Herz ...</p>
+
+<p>Und nun &mdash; warten &mdash; sie noch einmal sehen, sie, »die
+alles Herrliche vollendet« ... nicht jene andre, das
+Kätzchen, den Spukgeist ... Nein, die eine, die weiße,
+die königliche ...</p>
+
+<p>Warten auf sie &mdash; sie warten ja alle ... Eine
+dichtgedrängte Schar, lauter blutjunges Volk. Konservatoristinnen
+und Ladenmamsellchen untermischt mit Primanern
+und Studenten ... Sie warten vor dem Portal,
+vor dem ein einziger Wagen noch hält, ein einziger,
+während all die andern mit ihrer Fracht schleierumhangener,
+kapuzenverhüllter Weiblichkeit von dannen donnern
+&mdash; ein einziger Wagen, in dem, hüstelnd und frierend, ein
+bebrilltes Männlein hockt mit grauem Kragenbart: der
+Kanzleirat Buchner ...</p>
+
+<p>Es dauert lange, dies Warten ... Aber Hans Thumser
+wartet nicht allein: An seiner Seite, geduldig fröstelnd,
+harrt der gestrenge Senior, ganz gegen jede Wahrscheinlichkeit
+und Psychologie ...</p>
+
+<p>»Ne, Pilgram, wie <em class="gesperrt">Du</em> mir heute vorkommst!«</p>
+
+<p>»Na, was denn? Wieso denn?« knurrt der Erste.
+»Denkste vielleicht, Du hast die Kunstbegeisterung alleene
+gepachtet?!«</p>
+
+<p>Und endlich &mdash; endlich &mdash; &mdash; am Bühneneingang
+fliegen die Hüte, die Mützen von den Köpfen &mdash;</p>
+
+<p>»Jucunda Buchner &mdash; hoch! hoch!«</p>
+
+<p>Voran schiebt sich eine derbe Matrone in uraltmodischer
+schleifenbesetzter Kapuze &mdash; und dann kommt &mdash; sie &mdash; so
+mädchenhaft auf einmal, so spießbürgerlich schlicht ...
+Wie ein Backfisch schaut sie aus, so menschlich, so nahe ...</p>
+
+<p>»Hoch! hoch!« brüllen die Studenten, juchzen die
+Mädels &mdash; sie huscht vorüber, kopfnickend, so lieb, so einfach,
+so &mdash; so fabelhaft nett &mdash; sie schlüpft in die Wagentür,
+nickt noch einmal vom Fensterrand &mdash; neuer Jubel &mdash;</p>
+
+<p>Ach was &mdash; längst nicht genug!</p>
+
+<p>Eine neue, eine würdige Huldigung dem wundervollen
+Menschenkind!</p>
+
+<p>»Kommilitonen!« ruft Hans Thumser und schwenkt die
+grüne Mütze, »Kommilitonen! Wir spannen ihr die
+Pferde aus, wir fahren sie im Triumph nach Hause!«</p>
+
+<p>Ein Beifallsgeheul ist die Antwort. Und auf die
+Gäule stürzt sich der Schwall &mdash; im Nu sind die Scheuenden,
+Schäumenden abgesträngt, der fluchende, peitschenschwingende
+Kutscher entwaffnet und vom Bock gezerrt ...</p>
+
+<p>»Verrickt seid 'r! Alle mitenander seid 'r übergeschnappt!
+Der Deifel soll Euch hol'n!«</p>
+
+<p>Und hundert Hände packen zu, langen nach der Deichsel,
+den Zugscheiten, den Strängen &mdash; hundert Hände greifen
+in die Speichen &mdash; hurra! Der Wagen rollt, rollt mit
+seiner vielgeliebten Fracht ... Und allen voran als
+Führer, den Hut auf dem Stock balancierend, den Stock
+im Takt schwingend wie ein Tambourmajor schreitet einer,
+der den Weg kennen muß: Franconiae gewesener Erster,
+Erster, Erster <i lang="la">ad interim</i>!</p>
+
+<p>Und der Wagen rollt die Sophienstraße entlang, umdröhnt
+vom Jauchzen schönheitstrunkener, größeberauschter
+Jugend ... Rollt die Zeitzer Straße, den Peterssteinweg
+hinab, der Altstadt zu ... Und immer zahlreicher wird
+das Huldigungsgefolge hinter dem Triumphzug, den
+Jugend der Jugend, der Schönheit, der Kunst bereitet,
+immer betäubender schwillt der allgemeine Jubel:</p>
+
+<p>»Jucunda Buchner &mdash; hoch &mdash; hoch Jucunda &mdash; unsre
+Jucunda!«</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>4.</h2>
+
+<p class="start-chapA">Als der Triumphwagen endlich in der Katharinenstraße
+hielt, zog der alte Buchner den riesigen Hausschlüssel
+aus der Tasche und stieg als erster aus. Ein hundertstimmiger
+Jubel empfing ihn ...</p>
+
+<p>»Das ist der Vater &mdash; Jucundas Alter ist das &mdash; Papa
+Buchner hoch! hoch!«</p>
+
+<p>Ein Dutzend Hände waren ihm behilflich, hoben ihn
+über die Bordschwelle, ganz betäubt humpelte er durch die
+Gasse, die sich vor seinen Schritten öffnete, fand die Tür
+seines Hauses zu seiner Verwunderung bereits geöffnet
+und schlüpfte hinein, wie erlöst, daß er dem Getös entronnen
+...</p>
+
+<p>Und nun schob sich Mama Buchners massives Gestell
+aus der Droschke.</p>
+
+<p>»Achtung, jetzt kommt Mamachen!« schrien kecke
+Stimmen. »Platz für Mamachen!« Geblendet vom
+grellen Licht der Gaslaterne, dicht neben dem finstern
+Hauseingang, verwirrt vom Stimmengewirr, dem Glanz
+blitzender Augen, dem Durcheinander winkender Hände,
+flatternder Tücher verfehlte Mutter Doris mit unbehilflich
+suchendem Fuß den Wagentritt und wäre gestürzt, hätte
+nicht ein sehniger Arm sie gefaßt und ihre schwerfällige
+Gestalt mit sicherem Griff aufs Trottoir, auf die Beine
+gestellt. Und gleich darauf fühlte sie ihre Hand in diesen
+sehnigen Arm hineingezogen, fühlte sich sicher und ritterlich
+der Haustür zugeführt &mdash; sah dankbar zu ihrem Beschützer
+empor und &mdash; sah in das verlegenheitglühende
+Gesicht ihres Mieters ...</p>
+
+<p>»Gnädige Frau &mdash;« stammelte Pilgram.</p>
+
+<p>Gnädige Frau &mdash;?! Es war das erstemal, daß ihr
+Student diese Anrede für die Frau Kanzleirätin fand ...
+sie war direkt erschüttert ...</p>
+
+<p>»Herr Pilgram &mdash; nee heer'n Se, das is aber hibsch
+von Ihn' ...«</p>
+
+<p>»Darf ich Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch zu
+dem Riesenerfolge Ihres Fräulein Tochter &mdash; gnädige
+Frau? und zugleich auch meine Bitte um Entschuldigung
+wegen meines unqualifizierbaren Benehmens von vorgestern
+morgen &mdash;«</p>
+
+<p>»Ach sei'n Se still, Herr Pilgram &mdash; scheen war's ja
+grade nich ... Aber Sie haben's ja gut gemacht ...
+Also woll'n mer uns wieder vertragen! Aber wo bleibt
+denn 's Kind?«</p>
+
+<p>'s Kind war noch nicht abkömmlich. Sie mußte draußen
+die Dutzende von Händen schütteln, die sich ihr entgegenstreckten
+... Und dabei liefen ihr die hellen Tränen nervöser
+Seligkeit über die Backen ...</p>
+
+<p>»Dank ... tausend, tausend Dank!« Das war das
+einzige, was sie nur immer wieder stammeln konnte ...</p>
+
+<p>Und endlich fiel die Pforte denn doch ins Schloß,
+während die begeisterte Jugend draußen weiter jubelte
+und tobte. Kanzleirat Buchner wollte abschließen, aber
+Valentin Pilgram kam ihm zuvor. Und dann entzündete
+er ein Wachsstreichholz und geleitete Mama Doris mit der
+Galanterie eines Oberhofmarschalls die knackenden
+Treppen des altehrwürdigen Baues hinan, der einstmals
+ein feierlich elegantes Patrizierhaus gewesen war ...
+Der Kanzleirat und die Heldin des Abends folgten.</p>
+
+<p>Oben wollte sich Valentin verabschieden, um in seinem
+Zimmer zu verschwinden, aber Jucunda rief:</p>
+
+<p>»Was? Sie wollen schon schlafen? Nee, gibt's nich!
+Muttel, mach' Licht in der guten Stube! Wir schwatzen
+noch eins! Und Du, Alter, rück' mal ein paar Pullen Gose
+heraus! Ich hab' einen Pferd'sdurst!«</p>
+
+<p>Und sieh &mdash; nach wenigen Minuten war's hell und
+mollig in der behaglichen Wohnstube, und während Mutter
+Buchner drinnen Bemmchen schmierte und Papa Kanzleirat
+Zigarren und Aschenbecher bereit stellte, sorglich aus
+den dickbauchigen Goseflaschen das bernsteingelbe bitterliche
+Naß in die hohen Stangengläser plätschern ließ, stand
+Valentin Pilgram voll nie gefühlter Empfindungen am
+Fenster, hinter Jucundas hoher Gestalt, die noch immer
+hinaus auf die Straße winkte und Kußhände warf,
+während von drunten, vom Straßendamm empor ohn'
+Ermatten das Begeisterungsgebrüll der Burschen tönte,
+die Taschentücher der Mädels flatterten ...</p>
+
+<p>»So, Kind,« sagte Mutter Doris endlich, »nu mache
+schon Schluß, daß Du was zu essen und zu trinken kriegst ...
+Bitte, Herr Pilgram, nehmen Sie Platz!«</p>
+
+<p>Valentin und Jucunda traten vom Fenster zurück. Jetzt
+erst fand das Mädchen Zeit, den jungen Gesellen zu mustern.</p>
+
+<p>»Sie sind wohl einen halben Kopf größer als ich,«
+sagte sie anerkennend.</p>
+
+<p>»Aber Sie &mdash; Sie sind ... etwas ganz Besonderes ...
+eine ganz andre Sorte von Mensch als ... nu als wir gewöhnlichen
+Leute, wir simplen Rechtskandidaten ... und
+so was.«</p>
+
+<p>»Erlauben Sie mal &mdash; Sie sind doch auch was Besonderes
+... Erster Chargierter des ältesten und angesehensten
+Korps in Leipzig ...« Sie wies auf einen
+Stuhl.</p>
+
+<p>»Gott &mdash; gnädiges Fräulein ... Wie können Sie so
+was überhaupt ... das sind doch Kindereien, wenn man's
+mit ... mit Ihrer Kunst vergleicht ...«</p>
+
+<p>O Valentin Pilgram &mdash; wer dir das gestern prophezeit
+hätte ... daß du so zu einer Komödiantin sprechen
+würdest ... daß die Heiligtümer deiner Seele so schnell
+verbleichen würden ...</p>
+
+<p>»Na, nu nähmt mal gefälligst ä bißchen Platz, Kinder!«
+rief der Kanzleirat ...</p>
+
+<p>Kinder &mdash;?! Es durchfuhr die beiden jungen Menschen
+... ein seltsames, ahnungsvolles Gefühl ... Mit
+einem Male war Jucunda Buchner nicht die glückverwöhnte,
+reichbegnadete Künstlerin, sondern ein Backfisch
+von achtzehn Jahren ... und Valentin Pilgram nicht der
+Sohn des Senatspräsidenten am Dresdener Oberlandesgericht,
+nicht der Erste Chargierte eines wohllöblichen
+C.&#x202f;C. der Franconia, sondern ein Knabe von vierundzwanzig,
+in all seiner senioralen Würde doch noch immer
+ein junger, lebensunkundiger Novize des Daseins ...</p>
+
+<p>Zwei blutjunge Menschen ... zwei Kinder ... beide
+gewachsen wie ein paar Tannen, beide jung, stark und
+heiß ...</p>
+
+<p>»Kinder!« hatte der alte Mann gesagt ... Wie seltsam
+das die Seele traf ...</p>
+
+<p>Beider Augen waren gesenkt, beider Stirnen glühten,
+als sie sich setzten ...</p>
+
+<p>Man stieß mit den langschäftigen Gosengläsern an,
+Jucunda tat einen tiefen, herzhaften Schluck und biß dann
+nicht minder herzhaft in ihre Butterbemme.</p>
+
+<p>»Donnerkiel!« sagte sie, »das tut aasig gut ...«</p>
+
+<p>»Nu sagen Se, Herr Pilgram, wie sind Sie denn bloß
+in's Theater gekommen? Ich hab' gedacht, Sie haben gar
+nischt iebrig für die Kunst?« erkundigte sich Mama
+Buchner.</p>
+
+<p>»Ja ... Frau Rätin,« sagte Valentin, »wie soll ich
+Ihnen das erklären? Sie haben nämlich recht ... Ich
+hab' wirklich nicht viel Sinn für die Kunst ... Ich &mdash; nu
+ich war eben ... neugierig war ich &mdash; auf meine Budennachbarin
+...«</p>
+
+<p>»Sehr schmeichelhaft!« lachte Jucunda und zündete sich
+eine Zigarette an. »Na und &mdash; und was sagen Sie nu?«</p>
+
+<p>»Gar nischt sag' ich &mdash;« bekannte der Student. »Wissen
+Sie ... zum Komplimente machen ... bin ich nicht maulgewandt
+genug ... ich kann nur sagen: dies war der
+schönste Tag meines Lebens.«</p>
+
+<p>»Hehe &mdash; da siehst es, Jucunda, was fier ä Kerle Du
+bist!« schmunzelte der Kanzleirat.</p>
+
+<p>»Ach &mdash; das geht doch nicht auf mich!« wehrte Jucunda
+ab. »Herr Pilgram ist eben von Schillers großer Dichtung
+so ergriffen gewesen ...«</p>
+
+<p>»Ne, gnädiges Fräulein, das könnt' ich nu gerade nich
+sagen,« erklärte Valentin. »Ich bin eben doch, wie mein
+Korpsbruder Thumser sagt, ich bin doch ein Banause.
+Schiller? Ich weeß nich ... es ist mir doch zu viel
+Schmalz an der Brühe ... Wenn Sie nicht gewesen
+wären, gnädiges Fräulein, ich glaube nicht, daß ich wäre
+bis zum Ende dageblieben ...«</p>
+
+<p>»Schämen Sie sich!« zürnte das Mädchen.</p>
+
+<p>»Ja &mdash; 's tut mir selber leid, daß ich so wenig Verständnis
+habe für die sogenannte Kunst ... Sehen Sie ...
+ich stamme aus einer alten Juristen- und Beamtenfamilie
+... bei uns zu Hause ist nie von was anderm
+die Rede gewesen wie von Dienst und Vorgesetzten
+und Karriere machen und Orden kriegen und Gesetzesnovellen
+... und das Theaterspielen und Musikemachen
+und Bilderklexen und Verseschmieren &mdash; nee, davon hat man
+bei uns nie was wissen wollen. Aber was Arbeit und
+Pflicht und Gehorsam ist und Gewissenhaftigkeit und Treue
+... das ist mir eingepaukt worden von Kindesbeinen an
+... und nicht nur mit der Moralpredigt, sondern mit dem
+guten Beispiel, dem nachahmungswürdigen Vorbild ...«</p>
+
+<p>»Das is sähr scheen, wenn man das von sein' Elternhause
+kann sagen &mdash;« meinte der Kanzleirat. »Prost,
+Herr Pilgram &mdash; Ihre Herren Eltern sollen leben.«</p>
+
+<p>Andächtig tat Pilgram Bescheid. Aber Jucunda war
+des trockenen Tones satt:</p>
+
+<p>»Erzählen Sie mir lieber von heut abend &mdash; erzählen
+Sie mir, wie ich Ihnen gefallen habe! Sie können's ruhig
+ein bißchen dicke machen ... Sie haben ja gar keine
+Ahnung, wieviel Honig und Weihrauch unsereins vertragen
+kann nach so einer gewonnenen Schlacht ...«</p>
+
+<p>»Aber Jucunda &mdash; so schäme Dich doch! Was soll
+denn Herr Pilgram von Dir denken?«</p>
+
+<p>»Na &mdash; nichts als was wahr ist! Daß ich eine ganz
+eitle, verwöhnte Komödiantin bin! Nicht wahr, Herr
+Pilgram, so denken Sie doch! Nur heraus damit ...«</p>
+
+<p>»Gnädiges Fräulein, ich denke an nichts andres als an
+den Augenblick, wo Sie zuerst herauskamen ... Wir
+waren zu spät gekommen, aus dem S.&#x202f;C., wissen Sie?
+da muß man aushalten &mdash; und als wir kamen, hatte
+der erste Akt schon angefangen ... und ich langweilte mich
+und dachte: na ja, Schiller ... und überlegte, was für
+ein Aufsatzthema mein alter vermickerter Professor auf
+Prima in Dresden wohl aus diesem ersten Akt herausgeschlagen
+hätte: Würde Johanna d'Arc ihr Vaterland
+auch errettet haben, wenn Karl der Siebente anstatt mit
+den Engländern mit den Deutschen Krieg geführt hätte?
+oder so ähnlich ... Und da &mdash; da kamen Sie &mdash; und
+auf einmal wurde alles wahr und richtig und interessant
+und ... na ja eben schön ... mit einem Wort ...«</p>
+
+<p>»Ich seh's kommen, daß se Dich noch ganz närr'sch
+werden machen, Jucunda &mdash;« kicherte der Kanzleirat.</p>
+
+<p>»Ach ja ... macht mich nur ruhig närrisch, Kinder &mdash;
+es ist ja so schön, gefeiert zu werden ... und begraben
+zu werden unter Lorbeer und Rosen &mdash; und die Pferde
+ausgespannt zu kriegen ... hören Sie, Herr Pilgram &mdash;
+die Idee, die war wohl von Ihnen?«</p>
+
+<p>»Ehrlich gestanden, nein &mdash; so leid mir's tut &mdash; aber
+den glorreichen Einfall, den hat mein Korpsbruder
+Thumser gehabt ...«</p>
+
+<p>»Schade &mdash; sonst hätten Sie wahrhaft'gen Gott 'nen
+Kuß gekriegt dafür &mdash;«</p>
+
+<p>Der Kanzleirat drohte der Tochter lächelnd mit dem
+Finger.</p>
+
+<p>»Säh'n Se, Herr Pilgram, wie se Ihn' schon überschnappt?«</p>
+
+<p>Und er ließ frische Gosefluten in die Gläser <a id="InCorr3">kluckern</a>.</p>
+
+<p>Aber allmählich fielen dem alten, hageren Männchen,
+das sein ganzes Leben in der muffigen, überhitzten Luft
+der Königlichen Justizbureaus zugebracht hatte, die geröteten
+Aeugelchen zu. Er verabschiedete sich und humpelte
+ins Schlafzimmer.</p>
+
+<p>Auch Mutter Doris fiel allmählich ab.</p>
+
+<p>»Nu, Herr Pilgram, wie denken Sie über's Schlafengehen?«</p>
+
+<p>»Gibt's nich!« erklärte Jucunda. »Wenn Du müde
+bist, Mamachen, kriech in Gottes Namen in die Posen ...
+Ich bin noch nicht fällig, und Herr Pilgram wird mir Gesellschaft
+leisten, bis meine Nerven ausgezappelt haben ...«</p>
+
+<p>Und die jungen Menschen waren allein. Es wurde
+still, ganz still ringsum. Von der Katharinenstraße klang
+ab und an noch das schläfrige Geklapper eines heimwärts
+trottenden Droschkengauls ... Vom nahen Rathausturme
+meldeten die Glocken mit hallenden Schlägen Viertelstunde
+um Viertelstunde ... sonst nichts mehr. Leipzig schlief.</p>
+
+<p>»Erzählen Sie mir mehr von sich!« sagte Jucunda und
+legte sich mit behaglichem Gähnen in die gestickten Schoner
+des grünen Plüschsofas zurück. »Aber nicht so was Langweiliges
+vom Korps und von Ihren Fechtereien und vom
+Examen und so! Was Schönes ... was Interessantes!«</p>
+
+<p>»Ach, gnädiges Fräulein &mdash; ich bin ein schrecklich uninteressanter
+Mensch ... ich schäme mich ordentlich, ich werde
+ganz klein, wenn ich mein Leben mit Ihrem vergleiche.«</p>
+
+<p>»Na, aber Sie müssen doch irgend was Besonderes
+erlebt haben ... Waren Sie denn nie verliebt? Haben
+Sie nie ein Mädchen geküßt?« Sie zündete an dem Rest
+ihrer Zigarette eine frische an, pustete eine dicke Rauchwolke
+zu Valentin hinüber und schielte durch den Qualm
+hindurch neckisch blinzelnd zu ihm hin.</p>
+
+<p>Valentin Pilgram wurde verlegen. »Hm ... ich weiß
+nicht recht, was ich da antworten soll ... als Künstlerin
+wissen Sie doch jedenfalls schon manches vom Leben ...
+und wissen, was wir jungen Männer, Studenten und
+so &mdash; wie soll ich mich nur ausdrücken?«</p>
+
+<p>»Na, daß Ihr gerade keine Tugendspiegel seid ... Euch
+mit Kellnerinnen und ... so 'ner Sorte von Weibsbildern
+herumtreibt ... Herr Pilgram, ich bin ein Leipziger
+Kind, das alles ist mir nichts Neues. Aber &mdash; sowas
+zählt doch hoffentlich nicht?«</p>
+
+<p>»Nein &mdash; Sie haben ganz recht ... es zählt nicht ...
+Sehen Sie, man betrinkt sich ja auch zuweilen mal ganz
+stumpfsinnig ... so ähnlich ist das ...«</p>
+
+<p>»Und &mdash; sonst? Sonst haben Sie noch gar nichts ...
+erlebt? Niemals eine richtige ... eine Leidenschaft ...
+ein Gefühl, daß Sie so richtig die Zügel aus der Hand
+verloren haben? Daß es mit Ihnen durchgegangen ist
+wie ein wildes Pferd, so zuck, zuck, hoppla, hopp, über
+Stock und Stein, nur vorwärts, ins Weglose, ins Nichts &mdash;
+nur vorwärts ... komme was wolle?!«</p>
+
+<p>Hingerissen hing Valentins Blick an den flackernden
+Augen, dem zuckenden Munde des Mädchens. »Ach
+nein ... gnädiges Fräulein ... so was hab' ich nie erlebt
+... ich glaube auch, so was kann mir nie passieren ...
+dazu sind wir Pilgrams viel zu korrekt ... viel zu gewissenhaft
+...«</p>
+
+<p>»Schade &mdash;« sagte Jucunda. »Ich denke mir, das
+müßte schön sein ...«</p>
+
+<p>»Das ... glaube ich auch ...« sagte Valentin langsam.
+»Schön ... und schrecklich ...«</p>
+
+<p>»Wie wär's, wenn wir nun schlafen gingen? Ich
+fange doch allmählich an, abzufallen ...«</p>
+
+<p>»Schade!« sagte nun der Student. Seine Augen überflogen
+noch einmal die weiße Gestalt, die sich in so fester,
+straffer Leiblichkeit abhob von dem verschlissenen Samt,
+auf dem sie ruhte, beide Ellbogen nach vorn emporgewinkelt,
+die Hände nach rücklings um die Lehne des
+Sofas geklammert.</p>
+
+<p>»Gott, war das ein Tag!« sagte das Mädchen. »Ein
+Schlachten war's, nicht eine Schlacht zu nennen! Aber
+das Hübscheste daran war doch, daß ich Sie nun kenne,
+Nachbar ... daß ich Sie Grobian doch ein bißchen gebändigt
+habe ... nicht wahr? Und daß wir zwei nun
+allein noch übrig sind von all dem Trubel und Trara ...
+was? Ist das nicht nett? Aber Sie sagen ja gar nichts?«</p>
+
+<p>»Was ... soll ich sagen?« stotterte der Student. »Ich
+... sehe Sie an ... und denke, daß morgen ... morgen
+das alles vorbei ist ... daß Sie morgen wieder die allgefeierte
+Jucunda Buchner sind ... und ich ... irgendein
+simpler, gleichgültiger Rechtskandidat ... der Ihnen nichts
+sein kann ... nichts für Sie tun ... Ihnen nichts bedeutet
+als eben ein Stück Publikum ... einer von den
+Tausenden, die Ihnen allabendlich zujubeln, ohne daß
+Sie sie kennen, mehr für sie übrig haben als ein geschäftsmäßiges
+Lächeln, wenn der Vorhang sich noch einmal
+hebt ...«</p>
+
+<p>»Wer weiß!« sagte Jucunda mit einem gnädigen Blick.
+»Vielleicht, daß ich doch einmal einen ... einen Ritter
+brauchen kann ... dann will ich mich an diese Stunde
+erinnern ... und Sie rufen ... Soll ich?«</p>
+
+<p>»Gnädiges Fräulein ...« sprach Valentin Pilgram
+heiser ... »Das wäre mehr Gunst vom Schicksal, als
+ich Mut habe zu hoffen ...«</p>
+
+<p>Sie reichte ihm die feste, warme Hand. Er küßte sie ...
+ehrfurchtsvoll, als sei es einer Fürstin Hand ... und ging.</p>
+
+<p>Als er die Tür zu seinem Kämmerchen hinter sich geschlossen,
+stand er einen Augenblick im tiefen Dunkel,
+regungslos. Ihm war's, als drehe sich alles um ihn im
+Wirbel. Und der reckenhafte Gesell, der zweiundzwanzigmal
+dem Schläger und fünfmal dem Säbel Stirn und
+Brust geboten, fühlte ein rätselhaftes Grauen vor etwas
+Kommendem, dem er keine Deutung wußte ... das im
+Dunkel hockte und ihn ansah mit den blauen, hellen, befehlenden
+Augen, von denen er fühlte, daß er ihnen gehorsam
+sein müßte, was immer sie ihm gebieten würden.</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>5.</h2>
+
+<p class="start-chapD">Die zwölf halben Liter Tucher, die Hans Thumser nach
+dem Jucunda-Rummel auf der Kneipe noch in
+seine ausgepichte Fuchsmajorskehle gepumpt, hatten die
+Erregung der zappelnden Nerven untergekriegt und für
+die nötige Bettschwere gesorgt &mdash; zum Anfang wenigstens.
+Aber dennoch &mdash; als der Student plötzlich aus dumpfen,
+wirbelnden Träumen in die Höhe fuhr, so daß der kaum
+verheilte Schädel krachend gegen die Rückwand seines
+Bettes bumste &mdash; da war es noch stockfinster, und wie er
+ein Streichholz entzündete, wies die Uhr halb vier ...</p>
+
+<p>Und wieder Dunkelheit und Schweigen, und im Herzen
+schwirrend und rumorend viel hundert Bilder, viel tausend
+Farben und Klänge ...</p>
+
+<p>Wo soll es hin, das alles?! Was will's von dir, dies
+tolle, glühende Leben?!</p>
+
+<p>Da horch ... ein seltsamer Laut ... ein zager, verzitternder
+... von irgendwoher aus dem Dunkel ... und
+wieder ... und wieder ... derselbe bang verschwebende
+Klageton ...</p>
+
+<p>Weinen ... Weinen einer Frauenstimme &mdash; ganz leise,
+mühsam unterdrückt ... von Tränen umschleiert ...
+erschütternd ...</p>
+
+<p>Nun scheint's zu verstummen ... horch &mdash; kein Laut
+mehr ... doch nein &mdash; nur heftiger jetzt die wimmernde
+Klage ...</p>
+
+<p>Um Gott &mdash; das ist &mdash; da nebenan &mdash; das ist ... Asta
+Thöny ...</p>
+
+<p>Tränen ... Tränen in Frauenaugen &mdash; entsetzlicher
+Gedanke für einen Jüngling, einen tatensehnsüchtigen,
+weltgläubigen &mdash; wer konnte glücklich sein, ach nur ruhig
+sein, nur schlafen &mdash; wenn ein Mensch, ein Mädchen
+weinen mußte?!</p>
+
+<p>Himmel &mdash; vielleicht ist sie krank geworden &mdash; Agnes
+Sorel, die kätzchenweiche, mit dem süßen, rosigen Hals, den
+dunklen, flirrenden Augensternen ... windet sich in
+Schmerzen ... und niemand hört sie, niemand steht ihr
+bei, denn sie ist nicht ein gehegtes, umsorgtes Haustöchterlein
+wie Hansens Schwestern daheim &mdash; sie ist ganz
+allein auf der Welt &mdash; einsam, schutzlos, hilflos ...</p>
+
+<p>Gott, wenn das doch enden wollte! Das ist ja nicht
+zu ertragen, diese hilflose Klage ... Aber was kann
+man tun?</p>
+
+<p>Sich melden &mdash; seinen Beistand anbieten ...</p>
+
+<p>Aber &mdash; könnte das nicht &mdash; mißverstanden werden?
+Nachdem er nun einmal die dummen, zudringlichen Verse
+hinübergeschickt? Und einen so wohlverdienten, ach,
+eigentlich noch viel zu schmuck bebänderten Korb gekriegt?</p>
+
+<p>Aber &mdash; wenn sie nun wirklich leidend wäre &mdash; Hilfe
+brauchte &mdash; gewiß, sie würde nicht böse werden ...</p>
+
+<p>Oder &mdash; wenn man Mutter Ach weckte &mdash; und ihr mitteilte,
+das Fräulein scheine nicht wohl zu sein?</p>
+
+<p>Aber &mdash; wenn's nun gar nichts Ernstes wäre &mdash;
+vielleicht nur eine Laune, eine kindische Gereiztheit &mdash;
+was weiß ich &mdash; dann hätte man um nichts und wieder
+nichts den schnarchenden Schlummer der ehrsamen Wittib
+gestört ... und es gäbe gar noch eine Szene, nachts um
+halb vier ...</p>
+
+<p><i lang="fr">Enfin</i> &mdash; was geht's mich an? Decke über die Ohren
+und weiter dachsen!</p>
+
+<p>Ja, wenn das so ginge! Die Phantasie hebt an zu
+spielen &mdash; dringt durch die Finsternis, die Tapetenwand
+und malt in rosigen Farben das Bild des einsam weinenden
+Kindes da drinnen ... und ach, das bange Schluchzen
+dringt auch zum verbarrikadierten Ohr ...</p>
+
+<p>Mut! Es muß!</p>
+
+<p>»Gnädiges Fräulein &mdash;?« ganz leise, kaum geflüstert ...</p>
+
+<p>Das Weinen geht weiter, still und bitter ...</p>
+
+<p>»Gnädiges Fräulein &mdash;?«</p>
+
+<p>Auf einmal ist's still da drüben &mdash; Finsternis und
+lastende Stille ringsum ...</p>
+
+<p>»Verzeihen Sie, mein gnädiges ... Fräulein ... ich
+... hörte ... ich ängstige mich ... Sie möchten nicht
+wohl sein ... Hilfe brauchen ... darum hab' ich mir die
+Freiheit genommen ...«</p>
+
+<p>Noch immer alles still ... offenbar ist man böse ...</p>
+
+<p>»Gnädiges Fräulein ... ich ... ich will nicht weiter
+beschwerlich fallen ... Sie wissen nun, daß jemand zur
+Hand ist, wenn's not sein sollte ... Wenn Sie also nichts
+weiter von sich hören lassen &mdash; dann &mdash; na dann darf
+ich ja wohl annehmen, daß ... daß alles in Ordnung ist ...
+und dann werd' ich also in Gottes Namen weiterschlafen!«</p>
+
+<p>Auf einmal ein Laut ... kein Weinen ... auch kein
+Wort ... etwas andres ... etwas Silbern-Zwitscherndes
+&mdash; ein ganz feines, ersticktes Kichern ...</p>
+
+<p>»Ach so &mdash;!« sagte der Student völlig beruhigt. »Na,
+denn gut' Nacht, mein gnädiges Fräulein, und sei'n Sie
+nicht böse!«</p>
+
+<p>Und krachend warf er sich auf die rechte Seite, fest entschlossen,
+nun aber auch <i lang="la">a tempo</i> &mdash;</p>
+
+<p>Da horch! Noch einmal ein Lachen, nun aber hell,
+übermütig &mdash; und dann die Stimme, die girrende, die
+streichelnde der Agnes Sorel:</p>
+
+<p>»Aber bitte ... ich muß ja doch danken für die gute
+Meinung! Aber sei'n Sie ganz ruhig &mdash; mir fehlt wirklich
+nix &mdash; ich hab' nur so ein bissel für mich geweint &mdash; das
+kann doch vorkommen &mdash; gelt?«</p>
+
+<p>»Na &mdash; wenn's weiter nichts ist ... ich hab' ja solch
+einen Schrecken bekommen ...«</p>
+
+<p>»O &mdash; das tut mir leid &mdash; ich hab' Sie so friedlich &mdash;
+na ja, so friedlich schnarchen gehört &mdash; da hab' ich gedacht:
+den störst du nicht ... und da hab' ich halt ein bissel
+geweint ... Nehmen Sie's nicht übel, es soll nicht wieder
+passieren ...«</p>
+
+<p>»Aber bitte &mdash; von meinetwegen &mdash; ich weiß ja jetzt,
+daß es nichts weiter zu bedeuten hat, wenn Sie einmal
+nachts weinen &mdash; da werd' ich mich also künftig auch nicht
+mehr drum aufregen ...«</p>
+
+<p>»Ach du lieber Gott &mdash; zu bedeuten hat's schon was ...«</p>
+
+<p>»Hm ... also doch?! &mdash; &mdash; Können Sie mir's nicht
+sagen?«</p>
+
+<p>»Ach ... so durch die Tür hindurch ...«</p>
+
+<p>Jetzt fingen Hans Thumsers Hände denn doch ein
+bißchen an zu zittern. Er suchte nach einer Antwort ...
+fand keine ... Himmel! Meine unsterbliche Seele für
+einen Einfall ...</p>
+
+<p>»Ja ... so durch die Tür ... das geht natürlich nicht
+recht ...«</p>
+
+<p>Endlich ... das erlösende Wort: da ist's:</p>
+
+<p>»Aber ... wenn ich Ihnen ... morgen früh ...
+einmal ... meine nachbarliche ... Aufwartung machen
+dürfte ...«</p>
+
+<p>»Hm ... morgen früh?!« Es klang so gedehnt ...
+so ... nach einem leisen Bedauern ... ach nein ...
+das war ja doch ... da mußte Hans Thumser sich doch
+wohl ... verhört haben ...</p>
+
+<p>»Morgen früh? Da hab ich ja Probe von zehn bis
+zwei ... Da müssen Sie schon morgen nachmittag kommen
+... zum Tee um fünf, wenn Sie mögen &mdash; gelt?«</p>
+
+<p>O Gott ... solch eine Einladung ... zum erstenmal
+in diesem jungen Leben einem so schönen ... so ... verlockenden
+... Mädchen gegenüber ... mit ihr allein ...
+Gibt's denn so etwas?! Ist das denn möglich?!</p>
+
+<p>»Nu &mdash; Sie antworten ja gar nicht?« klang's ganz leise.
+»Sind Sie am Ende gar &mdash; schon wieder eingeschlafen?«</p>
+
+<p>»Aber mein gnädiges Fräulein &mdash; wie können Sie
+nur denken ...«</p>
+
+<p>»Also Sie kommen? Das ist schön. &mdash; Na, nu wollen
+wir aber auch ... gut Nacht, Sie &mdash; Sie Füchschen Sie!«</p>
+
+<p>»Bitte &mdash; Fuchsmajor!« rief Hans Thumser fast laut
+vor Selbstbewußtsein. »Also ... wenn's denn sein muß &mdash;
+gut Nacht, Agnes Sorel!</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">Auch jenseits der Loire liegt noch ein Frankreich,<br /></span>
+<span class="i0">Wir gehen in ein glücklicheres Land,<br /></span>
+<span class="i0">Da lacht ein milder, nie bewölkter Himmel,<br /></span>
+<span class="i0">Und schöner blüht das Leben und die Liebe!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Ja! Wenn man so ein phänomenales Versgedächtnis
+hat! Und seinen Schiller <i lang="la">intus</i>!</p>
+
+<p>»Donnerwetter &mdash; allerhand Achtung!« kicherte es von
+drinnen. »Da möchte man ja wahrhaftig &mdash; aber nein &mdash;
+jetzt wird geschlafen &mdash; gut Nacht, Herr Fuchs<em class="gesperrt-in">major</em>!«</p>
+
+<p>Tiefe Stille ... Dunkelheit ... und zitternde Sehnsucht
+... zitternde Hoffnung ...</p>
+
+<p>Hans Thumser fand keinen Schlaf. Zu toll rumorte
+die Jugendbangigkeit in seinen Gliedern ...</p>
+
+<p>Er lauschte, ob er wohl noch einen Laut vernähme
+von da drüben ... aus der Märchenwelt der Träume ...
+aber alles blieb stumm ... und endlich vernahm er durch
+den lastenden Frieden der Nacht geruhig schwellende,
+leise Atemzüge ...</p>
+
+<p>Sie schlief ...</p>
+
+<p>Da streckte sich auch Hans Thumser mit einem langen
+Seufzer ... und versank.</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>6.</h2>
+
+<p class="start-chapW">Valentin Pilgram war erst spät aufgestanden. In
+wüstem Halbschlaf, von tollen Träumen gequält, hatte
+er die Nacht verbracht. Nun saß er über seinem Drogenwelt-Geruch
+und knuffte die vier Klassen der Gradualerbfolge
+der Novelle 118 in den schmerzenden Schädel
+hinein.</p>
+
+<p>Da klopfte es heftig an die Tür seiner Bude, und im
+selben Augenblick, noch eh er: herein! hatte rufen können,
+schoß auch schon die Frau Kanzleirätin herein, im geblümten
+Morgenrock, dessen Schleppe hinter ihr drein
+waberte, in schleifenbesetztem Häubchen, unter dem die
+grauen Strähnen des ungeordneten Haares hervorlugten:</p>
+
+<p>»Ach herrjeses, Herr Pilgram, Herr Pilgram, kommen
+Se doch nur mal schnell &mdash; 's Kind hat ja en Weinkrampf
+&mdash; ach es is gräßlich! Kennten Se nich gehn und
+en Doktor holen? Ich hab ja keen' Menschen nich im
+Hause ...«</p>
+
+<p>Valentin schoß in die Höhe. »Einen Weinkrampf? Um
+Gottes willen, was ist denn passiert?«</p>
+
+<p>»Ä Rosenbukett is gekommen, groß wie ä Turm ...
+un dabei ä Brief, ne, so was von einer Unverschämtheit is
+überhaupt noch gar nich dagewäsen ...«</p>
+
+<p>»Ist sie denn ohnmächtig? Kann ich vielleicht helfen?
+Darf ich zu ihr hinein?«</p>
+
+<p>»I du mein Himmel, Herr Pilgram, se is noch im Neglischee
+... na aber, ä Kinstlerin &mdash; ä Kinstlerin sieht ja
+schließlich ooch im Neglischee ganz anständ'g aus ... kommen
+Se nur, Herr Pilgram, helfen Se!«</p>
+
+<p>Aus der geöffneten Tür kam ein warmer Strom von
+Rosenduft ... und Rosen überall, ein Rosenschwall, ein
+Rosenwald ... betäubend duftende, schon leise welkende
+Rosen ... dazwischen die eigentlichen Blumen der
+Saison: Dahlien, Astern, Erika ... und inmitten, auf eine
+Chaiselongue hingeworfen, in leidenschaftlichem Schluchzen
+&mdash; sie ...</p>
+
+<p>Ein riesiges Arrangement von Rosen und Chrysanthemen,
+in Manneshöhe, lag umgestürzt auf dem Boden &mdash;
+daneben ein aufgerissenes Kuvert mit aufgeprägtem Wappen,
+ein zerknitterter Bogen schweren Elfenbeinbriefpapieres,
+und &mdash; &mdash; zwei Hundertmarkscheine ...</p>
+
+<p>Auf dem Tisch aufgereiht die Karten der Spender der
+übrigen Blumenherrlichkeiten &mdash; Jucunda war offenbar
+eben beschäftigt gewesen, den Gebern zu danken, prompt
+und akkurat, wie es zu den geschäftlichen Pflichten einer
+vielgefeierten Künstlerin gehört ... da war <em class="gesperrt">das da</em> gekommen ...</p>
+
+<p>Frau Buchner hob das Briefchen auf, glättete es und
+hielt es Pilgram hin. »Da läsen Se's &mdash; und sagen Se,
+ob so was meeglich is &mdash; so eene Gemeinheit &mdash;!«</p>
+
+<p>Jucunda hatte sich beim Klang der Stimme ihrer
+Mutter aufgerichtet ... nun tupfte sie rasch mit dem
+nassen Tüchlein die Tränen von den glühenden Augen,
+ordnete das wirre Haar und verfolgte mit gierigen Blicken
+Valentins Gesichtsausdruck, während er das Briefchen
+durchflog ...</p>
+
+<p>Valentin Pilgram las ... und eine dunkle Zornesflamme
+schlug über sein feierliches Gesicht.</p>
+
+<p>»Halunken!« knurrte er.</p>
+
+<p>Er las weiter &mdash; nun wendete er das Blatt und sah
+nach der Unterschrift ... und plötzlich wurden seine Züge
+ganz starr, und seine Hände ballten sich zur Faust. Dann
+las er zu Ende ... ließ das Blatt sinken und starrte die
+Schauspielerin an mit Augen, in denen Schreck, fassungs-
+und ratlose Bestürzung stand.</p>
+
+<p>»Sie ... kennen, scheint's, die Herren &mdash;?« fragte die
+Kanzleirätin.</p>
+
+<p>»Es scheint, fast &mdash; ja ... entsetzlich fatal ...«</p>
+
+<p>»Am Ende gar &mdash; Korpsbrüder von Ihnen &mdash;?«</p>
+
+<p>»Hm &mdash; wenn's richtige Korpsbrüder von mir wären
+&mdash; denen wollt ich die Flötentöne schon beibringen!! &mdash;
+aber so ...«</p>
+
+<p>»Aber &mdash; Sie kennen die Absender?«</p>
+
+<p>»Ich ... fürchte ... ich kenn' sie ... von Dillingen ...
+von Gorczynski ...« Und mit heftig stammelnden Worten
+erklärte er den Damen, wer es sei, den er hinter diesen
+Namen vermuten müsse ... und in wie naher Beziehung
+diese Herren zu seinem Korps, zu ihm selbst standen ...</p>
+
+<p>»Da sehen Sie's!« sagte Jucunda. »Ein Erbprinz! Ein
+Fürst! das muß man eben einstecken ... nicht mal verklagen
+kann man so 'n großes Tier &mdash; sonst engagiert
+einen kein Hoftheater mehr ... ganz wehrlos und schutzlos
+ist man ...«</p>
+
+<p>Und wiederum flossen die Tränen über das weiße,
+herrische Gesicht ... und auch die Mutter, vom herzbrechenden
+Weinen der Tochter angesteckt, schluchzte nun
+los. Um die Wette weinten die Frauen.</p>
+
+<p>Es arbeitete heftig in Valentin Pilgrams festem,
+offenem Gesicht.</p>
+
+<p>»Nein,« sagte er plötzlich hart und stand mit einem
+Ruck auf. »Schutzlos? Das sind Sie nicht. Guten Morgen,
+meine Damen.«</p>
+
+<p>»Wohin, Herr Pilgram? Was haben Sie denn? Was
+ist Ihnen?« rief Jucunda und hielt den Studenten am
+Aermel seines Bratenrockes fest.</p>
+
+<p>»Ich werde Ihnen Genugtuung verschaffen!«</p>
+
+<p>»Sie &mdash; mir? Nein, Herr Pilgram, das ... das geht
+nicht ... Sie werden ja die entsetzlichsten Unannehmlichkeiten
+haben ... werden sich womöglich gar um meinetwillen
+&mdash; nein, das will ich nicht &mdash; das sollen Sie nicht,
+Herr Pilgram!«</p>
+
+<p>»Nee, nee, Herr Pilgram!« sprudelte auch die Frau
+Kanzleirätin, »das dürfen Se nich machen! Das kenn' wir
+ja gar nich von Ihn' verlangen! Das dürfen wir ja gar
+nich von Ihn' annähm'!«</p>
+
+<p>»Seien Sie ohne Sorge meinetwegen!« sagte Valentin
+und reckte sich zu seiner ganzen Länge. »Ich bin Manns
+genug, so eine Affäre standesgemäß zu erledigen.«</p>
+
+<p>»Nein, Herr Pilgram, das dulde ich unter keinen
+Umständen! Wie kämen Sie denn dazu, sich für mich ...
+ich bitte Sie, was gehe ich Sie denn überhaupt an?«</p>
+
+<p>Da sah der Student das schöne Mädchen mit einem
+Blick an, vor dem sie die Augen niederschlagen mußte in
+Schreck und stolzem Machtgefühl zugleich. Gott, war das
+entsetzlich ... war das berauschend schön ... was sie da so
+jäh, so unerwartet erlebte ...</p>
+
+<p>»Erinnern sie sich noch an ... gestern abend?« sagte der
+Jüngling. »Was Sie mir da versprochen haben?«</p>
+
+<p>»Ach ... das war so leichtsinnig daher geredet ...«</p>
+
+<p>»Von <em class="gesperrt">mir</em> nicht!«</p>
+
+<p>Ach ... wie süß das war ... dies Bewußtsein, daß
+ein Starker, ein Kühner sich einsetzt für dich ...</p>
+
+<p>Aber nein ... das durfte nicht sein ... mit Blitzesschnelle
+flogen die Bilder von hundert schrecklichen Möglichkeiten
+an ihrem Geiste vorbei. Er war doch wohl
+Jurist &mdash; seine Karriere würde er sich ruinieren &mdash; sein
+Examen zunächst ... und wer weiß &mdash; zwar Prinzen &mdash;
+die schlugen sich ja wohl nicht &mdash; aber der Major ... ein
+Offizier ... ein Duell ... Himmel, und der junge Mensch
+hatte ja doch Eltern daheim ... und schließlich &mdash; auch
+sie selber konnte eigentlich keinen Skandal gebrauchen ...
+was wohl Franz Burg dazu sagen würde ... und ihr
+gnädiger, gütiger Herr daheim in Meiningen ...</p>
+
+<p>»Herr Pilgram &mdash; das darf nicht sein! Ich bitte Sie,
+wenn Sie wüßten, wie oft unsereine so etwas erleben
+muß &mdash; wenn man da jedesmal Krach machen wollte! Die
+Herren haben's ja wahrscheinlich gar nicht so schlimm
+gemeint &mdash; haben sich wohl gar nichts dabei gedacht &mdash;«</p>
+
+<p>»Sie haben ... weinen müssen ...« sagte Valentin
+Pilgram durch die Zähne ... »das sollen sie mir bezahlen
+... die zwei.«</p>
+
+<p>Und mit sanftem Druck machte er die große, schlanke
+Hand los, die seinen Rockärmel noch immer gefaßt hielt,
+küßte sie ehrerbietig und ging zur Tür.</p>
+
+<p>»Ach &mdash; die dummen Tränen &mdash;« rief Jucunda &mdash;
+»das macht nichts, die sitzen einem Mädchen ja so lose ...
+sehen Sie, ich lache ja schon wieder ... ich lache ja doch &mdash;«</p>
+
+<p>Und sieh: da liefen ihr wirklich aufs neue die heißen,
+hellen Tropfen über die glühenden Backen ... sie schluchzte
+wie ein Kind:</p>
+
+<p>»Ich will aber doch nicht &mdash; Sie sollen nicht, Herr
+Pilgram &mdash;!«</p>
+
+<p>Der war schon aus der Tür, schritt in seine Bude hinüber,
+riß die neuste grüne Mütze vom Nagel und stülpte
+sie auf den Schädel. Nahm sein silberbeschlagenes spanisches
+Rohr und ging zum Flur ... klinkte mit hartem
+Ruck die Pforte auf und stieg mit hallenden Tritten
+die Treppen hinab. Aus der steinumschnörkelten Pforte
+des altersgeschwärzten Barockhauses trat er auf die belebte
+Katharinenstraße, ging den Markt hinunter am
+Ladengewimmel des Rathausparterres vorbei und stolzierte
+grimmigen Schrittes die Grimm'sche hinab.</p>
+
+<p>Und dabei sann er, was zu tun. Also jetzt werde ich
+die beiden Burschen ankontrahieren müssen &mdash; nicht auf
+Pistolen, bah! Vor die Klinge sollen sie mir, vor die
+krumme! Freilich, der Prinz wird sich wohl hinter seine
+Hausgesetze verkriechen und mir einen Ersatzmann präsentieren
+... aber der Major, dieser aalglatte Streber &mdash;
+der muß 'ran! Hat ja auch wohl jedenfalls den saubern
+Wisch verfaßt &mdash; denn des Prinzen kindliche Pfote war
+das nicht, die kenn' ich doch! Na, und dann wollen wir
+dem mal zeigen, was 'ne Prim ist!</p>
+
+<p>Hm ... aber ... wie stellt sich das Korps dazu? Der
+Prinz ist Konkneipant unseres Bundes, trägt offiziell seine
+Farben ... also ... ich werde austreten müssen ...
+und nicht nur <i lang="la">pro forma</i>, denn sie können mir ... nach
+dem Skandal können sie mir niemals das Band zurückgeben
+...</p>
+
+<p>Teufel auch, da hab' ich mir ja eine schöne Suppe eingerührt
+...</p>
+
+<p>Aber was kann das helfen ... Ritterpflicht ist Ritterpflicht
+... kein Mädchen, und wär's zehnmal eine Komödiantin
+&mdash; keine soll klagen, daß ihre Ehre schutzlos sei, solange
+Valentin Pilgram noch eine Klinge führen kann ...
+Hatte er sich nicht ihrem Dienste gelobt &mdash; gestern abend?
+Und wie rasch war das nun gekommen, daß dies Gelöbnis
+ihn zu Taten rief!</p>
+
+<p>Geld hatte man ihr zu bieten gewagt ... ihr, die ganz
+Deutschland vergötterte ... ihr, die vor seinen Augen dastand
+in so stolzer Reinheit, wie eine Heilige ... die hatte
+man kaufen wollen wie eine ... wie eine aus den dunklen
+Gäßchen der Stadt, durch die am hellsten Tage niemand
+gehen mochte &mdash;?! Das forderte Blut &mdash; nur mit
+Blut war das zu sühnen &mdash;!</p>
+
+<p>Aber ... du selber, Valentin Pilgram &mdash;?</p>
+
+<p>Hm ... ist das nun nicht eigentlich doch ein Narrenstreich?
+Hat sie nicht doch recht gehabt, als sie sagte: was
+geh' ich Sie an &mdash;?!</p>
+
+<p>O Valentin Pilgram, Rechtskandidat im achten Semester
+&mdash; greif' in deine Brust und frage dich: geht sie
+dich an &mdash; diese &mdash; diese da?!</p>
+
+<p>Ja &mdash; wenn eine in der Welt, dann geht diese da dich
+an ... denn, Valentin Pilgram, so närrisch das auch klingen
+mag ... Du bist ... diesem Mädchen bist du verfallen
+seit dem Augenblick, als sie durch die Gasse des
+jauchzenden Volkes vor Karl den Siebenten trat ... und
+zugleich in dein Leben, Valentin Pilgram, schicksalsgewaltig
+... für immer &mdash; für alle deine Tage &mdash;!</p>
+
+<p>Nun lag vor dem Schreitenden, herbstsonnenübergoldet,
+der Augustusplatz: zur Rechten flimmerten die
+Wasser des Mendebrunnens, reckte sich die finsterblinkende
+Front des Museums; zur Linken stieg in heiterer Anmut
+der köstliche Bau des Neuen Theaters ins duftige Blau.
+Dorthin strebte Franconias Senior, denn er wußte zu
+dieser Stunde das Korps im Restaurant auf der Theaterterrasse
+zum Frühschoppen versammelt. Vor ihm wanderte
+noch eine andere grüne Mütze: Pilgram ließ den Frankenpfiff
+schallen: da fuhr der Kopf unter der grünen Fuchsmütze
+herum:</p>
+
+<p>»Ah ... Pilgram &mdash;«</p>
+
+<p>Ehrerbietig zog das blonde Füchschen vor dem gestrengen
+Ersten den Deckel und sprang heran.</p>
+
+<p>»Also, Hartwig, geh' zum Frühschoppen und sage dem
+Fuchsmajor, er möge sofort die Korpsburschen zum außerordentlichen
+Korpskonvent zusammenbitten! Ich erwarte
+die Herren im Flügelzimmer des Restaurants &mdash; verstanden?«</p>
+
+<p>»Gewiß, gewiß, Pilgram &mdash; ich laufe ...«</p>
+
+<p>Und vom muntern Frühtrunk weg, von der sonnüberglühten
+Terrasse, wo bei rauschender Musik die Korps ihren
+offiziellen Frühschoppen hielten inmitten neugierig beobachtender
+Fremden, verschwand ein wohllöblicher C.&#x202f;C.
+der Franconia unter dem Rundbogen, der zum inneren
+Lokal führte, und versammelte sich in einem kühlen, abseitigen
+Gastzimmer zum Konvent &mdash; gespannt, was diese
+unerwartete Ladung zu bedeuten haben möge.</p>
+
+<p>Die Franken waren's gewohnt, daß ein Ausdruck beklemmender
+Feierlichkeit sich über das hagere Gesicht ihres
+Ersten legte, wenn er den Korpskonvent eröffnete: aber
+so ... so unheimlich offiziell hatten sie ihn doch noch niemals
+gesehen.</p>
+
+<p>»Ich habe dem C.&#x202f;C. von einer persönlichen Angelegenheit
+Mitteilung zu machen, die &mdash; zu meinem
+größten Bedauern &mdash; mich in einen Widerspruch mit den
+Interessen des Korps bringt. Unser Konkneipant, Seine
+Durchlaucht der Erbprinz, und dessen Begleiter Major
+v. Gorczynski haben sich einer schweren Beleidigung gegen
+eine Dame schuldig gemacht. Diese Dame ... diese Dame
+steht unter meinem Schutze ... und deshalb sehe ich mich
+genötigt, diesen Herren eine schwere Forderung zu übersenden.
+Ich kann natürlich nicht erwarten, daß das Korps
+den Erbprinzen zur Verantwortung zieht ... und deshalb
+bleibt mir nichts übrig, als den C.&#x202f;C. zu bitten, mir die
+Entlassung ohne Farben zu gewähren, damit ich den
+Ehrenhandel mit einem Herrn, der offiziell zu den Angehörigen
+des Korps zählt, zum Austrag bringen kann.
+Wünscht jemand zu meinem Antrage das Wort?«</p>
+
+<p>In stummer Verblüffung hatten die jungen Herren den
+Vortrag ihres Häuptlings angehört &mdash; angesteckt von
+seiner Erregung, seinem fiebernden Ernst. Nun baten fast
+sämtliche Korpsburschen ums Wort und verlangten nähere
+Erklärungen. Man fragte, wie es möglich sein könne,
+daß der junge Prinz mit einer Dame, welche der nächsten
+Verwandtschaft ihres Korpsbruders angehörte &mdash; denn
+nur um eine solche Dame konnte es sich doch handeln &mdash;
+überhaupt in Berührung gekommen sein könne?</p>
+
+<p>»Die Dame, für die ich einzutreten habe, ist keine Verwandte
+von mir ... es handelt sich um ein junges Mädchen,
+das außer seinem Vater, einem älteren, gebrechlichen
+Herrn, keinen männlichen Schutz zur Seite hat &mdash; und für
+das einzutreten mir deshalb als die Pflicht eines Ehrenmannes
+erscheint, zumal diese junge Dame zugleich eine
+berühmte und gefeierte Künstlerin ist ... es handelt sich
+um die herzoglich meiningische Hofschauspielerin Jucunda
+Buchner.«</p>
+
+<p>Ein unwillkürlicher Laut des Staunens, der tiefsten
+Ueberraschung entfuhr jedem der jungen Herren. Keiner
+konnte sich den Zusammenhang erklären ... wußte doch
+außer Hans Thumser noch nicht ein einziger von ihnen,
+daß ihr Erster, der notorische Verächter alles dessen, was
+Kunst und Künstler hieß, überhaupt gestern abend bei den
+»Meiningern« gewesen war ...</p>
+
+<p>»Ich bitt' ums Wort!« rief Ivo Volkner, der temperamentvolle
+Rheinländer, und als der Erste dem Konvent
+Silentium für Volkner anbefohlen: »Ja, lieber Pilgram
+&mdash; ohne uns in Deine persönlichen Angelegenheiten
+hineinmischen zu wollen &mdash; aber Deine Erklärungen sind
+doch für uns alle dermaßen &mdash; überraschend, daß wir doch
+wohl um etwas genauere Auskunft bitten müssen ... was
+ist der ... jungen Dame ... denn eigentlich passiert ...
+und wie kommst Du &mdash; gerade Du dazu, Dich zu ihrem
+Ritter aufzuwerfen?«</p>
+
+<p>»Ich will ... zuerst diese letzte Frage beantworten.
+Oder vielmehr nicht beantworten. Liebe Korpsbrüder,
+Ihr kennt mich und wißt: ich weiß im allgemeinen, was
+ich tue ... Und wenn ich Euch sage, das, was ich zu tun
+vorhabe, das muß sein &mdash; na, dann darf ich vielleicht von
+Euch erwarten, daß Ihr mir das glaubt. Hab' ich recht?«</p>
+
+<p>Allgemeines Gemurmel der Zustimmung.</p>
+
+<p>»Also noch einmal: ich halte mich für verpflichtet, für
+die Dame einzutreten ... und bitte den C.&#x202f;C. ... von einer
+näheren Darlegung meiner Motive ... Abstand zu
+nehmen.«</p>
+
+<p>Volkner bat ums Wort und fragte:</p>
+
+<p>»Ohne weiter in Dich dringen zu wollen, Pilgram: wir
+hören doch alle in diesem Augenblick zum ersten Male,
+daß Du die Dame überhaupt kennst. Sollten wir dann
+nicht wenigstens erfahren, wann und ... unter welchen
+Umständen Du ... ihr denn eigentlich dermaßen nähergetreten
+bist, daß Du &mdash; hm! daß Du nun dermaßen für
+sie in die Verlängerung springen willst?«</p>
+
+<p>»Das kann ich Euch mitteilen ... aber zur Erklärung
+meiner ... meines Entschlusses wird's Euch wenig
+nützen ... ich muß da schon an ... an Euer korpsbrüderliches
+Vertrauen appellieren ... ich kenne Fräulein Buchner
+erst seit gestern abend ... sie ist die einzige Tochter
+des Kanzleirats Buchner ... bei dem ich zur Miete wohne.«</p>
+
+<p>»Also sozusagen &mdash; <i lang="la">filia hospitalis</i>!« sagte Volkner,
+und ein kurzes, verständnisvolles Schmunzeln ging über
+die erregten Gesichter der Korpsbrüder.</p>
+
+<p>»Nun, ich denke, ich habe Euch zu diesem Punkte mitgeteilt,
+was ... was sich irgend mitteilen läßt. Und zweitens &mdash; was
+wolltest Du ferner noch wissen, Volkner?«</p>
+
+<p>»Ja &mdash; was denn der Erbprinz eigentlich gemacht
+hat ...«</p>
+
+<p>»Er hat sie durch seinen Begleiter zum Souper einladen
+lassen &mdash; na, das möchte ja allenfalls gehen ... aber er
+hat dieser Einladung dadurch einen nicht mißzuverstehenden
+Charakter gegeben &mdash; daß er ... daß er zwei Hundertmarkscheine
+beigefügt hat ...«</p>
+
+<p>Das Lächeln, das bei Erwähnung der Soupereinladung
+um die Lippen der jungen Herren aufgezuckt hatte, erlosch
+... Rufe wurden laut:</p>
+
+<p>»Geschmacklosigkeit!«</p>
+
+<p>»Donnerwetter, der geht aber aufs Ganze!«</p>
+
+<p>»Na ja &mdash; ein Förscht &mdash; der denkt eben, er braucht
+bloß auf'n Knopp zu drücken ...«</p>
+
+<p>»Ich denke, liebe Korpsbrüder, Ihr seht ein, daß eine
+solche infame Beleidigung &mdash; einem anständigen Mädchen
+gegenüber &mdash; Fräulein Buchner <em class="gesperrt">ist</em> ein anständiges Mädchen,
+und wenn sie zehnmal eine Komödiantin ist &mdash; was
+sagst Du, Thumser? Du kennst sie ja auch?«</p>
+
+<p>Hans Thumser hatte mit einem wahren Toben der Gefühle
+die Verhandlung verfolgt, ohne selbst das Wort zu
+nehmen. Mein Gott, wie war aus dem strahlenden Spiel
+von gestern so rasch ein grotesker, tragikomisch grinsender
+Ernst geworden! Und was war doch dieser offizielle,
+banausische Pilgram für ein Prachtkerl, daß er sich für
+ein jählings erwachtes Gefühl gleich so ganz und rückhaltlos
+in die Schanze warf!</p>
+
+<p>Ach, und du, Hans Thumser? was soll denn heut nachmittag
+werden? Mit was für Träumen, was für Begehrnissen,
+Hans Thumser, trägst du dich?!</p>
+
+<p>»Ein anständiges Mädchen?« rief er zur Antwort auf
+die Frage des Ersten. »Eine Königin ist sie ... eine
+Göttin ... Pilgram, ich beneide Dich um das Glück, für
+sie vom Leder ziehen zu dürfen!«</p>
+
+<p>»So überschwenglich brauchen wir das gar nicht mal
+auszudrücken,« sagte der Erste. »Aber ein anständiges
+Mädchen ist sie ... und da ich nun mal zufällig das Pech
+oder ... das Glück habe, mit ihr unter einem Dache zu
+wohnen ... und der erste honorige Mensch zu sein, dem
+sie sich anvertraut hat ... so bleibt ja wohl nichts andres
+übrig, als die Konsequenzen zu ziehen ...«</p>
+
+<p>Bei diesen so nüchtern klingenden Worten schwoll's in all
+den jungen Burschenherzen. Es war der romantische Glanz,
+der diese Tat ihres Korpsbruders, ihres Führers, umwob,
+der ihnen allen Sinne und Urteil blendete. Wenn auch
+der Idealismus, den das Gymnasium in ihnen erzogen,
+durch die Formen blasierten, kaltschnäuzigen Lebemannstums
+verdeckt, ja stellenweise überwuchert sein mochte &mdash;
+noch lebte in ihnen allen etwas von dem Adelsgeiste,
+unter dessen Herrschaft ihre ganze Jugend, die Formung
+ihrer Seelen gestanden ... Wohl stieg in manchem von
+ihnen das Gefühl auf, als hätte sich doch am Ende ein
+Kompromiß finden lassen ... noch bedächtigere Seelen
+bedachten gar insgeheim, daß eine solche Katastrophe, auch
+wenn Pilgram vorher offiziell aus dem Korps ausschiede,
+doch nicht ohne Folgen für die Beziehungen des Korps
+zu dem Erbprinzen und damit vielleicht überhaupt zu den
+deutschen Fürstensöhnen bleiben könne ... In weiter
+Ferne dämmerte gar hie und da etwas wie der Gedanke
+an verpfuschte Karriere, verspielte Zukunftsaussichten ...
+aber:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Wer die Folgen ängstlich zuvor erwägt,<br /></span>
+<span class="i0">Der beugt sich, wo man die Tiefquart schlägt &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Frei ist der Bursch!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>&mdash; das galt auch heute noch, das galt, das sang man nicht
+nur, so handelte man auch &mdash; hol's der Teufel!</p>
+
+<p>Einstimmig ging Pilgrams Antrag durch, ihm die
+ehrenvolle Entlassung ohne Band zu erteilen ... Aber
+durch jedes Herz ging's wie ein schriller Riß, als nun
+Valentin Pilgram stumm das grün-gold-rote Band von
+der Brust zog, es stumm auf die Mütze legte, die auf dem
+Tische lag, sich mit schweigendem Händedruck von den ...
+ehemaligen Korpsbrüdern verabschiedete ... und, mit
+einem Handwink im Kreise, an ihnen vorüberschritt ...</p>
+
+<p>Er ging durch den Schenkraum des Theaterrestaurants,
+schritt barhaupt quer über den Augustusplatz, kaufte sich
+in der Passage für seinen letzten Taler (Gott sei Dank,
+morgen ist der Erste!) einen einigermaßen schäbigen Filzhut
+und kehrte dann zur Theaterterrasse zurück. Grüßend
+schritt er am Frankentisch vorbei, wo die harrenden Füchse
+in stummer Verwunderung ihre Mützen zogen, lüftete
+flüchtig den Hut zu den Tischen der übrigen Korps und
+trat auf den Neo-Borussentisch zu, an dessen Spitze der
+Erste, Herr Borgmann, mit dem gewohnten süffisanten
+Lächeln präsidierte.</p>
+
+<p>»Herr Borgmann &mdash; kann ich Sie einen Moment
+sprechen?«</p>
+
+<p>»Mit dem größten Vergnügen, Herr Pilgram ...«</p>
+
+<p>Die beiden jungen Herren traten abseits an den Rand
+der Terrasse, von der der Blick hinschweifte zum
+zitternden Spiegel des Schwanenteiches, auf das braune,
+rieselnde Laub der Anlagen auf dem alten Umwallungsgebiet.</p>
+
+<p>»Zunächst gestatte ich mir, Ihnen anzuzeigen, daß ich
+aus dem Korps Franconia ausgeschieden bin ...«</p>
+
+<p>»Herr Pilgram &mdash;!«</p>
+
+<p>»Sie werden den Grund sogleich erraten: Ich bitte
+einen wohllöblichen C.&#x202f;C. der Neo-Borussia um Waffenschutz
+und zugleich Sie persönlich um die große Liebenswürdigkeit,
+Seiner Durchlaucht dem Erbprinzen von Nassau-Dillingen
+und Herrn Major von Gorczynski je eine
+Forderung auf schwere Säbel ohne Binden und Bandagen
+auf fünfundzwanzig Minuten bis zur Abfuhr zu überbringen.«</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">In ratloser Verblüffung waren Mutter und Tochter
+zurückgeblieben, als ihr Student sich so unerwartet und
+kategorisch zu Jucundas Ritter aufgeworfen. Nun sie
+allein waren, wich die erste Rührung und Ergriffenheit
+bald einem kaltblütigen Erwägen.</p>
+
+<p>»Das gibt weeß Knebbchen än richt'gen Schkandal!«
+platzte Mutter Doris heraus. »Gucke, das hast Du nu
+davon, daß Du Dich so hast vergessen kenn'! Schließlich &mdash;
+so gefährlich war doch am Ende die ganze Geschichte nu
+nich! Man hätte den Herrn ihr Geld einfach sollen wiederschicken
+&mdash; mit Abzug von's Porto nadierlich &mdash; un den
+Korb zum Gärtner zurück, un all's war in Ordnung!
+Statt dem wird der nun hingehn und wird'n fordern,
+den Erbprinz, un der Krach is fertig! Un schließlich, was
+wer'n die Leite sagen? Die Buchner hat's mit ä Studenten,
+wer'n se sagen!«</p>
+
+<p>Eine Flut von wirren Gedanken wirbelte durch
+Jucundas Hirn. Da war so unendlich Vieles, was beglückte,
+erregte, schmeichelte, stachelte, berauschte! Welch eine
+Macht ging von ihr aus &mdash; trieb den langen Jungen, einen
+Sohn aus gutem Hause, den Ersten Chargierten des
+ältesten und angesehensten Korps in Leipzig &mdash; sie war
+ihren Kindheitserinnerungen noch nahe genug, fühlte sich
+noch immer als Tochter eines Hauses, das jahraus, jahrein
+nur Korpsstudenten beherbergte &mdash; wußte das als eine
+Ehre zu schätzen ... ihn trieb sie in tolle, aberwitzige
+Abenteuer, diese unheimliche Macht, die von ihr ausging
+... Achtzehn Jahre, und schon der Mittelpunkt von
+Tragödien und Katastrophen ...</p>
+
+<p>Aber da war noch eine andere Stimme: die Stimme
+der kalt rechnenden Vernunft, die Stimme der kleinbürgerlichen
+Gerissenheit, die das früh gewitzigte Töchterchen
+einer engbegrenzten Spießerwelt auf ihrem Anstieg
+in lichte Höhen des Daseins bisher so sicher geleitet hatte:
+die warnte vor dem Skandal ... mahnte zur Ruhe, zur
+Vorsicht ...</p>
+
+<p>»Wenn ich nur wüßte, was Hoheit in Meiningen zu
+so einer Geschichte sagen würde ...«</p>
+
+<p>»Nu, ich glaub' nich, daß der gnädigste Herr sähre
+entzickt mechte sinn, wenn's Geschichten gibt wegen en
+Prinzen aus fürstlichem Hause ...« meinte die Mutter.</p>
+
+<p>Jucunda sann, an wen sie sich wohl um Rat wenden
+könnte. Franz Burg! schoß es ihr durch den Sinn. Der
+wackere, selbstlose Freund und Förderer hätte es wohl
+verdient, daß sie sich überhaupt zuerst an ihn gewandt
+hätte ... Und das hätte sie ja auch sicherlich getan, wenn
+nicht ihre Nerven, noch nachzitternd von den gestrigen
+Fiebern, ihr den Streich mit dem Weinkrampf gespielt
+hätten ... ja, und da war's eben alles so von selbst gekommen,
+das Andre, das Unwahrscheinliche, das süß
+Berauschende und Erschreckende ...</p>
+
+<p>Mutter Doris war natürlich sehr einverstanden ...
+Und alsbald war Jucunda auf dem Wege zu Franz Burg
+... wie sie immer zu Franz Burg gegangen war, wenn
+sie nicht mehr aus noch ein wußte ... es gingen sehr viele
+Menschen zu Franz Burg, wenn sie nicht mehr aus noch
+ein wußten ...</p>
+
+<p>Ach, wie ging sie gern zu Franz Burg! Erstens war
+es ein behagliches Bewußtsein, daß er verheiratet war &mdash;
+sehr glücklich verheiratet. Zweitens war's ein sehr behagliches
+Bewußtsein, daß &mdash; nun daß er trotzdem heftig für
+sie schwärmte &mdash; so was merkt man doch, nicht wahr? &mdash;
+daß sich hinter seiner trockenen, reservierten Freundschaft
+eine Empfindung versteckte, die gewaltsam gebändigt
+werden mußte ...</p>
+
+<p>Gott, ist das entzückend, so zu fühlen, zu wissen, daß
+man wie eine allvergötterte Königin durchs Leben
+schreitet ... Ihr fiel ein, daß sie einmal von den Indianern
+gelesen hatte, sie sammelten die Skalpe ihrer erlegten
+Feinde ... O Jucunda &mdash; wenn du die Skalpe
+deiner zur Strecke gebrachten Verehrer sammeln würdest
+... was für ein Museum käme da zusammen!</p>
+
+<p>So sann Jucunda, während sie hastig die Petersstraße
+hinabschritt, den Weg, den man sie gestern im Triumphzug
+heimwärtsgeführt ... Unter dem Torweg kaufte sie
+sich die Morgenzeitungen, außer dem Tageblatt, das sie
+daheim zum Frühstück schon verschlungen, und las die
+Kritiken ... eitel Hosianna über den ganzen Abend, und
+sie natürlich der Mittelpunkt ... und hier ein Bericht über
+ihre Heimkehr, feuilletonistisch zurechtgestutzt &mdash; brav so,
+brav, na ja, so was macht eine bildschöne Reklame, das
+darf öfter passieren!</p>
+
+<p>Erst während sie die Anlagen am Roßplatz kreuzte,
+den Königsplatz überschritt, kam ihr wieder in den Sinn,
+weshalb sie sich eigentlich heut morgen zum Theater aufgemacht
+hatte, wo sie doch auf Rechnung der gestrigen
+Strapaze von der Probe dispensiert war. Nein, dieser
+gute Pilgram &mdash; so ein Starrschädel! Eigentlich rührend ...
+und doch ein bißchen zum Lachen, daß er sich ihretwegen
+... des lumpigen Billetts wegen, das doch wahrhaftig
+nicht das erste gewesen war und auch nicht das letzte sein
+würde ... daß er sich deswegen mit Tod und Teufel
+schlagen wollte &mdash; sich sein Leben verpfuschen reineweg!
+Also solche Männer gab es doch auch ... eigentlich eine
+Wohltat, wenn man so inmitten dieses marklosen,
+irrlichtelierenden, an großen Worten sich betrinkenden
+und vor jeder Tat mit eingekniffenem Schwanz abseits
+schleichenden Künstlervolks lebte ... Franz Burg war ja
+eine Ausnahme ... aber ob er sich ihretwegen auch nur
+einem Schnupfen ausgesetzt hätte statt einer Degenklinge
+&mdash; das bezweifelte Jucunda denn doch eigentlich ...</p>
+
+<p>Da war das Carolatheater ... Jucunda schritt durch
+den Eingang, überquerte das schmale Höfchen, den Kassenflur,
+in dem sich bereits wieder das Publikum um die
+Abendplätze prügelte &mdash; Gott, wie wird Hoheit sich über die
+Kassenrapporte freuen! &mdash; schlüpfte durch die knarrende Eisentür
+in den Bühnenumgang und horchte am Pförtchen, das
+zur Bühne führte. Burg arrangierte eben das »Lager« ...</p>
+
+<p>»Kinder,« hörte sie seine Stimme, »faßt Eure Kriegsknechte
+man recht feste um 'n Hals &mdash; Ihr seid jetzt keine
+höheren Töchter mehr, Ihr seid Lagerdirnen des Friedländers,
+die hatten etwas weniger etepetetige Umgangsformen
+als die Leipzigerinnen von 1888! Und wenn's
+aus Versehen mal 'nen handfesten Kuß absetzt &mdash; na, für
+die Kunst muß man eben Opfer bringen können!«</p>
+
+<p>Ja &mdash; das konnte natürlich bis zur Erschlaffung so
+weitergehen ... und dabei war doch Eile not ... Es
+half nichts, sie mußte unterbrechen ... obschon sie wußte,
+daß er das auf den Tod nicht leiden konnte ... Sie trat
+in den halbdunklen Bühnenraum, den nur die offenen
+Gasflammen der Proberampe matt erhellten. Da stand
+Franz Burg neben dem Regietisch, umringt von der andächtig
+lauschenden Schar des »Volkes«.</p>
+
+<p>»Suchen Sie mich, Buchner?«</p>
+
+<p>»Wenn Sie einen Moment Zeit für mich hätten,
+Meister ... es ist dringend ...«</p>
+
+<p>Jucunda störte nicht ohne Grund &mdash; dafür kannte er sie.
+Aber allzu gnädig klang es nicht, wie er drinnen im Konversationszimmer
+ein kurzes »Also los!« hervorstieß.</p>
+
+<p>Und Jucunda berichtete. Ausführlich entschuldigte sie
+sich, daß sie sich nicht zuerst an ihn gewandt ... ließ deutlich
+durchblicken, daß ihr die ganze Geschichte nur so über
+den Kopf gekommen ...</p>
+
+<p>Ein sardonisches Schmunzeln zog über's ausgearbeitete
+Gesicht des Oberregisseurs, in seinen dunklen, tiefliegenden
+Augen tanzten tausend Teufelchen.</p>
+
+<p>»Un wat sall ick dorbi dauhn?«</p>
+
+<p>»Helfen sollen Sie, lieber Freund! Das darf doch nicht
+geschehen!«</p>
+
+<p>»Ganz im Gegenteil, Kindchen &mdash; einer von den dreien
+muß auf der Strecke bleiben &mdash; noch besser alle! Die
+Schädel sollen sie sich spalten &mdash; einander auffressen wie
+die beiden Löwen in dem berühmten Liede:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">Zwei Löwen gingen einst selband<br /></span>
+<span class="i0">In einem Wald spazoren,<br /></span>
+<span class="i0">Und haben da, von Wut entbrannt,<br /></span>
+<span class="i0">Einander aufgezohren!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>»Das &mdash; kann Ihr Ernst nicht sein!«</p>
+
+<p>»Aber blutiger! Was liegt an einem Rechtskandidaten,
+einem Erbprinzen, einem Stabsoffizier! Hin müssen sie
+allesamt werden, damit Jucunda Buchner im Triumph
+über ihren Leichnamen zum Tempel des Ruhms emporwandelt!«</p>
+
+<p>»Ach &mdash; mir ist wirklich nicht nach Späßen zumut!«</p>
+
+<p>»Denken Sie, mir?! Merken Sie nicht, Kindchen: alles,
+was nicht zum Bau gehört, ist Publikum, das heißt, einzig
+und allein dazu da, uns zu bewundern, zu feiern, zu erhöhen
+... Gestern abend haben sie Ihnen die Pferde
+ausgespannt und Sie im Wagen nach Hause gezogen:
+geben Sie mal acht, wenn Ihr Student und Ihr Erbprinz
+sich Ihretwegen gegenseitig aufgespießt haben &mdash; was die
+Leute dann erst mit Ihnen aufstecken! Auf Händen werden
+Sie dann nach Hause getragen!«</p>
+
+<p>»Und ... was wird Hoheit zu der Geschichte sagen?«</p>
+
+<p>»Hm ... Hoheit ...« Burg sann einen Augenblick nach.
+Allerdings, das war zu erwägen ... An Hoheit durfte
+so eine kindische Affäre natürlich nicht herankommen ...</p>
+
+<p>Aber ... würde es denn überhaupt eine Affäre
+werden? Franz Burg kannte die Welt und wußte, daß
+in ihr nichts so heiß gegessen wird, wie jugendlicher Ueberschwang
+es kochen möchte ...</p>
+
+<p>»Na ... so weit sind wir ja noch lange nicht!« lachte
+er. »Vorläufig wollen wir mal ruhig zusehen, wie das
+Rummelchen sich historisch entwickelt ... Is ja ganz nett,
+auch mal Zuschauer spielen zu dürfen! So, und nun muß
+ich wieder Affen dressieren &mdash; komm her, Langbeinchen,
+gib mir 'n Kuß!«</p>
+
+<p class="start-chapA space-above">Als Jucunda auf der Straße stand, sah sie ihre Kollegin
+Thöny drüben in einem Fenster des ersten Stockes
+liegen. Sie winkte ihr zu.</p>
+
+<p>»Was haben Sie denn da drinnen gemacht, Buchner?
+Kommen Sie 'nauf, wir schwatzen ein bissel!«</p>
+
+<p>Die beiden Rivalinnen kamen rasch ins Gespräch.
+Plötzlich fiel's Jucunda ein, daß ihre Mutter daheim mit
+dem Mittagessen wartete: Na, dem ließ sich abhelfen &mdash;
+es war nicht alle Tage so nett &mdash; nicht alle Tage vertrug
+man sich so gut mit seinen Kolleginnen &mdash; das mußte man
+auskosten. Sie pfiff sich einen barfüßigen Jungen von
+der Straße herauf und schickte ihn mit einem Markstück
+und einem Stadttelegramm zum nächsten Postamt.</p>
+
+<p class="quote">»Muß probieren, nicht zum Essen erwarten. Jucunda.«</p>
+
+<p>Die Mädchen teilten das frugale Mittagsmahl, das
+Mutter Ach ihrer Pensionärin gekocht hatte, und
+schwatzten, küßten sich, schworen sich ewige Freundschaft ...
+und Asta Thöny hatte ganz vergessen, daß sie noch heut
+nacht so heiß geweint hatte, weil man Jucunda Buchner
+die Pferde ausgespannt hatte und ihr nicht ...</p>
+
+<p>Und Jucunda Buchner dachte nicht mit einem Sterbensgedanken
+mehr daran, daß um ihretwillen ein junger,
+wackerer Gesell im Begriff war, seine Zukunft und sein
+Leben auf ein tolles Spiel zu setzen ...</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Erbprinz Heribert und sein Mentor waren beim
+Dessert ... Zwei junge Leutnants vom hundertsiebenten
+Regiment, Söhne verarmter Nassau-Dillingenscher
+Adelsfamilien, deren alte Herren nur Infanteriezulage
+erschwingen konnten, waren zu Tische geladen. Man
+trank Pommery und beklatschte Hofskandäler der benachbarten
+Fürstenhöfe &mdash; da wurde in dringlicher, persönlicher
+Angelegenheit Herr Studiosus Borgmann Neo-Borussiae
+gemeldet.</p>
+
+<p>»Hm ... dringliche, persönliche Angelegenheit? Also
+bitte ins Empfangszimmer ... Entschuldigen Sie mich
+einen Augenblick, meine Herren ...«</p>
+
+<p>Sporenklirrend ging der Prinz &mdash; den militärischen
+Gästen zu Ehren war er heut in der Uniform seiner
+Sophiendragoner &mdash; in den Salon hinüber, dessen
+konventionelle Hoteleleganz durch ein paar erlesene Stücke
+aus dem erbprinzlichen Schloß Beauregard eine Art persönliche
+Note empfangen hatte.</p>
+
+<p>Herr Borgmann verneigte sich tief. Unter seiner
+schwarzen Kompresse waren Stirn und Nase erblaßt vor
+feierlicher Erregung.</p>
+
+<p>»Durchlaucht ... ich bedaure unendlich ... furchtbar
+peinliche Mission ...«</p>
+
+<p>»Darf ich bitten, Platz zu nehmen?«</p>
+
+<p>Stotternd entledigte sich Herr Borgmann seines Auftrages.</p>
+
+<p>»Hören Sie mal, mein Verehrtester &mdash; das ist ein
+Witz ... aber ein fader!« sagte der Erbprinz. »Einen
+Augenblick ... ich werde Herrn von Gorczynski rufen
+lassen, der ist ebenfalls beteiligt ...«</p>
+
+<p>Er klingelte und befahl, den Major zu bitten.</p>
+
+<p>»Nehmen Sie mir die Frage nicht übel, Herr Borgmann
+&mdash; ist bei Ihrem Herrn Auftraggeber vielleicht eine
+Schraube los?«</p>
+
+<p>»Ich bedaure, als Kartellträger eine Kritik an dem
+Inhalt meines Auftrages ... weder selbst ausüben noch ...
+entgegennehmen zu dürfen ...«</p>
+
+<p>»Sehr korrekt!« lobte der Erbprinz. »Sie haben ganz
+recht &mdash; verzeihen Sie. Aber ich bin einstweilen dermaßen
+baff ... So was hab' ich denn doch nicht für möglich
+gehalten.«</p>
+
+<p>Und zu dem eintretenden Major mit einem boshaften
+Schmunzeln:</p>
+
+<p>»Nun sagen Sie mal, mein Verehrtester &mdash; was haben
+Sie uns da denn eigentlich eingebrockt? Wir werden
+gefordert! Wir sollen uns prügeln &mdash; weil wir den perversen
+Wunsch geäußert haben, mit der Jungfrau von
+Orleans zu soupieren!«</p>
+
+<p>Der Major begriff nicht &mdash; mußte erst völlig aufgeklärt
+werden &mdash; und dann platzte er hell heraus ... Der Prinz
+stimmte ein, auch Borgmann glaubte aus schuldiger Höflichkeit
+mitlachen zu müssen ...</p>
+
+<p>»In der Tat, die Sache ist zum Wälzen,« sagte der
+Prinz &mdash; »aber Teufel auch, wie bringen wir diesen
+rabiaten Burschen, den guten Pilgram, zur Ruhe? Wie
+die ganze verfahrene Karre wieder ins Gleis? Ich danke
+für einen Skandal ... die Sache muß unbedingt in aller
+Stille arrangiert werden.«</p>
+
+<p>»Durchlaucht,« sagte der Major, »ich bin natürlich
+schuld. Ich habe unsre ... hm, hm ... unsre vollkommen
+harmlose Soupereinladung scheinbar doch ein bißchen zu
+herausfordernd stilisiert ... ich übernehme selbstverständlich
+jede Verantwortung. Zunächst werde ich zu Fräulein
+Buchner hinfahren, mich als den Schreiber des ... verhängnisvollen
+Zettels bekennen ... und für mich, als den
+allein schuldigen Teil &mdash; die Verzeihung dieser ... nun der
+jungen Dame erbitten. Damit dürfte dann wohl die Angelegenheit
+vollkommen erledigt sein &mdash; nicht wahr, Herr
+Borgmann?«</p>
+
+<p>»Hm ... ich will's hoffen,« meinte Herr Borgmann
+etwas kleinlaut. »Wenn ich den Fall richtig taxiere, ist
+mein Herr Auftraggeber in ... na, in gewissen ...
+heiligen ... Gefühlen gekränkt ... die bei etwas
+temperamentvollen jungen Leuten leicht eine ... etwas
+explosive Form annehmen ...«</p>
+
+<p>»Ach so &mdash; Koller nennt man das ja wohl,« näselte
+der Erbprinz. »Ja ... aber wenn ein solcher &mdash; hm ...
+pathologischer Zustand gemeingefährlich wird, dann muß
+eben eine Radikalkur versucht werden. Aeh &mdash; die Sache
+ödet mich ... Ich wünsche, lieber Herr von Gorczynski,
+daß Sie die Angelegenheit völlig ins Reine bringen, verstehen
+Sie mich?«</p>
+
+<p>»Gewiß, gewiß, Durchlaucht, ich werde es an nichts
+fehlen lassen ...« hastete der Major beflissen.</p>
+
+<p>»Und Sie, Herr Borgmann? Ich rechne auf Ihre
+Mitwirkung zu einer absolut geräuschlosen Beilegung!«</p>
+
+<p>»Durchlaucht wollen versichert sein, daß ich mein möglichstes
+tun werde!«</p>
+
+<p>Mit kurzer Verneigung schritt der Prinz an den beiden
+Herren vorüber und überließ sie ihrer Ratlosigkeit. Auf
+dem Wege zum Speisesalon brach er in ein schallendes
+Gelächter aus.</p>
+
+<p>So eine gerissene Katze &mdash; bringt's fertig, einen
+Prinzen, einen Prinzenbegleiter und einen langen Laban
+von Schlagetot vor ihren Reklamewagen zu spannen ...
+und sowas ist achtzehn Jahre alt und spielt weißgewaschene
+Tugendengel dermaßen überzeugend, daß einem ganz
+kniefällig dabei zumute wird ... Na, warte Du, Dich
+zähm' ich mir noch mal, Du süße, weiße Bestie Du &mdash; das
+lohnt doch noch der Mühe!</p>
+
+<p>»Sie, lieber Aldringen, geben Sie mal 'n Glas
+Pommery &mdash; aber etwas lebhaft, bitte!«</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>7.</h2>
+
+<p class="start-chapI">Major von Gorczynski hatte beschlossen, den Stier bei
+den Hörnern zu packen. So etwas Blödsinniges war
+ihm in seinem ganzen Leben noch nicht passiert! Eine
+Soupereinladung an eine Bühnenprinzessin, die mit einer
+Säbelforderung seitens eines Korpsstudenten beantwortet
+wird! Und noch dazu eines Korpsstudenten, von dem man
+mit positiver Bestimmtheit weiß, daß er allem, was Theater
+und Theaterweiber heißt, weltenfern steht! Das war zu
+abgeschmackt ... Was konnte nur vorgegangen sein, das
+diese ausgefallene Konstellation ermöglicht hatte! Das
+mußte man herausbekommen ... Und das Einfachste
+war, man ging gleich vor die rechte Schmiede ... Mit
+dem Mädel war jedenfalls noch am ehesten fertig zu
+werden ... Absolut geräuschlose Erledigung hatten Durchlaucht
+verlangt? Herr von Gorczynski kannte sich jedenfalls
+mit Mädeln noch besser aus als mit dieser rauf- und
+trinkfesten Männerjugend in Band und Mütze, deren Begriffe
+und Sitten so was mittelalterlich Unkontrollierbares
+an sich hatten ... Also auf zu Jucunda!</p>
+
+<p>Frau Kanzleirätin Buchner öffnete selbst die Tür und war
+nicht wenig entsetzt, als ein nicht mehr ganz junger, höchst
+eleganter und &mdash; hm! &mdash; pikfein parfümierter Herr in Gehrock,
+Zylinder, hechtgrauen Glacés an der Entreetür stand
+und Fräulein Jucunda Buchner zu sprechen wünschte ...</p>
+
+<p>»Fräul'n Buchner is aus &mdash; tut m'r unendl'ch leid ...
+Aber wenn ich was kennte bestell'n &mdash; ich bin die Mutter.«</p>
+
+<p>Herr von Gorczynski musterte die stattliche, rundliche
+Frau mit Kennerblick. Es war nachmittags um vier, aber
+die ... Dame war noch immer in Morgentoilette ...
+geblümter Schlafrock und Schleifenhäubchen ... Also aus
+so einem ... Milieu entstammte das Dämchen, für das
+der Sohn eines hohen sächsischen Justizbeamten Korpsband
+und Karriere in den Wind schlug ... Hm ... Das vereinfachte
+die Situation allerdings außerordentlich. Herr
+von Gorczynski war auf eine feingebildete Familie gefaßt
+gewesen ... Vielleicht Justiz, Universität, ein Predigerhaus
+... Und nun ... Na, wenn man mit so etwas
+nicht geräuschlos fertig werden sollte ...</p>
+
+<p>»So ... Sie sind die Mutter ... Na da ist es vielleicht
+am besten, ich unterhalte mich erst mal ein wenig
+mit Ihnen ... Major von Gorczynski ist mein Name.«</p>
+
+<p>Frau Doris fühlte, wie ihr das Herz in die flanellenen
+Unterhosen rutschte. »Ja, aber ... Sie sehen, Herr
+Major ... Ich bin Sie ja doch gar nich angezogen ...«</p>
+
+<p>»Bitte, das macht nichts ... Was ich Ihnen zu eröffnen
+habe, das können Sie auch unangezogen hören.
+Also wenn ich bitten darf &mdash; oder wünschen Sie meine Erklärungen
+auf dem Hausflur entgegenzunehmen?«</p>
+
+<p>»Ach nee ... Aber gewiß nicht, Herr Major ...
+Bitte treten Sie ein ... in die gute Stube ...«</p>
+
+<p>Herr von Gorczynski überflog mit demonstrativer Geringschätzung
+die verschlissene Herrlichkeit des Buchnerschen
+Salons. Dann setzte er sich mit einer gewissen Vorsicht,
+als fürchte er, der Samtfauteuil könne unter ihm zusammenbrechen,
+in den grünen Plüsch und sah die vor Erregung
+fiebernde Frau mit durchdringendem Blick an.</p>
+
+<p>»Sie werden sich wohl ungefähr vorstellen können, weswegen
+ich komme, Frau &mdash; Buchner!« begann er scharf.
+»Nicht wahr?«</p>
+
+<p>Frau Doris' Kinnbacken schlotterten. Da hatte man die
+Bescherung! Und ihr Rat war fern ... Und das Kind ...
+Und sie mußte den ersten Ansturm des Schicksals ganz
+allein aushalten, von Gott und aller Welt verlassen ...</p>
+
+<p>»Nu ja, nu nee ... denken ... kann ich mersch am
+Ende ...«</p>
+
+<p>»Na also: Um's kurz zu machen: Ihr Fräulein Tochter
+hat eine Einladung, wie sie in der ganzen Welt Abend
+für Abend an tausend und abertausend Kolleginnen Ihrer
+Tochter ergeht &mdash; die hat sie damit beantwortet, daß sie
+mir und ... meinem jungen Freunde, in dessen Namen
+ich mit unterzeichnet hatte, eine Forderung auf schwere
+Waffen hat überbringen lassen. Darf ich mich zunächst
+erkundigen, in welchen Beziehungen der ... junge Herr,
+der sich zum Beschützer Ihrer Familienehre aufgeworfen
+hat, zu Ihrer Tochter steht?«</p>
+
+<p>»Aber ich bitt' Ihn', Herr Major &mdash; in gar keener Beziehung.
+Er wohnt hier im Haus ... zur Miete ... un
+da is er ... ganz zufäll'g is er dazu gekommen, wie meine
+Tochter een Weinkrampf hat gekriegt, als das Bukett ist
+angekommen ... un der Brief ... un ... un das Geld ...«</p>
+
+<p>Hm ... das Geld ... und ... ein Weinkrampf ...
+verdammt peinliche Vorstellung ... aber was war zu
+machen ... man mußte oben bleiben.</p>
+
+<p>»So ... also in gar keinen Beziehungen ... verehrteste
+Dame, Sie haben keinen dummen Jungen vor
+sich, dem Sie Lederstrumpfgeschichten aufbinden können.
+Ich will also mal annehmen, der junge Herr ist der ...
+Bräutigam Ihrer Tochter ...«</p>
+
+<p>»Ne, ne, wahrhaft'gen Gott nich &mdash; aber gar keene
+Ahnung ... e junger Student, ne, ne, wie kenn' Se
+nur so was denken ... So was hat meine Jucunda
+wahrhaft'gen Gott nich neetig!«</p>
+
+<p>»Hm ... also nicht ... Na dann wollen wir's dahingestellt
+sein lassen, welcher Art das ... Verhältnis zwischen
+den beiden jungen Leuten ist ...«</p>
+
+<p>Jetzt hatte Frau Doris sich denn doch gefunden. Die
+Ehre ihres Hauses, ihres Mädchens &mdash;? Ne, ne, damit
+durfte man denn doch nicht spaßen ...</p>
+
+<p>»Heer'n Se, Herr Major,« rief sie zitternd, doch mit
+Entschiedenheit, »das muß ich mir denn doch ganz ergäbenst
+verbitt'n! Meine Tochter hat kein ... kein Verhältnis
+nich!«</p>
+
+<p>»In dem Sinne, in dem Sie das Wort verstanden zu
+haben scheinen, habe ich es durchaus nicht gebraucht ...
+und verbitte mir meinerseits eine derartige Auslegung
+meiner Worte! Nun aber zu Ihrem Fräulein Tochter!
+Hat sie &mdash; und haben Sie als Mutter &mdash; oder wenn Ihr
+Mann noch unter den Lebenden ist &mdash;«</p>
+
+<p>»Allerdings &mdash; mein Mann ist der Kanzleirat Buchner
+&mdash; ein königlicher Beamter ...« warf Frau Doris ein,
+»Ritter des Albrechtkreuzes zweiter Klasse ...« Sie richtete
+sich ordentlich auf an all diesen ehrenvollen Tatsachen.</p>
+
+<p>»Na also! Haben Sie alle zusammen sich denn eigentlich
+nicht klar gemacht, was ein so ... rabiates Vorgehen
+denn eigentlich für Ihre Tochter ... vielleicht auch für
+Ihren Mann ... bedeutet? Ich nehme an, daß Sie bereits
+in Erfahrung gebracht haben, wer wir eigentlich sind
+&mdash; wer sich hinter dem Namen von Dillingen versteckt &mdash;
+hä? Wissen Sie das, Frau Kanzleirat Buchner?«</p>
+
+<p>»Ja, ja, ich weeß &mdash; ich weeß,« stammelte die geängstigte
+Frau und fuhr mit dem Rücken der fleischigen
+Hand über die feucht gewordene Stirn.</p>
+
+<p>»Na also! Bilden Sie sich denn im Ernste ein, ein
+solcher Herr werde sich wegen ... wegen einer Lappalie
+von einem x-beliebigen jungen Menschen zur Rechenschaft
+ziehen lassen? Nee, verehrte Dame, die Sache kommt
+anders: Es möchte Ihrer Tochter vielleicht doch peinlich
+sein, wenn an ... eine gewisse Stelle ein Bericht über
+das ... eigentümliche Interesse erginge, dessen Ihre
+Tochter sich in &mdash; hm! Studentenkreisen erfreut! Und
+wenn Ihre Tochter sich überlegt, daß ihr Kontrakt doch am
+Ende noch nicht lebenslänglich und unkündbar ist, und daß
+es sich wenig empfiehlt, sich die Gunst eines jungen Fürsten
+zu verscherzen, der einmal der Brotherr eines der größeren
+deutschen Hoftheater sein wird ... dann wird ihr am
+Ende klar werden, daß es ein bißchen übereilt von ihr war,
+eine kleine Unbedachtsamkeit &mdash; ich gebe ja zu, daß es eine
+Unbedachtsamkeit war, Ihre Tochter ohne weiteres in eine
+Linie mit der Mehrzahl ihrer Kolleginnen zu setzen ...
+Aber deshalb gleich nach Blut &mdash; nach Fürstenblut zu
+lechzen &mdash; das scheint mir doch einigermaßen kindisch!«</p>
+
+<p>Völlig zerschmettert hatte Frau Buchner die Suada
+ihres vornehmen Besuchers über sich ergehen lassen. Vor
+ihrem Auge tanzten hundert gräßliche Bilder ... Der
+gnädigste Herr in Meiningen hatte Jucunda seine Gunst
+entzogen &mdash; ihr Vertrag war gekündigt ... Vergebens
+klopfte sie an die Pforten aller deutschen Bühnen ... Als
+»schwieriges Mitglied« wurde sie überall abgelehnt ...
+Das Elend lauerte, der Hunger ...</p>
+
+<p>»Ne ... ne ... das is ja äne schreckliche Geschichte ...«
+stammelte sie.</p>
+
+<p>»Nun, Sie scheinen ja Vernunft annehmen zu wollen.
+Ich empfehle Ihnen also, unverzüglich mit Ihrer Tochter
+Rücksprache zu nehmen: Sie soll ihren ... ihren jugendlichen
+Beschützer veranlassen, seine höchst törichte und kindische
+Herausforderung zurückzuziehen ... Damit dürfte
+die Angelegenheit eine für alle Beteiligten befriedigende
+Erledigung finden. Sind Sie dazu bereit?«</p>
+
+<p>»Aber mit dem greeßten Vergniegen &mdash; 's wird sich
+doch am Ende noch alles lassen ins reine bringen!« ächzte
+aufatmend die geängstigte Frau.</p>
+
+<p>»Na also &mdash;« der Major erhob sich &mdash; »ich rechne
+darauf, daß Sie Ihren mütterlichen Einfluß in diesem
+Sinne geltend machen. Meine Empfehlung an Ihr Fräulein
+Tochter ... und ... böse ... braucht sie uns nicht zu
+sein ... Die ganze Sache war vollkommen harmlos gemeint
+... also ... adieu, Frau Kanzleirätin!«</p>
+
+<p>Frau Buchner knixte ein übers andre Mal, während
+sie den Gast zur Entreetür geleitete.</p>
+
+<p>Auf der Schwelle wandte der Major sich noch einmal
+um.</p>
+
+<p>»Apropos &mdash; soweit ich unterrichtet bin, hat man bei
+Ihnen besonders daran Anstoß genommen, daß meinem
+Briefchen ein ... ein kleines Geschenk ... in barem
+Gelde ... beigelegt war. Vermutlich haben Sie diese ...
+diese kleine Aufmerksamkeit ... in Verwahrung genommen?«</p>
+
+<p>»Allerdings ... das hab' ich ... in meine Wirtschaftskasse
+hab' ich die Scheine eingeschlossen ... Jucunda wollte
+sie zur Post bringen, aber ... sie wollte sich erscht noch
+nach Ihrer ... genaueren ... Adresse erkundigen ...
+Na un von dem Wege, da is se noch nich zurück ...«</p>
+
+<p>»Na, dann kann ich ihr ja den Gang ersparen ...
+Wenn Sie's mir gleich aushändigen wollten ... und vielleicht
+&mdash;« ganz harmlos, nachlässig wurde das hingelegt &mdash;
+»vielleicht händigen Sie mir auch gleich das Briefchen mit
+aus, das die Gemüter so sehr erregt hat &mdash; und damit wäre
+ja dann alles in schönster Ordnung ...«</p>
+
+<p>»Gewiß, gewiß, Herr Major &mdash; das hab' ich ooch ...
+alles kenn' Se kriegen &mdash; ich bin ja froh, wenn ich's
+aus 'm Hause hab ...«</p>
+
+<p class="start-chapD space-above">Teufel auch ... das war mehr, als ich gehofft habe!
+schmunzelte der Major, als er mit seinem Raube die
+halbdunkle Stiege hinunterknarrte.</p>
+
+<p>Unten im Hausflur zog er den Brief hervor, entzündete
+ein Streichholz und ließ das <i lang="la">corpus delicti</i> in Flammen
+auflodern. Die beiden Scheine aber, die er beim Empfang
+nur nachlässig in die Westentasche geschoben, barg er nun
+sorgfältig in seinem Portefeuille. Es waren immerhin
+zweihundert bare Mark ...</p>
+
+<p>Und dann ging er zu Aeckerlein hinüber und bestellte
+eine Flasche Heidsieck.</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>8.</h2>
+
+<p class="start-chapA">Als Hans Thumser inmitten seiner Korpsbrüder das
+Theaterrestaurant verließ und über den sonnenflimmernden
+Augustusplatz, die mittäglich durchhastete
+Grimmaische Straße nach dem Baarmannschen Lokal am
+Markt hinüberspazierte, wo das Korps speiste &mdash; da
+wirbelte ihm der Kopf dermaßen vom Fieber des Erlebens,
+daß die erregten Gespräche der Freunde nur wie
+aus weiter Ferne zu ihm herüberklangen. Und doch
+disputierte er selber eifrigst mit ... Es war ja kein Ende
+zu finden des Ueberlegens und Projektierens &mdash; wie alles
+kommen würde &mdash; ob man sich nicht übereilt, ob Pilgram,
+ob das Korps richtig gehandelt, ob sich nicht eine minder
+schroffe Lösung des Konflikts hätte finden lassen ... Wie
+der Erbprinz sich stellen würde ... und schließlich doch
+auch der Hof in Nassau-Dillingen ... was der für Weisungen
+erteilen würde ... und was all der welterschütternden
+Schicksalsfragen mehr noch waren.</p>
+
+<p>Und dabei immer der heimlich bohrende, süß erregende,
+wonnesam beklemmende Hintergedanke an ...
+heut nachmittag ...</p>
+
+<p>Und so in Wirrnis und Ahnung verrannen die Stunden
+... Jetzt ward alles andre verdrängt durch das
+Mitgefühl mit Valentin Pilgrams Schicksal, des Korpsbruders,
+der so ganz anders geartet war, mit dessen
+Wesen das eigene niemals harmonisch hatte zusammenklingen
+wollen ... und dessen starkgemute Jungmännlichkeit
+dennoch die lebenshungrige Seele fest in ihren
+Bann geschlagen hatte &mdash; längst eh dies opferstolze Einsetzen
+seines ganzen Daseins für ein fremdes Mädchen,
+das Kind einer andern Welt ... eh' diese Tat sein Bild
+in eine fast heroische Sphäre emporgehoben ...</p>
+
+<p>Und dann wieder schwirrten mit scheuem Flügelschlage
+die Gedanken um das eigene Hoffen und
+Bangen ...</p>
+
+<p>Und seltsam: Astas und Jucundas Bilder, sie rannen
+zusammen in der Seele ... Wer war's eigentlich, der
+ihn erwartete heut um fünf? War's nicht jener Dämon,
+der in seines Korpsbruders Leben so verhängnismächtig
+hineingegriffen? Jucunda! Jucunda! Der Name klang
+aus allen Gesprächen, die in der Runde hin und wider
+flogen ... Daß es überhaupt eine Asta Thöny gab, das
+wußte ja nur einer von seinen Freunden, und dieser eine
+&mdash; der war fern ... war ausgeschieden aus dem Bunde,
+dem sein ganzes Herz gehörte, für dessen Farben er in
+siebenundzwanzig Waffengängen sein junges Herzblut
+vergossen ... ausgeschieden um jener andern willen ...
+und selbst dieser eine hatte sie doch nur auf der Bühne
+gesehen &mdash; ahnte nicht, daß sie mit Hans Thumser unter
+einem Dache wohnte ... konnte nicht ahnen, daß sie heimlich
+nächtens in ihre Kissen weinen und dann plötzlich
+lachen konnte, so girrend, so atemversetzend.</p>
+
+<p>Nach dem Mittagessen blieb das Korps beim Kaffee
+noch lange zusammen. Die Füchse wurden fortgeschickt,
+und immer und immer wieder in heftigen Disputen
+drehten und wendeten die Korpsburschen das Ereignis
+des Tages. Hans aber zog von Zeit zu Zeit heimlich die
+Uhr und zählte, wie eine Viertelstunde um die andere
+verrann von jenen, die ihn noch von dem größten Erlebnis
+seines jungen Daseins trennten ... Und einmal
+zog er heimlich auch sein Portemonnaie und stellte fest,
+daß er heute, am einunddreißigsten Oktober, noch fünfundachtzig
+Pfennige sein eigen nannte ...</p>
+
+<p>Teufel auch! Wenn man die Farben eines Korps
+trägt, kann man unmöglich ohne ein bescheidenes
+Blümchen in der Hand bei einer Dame zum Tee antreten
+... Und Hans Thumser pumpte sich von Volkner,
+der immer Geld hatte, eine Mark ...</p>
+
+<p>Und endlich war's dreiviertel fünf ... Und wie ein
+Träumender strich Hans Thumser die Petersstraße hinunter,
+einen Busch rosa Dahlien, in Seidenpapier gewickelt,
+in der Hand ... Zu wem ging's? Zu Asta?
+Zu Jucunda? Er wußte es nicht ... es ging ...
+zu <em class="gesperrt">ihr</em> ...</p>
+
+<p>Und so war's fast eine Selbstverständlichkeit, daß er sie
+nun <em class="gesperrt">beide</em> fand ...</p>
+
+<p>Die Stube schwamm von Zigarettenrauch ... Und
+auf dem Sofa, eng aneinandergelehnt, zwei Mädchen ...
+die, die er zu suchen kam &mdash; und die andere ...</p>
+
+<p>»Ach Gott ...« lachte Asta in komischem Entsetzen auf,
+»Herr ... na wie heißen Sie noch? Herr ...«</p>
+
+<p>»Thumser,« stotterte Hans und blieb ganz verdonnert
+an der Tür stehen.</p>
+
+<p>»Richtig, Herr Thumser &mdash; mein Zimmernachbar &mdash;
+nicht wahr, Sie sind's doch? Mein Gott, Sie hatt' ich
+wahrhaftig total vergessen &mdash;«</p>
+
+<p>»O bitte, dann will ich nicht stören,« sagte Hans und
+griff zur Tür.</p>
+
+<p>Ein Kübel Eiswasser, einem glutgedörrten Saharawanderer
+jählings über den Nacken gegossen ...</p>
+
+<p>»Aber nein! Stören! Weglaufen! Gibt's nicht!«
+Und das weiche Figürchen in der nicht ganz tadellos
+frischen Batist-Matinee sprang auf, stand vor dem
+schlanken Studenten, eine Hand, zart und warm wie ein
+sonnendurchglühtes Rosenblatt, legte sich auf die seine und
+zog ihn ins Zimmer.</p>
+
+<p>»Nicht böse sein! Meine Kollegin ist mich besuchen
+gekommen, und da haben wir uns verschwatzt ... Ist's
+denn schon fünf Uhr? Himmel &mdash; und wie's hier ausschaut!
+Frau Wehe! Frau Wehe! Schnell kommen Sie
+mal her und räumen S' ab! Gestattest Du, Jucunda?
+Mein Zimmernachbar, Herr Studiosus Dummler &mdash;«</p>
+
+<p>»Thumser,« verbesserte Hans etwas pikiert.</p>
+
+<p>»Pardon &mdash; Thumser &mdash; meine Kollegin Buchner &mdash;
+die große Buchner, wissen S'!«</p>
+
+<p>Jucunda grüßte stumm und königlich. Sie hatte die
+grüne Mütze, die drei Farben um die Brust des jungen
+Mannes wiedererkannt ...</p>
+
+<p>»Ich weiß ...« sagte Hans. »Ich war gestern abend
+in der 'Jungfrau' ... und ich bin auch unter denen gewesen,
+die &mdash;«</p>
+
+<p>»&mdash; ihr die Pferde ausgespannt haben &mdash; natürlich!
+Das nächste Mal, Sie Schlingel, spannen Sie mir die
+Pferde aus &mdash; verstanden? Sonst ist's aus mit der guten
+Nachbarschaft!«</p>
+
+<p>»Wird gemacht!« sagte Hans, der sich wiederfand.
+»Inzwischen darf ich wohl als bescheidene Entschädigung
+diese Blümchen ...«</p>
+
+<p>»Ach &mdash; das ist famos! Sehen Sie, Jucunderl, es
+wachsen heuer doch nicht alle Blumen bloß für Dich ...«
+Und sie drückte den Studenten in einen der verschlissenen,
+fettigen Damastfauteuils, welche Mutter Achs beste Bude
+verherrlichten.</p>
+
+<p>Einen raschen Blick warf Hans Thumser in der Bude
+umher. Wild sah's aus ... auf dem Tisch noch die Reste
+des bescheidenen Mittagsmahls, Aepfelschalen und die
+zerknautschten Mundstücke abgerauchter Zigaretten trieben
+sich auf dem fleckigen Tischtuch herum ... und drüben
+auf dem Bette aufgestapelte Mullröcke und Spitzenhöschen,
+auf dem Schreibtisch ein zusammengerolltes
+Korsett, dazwischen unsaubere Hefte mit ausgeschriebenen
+Rollen und zerflederte Reclambändchen ...</p>
+
+<p>Asta war diesem Blick gefolgt und sah den Ausdruck
+von Mißbehagen, der ununterdrückbar das schmissebedeckte
+tadellos rasierte Gesicht des korrekten und gepflegten
+Jünglings überzog.</p>
+
+<p>»Bös schaut's aus da drin, gelt? Aber warten S'
+nur, ich schaff' schon eine Ordnung! Faß an, Jucunderl,
+Du bist ja schuld, daß ich so einen feschen, jungen Herrn
+in so einer Schlamperei muß empfangen! Und Sie,
+Frau Wehe« &mdash; die noch immer hübsche, kugelrunde
+Wittib stand mit nachmittagschlafgeröteten Augen in der
+Tür &mdash; »hinaus mit dem Abfall da! Und ein' Tee kochen
+S' uns, und Kuchen will ich seh'n und Schlagsahn' und
+was sich sonst gehört! Da haben S' ein Geld!« Und wie
+ein Irrlicht fegte das dunkellockige Mädchen in der Stube
+umher, hob den Bettbezug aus gewebter, leidlich defekter
+Spitze, das Ueberbett in die Höhe, stopfte die herumliegenden
+intimen Kleidungsstücke drunter und deckte mit
+einem Spitzbubenlächeln wieder zu, griff in die Nachttischschublade
+und warf ein paar Markstücke auf den Tisch,
+daß zwei, drei in die Stube kollerten und Hans Thumser
+sich bücken mußte, um sie wieder aufzulesen; griff dazwischen
+in die Zigarettenschachtel, schob ihren beiden
+Besuchern, sich selbst und schließlich auch der verlegen
+grinsenden Wittib eine Zigarette zwischen die Lippen:</p>
+
+<p>»Da, Herr Dummser &mdash; haben S' Feuer?«</p>
+
+<p>Und da flimmerten auch die feuchten Lippen, die
+dunklen, flackernden Augen dicht vor Hansens Gesicht,
+loderten ihn an, während sie mit ihm zugleich am nämlichen
+Zündholz ihre Zigarette anbrannte ...</p>
+
+<p>Inzwischen saß Jucunda stumm und königlich auf dem
+Sofa, ohne eine Hand zu rühren, und ließ ihre runden
+blauen Augen von einem zum andern leuchten. Und
+auch Hans Thumsers Blicke gingen hin und her, von dem
+Schalk zu der jungen Königin, von der jungen Königin
+zu dem rastlosen Schelm ...</p>
+
+<p>Und endlich gab's Ruhe und so etwas wie Ordnung,
+und mit einem tiefen Aufseufzen warf Asta Thöny sich
+in das Sofa, kuschelte sich an Jucundas kräftige Schulter
+... und nun sahen zwei Augenpaare, das blaue, das
+schwarze, den braunäugigen Studenten an ...</p>
+
+<p>»So, Herr Dummser, nu erzählen S' uns was!«</p>
+
+<p>Hans Thumser war des Umgangs mit weiblichen
+Wesen wenig gewohnt. Seine Schwestern waren um
+vier und fünf Jahre jünger als er, die zählten, samt ihrer
+Freundinnenschar, noch nicht mit, waren Gören, oder wie
+man daheim sagte, Blagen ... unfähig, die erhabene
+Größe eines Studenten, eines Korpsstudenten, eines
+Fuchsmajors richtig einzuschätzen. Und das Korps? Es
+lebte außerhalb der Leipziger Gesellschaft, war völlig
+durch Mensur und Kneipe absorbiert und kam höchstens
+auf dunklen und verschwiegenen Pfaden einmal mit verachteten
+Parias der Weiblichkeit in Berührung ...</p>
+
+<p>Aber ... er war ein werdender Poet ... und der
+Zauber der Situation löste ihm die Zunge, gab ihm
+Worte, wie sie gesellschaftliche Routine nicht kennt ...</p>
+
+<p>»Erzählen soll ich Ihnen ... meine Damen? Ach ...
+ich hab' nichts erlebt, was des Erzählens wert wär' in
+solch einem Augenblick ... aber ... das darf ich ja wohl
+sagen, nicht wahr? daß ich sehr glücklich bin ... Ich
+denke an gestern abend ... ich habe Sie beide gesehen und
+bewundert und beneidet um das Glück Ihres Berufs ...
+den Menschen das Schöne zu offenbaren ... und nun sitz'
+ich hier ... Ihnen gegenüber ... seien Sie mir nicht
+böse, wenn das mir zu Kopf steigt und ... mich dumm
+und stumm macht ... Sie nennen mich noch immer
+Dummser, gnädiges Fräulein ... und das stimmt, ich
+bin auch ein dummer Bub, das fühl' ich, jetzt, wo ich mit
+Ihnen zusammensitzen darf ... Nein, ich kann Ihnen nichts
+erzählen ... ersparen Sie es mir, mich mit Konversationmachen
+abzuquälen ... erlauben Sie mir nur ... da
+zu sein ... und Sie anzuschauen ... und zu fühlen, ja
+bis ins Tiefste zu fühlen, wie schön das ist ... was für
+ein Glück das ist!«</p>
+
+<p>»Aber warum machen Sie sich selber so schlecht?« sagte
+Jucunda und sah ihn groß an &mdash; »Sie sprechen gar nicht
+übel ... im Gegenteil &mdash; ich meine, ich hätte noch niemals
+einen Menschen so sprechen gehört ...«</p>
+
+<p>»Du &mdash;?« sagte Asta, »daß Du mir dem Jungen nicht
+zuviel Komplimente machst! Das ist <em class="gesperrt">meiner</em>, verstehst
+Du mich? Aber Du mußt immer alles für Dich haben ...
+die Blumen &mdash; die Kränze &mdash; die ausgespannten Pferde &mdash;
+die Verehrer, alles muß sie allein haben! Und so was
+redet von Freundschaft und Kollegialität! Schämen
+sollten S' Ihnen, mein Fräulein!«</p>
+
+<p>Hans wurde glühendrot. »Ach, meine Damen, machen
+Sie sich nur immer über mich lustig ... ich weiß ganz
+genau, wie wenig ich Ihnen sein kann. Nur das eine
+muß ich Ihnen sagen: Sie ahnen gar nicht, was dieser
+Tag für mich bedeutet ... Sie können sich wohl nicht
+vorstellen, wie barbarisch und rauh dies Leben ist,
+das wir jungen Dächse so führen auf deutschen Hochschulen
+... Und seit gestern ist's auf einmal bunt und licht
+und ... groß und ... schön um mich her ... seit ich Sie
+beide kenne ...«</p>
+
+<p>»Gott, wie süß er ist &mdash; gelt, Jucunda?« sagte Asta
+und streichelte dem Studenten mit einer raschen, zärtlichen
+Bewegung ganz leise und flüchtig die glühende, narbenzerrissene
+Wange. »Nur mehr so Schönes, nur mehr!
+So was kann man gar nicht genug hören!«</p>
+
+<p>»Ach &mdash; Sie scherzen wieder, Gnädigste &mdash;« sagte
+Hans. »Sie sind weit schönere Worte gewohnt ... Sie
+verkehren am Hof &mdash; inmitten von Geist und Grazie ...
+die Dichter, deren Werke Sie verkörpern, huldigen
+Ihnen ...«</p>
+
+<p>»Der hat Ahnung, gelt?« lachte Asta halb verschmitzt
+halb schmerzlich zu ihrer Kollegin hinauf, in deren Arm
+sie sich drückte.</p>
+
+<p>»Nein, Herr Thumser,« sprach Jucunda langsam, »Sie
+haben doch wohl eine etwas &mdash; na sagen wir mal zu
+ideale Vorstellung von unserm Leben ... Glauben Sie
+mir nur, es gibt nicht viel Männer, die so zu reden wissen,
+daß es einem wohltut ...«</p>
+
+<p>»Gewiß, ich glaub's &mdash; so verwöhnt, so anspruchsvoll
+wie Sie sein müssen ... denn so jung wie Sie sind, Sie
+sind berühmt, alles liegt Ihnen zu Füßen, Sie kommen
+wie das Schicksal ... wehe dem, der Ihnen verfällt ...«</p>
+
+<p>Ein Schatten war bei diesen Worten über die
+enthusiastischen Züge geflogen, die flammenden Augen
+hatten sich verdunkelt.</p>
+
+<p>Jucundas Stirn hatte sich langsam zusammengezogen.</p>
+
+<p>»Wie das Schicksal?« fragte sie, »wie meinen Sie das?«</p>
+
+<p>»O ... ich dachte an ... eine gewisse Geschichte ...
+eine sonderbare, aufregende Geschichte ... von der Sie
+doch wohl auch wissen müssen ...«</p>
+
+<p>»Sie ... meinen ... die Sache ... mit Herrn Pilgram?
+Von der wissen Sie also auch schon?«</p>
+
+<p>»Ich weiß ... selbstverständlich weiß ich ... wir sind
+ja doch Korpsbrüder ...«</p>
+
+<p>»Eine ... Sache?« fragte Asta ganz erstaunt. »Was
+hat's gegeben? Hast mir ja doch gar nichts davon erzählt,
+daß es was gegeben hat? Heraus mit der Geschichte!«</p>
+
+<p>»Ich möchte ... eigentlich überhaupt nicht davon
+sprechen ...« meinte Jucunda.</p>
+
+<p>»Und ich ... ich halte mich ebenfalls nicht für berechtigt
+...« setzte Hans befangen hinzu.</p>
+
+<p>»Schöne Sachen sind mir das!« zürnte Asta. »Ich
+bring' Euch zwei zusammen, und schon habt Ihr Geheimnisse
+miteinander, und ich werd' ausgesperrt und hab 's
+Zuschau'n! Na wartet &mdash; jetzt kommt der Tee mit dem
+Kuchen, hernach setz' ich Euch vor die Tür und ess' alles
+alleinig!«</p>
+
+<p>Jucunda hatte einen Moment sinnend den Rauchwölkchen
+ihrer Zigarette nachgestarrt. Es war dämmrig
+im Zimmer geworden. Frau Wehe kam mit dem Tee,
+dem Gebäck, zündete die Petroleum-Hängelampe über dem
+Tische an, und hell gleißten nun die drei jungen Gesichter
+auf dem Hintergrunde der abgenutzten Stube, die rasch
+in völliges Dunkel versank.</p>
+
+<p>Als die Wirtin gegangen, sagte Jucunda langsam:
+»Ich verstehe, daß Sie sich über die ... Angelegenheit ...
+die bewußte ... nicht gern aussprechen. Aber Sie werden
+begreifen: ich bin ziemlich gespannt. Sie wissen schon
+drum ... also die Sache kommt doch, scheint's, wirklich an
+die große Glocke. Ich bin ja schließlich doch ein bißchen
+beteiligt ... Wollen Sie mir nicht sagen, was inzwischen
+eigentlich passiert ist?«</p>
+
+<p>»Hm ... wenn unsre ... gütige Gastgeberin gestattet,
+daß wir uns in ihrer Gegenwart über ... eine Sache
+unterhalten, die sie nicht ... in die wir sie nicht einweihen
+dürfen?«
+»Na macht schon, macht schon ...« maulte Asta, »Ihr
+brennt ja darauf, Eure Geheimnisse auszutauschen ...
+ich ess' Kuchen.« Und wütend bissen ihre blinkenden Zähne
+in einen braunlächelnden Mohrenkopf.</p>
+
+<p>»Also kurz ... Er ... ist aus dem Korps ausgetreten
+... und hat die ... die bewußten beiden Herren auf Säbel
+ohne ohne gefordert ... Genügt Ihnen diese Andeutung?«
+fragte Hans.</p>
+
+<p>»Hm ... und mehr ... wissen Sie also noch nicht?«</p>
+
+<p>»Noch nicht.«</p>
+
+<p>»Immerhin ... also der Skandal ist fertig. Schöne
+Bescherung ...«</p>
+
+<p>»Hol Euch der Satan, Kinder, Ihr macht eins aber
+wirklich neugierig wie eine Ziege!« sagte Asta und ließ die
+kuchenstopfenden Finger sinken. »Säbelforderung &mdash; Skandal
+... und dabei habt Ihr Euch vor einer halben Stunde
+erst kennen gelernt vor meinen sehenden Augen ...«</p>
+
+<p>»Gott, warum soll man's ihr schließlich nicht erzählen?«
+meinte Jucunda. »Morgen weiß es ganz Leipzig ...«</p>
+
+<p>»Hast einmal wieder was, womit Du Dich kannst
+int'ressant machen, Jucunderl? Gott, das Mädel hat
+einen Dusel! Daß es um Dich geht, soviel hab' ich schon
+heraus ... Also es werden zwei sich die Köpf' entzweischlagen
+Deinetwegen ... hernach schauen die Leut'
+unsereins überhaupt nicht mehr an ... und so ist's in
+allem! Schon wie's heißt &mdash; Jucunda! Wie kommt
+bloß ein Vater auf die Idee, so ein Wurm 'Jucunda' zu
+taufen? Als ob er damals schon geahnt hätt', daß das
+Kind einmal wird unters Theater gehen! Sag' doch, Mädel
+&mdash; wo kommst an so einen Namen, so ein' ausgefall'nen?«</p>
+
+<p>»Ach &mdash; das ist einfach genug ... da war eine alte
+Tante, die eine Beamtenpension zu verzehren hatte und
+so schöne uralte Möbel und Bilder gehabt hat aus der
+Goethezeit ... um die sind alle Verwandte herum gewesen
+erbschleichen ... aber meine Eltern haben den
+Vogel abgeschossen und mich nach ihr getauft ... das hat
+sie so erschüttert, daß sie mir den ganzen Krempel vermacht
+hat ...«</p>
+
+<p>»Ach &mdash; und nun hast Du das ganze schöne Zeugs?«</p>
+
+<p>»I Gott bewahre &mdash; verkauft hat's mein Vater und
+für mich in einem Sparkassenbuch angelegt ... und davon
+sind mein Studium und meine modernen Kostüme bezahlt
+worden &mdash; paar Groschen werden wohl auch noch da sein,
+denk' ich ...«</p>
+
+<p>»Ja schaust, was Du für ein Glückskind gewesen
+bist ...« Astas Augen irrten in die Ferne, ein ganz
+fremder Ausdruck von Bitterkeit und Ekel umschattete
+das pfirsichweiche Oval. &mdash; »So eine Tante wenn ich
+gehabt hätt', meinetwegen hätten s' mich Eulalia mögen
+taufen! Ich hab' das alles allein müssen schaffen, so gut
+oder &mdash; so hundsfött'sch wie's hat gehen mögen ... Dabei
+wird man ein armes, gerissenes, mit allen Hunden gehetztes
+Wildkatzerl allenfalls ... und wenn man ein
+bisserl Talent hat, hernach wurschtelt sich eins am End'
+auch noch rechtzeitig in die Höh' ... aber eine Priesterin,
+vor der die Menschen sich platt auf den Bauch schmeißen,
+eine Jungfrau von Orleans wird man nicht auf die Art!«</p>
+
+<p>Mit herablassender Zärtlichkeit streichelte Jucunda die
+zierliche Kollegin. »Ich sollte meinen, Asta, Du könntest
+noch ganz zufrieden sein mit Dir &mdash; nicht wahr, Herr ...
+Gott, dieser lächerliche Name &mdash; schon wieder hab' ich ihn
+verschwitzt &mdash;«</p>
+
+<p>»Herr Dummerle!« half Asta ein, und um die schmerzlich
+verzogenen Lippen huschte schon wieder der Schalk.</p>
+
+<p>Hans Thumsers Blicke wanderten rastlos von einer
+zur andern. Welches Glück, daß er den goldenen Apfel
+des Paris nicht zu vergeben hatte!</p>
+
+<p>Und Valentin Pilgram? Und die Affäre? Schon längst
+wieder versunken ... kaum die Oberfläche des Gesprächs
+hatte sie gekräuselt, die Geschichte von dem wackren Gesellen,
+der um dieses achtzehnjährigen Weibes willen sein
+Blut, sein Schicksal aufs Spiel gesetzt hatte &mdash; als Dank
+für ein paar freundliche Worte, die sie ihm geschenkt ...</p>
+
+<p>Dieser Gedanke tauchte dann und wann flüchtig auf
+in Hans Thumsers Denken &mdash; aber die Gegenwart, die
+nie erlebte, der beiden jungen, blutjungen und doch schon
+aller Machtmittel ihres Geschlechtes kundigen Geschöpfe
+verdrängte das Bild des Korpsbruders, das heut morgen
+in so lichtem Heroenglanze gestrahlt hatte.</p>
+
+<p>»Sagen Sie, Herr Thumser, was studieren Sie eigentlich?«
+fragte Jucunda.</p>
+
+<p>»Gott, was studier' ich? Die Geheimnisse des S.&#x202f;C.
+Paukkomments &mdash; die Kunst, eine Tiefquart unter der
+steilsten Auslage hindurch in die Nasenspitze des Gegners
+zu dirigieren ...«</p>
+
+<p>»Das glaub' ich nicht ... so sehen Sie nicht aus, als
+ob das alles wäre, was Sie treiben ...«</p>
+
+<p>»Na ... meine kümmerlichen Versuche, mich mit der
+Juristerei anzufreunden, werden Sie mir doch wohl kaum
+am Gesicht ansehen können?«</p>
+
+<p>»Das nun schon gar nicht! Nein, es steckt noch etwas
+andres hinter Ihnen &mdash;«</p>
+
+<p>»Soll ich's verraten?« fiel Asta ein &mdash; »ich weiß es
+nämlich ...«</p>
+
+<p>Und mit ihrem Spitzbubenlächeln, das Köpfchen tief
+auf die weiche Schulterlinie geneigt, fing sie an zu
+rezitieren:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Ich bin ein junger Korpsstudent,<br /></span>
+<span class="i0">Die Schuhe Lack, der Rock patent,<br /></span>
+<span class="i0">Korrekt und schick an mir ist alles &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Im Portemonnaie nur &mdash;«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>»Halt! Gnade!« rief Hans und legte seine Hand beschwörend
+auf Astas runden Unterarm &mdash; von dessen
+Wärme süße Schauer in seine Fingerspitzen, seine Arme,
+sein Blut hinüberströmten.</p>
+
+<p>»Ach &mdash; sieh da &mdash; Verse &mdash; und von Ihnen?« fragte
+Jucunda. »Also ein junger Schiller &mdash; oder Goethe?
+Sieh da!«</p>
+
+<p>»Ach Gott &mdash; diese elenden Knittelreime &mdash; wenn man
+nichts Besseres könnte ...«</p>
+
+<p>»Oh &mdash; das ist aber nicht hübsch von Ihnen, daß Sie
+sich meinetwegen so wenig angestrengt haben &mdash;« sagte
+Asta. »Na, was können Sie denn Besseres? Heraus damit!«</p>
+
+<p>»Jawohl, Herr Poet, eine Probe Ihrer Kunst!«</p>
+
+<p>Hans Thumser ließ sich nicht lange bitten. Er sann
+einen Augenblick nach. Dann richtete er sich unwillkürlich
+etwas auf, ein feierlicher, strahlender Ausdruck kam in
+seine Züge; und in tiefinnerer Bewegung sprach er:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Abgründe klaffen rechts und links<br /></span>
+<span class="i0">Von meinem schwindelschmalen Pfade,<br /></span>
+<span class="i0">Und hinter mir schleicht stumm die Sphinx &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Doch über mir geigt Engelsgnade.<br /></span>
+<span class="i0">Ich aber will nachtwandlerkühn<br /></span>
+<span class="i0">Den Gratgang bis ans Ende wagen,<br /></span>
+<span class="i0">Und hell durchsonnt von Morgenglühn<br /></span>
+<span class="i0">Der Harfe gold'ne Saiten schlagen!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>»Ah ... bravo ... das ist wirklich ein Gedicht ...«
+sagte Jucunda. »Sieh da &mdash; wer hätte das hinter diesem
+wandelnden Modejournal gesucht ...«</p>
+
+<p>»Oh ... seh' ich aus wie ein wandelndes Modejournal?«</p>
+
+<p>»Na, so seht Ihr Korpsstudenten doch alle aus ...«</p>
+
+<p>»Gott ja &mdash; es braucht ja nicht jeder Poet auszusehen
+wie die Jünglinge aus dem Café Größenwahn &mdash; von
+denen mir ein Berliner Korpsbruder neulich erzählt hat.«</p>
+
+<p>»Nein, da haben Sie recht,« sagte Jucunda. »Die Sorte
+kenn' ich auch &mdash; aus der Zeit unseres Gastspiels am
+Viktoriatheater ... ich denke mir, der junge Goethe ist
+hier in Leipzig auch so etwa wie ein wandelndes Modejournal
+herumgelaufen, während seine Kollegen lange fettige
+Haare und schmutzige Hemdkragen trugen ... Sieh da &mdash;
+also so schaut ein junger Dichter aus ... alte kenn' ich ja
+schon diesen oder jenen, aber das waren alles sehr verschlissene,
+sehr diplomatische, sehr nüchterne und ... ernüchternde
+Herren ... Sie sind nicht nüchtern, Herr Thumser,
+Sie laufen wie in einem ewigen Rausch herum &mdash; wenn
+Sie auch noch so schneiderelegant aufgemacht sind ...«</p>
+
+<p>»Ja, das ist wahr!« sagte Hans lebhaft. »Ewiger
+Rausch! Sie haben recht! Ich bin immer wie betrunken
+von ... von all dem Herrlichen um mich her &mdash; von
+all dem Neuen und Gewaltigen, das jede Stunde bringt!
+Ist nicht die Welt ein einziges, ungeheures Wunder? Und
+so ein armes Menschenherz viel zu klein und eng, um das
+alles zu fassen? Und wenn man's nun so erleben darf,
+die Schönheit, die Kunst, die Poesie leibhaftig vor sich zu
+sehen ... wie in Ihnen, Jucunda Buchner ...«</p>
+
+<p>Die braunen Augen hingen an den blauen, die blauen
+an den braunen &mdash; mit hochaufgerichteten Leibern saßen
+die jungen Menschen einander gegenüber, und Ströme
+des Lebens rauschten von einem zum andern.</p>
+
+<p>Jucunda fühlte sich wachsen in dieser naiven Bewunderung
+eines Menschen, in dem ihr weiblicher Instinkt
+die gärenden, schäumenden Kräfte witterte ... und Hans
+Thumsers gläubiges Märchenherz erblickte in dem weißen,
+vom Schöpfer in einer Künstlerlaune so edel ausgeformten
+Gesicht die fleischgewordene Schönheit, herabgestiegen vom
+Himmel, um ihm, dem Werdenden, die Fülle zu offenbaren ...</p>
+
+<p>Auf einmal fuhren beide herum: ein Ton, ein erstickter,
+war in ihre Versunkenheit gedrungen &mdash; ein Ton, den
+Hans schon einmal vernommen zu haben meinte: der Ton
+eines bittren, unbezwinglichen Weinens ...</p>
+
+<p>Asta Thöny hatte den Kopf in die Finger gedrückt,
+die Hände auf die Knie gepreßt ... ganz in sich zusammengekauert
+saß sie da, die zierlichen Schultern zuckten, aus
+dem Nest der schwarzen Flechten hatten sich ein paar
+glänzende Locken gelöst und rollten über den weißen
+Nacken ...</p>
+
+<p>»Aber Kind &mdash; was ist Dir nur?« fragte Jucunda und
+legte den Arm um die Hüften der Kollegin.</p>
+
+<p>Aber die schüttelte die Umschlingung ab, sprang auf,
+eilte zum Fenster hinüber und lehnte den hochgehobenen
+Arm, die tiefgesenkte Stirn an die Scheiben ...</p>
+
+<p>»Aber ... was ist Ihnen denn nur, gnädiges Fräulein?«
+stammelte Hans Thumser.</p>
+
+<p>»Ach, geht mir doch &mdash; laßt mich doch in Ruh, Ihr zwei!
+Poussiert doch miteinander, so viel Ihr Lust habt &mdash; aber
+nicht in meiner Gegenwart!«</p>
+
+<p>»Aber Kind!« sagte Jucunda, stand auf, sah Hans an
+mit einem Blick, der für die Kollegin um wohlwollende
+Nachsicht zu bitten schien, wie für ein törichtes, verzogenes
+Kind, und trat zu ihr ans Fenster.</p>
+
+<p>»Ach, gehen Sie doch, Buchner &mdash; lassen Sie mich!
+Es ist ja immer dieselbe Geschichte! Alles müssen Sie
+für sich haben, alles belegen Sie mit Beschlag &mdash; alles
+muß zu Ihren Füßen liegen, keiner andern gönnen Sie
+was! Den Jungen da, den hab' ich nun entdeckt &mdash; und
+kaum hab' ich ihn eingeladen, schon sind Sie da, als wenn
+Sie's gewittert hätten &mdash; und gleich geht's los, das alte
+Spiel &mdash; nur Jucunda Buchner redet, man sieht nur sie,
+man hört nur sie, man vergafft sich nur in sie, nichts
+existiert auf Gottes weiter Welt, nichts und gar nichts,
+als einzig und immer wieder Jucunda Buchner!«</p>
+
+<p>»Herr Thumser, ich bitte Sie um Ihr unparteiisches
+Zeugnis!« sagte Jucunda ruhig, ganz beherrschte Weltdame
+&mdash; »ist das nun gerecht, wie diese Dame mich behandelt?
+Habe ich auch nur den geringsten Versuch gemacht,
+Sie &mdash; wie hat sie gesagt? &mdash; mit Beschlag zu belegen?
+Haben wir nicht vollkommen harmlos geplaudert alle
+drei? Und auf einmal aus heitrem Himmel diese Explosion?
+Habe ich das verdient, Herr Thumser? Bitte,
+sprechen Sie.«</p>
+
+<p>In tödlichster Verlegenheit hatte Hans Thumser diesen
+Ausbruch, dieses Zwiegespräch der Kolleginnen über sich
+ergehen lassen. Er suchte vergebens nach der rechten
+Antwort auf Jucundas Frage.</p>
+
+<p>»Gnädiges Fräulein ...« stammelte er zuletzt, »verzeihen
+Sie, wenn ich auf Ihre Frage nicht antworte. Wir
+sind beide Fräulein Thönys Gäste ... Ich bin untröstlich,
+daß ich Ihr Mißfallen erregt habe, Fräulein Thöny ...
+ich darf Ihnen zwar versichern, daß es keineswegs meine
+Absicht war, Sie irgendwie zu ... wie soll ich sagen?
+... zu vernachlässigen ... Wenn ich dennoch ... es
+an der schuldigen Rücksicht habe fehlen lassen &mdash; so bitte
+ich tausendmal um Entschuldigung ...«</p>
+
+<p>Asta Thöny antwortete nicht. Sie stand noch immer
+am Fenster ... der Schein der Straßenlaternen von
+drunten umrandete ihre dunkle Silhouette mit einem
+silbernen Streif &mdash; den weißen Batist, den zarten Flaum
+des Armes, die Flimmerlöckchen des schwarzen Haars.
+Wie das Kabinettstück eines der holländischen Kleinmeister
+sah das aus.</p>
+
+<p>Jucunda und Hans blickten einander an &mdash; der Jüngling
+in ratloser Befangenheit, das Mädchen gelangweilt,
+mit verdrossenem Achselzucken ...</p>
+
+<p>In diesem Augenblick erklang draußen eine heftige,
+erregte Stimme, die Jucunda auffahren machte:</p>
+
+<p>»Na, Gott sei Dank und Lob &mdash; endlich also! G'sucht
+hab' ich das Mädchen durch die halbe Stadt ... nee so
+was, nee so was!«</p>
+
+<p>Die Tür sprang auf, und eine massive Frauengestalt
+füllte den Rahmen &mdash; Frau Wehe verschwand fast ganz
+hinter dem roten, schwitzenden Gesicht, das von den Samtschleifen,
+den Seidenbändern eines schwarzen Kapothutes
+eingesäumt war &mdash; hinter den mächtigen Schultern unterm
+perlbesetzten Samtcape ...</p>
+
+<p>»Jucunda &mdash; endlich ... Wenn Du wüßtest, was ich
+hab' müssen aussteh'n diesen Nachmittag Dir zuliebe ...
+Daß mich der Schlag nicht hat gerührt, das is mir ä
+blaues Wunder ...«</p>
+
+<p>»Mutter &mdash; Du?« sagte Jucunda langsam und ungnädig.
+Sie empfand dunkel, daß diese Erscheinung in
+schroffem Widerspruch stand zu dem mystischen Glanz, der,
+sie wußte es, von ihr ausging, wenn sie wollte, und wenn
+der Glückliche, der in diesem Glanze stand, die nötige
+Naivität besaß.</p>
+
+<p>»Was ist denn passiert? Darf ich zunächst bekannt
+machen? Meine Kollegin Fräulein Asta Thöny &mdash; Herr
+Studiosus &mdash; na wie war's doch noch? Dummser, nicht
+wahr?«</p>
+
+<p>»Thumser,« sagte Hans.</p>
+
+<p>»&mdash; meine Mutter, Frau Rat Buchner. Also was
+steht Dir zu Diensten, Mama?«</p>
+
+<p>»Nu nee &mdash; ich weeß nich recht, ich mecht wohl mal e
+Wertchen mir Dir alleene sprech'n, Jucunda ... Entschuldigen
+Se nur, meine Herrschaft'n &mdash; aber kannste nich
+e bißchen mit mir uff de Straße 'nunter kommen, Kind?«</p>
+
+<p>»O bitte, gnädige Frau, wenn Sie mit Ihrem Fräulein
+Tochter etwas unter vier Augen zu besprechen haben« &mdash;
+fiel Hans Thumser ein &mdash; »meine Stube ist nebenan, die
+steht Ihnen mit Vergnügen zur Verfügung &mdash; darf ich
+Mutter Ach &mdash; Frau Wehe, wollt' ich sagen, darf ich ihr
+Auftrag geben, daß sie Licht macht?«</p>
+
+<p>Jucunda dankte mit einem Lächeln, kühl und hoheitsvoll,
+wie nie zuvor, als gälte es, den etwas befremdlichen
+Eindruck, den das Erscheinen ihrer Mutter gemacht, durch
+doppelt königliches Wesen wettzumachen. Und Hans und
+Asta blieben allein zurück.</p>
+
+<p>Stumm war's im Zimmer, während jenseits der Tür,
+jenseits der beiden Kleiderschränke, die sie hüben und
+drüben verbarrikadierten, ein erregtes Flüstern anhob.
+In weißen Schwaden lag der Zigarettenqualm über dem
+Tisch, wob um die Hängelampe, ward von Wärmestrudeln
+in ihren Schirm hineingesogen und stieg um ihren Zylinder
+steil wie aus einem Schlot empor.</p>
+
+<p>Ein weiches, brüderliches Gefühl zog Hans zu dem
+Mädchen hin, das noch immer schweigend am Fenster
+stand, vom Laternenlicht umsilbert, von stoßweis zuckendem
+Schluchzen den schlanken Leib geschüttelt.</p>
+
+<p>»Fräulein Asta!« sagte er und trat ein paar Schritte
+auf sie zu; das Herz schlug ihm bis in den Hals. Nun
+war es da: er war zum erstenmal in seinem Leben mit
+einem Mädchen allein.</p>
+
+<p>Sie antwortete nicht, nur heftiger flossen ihre Tränen
+beim Klang der gedämpften Stimme, die so erregt, so
+gütig ihren Namen sprach.</p>
+
+<p>»Fräulein Asta,« sagte Hans noch einmal, »so wahr
+ich lebe, ich habe nicht daran gedacht, daß mein Benehmen
+Sie kränken könnte. Und Sie müssen mir's glauben,
+wenn ich Ihnen sage: es war reiner Zufall, daß ich ...
+daß ich mich mehrmals hintereinander mit meinem Gespräch
+nur an Fräulein Buchner gewendet habe &mdash; ich
+weiß wohl, daß ich gesellschaftlich noch nicht sehr gewandt
+bin ... aber ... Fräulein Buchner ... Ihnen ... vorziehen
+... daran hab' ich ja mit keinem Sterbensgedanken
+gedacht ... ich wäre doch auch ein Narr ... Sie ... Sie
+sind ja so ein ... so ein wundervolles Geschöpf ... Sie
+ahnen ja gar nicht, wie ich ... hingerissen gewesen bin ...
+gestern, wie ich Sie auf der Bühne sah ...«</p>
+
+<p>Er lauschte, ob eine Antwort käme ... aber regungslos
+stand das Mädchen, Arm und Stirn an die Scheiben
+gepreßt, die von der Wärme ihrer Glieder mit einem
+feinen Nebel beschlugen. Und wie Hans sich zage, Schritt
+um Schritt, der Fensternische näher schob, fiel sein Blick
+auf die Sophienstraße: drüben, vorm Eingang des
+Carolatheaters, drängte sich schon wieder, noch weit
+über eine Stunde vor Beginn der Vorstellung, ein dichter
+Menschenhauf, des Augenblicks wartend, da die Kasse sich
+zur ersten Wiederholung der »Jungfrau« öffnen würde.
+Noch nicht vierundzwanzig Stunden waren vergangen,
+seit er Asta Thöny zum ersten Male gesehen ...</p>
+
+<p>Aber ihre Tränen waren versiegt: sie harrte, ohne sich
+zu rühren ... es war, als lausche sie ... als lechze sie,
+mehr zu hören ... mehr ...</p>
+
+<p>Hans Thumser fühlte, wie alle seine Glieder nur ein
+einziges banges, verlangendes Beben wurden ... auch
+seine Stimme bebte heftig, als er weitersprach, ohne zu
+wissen, was er sagte ...</p>
+
+<p>»Asta ... ich habe noch nie ... noch nie ein Mädchen
+berührt ... ich bin ein ganz dummer, dummer Bub ...
+Sie ... Sie müssen Geduld mit mir haben ... Wenn
+Sie ahnen könnten, wie mir zumut ist ... wie ich mich
+sehne ... ach, wie namenlos ich mich sehne ... ach, und
+ich hab' mich ja schon so gesehnt ... seit ich Sie gesehen
+hab' da drüben ... in Ihrer Schönheit ... und heut nacht,
+o Mädchen, wie haben meine Gedanken, meine Träume
+sich an Dich gedrängt ... hast Du das denn nicht gefühlt?
+nicht geahnt? Seien Sie doch nicht so stumm, sagen Sie
+mir doch, daß Sie mir verziehen haben ... mir ist ja so
+bang, so namenlos bang ist mir nach Dir ...«</p>
+
+<p>Da wandte das junge Weib sich um ... Ihre duftenden
+Arme warf sie dem Knaben um den Nacken und überflutete
+ihm die Lippen, die Augen, den Hals mit dem
+schäumenden Strom ihrer Küsse.</p>
+
+<p class="start-chapA space-above">Also, Jucunda, Du weeßt nu, was die Glocke geschlagen
+hat ...« beendete drüben in Hans Thumsers
+Studentenbudchen Mutter Doris ihren Bericht über die
+schwerste Stunde ihres Lebens &mdash; wie sie den Nachmittagsbesuch
+des Herrn vom Nassau-Dillingenschen Hofe genannt
+hatte. Sie thronte auf dem Kanapee unter den gekreuzten
+durchbohrten Mützen, den staubigen, verblichenen Bändern
+in ihrer ganzen schnaubenden, dampfenden Leiblichkeit
+... Die Korsettstangen knackten unter den keuchenden
+Atemstößen der eingepreßten Lungen, die fleischige Hand
+wedelte ohn' Unterlaß mit dem feuchten Taschentuch den
+beperlten Hängebacken Erfrischung zu. Jucunda saß
+stumm in einem der geblümten Fauteuils, mit zusammengepreßten
+Lippen, das stolze Haupt ein wenig zurückgeneigt,
+die blauen Augen starr zur Decke gerichtet. Sie
+schwieg auch, als die Mutter ihren Bericht geendet und erwartungsvoll
+an den Zügen der Tochter hing.</p>
+
+<p>»Nu rede Du aber gefälligst ooch en Ton!« polterte
+Mutter Doris schließlich heraus. »Ich mein', ich hätte
+mich nu genügend abgerackert für Dich!«</p>
+
+<p>»Na, wenn Du meine Meinung denn wirklich hören
+willst, Mutter: Du scheinst mir eine märchenhafte Dummheit
+begangen zu haben.«</p>
+
+<p>»I herrjemersch nee ... nu wird mer'sch aber doch zu
+tolle! Und was wär' das fier ä Dummheit, wenn's gefällig
+wär?«</p>
+
+<p>»Wie Du den Brief hast herausgeben können, Mutter,
+das versteh ich einfach nicht ... das Geld, mag sein,
+obgleich mir's schon lieber wäre, ich hätte einen Postquittungsschein
+in Händen ... aber den Brief &mdash; unglaublich
+einfach!«</p>
+
+<p>Sie sprang heftig auf, stieß den Fauteuil mit einem
+Ruck zur Seite, daß er in seinen Grundfesten krachte, und
+rannte zum Fenster &mdash; starrte hinaus, wie drüben vorher
+die zierliche Kollegin ...</p>
+
+<p>Ach ... da drunten drängten sich die Massen &mdash; eben
+war der Kassenflur geöffnet worden &mdash; stießen sich,
+balgten, prügelten sich um den Vorrang ... wem galt
+das alles als ihr? Die alle da unten, hatten die einen
+anderen Gedanken als &mdash; Jucunda Buchner?</p>
+
+<p>Und nach der Tortur dieser letzten Viertelstunde, nach
+all dem Ekel, der Zukunftsbangigkeit, die in ihr aufgequollen
+war beim Bericht der Mutter &mdash; kam da auf
+einmal eine wunderbare Gelassenheit über das Mädchen.
+Pah &mdash; was konnte ihr geschehen?!</p>
+
+<p>Inzwischen hatte Mutter Doris sich von ihrem ersten
+Schreck erholt.</p>
+
+<p>»Nee, weeßte, Jucunda, ich versteh Dich nich, wahrhaft'gen
+Gott, ich versteh Dich nich. Erscht stellst Du Dich
+an wer weeß wie sähre, daß De so än Brief kriegst, un ...
+un das andre ... un nu kommt der, der Dir's geschickt
+hat, und holt sich's wieder ab &mdash; un nu is ooch wieder
+nicht recht &mdash; &mdash; un ich hab' Dir doch bloß die scheißliche
+Geschichte woll'n vom Halse halten ... nee, nee, so was!
+Das hätt' ich wissen sollen, dann hätt' ich dem dicknäsigen
+Herrn ganz einfach gesagt: kommen Se gefälligst wieder,
+wenn Fräulein Jucunda Buchner derheeme is &mdash; mich
+geht's nischt an!«</p>
+
+<p>»Hättest Du das man getan, Mutter ... Ich hätte
+dem Herrn schon beigebracht, wie man mit Jucunda
+Buchner spricht &mdash; das kannst mir glauben! Ach &mdash; aber
+es ist ja alles egal ...«</p>
+
+<p>Sie reckte sich ... ein harter Glanz kam in ihre Augen
+... Noch eine knappe Stunde, und die Rampenlichter
+flammten auf, und sie tauchte hinein in ihren blendenden
+Schimmer &mdash; und von jenseits, aus dem dunkel gähnenden
+Zuschauerraum, dampfte die Vergötterung der anderthalb
+Tausend ihr entgegen ...</p>
+
+<p>»Was wirscht De denn nu anfangen?« fragte Mutter
+Doris ganz halblaut. »Wo der Herr Major doch verlangt
+hat, Du sollst machen, daß der ... der Herr Korpsstudent
+seine ... seine Aufforderung zum Duell ... daß er die
+zurück tut nähm'!«</p>
+
+<p>Jucunda versank in einen Wirbel der Gedanken. Das
+Bild des jungen Gesellen stieg in ihr auf, der so viel für
+sie getan ... aus einem ritterlichen Empfinden heraus,
+das so einfach, so natürlich war, daß Jucunda es wohl
+verstehen mußte, würdigen konnte in seiner schlichten,
+starken Mannhaftigkeit ... Und nun sollte sie selber von
+ihm verlangen, daß er den kühnen, verhängnisvollen
+Schritt, den er zu ihrem Schutze getan &mdash; rückwärts tun
+sollte ... Sie war in einer Luft groß geworden, in die
+immerfort, aus den Stübchen der Mieter ihrer Eltern in
+die gute Stube da hinten mit den grünen Plüschmöbeln,
+in die Träume ihres eigenen Mädchenkämmerleins
+hinein &mdash; die romantischen Vorstellungen und Begriffe
+von korpsstudentischem Schneid, von Burschenehre hineingeweht
+waren ...</p>
+
+<p>O sie wußte ganz genau, was es für den weiland
+Ersten Chargierten der Franconia bedeutete, aus dem
+Korps auszutreten, um einen Prinzen, der an offiziellen
+Kneipabenden die grüne Mütze anlegte, zum Säbelduell
+fordern zu können ... und was es nun erst bedeuten
+mußte, wenn sie ihm zumutete, seine Forderung zurückzunehmen,
+ohne daß eine Sühne erfolgt war ... ohne
+selbst eine formelle Bitte um Entschuldigung ... denn als
+eine solche konnte doch der Besuch des Majors, seine unverblümten
+Drohungen, die Erlistung des Briefes und
+des Geldes aus der Hand der hilf- und ahnungslosen
+Mutter unmöglich aufgefaßt werden ...</p>
+
+<p>Immerhin &mdash; hier war der Ansatzpunkt. Die Sache
+mußte dem Studenten so dargestellt werden, als habe der
+Major den Auftrag gehabt, eine Bitte um Verzeihung im
+eigenen Namen und im Namen seines prinzlichen Zöglings
+zu überbringen ... als ob er diese Bitte auch tatsächlich
+überbracht habe ... und wenn sie, die Beleidigte, sich
+mit dieser Genugtuung einverstanden erklärte, dann war
+ja doch wohl für ihren Beschützer kein vernünftiger Grund
+mehr, seine Forderung aufrecht zu erhalten ... und alles
+in schönster Ordnung ...</p>
+
+<p>Alles in Ordnung? Nein ... Jucunda war ein viel
+zu klarer Kopf, als daß sie die Folgen des Geschehenen
+nicht zu Ende gedacht hätte ...</p>
+
+<p>Also er zieht seine Forderung zurück, und dann? Nun
+dann ist er, auf gut deutsch gesagt, der unrettbar Blamierte
+... Er ist aus dem Korps ausgetreten und hat
+ein Mitglied des Korps gefordert &mdash; die Forderung ist
+zwar nicht zum Austrag gekommen, aber die unsühnbare
+Feindschaft zwischen den beiden jungen Männern besteht
+&mdash; sie können nicht mehr auf der Kneipe zusammensitzen,
+nicht mehr die gleichen Farben tragen ... Und da das
+Korps seiner ganzen Tradition nach, um seiner Beziehungen
+zu Hof, Behörden, Gesellschaft willen den
+Prinzen nicht fallen lassen kann, so wird eben Pilgram
+dran glauben müssen ... Er hat sein Band verloren, ist
+ausgeschieden aus dem Kreise der Freunde seiner Jugend
+... All das tapfere Ringen, Mensuren, Chargen,
+verbummelte Semester umsonst ...</p>
+
+<p>Das alles wußte Jucunda und wurde sich im angestrengten
+Nachsinnen weniger Minuten über all diese
+Folgen klar, mitleidslos gegen sich und ihn ...</p>
+
+<p>Und wieder meinte sie sein hartes, herrisches Gesicht
+zu sehen, wie es weich, selbstlos, opferfreudig aufglühte
+um ihrer Ehre willen ...</p>
+
+<p>»Sie haben weinen müssen &mdash; &mdash; &mdash; das sollen sie mir
+bezahlen, die zwei ...«</p>
+
+<p>Wie gut, wie tapfer, wie ... heldenhaft seine Worte,
+seine Tat ... und nun?!</p>
+
+<p>Hieß das nicht ... ihn schmählich verleugnen ...
+wenn sie nun zurückwich, sie ... und dadurch seiner Tat
+den ritterlichen Glanz raubte ... sie zu einer Narrensposse,
+zu einem Dummenjungenstreich erniedrigte?</p>
+
+<p>Aber ... ihre eigene Zukunft? Ihre Karriere? War
+das nicht alles, alles das, was der Major ihrer Mutter
+angedeutet hatte ... waren das nicht alles Wahrheiten?!</p>
+
+<p>Einen Augenblick lang war sie geneigt, das alles in
+den Wind zu schlagen ... Pah ... Engagement in
+Frage gestellt ... Bericht gegen sie beim Hof in Meiningen
+... War sie nicht Jucunda Buchner? Brauchte
+sie die Hoftheater? Oder brauchten die Hoftheater &mdash; sie?!</p>
+
+<p>Ach nein ... So stand es doch nicht ... Man war
+nicht immer achtzehn Jahre, nicht immer eine neue Entdeckung,
+eine Sensation, eine Mode ... Jucunda wußte
+schon viel, viel zu viel von den brutalen Gesetzen der
+Macht, der Laune, des Glücks, des Wechsels, welche die
+schillernde Welt regierten, in der es ihr bislang so herrlich,
+so unverdient und unfaßbar glänzend gegangen ...
+sie dachte an ihre alte, verknitterte Garderobiere, die
+auch einmal eine vergötterte junge Liebhaberin gewesen
+war &mdash; freilich nur am Stadttheater in Stallupönen,
+aber je höher der Anstieg, um so grimmiger die Gefahr,
+um so steiler und zerschmetternder der Sturz ... Nein,
+beim Theater konnte sich niemand erlauben, nur auf sein
+Talent, seine eigene Kraft und Persönlichkeit zu bauen
+und die Gunst der Mächtigen, der Brotgeber leichtsinnig
+zu verscherzen ... Niemand konnte sich das erlauben,
+auch Jucunda Buchner nicht ...</p>
+
+<p>Er ... oder ich &mdash; &mdash; so stellte sich schließlich die
+Frage ... und waren da die Chancen nicht doch zu ungleich?
+Schließlich ... ersparte sie nicht auch ihm durch
+ihren Entschluß, ihn fallen zu lassen, das größere Opfer,
+das noch ausstand? Das Risiko eines, nein zweier Zweikämpfe
+mit schweren Waffen, unter den schärfsten Bedingungen?
+Ersparte sie ihm nicht den definitiven, den
+viel größeren, gar nicht wieder gut zu machenden
+Skandal?!</p>
+
+<p>Eine ... Enttäuschung ... eine schmerzliche Wunde
+für sein jugendlich enthusiastisches Empfinden bedeutete
+es ihm, wenn sie sich zurückzog ... mehr doch nicht ...
+Für sie aber stand ihre ganze Zukunft, ihre Zukunft als
+Künstlerin wie ihre materielle Existenz auf dem Spiele ...</p>
+
+<p>Gab es da eine Wahl?</p>
+
+<p>Und letzten, allerletzten Endes: Hatte er das alles nicht
+sich selber zuzuschreiben? Hatte sie ihn um seinen Schutz
+&mdash; gebeten?! Nein, das hatte sie nicht getan, mit keinem
+Wort, keinem Blick ... Er hatte sich zum Verteidiger
+ihrer Ehre aufgeworfen ... Hatte sich eigentlich, wenn
+man es einmal mit einem etwas scharfen Ausdruck bezeichnen
+wollte, aufgedrängt ... Und hatte sie nicht alles
+Mögliche versucht, ihn von diesem unerbetenen Opfer abzuhalten?!
+Aber er war ja fortgestürmt, als ging's um
+seine eigene Ehre, um sein Leben ...</p>
+
+<p>Jucunda stand am Fenster, noch immer regungslos.
+Und hinüber, herüber schossen die Gedanken, anklagend
+und entschuldigend ...</p>
+
+<p>Mutter Doris saß ganz still und gedrückt in ihrem
+Kanapee ... Daß sie eine furchtbare Dummheit gemacht,
+als sie das verhängnisvolle Briefchen aus der Hand gegeben
+... das war ihr nun völlig klar ... Ihre spießbürgerliche
+Verschlagenheit sagte ihr ja nun selber, daß
+man aus solchen Beweisstücken Kapital hätte schlagen
+müssen ... Selbstverständlich nicht im materiellen Sinne
+&mdash; o nein, so etwas hatte man ja gottlob nicht nötig ...
+Aber man kann doch nie wissen, wozu man ein solches
+Zettelchen einmal gebrauchen kann ... So etwas läßt
+man sich doch nicht ganz umsonst aus den Fingern
+drehen ...</p>
+
+<p>Und dies Bewußtsein: die einzige Waffe, die ihre
+Tochter besaß, blöde, gedankenlos aus der Hand gegeben
+zu haben &mdash; das machte sie klein und stumm ...</p>
+
+<p>Jucunda schloß unterdessen ab. Ganz kühl, ganz klar
+hatte sie alles abgewogen. Nein, es ging nicht ... Sie
+konnte sich nicht, wider ihre innersten Lebensinteressen,
+von dem Don-Quichotte-Streich des jungen Burschen durch
+dick und dünn fortschleppen lassen ... Losketten mußte
+sie das Schiff ihres Glücks von der toll und steuerlos
+dahinrasenden Fahrt des überheizten Dampfers, der sie so
+mir nichts dir nichts ins Schlepptau genommen ...</p>
+
+<p>Und doch ... und doch ...</p>
+
+<p>'Sie haben weinen müssen ... Das sollen sie mir bezahlen
+... die zwei ...'</p>
+
+<p>Wenn man &mdash; diesen Ton, diesen Blick nur los werden
+könnte ...</p>
+
+<p>Pah ... Es <em class="gesperrt">mußte</em> sein ...</p>
+
+<p>Und schließlich und endlich &mdash; wer war Herr Pilgram?!
+Ein gleichgültiger junger Mensch, von dem sie nichts
+wußte, als daß er sie einmal sehr grob in ihrer Arbeit
+gestört ... sich für diese Grobheit dann freilich sehr
+manierlich entschuldigt ... und eine Abendstunde mit ihr
+geplaudert hatte ... in der sie, das wußte sie ganz genau,
+ihm nicht die leiseste Andeutung einer Sympathie gemacht
+hatte, die sie ja auch nie empfunden hatte ... Denn
+schließlich, sie machte sich ja doch nicht das mindeste aus
+ihm ... Er war ein kreuzbraver, aber doch durchaus
+alltäglicher Geselle ... Ja, wenn noch etwas in ihrem
+Herzen sich geregt hätte bei dem Gedanken an ihn ...
+die Ahnung von etwas Besonderem ... wie sie es eben,
+vor einer halben Stunde, so deutlich gefühlt hatte im Gespräch
+mit ... jenem andern grünbemützten Studenten,
+in dessen Zimmer sie jetzt stand ... der so schöne Verse
+machen konnte und so seltsam verhaltene Worte reden...
+in dem irgend etwas gärte und brodelte, das ihrem
+eigenen Wesen und Wollen auf eine geheimnisvolle Weise
+verwandt war ...</p>
+
+<p>Nein ... Herr Pilgram war ... irgendein Herr
+Pilgram ... war nichts und niemand ... Herr Pilgram
+hatte sich in ihr Leben eingedrängt ... man würde
+ihn mit möglichster Schonung, doch unmißverständlich
+wieder hinauskomplimentieren müssen ...</p>
+
+<p>»Es ist gut, Mutter ...« sagte Jucunda und wandte
+sich ruhig um. »Ich will Herrn Pilgram schreiben ...
+jetzt gleich ... er soll seine Forderung zurückziehen ...
+Den Brief kannst Du ihm hernach &mdash; wenn wir aus dem
+Theater nach Hause kommen &mdash; dann kannst Du ihm den
+Brief auf die Stube legen ... Hoffentlich ist er nicht zu
+Hause, wenn wir kommen &mdash; sonst &mdash; na sonst mußt Du
+ihm den Brief eben geben.«</p>
+
+<p>»Na, das is verninft'g von Dir, Mädchen!« seufzte die
+stattliche Frau und atmete tief auf, daß die Korsettstangen
+knackten. »Hier, mache nur schnell ... Da is ja der
+Schreibtisch, und Briefpapier liegt ooch genug herum &mdash;
+gleich setz' Dich und schreib'! Kannst Dich ja hernach bei
+dem Herrn entschuld'gen ...«</p>
+
+<p>Jucunda ging zum Schreibtisch des Studenten hinüber,
+fand Briefbogen, entdeckte aber, daß sie sämtlich
+oben in der linken Ecke den Zirkel des Korps Franconia
+und darunter das Monogramm des Eigentümers trugen.
+Da drehte sie kurz entschlossen einen Bogen herum und
+schrieb auf die Rückseite:</p>
+
+<p class="right" style="margin-right : 1em">
+»Leipzig, den 31. Oktober 1888.
+</p>
+<p class="center">
+Sehr geehrter Herr!<br />
+</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>Ihr ritterliches Eintreten für mich hat den gewünschten
+Erfolg gehabt: die beiden Herren, die mir
+diesen abscheulichen Brief geschickt haben, haben mündlich
+bei mir um Entschuldigung gebeten. Ich bin über
+diese Lösung hocherfreut und danke Ihnen innigst für
+Ihren gütigen Beistand, ich weiß wohl, daß Sie mir
+ein großes Opfer gebracht haben. Nun ist der Zweck
+Ihres Handelns erreicht. Bitte tun Sie mir nun auch
+den Gefallen und nehmen Sie so bald als möglich Ihre
+Herausforderung zum Duell zurück, damit nicht noch
+weitere Unannehmlichkeiten entstehen.</p>
+
+<p>Ich bin mit der nochmaligen Versicherung meines
+aufrichtigen Dankes</p></blockquote>
+
+<p class="right" style="margin-right:7em">
+Ihre ganz ergebene
+</p>
+<p class="right" style="margin-right:1em">
+J.&#x202f;B.«
+</p>
+
+<p>In einem Zuge, ohne Besinnen, hatte Jucunda geschrieben:
+Nun überlas sie die Zeilen und wunderte sich,
+wie klar und einfach und selbstverständlich das alles klang.
+Und darum wunderte sie sich noch viel mehr, weshalb ihr
+nur so übel dabei zumute war. Sie hatte ja doch recht,
+tausendmal recht ... Es war eine so klare vernünftige
+Lösung &mdash; es konnte ja doch schlechterdings nicht anders
+gemacht werden ...</p>
+
+<p>'Sie haben weinen müssen ... Das sollen sie mir bezahlen,
+die zwei ...'</p>
+
+<p>Das war ja doch eigentlich ein Unsinn ... Was
+gingen ihn, den fremden jungen Mann, ihre Tränen an?
+Was berechtigte ihn, für diese Tränen Sühne zu fordern?
+Da war irgend etwas, das stimmte nicht ... ein Fehler,
+ein Gedankenfehler ... Und aus diesem Fehler war alles
+entstanden ...</p>
+
+<p>Dennoch ... Sie fühlte es ganz deutlich: Um das
+törichte, unbesonnene Handeln des Jünglings war etwas
+Leuchtendes, etwas, das den Taten des Mädchens von
+Orleans verwandt war ... Und es war wie in Talbots
+Worten, des eisigen Vernünftlers, dessen hundeschnäuzige
+Kriegsmathematik vor dem frommen Wahn der Jungfrau
+zusammenbrach:</p>
+
+<p class="quote">
+»Unsinn, du siegst ... und ich muß untergehn ...«<br />
+</p>
+
+<p>Und während Jucunda Buchner den Brief kuvertierte
+und die Adresse darauf schrieb:</p>
+
+<p class="center">»Herrn Stud. Pilgram«</p>
+
+<p>&mdash; seinen Vornamen entsann sie sich auf der Visitenkarte
+gelesen zu haben, die er an seine Tür genagelt hatte, aber
+er wollte ihr nicht einfallen &mdash; als sie so schrieb, da
+empfand sie es ganz deutlich, ganz unabweisbar, daß sein
+Tun gut und groß gewesen war ... und ihres frostig und
+häßlich und gemein ...</p>
+
+<p>»Da, Mutter, steck den Brief in Deinen Pompadour ...
+und jetzt« &mdash; sie zog die Uhr &mdash; »sieben bereits!« Donnerwetter!
+Jetzt revidierte der Inspizient drüben schon die
+Garderoben! Teufel auch &mdash; höchste Zeit ins Theater &mdash;
+»Vorwärts, Mutter!«</p>
+
+<p>»Willste nich Deine Kollegin daneben abholen?«</p>
+
+<p>»Na &mdash; die wird wohl schon hinüber sein &mdash; aber ich
+kann ja mal nachsehen ...«</p>
+
+<p>Sie klopfte an die Tür des Nachbarstübchens, und da
+keine Antwort kam, klinkte sie auf. Die kleine Kammer
+lag dunkel und still. Nur durch die Fenster fiel der Schein
+der Gaslaternen von der Straße durch die Gardinen,
+malte ein paar große Rechtecke an die weißgetünchte Decke.
+Also Asta Thöny warf sich drüben bereits wieder in den
+steiflinigen Brokat der Agnes Sorel ...</p>
+
+<p>»Sie ist schon hinüber &mdash; und kommt doch erst im
+ersten Akt &mdash; und ich muß schon zum Prolog 'raus ...
+Glücklicherweise nur das Bauernkleid ... Vorwärts,
+Mutter ...«</p>
+
+<p>Das hatte sie freilich nicht sehen können oder wenigstens
+nicht gesehen in der Finsternis, daß auf dem Sofa noch
+einsam und regungslos der junge Student gesessen hatte,
+das Poetlein, um dessen »schwindelschmalen Pfad Abgründe
+klafften rechts und links ...«</p>
+
+<p>Daß er noch immer da saß, seitdem das Mädchen sich
+aus seinen Armen gerissen ... Alle Glieder und das
+Herz wie mit Blei beschwert vor trunkener Zärtlichkeit,
+sein ganzes Wesen durchschauert von Erfüllungsglück ...</p>
+
+<p>Jucunda schritt über den Hof, der mit Dekorationsstücken
+vollgepfropft war, die zum Schutze gegen den
+Regen mit Wachsleinwand verhangen waren &mdash; stolperte
+über die Beine des ausgestopften schwarzen Pferdes,
+dessen Leichnam im dritten Akt so überzeugend die Stimmung
+des blutgedüngten Schlachtfeldes heraufbeschwor &mdash;
+nahm dies Stolpern für ein gutes Omen, hastete weiter,
+so schnell, daß Mutter Doris in weitem Abstande hinter
+ihr drein schnaufte ... Und als sie nun das schmale
+Pförtchen aus Eisenblech öffnete, das zum Bühnenraum
+führte, als ihr der vertraute Dunst von Schminke, wirbelndem
+Staub und Menschenbrodem entgegenschlug, als
+sie den schlechterleuchteten Korridor, den halbdunklen
+Bühnenraum kreuzte, auf dem die Arbeiter eben den
+Prospekt zum Prolog anbohrten ... als sie dann die
+hallende Steintreppe hinanflog, in ihr Kämmerchen schoß,
+wo die zerknitterte Krausen herzklopfend ihrer harrte &mdash;
+(»Ach Gottchen nee, gnäd'ges Fräulein, daß Se nu endlich
+kommen! Der Inspizient und der Herr Oberregisseur
+sind schon sechsmal mind'stens dagewäsen nach Ihn'
+fragen!«) als ihr weißes Gewand, als das blanke Eisen
+ihrer Rüstung, ihres Helmes aufgleißten im hellen Licht
+der Spiegellampen &mdash;</p>
+
+<p>&mdash; da fühlte sie, wie alles, alles abfiel, was dieser
+Tag ihr Fremdes, Verworrenes, unheimlich Störendes
+gebracht. Fühlte, daß sie noch dieselbe war wie gestern
+abend um diese Stunde &mdash; dieselbe, die sie immer sein
+würde, so oft der Rausch des Komödienspiels, des Im-Spiele-Gestaltens
+über sie kam.</p>
+
+<p>Sie riß die Taille ihres Straßenkleides ab, reckte die
+herrlichen Arme, schmetterte durch den Raum, daß die
+Wände wankten:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Ins Kriegsgewühl hinein will es mich reißen,<br /></span>
+<span class="i0">Es treibt mich fort mit Sturmes Ungestüm,<br /></span>
+<span class="i0">Den Feldruf hör' ich mächtig zu mir dringen,<br /></span>
+<span class="i0">Das Schlachtroß steigt, und die Trompeten klingen!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Ja, es parierte, das erzene Organ ... vor dem sogleich
+die anderthalb Tausend da drunten erzittern würden ...
+Ja, sie war es noch, um derentwillen die alle da draußen
+vor allem doch gekommen waren &mdash; die Heldin des Stückes,
+die Heldin dieses Abends ...</p>
+
+<p>Kaum stand sie im Bäuerinnengewand, die braunen
+Haare zu schlichtem Flechtenbau um das runde Haupt
+gelegt, da trat Franz Burg ein, im ledernen Koller bereits,
+doch noch ohne das rasselnde Blech drüber, noch ohne
+Maske:</p>
+
+<p>»Nun, Langbeinchen? Das kennt man ja gar nicht
+von Ihnen, daß Sie mal zu spät kommen! Wie ist die
+Stimmung?«</p>
+
+<p>»Prima prima!« lachte sie und leuchtete den Freund an.</p>
+
+<p>»Nichts Neues in der Affäre?« fragte er leise.</p>
+
+<p>»Nichts von Belang ... Ich denke, es renkt sich ein.«</p>
+
+<p>»Oh!« Franz Burg zog die tiefschattenden Augenbrauen
+hoch &mdash; »das wäre aber jammerschade ... Können
+Sie denn nichts dazu tun, daß die Geschichte mit dem
+nötigen Theaterdonner zum Klappen kommt?«</p>
+
+<p>»Ach ... Ich bin froh, wenn sie aus der Welt ist ...
+Ich muß freien Kopf haben, freie Arme zum Arbeiten,
+zum Schaffen ...«</p>
+
+<p>»Soll ich Ihnen mal was verraten? &mdash; Ihr Erbprinz
+ist im Theater &mdash; hat noch vor einer halben Stunde einen
+<a id="InCorr4">Levkoyen</a> geschickt und eine Loge bestellen lassen ... Da
+alles futsch war, hat der Intendant die Direktionsloge zur
+Verfügung gestellt ...«</p>
+
+<p>»Hm ... Das ist ja interessant ... Werde mir den
+jungen Herrn doch mal anschaun ...«</p>
+
+<p>»Sie kennen ihn noch gar nicht?«</p>
+
+<p>»Keine Ahnung ...«</p>
+
+<p>»Na &mdash; die Hauptsache ist: Er ist da &mdash; jedenfalls ein
+Beweis, daß man nicht ungnädig ist ... Na, die Reklame
+haben Sie verscherzt, nun halten Sie sich wenigstens den
+hochgeborenen Verehrer warm ...«</p>
+
+<p>Der Inspizient steckte den Kopf zur Tür herein:</p>
+
+<p>»Fräulein Buchner &mdash; bitte auf die Szene!«</p>
+
+<p>»Also, Langbeinchen, wieder mal: Hals- und Beinbruch!«</p>
+
+<p>»Danke, Meister!«</p>
+
+<p>Mit Wohlgefallen sah Franz Burg der weißen, stolzen
+Gestalt nach. Künstlerblut! dachte er, kennt nichts als
+sich und ihre Arbeit ... Alles andre ist Dreck ...</p>
+
+<p>Und Jucunda schritt die Treppe hinunter. Alles
+grüßte mit vertraulicher Höflichkeit, wenn sie vorüberging:
+die Friseure, die Bühnenarbeiter, die Statisten, die
+Volontäre ...</p>
+
+<p>Und in ihrer Seele schwoll die unbändige Lust des
+Schaffens. Es schwang und klang in ihr von dröhnendem
+Jambenstrom und schmelzender Trochäenklage ... »Frommer
+Stab, o hätt' ich nimmer mit dem Schwerte dich vertauscht«
+... Kaum konnte sie das Maß, die scheue, entrückte
+Gebärde für die Stimmung des Anfangs finden,
+da sie noch ein schlichtes Hirtenmädchen ist, von geheimen
+Stimmen, phantastischen Visionen geängstigt, doch ihrer
+Sendung noch ahnungsvoll unbewußt ...</p>
+
+<p>Und endlich rauschte die Gardine empor, wogte drunten
+das Gebraus, das wohlbekannte, von Zettelknistern und
+Räuspern und Zurechtrücken, klappten die Sitze der Zuspätkommenden,
+tönte das leise Zischen der Gestörten ...
+Und all dies wirre Durcheinander verebbte nach und nach,
+und die große schaurige Stille ward, in die ihrer Partner
+Verse hineinklapperten, wie eine belanglose Ouvertüre,
+ein gleichgültiger Auftakt des Augenblicks, da sie die ersten
+Worte zu sprechen haben würde ... Ach, aber wie endlos
+lang dieser Auftakt! Die kamen ja heut wohl gar nicht
+vom Fleck, der alte Thibaut, ihre Schwestern, die Bräutigame
+&mdash; biedre Chormitglieder, die heute ein paar Verse
+zu lallen hatten ...</p>
+
+<p>Gesenkten Hauptes, stumm stand das Hirtenmädchen
+im Hintergrund ... Nur zuweilen hob sie zaghaft und
+scheu die großen Augen, ließ sie von einem zum andern
+flattern, als verstände sie die Sprache ihrer nächsten
+Menschen nicht mehr ... Und aus den verträumten
+Augen Johannas d'Arc spähte Jucunda Buchners ganz
+wacher, lauernder Sinn in den Zuschauerraum, dorthin,
+wo dicht an der Rampe links die Direktionsloge lag ...
+Die Lichter blendeten abscheulich &mdash; dennoch konnte sie allmählich
+ganz vorn, matt angestrahlt vom Widerschein des
+hellen Bühnentages, zwei Gesichter erkennen: ein fahles,
+junges mit der blinkenden Scherbe im Auge &mdash; und daneben
+ein verwettertes, tiefgebräuntes mit flatterndem
+Schnurrbart ... Also das waren die zwei &mdash; »von Dillingen
+&mdash; von Gorczynski« &mdash; das waren die Schreiber
+des verhängnisvollen Briefchens &mdash; die Spender des
+Rosenturms und der ... beiden ... blauen ... Lappen ...</p>
+
+<p>Achtung jetzt! Bertrand kommt, den blinkenden Helm
+in der Hand, den »ein Bohemerweib« ihm aufgedrungen
+im Gewühl ... Gleich wird das Stichwort kommen ...
+Horch ... Die letzten Verse rannen hin:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Da war das Weib mir aus den Augen schnell &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Hinweggerissen hatte sie der Strom<br /></span>
+<span class="i0">Des Volkes, und der Helm blieb mir in Händen.«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>In diesem Augenblick versank alles, alles ... Jucunda
+Buchner versank, und nichts mehr war als Johanna von
+Orleans ... Die schoß nun wie ein Meteor aus der
+scheuen Zurückgezogenheit vor, riß dem alten Bauern den
+Helm aus der Hand:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Gebt mir den Helm!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Erschrocken fragt der Alte:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i22">»Was frommt Euch dies Gerät?<br /></span>
+<span class="i0">Das ist kein Schmuck für ein jungfräulich Haupt!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Und wie eine Fanfare jauchzt es aus der endlich entfesselten
+Brust der jungen Heldin:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Mein ist der Helm &mdash; und mir gehört er zu!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Alles &mdash; alles ist versunken &mdash; nur eines wirkt und
+wogt: der große Rausch des Schaffens ...</p>
+
+<p>Und Johanna wurde erst wieder Jucunda, als nach
+dem ersten großen Monolog die Gardine sank und gleich
+darauf, wie hinweggerissen vom Orkan des Beifalls,
+wieder emporrauschte ... als tausendstimmiger Jubelruf
+sie umbrandete ...</p>
+
+<p>Da war Jucunda wieder da &mdash; ganz wach, ganz klar ...
+Und sie neigte sich ... neigte sich zuerst mit tiefem Hofknix
+nach der Direktionsloge.</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>9.</h2>
+
+<p class="start-chapA">Als Herr Borgmann Neo-Borussiae das Hotel Hauffe
+verließ und verloren, ziellos nach dem Augustusplatz
+hinüberschlenderte, kam er sich entsetzlich dumm vor. Was
+sollte er nun seinem Auftraggeber und Doppelgegenpaukanten
+ausrichten? Man hatte seine Forderung nicht angenommen,
+aber auch nicht abgelehnt ... Ein Witz ...
+aber ein fader ... Ist bei Ihrem Auftraggeber eine
+Schraube los? Rabiater Bursche &mdash; ich danke für einen
+Skandal ... Koller ... Pathologischer Zustand ...
+Verlange absolut geräuschlose Erledigung ... Rechne
+dabei auf Ihre Mitwirkung ... Das waren so ungefähr
+die Schlagworte, die Herrn Borgmann noch im Gedächtnis
+hängen geblieben waren und nun in der korrekten
+Chargiertenseele einen tollen Tanz vollführten ... Ja,
+was sollte man auch einem Prinzen antworten, der von
+korpsstudentischer Direktion und Haltung keinen Schimmer
+hatte? Der eine so blutig ernste Sache wie eine Säbelforderung
+einfach behandelte ... wie ... na wie einen
+Hanswurststreich ... wie einen faulen Kalauer?!</p>
+
+<p>Und das hatte man sich gefallen lassen? Man hatte
+Ja und Amen gesagt zu der ungeheuerlichen Zumutung,
+nach solch einem Affront auch noch an einer ... hm, hm!
+geräuschlosen Beilegung mitzuwirken?!</p>
+
+<p>Herr Borgmann nahm die weiße Mütze mit dem weiß-schwarz-weißen
+Randstreifen ab und tupfte die von weißblonden,
+seltsamerweise schon etwas gelichteten Haaren
+umsäumte Stirn. Was konnte man seinem Auftraggeber
+nun eigentlich berichten? Hatte der Prinz irgend eine
+Erklärung zur Sache selbst abgegeben? Eine Entschuldigung
+bei der beleidigten jungen Dame in Aussicht gestellt?
+Nicht das mindeste ... Er hatte nichts weiter geäußert
+als Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Mandanten
+&mdash; und das kategorische Verlangen, die Sache müsse aus
+der Welt geschafft werden!</p>
+
+<p>Na, und du, Wilhelm Borgmann, Neo-Borussiae gewesener
+Zweiter, Erster?! Was für eine Antwort hast du
+gefunden?</p>
+
+<p>Gar keine! Völlig aus dem Konzept hat man dich gebracht,
+verblüfft, verhohnepiepelt ... Schindluder hat
+man mit dir getrieben, ganz einfach!</p>
+
+<p>Und warum? Warum hast du nicht aufgemuckt?
+Warum hat deine ganze mühevoll erworbene korpsstudentische
+Direktion, deine Haltung, dein Schimmer dich verlassen?
+Weil dies junge hagere Herrchen im hellblauen
+Dragonerüberrock mit den silberblinkenden Knöpfen ein ...
+Prinz von Geblüt war ... Da war von deiner Spießbürgerseele
+der dünne Firnis des Kavaliers abgefallen,
+den man dir in einer Dressur von fünf Semestern aufgepinselt
+&mdash; und du warst in Lakaiendevotion submissest
+zusammengeknickt!</p>
+
+<p>Und drüben im Theaterrestaurant sitzt der unglückselige
+Pilgram, weiland Franconiae, und wartet auf Antwort ...
+Wartet auf das Schicksal ...</p>
+
+<p>Ja, was sagt man ihm nur? So wie die Geschichte in
+Wirklichkeit abgelaufen ist, so kann man sie ja gar nicht
+erzählen &mdash; der rabiate Bursche schlägt sonst Krach! Das
+muß man sich erst ein bißchen zurechtlegen ...</p>
+
+<p>Herr Borgmann suchte einen Zufluchtsort. Café
+Felsche? Viel zu viel Betrieb jetzt da, wahrscheinlich auch
+ein Tisch voll Neo-Borussen &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Ein Einfall! Das Museum! Das war zu dieser
+Stunde vielleicht noch geöffnet ...</p>
+
+<p>Und Studiosus Borgmann tat etwas, was ihm in
+seinen fünf Semestern, die er in Leipzig zugebracht, noch
+niemals passiert war: Er ging ins Museum hinein, stieg
+die prächtige Marmortreppe hinan, schritt gleichgültig durch
+die Säle voll bemalter Lappen in goldenen Rahmen und
+versank in einem Plüschsofa des großen Oberlichtsaales ...
+Und sann, wie er die Sache deichseln könne, ohne seine
+Blamage eingestehen zu müssen.</p>
+
+<p>Inzwischen saß Valentin Pilgram in regungslosem
+Warten in einer dunklen Ecke des Theaterrestaurants.
+Was werden würde? Nun das war ja ganz klar: Sowohl
+der Major als auch der Erbprinz, der die Charge
+eines Rittmeisters bekleidete, würden die militärisch korrekte
+Erklärung abgeben, daß sie die Tatsache der erfolgten
+Forderung ihrem zuständigen Ehrenrat unterbreiten
+würden ... Der würde dann einen formellen Ausgleichsversuch
+machen &mdash; wenn dieser, wie selbstverständlich,
+gescheitert wäre, würde der Erbprinz einen Ersatzmann
+stellen, einen möglichst fechtgewandten Offizier eines
+Gardekavallerieregiments ... Und dann stiegen eben die
+beiden Partien ... Na Himmel, das hatte man ja doch
+schon fünfmal durchgemacht &mdash; zwar nicht unter ganz
+gleich schweren Bedingungen ... Aber &mdash; na ja, Eisen
+ist Eisen, und fechten haben wir ja gottlob gelernt ...</p>
+
+<p>Und dann ...</p>
+
+<p>Valentin Pilgram versank in Träume ... Dann
+mußte irgend etwas kommen, etwas Schönes, von dem
+man sich keine rechte Vorstellung machen konnte. So ganz
+ohne Dank und Lohn würde man ihn doch nicht laufen
+lassen ...</p>
+
+<p>Dank und Lohn? Aber wie?</p>
+
+<p>Valentin Pilgram hatte bewiesen, daß er bereit war,
+sich jeden vors krumme Messer zu langen, der an dies
+Mädchen anders dachte denn an eine Heilige ... Und
+Heilige ... Wie belohnen sie denn?</p>
+
+<p>Mit ihrer Gnade ... Mit Fürsprache im Himmel ...</p>
+
+<p>Sie belohnen von ferne ... Mit Gaben, für die man
+sich auf Erden verdammt wenig kaufen kann ...</p>
+
+<p>Na, und das wird ja auch wohl dein Fall sein, mein
+guter Valentin &mdash; nicht wahr?!</p>
+
+<p>Na &mdash; und wenn auch! Wir haben eben getan, was
+wir mußten ...</p>
+
+<p>Ein alter Reckenspruch aus den goldenen Tagen des
+Rittertums klang ihm durch den Sinn:</p>
+<div class="poem">
+<div class="stanza">
+<i lang="fr">
+<span class="i0">A Dieu mon âme,<br /></span>
+<span class="i0">Ma vie au roi,<br /></span>
+<span class="i0">Mon coeur aux dames,<br /></span>
+<span class="i0">L'honneur pour moi.<br /></span>
+</i>
+</div>
+</div>
+
+<p><i lang="fr">Pour moi</i> ... Na eben, das war's: das Bewußtsein:
+So gehört sich's &mdash; und so hab' ich's gemacht ...</p>
+
+<p>Endlich! Da kam sein Kartellträger ...</p>
+
+<p>»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Borgmann ...«</p>
+
+<p>»Gewiß, gern ... Herr Ober, eine Schale Schwarz ...«</p>
+
+<p>»Also ... Angenommen?«</p>
+
+<p>»Hm ... Die Herren haben Erklärungen abgegeben,
+die vielleicht ... als befriedigend gelten könnten ...«</p>
+
+<p>»Was! sie kneifen?!«</p>
+
+<p>»Hm ... Doch wohl etwas zu schroffer Ausdruck ...
+Der Prinz hat den Major beauftragt, die Angelegenheit
+in Güte zu arrangieren ... Ich nehme also an, daß er
+Familie Buchner im beiderseitigen Namen um Verzeihung
+bitten wird ... Was macht's, Ober? Fünfundzwanzig?
+Schön &mdash; ziehen Sie fünfunddreißig ab ...«</p>
+
+<p>Valentin Pilgram war wie vor den Kopf gestoßen.</p>
+
+<p>In Güte arrangieren ... Fräulein Buchner um Verzeihung
+bitten ... Hm ... Verteufelt einfache Lösung ...
+Und das hatte man sich nicht mal im Traume vorgestellt,
+daß es so kommen würde ... kommen ... müßte ...</p>
+
+<p>Himmel ja &mdash; man war eben Korpsstudent &mdash; trat für
+alles, was man gesagt und getan &mdash; selbst in der Hitze gesagt
+und getan &mdash; für das trat man eben stramm und rücksichtslos
+ein mit Waffe und Blut, mit Schädeldach und
+Nase, mit Brustbein und Armknochen &mdash; konnte sich gar
+nicht vorstellen, daß jemand auswich &mdash; revozierte und
+deprezierte &mdash; den Schwanz einzog und ... na eben kniff.</p>
+
+<p>Und ... jeden andern Kneifer durfte man einen
+Kneifer schimpfen ... Dieser aber stand außerhalb der
+Lebensgesetze der akademischen Welt &mdash; der er <i lang="la">pro forma</i>
+doch angehörte ... Der konnte sich eine Kneiferei leisten,
+obwohl er doch auch Student, offiziell sogar Korpsstudent
+war ...</p>
+
+<p>Was für ein Hohn ... Was für eine blöde Farce!</p>
+
+<p>»Hm ... Und Sie meinen, Herr Borgmann &mdash; mit
+diesen Erklärungen müsse ich mich begnügen?«</p>
+
+<p>»Ich ... glaube wenigstens nicht, daß ... nach
+diesen Erklärungen ... das Ehrengericht Ihre Forderung
+noch genehmigen würde, wenn Sie darauf bestehen
+wollten ... Selbst ein S.&#x202f;C. Ehrengericht nicht ... Aber
+vor das kommt die Sache ja überhaupt nicht ... Die
+kommt vor den Offiziersehrenrat ... Na und der wird
+eben selbstverständlich die Sache für erledigt erklären
+unter diesen Umständen ...«</p>
+
+<p>Ach so ... Also alles in schönster Ordnung ... Die
+Ehre der angegriffenen jungen Dame <i lang="la">in integrum</i> restituiert
+durch die Deprekation ... und nur er selber ... er
+selber um sein Korpsband gekommen ... und eigentlich ...
+der ... Blamierte ...</p>
+
+<p>Hm ... es stimmte ... Da war nichts zu machen ...
+Aber auch gar nichts ...</p>
+
+<p>Ja ... Wie war denn das aber möglich? Hatte er
+denn irgend einen ... Fehler gemacht?</p>
+
+<p>Nein ... Er hatte den Geboten der Ehre, der Ritterlichkeit
+gefolgt ... Und was sich da wider ihn aufreckte ...
+das war etwas, was er bis dahin noch nicht geahnt hatte
+&mdash; der Unsinn des Daseins ... die Tragikomödie des
+Idealismus ... dieses phantastischen romantischen
+Idealismus, der den eigenen Adel, die eigene heroisch-naive
+Auffassung von Pflicht und Ehre noch für das Gesetz
+des Weltganges hält ...</p>
+
+<p>Valentin Pilgram stand auf ... stumm ... stieren,
+korrekten Antlitzes.</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen verbindlichst für Ihren gütigen
+Beistand, Herr Borgmann ... Nun, dann wird sich die
+Sache ja wohl in aller Güte und Freundschaft erledigen ...
+zwischen den ... <em class="gesperrt">Nächstbeteiligten</em> ... Adieu,
+Herr Borgmann ...«</p>
+
+<p>Donnerwetter &mdash; dachte Wilhelm Borgmann &mdash; das
+hat besser gegangen, als ich mir's träumen ließ ...</p>
+
+<p>Valentin Pilgram irrte durch die Straßen ... Dies
+Menschengewoge, der Spätherbstglanz über der Welt, die
+Wagen, die klingelnde Pferdebahn, das alles machte ihn
+rasend. Er floh ins Rosental, strich ziellos durch die
+Laubgänge ...</p>
+
+<p>Jucunda! Das war sein einziger Trostgedanke ...
+Jucunda würde zu ihm stehen ... ihm danken, ihn belohnen
+... irgendwie ... für alles, was er ihr geopfert
+...</p>
+
+<p>Er rannte immer weiter, immer tiefer ins Holz hinein
+&mdash; über die Elster hinüber, kreuzte die sumpfigen Wiesen
+jenseits der Marienbrücke, verlor sich in den braunen
+Forsten des Leutzscher Holzes. Es kam die frühe Dämmerung,
+es wurde feucht und frostig unter dem Laubdach,
+von dem langsam Blatt um Blatt niederrieselte im melancholischen
+Schweigen des windstillen Herbstabends &mdash;
+Valentin Pilgram bemerkte es nicht. Und wie die Fledermäuse,
+die lautlos um die schattenhaften Säume der Gebüsche
+schwirrten, über den perlmuttfarbenen Spiegeln
+der Sumpfteiche huschten, so flatterten durch des wackern
+Gesellen Hirn die aberwitzigen Gedanken.</p>
+
+<p>Er hatte doch recht getan &mdash; gehandelt wie ein Mann
+und Kavalier ... Und eine lächerliche Blamage war die
+Folge ... Das Korpsband, das geliebte, war von seiner
+Brust hinweggeweht, wie ein klagender Abendhauch die
+ziehenden Nebelstreifen dort auf den Wiesen hinwegstreifte ...</p>
+
+<p>Das konnte doch das Ende nicht sein &mdash; so dummejungenmäßig
+beiseite geschoben werden, das war doch kein
+Abschluß für Valentin Pilgrams stolze, prangende Burschenherrlichkeit ...</p>
+
+<p>Nein ... Es mußte noch irgend etwas kommen &mdash;
+die Ahnung irgend eines süßen oder schrecklichen Ereignisses
+düsterte durch die Seele des einsamen Wanderers.</p>
+
+<p>Es war schon Nacht, sternüberflimmerte Spätherbstnacht,
+als er vor sich die dunklen Umrisse des Leutzscher
+Bahnhofes auftauchen, die grellfarbigen Lichter des Bahnkörpers
+flimmern sah. Eine dumpfe Sehnsucht nach der
+Stadt zurück überkam ihn plötzlich, nach wogenden Menschenmassen,
+nach Wagenlärm und glitzernden Schaufenstern.
+Er erkundigte sich: der nächste Zug fuhr erst
+in einer halben Stunde. In dem schmutzigen Bahnhofsrestaurant
+schüttete er hastig, gedankenlos ein paar Glas
+Bier in die brennende Gurgel. Als der Zug herannahte
+und er die Börse zog, bemerkte er, daß er an seiner Uhrkette
+noch den Bierzipfel trug, ein Stück des grün-gold-roten
+Korpsbandes mit goldenen Beschlägen ... Da
+hakte er mit einem bitteren Zucken der Mundwinkel den
+blanken Zierat ab und barg ihn in seiner Brieftasche.</p>
+
+<p>Als er auf dem Thüringer Bahnhof ankam, war es
+gegen neun Uhr. Er hastete heimwärts. Jetzt war
+Jucunda im Theater &mdash; spielte abermals die Jungfrau ...
+An allen Anschlagsäulen hing der Theaterzettel, der ihren
+Namen trug ... Es trieb ihn nach Hause, dahin, wo sie
+geboren und groß geworden war, eine seltene, phantastische
+Wunderblume, in einem abgezirkelten, banalen Spießergärtchen
+erblüht ...</p>
+
+<p>Alles war still und finster in dem engen, muffigen
+Korridor, als er die Entreetür öffnete. Natürlich, die
+Eltern waren ja mit im Theater, ihr Goldkind zu bewundern ...</p>
+
+<p>Er suchte seine Zündholzschachtel, fand sie, aber sie war
+leer. Vergebens tappte er nach Licht. Die Tür zur
+Wohnstube war angelehnt, ein matter Lichtreflex von der
+Straßenbeleuchtung fiel heraus. Valentin konnte der Versuchung
+nicht widerstehen und trat ein. Stumm und
+dunkel und dumpfig lag das Zimmer. Dort am Fenster
+hatte er mit ihr gestanden &mdash; wann doch nur? Vor einer
+Ewigkeit?! Pah &mdash; es war noch nicht vierundzwanzig
+Stunden her ... Und hier auf dem verschlissenen Plüsch
+hatte sie gesessen, das weiße Königinnenhaupt zurückgelehnt
+... und &mdash; wie hatte sie nur gesagt? 'Vielleicht
+kann ich doch einmal einen Ritter gebrauchen &mdash; dann will
+ich an diese Stunde denken und Sie rufen ...' Und jetzt?
+Hatte sie ihn nicht gerufen? &mdash; Nein &mdash; das eigentlich
+wohl nicht ... Aber hatte sie nicht geweint?! Sie ...
+sie ... und hatte geweint um einer bübischen Kränkung
+willen ...</p>
+
+<p>Und da hatte er getan, was er genau so rasch, so selbstverständlich
+und geradezu getan hätte für seine Schwesterchen
+daheim in Dresden ... Und morgen würde ganz
+Leipzig über ihn lachen ...</p>
+
+<p>Hastig trat er auf den stockfinstern Korridor zurück und
+tappte nach seiner Stube hinüber. Zufällig bekam er die
+Klinke zu Jucundas Kammertür in die Hand ... Er
+drückte sie nieder, und ein Duft wehte ihm entgegen, der
+ihn mit einem Schwall stummer, wirrer Sehnsuchtswünsche
+bedrängte. Das Zimmer lag nach einem Seitengäßchen
+hinaus und war fast völlig finster. Nur aus
+einem gegenüberliegenden Fenster fiel ein ganz matter
+Lichtschein hinein. In diesem Schein leuchtete das weiße
+Bett, schon aufgeschlagen, für die Nachtruhe der Künstlerin ...</p>
+
+<p>Ein Grausen des Verlangens schnürte dem reckenhaften
+Burschen die Kehle zusammen. Er schloß hastig die
+Tür und stand einen Augenblick lang in der Dunkelheit.
+Alle Glieder bebten, seine Kinnbacken schlugen im Frost
+zusammen. Dann übergoß ihn glühende Scham. Er war
+der Mann nicht, sich an dem Dunste der Geliebten verstohlen
+schnüffelnd zu erletzen. Er rannte hinaus, fand
+endlich die Tür seiner Bude und saß lange mit fiebernden
+Gliedern in der Finsternis, auf seinem Sofa. Endlich
+fuhr er auf, schwankte zu seinem Nachttischchen hinüber,
+machte Licht, zündete die Petroleumlampe an und sah die
+aufgeschlagenen Repetitorien liegen, wie er sie morgens
+verlassen hatte, als die Kanzleirätin in sein Zimmer gestürzt
+war ...</p>
+
+<p>Und eine stumpfe Ruhe kam über ihn. Arbeiten!
+Arbeiten! Er wühlte sich in die schematisch öde Zusammenstellung
+der elementaren Grundbegriffe seiner Wissenschaft
+hinein. Seiner Wissenschaft &mdash; ah bah! Die Quelle
+des Wissens, die hell in seiner Nähe sprudelte, hatte er
+ängstlich gemieden sieben Semester lang und nur dem
+Korps gedient ... Nun galt es hastig und mechanisch
+einen Haufen seelenloser Notizen in sich hineinzustopfen,
+um den toten Popanz, die pappdeckelne Attrappe einer
+fadenscheinigen Examensweisheit aufzurichten ...</p>
+
+<p>Immerhin ... wenigstens Vergessen wirkte dies
+stumpfsinnige Büffeln ...</p>
+
+<p>Und eine Stunde verrann &mdash; zwei Stunden ... Plötzlich
+draußen auf dem Flur die Stimmen der heimkehrenden
+Familie Buchner. Valentin lauschte angestrengt ...
+Ob sie ihn denn nicht noch zu sprechen wünschte? Ihm zu
+danken für die ... glückliche Lösung, die sein Eingreifen
+doch herbeigeführt?</p>
+
+<p>Und wirklich &mdash; es pochte an seine Tür ...</p>
+
+<p>»Herein!«</p>
+
+<p>Mutter Kanzleirätin stand auf der Schwelle. Ein
+wenig rot und verlegen ... In der schleifenbesetzten
+Kapuze, dem altmodischen Abendmantel, genau wie gestern,
+als er sie aus dem Wagen gehoben ...</p>
+
+<p>»Sie wär'n entschuld'gen, Herr Pilgram &mdash; hier is
+Sie nämlich ä Briefchen von meiner Tochter ...«</p>
+
+<p>Ein &mdash; Brief? Und warum konnte sie denn nicht
+selber &mdash;?!</p>
+
+<p>So deutlich stand diese Frage in des jungen Mannes
+starr aufgerissenen Augen, daß Frau Buchner die unausgesprochene
+beantwortete:</p>
+
+<p>»Nämlich, Se dürfen's ihr nich iebel nähm', selber
+kann se's Ihn' nich sagen, sie is Ihn' nämlich gar zu sähre
+angegriff'n von der Vorstellung ... Gut Nacht, Herr
+Pilgram, wünsch' gute Ruh ...«</p>
+
+<p>Und hastig war die massive Gestalt aus der Tür ...
+Nur der Brief blieb zurück, lag weiß und fremd auf dem
+fleckigen, grellgemusterten Tischtuch.</p>
+
+<p>Mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge nahm
+Valentin das Kuvert und studierte die großen, fahrigen
+Züge der Aufschrift:</p>
+
+<p class="center">»Herrn Stud. Pilgram ...«</p>
+
+<p>Weder Fakultät noch Vorname ...</p>
+
+<p>Was steht darin? Nun, es kann doch nur eins sein:
+Dank und abermals Dank, feuriger, inniger Dank ...</p>
+
+<p>Er riß den Umschlag auf und las:</p>
+
+<p class="center">»Sehr geehrter Herr ...«</p>
+
+<p>Er las und las ... »erwünschte Erfolg« &mdash; »Herren
+haben mündlich bei mir um Entschuldigung gebeten« &mdash;
+»danke Ihnen innigst« &mdash; »großes Opfer« &mdash; »Zweck erreicht«
+&mdash; »nehmen Sie Ihre Herausforderung zurück,
+damit nicht noch ... weitere ... Unannehmlichkeiten entstehn
+...« &mdash; »mit der nochmaligen Versicherung meines
+aufrichtigsten Dankes Ihre ganz ergebene ...«</p>
+
+<p>Na ja ... na also ...</p>
+
+<p>Völlig korrekt das alles ... Nichts fehlte, was man
+so erwarten und verlangen konnte ...</p>
+
+<p>Nichts fehlte ... gar nichts ...</p>
+
+<p>Valentin Pilgram sah lange und regungslos in den
+hellen Lichtkegel der Petroleumlampe, bis die Augen ihn
+zu schmerzen anfingen.</p>
+
+<p>Na ja ... na also ...</p>
+
+<p>Und endlich klappte er den Brief zusammen. Wollte
+ihn in den Umschlag schieben ... Da auf einmal blieben
+seine Augen an etwas hängen, das er nicht begriff. Auf
+der letzten Seite des Bogens, am unteren Rande und mit
+dem Kopfe nach unten, fand sich ein Monogramm aus den
+Buchstaben T und H und darüber der Zirkel eines wohllöblichen
+C.&#x202f;C. der Franconia zu Leipzig.</p>
+
+<p>Was war das?!</p>
+
+<p>T.&#x202f;H.? Oder ... H.&#x202f;T.? Und darüber der Frankenzirkel?</p>
+
+<p>Kein Name der verflossenen Korpsbrüder fing mit
+einem H an, aber mit einem T? Thumser? Hans ...
+Thumser ... Das ... stimmte ...</p>
+
+<p>Was war das? Wie kam Jucunda Buchner zu einem
+Briefbogen von Hans Thumser?! Teufel &mdash;</p>
+
+<p>Hatte der am Ende den Makler gespielt? Und geholfen,
+ihm diese ungeheure Blamage einzubrocken?!</p>
+
+<p>Valentin Pilgram dachte nach. Nun, der kleine
+Thumser war ein Faselhans, hatte den Kopf voll konfuser
+Ideen, voll unvorschriftsmäßiger, inkorrekter, umstürzlerischer
+Gedanken über allerhand heilige, unantastbare
+Dinge, Dinge, die immer so gewesen waren und immer so
+bleiben sollten ... Sah ein bißchen von oben herab auf
+alle Menschen und Zustände &mdash; aber eine Gemeinheit, eine
+heimtückische Verräterei und Niedertracht &mdash; die war ihm
+denn doch nicht zuzutrauen ...</p>
+
+<p>Aber &mdash; wie war dies &mdash; Unfaßbare da &mdash; zu erklären?!</p>
+
+<p>War denn irgendeine Möglichkeit, daß Jucunda und
+der versedrechselnde, kunstsimpelnde Korpsbruder in Berührung
+hätten kommen können?</p>
+
+<p>Gestern abend &mdash; so viel stand fest &mdash; kannte Thumser
+die Künstlerin noch nicht persönlich &mdash; hatte zwar die Idee
+gehabt mit dem Pferdeausspannen, aber nicht ein Wort
+mit dem Mädchen gewechselt ...</p>
+
+<p>Aber &mdash; hatte nicht er selber, Valentin, gestern abend
+im Gespräch mit der Familie Buchner den Namen Thumsers
+genannt als desjenigen, der den glorreichen Einfall
+mit der Pferdeausspannerei ausgeheckt ...</p>
+
+<p>'Dafür hätten Sie 'nen Kuß gekriegt,' hatte Jucunda
+gesagt ... Noch ganz deutlich entsann sich Valentin einer
+dunklen Regung von Eifersucht ...</p>
+
+<p>Wär's möglich &mdash; sie hätte sich vielleicht an den gewandt
+um ... um einen Ausweg aus der Verlegenheit,
+in die Valentin Pilgrams rasche Ritterschaft sie hineingestürzt?!</p>
+
+<p>Oder?! Hatte er &mdash; Hans Thumser &mdash; die Bekanntschaft
+eingeleitet? Er wußte aus dem C.&#x202f;C., was vorgefallen
+war ... Er war sehr schweigsam gewesen im C.&#x202f;C. ...
+Sollte er diese ... Gelegenheit ... seine Wissenschaft
+um die Situation &mdash; sollte er die benutzt haben, um sich
+bei Jucunda lieb Kind zu machen?!</p>
+
+<p>Wie es auch sein mochte &mdash; es war etwas geschehen
+zwischen den beiden ... Hans Thumser hatte seine Hand
+im Spiel &mdash; in dem falschen, ränkevollen Spiel, an dessen
+Ende seine, Valentins, hilflose Blamage stand ...</p>
+
+<p>Himmel und Hölle! Da stand ja auf einmal ein neuer
+Feind auf &mdash; ein Feind, der eine harmlos grinsende
+Freundesmaske trug ... und einer, der nicht unangreifbar
+war, wie die andern &mdash; nicht geschützt wie diese
+Jucunda durch ihr Geschlecht &mdash; nicht durch Rang, durch
+Pflichten der Rücksichtnahme, durch die Ausnahmegesetze
+der militärischen Standesordnung &mdash; wie das fürstliche
+Käsegesicht mit der Scherbe im Auge oder sein schnurrbärtiger
+Begleiter ...</p>
+
+<p>Einer, den man sich langen konnte!</p>
+
+<p>Ein Korpsbruder?! Pah ... er selber war ja nicht
+mehr Korpsstudent ... Konnte ramschen, mit wem es
+ihm beliebte ... Seine Rache kühlen an dem ersten
+besten, der seinem Grimm in den Weg lief ...</p>
+
+<p>Ja, seinem Grimm &mdash; der besinnungslosen Wut, die
+ihm nun auf einmal in die Augen stieg mit blutrotem
+Schimmer, ihm Blick und Fassung trübte &mdash; daß er aufsprang,
+die Halsbinde, den Kragen aufriß, um nicht zu
+ersticken ...</p>
+
+<p>Nebenan raschelten Kleider, klapperten die leisen Tritte
+müder Mädchenfüße ...</p>
+
+<p>Sie &mdash; und nur eine dünne Wand zwischen ihm und
+seinem Schicksal ...</p>
+
+<p>Er lauschte ... flüsternde Frauenstimmen klangen:
+Mutter Kanzleirätin brachte wohl das Goldkind schlafen ...
+Nun knarrte die Tür, nun schlürften die Pantoffeln der
+Alten über den Korridor, zum ehelichen Schlafgemach
+hinüber ... Und ein herzhaftes, langgezogenes Gähnen ...
+Und nun krachte das Bett, rauschten die Kissen ...</p>
+
+<p>Valentin Pilgram saß noch immer steif und regungslos
+an seinem Schreibtisch und starrte in den Lichtkegel der
+Petroleumlampe ... Und in der Faust hielt er den halbzerknüllten
+Briefbogen, der vorne Jucunda Buchners
+Brief und hinten Hans Thumsers Monogramm und den
+Frankenzirkel trug ...</p>
+
+<p>Na ja ... Na also &mdash; &mdash; &mdash;!!</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>10.</h2>
+
+<p class="start-chapD">Die Franken hatten C.&#x202f;C. gehabt und Chargenwahl
+vollzogen. Ivo Volkner aus Düsseldorf war Erster
+geworden an Pilgrams Statt. Hartwig, der Vertreter
+des Marburger Kartellkorps, hatte die zweite Charge bekommen,
+und der eben erst rezipierte Jungbursch Feldmann
+die dritte. Volkner Senior &mdash; das bedeutete einen
+Wechsel des Regimes. Statt des zähen, wortkargen,
+sparsamen und fechtgewaltigen Sachsen der leichtsinnige,
+wohlhabende, lebenslustige Rheinländer &mdash; das war ein
+wahrer Umschwung für den Geist des Frankenbundes ...</p>
+
+<p>Hans Thumser säumte nicht, von diesem Umschwung
+zu profitieren. Alle paar Tage bat er um Dispens zum
+Besuch der Konzerte, des Theaters, schwänzte regelmäßig
+Sonnabends das gemeinsame Mittagessen, um der Motette
+des Knabenchors in der Thomaskirche zu lauschen ...</p>
+
+<p>Und eines Morgens erlangte er gar die Erlaubnis,
+bei den Meiningern zu statieren ...</p>
+
+<p>Die Meininger ... sie hielten ihn völlig im Bann.
+Er versäumte keine Premiere. Drama auf Drama reckten
+sich die genialen Machtschöpfungen der erhabensten
+Meisterwerke des germanischen Theaters vor dem
+schönheitshungrigen Auge des jungen Studenten auf ...</p>
+
+<p>Und all die heiße Inbrunst, die solch aufrüttelnde,
+seelenentzückende Schau in ihm entflammt hatte, die küßte
+er der zierlichen Asta Thöny auf den feuchten, bebenden
+Mund ... Es war ein toller Märchenrausch von Begeisterung
+und Liebe, in dem die Tage, die Nächte dahinrasten.
+Und so ganz versunken war alles, was sich nicht
+der Erinnerung aufdrängte, daß er nicht ein einziges Mal
+auf den Einfall gekommen war, sich nach dem armen
+Valentin Pilgram umzusehen, mit dem er doch drei
+Semester lang die gleichen Farben getragen &mdash; der aus
+dem Korps geschieden war um eines Entschlusses willen,
+den er heiß bewunderte wie alle Korpsbrüder ... Er
+wußte, die andern pflegten eifrig den Verkehr mit dem
+ausgeschiedenen Freunde &mdash; er nahm sich täglich vor,
+ihn aufzusuchen, und täglich vergaß er's in seinem Taumel
+von Sehnsucht und Erfüllung, Erfüllung und Sehnsucht ...</p>
+
+<p>Ja, Erfüllung ... und Sehnsucht ... Denn wenn
+Hans Thumsers flaumige Jugend in Asta Thönys schimmernden
+Armen lag, dann am heißesten verlangte seine
+Seele nach der andern, die Abend für Abend die ganz
+großen, ganz lichten Visionen der Dichter verkörperte,
+statt jener kleinen, sündigen, irdischen Geschöpfe, die Asta
+Thönys Kunst umspannte ...</p>
+
+<p>Aber außerhalb der Bühne hatte er sie niemals wieder
+zu sehen bekommen &mdash; Jucunda, die allvergötterte. Es
+war ein förmliches Jucundafieber ausgebrochen unter der
+Leipziger Jugend, der männlichen wie der weiblichen, der
+akademischen wie der Philisterwelt ... Allabendlich
+schritt die Künstlerin durch ein jubeltrunkenes Spalier ihrer
+Verehrer zu ihrem Wagen &mdash; nach jeder Premiere wiederholte
+sich die gleiche Komödie. &mdash; Der Kutscher strängte
+die Gäule schon vorher ab und stellte sie auf Seite und
+sich daneben, damit ihm die Tiere nicht ganz verrückt
+wurden und er selber ohne blaue Flecke vom Bock
+herunterkäme ...</p>
+
+<p>Und Liebesbriefe ohne Zahl, voll ungelenker Gedichte,
+stammelnder Mädchenverzückung und kecker Jungmännerwerbung
+flatterten in das bescheidene Kämmerchen an
+der Katharinenstraße ...</p>
+
+<p>Selbst die Waffenstudenten, deren Gesichtskreis doch
+sonst mit ihren Couleurangelegenheiten völlig ausgefüllt
+war, wurden in den allgemeinen Theatertaumel mit hineingezogen.
+Wenn Jucundas Triumphwagen mit seiner
+keuchenden, brüllenden Bespannung durch die Straßen
+südlich des Königsplatzes der Altstadt zurollte, dann
+blinkten in der Schar der Ziehenden und der Geleitenden
+die Mützen der Korps neben denen der Burschenschaften,
+der Turner neben denen der Landsmannschaften &mdash; Arion
+und Paulus wetteiferten mit dem heiligen Wingolf im
+Dienste der Jucundabegeisterung ... Es war wie im
+Paradiese, da das Lämmlein bei dem Tiger weidete ...</p>
+
+<p>Und der regelmäßigste Besucher war der Gast der fest
+abonnierten Proszeniumsloge vorn links vom Schauspieler,
+neben der Direktionsloge ... war der Erbprinz
+von Nassau-Dillingen. Zu jeder Premiere schleppten die
+herzoglichen Leibdiener ein kostbares Blumenarrangement
+von schier unermeßlichen Dimensionen auf die Bühne,
+daran ein Kuvert mit geprägtem Wappen hing ... Es
+enthielt des Erbprinzen Visitenkarte, darauf immer nur
+die Worte: »In Verehrung« ... geschrieben in einer unausgeschriebenen
+Knabenschrift. Niemals aber hatte sich
+Jucunda künftighin über den leisesten Versuch einer Annäherung
+zu beklagen gehabt.</p>
+
+<p>Und Jucundas Dank beschränkte sich stets auf den
+Hofknix vor der ersten Parkettloge links ...</p>
+
+<p>»So ist's recht, Langbeinchen,« sagte Franz Burg mehr
+als einmal zu der jungen Freundin &mdash; »so muß man's
+machen: hübsch in Distanz halten die hochgeborenen
+Verehrer &mdash; aber keinesfalls wegöden ... das hat keinen
+Sinn &mdash; immer warm halten &mdash; man kann nie wissen,
+wozu man so etwas einmal brauchen kann ...«</p>
+
+<p>Und Jucunda begriff. Es blieb doch nicht nur bei dem
+Hofknix. Wie jeder andre Spender einer Blumengabe
+bekam auch Erbprinz Heribert ein paar Dankesworte auf
+goldgerändertem Kärtchen ... Anfangs waren's nur
+drei konventionelle, schematische Zeilen ... Bei der
+dritten Spende aber stellte sich ein Zusatz ein:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>»Sie beschämen mich, Durchlaucht, &mdash; ich weiß
+nicht, wodurch ich soviel gnädige Anteilnahme verdient
+habe.«</p></blockquote>
+
+<p>Das nächste Mal enthielt das wappengeprägte Kuvert
+an der riesigen Seidenschleife, die in den Nassau-Dillingenschen
+Landesfarben von einem riesigen Lorbeerrade
+niederrauschte &mdash; enthielt das Kuvert ein Briefchen
+von zwanzig Zeilen:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>»... Sie sind mir böse gewesen, und ich muß leider
+zugeben, nicht ganz ohne Grund, obwohl ich für die
+geschmacklose Form der Huldigung, die Ihnen in
+meinem Namen überreicht wurde, nichts kann. Sind
+Sie wieder gut? Ich bitte Sie um ein Zeichen ...«</p></blockquote>
+
+<p>In der Premiere des »Wintermärchens«, die kurz auf
+dies Briefchen folgte, lockte der tumultuarische Applaus
+nach der Gerichtsszene die eben hinter den Kulissen gestorbene
+Hermione-Jucunda auf die Bühne ... Und wieder
+schleppten livrierte Diener eine weißleuchtende Kaskade
+von rieselnden Chrysanthemen heran ... Da zog Hermione
+aus dem Blütenschwall eine ganze Handvoll der märchenhaften,
+hundertstrahligen Blumensterne und steckte sie an
+ihre Brust, um sich dann erst mit feierlichem Lächeln im
+tiefen Hofknix zu neigen gegen die Proszeniumsloge vorn
+links vom Schauspieler ...</p>
+
+<p class="start-chapA space-above">Also Hans Thumser durfte statieren &mdash; mit hoher Genehmigung
+des Herrn Ersten Chargierten. Er ging
+sonach eines Morgens um zehn nach dem Fechtboden zum
+Bureau des Carolatheaters und meldete sich als Statist
+für »Wallensteins Tod«. Er wurde sofort und freundlich
+angenommen. Denn es war hier wie immer und überall:
+Nach den ersten Tagen der Begeisterung waren von den
+angeworbenen und mühsam eingedrillten Komparsen
+viele Dutzende abgefallen, hatten sich schriftlich entschuldigt
+oder waren einfach weggeblieben. Er mußte gleich in die
+Probe. Es handelte sich nur um zwei Szenen: die große
+Kürassierszene am Schluß des dritten Aktes und die Mordszene
+am Ende des fünften.</p>
+
+<p>Vom Bureau aus schickte man Hans Thumser auf die
+Bühne. Aber den Weg mußte er sich selber suchen und
+erfragen. Er wurde durch sechs bis acht verschiedene
+Türen gewiesen, kam sechs- bis achtmal an das weglose
+Ende dunkler, verschlossener Korridore, stieß sich die
+Schienbeine wund an allerhand unbeschreiblichen, geheimnisvollen
+Gegenständen, welche in der Finsternis
+herumstanden ... Endlich fand er ein eisernes Pförtchen,
+an dem in Weiß die Aufschrift stand: Zur Bühne ... und
+voll Ehrfurcht trat er in einen hohen, frostigen Raum,
+in dem im halben Tageslicht ein Gewirr von hölzernen
+Lattenrahmen, mit grauer Leinwand überspannt, erkennbar
+war. An diesen Wänden war vielfach die aufgepinselte
+Inschrift zu erkennen: »W.&#x202f;T.&#x202f;III. Saal.«</p>
+
+<p>Man wies ihn an, eine hohe bretterne Treppe hinanzuklimmen,
+auf deren oberem Podest er plötzlich ein seltsames
+Schauspiel sah: eine Wand wie ein riesiges, aus
+zahllosen kleinen Scheiben bestehendes Fenster, hinter dem
+der Treppenpodest wie eine lange Galerie sich hinzog.
+Das Glasfenster lief jenseits der Treppe in eine eichene
+Tür aus, von der aus dann eine andere Treppe zum
+Bühnenpodium hinunterführte ... Diese Treppe aber
+war im Bogen geschweift und aus massivem, dunkelgebeiztem
+Eichenholz mit schwerem Renaissancegeländer
+&mdash; wenigstens sah sie so aus. Unten ein dunkler, wuchtiger
+Saal mit Kamin, Gobelins, gepolsterten Bänken an den
+Wänden, und da standen an siebenzig jüngere Männer
+und lauschten andächtig der Instruktion des Oberregisseurs
+Burg.</p>
+
+<p>»Aha &mdash; noch 'n Kürassier?« unterbrach dieser seinen
+Vortrag. »Kennen Sie 'n Wallenstein?«</p>
+
+<p>»Auswendig ...«</p>
+
+<p>»Um so besser ...</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Geselle Dich zu uns &mdash; komm hier!<br /></span>
+<span class="i0">Es ist ein pudelnärrisch Tier ...«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Also bitte weiter zu hören, meine Herren. Ihr wollt
+Euren geliebten Oberst Max &mdash; hier steht er, Barthel ist
+sein Name, Alexander Barthel, na, Ihr werdet doch unsern
+großen, schönen Alexander kennen?«</p>
+
+<p>»Ja! ja!« murmelten die Kürassiere mit Begeisterung.</p>
+
+<p>»Also den wollt Ihr dem Friedländer &mdash; das heißt
+mir! &mdash; entreißen ... Ihr bildet Euch nämlich ein, ich
+hielte ihn in Gefangenschaft. Einzeln, truppweise strömt
+Ihr herein, und wie Ihr in den Saal kommt, seht Ihr
+etwas ganz Unerwartetes: Euer Kommandeur ist nicht
+gefesselt, sondern frei: nicht ich halte ihn, sondern etwas
+anderes, der stärkste Magnet, den es gibt, natürlich ein
+Frauenzimmer: die da, meine Tochter Jucunda, ich wollte
+sagen Thekla ...«</p>
+
+<p>Ein weißer Schatten im halbdunklen Raum: sie, die
+Erträumte, von tausend Sehnsuchtsgedanken Umschwärmte,
+die Verkörperung des Mädchenideals deutscher
+Jugend im neunten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts
+... da stand sie im fußfreien grauen Rock, eine
+schlichte graue Bluse um den festen Oberkörper ...</p>
+
+<p>»Nun stutzt natürlich jede Gruppe,« fuhr der Oberregisseur
+in seiner Instruktion fort, »und es verstummen
+die Rufe, mit denen Ihr einander angefeuert ... Die
+erstaunten Blicke gehen von ihm zu mir, von mir zu ihr
+&mdash; befangen flüstert einer dem andern zu, was er sich bei
+der Sache denken mag ... und so steht Ihr schweigend,
+mit gesenkten Schwertern ... nichts ist vernehmbar, als
+das leise Rascheln der eisernen Rüstungen &mdash; bis Euer
+Führer sich an Euch wendet und Euch warnt, ihm zu
+folgen. &mdash; Schlagen Sie an, Barthel!«</p>
+
+<p>Und der schöne Alexander trat einen halben Schritt
+vor, sprach lächelnd, mit halber Stimme:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Bedenket, was ihr tut! Es ist nicht wohlgetan,<br /></span>
+<span class="i0">Zum Führer den Verzweifelten zu wählen &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">Ihr reißt mich weg von meinem Glück &mdash; wohlan,<br /></span>
+<span class="i0">Der Rachegöttin weih' ich Eure Seelen ...«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>»Bitte halt!« unterbrach Burg. »In diesem Augenblick
+richtet sich jeder auf, die Augen blitzen mutig den
+Führer an: Herr befiehl! Wir sind Dein &mdash; führ' uns in
+die Schlacht, führ' uns in den Tod, wir folgen Dir ...
+Das geht wie ein Ruck durch die ganze eisenstarrende Gesellschaft
+durch, versteht Ihr? Und nun weiter, Barthel!«</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Ihr habt gewählt zu eigenem Verderben &mdash;<br /></span>
+<span class="i0">wer mit mir geht, der sei bereit zu sterben!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>so schmetterte der schöne Barthel heraus, berauscht von
+der klingenden Herrlichkeit seines erzenen Organs.</p>
+
+<p>»So &mdash; und auf dies Wort wirft er sich herum und
+stürzt sich in Eure Mitte &mdash; mit einem einzigen Aufschrei
+des Jubels, des wilden, todbereiten Jubels umringt Ihr
+ihn, so daß die Eisenmasse ihn gewissermaßen einschluckt,
+die Schwerter schießen in die Höhe wie eine schäumende
+Flut, die über seinem Helmbusch zusammenschlägt ...
+Noch einmal taucht er auf, als er in Eurer Schar die
+Treppe hinaufstürzt, Ihr hinter ihm drein; der Schwall
+wälzt sich durch die Galerie, im Gedränge werden ein
+paar Glasscheiben eingestoßen und klirren schneidend in
+das Getös des Sterbejauchzens, der Hörner hinein, die
+von drunten zum letzten Kampfe werben &mdash; und denn
+Vorhang und aus!«</p>
+
+<p>Mit sprühenden Augen, mit langhin malenden Gesten
+seiner hageren Arme hatte der Oberregisseur die ganze
+ungeheure Szene aufgebaut vor den Augen der
+lauschenden Statistenlehrlinge ... die brachen nun in
+lauten Beifall aus, als ihr Meister aus der hinreißenden
+Beredsamkeit in einen trockenen Ulkton am Schluß fiel ...</p>
+
+<p>»So, Herrschaften, nun zählt mal von vorne nach
+hinten ab, und jeder merke sich genau seine Zahl!«</p>
+
+<p>Dann wurden die zweiundsiebenzig in sieben Gruppen
+eingeteilt nach der Nummer, und jede bekam ihr Stichwort
+zugeteilt ... »Scheidet &mdash; Gott!« hieß dasjenige für
+die erste Gruppe &mdash; »Dein ewig teures und verehrtes
+Antlitz« das für die zweite &mdash; und so fort. Und dann
+mußten sie alle über die breite Renaissancetreppe zurück &mdash;
+»damit Ihr Euch an die Stufen gewöhnt,« &mdash; und draußen
+in der Dunkelheit wurden sie vom Inspizienten zu einzelnen
+Klumpen zusammengeballt und aufgestellt ...</p>
+
+<p>»Sind Sie fertig, Ruperti?« klang dann Burgs
+Stimme von drinnen. »Ja? Na dann bitte &mdash; ich fange
+an: Dreiundzwanzigster Auftritt, ich komme mit Illo und
+Buttler die Treppe hinunter &mdash;«</p>
+
+<p>Und nun herrenhaft, mit grollendem Erzklang in der
+Stimme. »Terzky!«</p>
+
+<p>»Mein Fürst!« antwortete drinnen eine andere
+Stimme, erregt, geschmeidig &mdash;</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i28">»Laß unsre Regimenter<br /></span>
+<span class="i0">Sich fertig halten, heut noch aufzubrechen,<br /></span>
+<span class="i0">Denn wir verlassen Pilsen noch vor Abend ...«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Und auf einmal war alles im Fluß. Der Zauber
+wirkte, der ungeheure, dem einst der zitternde Knabe erlegen
+war, im Barmer Stadttheater, auf dem Eckplatz des
+zweiten Ranges ... nur daß der Jüngling nun hineinschaute
+in das Innere des komplizierten Mechanismus,
+der das Wunder wirkte ... und eine dumpfe Sehnsucht
+sprang auf &mdash; diesen geheimnisvollen Apparat einmal
+aus eigener Machtvollkommenheit heraus zum Funktionieren
+zu bringen ...</p>
+
+<p>Gott ... welch ein Gedanke ... selbst einmal etwas
+zu schaffen aus der Magie des eigenen Innern heraus ...
+etwas, das die hundert Geister dieses dunklen Heerbannes
+zur Tat, zur Heeresfolge zwingen könnte ...</p>
+
+<p>Scheuer Knabentraum, bist du mehr als nur ein
+Traum &mdash; bist du die mystische Vorahnung kommender
+Kraft, der Vorklang künftigen Schicksals?!</p>
+
+<p>Und Gruppe auf Gruppe der jungen Männer wurde
+vom Inspizienten losgelassen, tobte die Treppe hinauf,
+erstarrte droben in staunender Verständnislosigkeit, schob
+sich dann scheu und verhalten drüben die breite Treppe
+hinunter in den Saal, wo Max Piccolominis todgeweihte
+Liebe ihren letzten Verzweiflungskampf mit dem Dämon
+der Eidespflicht ausfocht ...</p>
+
+<p>Freilich, manchesmal empfing sie drunten ein Hohngelächter
+des Spielleiters.</p>
+
+<p>»Ne, Kinder, so geht das nicht &mdash; Ihr seid ja keine
+Verbrecherbande ... Ihr macht ja auf einmal Gesichter,
+als hättet Ihr alle einen Sack silberne Löffel gestohlen!
+Ihr seid Soldaten, wüste Kerle, schlichte Burschen, die
+nicht recht verstehen, weshalb man eines Mädels wegen
+soviel Umstände macht ... dazu ein Rest von Scheu vor
+dem geliebten, gefürchteten Auge Eures Feldherrn, 'das
+Eure Sonne war in heißer Schlacht' &mdash; aber vor allem
+doch Trotz, Empörertrotz, verhalten, verbissen, gedämpft,
+aber Entsetzen einflößend, Schauer aushauchend, kalt wie
+das blanke Eisen in Eurer Faust &mdash; so will ich's haben,
+so hat der Schiller sich's gedacht!«</p>
+
+<p>Das alles klang nur durch die bemalten Lappen hindurch
+an Hans Thumsers Ohr. Denn er gehörte ja zur
+allerletzten Gruppe ... er würde nicht viel mehr zu sehen
+bekommen ... und er ahnte nur die Gegenwart des
+Mädchens, um dessen Bild all seine Gedanken kreisten,
+ihr Bild, das ihm die Seele dieser wundersamen Kunst
+erschien, die aus Schein und Flitter das ungeheure Widerspiel
+des Lebens webt, wahrer als alle Wirklichkeit, tiefer
+als alles reale Erdengeschehen ...</p>
+
+<p>Als er so in stummem Lauschen den Gang der
+gigantischen Maschine verfolgte, die das werdende Werk
+schuf &mdash; da sah er plötzlich aus der Gruppe sechs ein
+Augenpaar mit hartem, feindlichem Ausdruck zu sich
+herüberblitzen. Es waren Valentin Pilgrams Augen ...</p>
+
+<p>Im Nu war er an der Seite des einstigen Korpsbruders.</p>
+
+<p>»Pilgram, Du? Also endlich ... endlich seh' ich Dich
+mal wieder ...«</p>
+
+<p>»Hm ... hat Dir wohl wenig dran gelegen &mdash; sonst
+hättest Du das Vergnügen früher haben können ...«</p>
+
+<p>»Hast ganz recht, es ist meine Schuld ... es ist ein
+Skandal, daß ich mich so gar nicht um Dich gekümmert
+habe ... Aber wenn Du wüßtest ... ich will mich auch
+bessern, sei mir nicht bös ... Und nun sag' nur, wie
+kommst Du hierher?«</p>
+
+<p>»Das könnte ich Dich fragen,« sagte Pilgram hart.</p>
+
+<p>»Nu &mdash; ich ... Du weißt doch, daß ich Dich selber
+seinerzeit schon um Erlaubnis gebeten hatte &mdash; Du wolltest
+nicht ... Na, nun haben wir den Volkner, der ... denkt
+ein bißchen anders über solche Sachen ...«</p>
+
+<p>»Jawohl ... und seid mich glücklich los ... gratuliere.«</p>
+
+<p>»Aber Pilgram! Du weißt doch, wie furchtbar leid
+es uns allen getan hat ...«</p>
+
+<p>»Dir auch?!« fragte Pilgram finster.</p>
+
+<p>»Ich versteh Dich nicht, Pilgram ... so wie Du und
+ich doch immer miteinander gestanden haben ...«</p>
+
+<p>»Hm ... wenn Deine korpsbrüderlichen Gefühle für
+mich ... echt gewesen wären ... dann hätten sie sich wohl
+ein bißchen besser gehalten ...«</p>
+
+<p>»Aber Pilgram &mdash;!«</p>
+
+<p>»Ruhe, meine Herren!« fuhr der Inspizient dazwischen.
+»Sie da, Sie gehören doch überhaupt zur Gruppe sieben
+&mdash; nu bleiben Sie gefälligst aber auch bei Ihrem Haufen!
+Ausquatschen können Sie sich ja genügend, wenn's hier
+aus geworden ist!«</p>
+
+<p>»Wir sprechen uns noch!« sagte Thumser und trat zu
+seiner Gruppe zurück.</p>
+
+<p>Himmel &mdash; was hatte der Pilgram nur? Und wie
+schrecklich er sich verändert hatte in den wenigen Tagen
+seit seinem Austritt aus dem Korps ... Die Augen, tiefumrändert,
+waren in ihre Höhlen gesunken ... der sonst
+so peinlich korrekte Anzug vernachlässigt ... die früher
+straffen und sicheren Bewegungen unruhig und zerfahren
+...</p>
+
+<p>Und Valentin Pilgram fragte sich: Wie ist es möglich,
+daß ich es bis heute ausgehalten habe, diesen falschen
+Hund nicht zu stellen? &mdash; Es kann ja nur sein böses Gewissen
+sein, das ihn von mir ferngehalten hat ... alle
+die Tage, die zwei Wochen seit ... damals ...</p>
+
+<p>Ha, warum hatte er's nicht getan? Aus Furcht vor ...
+einer neuen Uebereilung ... einer neuen Blamage ...</p>
+
+<p>Daß Thumser seine Hand in dem schändlichen Spiele
+gehabt haben müsse, das man ihm gespielt, das war ja
+klar. Der Briefbogen mit dem Frankenzirkel und dem
+H.&#x202f;T. auf der Rückseite und mit Jucundas Absagebrief
+auf der Vorderseite &mdash; das war ja doch ein untrüglicher
+Beweis. Mit Jucundas Absagebrief! Ja, ein Absagebrief,
+das war's, und nichts andres! Die glatten,
+gleißnerischen Dankesworte, ihn, den Desillusionierten,
+blendeten sie nicht mehr. Er verstand, sie hatte ihn verleugnet,
+er hatte sie verloren. Aber wie kam der andere
+dazu? Welche Rolle hatte er gespielt in dem Gewirr von
+Ränken und Tücken, von denen Valentin Pilgram sich
+umstrickt sah? Das war nicht zu erraten und nicht zu
+erfahren ... Und aufs Geratewohl abermals unbedacht
+zufahren mit einem züchtigenden Wort, einem rächenden
+Schlag &mdash; Valentin Pilgram besaß nicht mehr die frühere
+Sicherheit des Handelns, seit sein Instinkt ihn so schmählich
+in die Irre, in die Wirrnis, in die lächerliche Don-Quichottiade
+hineingestoßen hatte. So hatte er von einem
+zum andern Tage gewartet und gewartet in der dumpfen
+Hoffnung, daß irgend etwas sich ereignen würde, das
+ihm Klarheit gäbe ... Er hatte auf ein Wiedersehen mit
+Jucunda, auf einen Besuch Thumsers gehofft, auf eine
+Aussprache mit ihr und mit ihm, in deren Verlauf er
+brüsk und kategorisch die Frage hätte stellen können: Wie
+war das möglich? Wie ist dieser Brief auf dieses Blatt
+geraten? Erklärt mir den Zusammenhang, zerstreut
+meinen grausamen Verdacht und bekennt, bekennt und
+empfangt den Lohn, den Euer Verrat verdient!</p>
+
+<p>Aber nichts von alledem war geschehen. So häufig er
+den teilnahmsvollen Besuch seiner ehemaligen Korpsbrüder
+erhielt, so oft er mit ihnen am dritten Orte zusammentraf
+&mdash; der schlanke Fuchsmajor blieb aus. Und Jucunda?
+Sie war wie aus der Welt verschwunden. Wohl hörte er
+abends ihr Heimkommen aus dem Theater, ihr herzhaftes
+Gähnen, den energischen Plumps, mit dem sie sich arbeitsmüde
+auf ihr krachendes Bettchen warf, und nachts, wenn
+er sich schlaflos auf seinem Lager wälzte, ihr geruhsames,
+selbstzufriedenes Schnarchen ... denn bei Gott, sie
+schnarchte wie ein Mann ... Und morgens vernahm
+er wohl, wie sie leise ihre Rollen repetierte. Ach, wie
+gern hätte er noch einmal den sonoren Alt in seinem
+vollen Glanze von da drüben schmettern gehört! Aber
+sie hatte einen Flor über ihr Organ gebreitet, und er
+fühlte, das war die Scheu vor ihm. Und die gleiche Scheu
+mußte es sein, unter deren Druck sie es darauf anlegte,
+ihm um jeden Preis aus dem Wege zu gehen. Es war,
+als überwache sie sein Gehen und Kommen und richte
+ihre eigenen Ausgänge, ihre Rückkunft danach ein. Oft
+legte er es geradezu darauf an, mit ihr im Korridor, auf
+der Treppe zusammenzutreffen, aber wie ein Geist war
+sie dann von hinnen gehuscht, hinter irgend einer Tür
+verschwunden, die Treppe hinuntergeschnurrt ...</p>
+
+<p>Der tolle Wirrwarr von Wut und Sehnsucht, von
+Ekel und Hingebung, in dem seine Tage, seine Nächte
+dahinrannen, trieb ihn immer und immer wieder ins
+Theater. Und dann sah und hörte er nichts von dem
+Stück &mdash; er sah, er fühlte, er träumte nur Jucunda. In
+welcher Gestalt, welcher Maske, welchem Gewande sie auf
+der Bühne stand, ihm galt es gleich. Er sah nicht die
+Künstlerin, er sah nur das Mädchen, dem seine Seele wie
+sein Leben verfallen war. Fiebernd, stumpfsinnig harrend
+ließ er die Auftritte an sich vorübergehen, bis sie erschien.
+Von folternden Schmerzen zermartert und doch an ihr
+Bild gebannt, weit vorgebeugten Oberkörpers, verfolgte
+er jeden Schritt, jede Bewegung, bis sie wieder die Bühne
+verließ oder der Vorhang fiel &mdash; er hätte seinen Nachbarn
+an die Kehle fahren können, wenn sie fanatisch Beifall
+trampelten, wenn sie wie toll ihr »Buchner! Buchner!«
+riefen ... Und wenn's zu Ende war, dann stand er
+draußen unter der harrenden Rotte der Verehrer, den
+Kragen seines Paletots hoch aufgeklappt, den Hut tief in
+die Stirn geschoben, sah sie vorüberschweben und mit
+königlicher Gnade ein Lächeln rechts, ein Lächeln links
+verteilen, atmete tief und stöhnend auf, wenn der Wagenschlag
+klappte, die Pferde anzogen ... Wenn aber nach
+der Premiere die schäumende Begeisterung der Jugend
+abermals den gewohnten Triumphzug entfesselte, dann
+stellte sich Valentin Pilgram inmitten derer auf, die von
+hinten Jucundas Wagen schoben, und arbeitete im
+Schweiße seines Angesichts. Dann war ihm am wohlsten,
+dann fühlte er sich ihr am nächsten ...</p>
+
+<p>Und als er eines Tages auf den Anschlagsäulen ersah,
+daß der »Wallenstein« in Vorbereitung sei, da fiel ihm
+Thumsers Bitte ein, in diesem Stücke mit statieren zu
+dürfen. Damals hatte er als Senior diese Bitte abgeschlagen,
+nun nickte er sich selbst ein bitter lächelndes Ja,
+als eine Stimme in ihm befahl, er solle sich in die Schar
+der Pappenheimer Kürassiere mischen, um den Geliebten
+aus Theklas Armen und in den Schwertertod hineinzureißen
+... Und so war er nun hier, in dieser pappdeckelnen,
+bretternen Trödelwand. Nie hätte er sich's
+träumen lassen ... Nun war er, der weiland Erste Franconias,
+ein Statist in Gruppe sechs ...</p>
+
+<p>Die Probe ging ihren Gang.</p>
+
+<p>Wie eines Meisters Hände den bildsamen Ton, so
+knetete Franz Burgs zielsichere Regie die Schar der zweiundsiebenzig
+jungen und älteren Männer in eine Horde
+entfesselter Pappenheimscher Soldateska um. Immer
+und immer wieder wurde eine Gruppe nach der andern
+die Treppe hinauf- und hinuntergejagt, jedes Knurren der
+Wut, jedes Aufheulen der Begeisterung wurde einstudiert,
+jede Bewegung, jeder Blick festgelegt und in das tausendmaschige
+Gewebe des farbenleuchtenden Teppichs eingefügt,
+den der Szenenmeister vor dem lauschenden Publikum
+zu entrollen gedachte. Und immer klarer, immer
+überzeugender modellierte sich das Bild des kurzen, erschütternden
+Vorganges heraus, wie die todestrunkene
+Schar der Kürassiere sich ihren Führer aus den Verstrickungen
+der Liebespflicht herausholt und ihn auf schäumender
+Woge hinwegreißt in Tod und Vernichtung.
+Keiner spürte Ermüdung, keiner nahm Anstoß am derbsten
+Poltern, am spitzigsten Spotte des eisernen Mannes, der
+diese Zweiundsiebzig am Drahte seines Willens zappeln
+ließ wie ebensoviel Marionetten.</p>
+
+<p>Und endlich schien's getan: tief aufatmend lachte Franz
+Burg: »So, Herrschaften, ich denk', nun könnt Ihr's, jetzt
+kommt der Tragödie zweiter Teil: Rüstungen verpassen!
+Also Pause zum Verschnaufen und dann gefälligst gruppenweise
+hinauf zur Rüstkammer, dort laßt Ihr Euch die klapprigen
+Konservenbüchsen um den Leib hängen, holt Euch
+Euren Eisentopf und Eure Bratspieße &mdash; und denn geht's
+wieder von vorne los!«</p>
+
+<p>Da leuchteten die ermüdeten Augen der abgejagten
+Schar wieder hell auf. Das hatte ja nur noch gefehlt, das
+Kostüm, das vollendete die Verwandlung, das brachte das
+Letzte an Stimmung, was noch fehlte ... Und während
+die Gruppen zwei bis sieben sich plaudernd und lärmend in
+dem dunklen Hintergrunde des schwarzgähnenden Bühnenraumes
+verloren, kletterte Gruppe eins unter Führung des
+Inspizienten lachend und prustend die hallenden Steintreppen
+hinauf, um droben das Eisengewand der Pappenheimer
+anzulegen.</p>
+
+<p>Hans Thumser hatte sich vergebens den Kopf zerbrochen,
+weshalb wohl der Korpsbruder so maßlos gereizt
+auf ihn sein könne. Himmel ja, er hatte ihn ja unverantwortlich
+vernachlässigt in der letzten Zeit &mdash; aber schließlich
+war das doch kein Grund, ihn dermaßen hundemiserabel
+zu behandeln. Na, man würde nochmals um Entschuldigung
+bitten, und dann müßte der arme Kerl doch
+schließlich Vernunft annehmen. Also, wo steckt er denn
+bloß?</p>
+
+<p>Gruppe sechs &mdash; wo ist Gruppe sechs? jawohl &mdash; alles
+durcheinander gewürfelt, alles wie verschluckt von der
+schwarzen Finsternis dahinten jenseits des Prospekts.</p>
+
+<p>Hans Thumser drängte sich durch die Gruppen der
+»Kürassiere«, rief hin und wieder halblaut Pilgrams
+Namen, aber umsonst, der Freund ließ sich nicht sehen &mdash;
+schließlich postierte er sich unten an der Treppe, die zur
+Rüstkammer hinaufführte. Aber selbst als Gruppe sechs,
+der er angehörte, vom Inspizienten zum Empfang der
+Rüstungen geführt wurde, war Valentin Pilgram nicht
+darunter. Es schien, er wolle sich nicht sehen lassen ...
+und schließlich konnte Hans das am Ende begreifen: er
+war eben böse, weil Hans ihn so schnöde vernachlässigt
+hatte. Nun, das ließ sich am Ende nachholen ...</p>
+
+<p>Und mit ganz wunderlichen Empfindungen ließ sich
+auch Hans Thumser den rasselnden Eisenharnisch der
+Pappenheimer Kürassiere um die geschmeidigen Glieder
+schnallen. Es war ja nur Spiel, nur Mummenschanz &mdash;
+und doch, welch sonderbare Macht lag in diesem starren
+Eisengewand, lag überhaupt im Kostüm! Hans meinte
+ordentlich zu fühlen, wie er ein anderer wurde, wie
+schlichte, rohe und starke Gefühle aus jahrhundertfernen
+Tiefen sich an die Oberfläche seiner Seele drängten, wie
+er verschmolz mit der gepanzerten Schar seiner Gefährten
+...</p>
+
+<p>Und nun hinunter! Die matt erhellten Korridore, der
+stockfinstere Raum hinter dem Prospekt war nun von geheimnisvollem
+Rascheln und Klirren erfüllt. Es war, als
+sei der Geist der Wallensteinschen Soldateska über die</p>
+
+<p>ganze junge Schar gekommen: rauher und härter klangen
+die Stimmen, derber und knapper die Scherze, das Gelächter.</p>
+
+<p>Und von neuem begann die Probe. Teufel! war das
+schwer, sich in diesem niederwuchtenden Gewand, in den
+kolossal steifen Stulpenstiefeln zu bewegen, den mächtigen
+Pallasch mit dem breit ausladenden Stahlkorb nicht
+zwischen die Beine zu bekommen! Und nun gar die
+Treppen hinauf, hinunter! Da verhedderte sich mancher
+in den handlangen stählernen Sporen, stolperte, krachte zu
+Boden und mußte schwerfällig, wie eine Schildkröte, von
+den Kameraden aufgerichtet werden.</p>
+
+<p>Und unten auf dem Podium inmitten des Schloßsaales
+stand Franz Burg und hielt sich beide Seiten vor Lachen ...
+und neben ihm im Halbkreis gruppiert: Thekla, Terzky,
+Illo, Buttler, Max Piccolomini &mdash; und alle lachten sie sich
+schier zu Tode über die stolpernde, prustende, schwitzende
+Kürassiergarde.</p>
+
+<p>Und doch, allmählich klärte sich auch dies neue Chaos.
+Und endlich sagte Franz Burg:</p>
+
+<p>»So, meine Herrschaften, nun fangen wir richtig zu
+probieren an! Also bitte, Kürassiere von der Bühne, die
+Soloherrschaften an ihre Plätze!«</p>
+
+<p>Und abermals stand die harrende Schar der Eisenreiter
+im Hintergrunde zu Füßen der schmalen Holztreppe versammelt
+&mdash; und abermals klang's von drinnen herrenhaft
+in grollendem Erzklang:</p>
+
+<p>
+»Terzky!«<br />
+<span style="margin-left: 4em;">»Mein Fürst!«</span><br />
+<span style="margin-left: 10em;">»Laß unsre Regimenter</span><br />
+Sich fertig halten, heut noch aufzubrechen,<br />
+Denn wir verlassen Pilsen noch vor Abend.«<br />
+</p>
+
+<p>Und Gruppe auf Gruppe erhielt ihr Stichwort, Gruppe
+auf Gruppe klirrte die Treppe hinauf, strudelte die Galerie
+entlang, ergoß sich in den Saal hinab ...</p>
+
+<p>Als aber Gruppe sechs aus dem Finster der Bühnentiefe
+die Treppe hinanstieg, sah Hans Thumser, daß Pilgram
+doch noch vorhanden war. Seine riesige Gestalt,
+sein hartes Herrengesicht standen vortrefflich zu der blanken
+Wehr &mdash; aber kein Blick für den einstigen Korpsbruder ...</p>
+
+<p>Was er nur haben mochte? &mdash; Das war doch Kinderei,
+so offiziell zu tun.</p>
+
+<p>»Also Gruppe sieben!« zischte der Inspizient. »Los!
+Los!«</p>
+
+<p>Und Hans Thumser keucht die schmalen Stufen empor,
+stößt wie die Kameraden rauhe gurgelnde Töne aus,
+stutzt droben am Treppenrande, stutzt und verstummt ...</p>
+
+<p>Aber nicht nur, weil es so probiert ist ... Im gelben
+Lichte der Proberampe sieht er drunten Jucunda Buchners
+schmales Prinzessinnengesicht ... aber jetzt nicht mehr wie
+vorhin, von Lachen und Schelmerei gerötet &mdash; nein, nun
+ist sie plötzlich Thekla, das verzweifelnde Kind, das Liebe,
+Glück, Leben versinken sieht in den eisenschäumenden
+Wogen des Schicksals. So abgrundtief, so herzdurchbohrend
+der Ausdruck des Schmerzes auf ihren tränengefurchten
+Wangen &mdash; Hans Thumser kann den Blick nicht
+lassen von diesem Bild adligen Grams ...</p>
+
+<p>Aber die Masse der Kameraden schiebt ihn vorwärts
+&mdash; und plötzlich fühlt er keinen Boden mehr unter seinen
+Füßen, er strauchelt, schlägt krachend nach vorn, alle
+Glieder knacken &mdash; tausend Feuerräder kreiseln in seinem
+Hirn &mdash; ein lauter Aufschrei übertönt das Knacken und
+Klirren der hundert Eisenringel, die seine Glieder umschlossen
+halten und im Sturz in Schulter und Schienbein
+sich hineinzwängen &mdash; und dann nichts mehr.</p>
+
+<p>Eine hilflose Masse, so war des Studenten Körper die
+fünfundzwanzig Stufen der Freitreppe hinuntergekollert,
+anfangs noch ein wenig aufgehalten durch die Schienbeine
+seiner Vordermänner, dann aber, als alles instinktiv zur
+Seite sprang, ganz hemmungslos. Nun lag er bleich, mit
+geschlossenen Augen am Fuß der Treppe. Die Sturmhaube
+war ihm vom Kopf gefallen und in weiten Sprüngen
+ihm voran in den Saal hineingehüpft. Einen Augenblick
+hatte alles vor Schrecken erstarrt gestanden, nun sprangen
+fünf, sechs der nächststehenden Kürassiere zu und richteten
+den schwerfälligen Körper auf.</p>
+
+<p>Durch den Wall der Geharnischten aber drängte sich
+Jucunda Buchner hindurch. Sie hatte den Jüngling
+straucheln und vornüber stürzen gesehen und in dem
+Augenblick sein Gesicht erkannt, ohne daß sie gleich
+wußte, woher. Nun kniete sie neben dem aufgerichteten
+Oberkörper des Studenten nieder, umfaßte seine Schultern
+und legte seinen zerschundenen Kopf behutsam auf ihr
+Knie. Und da schlug Hans Thumser die Augen auf &mdash;
+und in diesem Augenblick wußte Jucunda, wo sie
+diesen leuchtenden Blick schon einmal gesehen hatte &mdash;
+der junge Poet ... er, neben dessen »schwindelschmalem
+Pfade Abgründe klafften rechts und links« &mdash; nun, in einen
+dieser Abgründe war er nun glücklich hineingeplumpst ...
+freilich, es schien ihm ganz gut bekommen zu sein, denn
+mit einem zufriedenen Lächeln schloß er die erstaunten
+Augen, reckte sich ganz behaglich und machte sich's ordentlich
+bequem auf dem weichen Kissen, auf das er sich gebettet
+fühlte.</p>
+
+<p>Und nun löste sich der allgemeine Schreck in ein befreites
+Aufatmen. Da schlug der Student die Augen abermals
+auf, und nun schien ihm das Komische seiner Situation
+bewußt geworden zu sein: mit einem Ruck richtete
+er den Oberkörper auf, sprang auch sofort auf die Beine
+und reckte die Knochen.</p>
+
+<p>»Na? Kein edlerer Teil entzwei?« fragte der dröhnende
+Baß des Szenenleiters. Hans Thumser versuchte
+sich diejenige Stelle seines Körpers zu reiben, welche bei
+dem Fall am meisten in Mitleidenschaft gezogen war,
+aber das gelang ihm nicht &mdash; sie war zu gut gepanzert ...</p>
+
+<p>Nun brach ein endlos dröhnendes Gelächter aus, dazu
+rasselten die Rüstungen der Pappenheimer, die sich die
+eisenbewehrten Bäuche hielten. Am hellsten aber lachte
+Jucunda. In einer raschen Wallung trat sie auf den
+jungen Burschen zu und klopfte ihm mit beiden Händen
+die glühenden Backen.</p>
+
+<p>»Dunnerwetter!« tönte da aus den Reihen der Kürassiere
+eine neiderfüllte Stimme. »Ich wär' nächstens ooch
+mal de Treppe 'nunner purzeln!«</p>
+
+<p>»Na, ich dächte, nach diesem kleinen Zwischenfall probieren
+wir weiter!« rief Burg, »also alles zurück, meine
+Herrschaften, und noch einmal von vorne!«</p>
+
+<p>Hans Thumser war's nun aber doch zumut, als
+klapperten alle seine Knochen einzeln und lose in dem
+großen Blechtopfe durcheinander, der sie einschloß &mdash; und
+er bat um die Erlaubnis, sie wieder zusammenzusuchen.</p>
+
+<p>Als dies gewährt worden war, trat er vorn an die
+Proberampe und kam neben Jucunda zu stehen. Die lachte
+ihn an und flüsterte ihm zu:</p>
+
+<p>»Ich habe ja so lange nichts mehr von Ihnen gehört &mdash;
+warten Sie nach der Probe auf mich &mdash; ich möchte wissen,
+wie es Ihnen inzwischen ergangen ist!«</p>
+
+<p>Da wurde es Hans Thumser klar, daß er wieder mal
+mehr Glück als Verstand gehabt hatte ...</p>
+
+<p>Noch eine weitere halbe Stunde voll schwitzenden Bemühens
+&mdash; dann war's geschafft. Und nun harrte der
+Student am Bühnenpförtchen seiner Göttin. Er drückte
+sich in den dunklen Schatten der Donnermaschine und ließ
+den Schwall der Geharnischten an sich vorüber strudeln.
+Und endlich kam sie &mdash; kam nicht allein, sondern am Arm
+der majestätischen Kollegin Frau Anna Cederlund, welche
+die Gräfin Terzky spielte. Im ersten Augenblick verließ
+den Studenten der Mut ... Als aber die beiden ragenden
+Frauengestalten an ihm vorüberschritten, ohne ihn zu bemerken,
+da sprach's in ihm: Sei kein Narr! Und er schoß
+aus seiner Finsternis hervor, daß die Frauen ordentlich
+zusammenschraken.</p>
+
+<p>»Gnädigste haben mich zu sprechen befohlen!«</p>
+
+<p>»Ah, sieh da, Herr Dummerle! Nun? Was macht die
+Poesie? Gestatten Sie, Annerl &mdash; Herr Studiosus Dummerle,
+dichtet &mdash; hat immer die Nase in der Luft und
+purzelt deswegen mit Vorliebe die Treppen hinunter &mdash;
+meine Kollegin, Frau Cederlund. Ja, also was fang' ich
+nun mit Ihnen an? Wissen Sie was? Sie könnten ja
+auch mal zu mir zum Tee kommen &mdash; wollen Sie?«</p>
+
+<p>»Darf es heute sein?« antwortete Hans Thumser.</p>
+
+<p>»Aber warum denn nicht? Also um fünf &mdash; soll's
+gelten?«</p>
+
+<p>Hans Thumser konnte sich nur stumm verneigen &mdash;
+tief, tief auf die schlanke Hand, die sich ihm entgegenstreckte
+&mdash; und dann war's vorbei ...</p>
+
+<p>Und wie ein Begnadeter stolperte Hans Thumser die
+hallenden Steintreppen zur Rüstkammer hinauf, um sich
+aus einem Pappenheimer wieder in einen Fuchsmajor
+zu verwandeln. Zwei Minuten aber, nachdem das Eisenpförtchen,
+das vom Bühnenraum zum Garderobenumgang
+führte, hinter ihm zugeklappt war, löste sich aus dem
+Dunkel der Kulissen noch eine zweite Kürassiergestalt los.
+Die einsame Glühbirne, die am Inspizientenpulte brannte,
+beleuchtete ein finstres, verzerrtes Jungmännergesicht
+unter dem tiefschattenden Doppelschirm der Sturmhaube:
+es war das Gesicht des weiland Ersten der Franconia.</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>11.</h2>
+
+<p class="start-chapA">Asta Thöny war ein wenig eingenickt nach dem bescheidenen
+Mittagsmahl, das Frau Wehe ihr aufgetischt.
+Nun fuhr sie empor, flog ans Fenster, steckte den
+glühenden Kopf hinaus und klatschte jubelnd in die Hände,
+als sie die ersten Schneeflocken durch das mürrische Grau
+der Sophienstraße wirbeln sah ...</p>
+
+<p>Köstlich! köstlich! Würde das ein fröhliches Streifen
+werden mit dem geliebten Jungen durch dies wattige Weiß
+hindurch an der graulich gurgelnden Pleiße entlang! Sie
+wußte, wie gut ihr die prachtvolle Sealskingarnitur stand,
+das splendide Andenken ihres Rittmeisters in Gera ...
+Und nun schmückte sie sich nach Herzenslust für den Leipziger
+Freund. Ob er wohl schon daheim war? Sie klopfte
+an die Wand &mdash; keine Antwort. Na, er würde schon nicht
+auf sich warten lassen, um vier Uhr hatte er ja versprochen
+sie zum Spaziergang abzuholen. &mdash; Aber es wurde vier &mdash; und
+kein Hans Thumser! Na, vielleicht war er schon längst
+zu Hause und lag drüben auf seinem Kanapee in den geliebten
+Nachmittagsschlaf versunken. Sie hatte eine Tüte
+Pralinees für ihn gekauft, sie kannte seine schwache Stelle.
+Die steckte sie in die Jackettasche, hüpfte zur Tür hinaus und
+pochte an die seine; da keine Antwort kam, klinkte sie auf
+&mdash; und richtig &mdash; da lag er auf dem Sofa, lang hingestreckt,
+in Hemdsärmeln, das blinkende Korpsband über der
+Weste. Auf Zehen schlich sie heran und hielt ihm die
+duftende Tüte unter die Nase. Da schlug er blinzelnd die
+Augen auf, lachte sie fröhlich an und breitete die Arme
+aus &mdash; mit einem leisen Jauchzen warf sie sich hinein.</p>
+
+<p>Nachdem sie sich satt geküßt, richtete sie sich stramm
+auf und befahl:</p>
+
+<p>»So, nun antreten zum Spaziergang!« (Die militärischen
+Allüren ihrer jüngsten Vergangenheit saßen ihr
+noch in den Gliedern.)</p>
+
+<p>Aber statt des erwarteten Entzückens trat in Hans
+Thumsers Züge plötzlich eine peinliche Befangenheit, und
+ein Erröten stieg ihm langsam in die Augen.</p>
+
+<p>»Nun, was ist Dir?«</p>
+
+<p>»Liebes Kind, ich bin trostlos ... Spaziergang ist
+nicht.«</p>
+
+<p>»Was ist das? Was fällt Dir ein!«</p>
+
+<p>»Ja ... ich ... ja ... ich ... es tut mir entsetzlich
+leid ... aber ... wir haben heute nachmittag C.&#x202f;C. ...«</p>
+
+<p>»Das ist abscheulich, Hans! Wie kommt denn das, was
+ist denn los?! Und ich hatte mich doch so gefreut, habe
+mich so hübsch für Dich gemacht, das hast Du Ungeheuer
+überhaupt noch gar nicht bemerkt!«</p>
+
+<p>»Ob ich das bemerkt habe! ... aber &mdash; es tut mir riesig
+leid, Du weißt, das Korps spaßt nicht.«</p>
+
+<p>Asta sah, daß er ihren Blick vermied &mdash; lügen hatte er
+noch nicht gelernt.</p>
+
+<p>»Du, das mit dem C.&#x202f;C. das ist geschwindelt, da steckt
+was andres dahinter! Beichte!«</p>
+
+<p>»Aber nein ... ganz wahrhaftig, Kind, wir haben
+C.&#x202f;C., Du kannst Dich drauf verlassen.«</p>
+
+<p>»Sieh mich an, Hans &mdash;! Siehst Du, Du kannst es
+nicht &mdash;«</p>
+
+<p>»Aber ja ... ich kann's.«</p>
+
+<p>Nein wahrhaftig, er konnte es nicht.</p>
+
+<p>»Also heraus damit! Was ist los?«</p>
+
+<p>Sie stampfte mit den zierlichen Füßen auf, die in mächtigen
+pelzbesetzten Boots steckten.</p>
+
+<p>Hans kämpfte einen Augenblick, dann sah er ihr gerade
+ins Gesicht mit dem Ausdruck eines trotzigen Buben, der
+sich auf einer Schandtat ertappt sieht:</p>
+
+<p>»Die Buchner hat mich zum Tee geladen.«</p>
+
+<p>»Das ist nicht wahr! Das darf nicht wahr sein!«</p>
+
+<p>»Aber warum soll ich denn nicht auch mal zur Buchner
+zum Tee gehen?«</p>
+
+<p>»Weil Du mir gehörst. Das gibt's nicht. Da wird
+nichts draus.«</p>
+
+<p>»Ich hab's versprochen.«</p>
+
+<p>»Dann bleibst Du eben einfach weg. Die Buchner
+weiß ganz genau, daß Du mein bist. Es ist eine Niedertracht
+von ihr &mdash; ich laß mir's nicht von Dir gefallen!«</p>
+
+<p>»Und ich laß mir's nicht von Dir gefallen, daß Du
+über mich verfügst, wie über ein Spielzeug.«</p>
+
+<p>»Hans, so darfst Du nicht zu mir sprechen, das weißt
+Du auch, daß Du das nicht darfst! Du hast auch ein böses
+Gewissen dabei!«</p>
+
+<p>Hans Thumser ging mit drei raschen Schritten ans
+Fenster und trommelte an die Scheiben. Wahrhaftig, sie
+hatte recht &mdash; es war ihm hundeelend zumute &mdash; nichts
+als Liebes hatte sie ihm getan, weit über Hoffen und
+Träumen hinaus hatte sie ihn glücklich gemacht ... und
+er &mdash; er hatte immer über sie hinweg geträumt von der
+andern.</p>
+
+<p>»Nun, hast Du Dich besonnen &mdash; kommst Du mit mir?«</p>
+
+<p>»Ich kann's nicht ... ich hab's versprochen.«</p>
+
+<p>»Und mir? &mdash; Wem hast Du's zuerst versprochen, mir
+oder ihr?«</p>
+
+<p>»Aber Kindchen, das mußt Du doch einsehen ... daß
+das für mich &mdash; wie soll ich sagen &mdash; daß das für mich
+eine große Sache ist ... schließlich ist sie doch ... die
+Buchner.«</p>
+
+<p>»Ach so &mdash; und ich, ich bin nur die Thöny, die kleine
+Thöny, und sie die große Jucunda! Hansel, das wird Dir
+noch mal leid tun!«</p>
+
+<p>Laut aufweinend stürzte sie hinaus ... die Schleppe
+ihres Pelzjacketts fegte die Pralineetüte vom Tisch, und
+alles kollerte in die Stube. Hans Thumser mußte aufsammeln.
+Dabei glühten seine Backen vor Scham. Es
+war wirklich hundsgemein von ihm, das herzliebe Mädel
+so ruppig zu versetzen &mdash; er fühlte, er hatte sie bis ins
+Tiefste gekränkt. Mit hundert Gewalten zog's ihn hinüber,
+die Tränen von den schönen Augen wegzuküssen, die ihm
+so manche Stunde durchsonnt hatten ... und dann fiel
+sein Blick auf Jucundas Bild, auf das bronzene Heroinenprofil,
+das unterm Helm der Jungfrau so sieghaft leuchtete.
+&mdash; Und er wußte, daß zehn Astas diese Stunde nicht aufwiegen
+würden, die ihm bevorstand.</p>
+
+<p>Er lauschte &mdash; wieder wie in jener ersten Nacht klang
+da drüben jenseits der Doppeltür und der beiden Kleiderschränke,
+die sie verbarrikadierten, das herzerschütternde
+Weinen ... aber diesmal nicht verhalten wie damals &mdash;
+nein &mdash; in wilder leidenschaftlicher Empörung. &mdash; Und
+diese, diese Tränen hatte er auf dem Gewissen ...</p>
+
+<p>Und das war so niederträchtig, so infam: daß man im
+tiefsten Grunde seiner Seele sogar noch etwas wie eine
+Genugtuung empfand über diese Tränen, die man selbst
+verschuldet hatte. War es nicht eigentlich ein verdammt
+stolzes Gefühl, daß man ein Kerl war, um den so heiße
+Mädchentränen fließen konnten?</p>
+
+<p>Hans Thumser warf einen Blick in den Spiegel: also
+so sieht so ein verfluchter Gesell aus, um den ein Mädchen
+wie Asta Thöny &mdash; Tausende würden ihn beneiden um
+so einen süßen Kameraden! &mdash; um den so ein himmelsüßes
+Geschöpf sich quält?</p>
+
+<p>Und mit einem verwegenen Ruck stülpte er die grüne
+Franken-Mütze auf den braunen Schädel und ging zu
+Jucunda Buchner.</p>
+
+<p class="start-chapW space-above">War's nicht eigentlich toll? Hans Thumser war in
+einer ganz niederträchtig vergnügten Stimmung, als
+er durch das wirbelnde Flockengestiebe den Peterssteinweg,
+die Petersstraße hinanschlenderte. Jedem Mädel
+guckte er verwegen, wie er's nie getan, unters Pelzbarett:
+Ja, wenn ihr wüßtet, ihr Leipziger Gänschen &mdash;! Eben
+hab' ich die Asta Thöny geküßt ... die von den Meiningern,
+ihr wißt doch! Und nun &mdash; nun gehe ich zur
+Buchner ... und wer weiß &mdash; wer weiß! So ein Kerl
+bin ich, verflucht nich noch mal!</p>
+
+<p>Als er den schneebepuderten Marktplatz überquerte
+und in die Katharinenstraße einbog, fiel ihm plötzlich ein,
+daß er ja nun endlich den Weg zu Valentin Pilgrams
+Wohnung gefunden habe. Der arme Junge! Ob der wohl
+auch schon mal von Jucunda Buchner zum Tee geladen
+worden war? Wohl schwerlich &mdash; und doch, was alles
+hatte der an dies Mädchen gesetzt ... und er &mdash;? Er hatte
+nichts getan, und alles fiel ihm in den Schoß. Teufel auch
+&mdash; man war eben ein Poet, ein Götterliebling &mdash;! nischt
+wie verdammte Pflicht und Schuldigkeit vom Schicksal!</p>
+
+<p>Ob er den armen Burschen wohl mal aufsuchte?
+Eigentlich hätte sich's gehört ... daß er gekränkt war,
+lag ja auf der Hand nach seinem Benehmen von heut
+morgen ... aber freilich ... erst zu Pilgram gehen und
+dann sich von ihm verabschieden mit der Erklärung, man
+sei zu Jucunda Buchner zum Tee geladen &mdash; das war
+doch wahrhaftig mehr eine Kränkung, wie die Dinge nun
+einmal lagen, als die Erfüllung der längst geschuldeten
+Freundschaftspflicht. Also lassen wir's doch lieber ...</p>
+
+<p>Glücklicherweise, im letzten Augenblick, fiel's ihm ein,
+daß er ja noch ohne Blumen war. Er fand eine Gärtnerei,
+wählte die herrlichsten Rosen, die es gab, und erschrak
+nicht im mindesten, als die Verkäuferin ihm fünf Mark
+abverlangte. Denn diesmal war's ja in der ersten Hälfte
+des Monats und nicht Ultimo, wie damals, als er mit dem
+gepumpten Markstück ein Dahliensträußchen für Asta erstand
+... Und so bewaffnet bis an die Zähne kletterte
+er die wohlbekannten Stufen im dunklen Treppenhause
+empor und zog die gellende Klingel an der Korridortür
+des Kanzleirats Buchner.</p>
+
+<p>Eine stattliche Frau öffnete ihm. Er erkannte in ihr
+sofort Jucundas Begleiterin von jenem ersten Triumphzuge
+wieder. Alle Wetter ja, seine Idee von damals hatte
+Schule gemacht ... das blitzte ihm so durch den Kopf, als
+er seiner Führerin durch den dunklen Korridor folgte, bis
+sie haltmachte und anklopfte.</p>
+
+<p>»Bist Du es, Mutter?« tönte von drinnen die wohlbekannte
+Stimme ... die Stimme, die durch sein Wachen
+und seine Träume klang. So hatte sein junges Herz noch
+niemals an die Rippen gehämmert ... auch nicht bei
+Beginn des Abiturienten-Examens ... auch nicht vor der
+ersten Mensur.</p>
+
+<p>»Hier ist der Herr, wo Du zum Tee hast eingeladen!«</p>
+
+<p>»Herein &mdash; nur herein!«</p>
+
+<p>Die Tür sprang auf, und als dunkle Silhouette gegen
+die schimmernd weißen Vorhänge abgehoben, stand
+Jucunda. Mit ausgestreckten Händen kam sie ihm entgegen:</p>
+
+<p>»Wie freue ich mich! &mdash; Die Poesie bei mir zu Gast ...
+das ist das erstemal. Laß uns allein, Mutter.«</p>
+
+<p>Hans warf einen Blick in der Stube umher. Tausend
+ja, hier sah's anders aus als damals bei Asta. Jucunda,
+das sah er sofort, hatte nicht vergessen, daß sie sein Kommen
+gewünscht &mdash; alles war sorgfältig für seinen Empfang vorbereitet,
+der Tisch zierlich gedeckt und mit Rosen bestreut,
+die Teemaschine dampfte, Zigaretten, Zigarren standen
+bereit, eine gehäufte Schüssel Gebäcks. Und ringsum
+herrschte Ordnung, Sauberkeit, noch mehr: Schönheit ...
+oder doch wenigstens die deutliche Absicht sie hervorzuzaubern
+... überall Blumenarrangements und Körbe
+lebender Pflanzen, an den Wänden die welkenden Lorbeerkränze
+mit riesigen langflutenden goldbedruckten, goldbefransten
+Atlasschleifen. Uebers Bett aber war ein hermelinbesetzter
+Mantel von Purpursamt königlich hingebreitet,
+und ein frischer Strauß tiefdunkelroter Rosen
+lag oben drauf. Alles war abgetönt mit einem naiven
+Sinn für Eleganz und Repräsentation.</p>
+
+<p>Hans Thumser sah nicht, daß die Möbel abgeschabt, die
+Bezüge verschlissen waren, fühlte nicht, daß der Stuhl
+wackelte, auf den er sich setzte, der Tisch, auf dem das Teegeschirr
+brannte ... auch nicht, daß die Tassen gesprungen
+waren, und hier und da gar ein Henkel fehlte ... ihm war
+zumut, als sei er in einem Königsschloß, in einem
+Märchenpalast. Und wie eine Königin erschien ihm auch
+Jucunda. Sie trug ein lang hinschleppendes Spitzenkleid,
+das ihm vorkam wie eine märchenhafte Kostbarkeit &mdash; er
+konnte ja nicht beurteilen, daß es maschinengewebte
+Spitzen waren, nur bestimmt auf die Entfernung zu
+wirken &mdash; er war im Bann, im Traum. Und nur die
+eine Empfindung durchdrang ihn mit wohligen Schauern:
+hier war er erwartet, hier hatte man Staat für ihn gemacht,
+hier wollte man ihn ehren, ihn entzücken.</p>
+
+<p>Er saß ganz still, als Jucundas große, schlanke Hände
+den Tee bereiteten, und sah nichts als das anmutige Spiel
+der elfenbeinfarbenen Arme, die aus den Spitzenärmeln
+hervorlugten:</p>
+
+<p>»Erinnern Sie sich noch, daß wir schon einmal beim
+Tee zusammengesessen haben?«</p>
+
+<p>»Wie können Sie fragen, gnädigstes Fräulein! Ich
+habe seitdem von nichts geträumt, als daß dies einmal
+kommen könnte ... dies, was jetzt ist.«</p>
+
+<p>Jucunda stellte den dampfenden Tee vor ihn hin, sah
+ihn von oben her mit ironischem Lächeln an und fragte:</p>
+
+<p>»Und Asta?! Haben Sie die Courage gehabt, ihr zu
+verraten, daß Sie heute bei mir sind?«</p>
+
+<p>»Warum sollte ich nicht? Das ist doch nicht verboten!«</p>
+
+<p>»Nun, und was sagte sie?«</p>
+
+<p>Hans wurde rot. Ob Asta geschwatzt hatte? Ob
+Jucunda wußte, wie er mit ihr stand?</p>
+
+<p>»Sehen Sie wohl,« lachte das Mädchen, »Sie können
+nicht antworten &mdash; Sie haben Schelte bekommen &mdash;!
+Dacht' ich mir's doch.«</p>
+
+<p>»Ich wüßte nicht, daß irgend jemand das Recht hätte
+mich zu schelten,« sagte der Student etwas kleinlaut und
+trotzig.</p>
+
+<p>»Sagen Sie das nicht!« sagte Jucunda. »Wohltun
+verpflichtet &mdash; oder ist die ... Episode schon zu Ende?«</p>
+
+<p>»Welche Episode?«</p>
+
+<p>»Fragen Sie nicht so dumm!«</p>
+
+<p>Hans Thumser sah sich durchschaut. Aber wenn
+Jucunda doch wußte, daß Asta immerhin doch gewisse ...
+Ansprüche geltend machen konnte ... warum hatte sie ihn
+geladen, was wollte sie von ihm? Er richtete sich auf:</p>
+
+<p>»Gnädiges Fräulein, ich glaube nicht, daß Sie mich zu
+sich gebeten haben, um mir klar zu machen, daß ich eigentlich
+wo anders hingehörte.«</p>
+
+<p>»Da haben Sie recht,« lachte die Schauspielerin, »Sie
+sind nun einmal hier, nun seien Sie's auch ganz. Asta
+ist tot, es lebe Jucunda, nicht wahr?«</p>
+
+<p>Sie streckte ihm die Fingerspitzen hin, er neigte sich
+darüber.</p>
+
+<p>»Nun, blaue Flecke von heute morgen?«</p>
+
+<p>»An allen Gliedern!« gestand Hans. »Na, irgend
+etwas muß der Mensch doch schließlich tun, um eine solche
+Stunde zu verdienen.«</p>
+
+<p>»O, seien Sie nur ruhig, man wird von Ihnen vielleicht
+noch mehr verlangen!«</p>
+
+<p>»Verlangen Sie.«</p>
+
+<p>»Was macht Ihr Korpsbruder Pilgram?«</p>
+
+<p>»Mein ... früherer Korpsbruder, wollten Sie sagen.«</p>
+
+<p>»Hm ... er tut mir so leid, aber ich habe ihm nicht
+helfen können, er hatte es gar zu eilig, sich in die Bredouille
+zu stürzen &mdash; also, was treibt er? Erzählen Sie!«</p>
+
+<p>»Ja, haben Sie ihn denn heute morgen nicht bemerkt?«</p>
+
+<p>»Wo? doch nicht etwa auch unter den Kürassieren?«</p>
+
+<p>»Gewiß! der Längste und Schönste unter den Pappenheimern.«</p>
+
+<p>»Nein wahrhaftig &mdash; er ist mir nicht aufgefallen! Er
+hat sich ja auch nicht so bemerkbar gemacht wie Sie!«</p>
+
+<p>»Ja, es hat eben nicht jeder den Dusel, über fünfundzwanzig
+Treppenstufen Ihnen geradewegs vor die Füße
+zu kollern.«</p>
+
+<p>»Wie denkt er denn über mich und &mdash; über die ganze
+Affäre?«</p>
+
+<p>»Das weiß ich nicht. Ich schäme mich es zu gestehen,
+aber ich sah ihn seitdem nicht mehr &mdash; meine Schuld &mdash;
+doch was will ich machen? Wenn ich nicht Franke bin, so
+bin ich Meininger, in jeder Stunde, Tag und Nacht. Ach,
+gnädigstes Fräulein, ich habe nie gedacht, daß es so etwas
+gäbe, daß man sich so ganz verlieren, so ganz vergessen
+kann! Ich lebe wie im Fieber &mdash; mir ist, als hätte ich
+Flügel &mdash; ich möchte tausend Augen, tausendfache Sinne
+haben, um all das festzuhalten, was in mir strudelt und
+braust. Was für Hexenmeister seid Ihr: alles, was ich
+ahnte, wenn ich in meinem Knabenstübchen die großen
+Dichter las, ist Leben geworden, Wirklichkeit, Erfüllung ...
+Und damit nicht genug, ich selber, ich schaue nicht nur, ich
+selber stehe mitten drin, in all dem Schwall &mdash; ein Strom
+von Glück und Sehnsucht braust unter mir und wirbelt
+mich auf und nieder. Wo soll ich hin mit all dem Drang
+&mdash; wo soll ich hin?!«</p>
+
+<p>Lächelnd hob Jucunda die Hand und streichelte die
+glühenden Wangen des Jünglings, wie sie es heut morgen
+im Theater getan.</p>
+
+<p>»Sie Dichter!« sagte sie, »Sie Dichter &mdash;! Lassen Sie
+es doch brodeln und gären, lassen Sie's doch! Machen Sie
+Gedichte daraus, schön wie das, welches Sie mir damals
+sprachen ... so schön und schöner noch!«</p>
+
+<p>»Ja,« sagte er, »das will ich tun ... später einmal,
+später, wenn alles das vorüber ist ... denn ich weiß ja,
+es währt nicht ewig ... acht Tage noch, dann zieht Ihr
+fort ... und ich bin wieder, was ich war &mdash; ein armes
+Studentlein, Franconiae Fuchsmajor, einer von Tausenden
+&mdash; und um mich ist wieder nichts als Bier und klirrende
+Speere und Drogenwelt und die Dutzendgesichter
+meiner Kommilitonen &mdash; o Gott! wie soll ich das ertragen!
+Ich weiß, ich werde irgendeine Dummheit machen &mdash; ich
+laufe fort, in die weite Welt, dahin, wo Ihr seid &mdash; wo
+Sie sind, Sie wunderbarer Mensch &mdash; Sie Zauberin!«</p>
+
+<p>»Das werden Sie nicht tun!« sagte Jucunda. »Ich
+weiß, daß Sie das nicht tun werden &mdash; ich weiß, Sie werden
+dann stille Stunden der Besinnung haben ... es wird
+Ihnen werden, wie es denen gewesen ist, deren Verse,
+deren Szenen wir abends sagen und gestalten. Sie werden
+dichten &mdash; glauben Sie's mir.«</p>
+
+<p>»Ach, wenn das wahr wäre &mdash; wenn das möglich sein
+könnte!«</p>
+
+<p>»Es wird so sein,« sagte Jucunda. Ihre Stimme war
+weich, ihre blauen Augen hingen an den braunen des
+Knaben. Soviel lebendige Dichter hatte sie nun schon gesehen
+in ihrem Leben: was waren das alles für reservierte,
+verbrauchte, zermürbte, grauköpfige Herren gewesen
+&mdash; wie hatten sie gezittert hinter den Kulissen, wenn
+ihre Stücke vom Stapel gingen, da draußen &mdash; wie hatten
+sie ängstlich auf den Applaus gelauert, wenn der Vorhang
+sank, wie hilflos sich hinausziehen lassen ins blendende
+Rampenlicht, um sich linkisch und schweratmend nach dem
+schwarz gähnenden Zuschauerraum hin zu verneigen, wo
+das Publikum über das Schicksal ihrer Schöpfungen entschied!
+&mdash; Dieser hier war noch ganz Poet, er wußte noch
+nichts von all dem Gräßlichen, das auf ihn wartete hinter
+den grauen Schleiern, die seine Zukunft verhüllten, ihn
+trennten von diesem schauderhaften Leben des angstvollen
+Ringens um Erfolg, um Gold und Lorbeer, in das sie
+selbst, die Achtzehnjährige, schon so tiefe Blicke hineingetan.
+In ihm sprudelten noch ganz ungetrübt die heiligen
+Quellen der Phantasie, darinnen Sonn' und alle
+Sterne sich spiegelten ...</p>
+
+<p>Einen Augenblick war's ganz still im Zimmer &mdash; der
+Tee wurde kalt in den Tassen, und sein Duft mengte sich
+mit dem Rosenhauch, mit den blauen Wölkchen der Zigaretten,
+die durch die Stube kräuselten. Von der Straße
+her fiel der erste Laternenschein in die umdunkelte Stube
+und ließ die goldigen Schriften der Kranzschleifen matt
+aufglimmern. &mdash; Mit langsamen Bewegungen stand
+Jucunda auf, um Licht zu machen.</p>
+
+<p>»Nicht doch,« wehrte Hans &mdash; »nicht Licht machen ...
+es ist so schön so.«</p>
+
+<p>»Aber anders ist es besser!« sagte Jucunda mit leisem
+Lächeln und entzündete die Lampe. Und wieder ließ sie
+sich in das Sofa fallen und neigte den flechtenbeschwerten
+Kopf auf die Lehne zurück.</p>
+
+<p>Wie seltsam das doch war &mdash;! Sie kannte so viel
+Männer von Geist und Rang ... wie kam's, daß ihr heut
+zumut war wie nie zuvor &mdash;? War's die Kraft, die ungebrochene,
+die ihrer selbst noch unbewußte, die sie ahnte
+in den Tiefen dieser empor sich ringenden Seele? War's
+die edlere Rasse, die sie witterte, sie, das Kind einer enggebundenen
+Welt, einer Welt ohne Schwung und Größe?
+Sie war Künstlerin genug, dies alles zu ahnen, was in
+dem jungen Menschen da vor ihr wirkte und wallte ...</p>
+
+<p>Und Hans fragte sich immer wieder im stillen, ob das
+denn wahr, ob das denn möglich sei ... ob das Leben
+wirklich so schön sein könne, so maßlos reiche Gaben
+spende ...</p>
+
+<p>Still war's. Von der Katharinenstraße heraus klapperten
+behäbig trottende Pferdehufe, der Schritt der Fußgänger,
+die von ihrer Arbeit heimwärts steuerten.</p>
+
+<p>»Wie gut,« sagte Jucunda, »daß ich heut abend mal
+ausnahmsweise nicht spiele, so gehört uns diese Stunde
+wenigstens ganz!«</p>
+
+<p>»Und wehe dem, der kommen wollte sie uns zu stören
+&mdash; Sie wissen das alles ja gar nicht &mdash; Sie wissen nicht,
+was das alles mir bedeutet, was Sie mir bedeuten &mdash; ich
+weiß es selber erst seit wenig Augenblicken. Ich denke
+zurück an zwei Abende meiner Jugend, die der Wendepunkt
+waren, ich fühle es nun. Ihr spieltet daheim, in
+dem alten engen Stadttheater an der Rathausbrücke &mdash;
+Sie waren eben entdeckt worden, ein märchenhaft aufleuchtender
+Stern &mdash; und ich, ein sehnsüchtiger Primaner
+droben auf dem zweiten Rang im »Wallenstein« &mdash; Sie
+drunten als Thekla mit der Laute in den rotsamtnen
+Vorhang geschmiegt, weißleuchtend abgehoben von dem
+riesigen Glasfenster, durch das die sternlose Nacht hineingähnte.
+Sie sangen Ihr Lied, Sie wissen's ja &mdash; Sie
+singen's übermorgen wieder &mdash; Und wissen Sie, wie ich
+Sie empfand? Sie waren die leuchtende Seele des gigantischen
+Gedichts, Sie waren die Schönheit, die versinken
+muß unterm erbarmungslosen Schritte des Schicksals &mdash;
+Sie waren die Tugend, die zermalmt wird von den geifernden
+Kinnbacken des Verbrechens, Sie waren ... das
+Ideal, das waren Sie ... ach! und Sie sind's mir geblieben.
+Jetzt fühl' ich's, daß Sie immer mit mir gegangen
+sind in den zwei Jahren &mdash; und nun, ist's möglich!
+Nun sitze ich Ihnen gegenüber, könnte Ihre Hand erreichen,
+wenn ich's wagte, darf in Ihre Augen sehen und
+fühlen: das Geschick meines Lebens ist über meinem
+Haupt.«</p>
+
+<p>Seine Stimme zitterte &mdash; die braunen Augen leuchteten,
+der Atem flog.</p>
+
+<p>»Und dennoch &mdash;« sagte Jucunda langsam, großäugig
+&mdash; »und dennoch haben Sie Asta Thöny geküßt.«</p>
+
+<p>»Ja, Jucunda, ich habe Asta Thöny geküßt. &mdash; &mdash; Wie
+soll ich Ihnen das erklären &mdash; sie war die erste, die kam,
+damit ist alles gesagt. Sie hat mich genommen, weil alles
+in mir nach der Erfüllung lechzte, die nur Jucunda heißen
+durfte. Ach! so ist's wohl stets im Leben, daß man sich
+bescheiden muß und dankbar sein, wenn man Kupfer bekommt
+für Gold. Das andere, das ganz große Glück, das
+gibt's ja nicht, das darf's ja gar nicht geben &mdash; denn gäb'
+es das, wir wären Götter und nicht Menschen ... und
+Götterschicksal erträgt sie ja wohl nicht, diese arme, irdische
+Seele, dieser schwache, tönerne Leib. &mdash; Und doch, ich
+fühl's: daß ich das habe tun können, daß ich, Ihr Bild im
+Herzen, die andere umarmt habe, das hat mich Ihrer unwert
+gemacht und unwert auch all dessen, was ich mir an
+eigenem Wert und Werden erträumt habe. Ja, Jucunda,
+ich habe Asta Thöny geküßt &mdash; und nun muß ich ja wohl
+auch gehen, nicht wahr?«</p>
+
+<p>Er war aufgestanden, gesenkten Auges stand er neben
+ihr. Da griff sie nach seiner Hand:</p>
+
+<p>»Du lieber, süßer, dummer Junge, Du ... Hans
+Thumser, kleiner dummer Bub, komm, sei vernünftig, setz'
+Dich mal her zu mir aufs Sofa. Ja, es ist schade, lieber
+Freund, daß Sie so zu mir kommen &mdash; aus den Armen
+der andern. Aber vielleicht bin ich selber dran schuld ...
+warum habe ich Sie nicht erkannt beim erstenmal, da
+wir uns sahen? Ich, ich bin in Ihrer Schuld, ich war in
+Wirklichkeit die Dumme ... die Blinde ... Doch was
+tut's, das alles? Ich will, daß es nicht gewesen sein soll
+&mdash; und es ist fort &mdash; ich wisch' es aus, ich streiche den
+Namen Asta Thöny von der Tafel Deines Lebens ...
+Und nun ist nichts mehr da als ich, nicht, mein Hans?!«</p>
+
+<p>»O nichts, nichts als Du &mdash;!« stammelte er und sank
+neben dem Sofa in die Knie. Seine glühende Stirn sank
+in ihren Schoß, ihre weißen Hände glitten über seine
+braunen Locken. &mdash; Da richtete er sich auf, irren Auges,
+die Wangen feucht, und sah sie an, so ganz Inbrunst, Ergebung
+und Verlangen, daß es sie niederzog zu ihm. Sie
+umschlang seinen Nacken, ihre Lippen hingen über den
+seinen.</p>
+
+<p>In diesem Augenblick wurde heftig an die Tür geklopft.
+Die beiden jungen Menschen fuhren empor &mdash;
+das war nicht wahr, das durfte nicht sein ... aus solchem
+Traume gibt's kein Erwachen, eh er zu Ende geträumt
+ist. Und doch &mdash; es klopfte abermals.</p>
+
+<p>»Jucunda, darf' ich 'rein kommen?« klang Frau
+Buchners fette Stimme.</p>
+
+<p>Die beiden Kinder richteten sich auf. Die mühevoll
+eindressierte Haltung, sie versagte nicht in diesem trauervollsten
+Augenblick. Im Nu saß Hans Thumser auf
+seinem Stuhl, ganz Korpsstudent, ganz korrekter junger
+Gentleman &mdash; und sie, ihm gegenüber, auf dem Sofa,
+ganz Dame, ganz Komödiantin:</p>
+
+<p>»Bitte, Mama ...«</p>
+
+<p>Frau Buchner trat ein, mit einem Lächeln des
+Triumphs auf den Lippen. Ein wenig stutzig sah sie von
+einem zum andern, doch ihr prüfender Mutterblick fand
+keine Spur, die Besorgnis erregt hätte.</p>
+
+<p>»Nu, Jucunda, was sagste nu?« Mit spitzen Fingern
+hielt sie eine Visitenkarte in den Bereich der Lampe, eine
+vielzackige Krone darauf und darunter die Worte:</p>
+
+<p>
+Heribert Hans Herwig, Erbprinz von Nassau-Dillingen<br />
+</p>
+
+<p>»Was?« rief Jucunda, »er ist draußen?«</p>
+
+<p>»Ei, herrjemerschnee! Ne so was &mdash; ne so was ...
+Natierlich ist er draußen &mdash; in höchsteigener Person! Soll
+ich 'n 'rinlassen?«</p>
+
+<p>Mit einem Blick hatte auch Hans Thumser die Schrift
+auf der Karte entziffert, der zweite flog mit schreckhafter
+Spannung zu Jucunda hinüber.</p>
+
+<p>Und &mdash; sie? Das Gesicht, das ihm eben geleuchtet
+hatte wie der Genius seines Lebens selbst, es hatte den
+Ausdruck völlig gewandelt: ein dünnes Lächeln befriedigter
+Eitelkeit spielte um die schmalen, herrischen
+Lippen, die Augen flackerten einen Augenblick in unstetem
+Sinnen, die Stirn hatte sich gekraust. Aber schon war der
+kurze Kampf zu Ende:</p>
+
+<p>»Selbstverständlich, Mama. Sie haben ja wohl nichts
+dagegen, Herr Thumser, wie? Der Herr ist ja doch ein
+Korpsbruder von Ihnen.«</p>
+
+<p>Mit einem Ruck war Hans Thumser emporgeschnellt:</p>
+
+<p>»Dann verzeihen Sie wohl, wenn ich mich empfehle,
+mein gnädigstes Fräulein &mdash; ich wünsche nicht zu stören.«</p>
+
+<p>»Aber ich bitte Sie, was heißt stören? Wir könnten
+ja so nett zu dreien ...«</p>
+
+<p>Starr und förmlich verneigte sich der Student:</p>
+
+<p>»Adieu, meine Damen.«</p>
+
+<p>Er griff nach seiner grünen Mütze, die auf einem
+Stuhl an der Tür lag, dem spanischen Rohr mit Silberbeschlag,
+das daneben lehnte, und schritt hinaus.</p>
+
+<p>Im engen Korridor stand der Erbprinz, in Ueberrock
+und spiegelnden Lackschuhen, den Zylinder in der Hand,
+die Scherbe im Auge. Sein Gesicht wies den Ausdruck
+blöder Verblüffung. Mit einer kurzen Verneigung stürmte
+Hans Thumser an ihm vorüber und ließ die Korridortür
+ins Schloß fallen.</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>12.</h2>
+
+<p class="start-chapW">Vor ihrem Bett war Asta Thöny in die Knie gesunken
+und hatte geweint, wie nie zuvor in ihrem Leben &mdash;
+und doch, wieviel Tränen waren schon über ihre vergangenen
+Tage geflossen ... Wie teuer hatte sie die
+flüchtigen Augenblicke des Glücks erkaufen müssen, zwischen
+denen nichts gewesen war als Kampf &mdash; Kampf mit zusammengebissenen
+Zähnen &mdash; Hunger und Verzicht &mdash;
+Abschied und Sehnsucht ... Und nun war's wieder
+einmal tief, tief dunkel geworden um sie her ...</p>
+
+<p>Sie sprang in die Höhe. Die eingeschlossene Luft in
+dem engen Stübchen preßte ihr die Brust zusammen &mdash;
+sie riß das Fenster auf: da draußen auf der Sophienstraße
+noch immer das Flockentreiben und all die Fenstersimse
+der schwarzen Häuserzeilen schon weiß überlagert,
+die Straßen drunten wie versunken unter der weißen
+Last &mdash; die aufgespannten Regenschirme bestäubt, die Hutkrempen,
+die Mäntel schneebepudert. Da hinein, in dies
+wehmütig tolle Treiben hatte sie mit dem Liebsten
+schwärmen wollen &mdash; da hinein zog's sie nun, die glühenden
+Augen zu kühlen, die schneidende Luft in tiefen Atemzügen
+in die schmerzende Brust zu saugen.</p>
+
+<p>Einen kurzen Blick warf sie in den Spiegel und sah
+ihre Lider, ihr ganzes Gesicht fieberisch gerötet. Sie
+suchte den dichtesten Schleier, den sie hatte, und knüpfte
+ihn fest ums Gesicht. Dabei fiel ihr Auge auf die schönen
+neuen pelzgefütterten Glacéhandschuhe. Sie waren ganz
+verdorben vom Strom ihrer Tränen ... ach, wie gleichgültig
+das war.</p>
+
+<p>Nun war sie drunten auf der Straße &mdash; wie dunkel es
+schon war um diese frühe Nachmittagsstunde &mdash; wie sie
+emporblickte, lag's über den Dächern wie eine graue
+Decke, aus der es unablässig niederrieselte. Im Nu trug
+auch sie die Livree des Winters.</p>
+
+<p>Den wirbelnden Flockenschauern entgegen stapfte sie
+gen Westen, kreuzte die Zeitzer Straße und überschritt
+auf schmalem Brückchen den Mühlgraben ... In den
+Wald hinaus, nur fort von den Menschen, fort aus der
+Stadt &mdash; in die Einsamkeit, dahin, wo sie hatte einsam
+sein wollen mit ihm. Nun dehnte sich zur Rechten die
+endlose Schneefläche der Rennbahn, und vor ihr stand der
+Wald, ein schwarzer Saum, weiß überzackt. Unter der
+Schleußiger Brücke gurgelten gelb und angeschwollen die
+trägen Pleißefluten &mdash; ohn' Unterlaß sanken die leuchtenden
+Flocken in die schmutzigen Gewässer und wurden
+eingeschluckt &mdash; wie der Schwall des Lebens Wesen um
+Wesen verschluckt. Den schmalen Pfad schlug sie ein, der
+hart am Ufer drüben aufwärts führte zu den graulich aufragenden
+Eichenschäften, dem Gewirr des Ufergestrüpps,
+dran jedes Zweiglein schon seine feuchte weiße Last
+trug ... Und wirr durcheinander, wie die stäubenden
+Flocken, jagten ihre Gedanken. Gott, wie grenzenlos
+allein sie doch war auf der Welt: Tochter eines kleinen
+Gerichtsbeamten in München, war sie von der strengen
+katholischen Rechtgläubigkeit und engen Spießbürgersittsamkeit
+ihrer Eltern um jener ersten Liebschaft willen,
+die sie einem schmucken Leutnant von den Chevauxlegers
+in die Arme geweht hatte, aus Haus und Heimat verstoßen
+worden. Das Gräflein hatte brav an ihr gehandelt. Ihre
+berufliche Ausbildung, ihren ersten Schatz an Kostümen
+verdankte sie seiner Freigebigkeit. Und dennoch hatten am
+Ende der Abschied, die Tränen, die Verlassenheit gestanden ...</p>
+
+<p>Und nun: die kleinen Engagements in Nürnberg, in
+Regensburg, in Augsburg. Immer umringt von einer
+Verehrerrotte, die nichts von ihr wollte als immer das
+gleiche &mdash; das eine &mdash; für die sie niemals eine Seele, ein
+Mensch, eine Künstlerin gewesen war, sondern immer nur
+eine hübsche Schale, ein Spielzeug, ein Zeitvertreib, eine
+Sklavin ... Und endlich das große Glück: ein einziges Mal
+ein Mensch, der sie ernsthaft nahm, Franz Burg, der
+Meininger Oberregisseur, der sie entdeckte ganz hinten
+im Ensemble eines Mittelstadtbühnchens. Und nun:
+Engagement, kleine Rollen, mittlere Rollen, Erfolg &mdash;
+Karriere. Karriere? Ach, du lieber Gott! Bis zu den
+Sternen war man nicht gekommen &mdash; immerhin, man
+war geborgen, man konnte sich ausruhen, konnte arbeiten
+&mdash; stand inmitten eines großen, künstlerischen Treibens,
+brauchte sich nicht mehr wegzuwerfen, zu verkaufen.</p>
+
+<p>Aber ach, verdorben war man nun doch einmal, konnte
+nicht mehr leben ohne Küsse, ohne Rosen, ohne Liebesbriefe,
+ohne Zärtlichkeiten ... Und so flog man doch
+auch jetzt immer noch aus einem Arm in den andern,
+blieb ein Spielzeug &mdash; blieb der rasch vergessene Kamerad
+flüchtiger Taumelstunden ...</p>
+
+<p>Da war der eine gekommen, dies grasgrüne Studentlein,
+das so ganz, ganz anders war als alle die frühern ...
+Was war's eigentlich gewesen, was ihn von ihnen unterschied?
+Er hatte sie genommen, sie hatte sich ihm gegeben,
+genau wie's immer gewesen war &mdash; nur eines
+war anders gewesen &mdash; ach, sie wußte es wohl, der Klang
+seiner Rede war's, die schäumende Flut von klingenden,
+schwingenden Worten, in denen seine Zärtlichkeit, sein
+Rausch sich ausströmte über sie hin &mdash; ach nein &mdash; auch
+noch ein andres. All die andern, die sie gekannt hatte,
+waren erfahrene, abgebrühte, blasierte Burschen gewesen
+&mdash; diesem einen, sie wußte es, hatte sie das erste Glück
+des Lebens gebracht. Sie hatte träumen dürfen, ihm
+etwas zu sein, etwas, das nicht verfliegen könnte mit
+dem Rausch der flüchtigen Erfüllungsstunden ... Und
+nun, nun war auch das ein Trug, ein Wahn gewesen ...</p>
+
+<p>Tief gesenkten Hauptes schritt das einsame Mädchen
+fürbaß. Und wie ein fernes Brausen klang weit, weit
+hinten das Treiben der großen Stadt, gedämpft durch die
+rastlos niedersinkenden Flockenmassen. Und in der Nähe
+schien jeder Schall des Lebens erstorben &mdash; nur der eigne
+Schritt knirschte leise im lockren Teppich, der die Welt
+überzog. Und zur Linken glucksten die gelben Wasser.
+Unter der nassen Last lösten sich die letzten gelben Blätter
+von den Wipfeln und sanken schwer und matt wie dunkle
+Schattengebilde inmitten des weißen Geriesels nieder,
+lagen ein paar Sekunden als schwarze Flecken auf dem
+leuchtenden Grund und wurden dann schnell verschüttet
+und begraben ... Und Asta sann in die Zukunft &mdash; was
+hatte sie noch zu hoffen? Zu den höchsten Höhen der
+Kunst, dorthin, wo die strahlende Rivalin stand, ach,
+dorthin würde sie sich niemals emporschwingen. Nur die
+Niederungen waren ihr bestimmt, die wenigen Jahre, bis
+Jugend und Anmut verweht sein würden &mdash; und was
+dann? &mdash; Und was inzwischen? &mdash; Immer nur Neid und
+Enttäuschungen ... Ab und an, wenn einmal eine neue
+Rolle neue Hoffnung brachte, ein verzweifeltes Emporraffen,
+ein neues zähneknirschendes Einsetzen der ganzen
+Kraft &mdash; dem, ach, doch immer wieder das Versagen, das
+Ermatten, die Erkenntnis der Begrenztheit des eigenen
+Wesens und Könnens folgen müßten, wie noch stets
+bisher.</p>
+
+<p>Und wo war dann Trost als in neuen Umarmungen,
+in neuen Tändeleien, ohne Glauben, ohne Hoffnung, ohne
+Sinn?</p>
+
+<p>Nein, wenn sie nicht einmal diesen einen dauernd
+hatte fesseln können, wenn selbst dieser eine, in dessen
+Leben sie am Anfang der Liebe gestanden, wenn sie nicht
+einmal ihn länger hatte binden können denn auf ein paar
+Wochen, dann war sie doch wohl gar nichts wert. Nicht
+einmal als Liebchen, nicht einmal als Weibchen! Und
+das nun immer und immer wieder erleben müssen, hatte
+das einen Zweck? &mdash; Ließ sich das ertragen?</p>
+
+<p>Und doch, etwas in ihr bäumte sich auf gegen diese
+Verneinung ihres ganzen Daseins. War sie denn wirklich
+so ein Nichts, so ein Püppchen ohne Existenzberechtigung,
+ohne Lebenswert? Ach nein ... nur den falschen Weg
+war sie gegangen &mdash; nein &mdash; nicht gegangen: gestoßen
+war sie worden von dem aberwitzigen Schicksal. Damals,
+als sie sich von dem blinkenden Rock, der gleißenden
+Grafenkrone ihres ersten Galans hatte blenden lassen, als
+sie ihren einzigen Besitz, ihr Mädchentum, einem eitlen,
+egoistischen Jungen hingeworfen hatte, ohne zu denken,
+ohne zu fragen wohin, wozu &mdash; damals war sie aus dem
+Gleise geworfen worden ... Irgendwo in der Welt
+lebte doch gewiß ein braver, schlichter Mensch ihres eigenen
+Standes, des Standes, in dem alle ihre Instinkte wurzelten,
+dem hätte sie in Bescheidenheit und Treue Gesellin
+und Helferin werden müssen. Das wäre dann ein Leben
+gewesen, für das ihre Kräfte gereicht hätten, in das sie
+Sonne, Glücksgenügen hätte zaubern können für ein
+ganzes Erdendasein. &mdash; Nun hieß sie eine Künstlerin, ohne
+ein Künstlermensch zu sein ... Nun sollte sie gestalten,
+ohne in sich die Fülle der Gesichte zu tragen ... Sollte
+die Schöpfungen von Dichtern verkörpern, ohne selbst ein
+Stück Dichterin zu sein ...</p>
+
+<p>Die Dämmerung kam. Immer schauriger ängstete
+die Stille um sie her, und lichtlos wie die nebelverhangene
+Waldeinsamkeit ringsum lagen Zukunft und Leben. Eine
+grenzenlose Müdigkeit kam über das verlassene Kind &mdash;
+eine Sehnsucht nach Schlaf ohn' Erwachen. Und in der
+lastenden Stille, in die sie sich hineingesogen fühlte, war
+nun ein Laut nur noch: das einlullende Rieseln und
+Rauschen der gelben Gewässer neben ihrem Pfad, die so
+erbarmungslos die weißen Flocken einschluckten in ihren
+gurgelnden Schwall. Ach! wer auch so eine weiße Flocke
+wäre, so rasch und völlig versinken, zergehen könnte ...</p>
+
+<p>Aber schreckhafte Gesichte drängen sich vor &mdash; wie
+schauervoll müßte das Ende sein, wären diese Flocken nicht
+fühllos, wären sie nicht der Flut wesensgleich, die sie verschlang?
+Du aber, Asta, du bist ein junges, heißes
+Menschenkind, du wirst nicht leicht und sanft dich auflösen
+und verschmelzen mit den Gewässern, die meerwärts
+rollen da unten. Du wirst dich quälen müssen, alles
+in dir wird im letzten verzweifelten Ansturm noch einmal
+nach dem Leben in Glanz und Licht verlangen, dem du
+verwandt bist, in dem du dich umgetrieben, zwar oft in
+Tränen und Verzweiflung, doch bisweilen auch in
+Schauern von Seligkeit ...</p>
+
+<p>Und dennoch, eine Stille wird kommen nach der kurzen
+Qual &mdash; eine lange, tiefe, wunschlose Stille.</p>
+
+<p>Und noch ein Gedanke kam, der Furcht und Grauen
+schuf: Asta war in römischer Frömmigkeit erzogen, der
+Kinderglaube war nie ganz versiegt in ihrer unbewehrten
+Seele. Wenn's nun wahr wäre, was man sie gelehrt
+hatte von ewiger Verdammnis, von einem Wiedererwachen
+zu unnennbarer, unendlicher Qual? Ach nein, das war
+doch wohl nur Märchen und Kinderschreck &mdash; ach nein &mdash;
+wenn erst die Glut hier drinnen verloschen war, wenn die
+Glieder, die so heiß gefiebert hatten im Ueberschwang der
+Daseinswonne &mdash; wenn sie erst so kalt und leblos geworden
+waren wie drunten die strömende Flut, dann
+war's aus und vorbei, dann kam nichts mehr &mdash; kein
+Glück mehr und kein Schrecknis.</p>
+
+<p>Da stieg aus den falben Nebeln, die mählich den Fluß
+überlagerten, ein niedres Gebäude empor, eine hölzerne
+Wirtschaftsbaracke, grau gestrichen, hart bis an die
+Strömung des Flüßchens herangeschoben, mit einer
+Galerie, die über das Ufer vorsprang. »Zum Wassergott«
+lautete die Inschrift auf dem getünchten Wirtshausschild.
+Im Sommer mochte hier zur Abendstunde muntres
+Treiben herrschen, friedliche Philisterbehaglichkeit &mdash; nun
+lag das kleine Anwesen kläglich verödet, ganz versunken
+in trostloses Schweigen.</p>
+
+<p>Asta trat ans Geländer und sah, wie die gelbe
+Flut in quirlenden Strudeln um die schneeverwehte
+Treppe rauschte, an der sonst das Fährboot anlegen
+mochte. Und nun zu denken, daß man morgen so
+gefunden würde, weit, weit unten irgendwo, entstellt,
+zerzaust, aufgedunsen &mdash; &mdash; Aber ... das ging einen ja
+dann nichts mehr an, das fühlte man ja doch nimmer.
+Dann mochte die Welt laufen, wie sie wollte. Dann mochte
+der kleine Hans Thumser vor Jucunda Buchner auf den
+Knien rutschen und um die Gunst betteln, die Asta ihm,
+ach, allzu wohlfeil, allzu willfährig gewährt. Dann
+mochten sie Komödie spielen, solange es ihnen noch Spaß
+machte, sich abzuquälen für die undankbare Bande im
+dunkeln Parkett &mdash; ach! und wie dankbar war man doch
+gewesen, wenn die mal ein bißchen mitgegangen waren,
+wenn man ab und an sich hatte vorlügen dürfen, man
+sei auch wer, man habe auch die Kraft in sich, die da hinten
+zu packen und durch und durch zu rütteln, wie die paar es
+konnten, die paar Echten, die paar Großen ... Ja, spielt
+nur, spielt nur Komödie &mdash; auf den Brettern und im
+Leben. Lügt Euch Gefühle vor und laßt Euch welche
+vorlügen, glaubt daran oder tut doch wenigstens so, als
+glaubtet Ihr. Denn auch Du hast ja gelogen, kleiner Hans
+Thumser, als Du unter Küssen und Tränen mir schwurst,
+ich habe Dir das Glück geschenkt. Ich weiß es ja nun,
+Du hast in meinen Armen immer nur an die andre gedacht.
+Ob Du's bei ihr finden wirst, das Glück, das sogenannte
+Glück? Ob Du es überhaupt jemals finden
+wirst im Leben? Ich will Dir's gönnen, kleiner Hans,
+denn ich habe Dich sehr lieb gehabt &mdash; ich will Dir's
+gönnen, kleiner Hans &mdash; ich aber &mdash; ich tu nicht mehr
+mit, ich habe genug ...</p>
+
+<p>Einen spähenden Blick noch warf Asta in die Runde.
+Es war nun fast ganz dunkel geworden und nichts
+ringsum, als das sachte Sinken der weißen Kristalle,
+hinter denen die schwarzen Stämme ragten, finster und
+stumm. &mdash; Ob es wohl lange dauern würde? Ob es sie
+noch einmal emportragen würde an die Oberfläche?
+Hoffentlich würden die nassen Kleider sie rasch in die Tiefe
+ziehen. Es war nicht schade drum, sie hatte sich für einen
+Fußmarsch im Schnee zurecht gemacht. Das bissel Flitter,
+was daheim herumlag, dafür würde sich schon irgendeine
+Verwendung finden: nur das schöne Sealskinjackett und
+das Barett und der Muff dazu, das war doch zu schade
+für die Pleiße! Irgendein Armes mochte das hier
+finden und es verkaufen und sich einen guten Tag dafür
+machen ... Sie zog die kostbaren Hüllen ab und legte
+sie sorgfältig zusammengefaltet unter das weitvorspringende
+Holzdach der Wirtschaftsveranda, wo sie einigermaßen
+vor dem Schnee geschützt waren. Nun schauerte
+sie fröstelnd zusammen im Nebelhauch der Waldtiefe.
+Gott &mdash; und daß nun niemand, niemand morgen weinen
+wird, wenn sie's hören, wenn's in der Zeitung steht, wenn
+zum letzten Mal von Asta Thöny was in der Zeitung steht
+&mdash; ach, allzu viel Schönes hat nie dringestanden über Asta
+Thöny &mdash; und keiner wird weinen, nicht ein einziger von
+all den vielen, vielen, die mich geküßt und mir von Liebe
+geschwatzt haben, nicht einer. Auch Du nicht, Hans
+Thumser, ach, auch Du nicht ...</p>
+
+<p>Und sachte wie die weißen Flocken in die träge ziehenden
+Fluten niederglitten, so sachte ließ Asta Thöny sich
+niedergleiten von der schneeverwehten Treppe an der
+Holzveranda des Restaurants »Zum Wassergott« ...</p>
+
+<p class="start-chapW space-above">Valentin Pilgram war nachmittags gegen halb vier
+von dem Repetitor nach Hause gekommen, um sich in
+das gewohnte, besinnungslose Arbeiten hineinzustürzen,
+mit dem er nun schon seit Wochen sich zu betäuben gewohnt
+war.</p>
+
+<p>Als er durch den dunklen Korridor schritt, kam die
+Frau Kanzleirätin aus der Küche mit einem Brett
+voll Teegeschirr und ging zu Jucundas Stube hinüber.
+Verlegen erwiderte sie seinen Gruß; wie die Tochter, so
+wich auch die Mutter dem Zimmerherrn aus, wo irgend
+möglich, seit jenem verhängnisvollen Morgen ...</p>
+
+<p>Als sich die Tür zu der Stube der Schauspielerin
+öffnete, sah Valentin Pilgram mit einem Blick, daß dort
+Vorbereitungen für den Empfang eines Besuches getroffen
+wurden: festlich gedeckt glänzte der Tisch, sorgfältig waren
+die Blumenspenden der letzten Abende arrangiert, kurz,
+alles verriet ein nahes Fest.</p>
+
+<p>Wer mochte erwartet werden? Ein paar Kolleginnen
+oder Kollegen ... oder? &mdash; Valentin wußte, daß der Erbprinz
+keine Vorstellung versäumte, in der Jucunda auftrat,
+er hatte bei jeder Premiere unter den Riesenschleifen
+der Lorbeerkränze die Farben von Nassau-Dillingen erkannt.
+Also zum mindesten war Seine Durchlaucht nicht
+mehr in der Ungnade ...</p>
+
+<p>Merkwürdig: der gewohnte Arbeitsfriede wollte
+heute nicht kommen. Immer lauschte der Kandidat auf
+Stimmen da drüben, in der ingrimmigen, quälenden Hoffnung,
+sie möchten recht behalten, jene ekelhaften Vermutungen,
+die sich immer deutlicher in ihm emporreckten:
+der Erwartete möchte der Erbprinz sein ...</p>
+
+<p>Und endlich schlug die Glocke im Hausflur an. Valentin
+Pilgram fuhr in die Höhe, schlich zur Tür und lauschte.
+Dabei überkam ihn brennende Scham: was war aus ihm
+geworden, daß er das Tun und Treiben anderer Menschen
+zu beschnüffeln und zu bespitzeln gelernt hatte? Das
+war doch früher nie gewesen ...</p>
+
+<p>Und horch &mdash; die Stimme eines jungen Mannes ...
+aber das näselnde, gequetschte Organ des Prinzen war's
+nicht, es war eine frische, klangvolle Stimme ... es war ...
+Hans Thumsers Stimme ... Ach &mdash; also der!</p>
+
+<p>Er hörte ganz genau, wie Mutter Kanzleirätin den
+Besuch zur Stube der Tochter führte, wie sie anklopfte,
+wie des Mädchens volltöniger Alt das Herein ertönen
+ließ, wie sie lebhaft und freudig den Besucher begrüßte,
+wie jener verbindlich und bewegt erwiderte.</p>
+
+<p>Das Blut stieg dem Lauscher ins Hirn, in die Augen
+&mdash; die Gedanken quirlten einander überstürzend empor
+und machten ihn schwindeln. Also er &mdash;! Wundervoll!
+wundervoll! Wie das alles sich zusammenfand, wie die
+vagen Vermutungen, die greulichen Phantasien der letzten
+Wochen sich nun zu festen, zweifelsbaren Schlüssen zusammenfügten!
+Nun freilich &mdash; nun war's ja klar, wie
+der Frankenzirkel und Hans Thumsers Initialen auf
+jenen Bogen geraten waren, der Jucundas Absagebrief
+trug! Man hatte es verstanden, ihn beiseite zu schieben &mdash;
+hatte seine schnelle Ritterschaft lächerlich zu machen gewußt,
+um seine eigenen Chancen zu verbessern! Freilich,
+daß man mit einer solchen Gemeinheit auf dem Gewissen
+den Mut nicht gefunden hatte, den Hintergangenen, den
+an die Wand Gedrückten in seiner Einsamkeit zu besuchen
+&mdash; kein Wunder schließlich! Und auch heute hatte man
+den Weg zur Tür des einstigen Korpsbruders nicht gefunden,
+obwohl man unter einem Dache mit ihm war!
+Also so etwas gab's &mdash; so viel Infamie barg sich hinter
+der zur Schau getragenen Besonderheit, der phantastischen
+Eigenart des Reimedrechslers! &mdash; &mdash; Na warte, Bursche!</p>
+
+<p>Valentin Pilgram hatte kein Talent zum Lauscher an
+der Wand. Er schlich an seinen Schreibtisch zurück, vergrub
+den Kopf in den Händen und wühlte sich in das
+krause System des römischen Erbrechts hinein. Aber die
+Buchstaben hüpften vor seinen Augen, die Sätze verwirrten
+sich, führten sinnlose Tänze auf, und etwas Unwiderstehliches
+zog ihm immer wieder die geballten Fäuste von
+den Ohren ... Da drüben klapperten die Tassen, plätscherte
+munteres Gespräch ... kein Satz zu verstehen,
+höchstens einmal ein einzelnes Wort. Nun ein erregtes
+Lachen, nun Schritte durchs Zimmer, nun in raschem
+Wechsel Geplauder, ein Hinüber und Herüber von Scherz
+und Neckerei jetzt und nun von Rede, deren Sinn man
+nicht verstand, deren Klang aber deutlich genug von
+wachsender Vertraulichkeit, von innigem Austausch redete
+... Ja freilich, der wußte besser, wie man mit Frauen,
+mit Künstlerinnen reden muß, um Eindruck zu machen!</p>
+
+<p>Valentins Gedanken verwirrten sich. Es war ihm
+nun, als müsse Hans Thumser das alles mit diabolischem
+Raffinement ausgeheckt haben, was sich vollzogen hatte.
+Gewiß war er schon längst hinter Jucunda her &mdash; war
+er's nicht gewesen, der die Idee mit dem Pferdeausspannen
+ausgeheckt &mdash; und war er nicht an jenem Abend als des
+Erbprinzen Gast an seiner Seite im Theater gewesen?
+Gewiß hatte er auch in Erfahrung gebracht, mit welch
+geschmackloser Zudringlichkeit der Erbprinz und der Major
+sich bei Jucunda einführen wollten, und hatte schon damals
+sein Plänchen geschmiedet ... Alle Wut und Qual der
+letzten Wochen knäuelte sich zusammen zu einem einzigen,
+alles verdrängenden Gefühle der Empörung, des Ingrimms,
+der Rachelust ... ihn, diesen glatten Lächler,
+diesen geschmeidigen Buben, stellen ... züchtigen!</p>
+
+<p>Aber nein &mdash; das war nicht länger zu ertragen, dieser
+Zusammenklang der zwei Stimmen da drüben, der gehaßten
+und der ach ... in tausend Schmerzen geliebten!
+War er denn verdammt, all jenes Glückes Ohrenzeuge
+zu sein, das er für sich selbst nur in fernen Träumen zu
+ersehnen gewagt hatte? Und das dem Buben da drüben
+in den Schoß fiel. Nein, das nicht, das doch nicht! Fort,
+hinaus, in das Schneegetriebe da draußen, weg aus
+diesem dumpfen Zimmer, dessen Luft bis zum Ersticken
+angefüllt war mit vergangener und gegenwärtiger Gedankenqual!</p>
+
+<p>Valentin Pilgram stand auf. Er warf seinen Winterpaletot
+um, stülpte den weichen, zerknüllten Filzhut auf
+den unfrisierten Kopf, nicht achtend, daß beide Kleidungsstücke
+seit Tagen nicht gebürstet, von dickem Staub umlagert
+waren. Er, der sonst so peinlich gestriegelte Korpsstudent,
+hatte seit Wochen sein Aeußeres schlimmer vernachlässigt
+als der armseligste Prolet unter den Kommilitonen
+... Er griff nach dem wüsten Knotenstock, den er
+sich für fünfzig Pfennig in irgend einem Kram gekauft,
+seit er das silberbeschlagene spanische Rohr mit der
+Dedikation seines Leibburschen nicht mehr führen durfte
+... und nun hinaus &mdash; nur hinaus!</p>
+
+<p>In der kurzen Stunde, seit der Jungschnee sich eingestellt,
+waren Bürgersteig und Straße mit fußhohen
+Schneemassen überschüttet. Mühsam bahnten sich die Fußgänger
+ihren Weg, trübselig stapften die Droschkengäule
+daher, wie schwarze Silhouetten schoben Menschen, Tiere,
+Gefährte einander vorüber, die ersten Laternen äugelten
+mit trübem Blinzeln durch den Flockennebel, der ohn'
+Unterlaß herniederwogte. Von weißen Kanten eingesäumt,
+reckten sich die finstern Fronten der alten Barockpaläste
+zu beiden Seiten der engen Straße. Jedes Geräusch
+war eingesogen von den weichen Polstern des
+Grundes, den stiebenden Flockenmassen, welche die Luft
+verhängten.</p>
+
+<p>Der junge Gesell, der mit aufgeschlagenem Rockkragen,
+die Hände in den Manteltaschen vergraben, verloren und
+ziellos durch die Straßen pendelte, hielt es nicht aus inmitten
+des lautlosen Lebens, das sich schattenhaft an ihm
+vorbeidrängte. An der Thomaskirche vorüber, deren
+schwarzer Giebel sich droben in dem weißen Dunst verlor,
+pendelte er auf den Ring hinaus, wo die Zweige der
+Baumreihen, des Gebüschs unter der Wucht ihrer weißen
+Last sich bogen und knackten. Zur Linken stieg das finster
+dräuende Massiv der Pleißenburg in die silbernen
+Schwaden, das Rund des Turmes hob sich als riesiger
+Schattenriß von den Lichtfluten um den Roßplatz und
+Königsplatz ab. Und nun der winterstille, menschenleere
+Johannispark! Hier ließ sich aufatmen, hier wurde die
+Brust freier. Hier klärte sich das Gedankenchaos ...</p>
+
+<p>Ja, es mußte gehandelt werden. Die ganze Fülle
+der verhängnisvollen Ereignisse, die Valentin Pilgram
+aus seines Lebens sicher vorgezeichneter Bahn so jählings
+hinausgeschleudert in ein uferloses Nichts, das alles
+drängte zu einer entladenden, entlastenden Tat. Und
+diesmal würde seinem Vorsatz Erfüllung werden &mdash; diesmal
+würde er nicht wie Don Quichotte gegen die Windmühlenflügel
+anrennen, um alsbald entsattelt an der Erde
+zu zappeln, ein Spott der Welt ... Diesmal würde er den
+waffengeübten Arm zum sicher treffenden Schlag zu
+brauchen wissen, mitten in des Feindes Fratze!</p>
+
+<p>Des Feindes! &mdash; es gab ja nur den einen! In ihm
+schien dies aberwitzige Schicksal der letzten Wochen Gestalt
+angenommen zu haben &mdash; in jenem jungen Burschen,
+der sich jetzt gewiß von Jucundas Lippen den Dank holte
+für eine ganze Kette von Niederträchtigkeiten und
+Bübereien. Ihn züchtigen &mdash; ja das war's! Das forderte
+die Stunde!</p>
+
+<p>Und dann? Was kam dann?! Dann würde man
+sich gegenüberstehen, Aug' in Auge, den Lauf der Waffe
+auf des Feindes Herz gerichtet ... das war dann das
+Gottesgericht ... Dann würde sich's zeigen, wer von
+ihnen beiden weichen müsse von dieser Welt, die nicht
+Raum mehr hatte für sie beide ...</p>
+
+<p>Und ... dann?!</p>
+
+<p>Hans Thumser sollte fallen. Er wollte es. All die
+eiserne Willenskraft, die bis zu dieser Stunde sein junges
+Leben vorwärts getrieben, er würde sie in das kleine
+Stückchen Blei hineinlegen, das des Feindes Herz finden
+sollte. Das war dann die Sühne, das war die Wiederherstellung
+der heiligen Weltordnung, welche von den
+Gesetzen der Ehre regiert wird, der Ehre, deren Ritter
+er gewesen war, und die jener andere mit Füßen getreten
+hatte ... jener andere, der heut noch das dreifarbene
+Band um die Brust trug, das er, der Getreue, eingebüßt
+hatte dank jenem sinnlosen Schicksal, dem er unterlegen
+war bis heut. Aber dies stumpfsinnige, brutale Schicksal,
+es sollte nicht Meister bleiben in der Welt, solange er
+noch Kraft hatte, den Hahn einer Pistole abzudrücken ...</p>
+
+<p>Und dann?! Er wußte den Gesetzesparagraphen zu
+nennen, dem er dann verfallen war; die Höhe der Strafe,
+welche seiner wartete. Das war ja wiederum der groteske
+Unsinn dieser Zeit, daß die Gesetze des Staates das Recht
+der Selbsthilfe dem Manne versagten, der am Heiligsten
+seines Lebens gekränkt war: an seiner Ehre ... Dieselben
+Gesetze, die den Beleidiger der Ehre mit Strafen von
+kindischer Winzigkeit bedrohten ...</p>
+
+<p>Immerhin &mdash; lieber zwei Jahre lang als Gefangener
+auf dem Königstein, lieber das, was liberale Zeitungsschmierer
+einen Duellmord nannten, lieber das alles, als
+dieses zermürbende Gefühl der Ohnmacht, der Wehrlosigkeit
+gegen menschliche Infamie und den Aberwitz des
+Fatums!</p>
+
+<p>Schon war des einsamen Wanderers Hutkrempe von
+einem dichten Schneekranz umlagert. Nasse Schauer
+sprühten ihm um die glühenden Wangen, eisige Tropfen
+rieselten ihm über Hals und Nacken. Er achtete es nicht.
+Den Kopf tief in den Schultern vergraben, stolperte er
+fürbaß. Schon lag der Park hinter ihm, mechanisch verfolgte
+er den nächsten Pfad, der hart am Saume des
+rechten Pleißeufers zwischen den reckenhaften Schäften
+der hochstämmigen Eichen und dem dürren Gestrüpp der
+Erlen entlang führte. Als sein Blick zufällig die gelben
+Fluten der gurgelnden Pleiße streifte, stieg mitten in sein
+finsteres Brüten hinein ein lachendes Bild heiterer
+Jugendlust:</p>
+
+<p>Die S.&#x202f;C.-Kahnfahrt nach Connewitz, welche die
+Leipziger Korps in jedem Sommersemester gemeinsam
+unternommen hatten ...</p>
+
+<p>Wann war doch das gewesen? Vor einer Ewigkeit ...
+in einem andern, versunkenen Leben ... Damals hatte
+die Welt in tausend Farben geleuchtet, hatten bunte
+Mützen und grellfarbige Bänder geblinkt, heiter abgehoben
+vom dunklen Grün der Ufersäume, vom Blau des klaren
+Himmels, das sich in den freundlichen Wellen des Flusses
+spiegelte ... Flüchtig, wie es herangeweht, zerstob das
+Bild, und wieder war nichts als der schneestarrende Wald
+und drunten die blaugraue Flut und ringsum Dämmerung
+und lastende Einsamkeit. Nur drüben, am jenseitigen
+Ufer, wohl zwanzig Schritte vor Pilgram, ging noch ein
+anderer einsamer Mensch, ein schwarzer, formloser
+Schatten, vorüberhuschend vor dem silbernen Reif, der
+den ganzen Wald, der alle Welt überflitterte.</p>
+
+<p>Und wieder tauchte Valentin Pilgram tief in den
+schaurigen Abgrund seiner Grübeleien.</p>
+
+<p>Wie, wenn es nun anders kam? Wenn das Gottesgericht
+gegen ihn entschied? Nun dann war eben alles
+aus &mdash; und er brauchte doch wenigstens nicht mehr zu
+leben auf einer Welt ohne Sinn ...</p>
+
+<p>Aber &mdash; die daheim &mdash;?! Die Eltern, deren Stolz er
+war, er wußte das ... Der eifrige Vater, der in rastloser
+Arbeit zu einer der obersten Stellungen in der
+Königlich sächsischen Rechtspflege emporgestiegen war
+und in den zwanzig Jahren rüstiger Arbeit, die noch vor
+ihm liegen sollten, noch höher zu steigen hoffte? Er, in
+seiner starren Rechtlichkeit, seiner tadellosen Korrektheit
+der Art des Sohnes so innig verwandt? Nie hatten Vater
+und Sohn voreinander Worte zu machen gebraucht von
+dem, was sie beide längst wußten: daß sie Menschen einer
+Rasse, eines Wesens waren, würdige Glieder einer uralten
+Familie hochangesehener Gelehrten, Geistlichen, Beamten,
+die stets eine Zierde der Stadt, des Staates gewesen
+waren ... und die gute Mutter, ein Mensch, so recht
+zur Ergänzung dieses Schlages geschaffen, ohne starke Persönlichkeit,
+voll tiefsten Respekts gegenüber dem Gatten
+und dem Sohne, denen sie sich allzeit als freudige und nützliche
+Dienerin untergeordnet hatte, entsprechend den Traditionen
+der ehrbaren Geschlechter, aus denen auch sie
+entsprossen war, und die allzeit aufrechte Säulen der Ordnung
+und Tüchtigkeit gewesen waren. Die Schwestern,
+von der Mutter nach ihrem Vorbilde erzogen zu braven
+Gattinnen für diese ehrenfeste Art Männer, wie das
+Vaterland sie immer gebraucht hatte und, will's Gott,
+immer brauchen würde ... und nun &mdash; ein Sohn im
+Duell gefallen ... in einem Duell, in dem eine Rolle,
+eine wenn auch noch so entfernte Rolle immerhin ...
+eine Schauspielerin ... gespielt hatte? War das nicht
+wider den Stil der Familie? wider alle Gewohnheit ihrer
+Daseinsführung?</p>
+
+<p>Nein, das war es nicht. Untadelig war, was immer
+er getan, seit Jucunda Buchners Bild emporgetaucht war
+in seinem jungen Leben, das nichts als Ehre gewesen war.
+Untadelig ... Und so würde er's vor jenem ernsten
+Gange für die Lieben daheim aufzeichnen, würde für
+jeden seiner Schritte die Motive, die Handlungen angeben,
+die Zeugen benennen. Und so würden die Seinen des
+Gefallenen mit tiefer und reiner Trauer ohne Groll und
+ohne Scham gedenken können, ja mit Stolz als eines
+Menschen, der auch diesem absurden Spiel dämonischer
+Mächte gegenüber geblieben, was er stets gewesen: ein
+Mensch ihrer Art ...</p>
+
+<p>In diesem Augenblick trieb ein Windstoß dem einsamen
+Wanderer einen heftigeren Guß prickelnden Schnees ins
+Gesicht und scheuchte ihn aus seiner Versunkenheit auf.
+Es war fast völlig finster geworden, und Valentin Pilgram
+entschloß sich zur Stadt zurückzukehren. Seine Entschlüsse
+waren gefaßt, klar vor ihm lag der Weg, den seine
+Pflicht ihn gehen hieß. Zu was noch länger ziellos durch
+die Einsamkeit streifen? Daheim waren die Bücher ...
+und in wenig Tagen würde das Examen beginnen ...
+und Ruhe würde ja nun auch geworden sein daheim.
+Heut abend waren wieder die »Piccolomini« &mdash; Jucunda
+würde schon im Theater sein ...</p>
+
+<p>Schon war Valentin Pilgram im Begriff kehrtzumachen,
+da fiel sein Blick zum jenseitigen Ufer, und er sah
+im letzten Dämmerschein etwas Unbegreifliches:</p>
+
+<p>Kaum noch in matten Umrissen erkennbar, lag drüben
+die Sommerwirtschaft »Zum Wassergott«. Dort hatte er
+nach manchem Spaziergange mit Korpsbrüdern die Hitze
+des Marsches an einer Gose gekühlt und dem munteren
+Treiben der sonntäglichen Kähne auf dem Flusse zugeschaut.
+Und seitlich, an der Treppe, wo die Fähre anzulegen
+pflegte, stand ein Mensch, eine Frau. Auch sie
+nur ein grauer Schatten vor dem Dunkel, das unter der
+Galerie lastete. Und dieser Mensch tat nun etwas ganz
+Sonderbares: dieses Weib legte seine Kopfbedeckung ab
+&mdash; es schien eine Pelzmütze zu sein &mdash; und zog das Jackett
+aus, schob beides zusammengefaltet nach hinten in das
+Dunkel und stieg nun die Treppe hinunter bis dicht ans
+Wasser. Und nun &mdash; &mdash; in jähem Schrei entlud sich Valentins
+Entsetzen!</p>
+
+<p>Schon in der nächsten Sekunde aber reagierte ganz
+automatisch sein Instinkt auf das grauenhafte Schauspiel,
+das sich bot. Mit einem Ruck riß er die Knöpfe seines
+Paletots und seines Rockes auf, schleuderte beide Kleidungsstücke
+mit einer jähen Bewegung in den Schnee und
+war mit einem Satz am Ufersaum, mit einem zweiten
+schoß er in die gelbe Flut hinaus. &mdash; Die markerschütternde
+Kälte des Wassers lähmte eine Sekunde lang seine
+Glieder wie sein Hirn, im nächsten Augenblick aber durchschoß
+ihn ein siedender Feuerstrom. Jeder Nerv, jeder
+Muskel spannte sich an wider das eisige Grauen &mdash; Arme
+und Beine strafften sich, mit heftigen, ruckartigen Stößen
+setzte er sich zur Wehr gegen die zähe Umklammerung des
+kalten Elements, in dem er trieb. Er schwamm, er wußte
+sein Ziel. Ueber der fernen Stadt lag ein roter Schwaden,
+dessen Widerschein sich in den träge hingleitenden
+Fluten spiegelte. In diesem matten Perlmutterglast glitt
+eine dunkle Masse, auf die schwamm er zu. Wenig Stöße,
+dann war's getan. Er griff in ein nasses Bündel Kleider
+hinein, fühlte warme Menschenglieder, umspannte eine
+schlanke Gestalt. Kaum spürte der wehrlose Körper die
+fremde Berührung, da zuckte er in aufbäumendem Entsetzen
+zusammen, krümmte sich, warf sich hin und her in
+den Eisstrudeln, welche die hintreibenden Leiber umquirlten.
+Doch nicht umsonst hatte der Student seine
+Muskeln in der harten Zucht des Fechtbodens gestählt und
+ihre Kraft in mehr denn zwanzig Waffengängen erprobt.
+Mit eisernem Griff umschlang er das zarte Figürchen, rang
+die strampelnden Arme nieder und lenkte mit heftigen
+Beinstößen dem nahen Ufer zu. Die nassen Kleider legten
+sich wie stählerne Klammern um seine Beine, der Druck der
+Schuhe machte die Füße schwer und hilflos, doch mit
+wildem Ungestüm zwang der Wille jedes Hemmnis nieder,
+den Frost, den Verzweiflungskampf der zuckenden Glieder,
+die er mit seinen Armen umschloß. Nach wenigen Sekunden
+fühlten die Füße Grund, Schlammgrund, doch er
+hielt. Nun packten beide Arme mit unwiderstehlichem
+Griff das leichte Körperchen um Hüften und Knie &mdash; noch
+ein kurzes, heftiges Ringen, dann griff die Linke einen
+tiefniederhängenden Weidenast, die Rechte schleifte die
+zappelnde Last durch die gurgelnden Wellen. Nun
+spannten beide Arme noch einmal sich an und hoben mit
+hartem Ruck den gefangenen Leib in die knackenden Büsche
+der Uferböschung hinein. Nun klang ein wimmerndes
+Stöhnen, nun keuchten klagende Laute wie eines kranken
+Kindes Stimme:</p>
+
+<p>»Lassen Sie mich doch ... o bitte ... bitte, lassen Sie
+mich doch los!«</p>
+
+<p>»Ne &mdash; gibt's nich!« keuchte der Student. Mit letzter
+versagender Kraft würgte er sich selber durch die schneeüberstäubten
+Zweige des Ufergestrüpps hindurch, zog den
+Körper der Geretteten vollends hinauf und ließ ihn in den
+lockeren Schnee gleiten, weil die ausgepumpten Muskeln
+nichts mehr hergaben. Schwarze Finsternis ringsum &mdash;
+nichts hörte Valentin, als das raschelnde Keuchen der
+eigenen Lungen, das ratternde Hämmern des eigenen
+Herzschlages und dazu aus der geheimnisvollen Dunkelheit
+zu seinen Füßen das wimmernde Schluchzen einer
+Mädchenstimme &mdash; immer nur dies wimmernde Schluchzen,
+dies hilflose Greinen.</p>
+
+<p>»Lassen Sie mich doch los ... o bitte, bitte ... lassen
+Sie mich doch!«</p>
+
+<p>»Ne,« keuchte Valentin Pilgram, »das können Sie nun
+wirklich nich ... von mir ... verlangen, Verehrteste ...
+ich hab' mich dermaßen für Sie ... abgeschunden ... jetzt
+lass' ich Sie nich wieder ... in die nasse Sauce da!«</p>
+
+<p>Mit der Ueberwindung der Gefahr war ein grimmiger
+Humor über ihn gekommen. Er richtete sich auf, reckte
+die stählernen Glieder, schlug ein paar mal die Arme über
+der Brust mit kräftigem Ruck zusammen, um sich gegen
+die Frostschauer zu wehren, die sich in seine Haut einfraßen.
+Dann bückte er sich zu der Geretteten, bekam das
+schlanke Figürchen um die Taille zu fassen und setzte es
+mit einem energischen Hub auf die Beine.</p>
+
+<p>»So, nun bleiben Sie gefälligst stehen ... aber nein,
+kommen Sie mit mir, wir rennen zum »Wassergott«
+zurück ... das macht warm ... Sie haben ja da meines
+Wissens Ihre Oberkleider gelassen, die holen wir ...«</p>
+
+<p>Dabei versuchte er die Dunkelheit zu durchdringen, um
+etwas von den Zügen der Gesellin dieser seltsamen Begebenheit
+zu erkennen. Umsonst &mdash; nur etwas Nasses,
+Zitterndes hielt er in seinen Armen, dessen Wärme langsam
+die eisige Nässe der Hüllen durchdrang, die um ihre
+Glieder schlotterten. Die zarte Gestalt wollte wieder in
+die Knie sinken, aber er raffte sie empor, zog sie herzhaft
+an seine Seite und zwang sie, in raschem Schritt durch
+den lockeren Schnee mit ihm den Fußpfad pleißeaufwärts
+zu verfolgen.</p>
+
+<p>Dabei redete er ohn' Unterlaß auf das junge Menschenkind
+ein, das wankend und noch immer leise wimmernd
+an seiner Seite schritt.</p>
+
+<p>»Nun sagen Sie bloß, meine Gnädigste, wie sind Sie
+auf die verrückte Idee gekommen, bei so schauderhaftem
+Wetter Schwimmversuche in der Pleiße zu machen? &mdash;
+Dabei können Sie sich ja einen Schnupfen holen, den Sie
+in diesem Leben nicht mehr los werden. Denken Sie bloß,
+wenn ich nicht zufällig des Weges gekommen wäre ...
+Und noch dazu in Kleidern, das bringt ja nicht einmal ein
+Mann fertig, geschweige denn so ein kleines zartes Mädel
+wie Sie. &mdash; Oder sind Sie gar eine junge Frau? Dann
+sagen Sie's mir, damit ich Sie richtig anrede ... kommen
+Sie, wir müssen schneller laufen ... damit wir warm
+werden, Sie zittern ja gottserbärmlich. Schade, daß der
+»Wassergott« zugemacht hat, ich wäre kolossal für einen
+Grog oder auch deren mehrere, Sie nicht auch?«</p>
+
+<p>So schwatzte er drauf los, allerhand banales Zeug, was
+ihm gerade in den Kopf kam, und nahm mit Befriedigung
+wahr, daß das Wimmern schwächer und schwächer ward
+und schließlich ganz verstummte.</p>
+
+<p>Und dann kam eine wilde Lust an dem unerwarteten
+Abenteuer über ihn, das in seine verzweifelte Stimmung
+hineingeplatzt war wie ein Weckruf zu neuem Leben ...
+Und immer brennender wurde in ihm die Neugierde, die
+Züge der Unbekannten zu sehen, in deren Schicksal er
+hatte eingreifen dürfen wie vom Himmel gefallen.</p>
+
+<p>Als die beiden einen Augenblick verpusteten, griff er
+in seine Hosentasche und zog die Zündholzschachtel hervor,
+sie war ganz trocken. Die wenigen Sekunden, die er in
+dem nassen Element zugebracht, hatten nicht genügt, um
+seine Kleidung gänzlich zu durchfeuchten. Da ließ er ein
+Hölzchen aufflammen und sah mit jähem Entzücken,
+welchen holdseligen Fang er gemacht. Dabei weckte ihm
+das triefende, glühende Gesicht, von langen dunklen
+Haarsträhnen überhangen, unbestimmte Erinnerungen ...</p>
+
+<p>Aber eine Scheu verbot ihm zu fragen ...</p>
+
+<p>Und das Flämmchen verlosch, das angstvolle Gesicht,
+die hilflos blickenden Augen versanken wieder in der
+Finsternis. Nein, jetzt nicht fragen &mdash; wie wund mußte
+diese arme flüchtige Seele sein ...</p>
+
+<p>Da war der »Wassergott«. Valentin stapfte in die
+schneeverwehte Galerie hinein, aber die Gerettete ließ er
+dabei nicht los.</p>
+
+<p>»Ne, ne, kommen Sie ruhig mit, Gnädigste, ich habe
+Angst, Sie möchten zu viel Geschmack an Ihren Schwimmkünsten
+gefunden haben ... und ob ich Sie zum zweiten
+Male da herausbrächte? Ich weiß wirklich nicht.«</p>
+
+<p>In der Finsternis fand er die weichen, duftigen Pelzhüllen,
+ahnte voll Respekt, daß es sich um Kostbarkeiten
+handeln müsse, und hüllte seine Gefangene sorglich hinein.
+Sie wehrte sich nicht ...</p>
+
+<p>Und nun der Heimweg. Durch das schneebepuderte
+Gitterwerk des dürren Waldes am jenseitigen Ufer
+leuchtete der Widerschein der fernen Stadt, der einen gelblichen
+Lichtbogen wie eine matte Aureole in die niederwallenden
+Schneenebel hineinzeichnete. Perlmutterfarben
+widerleuchtete sein Schein auf den friedlich meerwärts
+gleitenden Pleißefluten.</p>
+
+<p>Das junge Blut, vom raschen Gang, von der fiebernden
+Erregung der Herzen aufgepeitscht, besiegte mählich
+die Frostschauer, die von den nassen Kleidern her die
+Glieder überrieselten. Und mit einem geheimnisvollen
+Gefühl brüderlichen Stolzes hielt der Student das zarte
+Figürchen umschlungen, preßte es an sich, wie um ihm
+abzugeben von der Siedeglut, die ihn durchpulste.</p>
+
+<p>Noch immer schwieg sie, und wie ein Wasserfall redete
+Valentin auf sie ein:</p>
+
+<p>»Das hätt' ich mir weiß Gott auch nicht träumen
+lassen, daß ich meinen Spaziergang in so angenehmer Gesellschaft
+beenden würde. &mdash; Und Sie? Finden Sie es
+nicht doch viel netter, zu zweit hier im Schnee zu waten,
+als einsam da unten in der dreckigen Pleiße zu paddeln?
+&mdash; Sehen Sie mal, wie hübsch sich drüben das Gezweige
+von dem roten Himmel abhebt! Da kann man's wahrhaftig
+sehen, wie helle die Leipziger sind &mdash; sogar der
+ganze Himmel ist hell über dem guten alten Biernest ...
+Aber nu sagen Sie doch auch mal was, Fräulein! oder
+haben Sie Ihre Stimme da unten im Wasser gelassen?
+Das wäre doch schade. Ich denke mir, Sie müssen sehr
+niedlich plaudern können ... Soll ich Sie vielleicht noch
+einmal erleuchten und mich auch, damit Sie sehen, daß
+Sie es mit einem ganz ordentlichen Kerl zu tun haben?
+Sie haben doch am Ende nicht gar Angst vor mir?«</p>
+
+<p>Und horch!</p>
+
+<p>Da klang's auf einmal aus der Dunkelheit neben seiner
+Schulter, leise wie ein Taubengirren:</p>
+
+<p>»Angst ... ach nein &mdash; wie könnte ich Angst vor Ihnen
+haben, Sie sind ja so gut zu mir &mdash;«</p>
+
+<p>»Hurra! sie kann wieder reden!« jauchzte der Bursch.
+»Herrlich! herrlich! Und nun &mdash; nun sagen Sie mir's mal
+gleich, wohin ich Sie bringen darf? Denn nach so einer
+Strapaze gehören kleine Mädchen ins Bett ... Auch ein
+Glühwein könnte nicht schaden. Also &mdash; wohin soll's
+gehen? Heraus damit!«</p>
+
+<p>Leise nannte das Mädchen seine Adresse. Unwillkürlich
+schmiegte sie sich fester in den führenden, schützenden
+Arm. Ihr war, als sei ihr noch nie so wohl gewesen, so
+geborgen wie in diesem Augenblick. Das Dasein, das
+ihr vor einer Viertelstunde noch schal und wertlos erschienen
+war, nun glomm es wieder auf in ihr voll Sehnsucht
+nach neuem Erleben, voll Dankbarkeit, noch da zu
+sein, die eigene Wärme siegen zu fühlen über die eisige
+Nässe, der sie sich anvertraut &mdash; das ferne Leuchten zu
+sehen über der Stadt, wo die Menschen hausten, wo das
+Leben brandete, wo man Komödie spielte &mdash; aß und trank,
+lachte und küßte ... Gott, welch ein Wahn, welch eine
+Raserei war doch nur über sie gekommen und hatte sie
+da hinuntergetrieben &mdash;?</p>
+
+<p>Ach leben &mdash; nur leben. Besser, sich prügeln lassen
+vom Schicksal, besser, sich auf und ab wirbeln lassen zwischen
+Glückseligkeit und Tränen, Tränen und Glückseligkeit, als
+dies kalte Nichts da unten.</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen,« stammelte sie. »Ich danke Ihnen!«</p>
+
+<p>Und lustig schwatzend von den gleichgültigsten, törichtsten
+Dingen, als seien sie zwei alte Bekannte, die sich beim
+Spaziergang begegnet, stapften die zwei Menschen fürbaß
+durch den knietiefen Schnee.</p>
+
+<p>»Haben Sie warme Backen?« fragte der Student.
+»Au! Teufel ja, die brennen ja wie ein Oefchen &mdash; und
+die Hände? Ziehen Sie doch die nassen Handschuhe aus,
+das gibt ja Rheumatismus &mdash; richtig, die sind wie zwei
+Eiszapfen. Da weiß ich Rat, wir werden uns schneeballen.
+Los! Greifen Sie zu, ich laufe voraus. Daß Sie
+mir aber nicht wieder auskneifen und in die Pleiße spazieren!«</p>
+
+<p>Nein &mdash; Asta hatte keine Sehnsucht mehr nach der
+Pleiße. Sie bückte sich, griff mit den erstarrten Händen
+in die lockere Masse, die alles überlagerte &mdash; und klatsch,
+da flog ein raschgeformter Ball dem riesigen Begleiter vor
+die Brust, daß es nur so knallte ... Und lachend, rennend,
+prustend, wie zwei Kinder, tollten die zwei den Weg
+entlang.</p>
+
+<p>Schon schatteten die dunklen Fronten der Vorstadthäuser
+in das silberne Flockengeflitter hinein. Nun galt's
+sittsam und verständig nebeneinander durch die Straßen
+zu schreiten, in denen nur wenige schneebepuderte Gestalten
+unter weißbezuckerten Regenschirmen hastig und
+lautlos ihren Behausungen zustrebten.</p>
+
+<p>Als aber der erste Laternenschein dem wandelnden
+Paar die Gestalt des Partners zeigte, schrie das Mädchen
+plötzlich auf:</p>
+
+<p>»Um Gottes willen, Sie sind ja in Hemdärmeln! Sie
+werden sich den Tod holen!«</p>
+
+<p>»Ach! keine Spur!« lachte der Student. »Ich glühe
+nur so! vorwärts, nur vorwärts!«</p>
+
+<p>Jeder Vorüberwandelnde stutzte, als er das seltsame
+Schauspiel sah, daß ein junger Mann barhäuptig und
+hemdärmelig neben einer elegant bepelzten Dame herschritt.</p>
+
+<p>Rasch war Valentin des Anstarrens, des Stehenbleibens
+satt. Auf der Zeitzer Straße rief er eine Droschke
+an, deren schneebepackter Gaul mühselig und dampfend
+dahin keuchte. Und nun war nach wenigen Minuten die
+Sophienstraße erreicht, die Hausnummer, die das Mädchen
+angegeben.</p>
+
+<p>Es kostete Mühe, in den nassen Kleidern die Treppe
+hinan zu kommen, den Korridorschlüssel zu finden.</p>
+
+<p>Mit Ueberraschung bemerkte der Student, daß es die
+wohlbekannte Wohnung war, in der Mutter Ach schaltete,
+sie, die ganze Generationen von Franken beherbergt hatte.
+Sie, bei der jetzt jener andere wohnte, dem Valentin Pilgram
+in ingrimmiger Einsamkeit eine fürchterliche Vergeltung
+geschworen ...</p>
+
+<p>Starr vor Entsetzen stand die behäbige Witwe, als im
+matten Schein des Flurlämpchens ihre Mieterin vor ihr
+stand:</p>
+
+<p>»Ei, herrjemerschnee! ne so was &mdash; ne so was ...
+Was hab'ns denn nur gemacht, Freilein? ... Und wer
+is denn das? &mdash; Weeß Knebbchen, das is Sie ja der Herr
+Pilgram! Herr Pilgram, is es meeglich?! Nu komm'
+Se doch bloß mal in die Stube 'nein &mdash; ich wer' gleich
+Feier machen &mdash; und Tee wer' ich 'n kochen, i nee so was,
+nee so was.«</p>
+
+<p>Bei dem Namen Pilgram hatte das Mädchen gestutzt.
+Höher noch flammte ihr glühendes Gesicht. Stumm klinkte
+sie ihre Stubentür auf und huschte hinein. Die Tür ließ
+sie offen in dem dunklen Gefühl, daß ihr Retter einen Anspruch
+auf die behagliche Wärme habe, die ihr von drinnen
+entgegenschlug.</p>
+
+<p>Doch der folgte ihr nicht &mdash; starr hingen seine Augen
+an dem weißen Kärtchen, das an der Stubentür befestigt
+war.</p>
+
+<p>»<em class="gesperrt">Das</em> &mdash; sind Sie?« fragte er mit zusammengebissenen
+Zähnen.</p>
+
+<p>»Ja, das bin ich &mdash; kommen Sie doch herein &mdash;
+wärmen Sie sich.«</p>
+
+<p>Zögernden Schrittes trat der Student näher. In
+scheuem Staunen musterten sich die beiden jungen Menschen,
+das Hirn von wirren Gedanken durchkreuzt ...</p>
+
+<p>Frau Wehe hastete herein, rannte geschäftig zum
+Feuer, um frische Kohlen aufzuschütten.</p>
+
+<p>»Nu sagen Se bloß, Herr Pilgram, was haben Se
+denn angefangen alle zwei? Wer looft denn bloß in so en'
+Wetter hemdärmlig 'rum und mit bloßem Koppe?! Und
+naß wie de Katzen seid 'r alle zwee! Da soll wer anders
+draus klug wer'n!«</p>
+
+<p>»Das Fräulein ist spazierengegangen an der Pleiße,
+hat im Dunkeln den Weg verfehlt, ist ins Wasser gefallen,
+ich habe sie herausgezogen,« erklärte Pilgram hastig.</p>
+
+<p>»Gott soll mich bewahr'n!« schrie Frau Wehe. »Nu
+aber mal schnell ins Bett mit dem Kind! &mdash; Und Sie, Herr
+Pilgram, Sie gehen nebenan zum Herrn Thumser und
+nehm' sich Wäsche und Kleider, versteh'n Se mich?! Am
+besten wär's schon, Sie legten sich einfach da nebenan ins
+Bette! Herr Thumser wird schon nich beese sinn! Und
+dann koch' ich Euch Tee oder Grog, 'ne paar Wärmepullen
+unter de Decke, ich wer' schon machen!«</p>
+
+<p>»Nein!« schrie da Asta Thöny. »Herr Thumser, nein
+&mdash; das geht nicht &mdash; der darf nichts davon wissen ... der
+auf keinen Fall!«</p>
+
+<p>»Ach Quatsch!« rief die stämmige Wirtin. »Ihr holt
+Euch ja den Tod alle zwee, da gibt's nischt zu reden &mdash;
+machen Se fort, Herr Pilgram, in's Bette mit Ihn' &mdash;!«</p>
+
+<p>Mit angstvollen, flehenden Blicken hingen des Mädchens
+Augen an den erstarrten Zügen ihres Retters, seiner
+finster zusammengekrausten Stirn. &mdash; Sie schwieg, sie
+wußte, daß sie nicht länger bitten durfte, wo es um seine
+Gesundheit ging, vielleicht um sein Leben ...</p>
+
+<p>Heiser fragte da Valentin Pilgram:</p>
+
+<p>»Thumser? Warum darf der nicht wissen &mdash;? Kennen
+Sie Thumser?«</p>
+
+<p>Tief senkte das Mädchen den Kopf, stand regungslos,
+schauerte plötzlich in Frösten zusammen. Auch der Student
+schwieg. In wirrem Grübeln, in finstrem Forschen
+gingen seine dunklen Blicke zwischen dem zitternden
+Mädchen, der hilflos, verständnislos dreinglotzenden Frau
+hin und wider.</p>
+
+<p>»Kennen Sie Hans Thumser, gnädiges Fräulein?«
+fragte er noch einmal, hart und befehlend. Ein Verdacht
+reckte sich dräuend in ihm auf. So phantastisch, so aberwitzig,
+daß der Verstand sich sträubte, ihn zu formulieren ...</p>
+
+<p>Asta antwortete nicht. Sie sank immer tiefer in sich
+zusammen. Und plötzlich knickte sie in die Knie, ihre
+Arme fielen auf einen Stuhlsitz, das Köpfchen mit den
+triefenden, zerzausten Flechten glitt in die silbernen Falten
+des Pelzwerks, das sich um ihre Glieder schmiegte, und
+ein jähes Schluchzen durchrüttelte die hingeworfene Gestalt.</p>
+
+<p>Valentin Pilgram begriff ... Das fehlte noch, das
+war das letzte ... Und die ganze, kochende sinnverwirrende
+Wut, die den Nachmittag über sein Inneres
+verwüstet, schlug in roter Lohe aus den Tiefen seines
+Wesens empor, stieg ihm in die Augen, in die Stirn, in die
+Fäuste. &mdash;</p>
+
+<p>»Der Hund &mdash;! Ah, der Hund!« knirschte er. »Sorgen
+Sie mir gut für das Fräulein, Frau Wehe! Adieu!«</p>
+
+<p>Er stürzte hinaus. Die Stubentür, die Korridortür
+krachten hinter ihm ins Schloß.</p>
+
+<p>Asta Thöny war emporgefahren. Blitzschnell schloß sich
+die Gedankenkette: Also der da, ihr Retter, das war Valentin
+Pilgram &mdash; er, den sie kannte aus Hansens Erzählungen,
+von dem sie wußte, wie er in jähem Zorn sich
+zur Sühne für eine Schmach gedrängt, die ihrer großen
+Kollegin widerfahren ... Und nun, nun stürmte er von
+hinnen, unvollkommen bekleidet wie er war, schäumend
+vor Wut, wie sie ihn mit einem letzten Blick gesehen. Und
+sein letztes Wort war eine gräßliche Drohung für Hans
+Thumser gewesen. Für ihn, von dem er nicht einmal in
+dieser Not trockene Kleider hatte annehmen wollen.</p>
+
+<p>Das bedeutete Gefahr &mdash; Todesgefahr für den geliebten,
+den treulosen Jungen &mdash;!</p>
+
+<p>Todesgefahr &mdash;! Noch meinte sie den stählernen Druck
+des Armes zu fühlen, der sie aus dem kalten Flutengraus
+gerissen, der sie so sicher und brüderlich heimgeleitet.</p>
+
+<p>Wehe dem, der diesem Arm verfiel.</p>
+
+<p>Nein, nein ... das nicht, das nicht! Um diesen Preis
+gerettet zu sein, nein, das nicht ... o Gott, das nicht &mdash;!</p>
+
+<p>»I herrjemerschnee, Fräulein Thöny, was hat er denn
+nur, der Herr Pilgram, was hat er nur?« stammelte
+Frau Wehe.</p>
+
+<p>»Still, still!« winkte Asta ab. »Lassen Sie mich einen
+Augenblick.« Und hastig sann sie, wo Hans Thumser nur
+stecken könne in diesem Augenblick ...</p>
+
+<p>Ach so &mdash; Mittwoch &mdash; offizielle Kneipe ... Ach, sie
+kannte den Wochenkalender des Korps in- und auswendig.
+Also im Cafébaum, auf der Frankenkneipe ... Und da ...
+da würde ja auch der Rächer ihn suchen ... nein &mdash; das
+nicht ... o Gott, das nicht &mdash;</p>
+
+<p>Und mit einem Ruck stülpte sie das Barett wieder auf,
+klappte den Kragen des Pelzjacketts in die Höhe, und
+triefend und schlotternd, wie sie war, rannte sie an der
+verblüfften Wirtin vorüber, flog die halbdunkle Stiege
+hinunter, stand auf der Sophienstraße ...</p>
+
+<p>Drüben fluteten dichte Menschenströme, vom Glast
+der Laternen des Carolatheaters überstrahlt, vom Flockengestiebe
+silbern umflittert, in die dunkel gähnenden Pforten
+des Kassenflurs hinein.</p>
+
+<p>Gott sei Dank, »Piccolomini« &mdash;! Asta war dienstfrei.
+In die erste Droschke, die drinnen ihre Fracht abgeladen
+hatte und aus der dunklen Ausfahrt herausrumpelte,
+sprang Asta hinein, rief im Einsteigen dem
+Kutscher zu:</p>
+
+<p>»Kleine Fleischergasse, Cafébaum, so schnell das Pferd
+laufen kann &mdash; einen Taler Trinkgeld sollen Sie haben,
+wenn's rasch geht!«</p>
+
+<p>Der Wagenschlag klappte, der Kutscher schlug die
+Peitsche dem Gaul um die dampfenden Flanken, und
+durch die dunklen, schneeverwehten Straßen schwerfällig
+von dannen rollte das Gefährt.</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>13.</h2>
+
+<p class="start-chapA">Auf der Sophienstraße geriet Valentin Pilgram in den
+Schwall der Theaterbesucher hinein, der zum Carolatheater
+drängte.</p>
+
+<p>Ach so &mdash; ha, ha! natürlich, da spielte man ja Komödie,
+heut' wie alle Abende!</p>
+
+<p>Und Jucunda Buchner natürlich wieder der Stern des
+Abends, der Zielpunkt aller Blicke, die Sehnsucht aller
+Herzen! Ja gewiß: wie er sich durch die Menge schob, auf
+allen Lippen das leise, andächtig hingesprochene: Die
+Buchner ... die Buchner ...</p>
+
+<p>Der lange Gesell, der im tollen Schneetreiben hemdärmelig
+und barhaupt sich durch die Menge zwängte,
+machte alles stutzen, alle Hälse sich wenden.</p>
+
+<p>»Nanu, was hat denn der? Das is wohl ä Verrickter
+am Ende! Schutzmann! he, Schutzmann! Nähmen Se'n
+doch feste, den Langen da!«</p>
+
+<p>Nein &mdash; so ging's nicht weiter. Er erwischte eine
+Droschke, warf sich hinein, befahl Katharinenstraße zweiundzwanzig.
+Er konnte ja auch unmöglich so auf Korpskneipe
+erscheinen, sie hätten ihn da wohl auch für wahnsinnig
+gehalten &mdash; hätten sein Rächeramt, seine heilige
+Mission, die beleidigte Ehre des grün-gold-roten Bandes
+wiederherzustellen, für einen Ausfluß des Aberwitzes genommen.
+Und dann: es schüttelte ihn. Fieberglut und
+Frostschauer tobten abwechselnd durch seine Reckenglieder.</p>
+
+<p>Herrgott! Dieser alte Klepper wollte gar nicht vom
+Fleck.</p>
+
+<p>Und doch &mdash; es wurde geschafft. Er flog die Treppe
+hinauf, langte keuchend oben an. Als er den Schlüssel
+suchte, taumelte er &mdash; das Fieber verwirrte sein Hirn.
+Kaum gelang es ihm, den Schlüssel einzustecken &mdash; so leise
+er konnte, drehte er um, schlich sich auf Zehenspitzen durch
+den dunklen Flur, machte drinnen Licht &mdash; erschrak, als er
+sein fahles Gesicht im Spiegel sah mit den stieren Augen,
+den rotfleckigen Wangen.</p>
+
+<p>Einerlei &mdash; nur fort, nur es zu Ende bringen!</p>
+
+<p>Er riß die triefenden, dunstigen Kleider vom Leibe,
+die schweißnasse Wäsche, zog sich vom Kopf bis zu Füßen
+frisch an, schauerte zusammen in der Siedeglut, die ihn
+durchrann. Er fühlte sich plötzlich müde zum Sterben &mdash;
+das aufgeschlagene Bett zog ihn magnetisch an. War's
+nicht das beste, da hineinzukriechen, die Decke über die
+Ohren zu ziehen und unterzusinken in bleiernes Vergessen
+...?</p>
+
+<p>Aber nein &mdash; das ging ja nicht. Die Mission! die
+Mission ... Abrechnung mußte gehalten werden. &mdash;
+Sauber mußte die Welt wieder werden ... Der Schandfleck
+mußte weg ... Und mit fliegenden Händen kleidete
+er sich an. Taumelte abermals, als er die Stiefel anziehen
+wollte, biß die Zähne zusammen, bezwang die todgleiche
+Erschlaffung.</p>
+
+<p>Als er vor dem Spiegel die Halsbinde zu schlingen
+versuchte, versagten die Hände. Da knüpfte er nur die
+Enden in einen wüsten Knoten, stülpte statt des Hutes, der
+draußen an der Pleiße geblieben, eine schwarzseidene
+Mensurmütze auf, hing statt des Winterpaletots, den er
+ebenfalls im Schnee gelassen, einen dünnen Sommerhavelock
+um ... und nun fort &mdash; fort ...</p>
+
+<p>Er warf einen Blick auf die Uhr &mdash; dreiviertel neun,
+gerade recht. Die offizielle Kneipe mußte eben begonnen
+haben, und bis zur Kleinen Fleischergasse waren's ja nur
+zwei Minuten.</p>
+
+<p>Halt! Einen Stock brauchte man noch, man konnte
+nicht wissen ...</p>
+
+<p>Nun, so mochte es schon das silbern beschlagene spanische
+Rohr sein, die Dedikation seines Leibburschen. Daß
+er kein Recht mehr hatte, dieses Stück zu führen, das
+mit dem Zirkel Franconias geschmückt war, was verschlug's
+in dieser Stunde &mdash;?! Es war eben doch ...
+ein Stock ...</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Noch einer war an diesem Nachmittage bis tief in den
+endlosen Novemberabend hinein draußen im Schnee
+umhergeirrt: Hans Thumser.</p>
+
+<p>Als er aus Jucundas Zimmer gestürzt, an dem verblüfften
+Erbprinzen vorüber, da war es auch ihm unmöglich
+gewesen, es auszuhalten zwischen den hastenden
+Menschen, den keuchenden, dampfenden Droschkengäulen,
+in den engen, finstern Straßen, unter den blinzelnden
+Laternen.</p>
+
+<p>Er war ins Rosental geraten und stundenlang durch
+die schweigende Einsamkeit des schneeverwehten Parks
+geirrt.</p>
+
+<p>Ha! ha! Also so lief die Karre! Freilich, freilich!
+Wenn Fürstengnade winkte, was galten da ein paar armselige
+Studentlein ...? Denen spielte man eine nette
+kleine Komödie vor: Hilflose, beleidigte, schutzbedürftige
+Unschuld dem einen, glühendes Verständnis, tiefinnige
+Seelenharmonie dem andern ... Und dann &mdash; dann
+ließ man einfach im rechten Augenblick den Vorhang
+fallen, und ein neues Stück fing an.</p>
+
+<p>Komödie &mdash; Komödie &mdash; jedes Wort, jeder Blick, nichts
+als Reminiszenzen aus abgespielten Stücken, nichts als
+der Nachhall erlogenen, erheuchelten Gefühls ... Komödie
+... Komödie ... Komödie &mdash;!</p>
+
+<p>War das nicht Strafe? War dieser Abfall, diese
+Blamage, die fressende Scham &mdash; da drinnen &mdash; war das
+alles nicht verdient?! Hatte nicht auch er selber leichtherzig
+den Vorhang fallen lassen über einem lieblichen
+Spiel voll erster Seligkeit, voll flammender Glut und
+reizender Tändelei, das die vergangenen Wochen seinem
+jungen Leben beschert hatten?</p>
+
+<p>War er besser als jene Jucunda? Er, der danklos
+und roh die Gesellin so köstlicher Entzückungen beiseite geschoben,
+um diesem gleißenden Phantom nachzujagen, das
+heute vor seinen entsetzen Augen die Larve hatte fallen
+lassen?</p>
+
+<p>Asta! Asta! Dich hatte ich. Du hast dich mir geschenkt
+... und ich ließ dich los und rannte einem Irrwisch
+nach ...</p>
+
+<p>Ja, Hans Thumser ging streng mit sich ins Gericht.
+Er kam sich so klein vor, so dummejungenhaft, so unwert
+alles dessen, was die vergangenen Wochen ihm in den
+Schoß geworfen. Eine jähe Sehnsucht kam über ihn, sich
+in Astas Arme zu flüchten, die Stirn an ihre Knie zu
+drücken und um Verzeihung zu betteln.</p>
+
+<p>Und doch &mdash; Knabentrotz und Knabenscham jagten ihn
+immer tiefer in die Schneewildnis hinein. Jetzt vor Asta
+hintreten und bitten: vergiß &mdash;?!</p>
+
+<p>Sie würde sogleich begreifen, daß er &mdash; nun, daß er
+eben ... abgefallen war bei Jucunda. Und würde sie
+dann nicht triumphieren, sich bedanken für das Vergnügen,
+ihn über seinen Abfall trösten zu sollen?</p>
+
+<p>Nein &mdash; das ging nicht. Das mußte man allein hinunterwürgen.
+Ha ha! Gab's nicht ein Mittel, die Qual
+dieser Beschämung, dieser fürchterlichen Blamage abzukürzen?
+Wozu war man denn Student &mdash; Korpsstudent
+&mdash; Fuchsmajor?! Und wozu heut abend offizielle
+Kneipe?</p>
+
+<p>Ganz recht: besaufen werden wir uns! einen Eimer
+Bier in uns hineinpumpen, bis wir mitsamt der ganzen
+Corona der Füchse unterm Tisch liegen und den Himmel
+für 'nen Dudelsack ansehen. Hol' der Teufel die Weiber &mdash;!</p>
+
+<p>Und morgen früh auf dem Fechtboden &mdash; Filzmaske
+aufgesetzt, drauflos gedroschen, solange Arm und Schädel
+halten wollen &mdash;!</p>
+
+<p>Kaum konnte Hans die Stunde der offiziellen Kneipe
+erwarten. Als er zum Cafébaum schlenderte, grinsten
+ihm von allen Anschlagsäulen die riesigen Lettern entgegen:</p>
+
+<p class="center">
+»Wallensteins Lager«<br />
+»Die Piccolomini«<br />
+</p>
+
+<p>Pah! was für Hieroglyphen waren das eigentlich?!
+Was ging das alles ihn an? Pah, die Meininger! Pah!
+Schiller &mdash;!</p>
+
+<p>Komödie ... Komödie!</p>
+
+<p>Damit war man fertig, das mußte versunken sein und
+vergessen. &mdash; Und was stand ganz unten am Rande des
+Zettels?</p>
+
+<p class="center">
+»Freitag: Wallensteins Tod« &mdash;?!<br />
+</p>
+
+<p>Ja, hatte man gestern nicht selbst probiert, sollte
+morgen früh wiederum probieren für die Komödie von
+übermorgen? Hatte man nicht im Eisenwams der Pappenheimer
+Kürassiere gesteckt und sich als Friedländischer
+Reitersknecht gefühlt, eine Stunde lang?</p>
+
+<p>Lüge, alles Lüge ... äffisches Spiel mit längst verpulster
+Glut, längst verschütteter Leidenschaft &mdash; Komödie
+das alles! Unwürdig des jungen sehnenden Menschentums,
+das man in allen Knochen fühlte, das leidend sich
+aufkrampfte gegen die Not der Stunde &mdash; das nach
+wildem Rausch, nach taumelnder Betäubung sich sehnte,
+das sich selbst vergessen wollte und vergessen alles um
+sich her &mdash;!</p>
+
+<p>Nein &mdash; Hans Thumser wird niemals wieder Komödie
+spielen ...</p>
+
+<p>Hans Thumser wird mehr nicht sein wollen, als er ist:
+ein ungarer, unfertiger Mensch, dessen verdammte Pflicht
+und Schuldigkeit das eine nur ist: zu lernen, zu arbeiten,
+sich zu stählen für die kommenden Kämpfe des wahren,
+des wachen Lebens. Morgen, morgen soll's beginnen &mdash;
+heut aber: Bier her! Saufen bis zum Umsinken! Vergessen
+... vergessen ... vergessen ...</p>
+
+<p>Da war der »Cafébaum«. Da winkte vom Sims des
+ersten Stockwerks das dreifarbene Schild, schneeüberlagert.
+Und der steingemeißelte riesige Türke, der sich von
+dem feisten kleinen Putten die Mokkaschale kredenzen
+läßt, trug über seinem steinernen Turban einen doppelt
+so hohen aus Schnee ...</p>
+
+<p>Nun die enge, muffige Stiege hinauf, nun die Klingel
+gezogen. Drinnen lärmten schon die Korpsbrüder, die
+sich zum gewohnten Zechgelage versammelten. Als der
+Korpsdiener öffnete, empfing den Ankömmling schon auf
+dem Korridor, wo rings die grünen Kneipjacken mit den
+rot und goldenen Schnüren an den Wänden hingen,
+lautes Hallo.</p>
+
+<p>Volkner, der Senior, hatte geschwatzt: er war Hans
+Thumser begegnet, als dieser mit einem mächtigen, seidenpapierumhüllten
+Rosenstrauß in das Haus Katharinenstraße
+zweiundzwanzig hineingegangen war. Daß dieser
+Besuch nicht etwa dem früheren Korpsbruder Pilgram gegolten
+habe, das hatte der Blumenstrauß verraten. Wo
+also konnte Thumser gewesen sein als bei Jucunda
+Buchner? Halb mit Ulk und halb mit Neid empfing man
+den Glücklichen. Der Name Jucundas war ein bißchen
+verdächtig von dem Fall Pilgram her. Obwohl der
+weiland Senior sich bei den Besuchen der früheren Korpsbrüder
+hartnäckig über seine Beziehungen zu der Diva
+ausschwieg, hatten die Korpsbrüder doch allmählich herausbekommen,
+daß jenem sein ritterliches Eintreten für
+das gekränkte Mädchen wenig Dank eingetragen hatte ...</p>
+
+<p>Sich mit Jucunda Buchner einzulassen, das hatte also
+beinahe schon einen Beigeschmack von Komik und drohendem
+Hereinfall ...</p>
+
+<p>Und dennoch ... der Duft des Lorbeers, der eine ganze
+Stadt berauschte, zog wie lichter Weihrauchdunst auch
+durch die Hirne, welche die grünen Mützen bedeckten ...</p>
+
+<p>Der Schwall der Neckereien, die sich über Hans Thumser
+ergossen, ging ihm heiß in das siedende Blut &mdash; immer
+wilder schwoll die sinnlose Saufstimmung in ihm empor.</p>
+
+<p>»Füchse, <i lang="la">ad loca</i>!« brüllte er und nahm am unteren
+Ende der Kneiptafel Platz, auf dem hochlehnigen Stuhl,
+der in Eichenschnitzerei die Märchengestalt eines aufrechtstehenden
+Fuchses zeigte, in Cerevis, Couleurband und
+Kanonenstiefeln, den Vorderlauf mit einem Schläger bewehrt.
+Und um ihren jungen Herrn und Meister zur
+Rechten und zur Linken scharte sich die Fuchscorona, sieben
+junge Bürschlein, darunter vier Krasse, die erst seit ein
+paar Wochen der Zucht ihres Schulmeisters entronnen
+waren, um der noch viel gestrengeren des Fuchsmajors
+zu verfallen &mdash; und drei Brander, Wangen und Nasen
+schon mit den ersten Dokumenten bewährten Mensurschneids
+verziert.</p>
+
+<p>»Füchse, ich komm Euch den ersten und den zweiten
+Halben!« rief Hans Thumser und schüttete das volle Glas
+hinunter, das der Korpsdiener vor ihn hingesetzt.</p>
+
+<p>Gleichzeitig beschied auch der Senior Volkner alles,
+was der Fuchtel des Fuchsmajors bereits entwachsen war,
+an das obere Ende der Kneiptafel: die Korpsburschen,
+die Inaktiven der Kartell- und befreundeten Korps, die
+sich in Leipzig studienhalber aufhielten und beim Korps
+verkehrten, und einzelne Alte Herren aus der Stadt, die
+sich dann und wann zu den Zusammenkünften des Korps
+einfanden.</p>
+
+<p>Und nun entwickelte sich das altvertraute Bild: von
+allen Wänden schauten die Wappenschilder, die gekreuzten
+Fahnen und Schläger, die Ehrenhumpen und silberbeschlagenen
+Trinkhörner, die zahllosen jahrzehntealten
+Gruppenbilder, Silhouetten, <a id="InCorr5">Porträte</a> der einstigen Mitglieder
+des Bundes auf die zechende und lärmende Schar
+herunter.</p>
+
+<p>Mit zeremoniellem Anstand erhob sich der Erste:</p>
+
+<p>»<i lang="la">Silentium!</i> Wir trinken zur Eröffnung einer
+fidelen, offiziellen Kneipe unser Glas in Gestalt eines
+Schoppens Salamander! <i lang="la">Ad exercitium salamandri</i>
+&mdash; eins, zwei, drei!«</p>
+
+<p>In langen Güssen kollerte der erste Ganze in die zechbereiten
+Mägen, rasselnd wirbelte der Salamander und
+endete mit einem krachenden Aufklappen aller Gläser auf
+die massive Eichenplatte der Kneiptische.</p>
+
+<p>»<i lang="la">Silentium!</i>« klang da wieder die Stimme des Präsidenten:
+»Wir singen als erstes offizielles Lied auf
+Seite 159: Brüder, zu den festlichen Gelagen ...«</p>
+
+<p>In rauhem, taktfestem Unisono schwoll das Lied durch
+den niedern Raum, in dem das Brandopfer der Pfeifen
+und Zigarren sich mystisch über der Sängerschar emporkreiselte:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Brüder, zu den festlichen Gelagen<br /></span>
+<span class="i0">Hat ein guter Gott uns hier vereint,<br /></span>
+<span class="i0">Allen Sorgen laßt uns jetzt entsagen,<br /></span>
+<span class="i0">Trinken mit dem Freund, der's redlich meint.<br /></span>
+<span class="i4">Da, wo Nektar glüht,<br /></span>
+<span class="i4">Holde Lust erblüht,<br /></span>
+<span class="i0">Wie den Blumen, wenn der Frühling scheint.«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Und Hans Thumser fühlte beglückt, wie die dumpflastende
+Beklemmung der einsamen Spätnachmittagstunden
+von ihm abfiel, und in grimmigem Behagen stürzte
+er sich hinein in den schäumenden Strudel des Gelages,
+spürte, wie alles, was ihn so im Tiefsten erschüttert, verschwamm,
+versank, verflog &mdash; und nichts mehr war, als
+der tolle Rausch der Stunde.</p>
+
+<p>»Füchse! Ich komme Euch den elften und zwölften
+Halben!«</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Lasset nicht die Jugendkraft verrauchen,<br /></span>
+<span class="i0">In dem Becher winkt der goldne Stern!<br /></span>
+<span class="i0">Honig laßt uns von den Lippen saugen,<br /></span>
+<span class="i0">Lieben ist des Lebens süßer Kern!<br /></span>
+<span class="i4">Ist die Kraft versaust,<br /></span>
+<span class="i4">Ist der Wein verbraust,<br /></span>
+<span class="i0">Folgen, alter Charon, wir Dir gern!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>&mdash; so verscholl das hellaufrauschende Lied ...</p>
+
+<p>»<i lang="la">Silentium</i> &mdash; schönes Lied <i lang="la">ex</i>! Ein Schmollis den
+Sängern!«</p>
+
+<p>Da trat der Korpsdiener ein. Das glänzende Bemmchengesicht
+verstört, fassungslos. Er schlich sich zu dem
+ragenden Stuhl des Ersten heran, flüsterte mit vorgehaltener
+Flosse seinem jungen Herrn etwas ins Ohr, das
+diesen stutzen und auffahren machte. Einen Augenblick
+sann Volkner nach &mdash; dann flüsterte er dem Korpsdiener
+zu:</p>
+
+<p>»Es ist gut &mdash; sagen Sie's Herrn Thumser &mdash; er mag
+hinausgehen.«</p>
+
+<p>Mit scharfen Blicken verfolgte Volkner den Gang des
+Korpsdieners, der sich nun mit so lächerlicher Behutsamkeit,
+als tripple er auf Eiern, hinter den Stühlen seiner
+Herren entlang zum Fuchsmajor schob und auch diesem
+seine Botschaft zuraunte:</p>
+
+<p>»Entschuld'gen Se, Herr Thumser &mdash; da draußen is
+Sie nämlich der Herr Pilgram &mdash; der läßt Ihn' bitten, ob
+Se nich mächten so freindlich sinn und gomm'n een Augenblickchen
+auf'n Flur &mdash; er hat 'n ä wicht'ge Mitteilung zu
+machen!«</p>
+
+<p>Ganz deutlich sah Volkner, wie Thumser zusammenschrak,
+hastig aufsprang, einen Augenblick nachsann, dann
+mit einem fragenden Blick die Erlaubnis erbat, die Kneiptafel
+zu verlassen. Nachdem Volkner Gewährung genickt,
+bat Thumser den ihm zunächst sitzenden Korpsburschen,
+ihn in seinem Amt als Vorsitzender der Fuchsentafel eine
+Weile zu vertreten. Dann raffte er sich zusammen und
+schritt aufrecht, doch blaß, mit zusammengezogenen Brauen
+zur Tür hinaus.</p>
+
+<p>Als er mit dem Korpsdiener durch das anstoßende
+Konventszimmer schritt, flüsterte der Alte ihm zu:</p>
+
+<p>»Se missen nämlich wissen, Herr Thumser, es is Sie
+schon vor eener Viertelstunde eene sähre hiebsche, junge
+Dame dagewesen und hat mich gefragt, ob der Herr Pilgram
+mächte uff der Kneipe sinn. Nu, da hab'ch ihr
+natierlich nur kennen sagen, daß der Herr Pilgram ieberhaupt
+nich mehr wirde uff Kneipe komm' &mdash; und da is se
+denn wieder abgemacht. Ich kann Ihn' nur sagen, Herr
+Thumser, sähr ä hiebsche Dame is es gewesen! Nobel,
+püh, ich kann Ihn' sagen, Herr Thumser &mdash;!«</p>
+
+<p>Hans Thumser war einen Augenblick stehengeblieben.
+Wirre Vermutungen schossen hin und wider. Pilgram &mdash;?
+Und eine Dame, die nach Pilgram fragte? Was für unwahrscheinliche
+Begebenheiten &mdash; auch nicht den Schimmer
+eines Verständnisses fand Hans.</p>
+
+<p>Wer konnte die Dame sein, die Pilgram auf der
+Frankenkneipe vermutete &mdash;? Was wollte Pilgram von
+ihm selber &mdash;?!</p>
+
+<p>Nun &mdash; man würde ja hören ... Und abermals
+straffte Hans den Nacken und öffnete die Tür zum Korridor.</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Herzklopfend, von Glut und Frost hin und wider geschüttelt,
+war Asta Thöny vor dem Cafébaum aus der
+Droschke in den weichen Schnee gesprungen, der nun schon
+fußtief Bürgersteig und Fahrdamm der schmalen Gasse
+überzog. Ob ihr Retter wohl schon drüben sein mochte?</p>
+
+<p>Hell erleuchtet glänzten die Fenster des ersten Stocks in
+das schummerige Dunkel der Straße hinaus, während die
+ragenden Fronten der geschwärzten Gebäude ringsum
+nur noch wenige matte Lichtspuren zeigten. Auf der
+Kleinen Fleischergasse wohnte nur bescheidenes Bürgertum,
+da ging man früh zur Rast.</p>
+
+<p>Asta trat auf das jenseitige Trottoir und spähte hinauf.
+Ab und an huschte droben schattenhaft der Umriß
+einer jungen bemützten Männergestalt vorüber. Durch
+die verschlossenen Doppelfenster drang Lachen, vielstimmiges
+Gespräch, Tabakwolken kräuselten zur Decke, Wappenschilder,
+Schläger blinkten an den Wänden &mdash; sonst
+war nichts zu erkennen.</p>
+
+<p>Es blieb nichts übrig: Asta mußte sich in das dunkle
+jahrhundertalte Gebäude hineinwagen, mußte fragen, ob
+droben Herr Pilgram schon eingetroffen. Mit versagendem
+Herzschlag kletterte sie die winklige, dunstige Stiege
+hinan, hielt einen Augenblick vor der Tür still, an der ein
+grün-gold-rotes Farbenschild angebracht war und ein
+längliches Porzellanschildchen mit der Aufschrift:</p>
+
+<p class="center" style="font-size:0.9em">
+»Corps Franconia.«<br />
+</p>
+
+<p>Drinnen klang lauter nun Lärm und Gelächter. Was
+half's &mdash; sie mußte es wagen ...</p>
+
+<p>Eine schrille Klingel schlug an, Schritte tappten heran,
+ein ältliches, gerötetes, glattrasiertes Männergesicht lugte
+durch den Spalt und blinzelte befremdet, als es des ungewohnten
+Besuches ansichtig ward.</p>
+
+<p>Mit stammelnden Lippen fragte Asta, ob Herr Pilgram
+schon angekommen. Verblüfft grinste der Türhüter
+und erklärte: Herr Pilgram gehöre nicht mehr zum Korps,
+er komme überhaupt nicht mehr.</p>
+
+<p>Gottlob &mdash; also jedenfalls noch nicht zu spät gekommen
+...</p>
+
+<p>Und Asta huschte wieder die Treppe hinunter, stapfte
+in den Schnee hinaus und patrouillierte auf dem jenseitigen
+Bürgersteig, frostgeschüttelt, erwartungfiebernd.</p>
+
+<p>Ab und zu kam noch eine grünbemützte Jünglingsgestalt
+und bog in den schlechterleuchteten Flur des Cafébaums
+ein. Von Pilgram keine Spur! &mdash; Ob er seinen
+Vorsatz aufgegeben hatte? Sie wußte ja nicht, was er
+eigentlich geplant hatte, aber etwas Grausames, etwas
+Wildes, etwas Schauerliches mußte es gewesen sein! Davon
+hatten seine Züge deutlich genug gesprochen. Und
+geduldig trippelte das Mädchen auf und ab, ohne einen
+Blick von dem schmalen Lichtspalt zu wenden, der durch
+die angelehnte Tür des Restaurants auf die Straße lugte.</p>
+
+<p>Der Schneefall hatte aufgehört. In winterlicher
+Schwermut gähnte die menschenleere Straße. Und in die
+lautlose Stille, welche die abendliche Stadt überlagerte,
+klang nun von drüben ein munterer Burschensang, gedämpft
+durch die Doppelfenster, doch deutlich vernehmbar.
+Die Weise meinte Asta zu kennen, aber Worte dazu wußte
+sie nicht. Ach, da oben war er, der liebe, böse Junge ...</p>
+
+<p>Schau! zur Rechten, vom Marktplatz her glitt lautlos
+ein riesiger Schatten heran, scharf abgezeichnet von dem
+weißen Grunde der Straße, vom gelben Lichthof, den die
+Laternen in die Nebel der Nacht zeichneten.</p>
+
+<p>Er war's! Mit raschen Schritten steuerte er dem
+»Cafébaum« zu. Da schoß Asta über den schmalen
+Straßendamm, traf hart an der Tür auf Pilgram:</p>
+
+<p>»Herr Pilgram &mdash; ach, Herr Pilgram!«</p>
+
+<p>Gesenkten Blickes war jener geschritten, nun schrak er
+zusammen bei der unerwarteten Begegnung.</p>
+
+<p>»Ah &mdash; Sie, mein gnädiges Fräulein? &mdash; Ja, um
+Gottes willen, sind Sie denn toll? Warum nicht im Bett
+&mdash; warum hier &mdash; was soll das heißen?!«</p>
+
+<p>»Ich hatte solch entsetzliche Angst, Herr Pilgram!«</p>
+
+<p>»Angst? Was fällt Ihnen ein! Angst? Um wen?«</p>
+
+<p>»Um Sie, Herr Pilgram, um Sie und ... ach! Sie
+wissen's ja ... um wen &mdash; um wen noch. Herr Pilgram,
+ich bitte Sie &mdash; ich flehe Sie an, was haben Sie vor gegen
+Herrn Thumser?«</p>
+
+<p>Flehend hatte sie mit beiden Händen den linken Arm
+des Studenten umklammert.</p>
+
+<p>»Aber Verehrteste ... ich begreife faktisch nicht ...
+wie kommen Sie auf derartige Vermutungen?«</p>
+
+<p>»Ach, ich weiß ... ich weiß ... Sie wollen sich
+rächen an Herrn Thumser! Ich weiß alles &mdash; alles weiß
+ich ... Fräulein Buchner, meine Kollegin &mdash; Sie sind
+für sie eingetreten damals ... und dann ... dann hat sie
+sich schlecht gegen Sie benommen ... und Sie, Sie hatten
+doch so viel für sie dahingegeben, nicht wahr, so war's
+doch? Und heut &mdash; heut ist Herr Thumser bei Fräulein
+Buchner zum Tee gewesen, nicht wahr? ... Und Sie,
+Sie haben das gehört und sind wütend auf ihn &mdash; weil
+Sie denken, er hat mehr Glück bei Fräulein Buchner als
+Sie nicht wahr? O, gestehen Sie's nur, es ist ja keine
+Schande &mdash; und dann, dann haben Sie mich gefunden
+da draußen und denken, er hat mich auf dem Gewissen ...
+Sie sehen, ich weiß, ich weiß alles. Und nun, nun wollen
+Sie ihn &mdash; ich weiß nicht, was Sie mit ihm machen
+wollen, aber etwas Schreckliches ist's gewiß. Sehen Sie
+&mdash; Sie schweigen &mdash; sehen Sie, ich habe alles begriffen,
+alles! Ist's nicht so?«</p>
+
+<p>Mit zusammengekniffenen Lippen, die Augen fast geschlossen,
+regungslos hatte Valentin Pilgram den Schwall
+dieser bebenden Fragen über sich dahinschauern lassen.
+Mit grimmiger Scham fühlte er sich durchschaut, fühlte
+den geheimsten Trieb seines Wollens bloßgelegt, den er
+vergeblich mit dem lügnerischen Pomp eines Rächers verratener
+Ehre verhüllt hatte, und der doch nichts anderes
+war im letzten Grunde als der Neid des Verschmähten
+gegen den Glücklichen, als Eifersucht &mdash; ganz ordinäre,
+banale Eifersucht ...</p>
+
+<p>Doch nein, das war ja nicht wahr &mdash; das durfte ja
+nicht wahr sein! Da oben klang der muntere Burschensang
+&mdash; da oben tafelte die Runde derer, die sich Mitglieder
+des ältesten Korps der Hochschule nennen durften,
+die das grün-gold-rote Band tragen durften, das nur den
+Makellosen schmücken soll. Und in ihrer Mitte saß einer,
+der doppelten Verrats schuldig war: an dem Gefährten
+dreier Semester und an der Gesellin glückseliger Liebesstunden.</p>
+
+<p>Und er &mdash;? Er hatte auf all das verzichtet, verzichten
+müssen um der Ehre willen. Hatte das einen Sinn?
+Durfte das so bleiben? Nein, beim Himmel, das sollte es
+nicht, solange es einen Valentin Pilgram gab. Wenn er
+denn schon selber die geliebten Farben nicht mehr tragen
+durfte, deren er doch wahrhaft würdig war wie einer,
+sollte dann der andere sich mit ihnen brüsten dürfen, der
+das Recht auf sie schmählich verscherzt hatte ...?!</p>
+
+<p>»Herr Pilgram,« klang's da in schmelzendem Flehen
+neben ihm, »so sprechen Sie doch! Bitte, bitte, so sprechen
+Sie doch, habe ich nicht recht?«</p>
+
+<p>»Mein verehrtes Fräulein,« sagte der Student, indem
+er seinen linken Arm der flehenden Umschlingung entzog,
+»ich bedaure, Ihnen über mein Tun und Lassen keine
+Rechenschaft ablegen zu können. Es mag sein, daß ich
+etwas Aehnliches, wie Sie denken &mdash; nun, daß ich ... das
+gewollt habe ... und noch will. Wenn es so ist, so dürfen
+Sie überzeugt sein: ich weiß genau, was meine Pflicht
+ist ... Und darum muß ich Sie schon bitten, mich gewähren
+zu lassen.«</p>
+
+<p>Da trat ihm das Mädchen in den Weg, legte beide
+Hände auf seine Schultern, brennende Augen starrten zu
+ihm empor, aus denen Tränen rannen, hell aufblitzend
+im matten Lichtstreifen, der aus der Flurtür in den Schnee
+der Gasse fiel:</p>
+
+<p>»Nein &mdash; nein, das dürfen Sie nicht! Mir zuliebe
+dürfen Sie's nicht ... Ja, es ist wahr, wegen dem da
+oben hab' ich heute das Leben wegwerfen wollen &mdash; nun
+haben Sie mich gerettet &mdash; aber wenn Sie ihm etwas
+zuleide tun, dann ist alles aus, dann hätten Sie mich nur
+lieber gleich da unten in der Pleiße lassen sollen ... Ich
+will nicht, daß ihm ein Leids geschieht um meinetwillen &mdash;
+ich will's nicht &mdash; und Sie, Sie dürfen's nicht &mdash; Sie
+dürfen mich nicht wieder dahin zurückstoßen, woher Sie
+mich heut abend geholt haben &mdash; nein! Herr Pilgram,
+das dürfen Sie nun und nimmermehr.«</p>
+
+<p>»Gnädiges Fräulein,« sagte Valentin, »wenn es Sie
+beruhigen kann, so will ich Ihnen versichern: das, was
+jetzt gleich geschehen wird, war beschlossene Sache schon
+ehe ich Sie ... da draußen ... fand. Ich kann mich nicht
+darauf einlassen, Ihnen das alles so auseinanderzusetzen.
+Was Sie von mir denken mögen oder nicht denken mögen
+&mdash; ich kann's bedauern, aber ich kann's nicht ändern. Das
+alles muß nun seinen Lauf gehen. Versuchen Sie nicht
+mich aufzuhalten, es hat keinen Zweck.«</p>
+
+<p>Es sollte wohl nur ein sanfter Druck sein, mit dem die
+hageren Hände des weiland Frankenseniors die runden
+Gelenke der Schauspielerin von seinen Schultern lösten,
+doch er war unwiderstehlich, wie das Zupacken stählerner
+Zangen. Mit der gleichen unerbittlichen Gewalt, mit der
+er vor wenig Stunden des Mädchens Glieder der Flutenumschlingung
+entrissen, schob er sie nun zur Seite, wie
+ein willenloses Püppchen, und war mit zwei raschen
+Schritten im gähnenden Toreingang verschwunden.</p>
+
+<p>Asta taumelte, als der Druck der gewaltigen Hände
+plötzlich nachließ. Dabei trat sie unversehens einen halben
+Schritt rückwärts, geriet mit dem Fuß in den lockeren
+Schneeaufwurf über dem Rinnstein, sank tief ein,
+strauchelte, fiel in die Knie, stieß einen Schmerzenslaut
+aus: sie mußte sich den Fuß verstaucht haben. Aber die
+heiße Angst um das, was werden mochte, jagte sie wieder
+empor. Sie humpelte mit schmerzverzogenem Gesicht zur
+Tür, stieß sie auf, lauschte hinein. Droben auf der Treppe
+waren Pilgrams Schritte schon verhallt. Nur das Burschenlied
+brauste noch immer weiter, klang und schwang
+durch das ganze altersmüde Gebäude. In dem kleinen
+Restaurant des Erdgeschosses zur Linken das schläfrige
+Stammtischgeschwätz, das Auftrumpfen der Karten, das
+Klappern der Biergläser. Asta schlich durch den Hausflur,
+hinkte mühsam die Treppe hinauf, stand wieder an
+der Tür mit dem Porzellanschildchen: Corps Franconia,
+legte das Ohr an die dünne Holzwand und lauschte.</p>
+
+<p>Ganz deutlich dröhnte nun ein neuer Vers des feierlichen
+Liedes da drinnen, dazwischen halblaute Stimmen,
+es schien Pilgram zu sein, welcher im Flur mit dem alten
+Mann verhandelte, der sie vorhin an der Pforte beschieden.
+Aber dies leise Gespräch blieb unverständlich,
+dagegen war der Text des Liedes Wort für Wort zu verstehen.
+In frohem Trotz scholl die alte Jugendweise
+daher:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Lasset nicht die Jugendkraft verrauchen,<br /></span>
+<span class="i0">In dem Becher winkt der gold'ne Stern!<br /></span>
+<span class="i0">Honig laßt uns von den Lippen saugen,<br /></span>
+<span class="i0">Lieben ist des Lebens süßer Kern!<br /></span>
+<span class="i4">Ist die Kraft versaust,<br /></span>
+<span class="i4">Ist der Wein verbraust,<br /></span>
+<span class="i0">Folgen, alter Charon, wir Dir gern!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Und nun plötzlich war das Lied zu Ende, ein paar unverständliche,
+kommandoartige Worte klangen von drinnen,
+ein lustiger Aufschrei von vielen Stimmen, dann munter
+durcheinander schwirrendes Stimmengewirr. Einige
+Sekunden verflossen so: dann hörte Asta ganz deutlich,
+wie drinnen eine Tür heftig aufgerissen wurde und jemand
+in den Flur trat &mdash; und jetzt klang drinnen gedämpft, doch
+klaren, festen Klanges des geliebten Jungen Stimme:</p>
+
+<p>»Guten Abend, Pilgram &mdash; Du hast mich zu sprechen
+gewünscht? Bitte, was steht zu Deinen Diensten?«</p>
+
+<p>Da fühlte Asta, wie der Puls ihres Herzens aussetzte.
+Ganz fest preßte sie ihr Ohr an das glatte, ölgestrichene
+Holz, ihre froststarren Hände umklammerten
+krampfhaft den messingenen Türgriff, und in schlotterndem
+Lauschen vernahm sie jedes Wort, das drinnen gesprochen
+wurde, vernahm sie alles, was drinnen geschah ...</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Hochaufgerichtet standen die zwei schlanken Jünglingsgestalten
+einander drinnen gegenüber in dem schmalen
+Flur, den nur eine schwelende Petroleumlampe erleuchtete.
+Rechts und links hingen Kneipjacken und Garderobenstücke
+an den Regalen, welche die Wände umzogen &mdash; ein
+fader Dunst von altem Tabak und Bierneigen füllte den
+dumpfen Raum. Hinter der mittleren Tür, die zum Kneipzimmer
+führte, klang heftiges Stimmengewirr, das stiller
+und stiller ward. Offenbar war man drinnen aufmerksam
+geworden, daß hier draußen sich Ungewöhnliches vollziehe,
+wartete man gespannt, wie das wohl werden möchte.</p>
+
+<p>Hans Thumser hatte Pilgram die Hand hingestreckt.
+Der übersah sie, griff stumm in die Brusttasche seines
+Rockes und reichte Hans Thumser einen Brief hin.</p>
+
+<p>»Lies!« sagte er.</p>
+
+<p>Hans ließ die erstaunten Blicke hin und wider gleiten
+zwischen dem Schreiben und dem, der es ihm gereicht,
+dann trat er in den Lichtbereich des mattglänzenden Flurlämpchens
+und erkannte, daß der Brief mit fahrigen,
+steilen Schriftzügen einer Frauenhand bedeckt war:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>»Sehr geehrter Herr! Ihr dankenswertes Eintreten
+für meine Ehre hat schnell den gewünschten Erfolg gehabt.
+Die beiden Herren, welche mir zu nahe getreten
+waren, haben mündlich bei mir um Entschuldigung gebeten.
+Ich danke Ihnen innigst für das große Opfer,
+das Sie mir gebracht haben ...«</p></blockquote>
+
+<p>Verblüfft ließ Hans den Brief sinken:</p>
+
+<p>»Was soll ich damit?« fragte er, »was geht das
+mich an?!«</p>
+
+<p>»Dreh doch gefälligst einmal den Bogen um!« befahl
+Pilgram in ingrimmiger Ruhe.</p>
+
+<p>Hans wandte den Bogen um und entdeckte mit grenzenlosem
+Staunen rechts an der unteren Ecke der vierten
+Seite, auf dem Kopfe stehend, seine Initialen und darüber
+den Frankenzirkel. Er drehte den Bogen um, und richtig:
+es war kein Zweifel, das war einer von seinen eigenen
+Briefbogen. Völlig verdutzt sah er den einstigen Korpsbruder
+an, um dessen festgeschlossene Lippen ein mattes
+Lächeln des Triumphes irrte.</p>
+
+<p>»Von wem ist der Brief?« fragte Hans Thumser mit
+unsicherer Stimme.</p>
+
+<p>»Spiel' mir gefälligst keine Komödie vor!« brauste Pilgram
+auf.</p>
+
+<p>»Aber ich versichere Dir, ich habe nicht den leisesten
+Schimmer.«</p>
+
+<p>»Pfui Deubel &mdash; nicht mal den Mut hast Du ... Gib
+her den Brief! Und nun weiter! Warst Du heut' nachmittag
+bei Fräulein Buchner?«</p>
+
+<p>»Aber ich verstehe faktisch nicht,« stammelte Hans.
+»Wenn ich Dir sage, daß ich auch nicht die entfernteste
+Ahnung habe &mdash;!«</p>
+
+<p>»Ich frage Dich, ob Du heut nachmittag bei Fräulein
+Buchner warst? Gib Antwort &mdash; oder ich mache kurzen
+Prozeß mit Dir!«</p>
+
+<p>Nun richtete sich Hans denn doch aus der unsicheren
+Haltung verlegenen Staunens zu seiner ganzen Größe
+auf. Zwar reichte er nicht an die riesige Länge des
+einstigen Freundes, aber gleich straff emporgereckt stand
+er ihm gegenüber, sah ihm von unten frei und trotzig ins
+Gesicht, und funkelnd, wie zwei Säbelklingen in der Auslage,
+so blitzten das braune, das blaue Augenpaar einander
+an.</p>
+
+<p>»Ich frage Dich,« sprach er kalt gemessen, »was Dich
+berechtigt, mich in einem derartigen Ton zur Rede zu
+stellen?«</p>
+
+<p>»Das weißt Du.«</p>
+
+<p>»Nein, ich weiß es nicht. Ich wünsche es von Dir zu
+hören.«</p>
+
+<p>»Ich verzichte darauf, Dir Aufklärung zu geben. Ich
+wiederhole Dir meine Frage &mdash; willst Du antworten?!«</p>
+
+<p>»Wer mich in diesem Tone fragt, bekommt keine
+Antwort!«</p>
+
+<p>»Schön! Was wirst Du nun aber sagen, wenn ich
+Dir mitteile, daß in derselben Stunde, in der Du bei
+Jucunda Buchner warst, Fräulein Asta Thöny am
+'Wassergott' in die Pleiße gesprungen ist &mdash;?!«</p>
+
+<p>Da wurde Hans Thumsers fester Blick plötzlich stier
+und starr. Die Kinnbacken klappten herunter, langsam
+schob sich seine Rechte an der Brust empor, glitt tastend
+nach dem Achtzentimeterkragen.</p>
+
+<p>»Das ist ... das ist nicht wahr!«</p>
+
+<p>»Mein Ehrenwort, daß es wahr ist ... und Du weißt,
+scheint's, auch, wer sie hineingetrieben hat?!«</p>
+
+<p>Da umklammerte Hans Thumser plötzlich mit beiden
+Händen des ehemaligen Korpsbruders Arm und stammelte,
+schlotternd vor Entsetzen:</p>
+
+<p>»Sie ist tot?!«</p>
+
+<p>Valentin Pilgram machte sich frei, trat einen halben
+Schritt zurück.</p>
+
+<p>»Ich hatte das Glück sie zu retten ... bedank' Dich also
+bei mir, daß Du nicht als Mörder vor mir stehst.«</p>
+
+<p>Ein stöhnender Laut, ein Jauchzen halb und halb ein
+Schluchzen brach aus Hans Thumsers Brust zwischen den
+zusammengebissenen Zähnen hervor:</p>
+
+<p>»Erzähl' doch &mdash; so erzähl' mir doch.«</p>
+
+<p>»Nein,« sagte Valentin Pilgram hart, »Du hast Fräulein
+Thöny von Dir gestoßen &mdash; es mag Dir genügen, daß
+sie lebt &mdash; alles weitere geht Dich nichts mehr an.«</p>
+
+<p>»Also was willst Du von mir?« schrie Hans Thumser,
+»sag' mir endlich, was Du von mir willst?!«</p>
+
+<p>»Du sollst bekennen, daß Du ein elender, wortbrüchiger
+Bube bist ... Du sollst das Korpsband da abziehen ...
+Du verdienst nicht mehr, es zu tragen. Willst Du? Oder
+soll ich Dich dazu zwingen?«</p>
+
+<p>Da straffte sich Hansens Gestalt aufs neue. Seine
+Fäuste ballten sich, als erwarteten sie den Angriff des
+Feindes &mdash; ja, des Feindes, denn was in den blauen
+Augen drüben düster flammte, war Feindschaft &mdash; Todfeindschaft
+...</p>
+
+<p>»Versuch's!« sagte er nur.</p>
+
+<p>In diesem Augenblick ward die Tür zum Kneipzimmer
+hastig von drinnen aufgerissen, blendender Lichtglanz quoll
+hervor, und hinter der Tür, Kopf an Kopf, drängte sich das
+Korps: ein zu Tode erschrockenes Jungmännergesicht
+hinter dem andern, ganz hinten stand man auf Stühlen
+und Tischen, um das entsetzenerregende Schauspiel zu erreichen,
+wie da zwei Jünglinge, die einst die gleichen
+Farben getragen, auf Leben und Tod einander gegenüberstanden.</p>
+
+<p>»Pilgram! Thumser!« schrie alles durcheinander, »um
+Gottes willen, was habt Ihr nur?!«</p>
+
+<p>Gleichzeitig schlug mit gellendem Schrillen die Etagenklingel
+an, und gegen das Holz der Flurtür hämmerten
+matte Schläge, wie von einem zarten Kinderhändchen.
+Und wie ein Schrei klang draußen das wimmernde Flehen
+einer Frauenstimme:</p>
+
+<p>»Herr Pilgram &mdash; tun Sie's nicht, Herr Pilgram!«</p>
+
+<p>Mit halbem Blick nur überflog Valentin Pilgram die
+hervordrängende Schar der einstigen Korpsbrüder ...
+dann, als sei er noch allein mit dem Gegner Aug' in Auge,
+wandte er sich wieder zu ihm und wiederholte:</p>
+
+<p>»Also noch einmal: Gibst Du es zu, daß Du ein elender
+Schelm bist? unwürdig des Bandes, das Du trägst?«</p>
+
+<p>Mit eisiger Festigkeit hielt Hans Thumser des Feindes
+haßsprühenden Blick aus.</p>
+
+<p>»Geh!« sagte er, »das weitere findet sich morgen.«</p>
+
+<p>In derselben Sekunde hatte Valentin Pilgram dem
+Gegner das Korpsband von der Brust gerissen und es zu
+Boden geschleudert. Nun holte seine Rechte weit aus, um
+ihm die Mütze vom Kopf zu schlagen. Im selben Augenblick
+aber warfen sich die Korpsburschen mit lauten Entsetzensschreien
+auf beide Gegner von hüben und drüben,
+trennten sie, alles schrie wie toll durcheinander:</p>
+
+<p>»Pilgram, Du bist wohl wahnsinnig!«</p>
+
+<p>»Zurück, haltet Ruhe, zum Teufel!«</p>
+
+<p>»Was fällt Euch ein?!«</p>
+
+<p>»Wir sind auf Korpskneipe!«</p>
+
+<p>»Schmeißt ihn hinaus, er hat hier nichts mehr zu
+suchen!«</p>
+
+<p>»Laß gut sein, Thumser, er wird Dir Satisfaktion
+geben, morgen findet sich alles &mdash; morgen!«</p>
+
+<p>Volkner, der Senior, brach sich Bahn durch die dicht
+zusammengekeilte Schar der jungen Männer.</p>
+
+<p>»<i lang="la">Silentium!</i>« schrie er. »Ich bin hier der Herr im
+Haus. Tritt vor, Pilgram, was soll das, was fällt Dir
+ein? Dich hier einzudrängen und Dich an einem von uns
+zu vergreifen? Du weißt, Du hast kein Recht mehr, hier
+zu sein!«</p>
+
+<p>Die Zucht vieler Semester, die eiserne Disziplin des
+Korps rief Pilgram zur Besinnung zurück.</p>
+
+<p>»Du hast recht, Volkner,« sagte er. »Habt die Freundlichkeit
+mich loszulassen ... es wird nichts weiter passieren,
+verlaßt Euch drauf.«</p>
+
+<p>Und ruhig und gemessen trat er vor den Senior:</p>
+
+<p>»Verzeih mir &mdash; ich hatte mich vergessen. Ich denke,
+Ihr verzichtet wohl alle auf eine weitere Aufklärung ...
+dafür ist ja das Ehrengericht da.«</p>
+
+<p>»Allerdings,« sagte Volkner, »dafür ist ja wohl das
+Ehrengericht da.«</p>
+
+<p>»Gut,« sagte Pilgram. »Ich bitte das Korps also nochmals
+feierlichst um Entschuldigung &mdash; ich bin morgen vormittag
+bis ein Uhr in meiner Wohnung. Guten Abend.«</p>
+
+<p>Alles wich zur Seite. Noch einmal maß Valentin Pilgram
+mit kurzem Blick der Todfeindschaft seinen Gegner,
+der schwer atmend, mit rotunterlaufenen Augen, doch völlig
+gefaßt inmitten seiner Korpsbrüder stand ... schritt zur
+Tür, riß sie auf.</p>
+
+<p>Da bot sich ein unerwartetes Schauspiel: Auf der
+Schwelle kniete, tränenüberströmt, zusammengekauert, ein
+Mädchen im grauen Pelzjackett. Nun sprang sie auf die
+Füße, starrte mit angstverzerrten Zügen, blöden Blicks in
+den Korridor hinein, in dem Kopf an Kopf Grünbemützte
+sich drängten, warf sich dann jählings herum und floh wie
+gejagt die Treppe hinunter.</p>
+
+<p>Und langsam, schwerfälligen Schritts ging Valentin
+Pilgram von dannen und ließ die Tür ins Schloß fallen.</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>14.</h2>
+
+<p class="start-chapA">Asta hatte nicht schlafen können. Das Fieber hatte in
+dem zierlichen, doch kerngesunden Körperchen rumort
+&mdash; doch der Gedankensturm, der ihr Hirn durchbrauste,
+der Drang zu leben, zu helfen, ihr armes bißchen Sein
+dafür einzusetzen, daß nicht unsagbar Entsetzliches geschähe
+&mdash; dies inbrünstige Wollen hatte die heraufbrauende
+Krankheit niedergeworfen. Und früh um neun schon
+klopfte sie an Jucunda Buchners Tür.</p>
+
+<p>Frau Kanzleirätin, noch in Nachtjacke und Unterrock,
+hatte hoch und teuer geschworen, Jucunda sei noch nicht
+zu sprechen. Asta Thöny hatte sich nicht abweisen lassen.</p>
+
+<p>»Sie wird mir's danken, gnädige Frau!«</p>
+
+<p>Aber Jucunda Buchner dankte nicht.</p>
+
+<p>Aus unruhigen Morgenträumen voll ehrgeiziger Hoffnungen
+und ahnungsvoller Beklemmungen hatte das
+Pochen der Kollegin sie aufgeschreckt. Nun saß sie aufrecht
+im Bett, sehr ungnädiger Laune, kaum, daß sie der
+Besucherin einen Stuhl anbot. Sie liebte es nicht, sich
+unvorbereitet überraschen zu lassen.</p>
+
+<p>Mit fliegenden Worten berichtete Asta: ihren Spaziergang
+an der Pleiße verschwieg sie allerdings, um so genauer
+aber erzählte sie von dem Renkontre zwischen Pilgram
+und Thumser auf der Frankenkneipe und sparte nicht
+an grellen Farben. Sie war überzeugt gewesen, Jucunda
+würde alsbald um Hans Thumsers willen mit allen Anzeichen
+des Entsetzens aus dem Bette springen und Hals
+über Kopf zu dem Geliebten wollen, um ihm nicht von
+seiner Seite zu weichen, bis die Gefahr an ihm vorübergegangen
+war ...</p>
+
+<p>Statt dessen sah Jucunda sie stillschweigend mit spöttisch
+zusammengebissenen Lippen an, als sie hocherglühend
+ihren Bericht geendet.</p>
+
+<p>»Nun?« fragte Asta ganz erstaunt.</p>
+
+<p>»Mir fällt etwas auf an Deiner Erzählung, liebes
+Kind,« sagte Jucunda. »Du erzählst mir da von einem
+Auftritt, der sich auf der Frankenkneipe zugetragen hat ...
+und zwar wenn ich recht verstanden habe, hast Du nicht
+nur vom Hörensagen berichtet, sondern Du warst selber
+dabei gewesen &mdash; stimmt's oder stimmt's nicht?!«</p>
+
+<p>Astas Wangen, vom heftigen Gang durch den Schnee
+gerötet, glühten noch höher auf.</p>
+
+<p>»Ja ... ich habe alles ... selbst mit angehört ...«
+gestand sie.</p>
+
+<p>»Hm &mdash; dann darf ich mir wohl die Frage gestatten:
+wie kommst denn Du auf die Frankenkneipe?«</p>
+
+<p>Astas Hände zupften unstet an den Falten ihres
+Rockes.</p>
+
+<p>»Ja, wie soll ich Dir das ... erklären? Es ist ja
+auch ... eigentlich gleichgültig ... wie ich hingekommen
+bin &mdash; ich war eben ... da.«</p>
+
+<p>»Nun, so gleichgültig kann ich das eigentlich nicht
+finden,« meinte Jucunda. Sie lehnte sich zurück in die
+Kissen, stützte sich auf die Ellbogen und fixierte die niedliche
+Kollegin mit überlegen spöttischem Blick. »Na, also lassen
+wir das einstweilen mal dahingestellt. Aber: zu welchem
+Zweck teilst Du mir denn das alles mit?«</p>
+
+<p>»Ja, aber um Gottes willen, Jucunda, das geht doch
+nicht, das darf doch nicht sein, daß die zwei guten Jungens
+sich totschießen Deinethalb!«</p>
+
+<p>»Meinethalb?« Jucunda hatte sich hochaufgerichtet.
+»Wieso meinethalb? Erkläre mir das!«</p>
+
+<p>»Ja, aber Jucunda &mdash; das ist doch ganz klar! Uebrigens,
+um Gottes willen, der eine, der Pilgram, der wohnt
+doch hier nebenan, gelt, kann der uns auch nicht etwa
+hören?«</p>
+
+<p>»Beruhige Dich, liebes Kind, meine Mutter hat mir
+schon mitgeteilt, daß er heut nacht nicht nach Hause gekommen
+ist. Also bitte, wie kommst Du auf diesen Einfall?«</p>
+
+<p>»Aber begreifst Du denn das noch immer nicht?! Der
+Pilgram ist doch nur eifersüchtig auf den Thumser, weil
+Du ihn hast abfallen lassen und den andern &mdash; &mdash;«</p>
+
+<p>»Und den andern?!« fragte Jucunda scharf. »Na, was
+denn! Bitte, was denn?!«</p>
+
+<p>»Nun, der andere ... ist denn der andere nicht gestern
+nachmittag bei Dir ... bei Dir gewesen &mdash;?«</p>
+
+<p>»Er war gestern nachmittag zum Tee bei mir, nu! Und
+was weiter?«</p>
+
+<p>»Zum &mdash; Tee &mdash;?!« fragte Asta mit einem halb wehmütigen,
+halb verschmitzten Lächeln. »Nur zum Tee &mdash;?«</p>
+
+<p>»Na! zu was denn sonst, bitte?!« fragte Jucunda
+heftig.</p>
+
+<p>»Na, wir wollen nicht streiten,« meinte Asta. »Also:
+ob die zwei braven Kerle sich Löcher in den Leib schießen
+Deinethalb, Dir ist's rund herum egal, scheint's?!«</p>
+
+<p>»Meinethalb? Ich weiß nicht, ob sie's meinethalb tun,
+mir haben sie's nicht gesagt. Und übrigens &mdash; ich möchte
+wissen, was ich daran ändern kann, wenn die zwei sich's
+in den Kopf gesetzt haben, aufeinander loszuknallen. Ich
+habe sie nicht geheißen, ich kann sie nicht hindern!«</p>
+
+<p>Asta Thöny spielte mit den Zipfeln ihres Pelzjacketts
+und sann angestrengt nach mit zusammengekniffenen
+Brauen. Dabei stieg eine helle Freude, ja ein lustiger
+Uebermut langsam, aber immer mächtiger in ihr empor.
+Das war ja eigentlich wunderschön, was sie da erfuhr.
+Sieh da, Hanschen! Viel Glück scheinst du mit deinem
+Teebesuch bei der großen Jucunda ja nicht gehabt zu
+haben! Und für das bißchen Ehre auch noch totgeschossen
+zu werden &mdash; nein, das wollen wir doch mal sehen, ob
+wir das nicht hintertreiben können. Aber dazu brauchen
+wir ja wohl nicht die große Jucunda &mdash; das können wir
+uns schließlich auch allein verdienen ...</p>
+
+<p>»Verzeih, liebe Jucunda,« sagte sie. »Ich habe mir
+eingebildet, Du hättest was übrig für Hans Thumser,
+da habe ich mich also anscheinend geirrt. Nun dann
+freilich &mdash;«</p>
+
+<p>»Allerdings, mein Kind, da hast Du Dich geirrt. Vielleicht
+erinnerst Du Dich daran, daß Herr Thumser zwanzig
+Jahr und ein Student ist. Es mag ja Kolleginnen geben,
+die sich aus derartig &mdash; ungaren jungen Herren was
+machen. Ich für meine Person &mdash; ich lege auf derartige
+Bekanntschaften keinen Wert.«</p>
+
+<p>Ach so, die Großartige willst du spielen! Na warte &mdash;!</p>
+
+<p>»Wenigstens nicht, wenn's ein x-beliebiger Bürgerlicher
+ist, willst Du sagen, nicht wahr? Wenn's freilich ein Prinz
+wäre &mdash; das ist was andres, gelt, Jucunderl, denn kann
+er so ungar sein wie er will, hab' ich recht?«</p>
+
+<p>Da fuhr Jucunda Buchner so heftig in die Höhe, daß
+Asta Thöny unwillkürlich aufstand und einen halben
+Schritt zurückwich. Die schönen Hände krallten sich, das
+majestätische Gesicht verzerrte sich zum Ausdruck einer
+Medusa, die stahlblauen Augen funkelten Wut gleich den
+Lichtern einer gereizten Katze:</p>
+
+<p>»Was fällt Dir ein, was erlaubst Du Dir?!« Doch
+rasch glätteten sich ihre Züge zum Ausdruck eiskalter Verachtung,
+sanken die schönen Schultern nachlässig in die
+Kissen zurück, und mit einer Handbewegung, gleich jener,
+mit der eine Königin eine unbotmäßige Kammerfrau entläßt,
+befahl sie:</p>
+
+<p>»Verlassen Sie mein Zimmer, mein Fräulein!«</p>
+
+<p>Asta Thöny lächelte ihr boshaftes Spitzbubenlächeln.
+Sie sank in einem tiefen Hofknix zusammen:</p>
+
+<p>»Zu Befehl, Frau Marquise, wünsche gute Karriere.«
+Und schon war sie hinaus.</p>
+
+<p>Während sie die Katharinenstraße hinunterschritt und
+den Marktplatz überquerte, dessen Schneedecke grell im
+duftumschleierten Lichte des frühen Wintermorgens
+gleißte, fühlte sie sich fast erstickt von der Seligkeit, die
+verhaßte Rivalin einmal bis aufs Blut geärgert zu haben.</p>
+
+<p>So eine Hundeschnauze! so eine eiskalte! Tut, als hätte
+sie keine Ahnung, daß sie es doch allein ist, die all den
+Unfug angestiftet hat in den Brauseköpfen hüben und
+drüben &mdash; Gott! und wer weiß, was für Dummheiten sie
+sonst noch alles auf dem Gewissen hat! Ist nicht dies
+ganze Nest wie verrückt nach ihr? Aber das ist das Blödsinnige
+an dem Ruhm: hat unsereins sich erst mal durchgesetzt,
+dann liegt die Welt vor ihr auf dem Bauch, und
+das verrückte Mannsvolk bringt sich um für das Glück,
+von ihr mit Füßen getreten zu werden ...</p>
+
+<p>Aber jetzt &mdash; jetzt ist sie wild. Jetzt faucht sie zu
+Hause, jetzt hat sie einmal gespürt, daß auch noch andere
+Katzen Krallen haben &mdash;!</p>
+
+<p>Aber schau &mdash; wer war denn das? Da kamen aus der
+Kleinen Fleischergasse zwei grüne Mützen heraus, zwei
+Franken-Korpsburschen, sehr feierlich. Der eine, der
+ältere, trug den Paletot nachlässig geöffnet, und man sah
+darunter den bis hoch hinauf zugeknöpften Bratenrock ...
+Handschuhe trugen sie, gestreifte Hosen und Gummigaloschen.
+Der ältere, den kannte sie, den hatte ihr Hans
+einmal von ihrem Fenster aus gezeigt, es war Volkner,
+der jetzige Häuptling des Frankenbundes. Ingrimmigen
+Ernst auf den jungen Gesichtern, steuerten die zwei über
+den Marktplatz, bogen in die Katharinenstraße und verschwanden
+in der Tür, die sie selber soeben verlassen.</p>
+
+<p>O Gott &mdash; sie wußte, was die zwei zu suchen hatten
+bei Valentin Pilgram da droben ... sie wußte: die sollten
+ihm Hans Thumsers Forderung überbringen ... das
+waren die Kartellträger ...</p>
+
+<p>Daß Hans Thumser kein Glück gehabt bei Jucunda ...
+und daß sie selber es der verhaßten Rivalin einmal gründlich
+gegeben &mdash; über dieses doppelte Glück hatte Asta völlig
+den blutigen Ernst der Situation vergessen ... Sie
+wußte: Kavaliere &mdash; und waren sie auch erst seit ein paar
+Semestern flügge geworden, wie die Herren Korpsstudenten
+&mdash; die fackeln nicht lange mit dem Austrag
+solcher Händel. Und wenn erst die Pistolen geladen sind,
+dann kommt guter Rat zu spät ... und dabei mußte sie
+ja doch in die Probe. Morgen abend war ja Abschiedsvorstellung
+&mdash; »Wallensteins Tod« &mdash; und wenn sie auch
+nur ein winziges Röllchen hatte, das Fräulein von Neubrunn,
+Theklas Gesellschafterin und Vertraute &mdash; die
+Probe versäumen, das hätte sie sich doch nicht getraut.
+Der stramme Pflichtgeist, der das Meininger Ensemble beseelte,
+ließ einen solchen Gedanken selbst in höchster Not
+niemals aufkommen. Schon dreiviertel zehn, also höchste
+Zeit! Asta sprang in eine Droschke, befahl »Zum Carolatheater!«
+und drückte sich fröstelnd in den verschlissenen
+Plüsch. All ihr Uebermut war verweht. Was auf den
+starren, korrekten Amtsgesichtern der zwei jungen Gesellen
+da gestanden hatte, das legte sich wie eisig umklammernde
+Knochenfinger um ihr Herz.</p>
+
+<p>Die zwei suchten Pilgram ... und wenn er jetzt noch
+nicht daheim war, er würde kommen, sie würden ihn
+finden, würden ihre Botschaft ausrichten ... Und dahinter
+lauerte ein Schreckensbild: das Bild einer tiefverschneiten
+Waldblöße, die in unberührter, weiter Fläche
+daliegt im ersten Morgenschein ... Nun rollen von hüben
+und drüben zwei Wagen heran, lautlos ... ein paar junge
+Männer entsteigen ihnen, rüsten sich zu geheimnisvoll
+grausigem Tun &mdash; nun treten sie alle rechts und links zur
+Seite, und zweie nur bleiben inmitten stehen, wenige
+Schritte nur voneinander, sie heben blitzende Läufe &mdash;
+einer zielt nach des andern Herzen ... und der eine von
+ihnen heißt Hans Thumser ...</p>
+
+<p>Was tun? o Gott, was tun?!</p>
+
+<p>Da, ein rettender Gedanke: Franz Burg ... der war
+doch einmal akademischer Bürger ... Wenn einer der
+Meininger nicht mehr ein noch aus wußte, ging er ja
+immer zu Franz Burg ...</p>
+
+<p>Ja, das war's! Franz Burg mußte Rat schaffen.
+Aber wie den Gestrengen erreichen? Wenn sie auf die
+Bühne kam, würde die Generalprobe bereits begonnen
+haben &mdash; und bis die beendigt war, durfte man dem
+Szenenleiter mit nichts anderm kommen, aber auch mit
+gar nichts. Solange gehörte er nur seinem Werk. Und
+jeder Versuch, ihn mit andern Dingen zu befassen, würde
+höchstens eine erstaunliche Grobheit eingetragen haben.</p>
+
+<p>Und darüber würde es drei Uhr werden ... Gott,
+was konnte inzwischen alles geschehen! So lange war man
+machtlos, war man im Dienst ... war man »Fräulein
+von Neubrunn, Hofdame der Prinzessin«.</p>
+
+<p>Und die Prinzessin? &mdash; Selbstverständlich Jucunda
+Buchner ... die große Jucunda ...</p>
+
+<p class="start-chapD space-above">Drei Uhr nachmittags.<br />
+Auf der Kneipe des Korps Misnia tagte das S.&#x202f;C.
+Ehrengericht zur Entscheidung über die hängende Pistolenforderung
+des Korpsburschen eines wohllöblichen C.&#x202f;C.
+der Franconia Thumser wider den früheren C.&#x202f;B.
+Pilgram.</p>
+
+<p>Der Kneipsaal, sonst nur »zu den festlichen Gelagen«
+bestimmt, war nun zu verhängnisschwerer Tagung eingerichtet.
+An den hufeisenförmigen Tischen saßen die
+Ehrenrichter, je zwei von jedem der fünf Leipziger Korps,
+und von dem präsidierenden Korps Misnia noch ein dritter
+Korpsbursch als Protokollführer.</p>
+
+<p>Wie um das feierlich Eindrucksvolle des Femgerichts
+zu unterstreichen, waren die Schlagläden heruntergelassen,
+und die gelben Flammen der Gaslichtkrone warfen
+zuckende Reflexe auf die bunten Mützen, die dreifarbenen
+Bänder, die blinkenden Scheiben der Klemmer und
+Monokels, die schmißdurchsetzten Jugendwangen, die in
+feierlich offizielle Falten gelegt waren.</p>
+
+<p>Hans Thumser, als der Beleidigte, wurde zuerst gehört.</p>
+
+<p>Mit knappen Worten berichtete er den Vorfall, der sich
+am gestrigen Abend auf der Kneipe seines Korps zugetragen.
+Als er geendet, fragte der Vorsitzende, Graf
+Schmettow, der Erste der Meißner, ein über die Maßen
+patenter, hagerer Gesell, dessen linke Wange eine furchtbare
+Säbelnarbe von der Schläfe über den Mundwinkel
+bis ins Kinn hinein durchzog:</p>
+
+<p>»Danke, Herr Thumser. Ihre Erzählung ist natürlich
+so, wie sie da vorgetragen worden ist ... äh ... nicht
+so recht verständlich ... offenbar ist doch zwischen Ihnen
+beiden ... äh ... noch irgend etwas andres vorgekommen
+...? Wollen Sie uns auch darüber Auskunft geben,
+oder wünschen Sie, daß zunächst sich Ihr Herr Gegner ...
+äh ... über den von Ihnen vorgetragenen Tatbestand
+erklärt?«</p>
+
+<p>Hans Thumser sann einen Augenblick nach. Astas
+Bild, Jucundas tauchte einen Augenblick vor seinem Geiste
+auf. Hatte es einen Zweck, diese Erlebnisse in die Verhandlung
+mit hineinzuziehen? &mdash; Es war ja schließlich
+ganz gleichgültig, wie das alles geworden war ... wie
+es hatte kommen können, daß der einstige Korpsbruder
+ihm das Band von der Brust gerissen ... das war nun
+einmal geschehen. Die Tat lag vor, nackt und unerbittlich
+... Für sie hatte er Sühne zu fordern &mdash; sie zu erklären
+war allenfalls des andern Sache, nicht die seine ...</p>
+
+<p>»Ich habe vorläufig nichts weiter mitzuteilen, Herr
+Vorsitzender.«</p>
+
+<p>Damit war er entlassen.</p>
+
+<p>Und mit angespannter Neugier hingen nun die Blicke
+der jugendlichen Ehrenrichter an der Reckengestalt des
+Jünglings, der so lange als der Besten einer in ihrer Mitte
+gestanden hatte, dessen scharfe Klinge nicht nur, dessen
+scharfes Wort, dessen ganzes vorbildliches Wesen einem
+jeden stets den vollkommensten Respekt abgezwungen.
+Da war keiner im Leipziger S.&#x202f;C., der nicht den Fall Pilgram
+mit brennendem Interesse, mit aufrichtiger Sympathie
+verfolgt hätte. Und jeder hatte Gelegenheit gehabt
+zu beobachten, wie Franconias einstiger Senior schon gar
+bald nach seinem Ausscheiden aus dem Korps wie unter
+der Last eines grundstürzenden Erlebnisses förmlich in
+sich zusammengesunken war, verändert, verwildert, tiefster
+Verbitterung anheimgefallen.</p>
+
+<p>Nun schien er wieder der Alte, zum mindesten in seiner
+äußeren Erscheinung. Korrekt gescheitelt und gekleidet,
+in tadellosem Gehrock und Lackschuhen stand er vor dem
+Ehrengericht, nur um seine Brust fehlte das Band und
+auf seinem Gesicht das alte trotzig-heitere Selbstbewußtsein ...</p>
+
+<p>»Herr Pilgram,« begann der Vorsitzende, »ich brauche
+Ihnen nicht zu sagen, worum es sich handelt. Herr
+Thumser Franconiae hat Ihnen eine Pistolenforderung
+auf fünfzehn Schritt Barriere und Kugelwechsel bis zur
+Kampfunfähigkeit übersandt wegen eines Renkontres,
+das Sie mit ihm gestern abend gegen neun Uhr auf der
+Frankenkneipe gehabt haben. Entsinnen Sie sich der
+Ausdrücke, die Sie gebraucht haben, und ist es Ihnen
+auch bewußt, daß Sie ihm das Korpsband von der Brust
+gerissen, dann zum Schlage ausgeholt haben, und nur
+durch das Dazwischentreten der Herren Korpsbrüder des
+Herrn Thumser verhindert worden sind, Herrn Thumser
+noch weiter tätlich anzugreifen?«</p>
+
+<p>»Allerdings,« erklärte Pilgram ruhig. »Ich entsinne
+mich des Vorfalls genau. Ich war vollständig Herr
+meiner Sinne und übernehme für meine Handlungsweise
+die volle Verantwortung.«</p>
+
+<p>»Sie sind also bereit, Herrn Thumser die standesübliche
+Genugtuung mit der Waffe zu geben? Und haben
+andrerseits nicht die Absicht, irgendwelche andere Formen
+der Sühne in Vorschlag zu bringen?«</p>
+
+<p>»Nein!« sagte Valentin Pilgram.</p>
+
+<p>Einer der Ehrenrichter bat ums Wort. Herr ten
+Brink, der Erste Chargierte der Guestphalia, ein langer,
+semmelblonder, sommersprossiger Sohn der roten Erde.</p>
+
+<p>»Es ist mir was aufgefallen in der Erzählung des
+Herrn Thumser,« sagte er. »Herr Thumser hat erzählt,
+Sie hätten ihm einen Brief zu lesen gegeben, dessen Inhalt
+ihm vollständig unbekannt gewesen sei. Wollen Sie sich
+über diesen Punkt vielleicht auslassen?«</p>
+
+<p>»Darf ich mir die Frage gestatten, Herr Vorsitzender,«
+erwiderte Pilgram, »ob Herr Thumser über diesen Punkt
+bereits nähere Erklärungen gegeben hat?«</p>
+
+<p>»Nein!« sagte Graf Schmettow. »Wir haben vorläufig
+darauf verzichtet, uns überhaupt mit der Frage
+zu beschäftigen, was für ... äh ... Motive hinter dem ...
+Renkontre vorhanden gewesen sein mögen.«</p>
+
+<p>»Dann &mdash;« sagte Valentin Pilgram, »dann würde ich
+für meine Person vorziehen, diese Seite der Sache ebenfalls
+unerörtert zu lassen, vorausgesetzt, daß ein hohes
+Ehrengericht nicht seinerseits darauf besteht.«</p>
+
+<p>»Ich verstehe,« sagte der Vorsitzende. »Die Herren
+scheinen also einig darüber zu sein, daß der Tatbestand
+der Beleidigungen lediglich an und für sich hier zum
+Gegenstand der Verhandlung gemacht werden soll, ohne
+daß auf ihre Veranlassung weiter einzugehen sein würde
+&mdash; aus Gründen der Diskretion vermutlich, nicht wahr?«</p>
+
+<p>Pilgram nickte stumm.</p>
+
+<p>»Wenn ich recht verstehe,« fuhr der Vorsitzende fort,
+»so stellen die beiden Herren Gegner sonach den Sachverhalt
+übereinstimmend dar. Danach würde wohl eine
+Vernehmung von Zeugen und jede weitere Aufklärung
+des Sachverhalts erübrigen, nicht wahr, meine Herren?!«</p>
+
+<p>Zustimmend nickten die Ehrenrichter, und der Vorsitzende
+entließ den Beleidiger.</p>
+
+<p>Die Beratung war nur kurz. Der Fall lag ganz klar:
+es handelte sich um eine tätliche Beleidigung, die zur
+Ausführung gekommen war, und um eine solche, deren
+Ausführung nur durch das Eingreifen Dritter verhindert
+worden war. Die erstere, das Abreißen des Korpsbandes,
+kam an Schwere der zweiten, vereitelten mindestens gleich.
+Neben diesen Realinjurien spielen die vorgefallenen wörtlichen
+Beleidigungen nur eine nebensächliche Rolle. Der
+Beleidiger hatte zugegeben, bei klarem Verstande und
+wohlüberlegt vorgegangen zu sein. Unter diesen Umständen
+war es vollkommen klar, daß die Forderung genehmigt
+werden mußte, und zwar ohne daß ein Anlaß
+vorlag, die sehr scharfen Bedingungen zu ermäßigen.</p>
+
+<p>Schon neigte sich die Verhandlung ihrem Ende, da
+erbat Herr ten Brink Guestphaliae Erster noch einmal
+das Wort:</p>
+
+<p>»Ich weiß nicht, meine Herren, die Sache kommt mir
+eigentlich ein bißchen merkwürdig vor. Die Geschichte
+mit dem Brief will mir nicht aus dem Kopf, ich habe das
+Gefühl, da steckt ein Mißverständnis hinter. Ich meine,
+das Ehrengericht ist doch schließlich nicht bloß dazu da,
+über eine Forderung zu entscheiden &mdash; ich meine, unter
+Umständen wäre es doch unsere verdammte Pflicht und
+Schuldigkeit, Mißverständnisse aufzuklären ... kurz,
+zwischen den Parteien zu vermitteln. Ich meine, wir
+sollten in diesem Fall doch ein wenig genauer auf die
+Vorgeschichte des Renkontres eingehen. Um so mehr, als
+meines Erinnerns Herr Thumser geäußert hat, der fragliche
+Brief sei von einer Dame geschrieben gewesen. Na,
+meine Herren, wir wissen doch alle, wenn die Weiber in
+so 'ne Affäre hineinspielen, dann ist es meistens halb
+so schlimm.«</p>
+
+<p>Ein kurzes, verständnisinniges Schmunzeln auf allen
+Gesichtern, das aber schnell der gewohnten, feierlichen
+Korrektheit wich. Der Vorsitzende meinte:</p>
+
+<p>»Ich halte uns nicht für befugt, in die persönlichen
+Angelegenheiten der Kontrahenten einzudringen, wenn
+diese nicht selbst Wert darauf legen. Ich glaube &mdash; der
+Versuch einer Vermittlung zwischen den Herren würde ...
+äh ... eine Ueberschreitung unserer Kompetenz sein ...
+und zugleich ein Eingriff in die Verfügungsfreiheit der
+Herren, den sie sich nicht gefallen zu lassen brauchten.
+Aber ich weiß nicht, wie die anderen Herren darüber
+denken? Bitte sich zu äußern!«</p>
+
+<p>Es stellte sich heraus, daß ten Brink mit seiner Auffassung
+ganz allein stand. So wurde denn die Forderung
+mit den Stimmen aller Ehrenrichter gegen die seinige
+genehmigt und dies den beiden Parteien mitgeteilt.</p>
+
+<p>Das Schicksal war gefallen.</p>
+
+<p>Gleich nach dem Ehrengericht traten die Sekundanten
+der beiden Parteien zusammen. Volkner für Thumser
+und Herr Borgmann Neo-Borussiae Erster für Pilgram.
+Sie verabredeten als Platz für das Duell die Heiderwiese,
+eine Waldlichtung im Ratsholz, südwestlich von Connewitz,
+unfern des linken Pleißeufers, am Reitwege nach
+Gautzsch, und als Zeit für die Austragung punkt sechs
+Uhr am folgenden Morgen.</p>
+
+<p>Hiervon benachrichtigten sie ausschließlich den Grafen
+Schmettow und ersuchten ihn, als Senior des derzeit
+präsidierenden Korps das Amt eines Unparteiischen zu
+übernehmen.</p>
+
+<p>Dann wurden die Korpsdiener unter Hinweis
+auf ihre Pflicht zu absoluter Verschwiegenheit ins
+Vertrauen gezogen und angewiesen, den Pistolenkasten
+instandzusetzen, Wagen zu bestellen. Den Vertrauensarzt
+des S.&#x202f;C. in derartigen Fällen, den Sanitätsrat
+Dr. Collwitz, einen Alten Herrn der Neo-Borussia, übernahm
+Herr Borgmann zu bestellen.</p>
+
+<p>Diese Vereinbarungen hatten im Konventszimmer der
+Misnia stattgefunden, welches den Herren für diesen
+Zweck zur Verfügung gestellt war. Nun verabschiedete
+man sich voneinander mit dem üblichen Händedruck bei
+hochgehobenen, eingewinkelten Ellenbogen und zeremonieller
+Verbeugung.</p>
+
+<p>Volkner begab sich in eine gegenüberliegende Konditorei,
+in der Hans Thumser seine Mitteilungen abwartete,
+und benachrichtigte ihn vom Geschehenen.</p>
+
+<p>Das alles geschah in kurzen, formelhaften Wendungen.
+Kein Wort wurde gesprochen zwischen den beiden jungen
+Leuten, das über das sachlich absolut Notwendige hinausging.
+Jeder mußte die letzte Kraft aufwenden, Haltung
+zu bewahren angesichts des Grauens, das von diesem
+Unabwendbaren ausging, von diesem Unabwendbaren,
+das nun herankroch mit dem schleichenden Schritt der
+Sekunden und Minuten; das sich vollenden mußte, bevor
+es abermals Tag geworden.</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Nach Schluß der Probe mußte Asta lange warten,
+bevor sie den Oberregisseur für sich allein bekam.
+Tausend Geschäfte, tausend Bitten drängten sich noch an
+ihn heran. Schließlich wurde es ihm zu toll:</p>
+
+<p>»Kinder, ich bin auch nur ein Mensch und muß heut
+abend den Wallenstein spielen. Jetzt schert Euch gefälligst
+alle zum Teufel! Ich will schlafen.«</p>
+
+<p>Asta schoß hinter ihm drein.</p>
+
+<p>»Meister, eine Bitte, Sie müssen mich anhören, es
+geht um Tod und Leben!«</p>
+
+<p>»Und wenn's um sechsundzwanzig Paar Regensburger
+Würschte geht, ich kann nicht mehr.«</p>
+
+<p>»Helfen Sie mir, Meister, oder soll ich hier auf dem
+Korridor einen Kniefall tun?«</p>
+
+<p>»Nützt Ihnen auch nichts, kommt alle Tage vor. Lassen
+Sie mich in Frieden!«</p>
+
+<p>Asta brach in Tränen aus und hängte sich an des
+Davonhastenden Arm.</p>
+
+<p>»Pah!« brummte der, »auch noch flennen! nützt Dir
+auch nichts, kommt auch alle Tage vor!«</p>
+
+<p>Aber er schüttelte sie doch nicht ab, als sie sich an seinen
+Arm hing und das feuchte Gesichtchen an seiner Schulter
+barg &mdash; als sie sich hinter ihm in seine Garderobe drängte.</p>
+
+<p>»Also in drei Teufels Namen, was gibt's? Aber kurz,
+bitte!«</p>
+
+<p>Er ließ seine lange Gestalt mit einem Grunzen halb
+des Grimms, halb des Behagens auf das schminkfleckige
+Sofa fallen. Wies der Besucherin mit Handwink den
+Frisierstuhl als Sitzgelegenheit. Asta drehte den Stuhl
+herum, hockte auf seiner vordersten Kante, erzählte stockend,
+befangen, verwirrt ...</p>
+
+<p>Als sie schwieg, tippte Franz Burg mit dem Mittelfinger
+der Rechten auf seine Brust und zuckte ein paarmal
+langsam die Schultern. Seine Brauen waren hochgezogen,
+um die schmalen Lippen spielte in tausend Fältchen ein
+Mephistoschmunzeln.</p>
+
+<p>»Sie sollen mir raten, was ich tun soll, Meister!«</p>
+
+<p>»Ja, Kindchen, soweit ich aus der Geschichte klug geworden
+bin, handelt es sich also um zwei Studenten, und
+einer von ihnen ist momentan Quartiergast in dem Kämmerchen
+da drüben unter Ihrem Pelzjackett, das freilich,
+soviel mir bekannt ist, häufig seinen Mieter wechselt.
+Aber, wat sall ick dorbi dauhn?«</p>
+
+<p>»Einen Rat &mdash; einen Rat will ich, lieber Herr Burg.
+Sie sind doch Student gewesen &mdash; was fängt man nur
+an, um die zwei wieder auseinanderzukriegen? Was soll
+ich tun, sagen Sie mir, was soll ich tun?!«</p>
+
+<p>»Die Karre laufen lassen, wie sie laufen will! Ich
+bitt' Sie &mdash; die jungen Leute müssen doch was erleben ...
+Sehen Sie sich doch um in der Welt! da geht ja heute
+alles so verflucht ehrbar, korrekt und vorschriftsmäßig zu,
+es passiert nichts &mdash; und passieren muß doch was in der
+Welt ... wovon sollen wir denn sonst leben, wir armen
+Komödianten, und die Poeten, die für uns Komödie
+schreiben! Ist ja 'n wahrer Segen, daß wenigstens auf
+deutschen Hochschulen noch manchmal 'n bißchen gerauft
+und geknallt wird. Ich freue mich immer, wenn ich sehe,
+daß noch Leidenschaft in der Jugend drin steckt ... daß
+noch Tragödien passieren. Das wäre ja doch ein wahrer
+Jammer, wenn man so was hintertreiben wollte.«</p>
+
+<p>»Aber wenn nun ein Menschenleben dabei zugrunde
+ginge, bedenken Sie doch, Meister! So ein blühendes,
+herziges, junges Studentenleben!«</p>
+
+<p>»Na &mdash; wenn schon!« knurrte Burg, »Studenten gibt's
+doch weiß Gott genug auf der Welt. Eine große Sensation
+... eine &mdash; na, einen Stoff &mdash; das ist wahrhaftig
+so'n Allerweltsstudentenleben wert!«</p>
+
+<p>»Herr Burg, Sie sagen Allerweltsstudentenleben ...
+das stimmt hier aber nicht; der eine, das ist kein Allerweltsstudent,
+das ist was ganz Besonderes &mdash;«</p>
+
+<p>»Der eine? Also <em class="gesperrt">Ihrer</em> selbstverständlich, nicht
+wahr?«</p>
+
+<p>»Gott ja, meiner, wenn Sie wollen.«</p>
+
+<p>»Nun, was ist denn so Besonderes an ihm?!«</p>
+
+<p>»Er ist ein Dichter! Ach, so wundervolle Gedichte
+macht er. Wenn ich doch nur eins bei mir hätt'!«</p>
+
+<p>»Sieh, sieh!« schmunzelte der Oberregisseur. »Also
+ein zukünftiger Bühnenlieferant. Na, dann soll er sich
+erst recht schießen!«</p>
+
+<p>»Aber Herr Burg ... um Gottes willen!«</p>
+
+<p>»Ja gewiß soll er. Entweder er geht drauf &mdash; na, in
+Gottes Namen: er ist der erste nicht. Wie mancher Homer
+ist blind geworden, <em class="gesperrt">ehe</em> er Zeit gehabt hat, die Welt,
+das Leben so tief in sich hineinzusaugen wie der alte
+Griechenbarde ... Wie mancher Aeschylos mag in der
+Seeschlacht gefallen sein, wie mancher Schiller auf der
+Karlsschule in Verzweiflung und Verblödung hineingeknutet
+... Das ist Kismet ... Wenn er aber übrig
+bleibt, glauben Sie nicht, daß er dann ein ganz andrer
+Kerl ist wie vorher, wenn er mal dem Tode ganz nahe
+ins Gesicht gesehen hat? Glauben Sie nicht, daß er Ihnen
+nachher noch viel schönere Verse machen wird; daß er noch
+'ne ganz andere Nummer von Tragödie zustandebringt,
+wenn er erst mal erlebt hat, wie einem zumute ist, der die
+Nase hinhalten muß, wenn's drüben blitzt und knallt?«</p>
+
+<p>Asta sprang auf, rannte schluchzend zum Fenster.</p>
+
+<p>»Das ist entsetzlich, Herr Burg, das ist grausam!«</p>
+
+<p>»Ne, das ist klug, das ist weise, Kindchen!«</p>
+
+<p>»Also gut!« schrie die Kleine, warf sich herum, stand
+mit geballten Fäusten vor dem Oberregisseur, das reizende
+Gesicht von Grimm und Haß verzehrt. »Also gut! Sie
+sollen sich schießen ... einer soll auf dem Platze bleiben,
+alle beide &mdash; was kommt dabei heraus?! Nur eine neue
+Reklame für sie, für die große Jucunda! Was wird's
+heißen? Zwei Studenten haben sich geschossen ... wegen
+ihr, wegen Jucunda Buchner! Das ist's ja auch, was
+sie will, darauf hat sie's ja auch angelegt mit allem
+Raffinement, die Katze, die verdammte! Der ist's recht,
+wenn ein paar so fesche junge Kerle zum Teufel gehen
+ihretwegen &mdash; das paßt ihr grad in ihren Kram, dem
+hundeschnauzenkalten Weibsbild, das an nichts denkt &mdash;
+nur an sich, nur an sich!«</p>
+
+<p>»Ach so!« lächelte Franz Burg. »Da zielt's hinaus!
+Mag sein, Sie haben recht, Kindchen ... Vielleicht ist
+unsere große Jucunda wirklich eine ganz haarsträubende
+Egoistin &mdash; aber ich wollte zu Ihrem Besten, Kleine, Sie
+selber wären's auch. Wenn Sie das erfreuliche
+Temperament, das Sie anscheinend im Leben besitzen,
+ein bißchen mehr zusammenhielten und auf Ihre Kunst
+losließen, statt auf Ihre ... auf die Mieter Ihres Herzenskämmerleins
+&mdash; glauben Sie mir, Sie wären eine größere
+Künstlerin, als Sie's leider sind. Sagen Sie mir nichts
+gegen die Jucunda, die ist ganz gut so wie sie ist. Die
+ist, was Sie nicht sind: eine Komödiantin. Die fühlt
+und weiß, wozu sie auf der Welt ist: nämlich zum
+Komödienspielen! Lieben und sich lieben lassen &mdash; schöne
+Sache, o ja, für die andern, für die Alltagsweiber &mdash; aber
+nicht für Euch. Zusammenhalten sollt Ihr Eure
+Glut, kalt wie Hundeschnauzen sollt Ihr meinetwegen sein
+im Leben, wenn Ihr nur abends, sobald der Lappen in
+die Höhe fliegt, Vulkane seid, wie die Jucunda einer ist! &mdash;
+Na, haben Sie noch weiter Schmerzen, Kleine?«</p>
+
+<p>Gesenkten Blickes, mit zuckendem Kinn hatte Asta die
+Standrede des Meisters über sich ergehen lassen. Nun
+warf sie den Kopf trotzig in den Nacken, stampfte mit
+dem Fuß auf:</p>
+
+<p>»Ich will aber nicht, ich will nicht, daß der lange
+Pilgram mir meinen süßen Jungen totschießt! Wollen
+Sie mir helfen, wollen Sie mir einen vernünftigen Rat
+geben?! Oder soll ich meiner Wege gehen?«</p>
+
+<p>»Hm ... also das sage ich Ihnen, Astachen, gehen
+Sie weg vom Theater, aus Ihnen wird niemals was. &mdash;
+Also, wenn's denn absolut sein muß, die Sache ist doch
+entsetzlich einfach: Wenn Studenten Dummheiten machen,
+dann steckt man sich hinter ihre Eltern. Leben die
+respektiven Herren Väter noch?«</p>
+
+<p>»Beide, soviel ich weiß.«</p>
+
+<p>»Na also, und wo wohnen sie denn, die würdigen
+Erzeuger der beiden Hitzschädel?«</p>
+
+<p>»Der eine wohnt da hinten im Rheinland irgendwo,
+soviel ich weiß.«</p>
+
+<p>»Welcher? Ihr moralischer Schwiegerpapa oder der
+andere?«</p>
+
+<p>»Nein, der <em class="gesperrt">eine</em>,« sagte Asta, und das alte Schelmenlächeln
+blitzte durch Grimm und Tränchen wieder hindurch.</p>
+
+<p>»Also an den wird bis morgen nicht dranzukommen
+sein &mdash; und der andere?«</p>
+
+<p>»Der andere, der ist, soviel ich weiß, irgendein hohes
+Tier in Dresden!«</p>
+
+<p>»Teufel, das trifft sich ja glänzend! Also, setzen Sie
+sich auf die Bahn, Kindchen, und rücken Sie dem Alten &mdash;
+wie heißt er? &mdash; dem alten &mdash;?«</p>
+
+<p>»Pilgram,« half Asta ein.</p>
+
+<p>»Also, rücken Sie dem alten Pilgram auf die Bude
+und petzen Sie ihm, daß sein wackerer Sprößling seinen
+Monatswechsel dazu mißbraucht, statt hinter seinen
+Büchern zu hocken, andern jungen Leuten Löcher in den
+Bauch zu schießen. Ich wette, dann entwickelt sich alles
+weitere historisch.«</p>
+
+<p>Asta sprang auf den Oberregisseur zu, der noch immer
+langhingestreckt auf dem schminkfleckigen Sofa lag, fiel
+ihm um den Hals und küßte ihn stürmisch.</p>
+
+<p>»Ach, Franzel, Sie sind doch der Allerbeste! Das
+wird gemacht, das ist die Rettung!«</p>
+
+<p>»Aber bitte, erst nach dem 'Lager' &mdash; die kleine Oerzen
+ist krank geworden. Sie spielen heut abend die Gustel
+von Blasewitz. Nachher reisen Sie meinetwegen, wohin
+Sie wollen.«</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen, oh, ich danke Ihnen tausendmal,
+Sie Goldiger!«</p>
+
+<p>»Es ist ein Skandal,« knurrte Franz Burg. »Da hat
+unser Herrgott endlich mal wieder eine richtiggehende
+Tragödie angelegt, und so ein dummes, kleines Gör
+zerreißt ihm das Konzept und macht eine Posse draus!«</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>15.</h2>
+
+<p class="start-chapW">Wenige Minuten nach halb zwölf stieg Asta Thöny am
+Böhmischen Bahnhof in Dresden aus dem Leipziger
+Schnellzuge. Sie hatte schon in Leipzig das Dresdener
+Adreßbuch eingesehen und festgestellt, daß der Senatspräsident
+am Oberlandesgericht Heinrich Pilgram in der
+Marschallstraße Nummer zweiundzwanzig wohnte.</p>
+
+<p>In dem milderen Klima der Residenzstadt war der
+Neuschnee des gestrigen Tages schon geschmolzen und hatte
+das Pflaster mit einer zähen Schlammkruste überzogen.
+In den Straßen war schon alles Leben erstorben. Trübselig
+spiegelte sich der Schein der Straßenlaternen in den
+Kotlachen der überschwemmten Rinnsteine. Trübselig
+klapperte der Gaul durch die physiognomielosen Straßen
+der Vorstadt und durch die kaum angebauten Alleen an
+der Grenze der Altstadt.</p>
+
+<p>Eigentlich doch ein wahnsinniger Plan: um Mitternacht
+einer wildfremden Familie auf die Bude zu rücken!
+Aber schließlich, man hatte doch wohl alle Veranlassung,
+ihr dankbar zu sein. &mdash; Endlich: da stand sie vor der Pforte
+einer vierstöckigen Mietskaserne, und während der Wagen
+von dannen rollte, riß sie sich schier die Hände ab in dem
+Bemühen, den Portier zu alarmieren.</p>
+
+<p>Ein Tattergreis, der hastig Hose und Rock über sein
+Nachtgewand gezogen, mit wirrem Graukopf und schlampigen
+Pantoffeln empfing sie, bösartig knurrend, und war
+nur durch etliche Markstücke so weit zu bezähmen, daß er
+sie bei der schwankenden Beleuchtung einer schwelenden
+Handlaterne bis zum dritten Stock hinaufbegleitete, wo
+ein Porzellanschild mit der Aufschrift »Pilgram« an einer
+breiten, mit Vorhängen abgeblendeten Glastür den Eingang
+wies.</p>
+
+<p>Drinnen alles finster.</p>
+
+<p>Wahnsinnige Situation! Aber was half's! Die Klingel
+schrillte, und zu Astas freudiger Ueberraschung erschien
+schon nach wenigen Minuten ein verschlafenes Dienstmädchen,
+das entsetzt zurückprallte, als es der fremden,
+eleganten Dame ansichtig wurde.</p>
+
+<p>Die Herrschaften seien in Gesellschaft, würden aber
+wohl bis ein Uhr wieder zurück sein ...</p>
+
+<p>Den unbekannten Besuch in die Wohnung einzulassen,
+dazu war das Mädchen nicht zu bewegen, und so mußte
+Asta unter Führung des Tattergreises abermals die drei
+Stiegen hinunter, um draußen auf der ganz verlassenen
+Straße in Schlamm und Tauwind auf und ab zu patrouillieren,
+wie sie abends vorher im Schnee auf der
+Kleinen Fleischergasse auf- und abpatrouilliert war ...</p>
+
+<p>Endlich nach einer Stunde Wartens nahten von der
+Altstadt her vier vermummte Gestalten: ein Herr im
+Zylinder, den Rockkragen hochgeschlagen, und drei Damen,
+eine kugelrunde und zwei schlanke, hochgewachsene, in
+Abendmänteln und Kapuzen.</p>
+
+<p>Im Augenblick, als der alte Herr den Schlüssel einschob,
+um zu öffnen, trat Asta auf ihn zu:</p>
+
+<p>»Um Verzeihung! Ich habe wohl die Ehre, Herrn
+Präsidenten Pilgram ...«</p>
+
+<p>Der alte Herr richtete sich aus seiner gebückten Stellung
+auf, stand völlig verblüfft, musterte die Fragerin.</p>
+
+<p>Im selben Augenblick sah Asta durch goldgefaßte
+Brillengläser hindurch zwei scharfe, klare Augen mit durchdringendem
+Blick auf sich gerichtet.</p>
+
+<p>»Allerdings! Ich heiße Pilgram &mdash; Sie wünschen?!«</p>
+
+<p>Inzwischen waren die Damen herangekommen, starrten
+völlig verblüfft und verständnislos auf die zierliche Gestalt
+im silbergrauen Jackett, deren Züge ein grauer Schleier
+fast ganz verbarg.</p>
+
+<p>»Entschuldigen Sie gütigst, Herr Präsident, könnte ich
+Sie wohl einen Moment allein sprechen?«</p>
+
+<p>»Was für eine Angelegenheit, bitte, meine Dame? Es
+ist ein Uhr!«</p>
+
+<p>»Eine sehr dringende Angelegenheit,« stammelte Asta,
+»ich komme aus Leipzig, es handelt sich um Ihren Sohn.«</p>
+
+<p>Ein noch schärferer Augenblitz traf das Mädchen.</p>
+
+<p>»Hm ...« sagte er nur, dann bückte er sich aufs neue,
+schloß auf und sagte zu seinen Damen:</p>
+
+<p>»Ihr seid wohl so freundlich und geht schon hinauf
+solange.«</p>
+
+<p>Mit angstvoller Neugier musterten die drei Damen
+die Fremde, aber ein scharfes: »Also bitte!« veranlaßte
+sie, dem Wunsche des Familienoberhauptes Folge zu
+leisten. Die Tür fiel ins Schloß.</p>
+
+<p>»Also zuvörderst, wer sind Sie?« fragte der alte Herr.</p>
+
+<p>»Ich bin die Herzoglich Meiningische Hofschauspielerin
+Asta Thöny.«</p>
+
+<p>»Hm ... und Sie wünschen?«</p>
+
+<p>»Ihr Sohn Valentin wird sich morgen früh mit einem
+andern Studenten schießen.«</p>
+
+<p>Die buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen, der
+graue Fransenschnurrbart zuckte.</p>
+
+<p>»Und dieser andere Student ist wer?«</p>
+
+<p>»Ein Herr Hans Thumser.«</p>
+
+<p>»Hans Thumser?! Das ist ja ein Korpsbruder meines
+Sohnes!«</p>
+
+<p>»Ihr Herr Sohn ist schon vor Wochen aus dem Korps
+ausgetreten ...«</p>
+
+<p>»Was ist das?!«</p>
+
+<p>Der Präsident richtete sich straff auf:</p>
+
+<p>»Das müßte ich denn doch wohl wissen, mein
+Fräulein!«</p>
+
+<p>»Es ist aber so, Herr Präsident.«</p>
+
+<p>»Hm ... lassen wir's zunächst einmal dahingestellt, ob
+Sie recht haben. Was veranlaßt Sie, mir diese Mitteilung
+zu machen?«</p>
+
+<p>Asta war auf diese Frage vorbereitet und hatte sich
+ihre Antwort zurechtgelegt.</p>
+
+<p>»Ich bin ... mit Herrn Thumser ... nahe befreundet.«</p>
+
+<p>»Hm &mdash; mit Herrn Thumser? Sie machen mir also
+Ihre Mitteilungen weniger im Interesse meines Sohnes
+als vielmehr in dem des Herrn Thumser, wenn ich recht
+verstanden habe?«</p>
+
+<p>»Nein, das doch nicht, Herr Präsident. Allerdings ...
+vor allem doch wohl Herrn Thumser zuliebe ... Aber
+Ihren Herrn Sohn kenne ich auch, zwar nur sehr flüchtig,
+aber ich bin ihm zu großem Dank verpflichtet, er hat
+mich ... er hat mir gestern ... das Leben gerettet.«</p>
+
+<p>Der alte Herr sah das erregte Mädchen mit einem
+Blick an, in dem ganz deutlich zu lesen war, er zweifle
+an ihrem Verstand.</p>
+
+<p>»Darf ich Sie bitten, meine Gnädigste, Ihren Schleier
+zu heben, damit ich sehe, wen ich eigentlich vor mir habe?!«</p>
+
+<p>Mit zwei raschen Bewegungen streifte Asta Thöny den
+Schleier in die Höhe. Sie fühlte sich mit scharfer Prüfung
+gemustert. Aber das Ergebnis mußte wohl nicht ungünstig
+sein, denn erheblich liebenswürdiger als zuvor fuhr der
+alte Herr fort:</p>
+
+<p>»Darf ich Sie bitten, mein gnädiges Fräulein, sich mit
+mir hinauf in meine Wohnung zu bemühen: Sie werden
+mir erzählen.«</p>
+
+<p>Er entzündete ein Wachsstreichholz und leuchtete dem
+seltsamen Gast die Treppe hinauf. Der Hausflur war nun
+hell erleuchtet. An einer halboffenen Tür drängten sich
+drei weibliche Köpfe, die hastig verschwanden, als der
+Präsident mit seinem Besuch eintrat. Sehr höflich nahm
+er dem Gaste den Regenschirm ab und geleitete ihn in ein
+dunkles Zimmer zur Rechten, entzündete zwei Gasflammen,
+bat, ihn einen Moment zu entschuldigen.</p>
+
+<p>Einen raschen Blick warf Asta in dem Zimmer umher.
+Die übliche, gutbürgerliche Einrichtung der sechziger
+Jahre: Mahagonimöbel, grüner Plüschbezug, an den
+Wänden ehrwürdige Familienbilder in Oel mit Darstellungen
+von Priestern und Gelehrten aus den beiden
+letzten Jahrhunderten. Am Fenster ein Mahagonisekretär
+mit Rolljalousie, darauf zahlreiche Photographien in
+Ständerrahmen, unter denen Asta sofort die eines schlanken
+Studenten in Mütze und Band herauserkannte.</p>
+
+<p>Der Präsident kam zurück, bat, auf dem Sofa Platz
+zu nehmen, und setzte sich ihr gegenüber in einen Plüschsessel.
+Er hatte abgelegt. Auf der linken Brust seines
+Fracks schimmerte eine blinkende Ordenreihe.</p>
+
+<p>Und abermals mußte Asta die Geschichte des gestrigen
+Abends erzählen. Der Präsident lauschte gespannt, ohne
+sie mit einem Wort, mit einer Frage zu unterbrechen.
+Als sie geendet, trat er auf sie zu, streckte ihr die Hand hin:</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen, meine Gnädigste. Das war sehr
+gescheit von Ihnen, daß Sie gekommen sind. Ich fahre
+mit Ihnen nach Leipzig. Ich habe schon nachgesehen, um
+drei Uhr vierzig fährt der Zug, um halb sechs sind wir
+drüben. Darf ich Sie inzwischen meinen Damen zuführen?«</p>
+
+<p>»Sehr gütig, Herr Präsident. Und was wird werden,
+was wollen Sie tun?«</p>
+
+<p>»Den beiden jungen Herren klar machen, daß ihre
+Eltern sie nicht deshalb großgezogen haben, damit sie sich
+untereinander als Zielscheibe benutzen.«</p>
+
+<p>»Aber werden wir auch nicht zu spät kommen? Wollen
+Sie nicht vielleicht vorher noch ein dringliches Telegramm
+an Ihren Sohn ablassen?«</p>
+
+<p>»Liebes Fräulein, ich war selbst einmal Student &mdash;
+bin sogar Alter Herr des Korps Franconia &mdash;, wie ich die
+Buben kenne, scheren sie sich in solchen Fällen den Teufel
+um ein väterliches Telegramm. Im Gegenteil: wenn
+sie erst wittern, daß wir ihnen auf der Spur sind, dann
+kriegen wir sie morgen früh überhaupt nicht mehr zu
+fassen. Um halb sechs Uhr sind wir dort, vor sechs Uhr
+wird's ja überhaupt nicht hell um diese Jahreszeit; inzwischen
+werden wir überlegen, was zu tun ist. Darf
+ich Sie jetzt bitten, zu meiner Frau und zu meinen
+Töchtern hinüberzukommen?«</p>
+
+<p>»Verzeihung, Herr Präsident, würden Sie es nicht für
+besser halten, wenn Sie zunächst Ihre werten Damen
+über den Zweck meines Besuchs aufklärten?«</p>
+
+<p>»Da haben Sie recht, liebes Fräulein. Wenn Sie mich
+also einen Augenblick beurlauben wollen ...?«</p>
+
+<p>Nur wenige Minuten blieb Asta allein. Dann flogen
+zwei schlanke Mädels herein, in Balltoilette, mit glühenden
+Backen, glänzenden Augen, in denen die Angst um den
+Bruder und dabei doch auch brennende Neugier und gespannte
+Erregung standen, und stellten sich mit befangenen
+Knixen vor. Achtzehn und zwanzig mochten sie sein, die
+ältere dem Vater und Bruder wie aus den Augen geschnitten;
+die jüngere, ein munteres, molliges Ding, das
+Ebenbild der Mutter, wie sich alsbald herausstellte, als
+nun auch die rundliche Frau Präsidentin auf der Bildfläche
+erschien. Und alsbald saß Asta mit Valentin Pilgrams
+Mutter und Schwestern unter der Hängelampe
+eines altmodisch-behaglichen Speisezimmers. Man stopfte
+sie mit Butterbrot und Süßigkeiten, man fragte sie aus
+nach tausend Dingen, von denen sie keine Ahnung hatte.</p>
+
+<p>Während dessen hatte sich der Präsident entfernt, kam
+nach ein paar Minuten zurück.</p>
+
+<p>»So, mein gnädiges Fräulein, ich habe mir die Sache
+überlegt. Ich werde jetzt gleich zum nächsten Telegraphenamt
+gehen und eine dringliche Depesche an die Leipziger
+Polizei aufgeben. Hören Sie, was ich aufgesetzt habe:</p>
+
+<blockquote>
+
+<p>'Königl. Kreishauptmannschaft Leipzig! Morgen
+früh soll dort Pistolenduell zwischen meinem Sohn
+Valentin und Stud. Hans Thumser stattfinden. Ort
+und Zeit unbekannt. Abreise sofort, um selbes zu verhindern.
+Ankomme 5.29 dort Dresdener. Erbitte
+Unterstützung, womöglich berittenen Gendarmen, am
+Bahnhof.
+</p>
+<p class="right">
+<span style="margin-right:7em">Pilgram,</span><br />
+<span style="margin-right:1em">Senatspräsident am Oberlandesgericht.'</span>
+</p>
+</blockquote>
+
+<p>So, ich nehme an, daß man einem königlichen Beamten
+meines Ranges in angemessener Weise entgegenkommen
+wird. Wenn die Polizei einigermaßen ihre Pflicht und
+Schuldigkeit tut, so kommen die jungen Herren morgen
+früh überhaupt nicht aus ihrer Bude heraus, sondern
+werden gleich mit Beschlag belegt. Sollte aber wider alles
+Erwarten die Sache nicht klappen, so sind wir ja da!«</p>
+
+<p>»Ja, aber um Gottes willen, Herr Präsident,« meinte
+Asta, »wir haben doch keine Ahnung, wo die schreckliche
+Geschichte eigentlich vom Stapel gehen soll &mdash; wie wollen
+Sie das denn herauskriegen?«</p>
+
+<p>»Ja, Papachen, wie willst Du das nur herauskriegen?«
+echoten die Töchter.</p>
+
+<p>»Liebe Kinder, ich war doch selbst mal in dem Geschäft.
+Gebt acht: Wenn man sich schlagen will, geht man
+nicht zu Fuß heraus, sondern bestellt sich einen Wagen.
+Wenn man aber Korpsstudent ist, so hat man für diesen
+Wagen eine ganz bestimmte Bezugsquelle: das Korps
+nimmt nämlich seinen Wagen immer bei ein und demselben
+Fuhrwerksbesitzer, der ihm Vorzugspreise gewährt.
+Den Namen aber des Wagenlieferanten der Franconia,
+den kenne ich leider nur zu genau. Oder soll ich jetzt sagen:
+glücklicherweise? Ich habe nämlich am Schluß des vorigen
+Semesters für unseren guten Valentin noch eine ganz
+erkleckliche Wagenrechnung berappen müssen ... Der
+gute Mann wohnt in der Nähe des Bayrischen Bahnhofs,
+an ihn also wenden wir uns zunächst und versuchen
+herauszubekommen, wohin die Fahrt gehen soll.«</p>
+
+<p>»Aber wird er's auch verraten?« meinte Asta, »das
+könnte das Korps ihn doch teuer entgelten lassen?«</p>
+
+<p>»Ich glaube, wenn ich mit der Polizei drohe und
+darauf aufmerksam mache, daß man ihn wegen Beihilfe
+zum Zweikampf mit tödlichen Waffen am Schlafittchen
+kriegen könnte, dann wird er wohl mit sich reden lassen!«</p>
+
+<p>»Ach, Papachen, wie klug Du bist!« riefen die Töchter,
+strahlend vor Entzücken über das unerwartete Abenteuer.
+Himmel, wie interessant endete der Abend, der so langweilig,
+ganz nach dem Schema F verlaufen war.</p>
+
+<p>»Nun aber müssen Sie schlafen, liebes Fräulein,«
+meinte die Präsidentin, nachdem ihr Gatte sich entfernt
+hatte, um das Telegramm aufzugeben. »In einer Stunde
+müssen Sie schon wieder zum Bahnhof, die sollen Sie
+wenigstens zur Ruhe benutzen.«</p>
+
+<p>Aber Asta dankte. Sie könne nachher in der Eisenbahn
+noch genug schlafen, sie würde jetzt doch kein Auge
+zutun. Nur Hunger habe sie noch, wenn sie's denn schon
+sagen solle, und Durst auch.</p>
+
+<p>Und die vier Frauen schwatzten und lachten zusammen
+wie alte Freundinnen ... und nur selten einmal ging's
+einer von ihnen durch den Kopf, was für morgen auf dem
+Spiele stand.</p>
+
+<p>Papachen würde schon alles machen. Wenn Papachen
+eine Sache in die Hand genommen hatte, dann konnte es
+ja nicht schief gehen!</p>
+
+<p class="start-chapA space-above">Als Asta und der Präsident fast als einzige Passagiere
+dem Frühzuge entstiegen, trat ein behäbiger Herr in
+einem undefinierbaren Räuberzivil auf den alten Herrn zu.</p>
+
+<p>»Verzeihen Sie gütigst, ich habe wohl die Ehre, Herrn
+Senatspräsidenten Pilgram ... Mein Name ist Gensel,
+Königlicher Kriminalkommissar. Stelle mich im Auftrage
+der Kreishauptmannschaft zu Ihrer Verfügung.«</p>
+
+<p>»Ah, charmant, Verehrtester. Haben Sie auch einen
+Gendarmen zur Hand?«</p>
+
+<p>»Der wartet draußen mit seinem Gaul.«</p>
+
+<p>»Nun, und was ist sonst geschehen?«</p>
+
+<p>»Ja, Herr Präsident, wir haben unser Möglichstes
+getan. Wir haben sofort zwei Kriminalschutzleute zu den
+Wohnungen der beiden jungen Leute geschickt und feststellen
+lassen, ob sie zu Hause wären. Ihr Herr Sohn hat
+seine bisherige Wohnung bei dem Kanzleirat Buchner seit
+gestern ganz aufgegeben und ist ins Hotel übergesiedelt,
+in welches, das wußten die Leute nicht. Und der andere,
+Herr Thumser heißt er ja wohl, der ist heut nacht nicht
+nach Hause gekommen.«</p>
+
+<p>»Teufel! Das ist scheußlich &mdash; was nun?!«</p>
+
+<p>»Ja, was nun, Herr Präsident? Ich weiß auch nicht,
+was ich machen soll!«</p>
+
+<p>Der Jurist sann eine Weile nach, dann erklärte er dem
+Polizeibeamten seinen Plan, durch den Fuhrwerksbesitzer
+den Duellanten auf die Spur zu kommen.</p>
+
+<p>Der Kommissar war völlig einverstanden. Man stieg
+in eine Droschke und rollte durch die hier noch immer mit
+kotigem Schnee bedeckten Straßen zum Bayrischen
+Bahnhof.</p>
+
+<p>Im trüben Laternenschein huschten hastige Fußgänger
+vorüber, das Leben der großen Stadt erwachte &mdash; die
+Arbeit begann.</p>
+
+<p>Die Herren berieten eifrig während der kurzen Fahrt.
+Der Präsident im Rücksitz, der Kriminalkommissar ihm
+gegenüber. Asta lehnte in ihrer Ecke, fröstelnd, übernächtig,
+von Angst geschüttelt, und lauschte der halblauten
+Unterhaltung der Herren.</p>
+
+<p>Der Gendarm war vorausgetrabt. Als man vor dem
+Fuhrhof ankam, hielt er bereits an dem Portal mit dem
+Geschäftsinhaber, einem grobknochigen Mann in Flausrock
+und Holzpantoffeln.</p>
+
+<p>Schnell kletterte der Kommissar aus dem Wagen und
+inquirierte sofort den Fuhrherrn:</p>
+
+<p>»Ist der Wagen für das Korps Franconia schon fort?«</p>
+
+<p>»Weeß Knebbchen, ja, Herr Kommissar, schon seit zehn
+Minuten is er weg ... tut mir sähre leid.«</p>
+
+<p>»Und wohin geht die Fahrt?«</p>
+
+<p>»Das kann ich Sie nich sagen, uff mei Ehrenwort nich.
+Der Wagen is bestellt für um den Herrn Volkner abzuholen,
+Kleine Fleischergasse fünfe ... aber da wird er
+nu ja woll ooch schon nich mehr sinn.«</p>
+
+<p>Der Präsident war ebenfalls ausgestiegen und fragte:
+»Na, lieber Herr, Sie werden ja doch wohl eine Ahnung
+haben, wohin es geht?! Wo fahren denn die jungen
+Herren gewöhnlich hin, wenn sie was Besonderes vorhaben,
+he?!«</p>
+
+<p>»Nu, mei gutester Herr, wenn ich's ehrlich sagen soll,
+gewehnlich machen se doch so was im Ratsholz ab, un
+da gibt's eigentlich nur een' Weg: Kaiser-Wilhelm-Straße
+'runter, dann Kaiserin-Augusta-Straße, am alten Wasserwerk
+vorbei und ins Streitholz hinein. Freilich, was für
+ä Plätzchen se sich dasmal haben ausgesucht, davon habe
+ich Sie natierlich de leiseste Ahnung nich, mei gutester
+Herr.«</p>
+
+<p>»Also, Herr Robolski,« sagte der Kriminalkommissar,
+»ich mache Sie darauf aufmerksam: Wenn sich's herausstellt,
+daß Sie uns nicht die reine Wahrheit gesagt haben,
+dann krieg' ich Sie bei die Hammelbeene, verstehen Sie
+mich?!«</p>
+
+<p>»Mein Ehrenwort,« sagte der Fuhrherr, »mein
+heiligstes Ehrenwort, Herr Kommissar, das, was ich gesagt
+habe, ist alles, was ich weeß.«</p>
+
+<p>»Schön! Also, Gendarm Mehlhorn, Sie haben gehört:
+sitzen Sie auf, traben Sie was haste was kannste nach
+dem Streitholz. Wir kommen nach. Sie reiten bis zum
+Schnittpunkt der 'Neuen Linie' und der 'Linie', meinetwegen
+auch die 'Linie' hinauf, bis zum Flußgraben, dann
+zurück bis zum Wegekreuz, dort warten! Merken Sie
+inzwischen was von den Duellanten, so greifen Sie selbständig
+ein, verstanden?!«</p>
+
+<p>»Zu Befehl, Herr Kommissar!« sagte Mehlhorn dienstlich,
+schwang sich auf seinen Braunen und klapperte die
+Bayrische Straße hinunter.</p>
+
+<p>Die beiden anderen Herren verabschiedeten sich mit
+flüchtigem Gruß und Dank von dem Fuhrwerksbesitzer,
+wiesen den Kutscher an, hinter dem Gendarmen drein zu
+fahren, stiegen ein, und die Gäule zogen an.</p>
+
+<p>Die drei im Wagen schwiegen und sannen.</p>
+
+<p>Vom Bayrischen Bahnhof blinkten grelle Signallichter,
+schrillten Lokomotivenpfiffe, ratterten mit dumpfen
+Stößen ausfahrende Züge über die Schienen. Drüber
+stand schon heller Tagesglast. Auf der matt erleuchteten
+Kreisscheibe der Bahnhofsuhr standen die beiden Zeiger
+in einer geraden, senkrechten Linie ...</p>
+
+<p>O Gott, wenn man zu spät kam! Es konnte sich ja
+nur um Minuten handeln.</p>
+</div>
+
+<div>
+<h2>16.</h2>
+
+<p class="start-chapI">Hans Thumser erwachte. Oben an der Decke war irgend
+etwas, das blendete ihn. Mit verschlafenen Augen
+blinzelte er hinauf und sah, daß es Laternenschein war,
+der, von drunten herauffallend, das Lichtbild eines
+Fensters auf die weiße Tünche zeichnete. Teufel ja, wo
+kam das denn her? Das war sonst doch nicht so?!</p>
+
+<p>Mit einem Mal fiel's ihm ein: er war ja gar nicht in
+seinem eigenen Zimmer, lag nicht in seinem Bett ...
+aber wo nur? Richtig, er war ja doch auf Volkners Bude
+&mdash; aber warum nur, was war denn eigentlich los?</p>
+
+<p>Mit einemmal krampfte sich sein Herz zusammen in
+siedendem Schreck: o Gott, morgen früh &mdash;!</p>
+
+<p>Eigentlich doch eine sehr vernünftige Idee von Volkner,
+ihn nicht allein zu lassen in dieser Nacht, in dieser vielleicht
+... letzten Nacht. Und auch sonst war alles sehr vernünftig
+gewesen, was der Senior gesagt und geraten:</p>
+
+<p>»Weißt Du, Thumser, vor einer solchen Affäre ist das
+einzig Richtige, sich so zu betragen, als sei gar nichts Besonderes
+los. Um Gottes willen, bloß sich nicht hinsetzen
+und ein halbes Dutzend Abschiedsbriefe schreiben: an die
+Eltern, an den Schatz, an die Erbtante, und wer weiß
+an wen sonst noch. Das hat ja gar keinen Zweck. &mdash;
+Mein Gott, so'n bißchen Knallerei! Ja, wenn Du jedesmal
+Dein Testament machen wolltest, wenn Du Dich in
+Lebensgefahr begibst, dann müßtest Du es von Rechts
+wegen machen, so oft Du vor die Tür gehst! Ueberall kann
+Dir ein Dachziegel auf den Schädel fallen. Und wenn
+Du in Deiner Bude und im Bette bleibst, kann schließlich
+die Decke einstürzen ...«</p>
+
+<p>Des Korpsbruders rheinischer Leichtsinn hatte Hans
+Thumser über die Abendstunden hinweggeholfen. Man
+war auf der Kneipe gewesen, hatte Quodlibet gespielt und
+den blödesten Bierulk betrieben. Dann hatte Volkner ihn
+mit auf seine Bude geschleift, ihm großmütig sein Bett
+abgetreten und sich dann selber auf dem Kanapee einlogiert.
+Von dort herüber drang jetzt sein melodisches
+Schnarchen. Na ja, der hatte gut schnarchen!</p>
+
+<p>Vorher aber, vor dem Einschlafen, hatten die zwei
+noch einen besonderen Trall ausgeheckt: Volkner hatte
+seine Geige genommen, und beide waren sie vor die
+Kammertür von Volkners bejahrter Hauswirtin gezogen
+und hatten ihr ein Ständchen gebracht, indem sie zu sanft
+hinschmelzender Violinbegleitung das schöne Lied gesungen
+hatten:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">Seh ich ein Haus von weitem,<br /></span>
+<span class="i0">Wo ein lieb Mädel träumt,<br /></span>
+<span class="i0">Sing ich zu allen Zeiten<br /></span>
+<span class="i0">Ein Lied ihr ungesäumt.<br /></span>
+<span class="i0">Und wird's im Fenster helle,<br /></span>
+<span class="i0">Sei es auch noch so spat:<br /></span>
+<span class="i0">So weiß ich auf der Stelle<br /></span>
+<span class="i0">Wieviel's geschlagen hat.<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Erst als die Pantoffeln der Alten von drinnen gegen
+die Tür knallten, hatten sie Ruhe gegeben und waren
+dann beide auch sofort eingeschlafen.</p>
+
+<p>Volkners Bude befand sich im ersten Stock des Hauses,
+das an der Kleinen Fleischergasse dem Cafébaum direkt
+gegenüber lag. Und der Lichtschein der Laterne, die neben
+dem Eingang des Restaurants stand, war es, der Hans
+Thumser geweckt hatte. Er tastete nach seiner Taschenuhr
+und stellte im matten Reflex des Deckenlichts fest, daß es
+zwei Uhr war.</p>
+
+<p>Auf halb fünf war der Korpsdiener zum Wecken, auf
+viertel sechs der Wagen bestellt. Um viertel sieben sollte
+der erste Schuß fallen ... also noch zwei und eine halbe
+Stunde Schlaf und vielleicht noch vier und eine viertel
+Stunde zu leben ...</p>
+
+<p>Die ganze vorige Nacht hindurch hatte Hans Thumser
+wie ein Sack geschlafen. Die nötige Bettschwere hatte er
+sich ja schon vor dem Zusammenstoß mit Pilgram angezecht.
+Der gestrige Tag war in beständiger Unrast
+hingegangen, und so kam jetzt in nächtlicher Stille zum
+erstenmal Ordnung in den Wirrwarr der Gedanken,
+die um das Schicksal der kommenden Morgenstunde
+flatterten.</p>
+
+<p>Also sterben vielleicht ... und warum denn eigentlich?
+Nun, die Antwort war sehr einfach: Ein anderer war
+Hansens Ehre zu nahe getreten, hatte ihn tätlich aufs
+schwerste beleidigt, dafür galt es eben die standesübliche
+Sühne zu fordern.</p>
+
+<p>Schön! Das klang ja ganz vernünftig. Aber schließlich
+... eine Beleidigung hatte doch irgendeinen Grund,
+ein Motiv. Was hatte er Pilgram denn eigentlich
+zuleide getan? Was hatte er begangen, daß Pilgram ihn
+wie einen ehrlosen Buben behandelt hatte? Nun, das eine
+war ja klar: Pilgram war eifersüchtig, er bildete sich ein,
+er selber, Hans Thumser, sei sein Nebenbuhler bei Jucunda,
+und zwar ein begünstigter. Ein begünstigter? Ach, du
+lieber Gott ...!</p>
+
+<p>Freilich, an ihm selber hatte es ja nicht gefehlt ...
+Und wer weiß, was geschehen wäre, wenn nicht im
+Augenblick, als Jucunda anfing, gnädig zu werden, sehr
+gnädig &mdash; &mdash; wenn nicht der andere dazu gekommen wäre,
+dieser fade Laffe, über dessen blasiertem Geckenschädel der
+Nimbus einer Fürstenkrone schwebte?</p>
+
+<p>Aber schließlich, es war doch ein Irrtum, wenn Pilgram
+sich einbildete, Thumser sei glücklicher gewesen als er selber.</p>
+
+<p>Also ein Mißverständnis! Ein Wahn!</p>
+
+<p>Aber da war noch etwas andres, das nicht stimmte:
+Was das nur mit dem Brief gewesen war, den Pilgram
+ihm vorgehalten? Offenbar ein Brief von Jucunda, ein
+Brief, in dem sie sein Eintreten für ihre Ehre mehr oder
+weniger verblümt abgelehnt hatte. Und dieser Brief
+hatte auf einem Briefbogen gestanden, der seine, Hans
+Thumsers, Initialen trug. Wie kam der Brief auf dieses
+Papier? Erst jetzt in der Stille der Nacht fand Hans
+Zeit, um über dies Phänomen nachzugrübeln ...</p>
+
+<p>Und plötzlich stand ihm der Augenblick vor der Seele,
+wie er Jucunda und ihrer Mutter sein Zimmer zur Verfügung
+gestellt hatte, um sich auszusprechen. Natürlich,
+das war's ja! Da hatten die Frauen das Uriasbrieflein
+ausgeheckt und das liebliche Plänchen gleich realisiert. Sie
+hatten genommen, was gerade zu erreichen war, das
+Briefpapier des Mannes, der ihnen vertrauensvoll seine
+Behausung zur Verfügung gestellt ...</p>
+
+<p>Pilgram aber, der hatte natürlich für die sonderbare
+Erscheinung sich eine ganz andere Erklärung in den Kopf
+gesetzt. Er mußte sich eingebildet haben, der Korpsbruder
+sei mitschuldig an der Abfassung des Briefes, habe ihn
+vielleicht sogar redigiert ...</p>
+
+<p>Also Mißverständnis Numero zwei.</p>
+
+<p>Schön! Zwei grobe Irrtümer in der Rechnung. Wenn
+man sich aber einmal in Pilgrams vermutliche Auffassung
+hineinzudenken versuchte, so konnte man ihm schließlich
+nicht so unrecht geben, wenn er bis aufs Blut gereizt war,
+wenn er den einstigen Korpsbruder infamer Gesinnung
+und Handlungsweise verdächtigte.</p>
+
+<p>Und darum Mord und Totschlag! Darum zwei junge
+Leben vor die Mündung geladener Pistolen gestellt! War
+das nicht Wahnsinn? War es nicht noch in diesem Augenblick
+Pflicht, eine offene Aussprache herbeizuführen, den
+Irrtum aufzuklären?!</p>
+
+<p>Aber bei dem Irrtum war es nicht geblieben. Er hatte
+eine schreckliche Folge gehabt: die rasche Tat, eine Tat, die
+nicht milder war denn ein Schlag mitten ins Angesicht
+des Feindes. Und auch zu diesem Schlag wär's ja gekommen,
+wenn nicht die Korpsbrüder dazwischen getreten
+wären.</p>
+
+<p>Mißverständnisse und Irrtümer ließen sich aufklären &mdash;
+die Tat war nicht ungeschehen zu machen. Der Kavalier,
+der von einem Kavalier einen Schlag erhält, muß blutige
+Sühne fordern. Das war das eiserne Gebot des Ehrenkodex,
+daran war nicht zu deuteln noch zu rütteln.</p>
+
+<p>Und dann &mdash; wer mochte den ersten Schritt tun?
+Machte der sich nicht verdächtig, als sei es nur die Angst
+vor der blauen Bohne, die ihn zur Aussöhnung geneigt
+machte? Würde man ihn nicht der Kneiferei zeihen?</p>
+
+<p>Der Kneiferei? Nun, wer vierzehn Schlägermensuren
+mit Ehren bestanden hatte, brauchte der sich vor dem Verdacht
+der Kneiferei zu fürchten?</p>
+
+<p>Halt! So eine Knipserei, das war doch was andres
+als das bissel Bestimmungsmensur mit Binden und
+Bandagen.</p>
+
+<p>Nein, da war nichts zu wollen, dafür war man Korpsstudent!
+Der andere, der war an allem schuld. Der hätte
+die Aussprache herbeiführen müssen vor der Tat. Daß er
+dem Freund, dem Korpsbruder aus drei Semestern eine
+ehrlose Gesinnung überhaupt zugetraut, das war die
+eigentliche Beleidigung, das war die Schmach, die nur
+mit Blut abgewaschen werden konnte. Die Worte, die
+Handlungen, die aus dieser abscheulichen Unterstellung
+erwachsen waren, die waren schließlich nichts anderes als
+der zufällige Ausdruck für einen Verdacht, der auch ohne
+Wort und Schlag ins Herz der Ehre traf.</p>
+
+<p>Nein, es gab keinen anderen Ausweg &mdash; und so würde
+man morgen früh aufeinander losknallen »bis zur Kampfunfähigkeit«.</p>
+
+<p>Und nun kamen die Gedanken an daheim. An Eltern
+und Geschwister &mdash; nein, das ging ja doch nicht, einen
+solchen Gang zu tun, ohne sich vorher von den liebsten
+Menschen verabschiedet zu haben. Wenn er nun fiel &mdash;
+wie sollten sie diese wirre, dunkle Geschichte verstehen?
+Sie würden doch nachforschen, würden wissen wollen, was
+denn eigentlich geschehen war, wie es hatte so weit kommen
+können &mdash; und dann war's zu spät. Dann war sein
+Mund, der allein Licht in die Wirrnis hätte bringen
+können, verstummt. Sein Tod würde den Lieben ein
+düsteres, grauenhaftes Rätsel bleiben.</p>
+
+<p>Also das geht nicht. Hans wird aufstehen und einen
+langen, langen Brief an die Geliebten daheim schreiben.
+Ihnen alles erzählen, ohne Verschweigen, auch das Glück
+&mdash; die landläufige Moral nannte es ja wohl ein sündiges
+Glück &mdash;, das er in Asta Thönys Armen genossen, auch
+die verworrenen Dränge, die ihn zu Jucunda getrieben.
+Alles, alles wird er berichten, und so wird wenigstens
+Klarheit liegen über seinem schauerlichen Ende ...</p>
+
+<p>Ob sie ihn verstehen werden daheim? Mein Himmel,
+der Vater ist doch auch einmal jung gewesen ...</p>
+
+<p>Und in Gedanken entwarf Hans Thumser den Wortlaut
+seiner Beichte. Immer eindringlicher, immer inbrünstiger
+vertiefte er die Schilderung seines Seelenzustandes,
+immer heißer und drängender formte er seine
+Bitte um Verständnis, um Vergebung, um ein Gedenken
+ohne Groll. Und über all dem Sinnen und Grübeln war
+er plötzlich versunken und verschwunden und wachte erst
+wieder auf, als Volkner ihn wach rüttelte, und die schlampige
+Alte, die sie beide gestern abend angeserenadet, in
+Nachthaube und Nachtjacke, grimmigen Gesichts und
+knurrenden Mundes den Kaffee auf den Tisch setzte.</p>
+
+<p>Nun war's zu spät, nach Hause zu schreiben. Nun
+blieb's doch bei Volkners Theorie.</p>
+
+<p>Die trockenen Semmeln von gestern wollten nicht in
+die Kehle, der glühheiße Bliemchenkaffee blieb fast unberührt.
+Ein Glück, daß Volkner mit ein paar Tafeln
+Schokolade und einem besseren Schnaps versehen war.</p>
+
+<p>Geschäftig bediente er den Korpsbruder, wie man um
+einen Kranken, um einen Sterbenden sich müht. Und
+dabei fühlte Hans Thumser ganz deutlich, daß der andere
+sich im tiefsten Innern höchst mollig fühlte bei dem Gedanken:
+Gott sei Dank, daß ich selber nicht derjenige
+welcher bin!</p>
+
+<p>Um Punkt halb sechs knallte drunten die Peitsche des
+Kutschers. Die jungen Männer machten sich bereit.</p>
+
+<p>Im Schauer des dämmrigen Morgens fuhr Hans
+Thumser fröstelnd zusammen, als sie vor die Tür traten,
+als sein Blick auf die eingeschnurrte Gestalt des Korpsdieners
+fiel, der übernächtig auf dem Bock neben dem
+Kutscher hockte und auf den Knien einen schmalen, schwarzpolierten
+Kasten trug ...</p>
+
+<p>Nebeldurchdunstet lagen die Straßen. Das Weiß des
+frischen Schnees war längst in ein kotiges Braun verwandelt,
+das der Frost der jüngsten Nacht mit tausend
+Rauhreifkristallen überzogen hatte. Ringsum erwachte das
+Leben der großen, fleißigen Stadt der Arbeit.</p>
+
+<p>Den Rockkragen hochgeschlagen, dampfenden Atems
+schritten die Männer, huschten die Frauen einher, jeder
+an sein Geschäft. Schwarz und finster reckten sich die
+Fronten der alten Straßen, deren Häuser sich im Laufe
+der Jahrhunderte aus eleganten Wohnpalästen in dumpfe,
+mit Affichen überladene Geschäftshäuser verwandelt
+hatten.</p>
+
+<p>Aber die Nebel sanken, von Osten wuchs die junge
+Tageshelle. Erste, schüchterne Sonnenstrahlen spielten
+droben um die Giebeldächer, ein Tag voll winterlicher
+Herrlichkeit flammte herauf.</p>
+
+<p>Nun wurden die Anlagen durchquert. Weißleuchtend
+zackte sich das Gewirr der umreiften Aeste ins junge Blau.</p>
+
+<p>Ivo Volkner aber und Hans Thumser studierten eifrig
+den S.&#x202f;C.-Pistolen-Komment, der in einem handschriftlichen
+Exemplar auf ihren Knien lag, und zündeten eine
+Zigarette an der anderen an.</p>
+
+<p>Ganz kühl und geschäftsmäßig sprachen sie immer und
+immer wieder den vorgeschriebenen Gang der Mensur durch,
+um später auch nicht den leisesten Schnitzer zu begehen.</p>
+
+<p>Endlich aber hielt es Hans Thumser nicht mehr aus.
+Er schob das schwarzgebundene Heft zurück, riß das frostbeschlagene
+Wagenfenster auf, atmete in tiefen Zügen die
+Morgenfrische und sog mit brennenden Augen das Bild
+der Morgenwelt in sich hinein.</p>
+
+<p>Und eine wilde Sehnsucht kam über ihn &mdash; Sehnsucht
+nach all dem Unsagbaren, das von da draußen in seine
+Seele hineinflutete, nach all dem unendlich Schönen des
+Lebens, das er doch kaum mit erstem Erwachen des Begreifens
+gegrüßt ... und das doch schon tausend Vorahnungen
+künftiger Glücksmöglichkeiten in ihm geweckt
+hatte. Ach, Glücks&shy;<em class="gesperrt-in">möglich&shy;keiten</em>?! Nein, er <em class="gesperrt">war</em>
+ja schon glücklich gewesen!</p>
+
+<p>Asta Thöny! klagte es in seiner Seele. Gott! so undankbar
+konnte man sein? An sie hatte er noch gar nicht
+gedacht ... Daß er von ihr sich verabschieden mußte, das
+war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen ... Und
+doch &mdash; wieviel hatte sie ihm geschenkt! Wie unsäglich
+gut war sie zu ihm gewesen, und er ... er hatte sie achtlos
+beiseite geschoben. Und das letzte, das er von ihr gesehen,
+waren bittere Tränen gewesen.</p>
+
+<p>Zu spät ... Nun mußte das Schicksal seinen Gang
+gehen. Nun blieb nur noch eins: der Feindeskugel die
+Brust zu bieten und die Stirn dem wahllosen Walten des
+Geschicks.</p>
+
+<p>Und doch, wie schön die Welt! Wie reich, was sich
+barg hinter den weißen Nebelschwaden, die das Kommende
+verhüllten. Wie selig selbst dieser Augenblick ahnungsvollen
+Grauens ...</p>
+
+<p>Und Hans Thumsers Seele fühlte sich leben in diesem
+Augenblick. Leben, wie sie nie zuvor gelebt ... In
+langen, schmerzvollen Zügen trank sie das Glück des
+Augenblicks hinein. Das Glück, noch da zu sein, noch ein
+paar schmerzvoll süße Minuten lang die tiefe Wonne des
+Daseins atmen zu dürfen.</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">In einem billigen Zimmer des Hotel de Russie &mdash;
+dritter Stock nach hinten hinaus &mdash; hatte Valentin
+Pilgram sich einquartiert und die halbe Nacht mit Briefeschreiben
+zugebracht. Erst nach Mitternacht hatte er sich
+aufs Bett gestreckt und ein paar Stunden hingedämmert ...</p>
+
+<p>Nun marschierte er auf dem Reitweg, der erst rechts,
+dann links der »Neuen Linie« durch das Streitholz führte,
+dem Kampfplatz entgegen, ein einsamer Wanderer ...</p>
+
+<p>Er hatte sich nicht entschließen können, die letzten
+Augenblicke in Gesellschaft seines ihm tief unsympathischen
+Sekundanten Borgmann zuzubringen, mit dem er zweimal
+die Klinge und noch viel öfter in hitzigen Debatten des
+S.&#x202f;C. das Schwert des Wortes gekreuzt.</p>
+
+<p>Um nicht mit dem Wagen zusammenzutreffen, war er
+vom Fahrdamm abgebogen, auf den Reitweg hinüber,
+auf dem um diese Morgenstunde noch keine Begegnung
+zu befürchten war. Er sah nicht die Pracht des jungen
+Tages, fühlte nicht die Schönheit des Daseins, die ringsum
+tausend Wunder winterlicher Herrlichkeit erblühen ließ.
+Er fühlte nichts als seinen Haß &mdash; sah nichts als die Gestalt
+des Gegners, wie sie nun gleich vor ihm stehen würde,
+ein sicheres Ziel dem stählernen Druck seiner Hand, dem
+unbeirrbaren Blick seines Auges.</p>
+
+<p>Da ließ ein Geräusch ihn aufschauen, ein Geräusch,
+das rasch sich näherte. Pferdegetrappel war's, gedämpft
+durch den Schnee &mdash; nur wenn die Hufe ab und an gegen
+die harte Eiskruste stießen, die den Boden überzog, dann
+gab's einen klirrenden Ton. Der hatte ihn geweckt.</p>
+
+<p>Da vorne, in den silbernen Nebeln, die noch über der
+Pleißeniederung lagerten, tauchten, schattenhaft abgehoben
+vom umgoldeten Himmel, zwei Reitersilhouetten auf: ein
+Herr und eine Dame. In raschem Trabe näherten sich
+die schnaubenden Gäule.</p>
+
+<p>Valentin Pilgram konnte keines Menschen Blick ertragen
+in diesem Augenblick. Er trat rasch hinter den
+mächtigen Schaft einer Eiche und ließ die Reiter vorüberflitzen.
+Im letzten Augenblick erkannte er sie: es waren
+Jucunda und der Erbprinz.</p>
+
+<p>Es war ihm, als hätte er einen Stoß vor die Brust
+erhalten. Er taumelte, starrte ein paar Sekunden wie ein
+Blödsinniger hinter den enteilenden Schatten her. Noch
+klang Jucundas übermütiges Lachen, des Prinzen
+näselnde Stimme in sein Ohr:</p>
+
+<p>»... mal sehen, ob der Generalintendant meines
+alten Herrn für ein Gastspiel in diesem Winter ...«</p>
+
+<p>Das waren die Worte, die er aufgefangen ...</p>
+
+<p>Ha ha! &mdash; ha ha ha ha ha &mdash;!! Das also war das
+Ende! Darauf lief es hinaus!</p>
+
+<p>Während er zum Todesgange schritt mit jenem andern,
+der ihm der Glückliche gewesen war bis zu diesem Augenblick
+... In derselben Stunde ... pfui Deubel! pfui Deubel!</p>
+
+<p>In dumpfer Betäubung trottete er weiter.</p>
+
+<p>Wo war der blindwütende Haß, der ihm den Nacken
+gestählt, die Sehnen gestrafft? Verweht &mdash; verflattert,
+wie die weißen Nebelschwaden um die rauhreifumsilberten
+Kronen der Bäume zerwehten.</p>
+
+<p>Und plötzlich ward er sich des grausamen Wahnsinns
+bewußt, der in all den Geschehnissen lag, die er selbst ins
+Rollen gebracht, und die nun abschwirrten, wie ein gräßlich
+zermalmender Mechanismus, unhemmbar, unwiderstehlich.</p>
+
+<p>Da blinkte schon der Lauf der Pleiße ... da vorn
+tauchte aus den Morgendünsten der Umriß eines Wagens
+auf, der sich im Schritt gen Süden bewegte, und hinter
+ihm klang das Rollen eines zweiten Wagens.</p>
+
+<p>Er beschleunigte den Gang, er mochte sich nicht überholen
+lassen, weder von seinem Sekundanten noch von
+der ... andern Partei.</p>
+
+<p>Nun hatte er die »Linie« erreicht, verfolgte sie einige
+hundert Schritte weit gen Osten ... und sieh, da öffnete
+sich rechts eine weite Lichtung: die Heiderwiese ...</p>
+
+<p>Am Wegekreuz hielt der Wagen, der vor ihm gefahren
+war. Er sah, wie drei männliche Gestalten ihm entstiegen
+und durch den Schnee ins Innere der Lichtung hinein
+wateten. Das waren die andern: Hans Thumser, Volkner,
+der Korpsdiener.</p>
+
+<p>Valentin Pilgram blieb am Chausseerand stehen und
+wartete auf seinen Sekundanten. Nach wenigen Minuten
+war der Wagen heran. Ihm entstiegen Herr Borgmann
+im grellkarierten Winterpaletot, sehr zeremoniös, platzend
+vor Feierlichkeit, und Graf Schmettow, der Meißner-Senior,
+der als Unparteiischer zu fungieren hatte, verkatert,
+die Scherbe im Auge. Und ferner der alte Sanitätsrat
+Dr. Collwitz, der sich als zweiten Paukarzt einen
+seiner Assistenten mitgebracht hatte. Einen jüngeren, bebrillten
+Herrn mit langflutendem blonden Vollbart.
+Dieser wurde als Doktor Köllicker vorgestellt.</p>
+
+<p>Pilgram dankte den Aerzten für ihr Erscheinen, die
+üblichen Redensarten wurden getauscht in gezwungen
+nachlässigem Tone, den der Ernst der Stunde mit frostigem
+Schauer durchzitterte. Dann stapften die Herren der
+Gegenpartei nach gen Süden.</p>
+
+<p>Hinter ihnen schritt der Korpsdiener der Neo-Borussia,
+er trug einen mit gelben Messingknöpfen benagelten
+Koffer, der Instrumente und Materialien für die Aerzte
+enthalten mochte.</p>
+
+<p>Valentin Pilgrams Blicke suchten den Gegner und
+erkannten die schlanke, geschmeidige Gestalt. Aber wohin
+war der Haß geschwunden, der ihn durch Wochen gemartert,
+wenn er Hans Thumsers bloß gedachte?! Er
+sah nur noch den Freund, den Korpsbruder aus drei
+Semestern.</p>
+
+<p>Thumser hatte seinen Paletot abgelegt und stand mit
+offenem Jackett, über der Weste blitzte das grün-gold-rote
+Band.</p>
+
+<p>Und dahin sollte man nun zielen, dahin das Todesblei
+entsenden?!</p>
+
+<p>Und doch, es gab kein Zurück ... Und ob er wollte
+oder nicht, die grausame Farce mußte nun mit Anstand
+zu Ende gespielt werden ...</p>
+
+<p>Und rasch und vorschriftsmäßig wickelte sich nun der
+Gang der Dinge ab. In genauestem Anschluß an den
+Wortlaut des Komments wurden nun die Plätze bestimmt,
+so daß das Licht gleichmäßig verteilt war; wurden die
+Waffen geladen, die Duellanten instruiert. Der Unparteiische
+schritt selber mit Riesensätzen seiner langen
+Storchbeine die Barriere ab und bezeichnete sie durch zwei
+niedergelegte Spazierstöcke, hüben und drüben. Noch zehn
+Schritt weiter jenseits wurden durch Kreuze, die in den
+Schnee geritzt wurden, die Plätze für die Duellanten festgelegt,
+die sonach durch fünfunddreißig reichlich bemessene
+Schritte voneinander getrennt waren.</p>
+
+<p>Zuletzt nahmen die Sekundanten ihren Fechtern noch
+Brieftasche, Uhr und Geldbörse ab und geleiteten sie dann
+zu ihrem Platze. Dort übergaben sie ihnen die Waffen
+und traten dann jeder zwanzig Schritt zur Seite.</p>
+
+<p>Der Unparteiische nahm seinen Stand zwanzig Schritte
+seitwärts von der Mitte der Schußlinie.</p>
+
+<p>»Meine Herren!« sprach er mit schallender Stimme,
+»ich wiederhole noch einmal: ich zähle bis vier. Wenn
+ich eins! gezählt habe, dürfen Sie avancieren bis an die
+Barriere, bis vier müssen Sie abgeschossen haben. Herr
+Thumser, als der Beleidigte, hat den ersten Schuß. &mdash;
+Bin ich verstanden?«</p>
+
+<p>Mit stummem Nicken antworteten die Gegner.</p>
+
+<p>Hochaufgerichtet stand Hans Thumser und sah übers
+schneeblinkende Feld. Endlos schien ihm die Entfernung,
+die ihn von dem Feinde trennte. Aber er wußte, daß sie
+sich rasch verringern würde, zusammenschrumpfen zu
+einem schrecklichen Aug' in Auge ...</p>
+
+<p>Ein jähes Frösteln rann durch seine Gestalt, kaum
+konnte er das Klappern seiner Zähne bemeistern, kaum
+den Hahn der Pistole spannen ... Und nun noch ein Blick
+in die goldige Morgenwelt hinaus. Ein Blick in die
+Zukunft, die vor ihm versinken wollte wie der Tau einer
+Nacht. Und da überfiel ihn eine jähe, ingrimmige Wut
+auf den, der ihm das alles rauben wollte. Nein, sich
+wehren ... sich wehren bis zum letzten Atemzug! Ins
+Herz den Gegner treffen &mdash; ins Herz! Wenn einer fallen
+soll, gut, so sei's der andere!!</p>
+
+<p>»Eins!« scholl da schneidend scharf das Kommando des
+Unparteiischen.</p>
+
+<p>Und nun war alles versunken, alles bis auf die hagere,
+starr emporgereckte Gestalt da drüben, die einst geliebte,
+nun bis in den Tod gehaßte ...</p>
+
+<p>Wie fern sie war, wie klein ... und nun, nun kam sie
+heran, nun wuchs sie ... wuchs und wuchs ... und nun
+blieb sie stehen ... bot sich zum Ziel ...</p>
+
+<p>Da raffte auch Hans Thumser sich zusammen. Mit
+hastigen Schritten schoß er vorwärts, bis seine Fußspitzen
+den Spazierstock berührten, der die Barriere bezeichnete.</p>
+
+<p>»Zwei!« klang des Unparteiischen Stimme.</p>
+
+<p>Hans Thumser hob die Waffe bis in die Augenhöhe,
+zielte auf des Gegners Brust, sah ganz deutlich, wie über
+dem Visier die breiten Schultern standen, das fahle Gesicht.</p>
+
+<p>»Drei!«</p>
+
+<p>Da drückte er los ...</p>
+
+<p>Er sah den Gegner wanken, sah, wie die Rechte,
+welche bisher die Waffe gesenkt gehalten, eine rasche,
+zuckende Bewegung nach der linken Schulter machte. Dann
+aber fand der Taumelnde Halt, hob nun ebenfalls den
+Lauf, aber hoch bis über die Stirn, und schoß &mdash; schoß hoch
+in die Luft ...</p>
+
+<p>»Vier!« klang das Kommando des Unparteiischen.</p>
+
+<p>In diesem Augenblick ließ Valentin Pilgram die
+Pistole fallen und griff mit der Rechten krampfhaft in das
+linke Schultergelenk hinein.</p>
+
+<p>Doktor Köllicker sprang zu, riß Pilgrams Rock auf,
+das weiße Hemd wies Blutflecken, er zertrennte es mit
+raschem Zerren, untersuchte das verletzte Gelenk. Dann
+winkte er dem Sanitätsrat, der hinzutrat.</p>
+
+<p>Auch Borgmann, der Sekundant, und Graf Schmettow
+eilten zu dem Verwundeten heran.</p>
+
+<p>Der lächelte mit schmerzverzerrtem Munde. »Viel
+scheint's nicht zu sein, meine Herren. Von mir aus kann's
+weiter gehen!«</p>
+
+<p>Aber der linke Arm hing kraftlos herunter, ein Versuch,
+ihn zu bewegen, mißlang.</p>
+
+<p>Die Herren steckten in flüsternder Beratung die Köpfe
+zusammen. Die Forderung lautete bis zur Kampfunfähigkeit
+... und die lag wohl nicht vor, obwohl das Schultergelenk
+schwer verletzt schien.</p>
+
+<p>Hans Thumser trug's nicht länger. Der andere hatte,
+obwohl getroffen, seinen Schuß verloren gegeben. Was
+konnte das bedeuten? Doch nur dies eine: die Erkenntnis
+begangenen Unrechts.</p>
+
+<p>Hans winkte seinen Sekundanten heran.</p>
+
+<p>»Ich kann nicht mehr, Volkner &mdash; geh und biete Satisfaktion
+an ...«</p>
+
+<p>In derselben Sekunde scholl auf der Chaussee ein
+hastiges Hufegeklacker, und eine atemlose Männerstimme
+keuchte:</p>
+
+<p>»Halt! Im Namen des Gesetzes: halt, meine Herren!«</p>
+
+<p>Zwischen den Büschen des Wiesenrandes tauchte ein
+goldblinkender Helm auf, ein grüner Waffenrock, der
+braune Bug eines Pferdes, in rasendem Galopp gestreckt.
+Fünf Minuten später preschte der Reiter an der Gruppe
+der Herren vorüber, die sich um den Verwundeten zusammengeballt
+hatten, warf den Gaul herum, versuchte den
+Flankenzitternden, Schäumenden zum Stehen zu bringen.</p>
+
+<p>Hans Thumser hielt sich nicht länger. In langen
+Sätzen übersprang er die fünfzehn Schritt, die ihn von
+dem Verwundeten trennten, streckte ihm die Hand hin:</p>
+
+<p>»Komm, Pilgram &mdash; das geht ja doch nicht mehr!«</p>
+
+<p>Die Herren, die den Verwundeten umdrängten, hatten
+ihm Platz gemacht.</p>
+
+<p>Aug' in Aug' standen die einstigen Freunde einander
+gegenüber, tauschten einen Blick, in dem mehr als Versöhnung
+lag ... Genesungsglück schimmerte darin, neue
+Hoffnung, neues Leben ...</p>
+
+<p>Mit der heilen Rechten schlug Valentin Pilgram in
+Hans Thumsers Hand ein ... und auf einmal lagen die
+Jünglinge sich in den Armen.</p>
+
+<p>Da klangen wiederum Hufschläge auf der Chaussee.
+Und sieh, ein Wagen hielt am Wiesenrand, ihm entstiegen
+zwei Herren und eine Dame, die mit hastigen Schritten
+über den schneebedeckten Wiesengrund herankamen.</p>
+
+<p>Nun löste sich aus der Gruppe der drei die hagere
+Gestalt eines alten Herrn in Gehpelz und Zylinder los,
+der mit langen Sätzen über die klirrenden Schollen voranstelzte.
+Immer hastiger ward sein Gang ... ward zum
+Lauf ...</p>
+
+<p>»Donnerwetter!« schrie da Volkner plötzlich, »sieh doch
+nur, Pilgram &mdash; Dein alter Herr!«</p>
+
+<p>Die Aerzte hatten sich ins Mittel gelegt und die Umarmung
+der wiedergefundenen Freunde getrennt, um sich
+ihres Patienten zu bemächtigen und die verletzte Schulter
+genauer zu untersuchen.</p>
+
+<p>Nun hob Valentin Pilgram den Kopf, alles wich zurück,
+so daß die Gruppe der Herankommenden frei wurde &mdash;
+und Pilgram erkannte seinen Vater ...</p>
+
+<p>Schon war der Präsident heran, ergriff mit beiden
+Händen die Rechte des Sohnes, die sich ihm entgegenstreckte.
+Mit zuckenden Augen, mit zuckenden Lippen
+standen Vater und Sohn einander gegenüber.</p>
+
+<p>»Ihr verfluchten Bengels!« sagte der alte Herr, »was
+macht Ihr für Geschichten?«</p>
+
+<p>»Etwas zu spät bist Du doch gekommen, lieber Papa &mdash;
+Du siehst, der Fall ist bereits erledigt!«</p>
+
+<p>»Ich wollt's Euch auch geraten haben! Schlimm genug,
+daß es so weit gekommen ist! Na, was hat's denn abgesetzt?«</p>
+
+<p>»Ach, nicht der Rede wert,« lachte der Junge und zwang
+den grimmigen Schmerz nieder, der von dem verletzten
+Gelenk aus durch den ganzen Oberkörper fraß.</p>
+
+<p>»Nun, und Du wunderst Dich gar nicht, daß ich hier
+bin?!«</p>
+
+<p>Valentins Blicke hatten die Gestalt des jungen Weibes
+erkannt, das nun herankam in Begleitung eines dicken
+Herrn. An diesen ritt der Gendarm heran und machte
+ihm in dienstlicher Haltung eine Meldung, während das
+Mädchen mit glühenden Backen und strahlenden Augen
+nähertrat, um dann ein paar Schritt vor den Herren plötzlich
+tiefbefangen stehen zu bleiben.</p>
+
+<p>»Die da, nicht wahr?« fragte Valentin den Vater.</p>
+
+<p>»Jawohl, die da ... zum Dank für ... vorgestern!«</p>
+
+<p>»Ach, ich glaube, es war ihr weniger um mich zu
+tun ...« sagte Valentin Pilgram und suchte das Auge
+des wiedergefundenen Freundes.</p>
+
+<p>Aber der hatte keinen Blick für ihn. In tiefer Erschütterung,
+regungslos starrte er zu der hellen Gestalt
+hinüber, die über die weißen Schollen herangeschwebt
+kam wie ein Frühlingshauch. Als sie nun aber stehen
+blieb, da sprang er ihr entgegen, die Hände weit ausgestreckt.
+Da hob auch sie ihm die Hände entgegen, und
+er ergriff sie und drückte sein glühendes Gesicht hinein.</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Erbprinz Heribert hatte nach seiner Rückkehr vom
+Morgenritt wie gewöhnlich von neun bis zwölf das
+Kolleg besucht und war dann in seine Wohnung im Hotel
+Hauffe zurückgekehrt, um mit Major von Gorczynski zu
+frühstücken.</p>
+
+<p>»Nun, Durchlaucht, wie war's?« Der Major hob das
+Portweinglas.</p>
+
+<p>»Danke, ganz nett.«</p>
+
+<p>»Nur ganz nett?!«</p>
+
+<p>»Ach, wissen Sie, lieber Gorczynski, ich glaube, das ist
+eine von den ganz Gerissenen ... die sichert sich <em class="gesperrt">vorher</em>
+&mdash; verstehen Sie?«</p>
+
+<p>Der aufwartende Lakai brachte auf silbernem Brett
+eine Besuchskarte. Der Prinz las:</p>
+
+<p class="center">
+<em class="gesperrt">Pilgram</em><br />
+Senatspräsident am Königlichen Oberlandesgericht<br />
+<span style="margin-left: 12em;">Dresden.</span><br />
+</p>
+
+<p>»Haben Sie gesagt, daß wir beim Frühstück sind?«</p>
+
+<p>»Zu Befehl, Durchlaucht, aber der Herr bittet dringend
+um eine Unterredung.«</p>
+
+<p>»Schön &mdash; ins Empfangszimmer.«</p>
+
+<p>Als der Bediente verschwunden war, reichte der Erbprinz
+seinem Erzieher die Karte hinüber.</p>
+
+<p>»Vermutlich der Vater meines ... äh ... meines
+Kollegen!«</p>
+
+<p>»Kollegen?! Wieso?«</p>
+
+<p>»Na, weil der auch auf die Buchner reingefallen ist.
+Kommen Sie mit, lieber Gorczynski &mdash; für alle Fälle.«</p>
+
+<p>Hoch aufgerichtet, die Ordensrosette im Knopfloch
+seines Ueberrocks, erwartete der alte Herr den jungen
+Fürsten. Des Umgangs mit hochgestellten Persönlichkeiten
+gewohnt und seiner guten Sache sicher, neigte er sich mit
+gemessenem Selbstbewußtsein.</p>
+
+<p>»Sehr erfreut &mdash; Herr Präsident, was verschafft mir
+die Ehre? Darf ich bekannt machen? Herr Major
+von Gorczynski &mdash; Herr Präsident Pilgram. &mdash; Stört Sie
+die Gegenwart meines Begleiters, Herr Präsident?«</p>
+
+<p>»Ich bitte, Durchlaucht.«</p>
+
+<p>»Bitte Platz zu nehmen, meine Herren.«</p>
+
+<p>»Durchlaucht, ich komme im Interesse meines Sohnes
+Valentin, den Sie kennen!«</p>
+
+<p>»Ich habe die Freude.«</p>
+
+<p>»Durchlaucht wissen, daß mein Sohn aus dem Korps
+Franconia ausgetreten ist, um Ihnen gegenüber für eine
+Dame eintreten zu können, von der er annahm, daß Sie,
+Durchlaucht, ihr &mdash; &mdash;«</p>
+
+<p>»Hm ...« machte der Erbprinz, »ich weiß.«</p>
+
+<p>»Durchlaucht haben die Güte gehabt, diese Angelegenheit
+in ritterlicher Weise beizulegen. Trotzdem hat das
+Korps Franconia aus Rücksicht auf Durchlaucht davon
+Abstand genommen, meinen Sohn in die Reihen seiner
+Mitglieder wieder aufzunehmen.«</p>
+
+<p>»Allerdings ...« sagte der Erbprinz. »Das habe ich
+mir wohl so gedacht &mdash; aber wenn ich mir eine Zwischenbemerkung
+erlauben darf, Herr Präsident: die Geschichte
+war mir höchst fatal ... und ich habe mich seitdem vom
+Verkehr bei dem Korps fast völlig zurückgezogen ... Es
+war mir kolossal peinlich ... verstehen Sie, Herr
+Präsident?«</p>
+
+<p>»Ich begreife sehr wohl,« sagte der Präsident ruhig.
+»Die jungen Herren haben wohl eine zu geringe Meinung
+von Euer Durchlaucht wohlwollendem Verständnis für die
+korpsstudentische Auffassung gehabt, sonst hätte sich doch
+wohl ein Ausweg finden lassen, um meinem Sohn die
+wohlverdiente Ehre der Zugehörigkeit zu dem Korps &mdash;
+zu dessen Alten Herren ich, beiläufig bemerkt, auch selber
+zähle &mdash; wiederum zu verschaffen. Oder täusche ich mich,
+Durchlaucht?«</p>
+
+<p>»Ne, ne, mein verehrter Herr Präsident. Sie haben
+in der Tat vollkommen recht ... Wenn's nach mir gegangen
+wäre ... aber man hat mich ja gar nicht gefragt.
+Mir für meine Person wär's ja doch zehnmal angenehmer
+gewesen, wäre die ganze Geschichte diskret behandelt
+worden. Aber man hatte ja die Sache dermaßen übers
+Knie gebrochen ... ich stand vor einem <i lang="fr">fait accompli</i> ...
+und da hielt ich's für das beste, mich um gar nichts mehr
+zu bekümmern. Das werden Sie begreifen, nicht wahr,
+Herr Präsident?«</p>
+
+<p>»Ich begreife vollkommen, Durchlaucht. Ich sehe aber
+auch, daß ich mich in meinen Vermutungen über Eurer
+Durchlaucht Ansichten von der Sache in keiner Weise getäuscht
+habe: und darum komme ich jetzt mit der formellen
+Bitte, die der Zweck meines Besuches ist: wollen Durchlaucht
+die große Güte haben, durch meinen Mund dem Korps
+Franconia mitteilen zu lassen, daß einer Rückgabe des Bandes
+an meinen Sohn Ihrerseits nichts im Wege steht?«</p>
+
+<p>»Aber mit dem größten Vergnügen, Herr Präsident!
+Ich bin ja höchst erfreut, daß die fatale Geschichte endgültig
+aus der Welt kommt ...«</p>
+
+<p>»Ich danke ehrerbietigst für diese Gnade, Durchlaucht.
+Ich glaube, sie ist an keinen Unwürdigen verschwendet!
+Da Sie nun aber in so überaus verständnisvoller Weise
+meinem Vorschlage entgegengekommen sind, so darf ich
+wohl auch noch eine andere Begebenheit erzählen, die mit
+der besprochenen nicht ganz ohne Zusammenhang ist, und
+die glücklicherweise ebenfalls eine Wendung zum Besseren
+genommen hat?«</p>
+
+<p>Und nun erzählte der Präsident in knappen Worten
+von dem Renkontre der beiden einstigen Korpsbrüder
+und seinem blutigen Austrag. Die Motive des Zusammenstoßes
+ließ er unberührt. Er konnte sich wohl
+vorstellen, daß der Erbprinz den Zusammenhang auch so
+durchschauen würde ... und darin hatte er sich nicht getäuscht.
+Als er geschlossen hatte, erhob sich der Erbprinz
+und streckte seinem Besucher die hagere Hand hin:</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen, Herr Präsident, Ihre Geschichte soll
+mir eine Lehre sein ... gewisse Leute sind anscheinend ...
+äh ... mit Vorsicht zu genießen. Was meinen Sie, lieber
+Gorczynski? Na, ich werde mir's merken!«</p>
+
+<p>»Gestatten Durchlaucht nochmals meinen ehrerbietigsten
+Dank.«</p>
+
+<p>»Aber ich bitte, mein verehrter Herr Präsident &mdash; nur
+ich habe zu danken, nur ich ... Sie haben mir einen
+größeren Dienst geleistet, als Sie vielleicht ahnen. Grüßen
+Sie Ihren Sohn, oder noch besser: sagen Sie ihm, ich
+hoffe heute abend auf der Frankenkneipe mit ihm auf gute
+Freundschaft anzustoßen ... Doch halt! Vorher müssen
+wir noch einmal ins Theater ... Nicht wahr, lieber
+Major? Heut ist ja die Abschiedsvorstellung der Meininger,
+das dürfen wir uns doch nicht entgehen lassen ...
+Aber nachher, nicht wahr, Herr Präsident, dann treffen
+wir uns im Cafébaum!«</p>
+
+<p>»Ich hatte gleichfalls vor, das Theater zu besuchen,
+Durchlaucht, wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf
+&mdash; und zwar mit meinem Sohn und unserm Korpsbruder
+Thumser. Die Verletzung meines Sohnes ist ja freilich
+nicht ganz unbedeutend: das linke Oberarmbein ist in
+Höhe des unteren Ansatzes des Oberarmkopfes getroffen,
+die Kugel ist im Knochen stecken geblieben, konnte aber
+mit Leichtigkeit entfernt werden.«</p>
+
+<p>»Sehr erfreulich zu hören, Herr Präsident. Also auf
+Wiedersehen heut abend, nicht wahr?«</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Um zwölfeinhalb Uhr fuhr der alte Pilgram am Cafébaum
+vor, stieg die Stufen zur Frankenkneipe hinan
+und wurde vom Korpsdiener in das Konventszimmer geführt,
+wo Franconias Korpsburschen bereits zum C.&#x202f;C.
+versammelt waren.</p>
+
+<p>Ehrerbietig begrüßte die Schar der Studiosen den
+Alten Herrn, der sofort beim Eintreten eine grüne Mütze,
+die der Korpsdiener ihm dargereicht, auf seinen grauen
+Schädel gestülpt hatte.</p>
+
+<p>Volkner bat Platz zu nehmen und eröffnete den C.&#x202f;C.
+Er erteilte dem Alten Herrn Pilgram das Wort. Dieser
+berichtete über seinen Besuch bei dem Prinzen und entledigte
+sich seiner Mission.</p>
+
+<p>Mit strahlenden Gesichtern vernahmen die Korpsburschen
+die frohe Botschaft.</p>
+
+<p>Unmittelbar, nachdem der Alte Herr geendigt, sprach
+der Senior:</p>
+
+<p>»Ich stelle den Antrag, dem früheren C.&#x202f;B. Pilgram,
+gewesenen Zweiten, Ersten, Ersten das Band zurückzugeben.
+Wünscht jemand zu dem Antrage das Wort?«</p>
+
+<p>Alles schüttelte den Kopf, aus jedem Auge strahlte
+helles Glück. Hans Thumser aber schämte sich nicht, daß
+ihm zwei Tränen über die frischen Wangen rollten. Unfähig
+jeden Wortes, reichte er dem Präsidenten über den
+Tisch hinüber die Hand.</p>
+
+<p class="start-chapI space-above">Und nun saßen sie im Carolatheater, auf einer der vordersten
+Parkettreihen. Präsident Pilgram inmitten
+der beiden jungen Gesellen, zur Rechten sein Sohn: er
+trug den linken Arm in der schwarzen Binde, fest im Gipsverband
+verschient, den Rock nur lose über die linke Achsel
+gehängt, den Aermel leer. Ueber die rechte Schulter aber,
+über die Weste und die schwarze Binde zog sich das grün-gold-rote
+Band.</p>
+
+<p>Hans Thumser saß zur Linken. Ueber den alten Herrn
+hinweg aber schauten die Freunde sich immer und immer
+wieder in die Augen. Sie fühlten: so hatten sie sich noch
+nie gehört, so sich noch nie geliebt. Und diese Liebe, die
+würde nun bleiben fürs ganze Leben ...</p>
+
+<p>Oft aber flogen ihre Blicke auch nach der zweiten
+Proszeniumsloge des Parketts vorn rechts hinüber. Da
+saß der Erbprinz, die Scherbe im fahlen Gesicht, und
+hinter ihm verschwanden die groben Züge, der wehende
+Schnurrbart des Majors im Dämmer des Logenhintergrundes.</p>
+
+<p>Aber auf den blasierten Zügen des jungen Fürsten lag
+heute ein seltsames Leuchten, das noch niemand an ihm
+gekannt hatte. Und wenn sein Blick den Augen des alten
+und der beiden jungen Franken da unten im Parkett
+begegnete, dann lachte sein ganzes Gesicht so knabenhaft
+fröhlich, so jung und gut, als sei auch er ein x-beliebiges
+junges Studentlein und nicht der Erbe eines deutschen
+Fürstenthrones.</p>
+
+<p>Ringsum aber drängte sich ganz Leipzig und füllte das
+Haus bis zum letzten Stehplatz droben auf der Galerie.
+Eine festlich dankbare Stimmung lag über der erregten
+Versammlung.</p>
+
+<p>Fünf Wochen lang war dies Haus ein Tempelhaus gewesen.
+Fünf Wochen lang hatte man hier den höchsten
+Offenbarungen gelauscht, welche die edelste Blüte der zeitgenössischen
+Bühnenkunst geschaffen hatte im Bunde mit
+den erhabensten Genietaten der großen Szenenbeherrscher
+des Dramas der Weltliteratur. Und nun wollte man am
+letzten Tage noch einmal mit voller Seele, mit allen
+Sinnen genießen, wollte in sich aufnehmen die gigantischste
+Schöpfung der deutschen Tragödie: »Wallensteins
+Tod«.</p>
+
+<p>Das Spiel begann.</p>
+
+<p>Inmitten der Bilder seiner Gestirne stand der einsam-stolze
+Mann, über dessen Haupte schon die schwarzen
+Fledermausschwingen des Verbrechens, die Rabenfittiche
+des Todes rauschen. Am nächtlichen Himmel suchte er den
+Stern seines Lebens, der sich nun so bald verfinstern
+sollte ... Und in raschen, unfehlbaren Schlägen vollzog
+sich sein Geschick.</p>
+
+<p>Der alte Herr aber da vorn im Parkett und seine
+beiden jungen Gefährten harrten ungeduldig des Augenblicks,
+da der Vorhang sich zum dritten Akt heben und die
+beiden Mädchengestalten auftauchen würden, die so tiefe
+Furchen in die Herzen, in die Geschicke der jungen Männer
+gezogen.</p>
+
+<p>Und sieh &mdash; nun erfüllte sich's.</p>
+
+<p>Die Gardine rauschte empor; und es erschloß sich ein
+dunkler wuchtiger Saal mit Kamin, Gobelins, gepolsterten
+Bänken an den Wänden. Nach hinten stieg eine Treppe
+empor, im Bogen geschweift aus massivem, dunkelgebeiztem
+Eichenholz mit schwerem Renaissance-Geländer.
+Sie führte zu einer langen Galerie, die gegen die Bühne
+zu von einem riesigen, aus zahllosen kleinen Scheiben bestehenden
+Glasfenster abgeschlossen war.</p>
+
+<p>Und wie verloren in dem weiten, angstdurchschauerten
+Raum saßen vorn rechts auf der Bank zwei Frauengestalten
+mit weiblichen Arbeiten beschäftigt, während eine
+dritte oben auf der Galerie stand und aus den Fenstern
+nach drunten spähte &mdash; Wallensteins Schwägerin, die
+Schwester seiner Seele ...</p>
+
+<p>Die zwei da unten aber &mdash; die beiden jungen Franken,
+die kannten sie.</p>
+
+<p>Scheu und wesenlos wie ein gutes, dienstbares Geistlein
+hockte Asta Thöny als Fräulein von Neubrunn neben
+der jungen, schönheitsstrahlenden Herrin.</p>
+
+<p>Die aber saß weiß und blaß, den adligen Kopf in
+schmerzvoller Starrheit zurückgelehnt an die braune
+Täfelung.</p>
+
+<p>Sie war die Schönheit, die versinken muß unterm
+erbarmungslosen Schritt des Schicksals, sie war die
+Tugend, die zermalmt wird von den geifernden Kinnbacken
+des Verbrechens, sie war die leuchtende Seele des gigantischen
+Gedichts, sie war ... das Ideal ...</p>
+
+<p>Und alles vollendete sich nun.</p>
+
+<p>Mit unerhörter Wucht stampfte das Fatum daher und
+ließ den Lügenbau der friedländischen Größe zusammenkrachen.
+Blatt um Blatt sank hernieder von dem ragenden
+Baum, bis er einsam stand, entlaubt, doch herrlich in
+seinem starren Trotz.</p>
+
+<p>Und nun kam jene gewaltigste aller Szenen, die Valentin
+Pilgram und Hans Thumser als Pappenheimer
+Kürassiere mitprobiert hatten, und der sie nun als Zuschauer
+nur lauschen durften, wie damals, als Hans, ein
+scheuer Primaner, sie zum erstenmal erschaut, dahinten,
+weit in der Heimat &mdash; im Barmer Stadttheater, auf dem
+Eckplatz des zweiten Ranges.</p>
+
+<p>Zwischen den zwei eisengeharnischten Männern, dem
+fürstlichen Vater rechts, dem ritterlich prangenden Geliebten
+links stand das unglückselige, geopferte Mädchen.
+Vor die grausame Pflicht gestellt, zu wählen zwischen Gehorsam
+und Liebe.</p>
+
+<p>Und sie wählte den Gehorsam ... Mit den unschuldig
+reinen Händen riß sie die Liebe aus ihrem Herzen
+und stieß sie von hinnen ... in den unerbittlichen
+Schlachtentod ...</p>
+
+<p>War das Jucunda Buchner? War's das junge Ding
+von achtzehn Jahren, mit dem die zwei schlanken Burschen
+da unten an einem Tisch gesessen, in einer Stube? Um
+derentwillen sie heut morgen in der Frühe des leuchtenden
+Wintertages einander mit der Pistole in der Hand
+gegenüber gestanden hatten, während sie mit einem gefürsteten
+Knaben über Feld ritt, nur von dem einen Gedanken
+erfüllt, ein Gastspiel am Hoftheater in Nassau-Dillingen
+für den nächsten Winter herauszuschlagen?</p>
+
+<p>Nein, sie war es nicht. Ihre sterbliche Hülle war's!
+Und doch auch die nicht mehr. Auch die verwandelt, erhöht,
+durchleuchtet, durchseelt von der geheimnisvollen
+Flamme, die tief drinnen in ihr loderte, unerklärlich, unbegreifbar
+... der heiligen Flamme, die, solange sie loderte,
+alles überstrahlte, alles verzehrte, alles verklärte, was
+irdisch, was menschlich, was gewöhnlich, was häßlich war
+an ihr ...</p>
+
+<p>Horch, schon brandete von draußen der Schwall der
+Pappenheimer heran ... Schon klang die wilde Feuerweise
+des Reitermarsches, der zu Kampf und Tode lud ...</p>
+
+<p>Und nun &mdash; nun tobte der rasselnde Schwall die
+Stiegen hinauf, stapfte in die Galerie hinein, daß die
+Scheiben klirrend barsten, strudelte die Treppe hinunter,
+überschwemmte in immer erneuten Güssen blinkender
+Wogen die ganze Bühne ... entblößte Schwerter, haßflammende
+Blicke ...</p>
+
+<p>Und inmitten die zwei jungen Menschen, &mdash; neben dem
+todgeweihten Manne das todgeweihte Weib, die weiße,
+unschuldig leuchtende Gestalt, das tief gesenkte, sterbensmatte
+Haupt.</p>
+
+<p>Und nun, nun ist der grausame Kampf zu Ende gekämpft.
+Aus dem Arm der Geliebten reißt Oberst Max
+sich los.</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">»Bedenket, was Ihr tut. Es ist nicht wohlgetan,<br /></span>
+<span class="i0">Zum Führer den Verzweifelten zu wählen.<br /></span>
+<span class="i0">Ihr reißt mich weg von meinem Glück, wohlan,<br /></span>
+<span class="i0">Der Rachegöttin weih' ich Eure Seelen!<br /></span>
+<span class="i0">Ihr habt gewählt zum eigenen Verderben,<br /></span>
+<span class="i0">Wer mit mir geht, der sei bereit, zu sterben!«<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Und mit hochgereckten Armen stürzt er sich hinein in
+die eisenschäumende Woge. Die brüllt hell auf, schäumt
+gischtend empor, schlingt ihn hinunter, reißt ihn von
+hinnen. Die Treppe hinauf strudelt der gärende Schwall
+&mdash; noch einmal taucht der wehende Helmbusch, der silberne
+Harnisch auf ... versinkt aufs neue in den gleißenden
+Fluten. In den wütenden Jubel der todestrunkenen
+Schar gellen die wirbelnden, erzenen Rhythmen des
+Reitermarsches ...</p>
+
+<p>Da unten, da vorn, bricht das verlassene Kind vor des
+starren Vaters eisenumschienten Knien zusammen ... es
+erfüllt sich das tragische Los des Schönen auf der Erde ...
+Das Edle sinkt ... Das Ideal verweht ...</p>
+
+<p>Vorbei ... vorbei ...</p>
+
+<p>Während die Gardine niederrauschte, legte der alte
+Präsident seine beiden Hände um die Schultern der
+jungen Männer zu seiner Rechten und seiner Linken:</p>
+
+<p>»Kinder ... <em class="gesperrt">jetzt</em> versteh' ich Euch ...!«</p>
+
+<p class="start-chapA space-above">Am andern Morgen begleitete Hans Thumser seine
+Asta im Wagen zum Bayrischen Bahnhof. Das Leipziger
+Gastspiel der Meininger war zu Ende &mdash; weiter
+rollte der Thespiskarren ... Schon übermorgen abend
+würde man im Gärtnerplatz-Theater in München mit
+»Jungfrau« eröffnen ...</p>
+
+<p>Auf dem Bock thronte ein riesiger Reisekoffer. Vier
+Kisten mit Kostümen waren schon als Eilgut vorausgegangen.</p>
+
+<p>Drinnen aber im Wagen lachten die zwei und machten
+die tollsten Witze. Das Herz war ihnen gar zu voll und
+gar zu schwer.</p>
+
+<p>»Asta ...« sagte Hans mit einem Male im tiefsten
+Ernst, »&mdash; ich bin ein dummer, grüner Junge ... und ein
+Habenichts dazu ... sonst sagte ich zu Dir: Laß uns zusammenbleiben ...«</p>
+
+<p>»Du Dummerle!« schalt Asta heftig und gab ihm einen
+derben Klaps auf die Backe &mdash; »Du bist doch wirklich
+ein riesengroßes Dummerle! So etwas darf man nicht
+einmal denken ... so ein feiner, nobler Junge wie Du ...
+und eine ... eine Landstreicherin wie ich ...«</p>
+
+<p>Aber ihre Lippen zuckten bitter und sehnsüchtig dabei,
+und in den Augen schimmerte es verdächtig ...</p>
+
+<p>»Pfui, Asta! Abscheulich, so von Dir zu sprechen! Von
+meiner ... meiner süßen Asta &mdash;!«</p>
+
+<p>»Sag's noch einmal!« bat Asta. »Es klingt so schön ...
+und ich werd's ja doch niemals wieder hören ...«</p>
+
+<p>»Niemals wieder?! So oft Du willst, Süße, so oft Du
+willst ... und so oft ... ich ... kann ...«</p>
+
+<p>»Da hast Du's ja ... Du wirst nicht können, mein
+armes Dummerle ... und ich ... ich werde auch nicht
+wollen ... Es war so schön ... nun ist's zu Ende ...
+und das ist gut so. Für uns beide ... für mich auch ...
+Denn wenn's noch länger gedauert hätte ... dann ...
+dann wär ich am Ende doch nicht mehr von Dir los gekommen ...«</p>
+
+<p>»Asta ... Asta ... So viel hast Du für mich
+getan ...«</p>
+
+<p>»Ja siehst Du &mdash; da hast Du wieder so recht mein
+ganzes Pech: alles, was ich für Dich hab' tun wollen, ist
+beim guten Willen geblieben ... Ich hab' Dich glücklich
+machen wollen ... und Du bist zur Jucunda gelaufen ...
+Ich hab' Dir das Leben retten wollen ... und bin zu spät
+gekommen ... Eh wir dazwischen kamen, hattet Ihr
+Euch schon vertragen ... So geht mir's immer &mdash; &mdash;«</p>
+
+<p>»Asta ... mein Mädchen ... ich ... ich hab' Dich ja
+so lieb ... so unsagbar lieb ... ich laß Dich nicht fort ...
+ich ... ich brenne durch ... Ich geh' mit nach München ...
+Ich frage Euren Herrn Burg, ob er einen Volontär
+brauchen kann ... Ich sollte meinen, zu einem Komödianten
+müßt' es doch auch bei mir reichen ...«</p>
+
+<p>Asta tupfte die Augen mit ihrem Spitzentüchelchen,
+und die zuckenden Mundwinkel lachten schon wieder ihr
+lieblichstes Spitzbubenlachen.</p>
+
+<p>»Ne, Hanserl &mdash; das glückt Dir nicht ... Das können
+wir vor Deinen Herren Eltern nicht verantworten! Bleib
+Du, was Du bist ... ein Jurist ... oder ... werd' einmal
+ein Dichter, wenn Du kannst ... ich glaube, Du
+kannst &mdash; &mdash; und dann, in zehn oder zwanzig Jahren
+schreibst Du einmal ein Stück, das über alle Bühnen geht
+&mdash; mit einer wunderhübschen Rolle für die komische Alte
+darin ... Und wenn Du dann auf Reisen zufällig einmal
+nach Krotoschin oder nach Stallupönen kommst und siehst
+an irgendeiner Bauernkneipe oder Scheune den Theaterzettel
+einer Schmiere kleben, die Dein Stück spielt, und
+hinter der Rolle der komischen Alten findest Du den Namen
+Asta Thöny ... dann setz Dich irgendwo unter das 'verehrliche
+Publikum' ... aber ganz, ganz weit hinten ...
+daß ich Dich nicht etwa erkenne ... und denk' daran, daß
+das alte, häßliche Weiblein da oben einmal in Deinen
+Armen gelegen hat ... vor langer, langer Zeit ... als Du
+noch jung warst und unberühmt und nichts weiter als ein
+Korpsstudent in Leipzig ... Gelt, Hans, Das tust Du &mdash;?«</p>
+
+<p>Hans Thumser konnte nicht sprechen. Er küßte nur
+immer wieder die rosige, weiche Hand, die er zwischen
+seinen harten, waffengestählten Tatzen eingepreßt hielt,
+als wollte er sie zerdrücken.</p>
+
+<p>Der Wagen hielt vor dem Abfahrtportal des Bayrischen
+Bahnhofs. Es war zehn Uhr morgens. In grellem
+Weiß standen die beschneiten Dächer gegen das satte Himmelsblau,
+das gleißende Sonnenlicht.</p>
+
+<p>Auf dem Bahnsteig hielt bereits der Münchener
+Schnellzug. Für das Ensemble der Meininger waren auf
+Bestellung ein paar Extrawagen angehängt worden. Im
+Kassenflur, unter der Halle, wimmelte es von glattrasierten
+Männergesichtern, von lebhaften mit betonter Eleganz
+gekleideten Frauen. Riesige Koffermassen wurden in die
+Gepäckwagen verstaut ...</p>
+
+<p>Daß Asta Thöny sich auf dem Bahnhof in Begleitung
+eines grünbemützten Studenten einfand, erregte keinerlei
+besondere Sensation unter ihren Kollegen und Kolleginnen.
+Derartiges war man von ihr gewohnt. Sonst
+war's meist eine Uniform ...</p>
+
+<p>Die große Jucunda schritt mit spöttischem Naserümpfen
+an dem Paare vorüber, einen ungeheuren Strauß der
+wunderbarsten Rosen in der Hand, den ihr soeben ein
+prinzlicher Lakai überbracht hatte. Ja ... den Rosenstrauß
+hatte sie wohl ... aber keinen herzlieben Jungen
+zur Seite, der bei ihr hatte bleiben wollen bis zum letzten
+Augenblick ... Nur ihre Eltern gaben ihr das Geleit,
+Mutter Doris aufgedonnert im unglaublichsten Staat &mdash;
+Vater Kanzleirat im abgeschabten Winterpaletot und zerbürsteten
+Zylinder, ein armseliger, hüstelnder Schatten
+neben den beiden mächtigen Frauengestalten.</p>
+
+<p>Die übrigen Kollegen gingen mit diskret abgewandten
+Gesichtern an Asta und ihrem schmucken Begleiter vorüber.</p>
+
+<p>Nur Franz Burg trat grüßend heran:</p>
+
+<p>»Guten Morgen, Kleine ... Na &mdash; ist das Ihr
+Dichter?«</p>
+
+<p>»Ja, liebster Freund &mdash; das ist er ...«</p>
+
+<p>Burg lüftete lächelnd seinen Hut, nannte seinen
+Namen, streckte dem Studenten die Hand hin:</p>
+
+<p>»Nun, ich sehe, Sie sind noch sehr lebendig ... Höchst
+erfreulich das.«</p>
+
+<p>Mit korrekt eingewinkeltem Arm schlug Hans Thumser
+ein in Franz Burgs Händedruck und zog höchst offiziell
+die Mütze.</p>
+
+<p>»Hm,« machte der Oberregisseur und musterte ungeniert
+das feierlich zurechtgefaltete Jugendgesicht &mdash; »vorläufig
+ist noch nicht viel zu lesen auf der Physiognomie
+da ... aber wer weiß ... vielleicht stehen wir uns noch
+einmal an anderer Stelle gegenüber, und Sie legen mir
+ehrfurchtdurchfröstelt das Manuskript Ihres ersten Dramas
+in die Hand ... wer weiß! Dann wollen wir uns dieses
+Augenblicks erinnern ...«</p>
+
+<p>»Und ich werde mich Ihres 'Wallenstein' erinnern,
+Meister &mdash; &mdash; einstweilen lassen Sie mich Ihnen dafür
+danken ...« sagte der Student ... und Franz Burg sah
+auf einmal mit Staunen, wie auf dem jungen Gesicht die
+feierlich korrekten Falten sich auflösten, wie aus den dunklen
+Augen eine heiße Flamme sehnsüchtiger Leidenschaft schlug.
+Da leuchtete auch sein Blick dem jungen Gesellen freundlich
+und ermunternd ins Gesicht.</p>
+
+<p>»Also &mdash; auf dereinstiges Wiedersehen, junger
+Freund &mdash;! Jetzt aber sollt Ihr zwei die paar letzten
+Augenblicke noch füreinander haben, Kinder ...«</p>
+
+<p>Die paar letzten Augenblicke &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Hans Thumser und Asta Thöny senkten die Häupter
+und die Blicke ... Hoben sie dann und ließen die Augen
+lange, lange ineinander ruhen ... Dabei schwiegen die
+Lippen, Unsagbares quoll auf in ihren Herzen.</p>
+
+<p>»Bitte Platz nehmen!« schnarrten da die Stimmen der
+Schaffner.</p>
+
+<p>Da warf Asta die Arme um Hans Thumsers Nacken.
+Es kümmerte sie nicht, daß die Kollegen vom Fenster aus
+mit Grinsen und halblautem Scherz den Abschied beobachteten
+...</p>
+
+<p>»Leb wohl ... mein Hanserl ... auf ewig ... leb
+wohl ...«</p>
+
+<p>»Nein ... nicht auf ewig ... das ist ja unmöglich ...
+das ertrag ich ja nicht &mdash;«</p>
+
+<p>»Ach, Hanserl &mdash; wie gut Du das ertragen wirst ...
+aber Du ... von Zeit zu Zeit einmal an mich denken ...
+gelt? an ... Dein ... erstes Glück ... gelt, Hanserl?!«</p>
+
+<p>Aus der finstern Halle polterte der Zug in die sonnige
+Morgenhelle hinaus. Grell im Sonnenlichte leuchtete der
+weiße Rauchschwaden, den der enteilende Schlot der Maschine
+hinter sich herzog. Und ein großes Abschiedwinken
+ging aus den Fenstern des Zuges, ging auf dem Bahnsteig,
+wo in ganzen Rudeln die Freunde und Verehrer
+standen, welche die scheidende Künstlerschar bis zum letzten
+Augenblick begleitet hatten ...</p>
+
+<p>Ein Tüchlein aber wehte länger als alle andern ...
+und Hans Thumser blickte ihm nach, winkte ihm nach, bis
+alles vorbei war.</p>
+
+<p>Dann wandte er sich rasch und schritt gesenkten Hauptes
+aus der Halle. Einen Korpsstudenten in Couleur sollte
+niemand weinen sehen.</p>
+</div>
+
+<div class="reference">
+<p class="center">Von <em class="gesperrt">Walter Bloem</em> sind früher
+erschienen:</p>
+
+<p class="tit2">Sonnenland</p>
+
+<p>Eine Fahrt in die Schönheitswelt Griechenlands,
+in die Märchenstädte des Orients an
+Bord eines schmucken Lloyd-Schiffes, auf dem
+der Zufall eine bunte Reisegesellschaft zusammenwürfelt.
+Ein munterer Kreis meist
+humoristisch gesehener Gestalten und im
+Hintergrund ein leuchtender Reigen von
+Kultur- und Landschaftsbildern aus den gesegneten
+Zonen des sonnigen Südens.</p>
+
+<p class="center">Preis 1 Mark</p>
+
+<p class="tb">*</p>
+
+<p class="tit2">Das lockende Spiel</p>
+
+<p>Ein Buch vom Theater, von seiner berauschenden
+Magie, die keinen aus ihrem Zauberkreis
+entläßt, der ihr einmal verfiel. Wer es
+einmal gespielt hat das »lockende Spiel«, er
+kann es nimmer lassen. Eine neue Theatergründung
+in Berlin wird zum Mittelpunkt
+für ein fröhliches Ringen um die Palme
+des Bühnendichters, Schauspielers, Regisseurs.
+In diesen Kampf verkettet sich ein zweites
+»lockendes Spiel«, das Spiel und Gegenspiel
+der Liebe bei zwei jungen Menschenpaaren.</p>
+
+<p class="center">Preis 1 Mark</p>
+
+<p class="center">Verlag Ullstein &amp; Co / Berlin-Wien</p>
+</div>
+
+<div class="figcenter" style="width: 100px;">
+<img src="images/signet.png" width="100" height="200" title="Ullstein &amp; Co Berlin SW 68" alt="Ullstein &amp; Co Berlin SW 68" />
+</div>
+<div class="transnote covernote">
+<p>
+The cover image was created by the transcriber and is placed in the public domain.
+</p>
+</div>
+
+<div class="transnote">
+<p class="tn-header">Anmerkungen zur Transkription</p>
+<p>
+Rechtschreibung und Zeichensetzung des Originaltextes wurden übernommen,
+nur offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert.
+</p>
+<p>
+ Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt, fremdsprachliche Passagen,
+ die im Original in Antiqua gesetzt sind, sind <i>kursiv</i> dargestellt,
+ für Abkürzungen, wie C.&#x202f;C. und Regentenzahlen wie XIV wurde dies
+ nicht gemacht.
+</p>
+</div>
+
+
+
+
+
+
+
+
+<pre>
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Komödiantinnen, by Walter Bloem
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KOMÖDIANTINNEN ***
+
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+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
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+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
+http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at
+809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
+page at http://pglaf.org
+
+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
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+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
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+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including checks, online payments and credit card donations.
+To donate, please visit: http://pglaf.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+
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+ http://www.gutenberg.org
+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
+
+
+</pre>
+
+</body>
+</html>
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new file mode 100644
index 0000000..6087a3f
--- /dev/null
+++ b/old/44647-h/images/cover.jpg
Binary files differ
diff --git a/old/44647-h/images/owl.png b/old/44647-h/images/owl.png
new file mode 100644
index 0000000..dd33d8b
--- /dev/null
+++ b/old/44647-h/images/owl.png
Binary files differ
diff --git a/old/44647-h/images/signet.png b/old/44647-h/images/signet.png
new file mode 100644
index 0000000..995ca69
--- /dev/null
+++ b/old/44647-h/images/signet.png
Binary files differ