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| author | nfenwick <nfenwick@pglaf.org> | 2025-02-05 21:05:40 -0800 |
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If you are not located in the United States, you'll have -to check the laws of the country where you are located before using this ebook. - -Title: Shakespeare (Volume 2 of 2) - Dargestellt im Vorträgen - -Author: Gustav Landauer - -Editor: Martin Buber - -Release Date: May 6, 2016 [EBook #52013] - -Language: German - -Character set encoding: UTF-8 - -*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SHAKESPEARE (VOLUME 2 OF 2) *** - - - - -Produced by Mark C. Orton, Itay Perl, Reiner Ruf, and the -Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net -(This book was produced from scanned images of public -domain material from the Google Books project.) - - - - - - - #################################################################### - - Anmerkungen zur Transkription: - - Der vorliegende Text wurde anhand der 1922 erschienenen Buchausgabe - so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Zeichensetzung - und offensichtliche typographische Fehler wurden stillschweigend - korrigiert bzw. ergänzt. Einige altertümliche Wortformen wurden vom - Autor offenbar in illustrativer Absicht eingefügt; diese Begriffe - wurden nicht verändert. Unterschiedliche Schreibweisen wurden nicht - vereinheitlicht. - - Im Originaltext beginnen neue Absätze ohne Kennzeichnung durch - Einrückungen oder vergrößerte Zeilenabstände. In einzelnen - Fällen mussten daher vom Bearbeiter willkürliche, aber möglichst - sinngemäße, Entscheidungen bezüglich des Beginns eines neuen - Absatzes getroffen werden. - - Wie bei den meisten Frakturschriften üblich, kann auch im Original - zwischen den Großbuchstaben ‚I‘ und ‚J‘ nicht unterschieden werden. - Die Zuordnung erfolgte in einigen Fällen gezwungenermaßen rein - willkürlich; obwohl beispielsweise die Schreibweisen ‚Iago‘ und - ‚Jago‘, sowie ‚Iachimo‘ und ‚Jachimo‘ gleichermaßen bekannt sind, - wurden in diesem Text die Formen ‚Jago‘ bzw. ‚Jachimo‘ verwendet. - - Die Originalausgabe enthält am Ende des vorliegenden zweiten - Teiles ein Inhaltsverzeichnis für beide Bände, welches in der - elektronischen Fassung der Übersichtlichkeit halber vom Bearbeiter - an den Beginn des Textes gestellt wurde. - - Gesperrt gedruckte Passagen wurden mit _Unterstrichen_ - gekennzeichnet; Stellen in Antiquaschrift sind von ~Tilden~ umgeben. - - #################################################################### - - - - - Gustav Landauer - - Shakespeare - - Dargestellt in Vorträgen - - - Zweiter Band - - - 1922 - - Literarische Anstalt Rütten & Loening - Frankfurt am Main - - - - - Alle Rechte, besonders die der Übersetzung, vorbehalten - - ~Copyright 1920 Literarische Anstalt - Rütten & Loening, Frankfurt a. M.~ - - - 6. bis 10. Tausend - - - Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig - - - - -Inhaltsverzeichnis - - -_Erster Band_ - - Seite - - Vorwort V - - Romeo und Julia 1 - - Der Kaufmann von Venedig 42 - - König Johann 91 - - Julius Cäsar 139 - - Hamlet 189 - - Troilus und Cressida 256 - - Othello 303 - - -_Zweiter Band_ - - Maß für Maß 1 - - Macbeth 48 - - König Lear 80 - - Antonius und Cleopatra 130 - - Timon 160 - - Coriolan 189 - - König Zymbelin und Das Wintermärchen 238 - - Der Sturm 269 - - Die Sonette 318 - - Shakespeares Persönlichkeit 371 - - - - -Maß für Maß - - -Von dem Augenblick an, wo ein Registrator sich auf den Himmelsthron -setzt und mich als gebietender Gott zwingt, Shakespeares Stücke -ordentlich auf die gehörigen Rubriken zu verteilen, werde ich -Troilus und Cressida zu den ganz großen Tragödien, Maß für Maß aber -unbedenklich als größte zu Shakespeares Komödien stellen. Eine Komödie -größter Art ist dieses Stück gerade darum, weil es seinem Stoff nach -durchaus tragisch ist; die Komik liegt nicht im entferntesten in den -Geschehnissen, die zur Höhe der Handlung emporgeführt werden, nicht -einmal eigentlich in der Art, wie der Dichter die Welt, in der diese -Dinge geschehen, ansieht: die größte Schärfe des Blicks und Bitterkeit -der Stimmung ist mit unsäglich liebender Innigkeit und verzeihender -Milde verbunden, so daß ein Umfang der Empfindung von einer Weite und -Höhe entsteht, die man Heiterkeit oder Humor nur nennen kann, wenn man -jeglichen Beigeschmack von Vergnüglichkeit oder idyllisch kauziger -Beschränktheit aus diesen Begriffen entfernt; die Komik liegt vor allem -in der gleich von Anfang an vorbereiteten Wendung, die die Handlung -auf ihrem Höhepunkt nimmt: ein geheimer Lenker, ein ~deus~ nicht ~ex -machina~, sondern ~ex anima~ ist da, der mit einer liebenswürdigen -Grazie ohnegleichen wilde Wallungen besänftigt, schroffe Gegensätze -ausgleicht und den pochenden Schmerz der Leidenschaften in sinnvollen -Scherz und ernstes Spiel verwandelt. Wie wenn ein ironischer Gott -die Menschen erschaffen hätte und nun als Zuschauer sie frei -gewähren ließe, bis ihre Leidenschaften und Widersprüche zu solchen -Verwicklungen und Konflikten geführt hätten, daß sie ohne sein -Eingreifen verderben müßten, und dann käme er und lenkte sie mit -sanfter Bestimmtheit, wohin er sie haben will, so erschafft der Herzog -dieser Komödie einen Fürsten an seiner Statt mit dem Vorbehalt, ihm -eine Weile zuzusehen, zur rechten Zeit aber einzuschreiten. Die Ironie -weckt die Tragik und gestattet ihr ihre verzerrte Bahn, bis es der -Pein und des Frevels genug und schon fast zu viel ist und die Ironie -wieder die Herrschaft antritt. - -Shakespeares Lustspiele könnte man einteilen in die Spiele, in denen -alle Erdenschwere in Ironie, Musik, Traum und Geisteszauber aufgelöst -scheint; dahin gehören der Sommernachtstraum und der Sturm; auch der -Kaufmann von Venedig, nur daß da das Geisterhafte ganz vom Menschlichen -und Natürlichen bestritten wird; und in die Stücke, die zwar oft in -dieses Reich hineinragen, deren Leichtigkeit und Spielerei aber zum -Teil auch daher kommen, daß der Dichter in ihnen etwas auszuruhen -scheint, nicht nur die Probleme, sondern auch die Durchführung leichter -nimmt und sich eine Umbiegung der Charaktere je nach dem Erfordernis -der Handlung und Bühnenwirkung keineswegs immer verbietet; Was ihr -wollt, Wie es euch gefällt, Viel Lärm um nichts sind die vollendetsten -Exemplare dieser Gattung. Aus diesem Bezirk ins Reich der großen, -bitter ernsten Komödie hebt sich Ende gut, alles gut, ohne die letzte -Vollendung zu erreichen. Diesem Schauspiel ist Maß für Maß in mehr -als einem Punkte benachbart; hier aber ist die Vollendung erreicht, -und die Wendung zum Sinnspiel bringt diese Dichtung wieder in die -Nähe der Gattung menschlich-natürlicher Märchen, die Der Kaufmann von -Venedig repräsentiert, nur daß im Kaufmann die Tragödie als alles -überschattende Episode im Lustspiel steht, während in Maß für Maß die -gesamte Handlung, in der alle Hauptpersonen stehn, zu tragischer Höhe -ansteigt, bis vom Scheitelpunkt an die Tragik mählich gemildert und in -Prüfung verwandelt wird. - -Der erste Druck, den wir von dem Stück haben, steht in der Folioausgabe -von 1623. Nach einem Dokument, dessen Echtheit nicht völlig feststeht, -wäre das Stück 1604 am Hof aufgeführt worden. - -Der Stoff findet sich zuerst in derselben Novellensammlung -Hecatommithi von Giraldi Cinthio, in der sich auch die Novelle vom -Mohren von Venedig findet; Shakespeare stützte sich aber überdies auf -zwei Arbeiten von Georg Whetstone, die Komödie Promos und Kassandra -(1578 gedruckt), und eine kurze Novelle, die er 1582 in der Sammlung -~Heptameron of civil discourses~ herausgab. Die ursprünglichen Namen -und Schauplätze Cinthios haben sowohl Whetstone wie dann wieder -Shakespeare verändert. Shakespeares Herzog Vincentio von Wien ist bei -Cinthio Kaiser Maximilian in Innsbruck, bei Whetstone König Corvinus -von Ungarn und Böhmen; der Statthalter heißt erst Juriste und dann -Promos; unsre Isabella bei Cinthio Epitia, bei Whetstone Kassandra; in -all diesen Fassungen vor Shakespeare muß dies Mädchen um der Rettung -ihres Bruders willen sich tatsächlich dem Statthalter hingeben; und aus -der Umgestaltung dieses Hauptmotivs, die Shakespeare vornahm, ergibt -sich schon, wie er mit dem äußern Stoff und innern Sinn im Kleinen und -Großen frei geschaltet hat. - -Maß für Maß hat sehr vielen, die über Shakespeare geschrieben haben, -aus demselben Grund und im nämlichen Grad unangenehme Gefühle und -Verlegenheit erzeugt, wie Troilus und Cressida. Man hat von berühmten, -geachteten und anerkannten Männern Urteile gehört, wie: das Stück sei -auf _unsrer_ Bühne nicht möglich; für _unsern_ Geschmack dürfe bei -einem solchen Motiv von komischer Behandlung und Wirkung keine Rede -sein; _unser_ sittliches Gefühl werde in unerträglicher Weise verletzt; -und die üblichen Epitheta sind: peinlich, abstoßend, widerlich. Mit -alledem zeigen, die so schreiben, nur, daß sie für Shakespeare nicht -reif sind; und daß ihresgleichen in Ehren und nicht in verlachtem -Schimpf stehen, ist kennzeichnend für unsre öffentlichen wie geheimen -Zustände. - -Ich sage von vornherein, daß mir Maß für Maß zu Shakespeares -vortrefflichst gebauten, schlagkräftigsten, spannendsten, -bühnenwirksamsten, innigsten, reinsten und reifsten, freiesten und -tiefsten Schöpfungen gehört. Kann es denn für eine Komödie, das heißt -für eine solche Darstellung von Gegensätzlichkeiten, über die wir -lachen dürfen, weil wir sie in uns und um uns zugleich kennen und nicht -kennen, in unsrer erbärmlichen Wirklichkeit kennen, in unserm Glauben, -Wünschen und Umschaffen nicht kennen, kann es tauglichere Motive geben, -sowie wir die Komik ernst genug nehmen und mit ihr nicht Vergnügliches -betrachten, sondern wollend in unsrer eignen Zwiespältigkeit eine -Entscheidung treffen? Wer, der in Betracht kommen will, ist denn durch -elende Lustigkeit, bei der die Gemeinheit mit der Gemeinheit lacht, -oder gar durch Frohsinn, bei dem der Philister mit den Philistern -vergnügt ist, so verdorben, daß er nicht weiß, daß das echte Lachen -der Komik ebenso gegen die Niedrigkeit Partei ergreift, wie die -Ergriffenheit der Tragik für die Hoheit und Innigkeit eintritt? Ich -habe das Wort Tränen hier vermeiden müssen, weil die Rührung allermeist -erbärmlich geworden ist und weil bei diesen edeln Tropfen nicht mehr -die adligen Gefühle der Teilnahme am Großen und Reinen, das beschmutzt -und zu Fall gebracht wird, von den Regungen der Tröpfe zu unterscheiden -sind; genau so ins Gemenge und in die Menge gekommen ist das Lachen, -das eine Steigerung sein sollte und allermeist eine Erniedrigung oder -Plattheit geworden ist. - -Maß für Maß zeigt uns die Macht und den Mißbrauch der Macht; das -Verhältnis des wahren Menschen zu der Rolle, die er im Amt spielt; -die hohe richterliche Pose; zeigt uns den Mann, der in einem idealen -Wortgebäude wohnt, welches einstürzt, sowie der Sturm der Triebe -kommt; den Anspruch des Staates, regulierend und sittlichend ins -Geschlechtsleben einzugreifen, wobei sich dann ergibt: was für eine -Erfindung, vom Staat zu reden, als ob das ein Gebilde übermenschlicher -Art für sich wäre, und ist doch nur ein Name für Menschen und -Untermenschen! Einen Fürsten sehen wir, der wie Harun al Raschid im -Verborgenen, verkleidet, die Vorgänge in seinem Staat beobachtet, -Zeuge wird, die Fäden lenkt, alles zum Guten wendet, der Milde und -Nachsicht, vor allem aber Wahrheit an die Stelle der Strenge, der -Übergriffe, der Heuchelei setzt; dazu kommen die Probleme des Rechts, -vor allem des Strafrechts und geradezu der Strafrechtstheorie; der -Moral und Moraltheorie, der Gnade, der himmlischen und irdischen Liebe, -des Lebens und des Todes. - -Dazu ist die Sprache dieses Dramas nach Form und Gefühls- wie -Gedankengehalt rein, reich, voll, kräftig, knapp; sie bringt Bilder -von wundervoller Ausdrucksgewalt; die Komposition ist glänzend und -sicher; die Abwechslung zwischen Verssprache und Prosa ist besonders -weise abgestuft; die Szenen der niederen Komik, diese burlesken -Scherzo-Variationen sowohl des erotischen wie des Beamtenthemas, die es -mit den entsprechenden in Viel Lärm um Nichts getrost aufnehmen können, -sind lustig, reich an Einfällen, famos; und selbst in diesem untern -Bezirk ist das höchste tragische Motiv mit Fug in eine keineswegs bloß -das Zwerchfell erschütternde, in eine schlechtweg erschütternde Komik -gewandt: da haben wir den Mörder und Räuber, der lustig leben und -sterben will. - -Dies Stück, das, wie jedes von Shakespeares bedeutenden, seinen Sinn -nicht irgendwie sentenziös ausspricht, sondern sich deiktisch verhält, -ist darum auch nur denen voll zugänglich, die schauend, Gegensätze -schauend, empfindend, in der Phantasiesphäre zu denken vermögen, die -überdies das, was ihnen plastisch, als bewegtes, dissonierendes Leben, -als Gegensätze der Sphären, der Regungen, der Charaktere entgegentritt, -aufzulösen und zu vereinigen wissen in der Musik, die durch dieses -Stück so waltet wie in Rembrandts Schöpfungen. Das hat sehr schön Hugo -von Hofmannsthal gesehen und zum Ausdruck gebracht, und besonders gut -weist er auch auf diese gegenseitige Ergänzung des oberen und unteren -Bereichs hin: „Welche Lichter auf dem Finsteren, welches Leben des -Schattens durch das Licht.“ - -Das Stück setzt, so wie der König Lear, in der Staatsszene, die den -Eingang bildet, sofort mit einem Sprung in die Haupthandlung hinein: -der Herzog entfernt sich aus Wien, seiner Hauptstadt, und übergibt aus -besonderen Gründen dem jungen Angelo mit voller Statthalterhoheit das -Regiment; einen alten, klugerfahrnen Mann, Escalus, der eigentlich das -nächste Anrecht auf die Vertretung des Herzogs hätte, gibt er ihm nur -als Gehilfen bei. Was sind das für Gründe besondrer Art? Was ist Angelo -für ein Mann? Das merken wir, daß die besondern Gründe in ihm, in -seiner Natur liegen; ihn selbst aber, wie er ist, zeigt uns der Dichter -noch lange nicht; und auch, was der Herzog über ihn zu ihm selbst -äußert, ist zwar von entscheidender Wichtigkeit, aber mit Absicht -dunkel gehalten; so dunkel, daß die meisten Übersetzer, die ich habe -prüfen können, -- zumal der neueste und doch wohl allerschlechteste, -Hans Olden -- den Sinn verfehlt, oft ins Gegenteil verkehrt haben; der -Herzog sagt: - - Angelo, - Auf deinem Leben zeigt sich eine Prägung, - Die dem, der aufmerkt, deinen Lebenslauf - Völlig enthüllt. Du selbst und deine Gaben - Sind nicht so ganz dein eigen, daß du dich - An deine Tugenden, noch sie an dich - Verschwenden darfst. Der Himmel macht’s mit uns, - Wie wir’s mit Fackeln tun: um ihretwillen nicht - Entzünden wir sie; wenn die Tugenden - Aus uns heraus nicht flössen, wär’ es so, - Als hätten wir sie nicht... - -Ein paar Szenen weiter, nachdem Angelo dem Rat, dem Gebot prompt -gefolgt ist und schon begonnen hat, seine Tugenden in die Welt wirken -zu lassen, hören wir vom Herzog in seinem Gespräch mit dem Bruder -Thomas schon deutlicher, wie er’s gemeint hat: die scharfen Gesetze, -über die das Land verfügt, hat dieser Fürst in den vierzehn Jahren -seiner milden Regierung kaum zur Anwendung gebracht; so ist vielerlei -Zügellosigkeit eingerissen, - - Die Freiheit zupft dem Rechte an der Nase; - -würde er selbst jetzt mit einem Male auf die Gesetze zurückgreifen, die -fast vergessen wurden, so wäre das eine Härte, die er geneigt wäre, -Tyrannei zu nennen. Denn hatte er nicht selbst all die Schlechtigkeiten -geradezu geboten? - - Denn wir gebieten’s, - Wenn wir der Übeltat den Freipaß geben, - Anstatt der Strafe. - -Darum also soll Angelo, - - ein Mann - Der keuschen Selbstbeherrschung und der Strenge, - -wie uns jetzt gesagt wird, den Gesetzen wieder Geltung verschaffen. -Und mit den Worten, die wir vorhin hörten und die keineswegs bloß uns, -die auch Angelo selbst dunkel bleiben sollen, hat er ihn dazu bringen -wollen und dazu sofort dazu gebracht, aus sich herauszugehen und seine -Tugenden -- im Anschluß an die alten Gesetze -- an die Anwendung zu -lassen. Der Herzog hat aber, er deutet es Bruder Thomas schon an, -noch einen geheimen Hintergedanken: nicht bloß sollen die Gesetze -jetzt wieder zu Leben erweckt werden; diesen Statthalter, der nun auf -öffentlichem Gebiet seine Tugenden ans Werk lassen soll, will er prüfen. - - Herr Angelo ist genau - Und sieht sich vor. Kaum, daß er zugibt, Blut - Fließ’ ihm in Adern oder es gelüste - Ihn mehr nach Brot als Stein; die Probe lehrt, - Wie sich im Machtbesitz der Schein bewährt. - -Nach diesen Worten sehen wir schon viel deutlicher in das Verhältnis -des Herzogs zu dem jungen, begabten Mann, den er zu seinem Statthalter -gemacht hat: etwas Strenges, Asketisches, Welt- und Wirkungscheues -hat Angelo bisher an sich gehabt; drum hat der Herzog ihn ermahnt, er -solle sein Licht der Welt leuchten lassen, solle seine Tugend auf die -Menschen anwenden; und den weitesten Spielraum hat er ihm gelassen, -überdies noch zu dem Versuch, in seinem Staat für Zucht und Ordnung zu -sorgen. Bist du so tugendhaft, hier hast du Arbeit! Verschwende nicht -deine Tugenden in dir, in sich selbst; gib ihnen entfesselte Freiheit, -so wie in meinem Lande die bösen Triebe allzu lange diese Freiheit -genossen haben. - -Das soll sich also nun zeigen; die Widersprüche der Menschennatur -sollen an den Tag kommen; der Gegensatz von Schein und Wesen, vor allem -von Reden und Handeln soll heraustreten. Ganze Systeme hat sich das -Reden geschaffen: das System der Tugend oder die Moral; das System der -Religion; das System des Rechts. Sie alle treten in diesem Stück auf -und spielen ihre Rolle; und ihnen allen treten die leibhaften Tatsachen -gegenüber und entlarven sie. - -Eine kleine Probe solcher Kritik bekommen wir gleich zu Beginn der -zweiten Szene in einer kleinen episodischen Einlage. Der Herzog hat -absichtlich seine Spuren verwischt; am Hof meint man, er sei in den -Krieg gegen Ungarn gezogen; die Berufsoffiziere kennen aber seine -milde, vernünftige Natur und fürchten, es könne zu einem Vergleich mit -dem Feind kommen. Da seufzt einer den frommen Wunsch: - - Der Himmel schenk’ uns Frieden; nur nicht mit dem - König von Ungarn! - -Und ein andrer ruft Amen dazu. Da spottet der Edelmann Lucio mit seinem -bösen Mundwerk: - - Du amenst wie der andächtige Seeräuber, der sich mit den zehn - Geboten einschiffte, aber eins davon von der Tafel auskratzte. - -Da lachen sie und wissen gleich, welches Gebot der Seeräuber nicht mit -auf seine Berufsfahrt nahm: Du sollst nicht stehlen. - - Ja, das schabte er weg. - -Und einer der Offiziere macht sofort die aufrichtige Nutzanwendung: - - Kein rechter Soldat ist unter uns, der im Tischgebet an der Bitte - um Frieden Gefallen fände! - -So geht’s, das sehn wir sofort nach der kurzen feierlichen Einleitung -der Übergabe des Regiments, in diesem Staat, in dieser Stadt Wien zu: -es gibt gewisse allgemeine Normen, gewisse Lehren, die ihre Wortmacht -üben, so daß man sie mit den Lippen bekennt; aber im vertrauten -Kreis macht man kein Hehl daraus, daß dieses Allgemeine sich auf die -besondern Stände und Interessen in Wirklichkeit gar nicht anwenden läßt. - -Und nun ist ein junger Mann ans Ruder gekommen, nicht durch Ehrgeiz -oder Usurpation; er hatte sich’s, wir haben es wohl zu beachten, nie -träumen lassen, so hoch hinauf zu kommen; und er muß ja auch von -vornherein annehmen, daß es nur für eine Weile ist und daß er für -alles, was er verfügt, Rechenschaft abzulegen haben wird; wir wissen -zunächst weiter nichts von diesem Statthalter, als daß er ein strenger -Idealist oder Ideologe sein soll. Wo wird er zunächst angreifen? -Welches Gebiet liegt seinem Reform- und Reinigungseifer am nächsten? - -Noch ehe wir so weit sind, über Angelos Wesen, seine Sittenstrenge und -Selbstbeherrschung aus dem Mund des Herzogs etwas zu erfahren, sehen -wir, daß dies das Gebiet ist, auf dem der Rigorist vor allem eingreift: -die Gesetze zur Aufrechterhaltung und Hebung der Sittlichkeit sind -da -- nicht von diesem Herzog, der sie kaum angewandt hat, gegeben, -sondern von seinem Vorgänger -- nun soll Ernst gemacht werden. Die -Freudenhäuser in den Vorstädten sollen niedergelegt werden; den -Kupplern und Kupplerinnen will Herr Angelo das Handwerk legen; ein -junger Edelmann, Herr Claudio, der einem Mädchen -- das er sogar zu -heiraten gedenkt, nur aus Gründen der Mitgift ist der Akt verschoben -worden -- ein Kind gemacht hat, ist verhaftet worden; auf diesem -Verbrechen steht nach dem Gesetz der Tod. - -An dem nämlichen Tag, an dem Claudio ins Gefängnis abgeführt wird, -tritt seine Schwester Isabella ins Kloster ein, um da als Novizin ihre -Probezeit durchzumachen. Aber sie wird ganz anders, als sie sich’s -dachte, wird mitten in der Welt geprüft, wird in die Prüfung Herrn -Angelos verwickelt. An sie wendet sich der Bruder durch Vermittlung -eines Freundes: sie soll durch Freunde und vor allem persönlich beim -Statthalter tun, was sie irgend kann, um ihren Bruder zu befreien. So -widerwärtig dem reinen Mädchen, das in einem Zusammenhang, von dem wir -nichts Äußeres wissen, im Begriffe steht, der Welt Valet zu sagen, -ehe es sie aus Erfahrung kennt, diese Männergeschichten sind, so weiß -sie doch, daß der Fall hier anders liegt, als der Anschein sagt: das -Mädchen, das Mutter werden soll, ist ihre Freundin, sie hat schon immer -gewünscht, daß ihr Bruder sich mit ihr vermähle. Und dann: der Tod! -Tod, weil gegen die Ordnung des Staats, aber nach der Ordnung der Natur -ein neuer Mensch geboren werden soll! Sie ist bereit, zur Rettung alles -zu tun, was sie kann. - -Wie allmählich, wie zurückhaltend Shakespeare diesmal seine Motive -bringt! Da haben wir, jetzt ganz im Hintergrund, den Herzog, den die -Leute seiner Regierung und das Volk im fernen Polen glauben, der sich -aber in einem Kloster verbirgt, um bald als Mönch zum Volk und zum -Statthalter zu gehn, und zu sehen, wie die Dinge sich entwickeln. Da -ist der junge Mann im Gefängnis, vom Tode bedroht, und seine fromme -Schwester soll helfen. Und da ist der Herr über Leben und Tod, der -stellvertretende Fürst, Herr Angelo, und noch wissen wir nichts von -seinem innern Wesen, noch kennen wir ihn nur aus Amtshandlungen und -Kennzeichnungen aus dem Munde andrer; von seinem privaten Leben sehen -wir gar nichts. Können wir uns auf das verlassen, was die Leute so -über ihn sagen, jetzt zum Beispiel Claudios mit dem Mundwerk so -leichtfertiger Freund Lucio, der Herrn Angelo also schildert: - - ... ein Mann, des Blut - Zerlass’ner Schnee ist; einer, der der Sinne - Begier und süßen Stachel niemals fühlt, - Nein, stumpft und schwächt den Antrieb der Natur - Durch Geistesarbeit, Fasten und Studieren. - -Ist er so? Ist damit alles über ihn gesagt? Nicht sehr wahrscheinlich; -Lucios Psychologie steht auf schwachen Beinen: die Heiligen und -Anwärter zur Heiligkeit, die durch Fasten und Kasteien ihre Triebe im -Zaum halten, spüren die Regungen und den Aufruhr der Sinnlichkeit nur -allzu stark. Sollte das vielleicht der Fall des jungen, strengen Mannes -sein, den der Herzog jetzt aus seiner Abgeschiedenheit holte und in die -freie Welt, in die Welt des Befehls und der Verantwortung stellte? - -Mit solchen Fragen und auf wahre Innerlichkeit gespannten Erwartungen -treten wir in den zweiten Akt ein, in dem nun sofort Angelo als -Hauptperson dasteht. - -Bei einem Aufbau, wie ihn Shakespeare hier gewählt hat, daß eine -Person inmitten des Dramas agiert, deren letztes Wesen und Geheimnis -noch unbekannt bleibt und erst später enthüllt wird, könnte es eine -Schwierigkeit für den darstellenden Künstler sein, daß er von allem -Anfang an einen ganzen Menschen hinstellen muß, während wir nach der -Absicht des Dichters noch im Unbestimmten bleiben, das Ganze noch gar -nicht durchschauen sollen. Hier ist das keine ernste Schwierigkeit, -weil Angelo, das sehen wir jetzt sofort und er sagt es überdies selbst, -solange er’s irgend vermag, nicht in seiner privaten Menschlichkeit -unter die Leute geht, sondern in der Rolle seines Amtes. Wie es mit -ihm bestellt war, als er noch in seinem Wiener Palast sein strenges, -privates Leben führte, ob auch da die Sittenstrenge ein Gewand war, -das er aus Pflicht oder sonst einem Grund über seinen Menschen -streifte und nicht auszog, das wissen wir nicht. Jetzt aber ist er -vom Herzog mit dem Amtscharakter bekleidet worden; den trägt er, den -hat er darzustellen, das ist seine Aufgabe im Staat, dagegen darf -nichts aufkommen. Und das eben wird in dem Drama vorgeführt, wie der -zurückgedrängte Mensch Sieger über die Rolle wird. Selbst wenn das -nicht ein so wundervolles Motiv wäre, das unser aller Leben, das im -Haus und das auf dem Markt, aufs nächste angeht, so wäre es immerhin -erstaunlich, daß das Theater sich diesem Stück trotz manchen Versuchen -in Wahrheit noch heute verschließt, einem Stück, in dessen Mitte das -Problem steht, das den Schauspieler in seiner innersten Menschheit -angeht: der Konflikt zwischen der Rolle, die ein Mensch annimmt, -und dem von dieser Rolle unterdrückten Triebleben, das, während -die Amtsperson ihre Rolle agiert, eben in der Betätigung des Amtes -herausgekitzelt wird. - -Escalus, der alte weise Mann, den der Herzog Herrn Angelo als nächsten -Berater unterstellt hat, bittet für den mit dem Tod bedrohten Claudio. -Da der Fall ihm arg ans Herz greift -- er hat Claudios und Isabellas -Vater gekannt und verehrt --, wird er sehr warm, und es fügt sich -natürlich, daß er Herrn Angelo sagt: Kein Zweifel gegen Eure strenge -Tugend; aber bedenkt doch nur, um welches Vergehen es sich handelt, -besinnt Euch auf Euch selbst; hätte sich die Gelegenheit günstig und -verführerisch erwiesen, hättet Ihr nicht denselben Fehler begehn -können? Das ist menschlich gefragt; was Herr Angelo zur Antwort gibt, -ist in großer Art unmenschlich und heißt nichts anderes als: Richtet -euch nach meinen Worten und nicht nach meinen Taten, und noch viel -weniger nach Trieben, Gelüsten und Regungen meiner Natur. - -Was Angelo hier, in Vornehmheit und Amtswürde eingehüllt, ohne mit der -Wimper zu zucken, ohne über seine Natur das geringste zu verraten, -verkündet, ist weder Tartüfferie noch Heuchelei zu nennen. So viel ist -jetzt schon sicher, wo wir den Mann immer noch von außen abtasten: -eine solche vereinfachende Karikatur wie den Tartuffe hat Shakespeare -mit diesem Herrn Angelo nicht dargestellt; eher könnten wir darauf -gefaßt sein, daß das, was Molières elende Psychologie als Heuchelei -des isolierten Individuums gegeben hat, von Shakespeare in seinen -gesellschaftlichen Zusammenhang eingefügt wird. Angelos Erklärung, -Recht müsse Recht bleiben, auch wenn unter den zwölf Geschworenen, -die einen Dieb verurteilen, einer oder zwei sitzen, die ärgere Diebe -seien als der Beschuldigte, seine Erklärung, der Richter habe das -Gesetz anzuwenden, ohne an seine eigene Natur, an seine eigenen -verbrecherischen Triebe auch nur zu denken, diese Losung, die wir -nannten: Richtet euch nach meinen Worten und nicht nach meinen Taten, --- das ist in Wirklichkeit die Losung jeglicher Kirche, worunter hier -jede Organisation zu verstehen ist, in der fehlbare Menschen die -Hüter und Rächer eines Idealismus sind. Es geht in dieser gewaltigen -Komödie nicht um so eine vom primitiven, abkürzenden, verleumderischen -Denken erfundene Figur wie den Tartuffe, mit der man die Lacher aller -Stände mit Ausnahme des jeweils betroffenen immer auf seiner Seite -hat, sondern es geht um dieses Grundproblem der Kirche, der Schule, -des Staats und seiner Rechtsordnung, um ein Problem von unendlicher -Erhabenheit und unendlicher Komik, um ein Problem, das immer wieder -neu ersteht, solange der Pfarrer in der Sakristei den Talar über den -bürgerlichen Anzug streift, unter dem sein nackter Leib sitzt, solange -der Richter in der Robe sich zur Frühstückspause zurückzieht, solange -es in unsern Menschengesellschaften Bacons Idole gibt, an welche man -hier, ohne vor den törichten Schlußfolgerungen der Baconianer Angst zu -haben, sachlich zu erinnern hat[1]. Ehe wir Herrn Angelo wegen der -These, die er hier verficht, einen Heuchler nennen, wollen wir uns -besinnen, ob wir nicht wie er in unsrer Maske stehn, wenn wir als Vater -oder Mutter mit unsern Kindern, als Kaufmann mit unsern Kunden, als -Offizier mit unsern Soldaten, als Arzt mit unsern Patienten, als Mann -mit der Frau, als Mensch mit Menschen, ja sogar als einzelner mit uns -selbst und unsern Bedürfnissen zu tun haben. - -Vielleicht verstehen wir jetzt besser, was es mit dem Problem auf -sich hat, das Shakespeare hier behandelt, und mit der Behauptung -der Prüderie, dieses Problem könne und dürfe bei uns nicht komisch -behandelt werden, das Problem nämlich des Zusammenstoßes zwischen -Geschlechtsleben und Rechtsordnung. Vielleicht verstehen wir jetzt -besser, warum es grade die Grundnatur des Tiermenschen, das Geschlecht -ist, mit dessen Regulierung sich hier der Fürst und oberste Richter zu -beschäftigen hat. Vielleicht verstehen wir jetzt auch schon, warum in -diesem Stück die niedrige Sphäre der Hurenwirte und Kuppelknechte einen -so breiten Raum einnimmt, verstehen, warum hier auch der niedrigste -Standpunkt der Kritik an diesen Regulierungen des Staates zu Wort -kommt, so, wenn zum Beispiel der Kuppelknecht, der den pompösen Namen -Pompejus führt, bei den neuen Maßnahmen und Verfolgungen erstaunt fragt: - -Soll die ganze Jugend in der Stadt kapaunt und wallacht werden? - -Und wie das verneint wird, begreift er gar nichts mehr; braucht man -denn nicht Freudenhäuser oder so ähnliche Anstalten, solange es lockere -Buben und liederliche Dirnen gibt? - -In der Tat ist das Geschlechtsleben von allen Grundtrieben des -Menschen bei weitem der geeignetste, um auf der Bühne mit der Maske -der Gerechtigkeit und Hoheit konfrontiert zu werden. Ein Zeichner kann -eine komische Wirkung schon erzielen, wenn er einen Priester den Talar -hochheben läßt, um, sagen wir, einen Floh zu fangen; oder wenn er einen -Monarchen in seinem Ankleidezimmer im Hemd zwischen den Uniformen -seiner verschiedenen Regimenter und Feldherrnstellen im In- und Ausland -zeichnet; eminent komisch wirkt es, wenn wir etwa in einem Briefe -Mirabeaus lesen, die Abgeordneten der Nationalversammlung hätten eine -Sitzung in einem entscheidenden und kritischen Moment unterbrochen, -weil sie das Bedürfnis verspürten, zu pissen; aber alle solche -natürlichen Bedürfnisse und Verrichtungen, auch das Essen und Trinken, -haben nicht annähernd eine so seelische Weite wie das Geschlecht, -das in seiner Verbindung mit Wildheit, unbezwingbar Leiblichem und -erschütterter Innigkeit das Tierische in uns mit der Phantasie und dem -Geiste in nächste Beziehung bringt, das vor allen Dingen durch seine -Polarität das Element des Dramatischen schon in sich trägt. So daß mich -dünkt, Shakespeare hätte sich auf das, was aus dramatischen und eminent -wichtigen ethischen und sozialen Gründen auf unsre Bühne gehört und in -höchst bedeutendem Sinne komisch zu behandeln ist, besser verstanden -als seine Kritiker. - -Irgend etwas muß in Angelo leben, was ihn zu der unnahbaren Pose des -Monarchen, der die staatliche, schon fast die göttliche Gerechtigkeit -zu repräsentieren hat, besonders geeignet macht; und der Herzog muß -es bemerkt haben. Aber ein andres -- oder ist es das selbe? -- lebt -noch dazu in ihm, was die Grenze der Strenge bis zur Härte, bis zu -einer fast wilden Grausamkeit hin überschreitet. Von dem Verhör der -armseligen Kupplergesellschaft wendet er sich schließlich wie ein -Gelangweilter ab und kann den Wunsch nicht unterdrücken, es möchte -sich Grund finden, alle miteinander auszupeitschen. Mild und klug, als -ein Mann, der in seinen hohen Jahren es noch nicht aufgegeben hat, mit -Warnungen, Verweisen, bedingter Strafandrohung zu arbeiten, zeigt sich -dagegen Escalus. Aber er, so will es für diese Zwischenzeit der Prüfung -der Herzog, darf der Gerechtigkeit, sagen wir besser, der Justiz, nur -dienen; Angelo ist ihr Herr. - -Zu diesem Herrn des Rechts, der schon auf den nächsten Tag die -Hinrichtung Claudios verfügt hat, kommt nun, um den Starren zu beugen, -die angehende Nonne Isabella, des Verurteilten Schwester. Himmel -und Welt treffen da auf einander, Welt in den beiderlei Formen von -Staatsregiment und privatem Libertinismus. Furchtbar ist es diesem -herben, keuschen Mädchen, daß sie für eine Sünde eintreten muß, die ihr -vor allen verhaßt ist; so sind in diesem Zwiegespräch, das nun anhebt, -die Rollen verteilt: Isabellas Natur sträubt sich gegen alles, was mit -geschlechtlicher Unordentlichkeit im geringsten zu tun hat, sie hat -aber, aus Liebe zu ihrem Bruder, das Amt übernommen, ihn zu erretten; -Herr Angelo hat das Amt, ihn zum Gericht und zum Tode zu bringen; wie -steht es mit seiner Natur? Was sagt die dazu? - -Isabella hebt damit an, daß sie bittet, die Schuld und den Schuldigen -zu trennen; die Schuld soll verdammt werden, nicht ihr Bruder. -Schwächer könnte sie’s nicht beginnen; aber auch nicht gefährlicher -für sich selbst; denn was geht es den Hüter des Rechts an, daß der -Verurteilte eine Schwester hat? Lenkt sie nicht in ihrer Verlegenheit, -in ihrer Scham sofort den Blick auf sich? Und tut sie übrigens damit -nicht das, was ihr verzweifelter Bruder und sein leichtfertiger Freund -Lucio von ihr erwarteten? Wenn Claudio meinte: - - Ihre Jugend - Spricht sprachlos eine wirkungsvolle Mundart, - -was kann er andres gewollt haben, als daß sie mit ihrem Persönlichen -durch die starre, stachlige Hecke des Rechts hindurch auf die Person -Herrn Angelos wirken solle? Wie schön wäre das, wenn die reine -Menschlichkeit der Jungfrau alle Überzüge, Decken, Masken und Kostüme -der Wortsysteme entfernte und zur reinen Menschlichkeit des Fürsten -durchdränge? Aber ist das, in dieser Situation, unter Menschen, wo -ein Menschliches ganz andrer Art dazwischen steht, zu erwarten? Wird -es vielmehr nicht dahin kommen, daß Mensch von Mensch, wie sie jetzt -getrennt sind durch das trotz allem ideale Gestrüpp des Rechts, nach -dessen Entfernung noch viel tiefer getrennt sind durch das, was sich -statt dessen zwischen ihnen erhebt und sie zusammenwerfen will? Das ist -die Frage, vor die wir jetzt gestellt sind; und um dieser Frage willen -ist das Stück so gebaut, daß wir Herrn Angelo nicht kennen, nichts von -seinem Wesen, nichts von seinem Leben. - -Auf diese Anforderung Isabellas, die Schuld zu verdammen, aber nicht -den Schuldigen, hat der Mann des Strafrechts leicht antworten. Die -Schuld zu verdammen, einmal für alle, dazu ist das Gesetz da. Er hat -gerade das Amt, das Gesetz anzuwenden, ohne Ansehen der Person, auf die -Personen, die es übertreten. Isabella, der ihre Rolle über die Kraft, -so ganz gegen die Natur geht, sieht es seufzend ein und will gehen. -Lucio hält sie zurück, ermahnt sie, flehentlicher zu sprechen; erinnert -sie, daß es ums Leben geht. Das bringt sie zu größerer Klarheit, was -hier ihres Amtes ist; sie darf nicht mit dem Wahrer des Rechts rechten, -sie hat um Gnade zu bitten. Das aber ist ein Punkt, wo irgend etwas in -ihm ganz besonders empfindlich getroffen sein muß; er scheint sich noch -fester in den Mantel der Justiz einzuhüllen, ehe er schroff zur Antwort -gibt: - - Ich will’s nicht tun. - -Kaum, daß er als Mann, der sich eifrig, eifersüchtig an die -Wahrheit hält, anderes sagen kann. Er ist ja nicht bloß der oberste -Gerichtsherr; ihm ist in vollem Maße, ohne Einschränkung, auch die -Gnade anvertraut worden. Das entnimmt sie, die, wir merken es mehr -und mehr, eine der Frauen ist, die den Geist haben, der ihrer schönen -Natur gewachsen ist, seiner kurzen Abweisung sofort; sie wird wärmer, -weil sie nun am rechten Ort ist, und fragt, stellt fest, er könne also -Gnade üben, wenn er nur wolle. Das rührt nun wieder an ein ungeheures -Problem, an kein geringeres als das der Willensfreiheit. Herr Angelo -hat in seinem Leben offenbar Gründe genug gehabt, sich mit ihm zu -beschäftigen; und der Rigorist hat es in seiner Art gelöst: - - Was ich nicht tun will, seht, das kann ich nicht. - -Was hilft da alles Zureden? heißt diese Antwort, aller Versuch, ihn -umzustimmen? Er kann doch den Willen nicht haben, den Schuldigen zu -begnadigen. Während wir aber dieser Dialektik zuhören, achten wir noch -auf etwas andres, kaum Merkliches. Der Mann, der da cäsarisch als Fürst -steht, ist kurz, schneidend, schroff, sachlich in seinen Antworten bei -dieser Audienz; er will seine Schuldigkeit tun, die Fürbitte zu hören, -nichts weiter. Da fällt es auf, wie er allmählich ein ganz klein wenig -weicher, wie auftauend wird; mal fügt er als Anrede das Wort „Mädchen“ -in eines seiner knappen Sätzchen ein; mal mildert er eine Schroffheit, -indem er „~look~“, seht her, dazu sagt. Man könnte wohl einwenden, -das seien kleine Flickworte des Versdichters; aber da kennte man -den Shakespeare dieser Stufe schlecht! Bei einer solchen Szene ist -jedes Wort erwogen und steht kein Wort umsonst; und so sind wir an -dieser Stelle schon ahnungsvoll gespannt, was sich weiter mit seiner -Menschlichkeit begeben wird. - -Und siehe da! Gleich bei seiner nächsten Replik ergibt sich zur -Evidenz: der Mann ist verwirrt, er ist nicht mehr ganz verwachsen mit -seiner Rolle, etwas in ihm fängt an, den Mann von dem Gewandträger -loszulösen und einen Spalt zu eröffnen. Denn diese Antwort: - - Er ist verurteilt; ’s ist zu spät, - -hätte er in normaler Gemütsverfassung nie geben können; so weit kennen -wir den gegen sich selbst viel mehr noch als gegen andre harten -und gewalttätigen Mann nun schon aus Schilderungen und aus seinem -eignen Auftreten. Von der Gnade ist jetzt die Rede; er kann es nicht -vergessen haben; und für Gnade ist es niemals zu spät. Isabella merkt -auch sofort, daß da so etwas wie eine nachgiebige Stelle ist; jetzt -erst läßt sie ihre schöne Menschlichkeit in ihr bitteres Geschäft, -sie wird warm, lebhaft beseelt. Sie weiß ja, fühlt ja im Innersten, -daß die Gnade, die menschliche Nachsicht mit der wahren Menschheit, -wie sie in ihr selber lebt, mehr zu tun hat als das starre Recht. Sie -spricht als eine Liebende; Eros redet aus ihr; und sie, die Strenge, -Züchtige, Herbe, beinahe schon Nonne, ahnt nicht, wie der Eros und das -Geschlecht bei dem einen aufs feinste, bei dem andern aufs gröbste und -leidenschaftlichste beieinander wohnen, sie ahnt nicht, was sie in -dem Manne erweckt, dem sie mit ihren kühnen, beflügelten, erwärmenden -Worten, mit der ganzen Bewegtheit ihrer Seele, die aus Augen und Mienen -und Haltung zu ihm hinüberstrahlt, das Amtskleid herunterreißt! Sie -will die Liebe, die Gnade darunter zeigen, wenn sie sagt: - - Seid gewiß, - Nicht festliches Gepräng’ und große Herrn, - Nicht Königskrone noch Statthalterschwert, - Des Marschalls Stab, des Richters Amtsgewand, - Nicht geben die nur halb so schönen Schmuck, - Wie Gnade gibt. - -Irgendwie wird auch in ihr selbst in dem Grade und in der Art, wie -es der keuschen Seele ziemt, damit, daß sie das so sagt, eine Hülle -dünner, die das Geschlecht von dem Geiste des Eros in ihr trennt, -und sofort findet sie die Brücke von ihrem Appell an die Gnade zu -der Betrachtung: Wie bist du Mann denn eigentlich selbst in deinen -Regungen? - - Wär’ er wie Ihr, und wäret Ihr wie er, - Ihr wärt wie er gestrauchelt, doch nicht wär’ er - Wie Ihr, so finster streng. - -Das trifft; diese Betrachtungen liegen dem Mann des Determinismus nahe -genug; und vielleicht hat er auch sonst in seinem Inwendigen Gründe zu -solchen Erwägungen, der Heilige? Aber heute hat er ganz Ähnliches schon -einmal gehört, von Escalus, und da hat er scharf und trefflich erwidern -können, ganz in der Hoheit des Amtes und der Ideologie: - - Nicht dürft Ihr sein Vergehn drum schmälern, weil - Auch ich ja fehlen könnt’, nein, lieber sagt mir, - Wenn ich, der ihn bestraft, mich so vergehe, - Mein eigner Spruch sei dann mein Todesurteil. - -Was aber weiß er jetzt zu erwidern? Er sagt: - - Ich bitt’ Euch, geht nun, - -sagt es dumpf, als handle es sich um etwas für ihn Persönliches, was -er fast nicht mehr aushalten könne. Sie aber wird davon, von diesem -Hauch des Verstehens, der von ihm zu ihr geht, nur kühner, sie ist -jetzt mit Feuereifer, mit Hingegebenheit, mit Größe bei ihrer Sache. -Erst zeigt sie ihm, was sie für ein ganz andrer Richter an seiner Statt -wäre, wenn er als Isabella vor ihr stände; sie kann nicht ahnen, was -sie mit dieser Vertauschung in dem wüsten Manne anrichtet, der bei -dieser Vorstellung fast zurückweicht; Lucio, der mit dem Kerkermeister -dabei steht, merkt es wohl. Sie aber ist eine so reine himmlische -Seele und lebt so in den innigsten Vorstellungen ihrer Religion, daß -sie von diesem Gedanken, sie wäre Richter, sofort wieder zur Gnade -übergeht, die seinen mechanisch stereotypen Einwand, das Gesetz habe -gesprochen, fortweist. Und wieder, von noch höher oben, erinnert sie -ihn: Bist nicht auch du ein Sünder? Ähnlich ihrer Schwester Porzia, -aber christlicher getönt, wie es der Novizin natürlich ist, ruft sie -ihm in die Seele hinein: - - Wie? Was an Seelen war, das war verfallen, - Und er, dem Fug und Grund zur Strafe war, - Fand noch Vermittlung. Was wohl würd’ aus Euch, - Wollt’ er, der Allerhöchste des Gerichts, - Euch richten, wie Ihr seid? - -Während sie so sprach, dadurch, daß sie so sprach, ist viel, ist -Großes, ist fast schon Entscheidendes in ihm vorgegangen. Irgend -einer in ihm hat einer Stelle in ihm eine Erlaubnis gegeben; etwas -ist losgelassen worden. Er wird aufgeräumt, zutraulich, freundlich, -und -- oh über uns seltsame Menschenkinder! über das absonderliche -Verhältnis in uns zwischen Trieb und Geist! -- gerade dadurch, daß er -da drunten irgendwo den Mann der Erhabenheit, den Mann im Amtskleid -verrät und dadurch freier wird, ein Erlöster in ganz anderm Sinn, als -die Christin jetzt eben dies Wort an sein Ohr klingen läßt, grade -dadurch kann er die Sache seines Amtes jetzt wieder besser, jetzt -wieder mit trefflichen Gründen verteidigen. Er ist nicht mehr starr und -zugeknöpft; „schönes Kind“ sagt er zu ihr, und wie sie denn wieder, -jetzt gar nicht mehr widerstrebend, im Feuereifer ihrer Rolle, der -sie so sehnsüchtig Erfolg wünscht, von den „Vielen“ spricht, die -dasselbe getan wie ihr Bruder, da doziert er ihr mit offenbarer Freude, -wohlgefällig und mit vorzüglicher Beherrschung der Sache seine Theorie -des Strafrechts: - - Nicht tot war das Gesetz, wiewohl es schlief. - Die ‚Vielen‘ hätten nicht gewagt den Frevel, - Wenn gleich der erste, der die Vorschrift brach, - Gebüßt hätt’ seine Tat. - -Und wie sie ihn von dem starren Recht abbringen will und sein Mitleid -anruft, da fährt er gewandt, elegant, beredt und grausam fort, Mitleid -erweise er am meisten, wenn er Gerechtigkeit erweise: - - Denn Mitleid zeig’ ich dem, den ich nicht kenne, - Den die erlaßne Schuld einst schäd’gen würde, - Und tu’ dem Recht, der, büßt er ein Vergehn, - Ein zweites nicht erlebt... - -Das alles ist für Isabella, an der wir mit immer innigerer Freude -die schöne, seelen- und geistvolle Natur entdecken, unbegreiflich -unmenschliche Überhebung und Pose; so ein kleiner Mensch will den -strafenden Gott spielen, wo Gott selber lieber für unsre Sünden den -Martertod erlitt, als daß er strafte! - - Oh, es ist herrlich, - Zu haben Riesenkraft; doch ist’s tyrannisch, - Zu brauchen sie als Riese! - -Sie fühlt sich ihm nun, ohne zu ahnen, wieso der Machthaber -einschrumpfte und der Mensch vor ihr wie in Fesseln kam, überlegen; es -kommt wie Glück, wie Heiterkeit über sie; und mit der Vorwegnahme des -Gefühls, sie könne ihren Bruder retten, fällt von ihr das Christelnde -ab; sie wird weltlich, witzig, heidnische Vorstellungen, in denen sie -in der gebildeten Sphäre ihres edeln Vaters aufgewachsen ist, werden -von Angelos Theorie des gestrengen Rechts, nach dem jeder für seine -Taten büßen muß, damit andre sich von ihnen abschrecken lassen, erweckt: - - Wenn Große donnern könnten, - Wie Zeus es selbst kann, Zeus fänd’ nimmer Ruhe, - Denn jedes winzige Beamtlein würde - Aus seinem Himmel donnern, nichts als donnern! - -Sie erkennt, sie durchschaut den Mann, der jetzt selbst wie -niedergedonnert kläglich vor ihr steht, wäre sie gleich erschrocken, -wenn ihr einer von einem Wissen in ihr spräche, von dem sie in der -obern, oberflächlichen Region unsres Geistes nichts weiß. Sie redet von -dem Hochmut des Menschen; und in dem - - ~man, proud man~ - -klingt noch etwas anderes, klingt das spezifisch Männische in dem -herrschenden Menschen an; von der armseligen autoritären Gewalt redet -sie, von der gläsernen Gebrechlichkeit dieses Herrschaftsmannes, der -sich wie ein wütiger Affe aufspielt, -- sie weiß und weiß nicht, was -sie dem Manne da vor ihr, da unter ihr sagt. Er wird ganz verwirrt, -weiß gar nichts mehr zu sagen, schweigt und stammelt schließlich -beinahe die Frage, wozu sie ihn mit all den Worten überhäufe; und sie -nimmt herzhaft ihre ganze Kühnheit zusammen und schneidet mit großem -Zuruf den Würdenträger vom Menschen ab: - - Greift in den Busen, - Klopft an und fragt Euer Herz, ob nichts drin wohnt, - Gleich meines Bruders Fehl. Wenn’s nur bekennt - Natur_trieb_, so zu sündigen wie er, - So tön’ auf Eurer Zunge auch kein Laut - Von meines Bruders Tod. - -Nönnlein! Nönnlein! Nur allzu gut ist dir geglückt, was du da -unternahmst! Isabella hat Herrn Angelo mit diesen Worten, mit all -ihrem schönheitsvollen, seelenberauschten Wesen das Amtsgewand -heruntergezogen; aber der Arme, der Gepeinigte, der Peiniger seiner -selbst! Darunter ist, meint er, nicht die seelenvolle Güte und Gnade, -sondern der nackte, pochende, fiebrig gierende Leib. Wir aber, die -wir ihn besser kennen, als er sich selbst, dürfen vorwegnehmend -sagen: der Mann, der so lange den kalten Juristen sich und der Welt -vorgespielt hat, der strenge Mann, der sich selbst vergewaltigt, der -seine Triebe unterdrückt hat, der vielleicht von einer Gewissensschuld -erdrückt wird, die er weit aus dem Gedächtnis verbannt, der nimmt -da etwas für Brunst, für wütende, unwiderstehliche Geilheit, was -seelische Innigkeit, was Mitfreude wäre, wenn er seine gute Natur nicht -verfälscht und verwandelt hätte. Kaum ist sie weg -- denn sowie er die -Sinnlichkeit deutlich in sich hochsteigen fühlt, schickt er sie eilends -fort, morgen soll sie wiederkommen, er flieht vor ihr und vor sich -selbst, indem er sie für heute entläßt, aber -- wie vielfältig ist der -Mensch! -- heute sind auch Zeugen bei der Unterredung, morgen werden -sie wohl allein sein -- da bekennt er sich, da fragt er sich staunend: - - Ist es möglich denn, - Daß Sittsamkeit mehr unsre Sinne aufrührt - Als Weiberlockung? - -Es ist nur möglich bei Gewaltsmännern gleich ihm, die so anfällig sind, -daß sich in ihnen die wunderzarte Erotik, die bei jeder Seelenfreude, -Seelenbewegtheit auch das Geschlecht leise rege macht, in tobende Sucht -verwandelt. Er wehrt sich, wehrt sich mit gewaltiger Anstrengung, hält -sich ihre Reinheit, ihre Tugend, ihre Himmelsart vor, aber gerade -damit, daß er ihre Seelenschönheit und den Ausdruck, den sie im -bewegten Leibe findet, vor seine verwahrloste und verderbte Phantasie -stellt, wird sein schmerzlich-begehrender Überwältigungstrieb zu diesem -Weibe hin immer ärger. - -Dieses Gespräch zwischen Angelo und Isabella ist von dem zweiten, -das, wir fühlen es voraus, entscheidend sein wird, nur durch eine -kurze Szene getrennt, die uns in unsrer erwartungsvollen Erregung -eine Trosteshoffnung bringt: der hinter alledem steht, der diese -Zwischenzeit der Prüfung gewollt und so ähnliche Ereignisse vielleicht -gar vorhergesehen hat, der Herzog ist als Mönch in dem Gefängnis -eingetroffen, in dem der junge Claudio auf seinen Tod wartet, und -versteht sich gut mit dem braven, menschenfreundlichen Kerkermeister. -Und dann sind wir wieder bei Herrn Angelo. Er erwartet Isabella; er -möchte beten, aber Isabellas Gestalt tritt zwischen ihn und Gott; -er will sich an den Staat, dem sonst all seine Gedanken gelten, -anklammern, aber mit einem Mal, zum ersten Mal, findet er diese -Beschäftigung langweilig und abgedroschen. Sonst streckte er sich stolz -in Amt und Würde hinein und stand aufrecht und -- er bekennt es sich --- eitel in dieser Figurine da; jetzt sieht er ein: Rang und Form sind -äußre Schale und Gewand, doch - - Blut bleibt Blut! - -Isabella, die nun bei dem Gepeinigten eintritt und gleich wieder -als „schönes Mädchen“ begrüßt wird, hat am Tag zuvor alles gesagt, -was sie irgend weiß; sie ist wieder herb und spröde geworden; und -wie sie aus Angelos ersten, gepreßten Reden entnimmt, es müsse beim -Todesurteil bleiben, wendet sie sich zum Gehen. Er hält sie aber auf, -zunächst mit einem furchtbar heftigen Ausbruch, äußerlich gegen das -Laster, das ihren Bruder zur Verdammung gebracht hat; er braucht aber -diese leidenschaftlich aufwallende Rede, einmal, um seine eigne Glut -irgendwie herauszulassen, dann, um mit dem Inhalt dessen, was er sagt, -eben diese seine Wildheit in gewalttätiger Unterdrückung zu zähmen. -So schäumt er gegen die unsaubere Lust, die das Standesamtsregister -des Staates bastardiert, die Akten fälscht, das Leben der Neugebornen -fälscht und in unheilvolle Bahnen lenkt; solche Zeugung ist nichts -Bessres als Mord! Für staatsrechtliche und gesellschaftliche Argumente -der Art, wie sie sein verzweifelter Kampf gegen sich selbst ihm aus -dem bereiten Vorrat seiner Studien und Gesinnungen jetzt über die -Lippen bringt, hat sie wenig Sinn; was ihr Bruder getan, ist ihr eine -schwere Sünde vor Gott und eine Unordentlichkeit, die ihr widerwärtig -ist; kein Verbrechen, das auf Erden, dem Staat gegenüber, mit dem Tode -gesühnt werden müßte. Bei diesen ihren Worten jubelt es in ihm; sie -wird also zu gewinnen sein, sagt er sich; er gibt den Kampf gegen sich -auf und geht zum Kampf gegen sie, zu seiner Art der Werbung über. Ganz -erbarmenswürdig, ganz erbärmlich geht er da vor; er denkt nicht daran, -sein Begehren nach ihr nun vor allen Dingen loszulösen von dem Fall -ihres Bruders; er denkt nicht daran und versteht es nicht, sich bei -dieser Frau liebenswert zu machen; seine Gier kann er nicht trennen -von der Situation, durch die sie ihm, wähnt er, verfallen ist. Haben, -erobern, besitzen will er sie, da in ihm Gewalt des Triebs hämmert, mit -Gewalt; die Gewalt des Triebs setzt sich bei diesem Mann, der darin -geübt ist, den Trieb durch den Geist zu unterdrücken, jetzt, wo er ihn -loslassen will, zur Vermittlung in Logik um. Das ist sein Instrument; -raffinierte Manneslogik soll ihm zur Vergewaltigung, zu nicht viel -Besserem als zur Notzucht dienen; in ein Dilemma, in diese gespreizte -Gabel der Logik will er sie hineintreiben. - -So legt er ihr zunächst die Frage vor, was ihr lieber wäre: daß ihr -Bruder stürbe oder daß sie ihren Leib derselben lustvollen Unsauberkeit -hingäbe, wie jenes Weib, das ihr Bruder befleckte? Sie ahnt nicht im -entferntesten, was der Mann, den sie nun als starren Theoretiker schon -kennen gelernt hat, mit der Abschweifung will, und erwidert zerstreut, -aus frommer Gewöhnung heraus, den Leib würde sie gewiß eher geben als -die Seele. Er antwortet ungeduldig; mit greulich dummer Brutalität -versteht er so, als meine sie, eine beseelte Liebe, die zu solcher -Sünde führe, wäre ihr ärger als die Preisgabe des Leibes selbst; und zu -ihrer Beruhigung sagt er, die Seele könne ganz aus dem Spiele bleiben; -es handle sich um eine pure Zwangslage. Sie versteht nicht, und er will -jetzt ganz deutlich werden: - - Darauf nur gebt Antwort: - Ich, jetzt der Mund des gült’gen Rechtes, fälle - Ein Urteil über Eures Bruders Leben; - Wär’ etwa nicht Barmherzigkeit die Sünde, - Die Euren Bruder rettete? - -Entzückend, wie sie nicht im entferntesten versteht, was er meint, -ganz sicher aber ist, recht zu verstehen; ja, er will barmherzig sein! -Und eifrig, beglückt versichert sie ihm, das wäre keine Sünde, solche -Gnade sei nur Barmherzigkeit. So geht es nun noch eine Weile mit dem -Mißverstehen hin und her; der elende Tropf wird ärgerlich und redet -grob, wie er wohl in schlechter Laune als Untersuchungsrichter mit -einer unlogischen oder schlauen Angeklagten umgegangen wäre; und so -legt er ihr denn knappe, ganz klare Fragen vor, um ihr jeden Ausweg -zu verrammeln. Der Bruder muß sterben; das Gesetz spricht klar dieses -Urteil. Das muß sie zugeben. Nun aber, wo er ihr bedeuten will, wie -der Bruder noch zu retten sei, hindert ihn doch die Scham, direkt -herauszureden; er setzt einen Fall, wie aus der Moralkasuistik. -Gesetzt den Fall, der Bruder wäre vom Tod nur zu retten durch einen -Mächtigen oder Einflußreichen; und „dieser Supponierte“ stellte zur -Bedingung, daß sie, die Schwester, ihm ihren Leib preisgäbe; was würde -sie tun? - -Die Frage ist nun klar; nur daß sie noch immer keine Ahnung hat, warum -er so fragt. Sie zögert keinen Augenblick mit ihrer entschiedenen -Antwort. Wo’s um die Tugend geht, die von Seele und Züchtigkeit geboten -wird, ist sie so fest bis zur Härte, wie er’s bis vor kurzem war, wenn -sich’s um die Tugend handelte, wie sie Staat und Gesetz vorschreiben. -Nur daß in der edeln Frau die Tugend keine Idee, sondern zur Natur -gewordene seelische Notwendigkeit ist, während im Mann -- selbst wenn -ihm, wie Herrn Angelo, Adel nicht fehlt -- die Staatsidee immer eine -kahle Sache der Überlegung und des Verstandes bleibt, die sich gegen -ursprünglichen Naturtrieb niemals behaupten kann. Was sie tun würde? -Qualvoll sterben würde sie lieber -- für ihren Bruder wie um ihrer -selbst willen --, ehe sie den Leib der Schmach gäbe. - - Viel besser, daß ein Bruder einmal sterbe, - Als daß, ihn frei zu kaufen, eine Schwester - Auf ewig stürbe. - -Er gibt es noch nicht auf, sie mit Theoretisieren zu fangen. Aber sie -ist jetzt, in der Wallung des Zorns bei der bloßen Vorstellung solchen -Schimpfs, wieder glühend geworden und repliziert schlagkräftig. Er -möchte ihre Härte erweichen und meint grob aufmunternd: - - Gebrechlich sind wir alle! - -sagt es aber nicht entschuldigend für Claudio, nicht einmal so recht -für sich selber, sondern für die Weiber. Da gibt sie, und wundervoll -wirkt in dieser Situation die unschuldige Lebhaftigkeit ihres Geistes, -auf dieses sein Wort: Nein, auch die Weiber sind gebrechlich! zur -Antwort: - - Ja, wie der Spiegel, drin sie sich beschaun, - Der so leicht bricht, wie er Gestalten formt. - Das Weib! -- Weiß Gott, der Mann entwürdigt sich, - Nutzt er _den_ Vorteil! Nennt uns zehnmal schwach, - Denn wir sind sanft, so sanft wie unser Bau, - Und trauen falscher Prägung. - -Jetzt glaubt der Mann, den die Vermengung des Triebs mit entartetem, -willfährigem Verstand zum bösen, verrannten Narren gemacht hat und den -dazu noch gerade bei diesem Bilde des schwachen, leicht verführten -Weibes eine persönliche Erinnerung ermuntern mag, sie zu haben. Sie -redet der Schwäche der Frauen das Wort; nun -- er faßt sich einen -gewaltigen Mut -- wir Männer sind auch nicht stärker. Sie soll nur ein -Weib sein; mehr tut gar nicht not. Und er wird deutlich genug, daß sie -endlich verstehen muß, was er ihr anträgt. Erst will sie immer noch -annehmen, er wolle sie prüfen; wie er dann aber „auf Ehre“ erwidert, es -sei ihm Ernst, muß sie’s glauben. Kaum einen Augenblick verweilt sie, -deren Sittsamkeit so rein wie ihr Denken schnell ist, bei der Schmach, -die dieser Antrag ihr antut; ihr liegt bei dem ganzen Gespräch nichts -im Sinn wie ihr Bruder. Jetzt, glaubt sie, muß er gerettet sein: sie -scheut die Erpressung gegen den elenden Machthaber nicht: - - Gleich stell’ des Bruders Gnadenbrief mir aus, - Sonst künd’ ich aller Welt aus lautem Hals, - Was für ein Mann du bist. - -Ihm aber, der die Schwelle der Schamlosigkeit überschritten hat, ist -nun keine Wahl mehr geblieben. Er kann nicht, er will nicht zurück; -seine Gier läßt sich so nicht abweisen. Ihre Drohung schreckt ihn -nicht; wer wird ihr denn glauben, wenn er’s abschwört? Solche Anklage -gegen ihn, den Vertreter des Fürsten, dessen Ruf fleckenlos ist, dessen -strenges Leben die Welt kennt? Einen Tag noch gibt er ihr Frist; bis -dahin muß sie nachgeben; sonst stirbt ihr Bruder nicht den einfachen -jetzt mehr, den martervollen, schweren, langsamen Foltertod. - -Damit verläßt er sie. Und sofort sieht sie ein: ihr letzter Versuch -ist gescheitert; sie kann die Gnade nicht erpressen. Ihr Bruder ist -zum Tode verurteilt; jetzt auch von ihr; um ihrer Ehre willen muß er -sterben. Sie geht zu ihm, um ihm das zu sagen: er stirbt nicht mehr -bloß für sein heißes Blut; er stirbt für die Reinheit seiner Schwester. - -Wiewohl sich alles um die Rettung dieses Bruders drehte, galt unser -Anteil bisher viel mehr Herrn Angelo und Claudios Schwester, die ihn -nun beide verurteilt haben. Jetzt, wo Angelo für lange zurücktritt, -lernen wir Claudio kennen; durch den Konflikt zwischen Angelo und -Isabella, der fürs erste in der Schwebe bleibt, ist, wir sehen es -voraus, ein Konflikt zwischen den Geschwistern reif geworden. In -dem Moment, wo der dritte Akt beginnt, stehen wir zwischen der -physischen Möglichkeit und der psychischen Unmöglichkeit mitten inne: -Claudio kann durch Isabella gerettet werden; er kann nicht durch sie -gerettet werden. Der Vorhang geht auf; wir sehen den Herzog-Mönch -bei dem zum Tod Verurteilten und sagen uns noch stärker als zuvor: -Der aber, der wahre Fürst, wird ihn retten! Der Mönch bereitet den -Gefangenen indessen zum Tod vor und spendet ihm die Tröstung keineswegs -christlicher Verheißung, sondern allerbitterster pessimistischer -Philosophie. Der Mann, der sich in den Tod finden soll, erfährt von dem -erfahrenen, leidgeprüften Pilger durch sein Reich, was das Leben ist. -Claudio, dessen Gemüt rasch bewegt und dem Moment unterworfen ist, ist -für den Augenblick ruhig: - - Auf Leben hoff’ ich, bin gefaßt auf Tod. - -Da sagt der Mönch, und diese große Rede, die weniger auf den Tod -vorbereiten als den Tod im Leben, die Abgeschiedenheit, lehren will, -wollen wir ausführlich vernehmen: - - Seid’s unbedingt auf Tod. Tod oder Leben - Wird dadurch süßer. _Redet so zum Leben_: - Wenn ich dich lasse, lasse ich ein Ding, - Dran nur ein Tor sich hängt. Ein Hauch bist du, - Abhängig jeder Änderung der Luft, - Wie sie die Wohnung hier, in der du weilst, - Stündlich bedroht. Du bist des Todes Narr; - Durch deine Flucht strebst du ihm zu entgehn, - Und rennst ihm stets doch zu. Du bist nicht edel; - Denn alles Angenehme, was du hegst, - Stammt aus Gemeinem. Du bist gar nicht tapfer; - Denn dir macht Angst das schmale Züngelchen - Des armen Wurms. Dein bestes Ruhn ist Schlaf, - Den suchst du täglich, doch dich schreckt dein Tod, - Der auch nichts mehr ist. Du bist nicht du selbst, - Denn du bestehst durch Tausende von Körnern, - Aus Staub entsprossen. Glücklich bist du nicht, - Denn was du nicht hast, strebst du stets zu fassen - Und gibst auf, was du hast. Du bist nicht stetig, - Denn deine Farb’ ist launisch wandelbar, - So wie der Mond... Nicht Jugend und nicht Alter - Hast du, nur gleichsam den Nachmittagsschlaf, - Der beides träumt; all deine selige Jugend - Tut wie bejahrt und bettelt lahme Greise - Um Gaben an. Und bist du alt und reich, - So fehlt dir Glut und Trieb, Gelenk und Schönheit, - Des Reichtums froh zu sein. Was ist doch dies? - Das Leben heißen darf? Birgt doch dies Leben - Viel tausend Tode, -- und wir scheun den Tod, - Der alles ausgleicht? - -Erst ist Claudio davon wunderbar besänftigt; dann aber, wie zum Mönch -der skeptischen Resignation mit frommem Friedensgruß die Nonne in -dieses Gefängnis dazukommt, wie die Lichte aber nicht die Erlösung -bringt, sondern den Zweifel, da kommt die Todesangst über ihn. - -Ihr ist es notwendig, ihm alles zu sagen; keineswegs um ihm die -Entscheidung zu überlassen; so lieb sie ihn hat, so sehr wir ihr -glauben, daß sie ihr Leben an seine Rettung setzen würde, in dieser -Sache gibt es keine Beratung und keine Wahl für sie. Sie will aber, -daß er sie stützt, daß er jeden Gedanken an ihr Opfer verwirft; -daß sein Tod jetzt einen Sinn bekommt: er soll wissen, daß er für -seine Schwester stirbt. Mit dieser Absicht ist sie gekommen; jetzt -aber, wo sie seine weichen Züge sieht, bangt sie im voraus vor dem, -was nicht ausbleibt. Erst, wie er’s vernimmt, ist er entsetzt, daß -sein strenger Richter so dastehn soll; dann sieht er ein, daß sie -sich nicht preisgeben darf, und will sich in den Tod, vor dem jetzt -keine Rettung mehr ist, finden. Aber es regt sich ein Sinnen in ihm; -also dieser erhabene weisheitsvolle Mann ist doch auch dem Trieb -unterworfen! Claudio wagt nicht zu sagen, kaum auszudenken, wie ihm -von dieser Vorstellung, daß die Lust doch mächtiger sei als alles, die -Gedanken von Angelo zur Schwester, von der Schwester, die nun über sein -Schicksal verfügt, zu seiner eigenen Lebenslust irren. O Isabella! Mehr -vermag er noch nicht als diesen Ausruf; und dann, immer noch wieder -gebändigt und bedächtig, sinnt er vor sich hin: - - Sterben ist schrecklich -- - -Wie sie aber, schon in streng vestalischer Abwehrstellung, erwidert: - - Und schmachvoll Leben greulich, - -da, wo für ihn auf der einen Seite das Leben, sein Leben, steht, -auf der andern -- ein Nichts, ein Wort, eine Tugend, von deren -Notwendigkeit seine eigne Natur kein Wissen und keine Erfahrung -hat, die ihm ein so kaltes Schema ist wie der Staatsgedanke, dem er -geopfert werden soll, da wallt die Todesangst zu einem gewaltigen -Ausbruch heraus. Vergessen auch alles, was der Mönch -- der, ohne daß -die beiden es wissen, alles mit anhört -- Schlimmes an die Adresse -des Lebens gesagt hat; nur leben, leben will Claudio, leben um -jeden Preis! Er sieht das Grauen des Grabes vor sich, er ist in der -Situation des Prinzen von Homburg, und ich zweifle nicht, daß Kleist, -dem dieses Stück ja auch sonst so ganz besonders, so unsäglich nah -gehn mußte, aus dieser Szene den Mut zur Fassungslosigkeit seines -Prinzen geschöpft hat; geht Kleists Szene darin über Shakespeares -hinaus, daß sein romantischer Prinz sonst von Natur und Gewöhnung in -der Rolle des Helden steht, so ist wiederum Claudios Ausbruch insofern -erschütternder, als dieser weiche Genießer nicht bloß die eigne Würde -wegwirft, sondern die Schwester anbettelt, sie solle um seinetwillen -sich in Schmach und Ekel stürzen: - - Ja, aber sterben! gehn, wer weiß, wohin, - Daliegen kalt und reglos starr und faulen, - Aus sinnbegabter, warmer Regsamkeit - Verschrumpft zum Kloß; der Geist, noch lebensfroh, - Getaucht in Feuerwogen, hingebannt - In schaudernde Gefilde ew’gen Eises; - Im Kerker unsichtbarer Sturmgewalt - Rastlos gejagt rund um die schwebende - Weltkugel; ja, noch Schlimmres als das Schlimmste - Von dem, was zügellose Phantasie - Sich heulend ausmalt -- gräßlich, schauderhaft! - Die schwerste Last von Lebensmühsal hier, - Was Alter, Armut, Schmerz, Einkerkerung - Dem Menschen auferlegt, ist Paradies, - Mit dem verglichen, was der Tod uns droht. - -- -- -- - O Schwester! laß mich leben! - Was für des Bruders Leben du auch tust, - Oh, die Natur rechtfertigt es so sehr, - Daß es zur Tugend wird. - -Erst war die Schwester bei diesen apokalyptischen Bildern von den -unausdenkbaren Schrecknissen, die der Seele im Tode warten, unnennbar -erschüttert worden, ins Gewissen hinein; was kann den fühlenden -Menschen schwerer treffen, als wenn er aktiv hilflos sein muß: wenn -er physisch erretten könnte, aber angesichts bitterster Not in dem -moralischen Entschluß steht, stehn muß, nichts zu tun? Wie Claudio -dann aber seinen fassungslosen Jammer in diesen Anruf münden läßt, da -schlägt all ihre Innigkeit in lodernde Empörung um. Über alle Grenzen -setzt ihre Verachtung gegen diesen Wicht vor ihr, der um diesen Preis -sein Leben erhandeln möchte. Sie spricht ihm endgültig das Todesurteil; -sie kann ihn nicht retten; das wußte sie vorher; er verdient nicht zu -leben; das empfindet sie jetzt und sagt es ihm. - -Da tritt der Herzog dazu. Was hat er gehört! Von all diesen -Zusammenhängen, von seinem Statthalter Angelo! - - Die Probe lehrt, - Wie sich im Machtbesitz der Schein bewährt. - -Er hat’s geahnt, als er das sagte; diese drei, Angelo, Claudio und -Isabella, sind geprüft worden und haben ihr Innerstes, ihr Äußerstes -gezeigt; über ihre Grenze gegangen sind sie -- alle drei. Nun ist’s -höchste Zeit, einzugreifen, nach dem Rechten zu sehn und diese -verirrten Menschenkinder zu ihrem Maß zurückzuführen. Angelo zwar -- -das muß noch näher untersucht, muß sehr behutsam behandelt werden. Die -entfernte Möglichkeit, daß er das Mädchen nur prüfen wollte, liegt -immerhin vor; und sehr wahrscheinlich ist es zum mindesten, daß er sich -so ausreden würde. - -Das Drama ist in den drei Gestalten Angelo, Isabella, Claudio und ihren -Erlebnissen an einander bis zur Tragik gediehen. Nur das Vorspiel, nur -die Gewißheit, daß wir in einer Zwischenzeit der Prüfung sind, und die -Gestalt des Herzogs haben uns immer getröstet. Wie er jetzt mitten -in den exzentrischen Überschwang der todesbangen Lebenslust und der -lustverächterischen Tugend dazwischentritt, wie in die zum Höchsten -gesteigerte Verssprache seine kluge, sichere Prosa hineinredet, da -werden wir ganz ruhig, da biegt der Konflikt der von der Leidenschaft -Fortgerissenen in das überlegene Spiel eines Weisen, die Tragik in die -Komik um. - -Wir wissen, der Herzog hat Angelo schon lange beobachtet und hat -Mißtrauen gegen seine Tugend gehegt; aber wir wußten nicht, daß er -mehr von ihm weiß, als wir bisher erfahren haben. Jetzt, so spät in -diesem Stück, dessen ganze Technik von allem Anfang an darauf angelegt -ist, Herrn Angelo sehr allmählich und immer mehr die Hüllen zu nehmen, -erfahren wir aus dem Gespräch des Herzog-Mönchs mit Isabella, was -Angelo noch auf dem Gewissen hat. Wir haben gesehen, wie dieser Jurist, -dieser Staatsheilige es seinem Intellekt erlaubt hat, seit langem die -Triebe und die Seele zu vergewaltigen; jetzt hören wir das Schlimmste, -was er sich und vor allem einem andern Menschen angetan hat. Er hat -eine Braut gehabt; hat es elenden Verstandesgründen erlaubt, die Liebe -zu diesem Mädchen, die er hegte, in ihm zu ersticken; hat diese Mariana -um einer verloren gegangenen Mitgift willen sitzen lassen. Jetzt -vereint der kluge Herzog, der Philisterbedenken nicht kennt, vielmehr -seiner herrlichen Losung folgt: - - Tugend ist kühn und Güte niemals furchtsam, - -der Mönch flicht Claudios Todesnot, Angelos Brunst, Isabellas tapfere -Tugend, Marianas Liebessehnsucht in eines: Isabella soll Angelo ein -kurzes nächtliches Liebesbeisammensein bewilligen; Angelo soll, ohne es -zu ahnen, statt ihrer Mariana umarmen: - - Damit ist Euer Bruder gerettet, Eure Ehre unbefleckt, die arme - Mariana versorgt und der arge Statthalter entlarvt. - -Wären wir von vornherein in einem lustigen Spiel gewesen, wo dann -aber von Anfang an Mariana dabei gewesen wäre, so wäre diese Lösung -nichts weiter als ein höchst übermütiges Motiv. Nun aber, wo wir so -zu teilnehmender Not hochgeführt worden sind, wo sich uns allmählich -erst das Rätsel Angelo erschlossen hat, das für uns immer noch nicht -ganz erklärt ist, von dem wir jetzt eben wieder Neues erfahren haben -und auf dessen noch tiefere Ergründung wir gefaßt sind, nun ist uns -diese plötzliche Wendung eine wahrhafte Erlösung. Der Dichter und sein -fürstlicher Mönch schalten mit uns, als ob die strafende Rede, die -dieser ans arge Leben gehalten hat, Wirkung getan hätte: das Leben -ist in sich gegangen; seine bebende Not und Gefahr war nur Schein -und Prüfung; alles, was wir da als Grauen erlebt zu haben glaubten, -ist, wenn wir näher zusehen, gar keine Wirklichkeit, ist nur Spiel, -sinnvolles Spiel, in dem sich die Bilder des Wesens tummeln. Und mit -einem Sinnspruch in dem Bänkelsängerton, den Shakespeare liebt, wenn er -die Naturgewalt der Tragik in das freie Spiel überleitet, faßt darum -der Herzog-Mönch die vergangene und künftige Handlung zusammen und -beschließt damit den dritten Akt. - -Und doch wäre es -- mit Goethe zu reden -- ein klattriges Motiv, -welche Aushilfsrolle diese Mariana spielen soll, wenn der Dichter, -der so meisterhaft von innen heraus komponiert, Mariana nicht bei -ihrem ersten, späten Auftreten zu Beginn des vierten Aktes wie -umlodert zeigte vom Feuermantel der Liebesglut, die, verschmäht, in -sie zurückgeschlagen ist. Da verliert sich sofort der Eindruck, ein -Menschenkind solle als Mittel dienen, dazu noch mit seinem Geschlecht; -wir erleben, wie die Liebesvereinigung dieser Süchtigen eigenes, -äußerstes Bedürfnis ist. - -Sie sitzt da, passiv, lechzend, wartend auf nichts; sie hört -schmachtend zu, wie ein Knabe ihr ein Lied, ihr Lied, das Lied ihres -brünstigen Verlangens und ihrer Verlassenheit vorsingt; eines der -wunderbarsten Liebeslieder, in dem die ganze Wonne des Schmerzes, der -ganze Schmerz der Brunst liegt; keine Übersetzung kann ihm Genüge tun: - - Weg, o weg die Lippen dein, - Die so süßen Meineid schworen; - Weg dies Auge, Funkelschein, - Licht, das mir die Nacht geboren. - Nur die Küsse bring zurück, bring zurück, - Liebessiegel, falsche Siegel falschem Glück, falschem Glück! - -Es geschieht nun alles nach dem Plan des Herzogs. Aber der weise -Dichter, der die Sensation, das bloße Sinnenbild, auch wenn es von -zentraler Bedeutung ist, gerne im Hintergrund läßt, wenn es die innere -Entwicklung nicht fördert und bloß die Erfüllung dessen zeigt, was wir -in der Anlage miterlebt haben; und der die Sensation im gröberen Sinn -des Wortes gewiß nicht auf die Bühne zieht, läßt nun alles, was wir -im Entwurf schon kennen, im Hintergrund vor sich gehn: wir sind nicht -bei Isabellas Gespräch mit Angelo, in dem sie ihm zusagt, sich ihm -preiszugeben; nicht einmal bei der Einweihung Marianas in den Plan, -und gewiß nicht bei Mariana-Isabellas nächtlicher Begegnung mit Herrn -Angelo. Shakespeare mit seinem zarten Takt hat Bühne und Sichtbarkeit -aufs feinste unterschieden: nichts, was geeignet war, das Menschenwesen -zu ergründen, hat er, der freie Geist, der er war, von der Bühne -verbannt; aber er hat auch gewußt, daß keusche Ohren in der Form der -Sprache, welche durch die Verwandlung des Sinnlichen in Geist alles -rein zu machen imstande ist, alles hören können, daß aber nicht alles -in sinnlicher Erscheinung gezeigt werden kann. So ist es unsäglich -weise, frei und witzig von ihm, daß er auf der Stufe der Handlung, wo -unzüchtige Seelen, deren es unter seinem Publikum genau so gut gab -wie unter seinen Kommentatoren späterer Jahrhunderte, Sinnenkitzel -und angenehmes Ärgernis von den Vorgängen erwarteten, die Bühne statt -dessen mit Szenen aus der niederen Welt der Kuppler und Verbrecher -füllte, wo eben die Gemeinheit nicht vor Augen, sondern zu Sprache und -robustem Spaß gebracht wird. - -Die Zusammenhänge von Brunst und Machtgier, wie sie von Shakespeare -auch in andern Stücken aufgezeigt werden, stehen in der besondern Art -in der Mitte dieses Dramas, daß der Machthaber ein rigoristischer -Staatstyrann ist, solange er den Trieb zurückdrängt und ein Diener -am Wort ist, daß er dann ganz schlecht, in jedem Sinn wortbrüchig, -verräterisch und nur mehr auf seine Stellung und Sicherheit bedacht -werden muß, sowie die Lust ihn überwunden hat. Wollust wie Tyrannei -aber hat der Dichter diesmal noch in andre Verbindungen gebracht: wir -wandern vom Palast des Tyrannen zum Gefängnis, zu den Verbrechern, -zu den Henkern; von der Sinnengier des Mächtigen zu den Lieferanten -der Genußbefriedigung und den leichtlebigen Genießern; und durch das -alles geht noch das Verhältnis des Menschen zu der Instanz hindurch, -die, sollte man meinen, ihm die Lebenslust am gründlichsten austreiben -könnte: zum Tod. Wir sehen den prachtvollen Kerl, den Zigeunermörder -Bernardin, den sein langjähriger Aufenthalt im Gefängnis so wenig wie -der Gedanke an die seit vielen Jahren immer mal wieder bevorstehende -Hinrichtung oder ans Jenseits vom lustigen Leben abbringen kann, den -vollendeten Gegensatz in seiner zynisch robusten Gesundheit zu dem -weich genießerischen Claudio und seiner Todesangst; und wir gewahren: -nicht der Staat und nicht einmal der Tod mit ihrer Drohung von außen -vermögen es, die Triebe im Zaum zu halten und die Menschen entscheidend -auf neuen Weg zu bringen; nur zwei Menschen in diesem Drama, die vom -innern Sinn bedeutungsvoll zusammengedrängt werden, haben vermocht, die -Lust des Lebens, die übergreift und ausbricht, zu beschränken, mit dem -Tod einzuschränken, den sie in ihr Leben aufgenommen haben, mit der -Ordnung und Zucht, die nicht von außen auferlegt wird, sondern die das -Bedürfnis ihrer Seelen ist: Isabella und der Herzog, die Nonne und der -Mönch. - -Das ist die Sphäre dieses Stückes: von der liederlichen Gemeinheit -und denen, die mit dem Geschlechtstrieb Handel treiben, zu dem -Männerpaar Claudio und Angelo zunächst; der eine umgeht die Ehe und -scheut sich nicht vor allerlei dunklem Schmutz für sich, seine Liebste -und ihr Kind, weil er auf eine Mitgift wartet; der andre bricht -das Ehegelöbnis, weil die Mitgift verloren ist; sitzt über seinen -unsittlichen Bruder zu Gericht und schickt ihn in den Tod; drängt den -Trieb zurück, bis er alle Schranken durchbricht und Geist und Macht -als Werkzeuge der Vergewaltigung benutzt. Und eine Stufe höher Mariana, -der die Sinnlichkeit des Leibes in die Seeleninnigkeit flammt; deren -Sehnsucht und Wollust duftet, und tönt und von der sich Angelo, der -ehrlich seinen Geist nüchtern und frei vom Trieb halten möchte -- es -wird genügend angedeutet --, vielleicht doch nicht bloß aus schnöden -Besitzgründen getrennt hatte. Und hoch hinauf endlich zu den beiden, -die uns lange vor dem schönen Schlusse, der sie zusammenfügt, als -Paar zu einander gehören: zu dem Herzog und Isabella. Der Herzog, -ein gereifter Mann, dem zwar um seiner Milde und der geheimnisvollen -Geborgenheit willen, die dem ernsten Manne unter Menschen notwendig -ist, die lästernde Liederlichkeit geheime Sünden nachredet, der aber -in der Reinheit steht, bis er seine weibliche Ergänzung gefunden hat; -Isabella, Marianas Gegenbild, die nicht wie der Herzog das Klosterkleid -zu sinnvoller Vermummung bloß gewählt hatte, die einen Widerwillen -gegen alle Sinnenlust im Herzen trug und voll verdammender Härte war; -welche Wirren und Nöte erst, welche Kühnheit und Überschreitung der -Grenzen mußten kommen, um ihren Geist zur Natur zu bringen, um ihre -Seele zu vermögen, beruhigt, ohne Aufruhr und einverstanden im Leibe zu -wohnen. - -Von unten nach oben, die Skala der Sinnlichkeit immer wieder berührend -und kreuzend, geht’s auch im Bezirk der Macht. Ganz draußen bleiben -die Wiener Lüstlinge, in deren Gesellschaft sich auch Claudio gefällt, -Genießende, die im Schutz der Macht Bevorzugte sind, bis die Macht -daran geht, sie als geile Schmarotzer auszurotten; ganz drunten steht -Bernardin, der brutale Mörder; es folgen die Berufsoffiziere, die -den Krieg um des Kriegs willen treiben und sich selbst mit Piraten -vergleichen; der Konstabel Ellbogen, ein Duplikat Holzapfels aus -Viel Lärm um nichts, eine der aus Dummheit, Brutalität, Gutmütigkeit -und Aufgeblasenheit zusammengesetzten Volksgestalten, die es den -studierten Beamten gleichtun möchten; der Henker Abhorson oder -Grauserich, der mit gefühlloser Lust aus dem gesetzlichen Morden nicht -bloß ein Gewerbe, sondern eine Technik und ein System gemacht hat; der -Staatsmann und Jurist Angelo, der auf derselben Stufe stünde, wenn -er nicht die weiten Gesichtspunkte, den Ernst und den Geist und die -Bildung dazu brächte; und oben in reiner Höhe der gütige Kerkermeister -und der nach milder Gerechtigkeit trachtende Herzog, der doch hart, -stetig, ausdauernd, abwartend bis zur Peinigung sein kann, wenn er mit -Menschen zu tun hat, denen es not tut und die es wert sind, erzogen zu -werden. - -Ein solcher Mensch ist für ihn der junge Herr Angelo; ein solcher -Mensch auch Isabella. Um sie beide zu ihrer guten, echten Natur zu -bringen, scheut sich der Herzog nicht, Angelo die Gelegenheit zu -schaffen, wo das Verkehrte in ihm sein Bösestes tun kann, wie ihn kein -Mitleid hindert, Isabella, die in furchtbarer Tugendhärte ihrem Bruder -den Tod gewünscht, seinen Tod als gerecht und verdient bezeichnet hat, -diesen Tod, diese Hinrichtung des Bruders ganz erleben, den Bruder als -tot betrauern zu lassen. - -Denn es geht nun keineswegs alles nach dem Plane des Herzog-Mönchs. -Wohl hat Angelo -- wie er meint -- sein Gelüste an Isabella befriedigt, -rauh, heimlich, nachts, seelenlos, brutal; wie er dann aber die Brunst -gelöscht hat und von der ganzen Glut nichts mehr da ist als brennende, -unauslöschliche Scham, erwägt er, daß gefährlicher als die Anzeige des -geschändeten Mädchens Isabella, von der überdies kaum zu erwarten ist, -daß sie ihre Entehrung kundgeben wird, die Rache des gepeinigten und -um solchen Preis freigegebenen Bruders wäre; er muß den Weg der bösen -Tat bis zu Ende gehen und verfügt die schleunige Hinrichtung Claudios. -Die geschieht, für Angelo und alle Welt; auch Isabella wird nicht in -das Geheimnis eingeweiht; Claudio wird in verborgener Haft gehalten; -ohne sich ganz zu offenbaren, bringt der Mönch den guten Kerkermeister -dazu, Angelo anzuführen und seinen Befehl zu mißachten: der Wackere -weiß, der wahre Fürst wird nun zurückkommen. Wie die Verwirrung am -größten ist, sagt der Herzog zu diesem Wächter der Gefangenen ein -Wort, das in all seiner Leichtigkeit, mit der es uns nahe an traumhaft -spielerische Märchenstimmung trägt, tief erhellend für das Ineinander -äußerer und innerer Wirrnis in diesem tragischen Lustspiel ist: - - Staunt und grübelt nicht darüber, wie dies alles zugeht. Alle - schweren Dinge sind ganz leicht, wenn sie nur erst erkannt sind. - -Sie zur Erkenntnis zu bringen, in ihrer innern Beschaffenheit und -ihrem Zusammenhang, ist die Bestimmung des fünften Akts. Innerlich -ist für uns schon beruhigte Entspannung da; wir sehen in dieser einen -Szene, in der Shakespeare, wie öfter, nach den verwandlungsreichen -früheren Akten alle Verwirrungen zur vollen Höhe häuft, ehe er sie -löst, guten Muts zu, wie die Personen des Stücks, zumal Angelo und -Isabella, vom Herzog noch gehörig auf die Folter gespannt und dann mit -Enthüllungen überrascht werden, mit denen allen wir vom weisen Dichter -dieses Lustspiels schon lange bekannt gemacht worden sind. Angelo und -Isabella! In ganz anderm Sinn, als der junge Wüterich meint, bilden -auch sie denn doch ein Paar. In beiden ist die Tugendstrenge seltsam -nach Art und Grad verschiedene Irrwege gegangen; die Nonne, die es bis -zum wildesten Ausbruch der Unbarmherzigkeit bringt, ist eine adlige -Seele trotzdem; der vom Herzog zur Probe zum Fürsten erhöhte, dadurch -zum Tyrannen gewordene, zwischen Idealismus, Abstraktionshärte und -ichsüchtiger Schnödigkeit hin und her irrende unfertige junge Mann -ist, wir sollen’s nun erleben, nicht minder in seinem besten Wesen ein -adliger Mensch. - -Der Herzog hat, ehe er in Wien wieder einzog, verkünden lassen, wer -irgend sich über erlittene Unbill zu beschweren habe, solle es sofort -bei seinem Einzug tun; unverzüglich, wenn der echte Herr das Regiment -wieder antritt, soll reiner Tisch gemacht werden. Kaum hat er denn den -Statthalter mit Worten höchster Achtung über seine gerechte Verwaltung -des obersten Amtes beglückt, so tritt die trauernde Isabella auf und -fordert, immer das eine Wort wiederholend, mit lauter Stimme, was in -diesem Staat durch Angelo so streng durchgeführt worden sein sollte: - - Recht, ja Recht, Recht, Recht! - -Mariana, hat der Mönch ihr geraten, soll außer Spiel bleiben; so -beschuldigt Isabella Herrn Angelo genau dessen, was er selbst glaubt, -an ihr begangen zu haben. Was tut er, der hochgeehrt neben dem Herzog -sitzt, auf diese entsetzliche, gegen einen Mann wie ihn jedoch höchst -unglaubwürdige Anklage hin? Was wir alle täten, wenn wir erst Schritt -für Schritt uns so mit dem Bösen eingelassen hätten: er leugnet alles, -mit frecher Stirn, und erklärt, Isabellas Verstand habe seit dem -Prozeß gegen ihren Bruder gelitten. Merken wir hier nur darauf: vor -dem Buchstaben des Rechts hat Angelo kein andres Verbrechen begangen -als das gegen Isabella, und das hat er, wir wissen es, nicht begangen; -Claudio war dem Gesetz verfallen, und er hat’s dabei gelassen; es ist -kein Recht gebeugt worden. Und da kommt nun eine und schreit hinaus, -um ihren Bruder, wie es der Statthalter selbst bedungen hätte, zu -retten, hätte sie dem ihre Ehre preisgegeben; aber der Bruder ist ja -hingerichtet worden; wer wird solches wirre Zeug glauben? So scheint -es ganz in Ordnung, daß der Herzog die Anklägerin bis zur weitern -Prüfung der Sache ins Gefängnis abführen läßt; um wahnsinnig zu sein, -redet sie wieder zu klar; es scheint eine Verschwörung gegen Herrn -Angelo vorzuliegen, der von dem heillosen Schmutz, wie er da gegen -ihn geworfen wird, so wenig berührt werden kann, daß der Herzog ihn -auffordert, in dieser seiner eigenen Sache selbst Richter zu sein. - -Was für eine Verwirrung tritt aber nun ein, als von einem Vertrauten -des Herzogs, dem Mönch Peter, geleitet, eine Zeugin auftritt, die -Herrn Angelos Alibi auf die seltsamste Art beweisen soll: da stellt -sich eine hin, die sich für weder verehlicht noch Mädchen noch Witwe -und dann gar für des Statthalters Gattin erklärt und bezeugt: just zu -der Stunde, wo Herr Angelo Isabella fleischlich beigewohnt haben solle, -sei er in ihren Armen gelegen. Gegen diese Behauptung, gegen diese -Anklage, die als Verteidigung auftritt, kann sich Angelo nun mit bestem -Gewissen verwahren; und das hilft ihm, viel freier als zuvor, fast mit -Lächeln über so viel Tollheit, alles zu leugnen, auf die Vermutung -des Herzogs einzugehn und dies schamlose Auftreten zweier Weiber -gegen ihn, der jetzt eben das Land von der Unzucht gereinigt, auf ein -niederträchtiges Komplott zurückzuführen. Er ist auch klug genug, den -Vorschlag des Herzogs, Richter in eigner Sache zu sein, in diesem -Augenblick, wo die Sache für ihn so günstig steht, anzunehmen. So kann -der Herzog, um seinem bisherigen Statthalter sein ganz besonderes -Vertrauen zu bezeigen, sich von der Gerichtsstelle, zu der dieser freie -Platz vor dem Tor geworden ist, entfernen, ohne daß es jemand auffällig -finden darf. Welch köstliche Motivierungskunst in einer auch für den -Dichter fast unmöglich scheinenden Situation; was für eine leichte, -spielende Hand; wie ist das, womit motiviert wird, das Auskunftsmittel -des Dichters, daß der Statthalter seinen Fall selbst zu richten -bekommt, für den Gang der Handlung entscheidend wichtiger, als was zu -motivieren notwendig ist: daß der Herzog fortgeht, damit er in Gestalt -des geheimnisvollen Mönchs wieder erscheinen kann. - -Der Mönch erscheint und braucht stärkste Worte, erst gegen den Herzog --- sich selbst --, der einen Schurken in eigner Sache richten läßt, -dann gegen diesen Elenden nicht nur, der immer noch als oberster -Richter auf dem Thron sitzen darf, sondern im allgemeinen gegen die -Widersprüche zwischen dem Moral- und Gesetzsystem, das im Reich -herrscht, und den wirklichen Zuständen. Er mußte sehen, - - wie hier Entartung kocht und brodelt, - Ja überschäumt; für jeden Fehl Gesetze, - Doch Frevel so beschützt, daß die Verbote, - Wie Sittensprüche in den Baderstuben, - Indem sie Schmach verpönen, sich verhöhnen. - -Das starke Auftreten dieses Mönchs gegen die Sitten der Wiener goldenen -Jugend bringt den Vertreter dieser Gesellschaft, Herrn Lucio, der mit -seiner dreist anmaßenden Geschwätzigkeit auch schon vorher dem Herzog -lästig gefallen war, zum kecken Eingreifen: er will das Gesicht dieses -Sittenpredigers sehen und reißt dem Mönch die Kapuze herunter: alle -erkennen den Herzog. Sofort, noch ehe irgend ein Weiteres enthüllt ist, -gesteht Angelo seine Schuld: er ist, sowie er vor Augen sieht, daß der -Herzog schon lange mit dieser furchtbaren Sache zu tun hat und sein -Tun beobachtet, wie von einem Strahl göttlicher Rache vernichtet: auf -geheimnisvollste Weise, die er nicht begreift, ist einem Zusammenhang, -den er selbst und dazu noch Vorfälle, die ihm rätselhaft sind, aufs -verwirrteste versträhnt haben, die schlichte Klarheit, der wirkliche -Kausalzusammenhang wiedergegeben. Wie eine Erleichterung überkommt es -ihn, daß der Bau des Bösen und der Lüge, den er hat türmen müssen, weil -in seinem Bau der starren Moral der Grundstein ins Rutschen gekommen -war, auf einen Schlag eingestürzt ist: höchst würdig legt er sein -Bekenntnis ab und erbittet sofortiges Gericht, sofortigen Tod. - -Gewiß hat der Herzog, der den Mann von allem Anfange an gekannt hat, -nichts andres erwartet. „Alle schweren Dinge sind ganz leicht, wenn sie -nur erst erkannt sind.“ Der Spruch bewährt sich bei der unglaublichen -Verwirrung aller äußern Geschehnisse; er bewährt sich auch für Angelo. -Eine schwere Last ist von ihm genommen, ein Druck, der seit langem sein -Leben auf schiefe Bahn geschoben hat; mit der Reue, die überraschend -wie der Blitzstrahl über ihn gekommen ist, ist ihm so ganz leicht -geworden. Der Herzog aber macht keine Miene, ihn zu richten; erst tut -andres not. Kurz stellt er fest, daß Angelo und Mariana rechtmäßig -verlobt waren; stracks schickt er beide weg zu schleuniger Vermählung. -Aus diesem Verfahren und dem entsprechenden, das er dann gegen den -heillosen Liederjahn und Verleumder Lucio einschlägt, ergibt sich, daß -in seiner Methode zur Verbesserung der Sitten die Ehe ungefähr die -Rolle spielt, die in Herrn Angelos System Auspeitschung, Einkerkerung -und Hinrichtung eingenommen haben. - -Dann erst, wie dies erste und vielleicht innerlich häßlichste Vergehen -Angelos gut gemacht ist, soll zwischen ihm und Isabella gerichtet -werden. Nun soll Angelo lernen, wie es mit seinem Grundsatz des -starren, strengen, vorbeugenden Rechts bestellt ist: Gleiches mit -Gleichem, Maß für Maß: mit welcherlei Maß ihr messet, so soll euch -wieder gemessen werden! Gut denn; er hat sich das Urteil schon lange -selbst gesprochen: sein Verbrechen ist das Claudios; was er noch -viel Schlimmeres als dieser getan, kann ganz außer Betracht bleiben: -wie Claudio hingerichtet wurde, so soll auch er dem Henker verfallen -sein. Was für ein wahrhaft wonnevoller Gegensatz zwischen dem, was die -Menschen auf der Bühne in diesem Augenblick empfinden und erleben, und -dem, was wir beglückt, heiter, frei wissen: Claudio lebt, Angelo wird -leben! - -So kommt es noch zu einem letzten Gipfel; Isabella, die Tugendstrenge, -die nur mit äußerster Selbstüberwindung für ihren Bruder, dessen Fall -so ganz milde zu betrachten war, eingetreten war, die ihn zum Tod -verurteilte, als Lebensdurst und Todesangst ihn zum winselnden Tier -erniedrigt hatten, Isabella, die diesen Bruder tot glauben muß, tot -durch Schuld dieses Angelo, der ihn als Meineidiger in dem Augenblick -wie ein unsträflicher, erhabener Richter dem Gesetz geopfert und auf -den Richtblock geschickt hat, wo er selbst auf dem selben Gebiet nach -seinem Willen weit Schlimmeres verbrochen hat, Isabella bittet um das -Leben dieses Mannes, der Notzucht abscheulichster Art, Notzucht auf -dem indirekten Weg des Seelenzwangs hat gegen sie begehen wollen; sie -wirft sich vor dem Herzog auf die Knie und spricht: - - Huldreichster Fürst, - Betrachtet, fleh’ ich, diesen schuld’gen Mann, - Als lebte noch mein Bruder. Fast ist mir, - Als habe Ehrlichkeit sein Tun gelenkt, - Bis er sein Aug’ auf mich warf. Ist dem so, - Laßt ihn nicht sterben. Claudio starb nach Recht, - Sofern er wirklich tat, wofür er starb. - Doch Angelo -- -- - Sein Tun kam nach ja nicht der bösen Absicht - Und soll begraben sein als bloße Absicht, - Die nicht ans Ziel gelangt. Denken ist frei, - Und Absicht bloßes Denken. - -Wie sieht man da voller Lust, Lust des Herzens wie auch des unbeschwert -spielenden, rasch sich bewegenden, Ernstes bedenkenden Geistes: auch -die Milde hat ihren scharfen Juristenverstand, -- und wer weiß, ob -diese Porzia-ähnliche Gestalt, diese Isabella, die vor unsern Augen -so gewachsen und gereift und aus klösterlicher Enge zu Menschenweite -und freiem Sinn sich erhoben hat, ob sie, die der reifsten Stufe des -Dichters zugehört, nicht auch Shylock, dessen Untat ja auch beim -Versuch geblieben ist, Gnade, volle erlösende Gnade erwiesen hätte? - -Angelo aber, der jetzt zum ersten Mal ganz und fest in seinem Adel -steht -- wie vielfältig ist der Mensch! und wie groß der Dichter, -der uns die wahrhaft wundervolle Geräumigkeit im Schacht des -Menscheninnern, die Wirklichkeit der Niedertracht wie der Seelengröße -in diesem nämlichen Menschen erleben läßt -- Angelo will den Tod -erdulden: - - Mich schmerzt’s, daß solche Schmerzen ich bereitet, - Und Scham durchdringt so tief mein reuig Herz, - Daß Tod mir lieber als die Gnade ist. - Verdient so hab’ ich’s, laßt’s dabei bewenden. - -In diesem Augenblick kommt des Herzogs Ebenbild und Gehilfe aus dem -einfachen Volk, der Kerkermeister, und bringt den vielfachen Mörder -Bernardin und eine verhüllte Gestalt. - -Dem Mörder, der seit neun Jahren in unverwüstlicher Lebenslust im -Gefängnis sitzt, wird von diesem Herzog, der immer noch in der Tracht -des Mönchs seines Amtes waltet, Leben und Freiheit geschenkt, weil er -keine Todesangst und keine Höllenangst kennt: - - He, Kerl, man sagt, du trägst ein störrisch Herz, - Das Furcht vor nichts hat jenseits dieser Welt, - Und lebest demgemäß. Du bist verurteilt, - Doch deine Schuld auf Erden sei verziehn. - Wend’ aber so die Gnad’ an, daß du denkst - Auf bessre Zukunft. - -~For better times to come~: der Fürst, der Harun al Raschid, -der Geheimnis und Vermummung liebt, der Dichter, der sich in seinen -Gestalten und in der schwebenden Rede hold vielsagender, duftig auf -alles weisender Allgemeinheit verbirgt, sie überlassen es jedem, was -er dabei empfinden und denken will: ein besseres Leben, das dieser der -Freiheit wiedergegebene Mordskerl jetzt beginnen soll; bessere Zustände -und Einrichtungen zwischen den Menschen; das dunkle Reich jenseits des -Todes. - -Da steht noch ein Vermummter; er darf nun in die Klarheit treten: -Claudio lebt! Und er, der genießende Phantasiemensch, der alle -Gräßlichkeiten des Nichtmehrseins und des Jenseits voraus gekostet -hat, hat wahrlich genug ausgestanden, um ferner Leben und Gesellschaft -ernster zu nehmen als vordem: er bedarf keiner Strafe mehr. - -Was für ein Recht übt dieser Herzog, der vom Thron gestiegen war, damit -der Statthalter Angelo die Gesetze wieder wirksam machen sollte! Ein -Mörder wird völlig begnadigt; ein zu Unrecht dem Henker Gestohlener in -die Freiheit geschickt! Und doch atmen wir alle, seit in diesem Reich -er wieder die Lenkung hat, frei und beruhigt die Luft der Reinheit und -spüren die Zucht und eine Ordnung, die nicht vom auferlegten Zwang, die -von innen kommt und ein Band um geprüfte Menschen schlingt. - -Angelo ist nun mit dieser Erscheinung das milde Urteil gesprochen: -da er kein Mann der Gnade ist und auch gegen sich selbst schließlich -keine Gnade noch Barmherzigkeit geübt hat, da er hart und streng auch -gegen sich gewesen ist, soll ihm sein Recht, nichts als sein Recht -werden: Gleiches mit Gleichem, Maß für Maß: Claudios Schicksal, so -war der Rechtsspruch ergangen, solle sein eigenes werden. So darf er -leben und mit dem leidenschaftlichen Weib, das beglückt an ihm hängt, -so glücklich sein, wie er nach dieser Prüfung, nach diesem Fall, nach -dieser Erziehung vermag. Ein Wilder war er in dieser Welt, und seine -angeborene Vornehmheit hatte die Verwilderung mit Starrheit und Strenge -bändigen wollen; die Wildheit brach eruptiv durch und riß alle Dämme -ein; wie wird er nun werden? wie leben? wie wirken? was wird aus -seinem System? aus dem Wortgebäude, das er über der dunklen Schlucht -des Triebs errichtet hatte? Er spricht von dem Augenblick an, wo in -Claudios Gestalt die Gnade erschienen ist, kein Wort mehr. Der alte -Angelo ist vernichtet; die Hoffnung meint zu schauen, er stehe in -seiner Wiedergeburt. - -Und noch ein Menschenkind schweigt: Isabella. Ein wunderbar zarter Zug, -von dem man nur ehrfürchtig reden kann, wie Shakespeare Angelo bei der -Rettung und Isabella bei dem Anblick des wiedergeschenkten Bruders und -bei der Werbung des Herzogs in wortloser Stille verharren läßt. Der -Herzog selbst deutet in verehrender Scheu vor ihrer Menschennatur wie -dem Schicksal, das er selber gelenkt, nur leise an, daß er sie bittet, -die Seine zu werden; wir haben schon lange gefunden, daß die beiden, -der Mehralsmönch und die zum Leben des Menschlichen herangereifte -Nonne, ein edles Paar bilden und in ihrer Zusammengehörigkeit und -Ergänzung, in Klugheit, Innigkeit, Entsagung und Ironie zu Herrschern -in einem Reich milder Weltfrömmigkeit berufen sind. - - -[1] Auf noch eine Verbindung dieses Stückes mit Bacon hinzuweisen will -ich nicht unterlassen. Das juridische Grundmotiv sowohl unsres Dramas -wie Einzelzüge erinnern in der Tat -- man darf sagen, auffallend -- an -eine Ausführung in Bacons vorzüglichem Essay „Über Rechtsprechung“: -„Wenn Strafgesetze lange in Schlaf gelegen haben oder wenn sie für die -Gegenwart nicht mehr passen, sollten sie von klugen Richtern in der -Anwendung eingeschränkt werden: ~Judicis officium est, ut res, ita -tempora rerum~ usw. [Des Richters Amt erstreckt sich auf Dinge wie -Zeiten der Dinge.] In Fällen, wo es um Leben und Tod geht, sollten -die Richter in der Rechtspflege der Gnade gedenken und ein strenges -Auge auf das Beispiel werfen, ein gnädiges aber auf die Person.“ Das -sind in der Tat Gesichtspunkte, denen wir genau so beim Herzog und bei -Isabella begegnen. -- Ich für mein Teil erlaube mir daraus gar nichts -zu folgern, -- so wenig wie aus der Tatsache, daß der Staatsbeamte Lord -Bacon von Verulam, Viscount von St. Albans in seiner Person (~persona~ -heißt Maske) etliche Ähnlichkeit mit Lord Angelo aufweist. Solche -Indizien sind mir noch kein Beweis dafür, daß der gelehrte Whetstone -Bacons Schriften verfaßt hat. - - - - -Macbeth - - -Der Macbeth ist erst aus dem Nachlaß im Jahr 1623 in der Folioausgabe -veröffentlicht worden; verfaßt wird er wohl in der Zeit zwischen 1606 -und 1608 sein; sicher ist, daß ~Dr.~ Forman ihn 1610 im Globetheater hat -aufführen sehen. - -Den Stoff fand Shakespeare wie den des Hamlet, des Lear und manchen -andern in Holinsheds Chronik. In diesem Geschichtswerk findet sich auch -die Begegnung Macbeths mit den drei Zauberfrauen, die man, wie es an -einer Stelle heißt, im Volk für die drei Göttinnen des Schicksals oder -doch für Nymphen oder Feen hielt. Die Begegnung schildert Holinshed so, -daß man schon einen großen, schaurigen Eindruck von der Szene gewinnen -kann: „Macbeth und Banquo ritten zusammen ohne weitere Begleitung nach -Fores, wo der König damals sein Lager hielt, und kamen durch Wälder und -Felder, als ihnen plötzlich in der Mitte einer großen Heide drei Weiber -von fremdem und seltsamem Aussehen begegneten, die Geschöpfen einer -früheren Welt glichen.“ Im übrigen ist uns an dem Bericht der Chronik -besonders das interessant, was Shakespeare nicht brauchen konnte oder -irgendwie verwandeln mußte. Denn der Macbeth der Sagengeschichte, -der siebzehn Jahre lang, von 1040 bis 1057 regierte und Banquo erst -im zehnten Jahr seiner Regierung ermorden ließ, war trotz der Untat, -durch die er auf den Thron kam, bis zu Banquos Ermordung ein guter -Fürst: „Macbeth suchte nach der Abreise der beiden Prinzen sich die -Gunst der schottischen Edlen und Ritter durch große Freigebigkeit zu -gewinnen, und als er sich im friedlichen Besitze des Thrones sah, -begann er die Gesetze zu reformieren und alle Unregelmäßigkeiten und -Mißstände, die sich unter dem schwachen und trägen König Duncan in -die Verwaltung eingeschlichen hatten, auszurotten. Er befreite das -Land auf viele Jahre von allen Räubern und verfuhr hierbei so ohne -Ansehen der Person, daß er selbst viele Thane, wie die von Cathnes, -Sutherland, Stranaverne und Ros, und den Beherrscher von Galloway -hinrichten ließ. Dagegen beschützte er die Kirche und die Geistlichen -auf das sorgsamste und wurde, um kurz zu sein, wie der Verteidiger und -Schild jedes Unschuldigen angesehn.“ Freilich, fügt Holinshed naiv -genug hinzu, war das alles nur erheuchelt. Nach Banquos Ermordung trat -dann seine Grausamkeit und Tyrannei klar zu Tage. Shakespeare, der -auch hier verfährt wie immer und die Regierungszeit König Macbeths -nicht nach irgend einer astronomischen Zeit, sondern nach dem inneren -Verlauf seines Schicksals, nach dem Tempo seiner Lebenskraft und -Intensität bemißt, und der nicht die Wirklichkeit, die Relativität und -Gemischtheit der politischen Gesellschaft, sondern die Wahrheit der -Grundtriebe im Individuum ~sub specie aeternitatis~ darstellt, -kann diese lange Zwischenzeit zwischen Duncans und Banquos Ermordung -und diese ganze zehnjährige Heuchelei oder Normalität nicht brauchen. -Dagegen bleibt Banquo bei Holinshed ruhig in seinem Grabe; die -Erscheinung des Toten ist Shakespeares Erfindung, und ebenso auch -der Anteil der Lady an Macbeths Schicksal und Taten; bei Holinshed -wird ihr Einfluß nur nebenbei einmal erwähnt. Sonst hat Shakespeare -manche Einzelzüge und Szenen in treuem Anschluß übernommen; die drei -Begrüßungen und die späteren drei Prophezeiungen der Hexen sind da, -wenn auch freilich nicht in ihrem großartigen Zusammenhang; die -Ermordung der Frau und der Kinder Macduffs und vor allem die Szene -seiner Prüfung durch Prinz Malcolm, der sich verstellt, sind dieser -Quelle entnommen. - -Soviel zur Herkunft der äußern Handlung. Welcher Quelle die innere -entstammte, soll uns ein junger Dichtersmann sagen, Grillparzer, der im -Jahr 1817 die folgende merkenswerte Niederschrift machte: - -„Vielleicht ist Macbeth das größte Werk Shakespeares, das wahrste -ist es jedenfalls... Ich glaube, daß das Genie nichts geben kann, -als was es in sich selbst gefunden, und daß es nie eine Leidenschaft -oder Gesinnung schildern wird, als die es selbst als Mensch in seinem -eigenen Busen trägt. Daher kommen die richtigen Blicke, die oft ein -junger Mensch in das menschliche Herz tut, indes ein in der Welt -Abgearbeiteter, selbst mit scharfem Beobachtungsgeist Ausgerüsteter -nichts als hundertmal gesagte Dinge zusammenstoppelt. Also sollte -Shakespeare ein Mörder, Dieb, Lügner, Verräter, Undankbarer, -Wahnsinniger gewesen sein, weil er sie so meisterlich geschildert? -Ja! Das heißt, er mußte zu dem allem Anlage in sich haben, obschon -die vorherrschende Vernunft, das moralische Gefühl nichts davon zum -Ausbruch kommen ließ. Nur ein Mensch mit ungeheuren Leidenschaften kann -meiner Meinung nach dramatischer Dichter sein, ob sie gleich unter dem -Zügel der Vernunft stehen müssen und daher im gemeinen Leben nicht zum -Vorschein kommen.“ Von dieser Einsicht, die uns wichtig nicht nur für -die Psychologie des Genies, sondern vor allem auch für die Beurteilung -des Dramatikers Grillparzer sein muß und die überdies, wir erfahren -es noch, in Shakespeares Selbstbekenntnissen, in seinen Sonetten -ihre Bestätigung findet, war der junge Mann, der sie aufschrieb, so -ergriffen, daß er den Ausruf hinzufügte: „Ich wollte, irgend ein -Dichter läse das!“ - -Darin jedenfalls haben inzwischen viele Grillparzer zugestimmt, daß -auch sie den Macbeth für Shakespeares größtes Werk erklärt haben. -Und darin sind fast alle Beurteiler einhellig, daß Macbeth seine -klassischste, seine formvollendetste, seine der Antike geistig am -nächsten kommende Tragödie ist. Und in der Tat, kann man vor den und -jenen andern Werken Shakespeares wenigstens verstehen, wie der ganz -falsche Eindruck, der so lange gespukt hat, entstehen konnte, als -wäre er so eine Art Naturdichter, ein Volksdichter, der nachlässig -und unbekümmert wie ein trunkener Wilder seine Einfälle vor uns -ausschüttete, ein unbewußtes Genie, das sich um Überlegung, Berechnung, -Komposition nicht viel kümmerte, so kann bei Macbeth keinem, der -irgendwie aufzumerken imstande ist, im geringsten zweifelhaft sein, -daß hier alles geplant, gebaut, gewußt, gewollt ist, alles, Aufbau, -Szenenfolge, jede Rede und jedes Wort, was getan und gesagt und ebenso, -was geschwiegen wird. Mit dieser straffen Komposition, die an nichts so -sehr erinnert wie an die gespannten Muskeln in Macbeths Gesicht, wenn -er von Dunsinans Turm Ausschau hält nach dem Schicksal, das ihm nichts -anhaben soll; mit dieser festen Geschlossenheit, die ihres gleichen nur -hat in Macbeths finsterer Entschlossenheit, sich zu behaupten, damit -steht auch in Zusammenhang, daß das Stück die kürzeste aller Tragödien -Shakespeares ist, wie Hamlet die längste; Hamlet hat 4000 und Macbeth -nur 2100 Verse. - -Dämonische, sagen wir getrost teuflische Triebe im Innern des Menschen -und reale, äußere dämonische Mächte, Abgesandte der Hölle begegnen -einander: daß dieses Hereinragen der Geistersphäre diese Tragödie von -andern abhebt, sehen wir sofort. Auch haben wir eben gehört, daß es -so überliefert ist. Es liegt uns aber trotzdem die Frage ob: Wie ist -das? Wie steht es hier um das Verhältnis von Glauben, Aberglauben und -Wissen? Wie zumal ist das Verhältnis zu unsrer naturwissenschaftlichen -Weltanschauung? - -Vor allem ist da zu beachten: Shakespeare der Weite und Vielfältige -ist darum aus Notwendigkeit ein Dramatiker, weil er sein Geheimnis -zu wahren hat, weil er die Einheit der Person, die eine _Frage_ -ans Schicksal und ein Ringen mehr ist als eine Sicherheit, hinter -der gespaltenen Vielheit der Gestalten versteckt. So entsprechen -bei ihm Weltanschauung und geistige Stimmung, die in einem Stück -walten, durchaus der Gesinnung und Charakterhaltung der Hauptperson -oder den Tönungen und Bedingungen der Handlung, und es ist nicht -zu viel gesagt, wenn geradeswegs ausgesprochen wird, daß bei einem -Dichter wie Shakespeare die Weltanschauung viel mehr, als gewöhnlich -beachtet wird, ein je nach Bedarf wechselndes formales Element ist. -Was daher für ein besonderes Stück gilt, darf nie auf den ganzen -Dichter und seine Gesamthaltung übertragen werden: so passen sich -auch die Elementargeister, die Erscheinungen, die Gespenster immer -der Stimmung der Dichtung, der Innerlichkeit der Träger der Handlung -an: im Sommernachtstraum weht eine Renaissanceluft hell, neckisch, -spöttisch wie bei Ariost, eine Romantik also, die der Ausdruck mehr -des Rationalismus als irgendwie dumpfer Mystik ist; die Erscheinung -von Julius Cäsars Genius hinwiederum in ihrer klaren, würdevollen -Sprache steht ganz im Einklang mit der stoisch-republikanischen -Selbstbestimmung edel-gebildeter römischer Bürger. Man denke sich die -Hexen der schottischen Heide in dem Römerdrama, oder einen Kobold wie -Puck, einen Geisterfürsten wie Oberon im Macbeth, -- und man wird -sofort merken, daß man mit einem souveränen Dichter zu tun hat und -daß die Frage nach seiner Befangenheit in Glauben und Aberglauben von -Seiten seiner Dramen kaum eine bündige Antwort finden wird. - -Für das Zeitalter Shakespeares und die Anschauungen, in denen die -besten Geister dieser Zeit standen, ist zu sagen, daß das, was wir -geneigt sind Aberglauben zu nennen, viel weniger Rückstände alter Zeit, -als gerade Anfänge natürlicher Betrachtung sind. Die Wissenschaft hat -sich nicht allmählich aus geringem und bescheidenem Keime zu uns herauf -entwickelt; wenn sich etwas auf diesem Gebiete aus kleinsten Anfängen -zu achtbarer Größe hinaufgesteigert hat, so ist es vielmehr gerade die -Bescheidenheit und Resignation. Im Anfang, im Zeitalter Fausts, hat das -Wissen im Glauben der Menschen die Gabe, Riesenkräfte zur theoretischen -wie praktischen Bezwingung der Natur zu verleihen; und diese Natur wird -nicht für harmlos und lediglich sachlichen Prinzipien oder gar nur -mathematischen Formeln unterworfen angesehen, sondern als strotzender -Kraftspeicher betrachtet. Man sieht die Natur ungeheuerlich, wozu eben -auch gehört, daß es in ihr nicht geheuer ist; alles Ungeheuerliche aber -wird als durchaus natürlich und unsrer bezwingenden Menschenkraft -erkennbar und zugänglich aufgefaßt. - -In alledem, was wir heute überwunden haben und dem Aberglauben -zuzuweisen geneigt sind, in der Alchemie und Astrologie, in dem -Glauben an Vorbedeutungen und Offenbarungen durch Naturgeschehnisse, -wie Erdbeben, Meteore, Finsternisse und dergleichen, steckt die -wissenschaftliche Frage an die von den Banden des Dogmatismus befreite, -seltsam, trächtig, gärend, chaotisch gewordene Welt: Ist hier nicht, -ist nicht zwischen innen und außen, zwischen Menschenschicksal -und Weltbewegung ein kausaler Zusammenhang? Die Frage gehört der -Wissenschaft an, so betrüblich paradox im eigentlichen Wortsinn es -auch klingen mag, eine Frage ein Wissen zu nennen, die Antwort aber, -die jene Zeit fand, entstammt starker, gestaltender dichterischer -Phantasie; wohl uns, wenn nach wiederum etlichen Jahrhunderten von -unsern Antworten das Selbe gesagt werden kann! - -So steht’s nun auch um den Hexenglauben, der in dem Glaubenssystem der -christlichen Zeit nie recht Platz fand, erst vom 14. Jahrhundert an ins -Kraut schoß und im Zeitalter der sprossenden Wissenschaft sich sein -System ausbildete, -- woran sich Shakespeares gelehrter König Jakob in -eifrig pedantischer Arbeit redlich beteiligte. - -Überall begegnen wir der Tendenz, der auch dieser Glaube angehört, -nicht, das Geheimnis, das Grauen, den dunklen Zusammenhang zwischen -Materie und Seele ins Mechanische aufzulösen und die Welt, die man als -dämonisch erlebte, durch die Wissenschaft nüchtern zu machen, sondern -umgekehrt das Materielle als beseelt, als vom Geiste durchdrungen -und durchglüht zu erfassen. Das Göttliche und Teuflische war in die -Natur aufgenommen; dem Verständnis und der gebietenden Gewalt, der -Magie des Menschen sollte kein Gebiet mehr unerreichbar, mehr jenseits -verbleiben. Männer wie Giordano Bruno und Jakob Böhme, Shakespeares -Zeitgenossen, mit deren erstem er als junger Mensch sogar persönlich -in London Verkehr gepflogen haben könnte, machten den Versuch, die -symbolischen Heilswahrheiten der Religion naturwissenschaftlich zu -deuten, eine Physik und Chemie des Christentums zu begründen. Und immer -soll die Naturanschauung, soll die Einheit der Natur Geist und Materie -umfassen. Zu der Bescheidung, um der Kausalität willen auf die Frage -nach dem Zweck und dem Sinn, um der Wissenschaft willen auf das Suchen -der Wahrheit zu verzichten, war man noch nicht gekommen. - -In dieses Gebiet also, auf diese Stufe der schöpferischen Kraft und -Vehemenz des forschenden und ringenden Geistes gehört der Glaube von -Shakespeares Zeitalter an den Verkehr zwischen Menschen und dämonischen -Elementarwesen, die in die Stoffe und Kräfte der Natur gebannt sein -sollten, gleichviel hier, wie weit Shakespeare diesen Glauben teilte, -wie weit er als Dichter sich spielend, versuchend, versucherisch, -tragisch, dämonisch in ihm erging. - -Das Gewaltige und Einzige in der Darstellung des Dichters, die uns -hier beschäftigt, ist nun, daß Macbeth den Dämonen verfallen ist, -ohne -- wie Faust zum Beispiel im Volksbuch und bei Marlowe -- ein -ausdrückliches Bündnis mit ihnen einzugehen. Es ist ein Verhältnis wie -Sympathie oder Fernwirkung: er ruft die höllischen Mächte nur dadurch, -und sie, die uns allezeit unsichtbar umschweben, nehmen nur darum für -ihn Sichtbarkeit an, weil seine Gedanken, seine Triebe, seine dunkeln -Wünsche und undeutlichen Pläne ihnen verwandt sind. Welch eine Welt! -Welch eine prästabilierte Harmonie der Hölle! Was in unserm tiefsten, -finstersten Untergrund sich keimend regt und noch farblose, blasse -Würzelchen unsicher tastend nach außen schickt, das sind zugleich -Lockungen, die von draußen, vom Drunten nicht unsres Innern, sondern -der allverbreiteten Unterwelt her uns suchend, Einlaß begehrend, -unruhig schwirrend umkreisen und zu uns hinein wollen. Das ist hier -auf Erden nicht nur eine Welt des Stoffwechsels, wo der Leib des -Individuums in unausgesetztem Austauschverkehr mit der stofflichen Welt -steht, sondern eine Welt, wo die Kräfte, die Seelchen, die Dämonen des -Innern und Äußern im Wechselverhältnis stehen. - -Wir Laien, wir Normalen, wir Braven sagen so leichthin: Wo ein Wille -ist, ist ein Weg. Man überlegt aber nicht, was für eine Wechselwirkung, -was für eine geheimnisvolle Gemeinschaft damit zum Ausdruck gebracht -ist. Schon wenn dieses Geistige in uns, das wir Willen nennen, nur den -Finger rühren will und siehe da! es geschieht, schon da ist es so, wie -wenn dem Gedanken Mächte, die im Elementaren der Materie auf unsern -Befehl, auf unsre Bereitschaft warten, gehorchen und entgegenkommen. -Das Kindchen will an der Mutterbrust saugen; will aber die Brust nicht -auch geleert und befreit sein? Und wissen wir nicht, wenn nicht in der -Naturwissenschaft, so doch gewiß in der Welt, die wir die moralische -nennen, und das ist die, die den Dichter angeht, daß die Materie, die -uns dient, die wir brauchen und begehren und einheimsen und formen, daß -sie Herr über uns werden, daß sie uns mit Haut und Haaren verschlingen -kann? - -Nichts an höllischer Einwirkung kommt zu Macbeth bloß von außen, ohne -daß es von seiner innern Bereitschaft gerufen wäre; aber auch umgekehrt -freilich, und das macht seine besondere Welt aus, das stellt diese -der Sphäre der christlich-renaissancehaften Naturmagie zugehörige -Tragödie neben die antike: nichts, was sich in seinem Innern gebiert, -bleibt ohne dämonische Unterstützung, Weiterführung und Irreführung. -Gott, mein Gott, was würde aus uns allen, wenn die Dämonen uns und -unsern geheimen Regungen auch nur so hülfen, wie sie Macbeth zur Seite -treten: mit Verkündungen, Verheißungen, feierlichen Begrüßungen! Und -wenn nun gar wie hier diese Hilfe ein Beinstellen, die Verkündung -eine Zweideutigkeit, die Verheißung eine Fopperei, die Begrüßung ein -feindlicher Hohn wäre! Damit, daß wir das bedenken, haben wir, wie es -für die innige Aufnahme der Tragödie not tut, aus Macbeth, was immer -Entsetzliches er tue, den Bruder unsres Herzens gemacht, einen solchen -aber, der in leibhafter Wirklichkeit auf gehobener Ebene verkörpert -und erlebt, was uns in den Eingeweiden stecken bleibt. Nicht eine -zufällig-äußerliche Wirklichkeit fabelhafter Ferne, sondern unsre -nächste Gefahr, den Nachbarn all unsrer Emotionen und Begierden, -die Wahrheit unsres Innern stellt Macbeth uns vor Augen. Er ist ein -tragisch, ein dämonisch Auserwählter, ein übers menschliche Maß -hinaus Gesteigerter und über Menschenkraft Gequälter wie unser Vater -Prometheus, der zum Tisch der Götter zugelassen wurde, wie unser Bruder -Ödipus, über den die Götter in dem Spiel, das sie da droben üben, schon -vor der Geburt das Los warfen. - -Nun sollten wir bereitet sein, zu hören, was er ist, was er tut, was er -leidet, was ihm geschieht. - -Er ist einer der Großen Schottlands, der Vetter des Königs Duncan. -Solange Malcolm, der älteste Sohn des Königs, nicht für volljährig und -thronberechtigt erklärt ist, darf Macbeth sich für den rechtmäßigen -Thronerben halten. Auch in Schottland geht es so zu, wie damals fast -überall: eine richtige Thronfolgeordnung besteht nicht zu Recht; es -ist eine Mischung aus Wahlrecht der Stände und Erbkönigtum; keineswegs -folgt immer der älteste Sohn, oft ein andres, nah oder fern verwandtes -Glied des Königshauses, das sich durch Kraft oder Erfolg hervortut. - -Macbeth jedenfalls ist seit langem von keinem andern Gedanken erfüllt -als diesem: König zu werden. Daran, wie lange das schon in ihm bohrt, -erinnert ihn seine Frau in entscheidender Stunde. Und nun ist der -Moment zugleich da und vorbei: in schwerem Kampf, wo er Wunder der -Tapferkeit und Feldherrnkunst vollbracht hat, während der weiche König -zugesehen hat, hat er mit Banquo zusammen den Aufruhr und den äußern -Feind, den Norweger, niedergeschlagen. Der Thron hat gewankt, nun ist -er befestigt: Macbeth wird reich belohnt, in Rang und Macht erhöht; -aber unmittelbar nach der Schlacht, in Anwesenheit Macbeths und der -andern vertrautesten Stützen des Throns, wird Malcolm vom König zum -Erben des Reichs ernannt. Soll es dabei bleiben? Soll der Retter des -Reichs, der so lange den Gedanken genährt, dereinst König zu sein, von -Stund ab, von der Stunde seiner größten Leistung und Herrlichkeit an -vom Thron ausgeschlossen sein? - -Jetzt ausgeschlossen, wo seine Berufung, sein geheimer Wunsch gerade -eben, im Anschluß an die Schlacht, von den Dämonen bestätigt worden -ist? Wir sind dabei gewesen, wie zum ersten Mal in seinem Leben die -Welt des Geheimnisses nicht von innen, sondern real von außen zu ihm -gesprochen hat; und daß diese drei Schicksalsschwestern, die ihm im -Gewitter auf der öden Heide sichtbar wurden, nicht Einbildungen seiner -erregten Phantasie, sondern Vertreter der Geisterwelt waren, dafür -ist Feldherr Banquo der Zeuge, der dabei gewesen und auch mit ihnen -gesprochen hat. - -„Heil dir, Macbeth, Than von Glamis! Heil dir, Macbeth, Than von -Cawdor! Heil dir Macbeth, König demnächst!“ So begrüßen ihn die -schrecklichen Weiber. Das erste ist er, aber noch nicht lange; das -zweite scheint unmöglich, der Than von Cawdor lebt, und doch erfüllt es -sich sofort aufs erstaunlichste; und das dritte? König demnächst? Die -Hexen haben einmal gewußt, was noch kein Mensch wissen konnte; und nun? -Wie weiter? O, es scheint schnell kommen zu sollen, dieses künftige -Große; es scheint auf seine eigne Seele gelegt: der König will die -Nacht in Inverneß, auf Macbeths Burg verbringen! - -Und nun, da unsre innere Bühne noch einen weiteren Schauplatz umfaßt -als die Shakespeares, müssen wir, während der Abend sinkt, die -Kavalkade über Hügel, Täler und Heiden reiten sehen, dahinsprengen -hören. Der König und sein Gefolge in schnellem, fröhlichem Ritt, -Macbeth aber weit voraus, um Quartier zu machen! Das muß Schickung -sein; muß mit den Geistermächten zusammenhängen; welch eine -Gelegenheit, die so nie wiederkehrt! Auf einmal der anerkannte Held des -Landes geworden, geehrt und gefürchtet von allen, -- und der König heut -zur Nacht in Inverneß! Es muß alles vorbereitet werden; jetzt, jetzt -muß es geschehen, muß ins Werk gesetzt werden, was kommen soll, was -verkündigt ist -- -- der Gedanke läßt ihn keinen Augenblick. - -Und zu Hause sitzt ihm eine, die all sein Planen in ergebenster, -mitreißender, befeuernder Gattenliebe teilt: sie muß vorbereitet -werden, sie muß vorbereiten: und noch schneller als er sprengt ein Bote -voraus, der die Nachricht bringt: der König kommt, kommt heute zur -Nacht, trifft sofort ein! - -Fast zu Tod erschöpft steigt der Bote vom Pferd, außer Atem; er selbst -kann in dem Zustand nicht vor die Herrin treten; ein Diener bringt ihr -die Meldung. Das ist „große Zeitung“. - - Selbst der Rab’ ist heiser, - Der krächzt den Schicksalseintritt König Duncans - In meine Mauern. - -Wie wunderbar schnell das alles sich fügt! Jetzt eben erst -- die -beiden halten sich in steter Verbindung mit einander -- hat sie -den Brief gelesen, den ein früherer Bote gebracht hat, der ihr die -Nachricht von Macbeths Sieg, von der Begegnung mit den Hexen und -ihrer übermenschlichen Kunde und der sofortigen Erfüllung der ersten -Prophezeiung gebracht hat. Schon war die Stimmung in ihr: es muß -geschehen, es muß getan werden. Und nun, wo ihr die Gelegenheit ins -Haus rennen soll, ist sie ganz gerüstet, ganz reif. - -Hier werfen wir erstmals einen Blick auf die seltsame Gleichheit und -Ungleichheit dieses liebenden Ehepaars. - -Ihn belauschen wir in seinen innersten Gedanken, seinen dialektischen, -die Vorfälle hin und her werfenden Erwägungen. Eine überirdische, eine -metaphysische Verkündung und Lockung ist zu ihm gekommen; schlimm -kann sie nicht sein, denn, sagt er sich, ein Pfand des Erfolgs ist -ihm sofort in die Hand gegeben worden. Schlimm wäre also für ihn das -Wesenlose, das Unwirkliche, das Lügenhafte. Aber gut? Gut kann diese -Prophezeiung auch nicht sein; denn er vermag es nicht, ruhig, geduldig, -vertrauend abzuwarten, bis sie eintrifft; Mord liegt ihm im Sinne; er -bekennt sich’s sofort. Dann aber ruft ihm wieder eine Stimme zu, es -müsse alles gut und in Ordnung sein; er solle sich doch nur beruhigen -und still halten; diese Geister sagten ja die Wahrheit: - - Will Glück mich König, möge Glück mich krönen - Ohne mein Zutun. - -Das aber ändert sich, sowie er vor den König getreten ist; da -wird schon klar, wie’s gemeint war; da bietet sich die dringende -Aufforderung: Prinz Malcolm ist nun zum Thronfolger ausersehen; ihm -soll genommen werden, was ihm zukommt, was er will, was er braucht; -aber es bietet sich auch die Gelegenheit: der König wird sein Gast. So -also ist’s gemeint; auf ihn ist die Tat gelegt; hält er sich still, -wird er nie König, er soll’s aber demnächst werden, er soll also -mithelfen, jetzt oder nie ist die Gelegenheit. So deutet er sich den -Zusammenhang aller innern und äußern Momente. - -Und doch schwankt er noch und will gerne schwanken; er ahnt: die -Entscheidung findet sich, zu Hause, bei der Frau. Darum der Eilbote; -darum sprengt er selber dem König voraus; er muß ihren Rat, ihre Stimme -vorher hören. - -Sie ist die teuerste Gefährtin seiner Größe, wie er sie nennt; die -Liebe dieses Paares, dem die Kinder weggestorben sind, ist ganz auf -den großen Plan, auf das Kind seines Ehrgeizes gesammelt. Er denkt, -noch schwankend, unbestimmt; was er aber brütend sinnt, das hält sie, -nachdem er ihr’s gesagt hat, mit eifernder Hingebung fest. Sie ist -weder ein Mannweib noch eine Furie, auch in der äußern Erscheinung ganz -weiblich; wir wissen, wie klein ihre Hand ist, wie ihr Mann in der -Mannigfaltigkeit kosender Anreden, die er im Brauche hat, „zarte Frau“, -wohl auch einmal „liebes Täubchen“ zu ihr sagt. - -Der Unterschied zwischen den beiden ist der: der Abstand zwischen -Unterbewußtsein und Oberbewußtsein funktioniert in ihnen verschieden; -es sind in ihnen andre Pendelschwingungen zwischen Vorsatz, -Vorstellung, Phantasie und Gefühl. Der Plan, die Idee: ich muß König -werden, stammt sicher von ihm; es wird uns ausdrücklich gesagt. Sie -nimmt ihn auf, folgt und geht dann voraus, da sich, was sie erst -einmal eingesehen hat, hemmungslos mit ihrem Willen verbindet und da -es Hindernisse für sie nicht geben darf; andre Gedanken können gegen -seinen Königsgedanken nicht aufkommen; und das Gefühl bleibt tief -drunten. „Du willst; also tu’s auch.“ Es gibt nichts Klareres. - -Er aber hat Hemmungen, die in seinem Oberbewußtsein, in seiner -vernünftigen Sphäre, das Wort in umfassendem Sinn genommen, vor sich -gehen; er hat die Moral, das Religiöse, das Bangen und Schwanken in -Verbindung mit der vernünftigen Überlegung. Er hat von Haus aus Weite -in seinem Kopf; sie ist darin ganz eng und darum unheimlich klar, -scharf und bestimmt. Denken, Planen heißt für sie nichts andres als die -Mittel für das Gewollte suchen. Da begreift sie kein Schwanken, kein -Zögern; sie rüttelt an ihm und ist imstande, fast verächtlich von ihm -und zu ihm zu reden. - -Sehr wahr ist etwas, worauf Grillparzer hinweist: „Shakespeare hat hier -nicht bloß Macbeth und seine Gattin, er hat Mann und Weib überhaupt -geschildert.“ Besser wäre zu sagen, daß der Dichter den ganz besonderen -Mann Macbeth in seiner einmalig individuellen Situation nie aus dem -Umkreis der Mannesart, das individuelle Weib, seine Frau, nie aus der -Sphäre des Weiblichen entfernt. Und wenn Grillparzer dann weiter sagt, -in Lady Macbeths Seele sei der Entschluß im ersten Augenblick reif, so -ist das nur wahr, wenn man dazu sagt, daß es der Gedanke ihres Mannes -ist, der in ihr sofort zum Entschluß erwächst und gesteifter Tatwille -wird. Richtig ist jedenfalls, sie bestimmt ihn zu seiner Tat, feuert -ihn an, hält ihn wie mit Klammern darin fest. - -Aber nun das sehr Richtige und Wichtige, was Grillparzer beobachtet -hat: „Aber jetzt, da gehandelt werden soll, kehrt sich auf einmal -das Verhältnis um. Macbeth schaudert, aber handelt; sein Weib, die -Entmenschte, die Verlockerin, war vor ihm in Duncans Zimmer, sie hatte -die Dolche in der Hand, -- - - ‚hätt’ er nicht im Schlaf meinem Vater ähnlich gesehn, - ich hätt’s getan!‘“ - -Und Grillparzer, der von Anfang an gewußt hat, wie das Genie nicht -blind hinwirft, sondern sein Handwerk verstehn muß, fügt ganz -begeistert hinzu: „Ich ärgere mich oft über mich selbst, daß ich die -Idee, etwas zu schreiben, nicht aufgebe, wenn ich so was gelesen habe.“ - -Sie also kann weder ursprünglich denken, noch letztgiltig handeln; -da stellt sich ihr der Schauder in den Weg; aus dem Gebiet, das sie -oben nicht kennt und nicht duldet, aus dem Gebiet der Erinnerungen, -Assoziationen, Verwandtschaften und Träume, aus dem zu Gefühl -gewordenen Leben der Vergangenheit herauf tritt etwas dazwischen und -lähmt ihre Hand. - -Zunächst aber tritt viel mehr die Einigkeit des Paars als seine -Getrenntheit zu Tage; das ist schauerlich wie das Eingreifen der -Unterirdischen in das Werk der Menschen, wie diese zwei zu schnödestem -Mordplan in ganz inniger Liebe verbunden sind. So stellen wir uns -bewundernd und ohne Schauder einen Löwen und seine Löwin vor; nur -daß wir hier doch von Anfang an wissen und fühlend miterleben: das -Bluthandwerk ist nicht ihr Beruf; es sind trotz allem empfindende, -phantasiebegabte, leidende und mitleidige Menschen! - -Zunächst aber spüren wir nur den frevlen Gegensatz zwischen ihrer Liebe -zu einander und ihrer Unmenschlichkeit, und dazu den Gegensatz zwischen -dem Vertrauen des Königs und ihrem Plan. - -Macbeth ist rasch vom Pferd gesprungen, ahnt die Königskavalkade dicht -hinter sich, es ist nur Zeit für ein paar hastige Worte, aber sie -verstehen sich sofort: - - Geliebtes Weib, - Der König ist heut’ Nacht bei uns. - -So tritt er in die Tür, und damit ist für sie in beschwörender -Zärtlichkeit alles gesagt. Sie wendet sich sofort, in fest -zusammengenommener, schneidender Kürze zum Praktischen: - - Und geht? - -Eine unwahrhaft zögernde, schwankende und doch vielsagende Antwort -kommt von ihm: - - Schon morgen, hat er vor. - -Da, so sehr die Minute drängt, läßt sie sich Zeit zum Ausbruch, aber -rasch, heiser, zwischen Flüstern und Schreien: - - O nimmer soll - Die Sonne dieses Morgen sehn! - -Der König kommt und fühlt sich ganz wohl: es ist der Abend nach der -siegreichen Schlacht; ihm scheint eine Stimmung des Friedens und -der Behaglichkeit in der Luft zu schweben. Und Banquo, dem allerlei -Gedanken fürs Nächste und Entfernte durch den Kopf gehen mögen -- er -war dabei, wie dem Macbeth die Königskrone verheißen wurde, und hat -ihn dabei gut im Auge gehabt, und ihm, Banquo, ist von den wissenden -Schwestern verkündet worden, seine eigenen Nachkommen sollten einst -Könige sein --, Banquo bestärkt den König in seinem harmlosen Vertrauen. - -So geht man zur Tafel. Macbeth ist noch keineswegs mit sich im reinen. -Er nimmt keine Rücksicht darauf, daß es auffallen muß, wenn der Wirt -seine Gäste allein läßt; er kann nicht still sitzen; er geht hinaus und -erwägt. Es sollte schnell geschehen -- aber die Folgen müssen bedacht -werden. Wie wird’s die Welt ansehen? welches Mitleid wird aufsteigen? -die Tat ist unerhört: der Untertan ermordet den König; der Vetter den -Nahverwandten; der Wirt den Gast; bei Nacht den Vertrauenden; blutige -Taten gegen ihn selbst können folgen. - -Die Frau kommt dazu; sie begreift von alledem nichts. Wozu jetzt dies -auffällige Benehmen? Er hat’s doch schon lange beschlossen; jetzt ist -die Gelegenheit, das kann er nicht leugnen; wie kann er schwanken? Er -hat sich’s zugeschworen, hat’s ihr geschworen: König zu werden; was -er geschworen hat, muß er tun. Nicht der entfernteste Gedanke kommt -ihr, an welches Heilige und Unverbrüchliche gerade der Schwur des -Menschen gebunden ist; sie versteht nichts andres in ihrem Hirn als -dieses Festhalten am Wort; sie formalisiert ihn und nagelt ihn fest; -eigensinnig, beschränkt wiederholt sie ihm, was er doch immer selbst -gesagt; und um ihm vorzuhalten, was Konsequenz und was Mannhaftigkeit -ist, zeigt sie ihm, und es verbindet sich dabei wahrhaft erhabenes -Gefühl mit ihrer Vorstellung, was es doch heißen wolle, sich Wort zu -halten und seinem Vorsatz treu und fest zu sein, sie zeigt ihm, was sie -als Frau Gräßlichstes, Unnennbares zu tun imstande wäre, wenn sie’s nur -erst sich vorgesetzt und sich und dem Gemahl geschworen hätte; sie sagt -es und sie glaubt es: - - Ich hab’ gestillt und weiß, - Wie süß es ist, ein liebes Kind zu nähren, -- - Ich hätt’ ihm, wie es mir ins Auge lachte, - Die Brust gerissen aus den weichen Kiefern, - Sein Hirn zerschmettert, hätt’ ich’s so geschworen, - Wie du geschworen hast! - -Diese ihre Logik, Konsequenz, Entschlossenheit mit dem eiskalten -Pathos des Willensgedankens sticht wie ein blitzender Dolch in das -nächtige Dunkel, das wogend um ihn und in ihm braut. Der Mann täte -die Tat, so glauben wir in dieser Stunde, niemals, wenn nicht diese -dämonischen Mächte, dieses Teuflische wäre, wie es erst von den wüsten -Weibern in feierlicher Begrüßung und jetzt von seiner schönen Frau -mit seinen eignen Gedanken zu ihm spräche, wenn nicht das Ungeheure -ihn wie überirdischer, wie Geist- und Liebeszauber anlockte. So tritt -jetzt das Dämonische sichtbar, greifbar aus seinem Innern heraus; -jetzt wohnen wir seiner ersten Halluzination bei: den Dolch, gerade so -einen paßlichen für diese Tat, sieht er vor sich lockend in den Lüften -schweben und den Weg weisen; nun ist er zur Tat entschlossen, wie -einer, der unentrinnbarem Joch den Nacken beugt; er fühlt sich in die -Geisterwelt aufgenommen, und es ist ihm, als wäre sein Mord so etwas -wie das Tun eines Mondsüchtigen oder der Zwang, der einen Sklaven der -Wollust auf seine Wege zieht. Er ist in den Zauberkreis getreten; der -Bund mit den elementaren Mächten ist geschlossen; er tut, was er muß; -ernst, schaudernd, wie ein hoffnungslos Bezeichneter. - -Derweile besorgt die Frau in umsichtiger Ruhe, was vorbereitet werden -muß. Das kann sie gemächlich tun; was sollte sie dabei stören? -Dieses Zubereiten des Schlaftrunks, dieses Berauschtmachen der -Männer, das sind der äußern Erscheinung nach alles Hausfrauen- und -Köchinnenangelegenheiten, und nichts Bildhaftes ist dabei, was aus -ihrer Tiefe Unwillkürliches und Unbewußtes emporschnellen und ihr in -den Weg wälzen könnte. - -So geschieht die Tat. Trunkenheit liegt über den Gästen, betäubender -Schlaf über den Wächtern, die sie erst wie in Ausübung häuslicher -Handwerkskunst mit Blut bemalt, er dann in raschem Entschluß tötet. - -Über Macbeth aber kommt sofort die Reuequal, das inständige Leiden. -Stimmen tönen ihm durch die Nacht: - - Schlaft nicht mehr! - Macbeth mordet den Schlaf! - -Und er fühlt: von nun an wird er selbst nicht mehr schlafen können. - -Sie aber ist immer noch, noch lange, ganz besonnen; von Stimmen hört -sie nur, was sie auf der Burg von Inverneß zu nächtlicher Stunde -gewohnt ist: die Eule mit ihrem Schrei, das Heimchen mit seinem -Gezirpe; das macht ihr nichts; sie ist in keine andre Welt eingetreten. -Vielmehr redet sie ihm rationalistisch gut zu: über so was darf man -nicht grübeln; man darf seine Tat nicht ansehn; ein bißchen Wasser -wäscht das Blut von der Hand. - -Wie anders werden wir’s noch von ihr hören! Gerade das! - -Zunächst aber gelingt alles; das auffällige, das törichte Benehmen -Macbeths sieht wie herausfordernde Verwegenheit des Mächtigen aus. Die -Prinzen fliehn und bringen sich dadurch in Verdacht; so ergibt sich von -selbst, daß Macbeth, der Erbberechtigte, der Mächtigste, König wird. -Die Prophezeiung, die nur er und seine Frau und noch einer kennt, ist -erfüllt; kein Verdacht wagt es, laut zu werden. - -Es schweigt vor allem -- Banquo. Da scheint ein seltsam -stillschweigendes Einverständnis zu herrschen; er ist eine Art -Mitwisser und Mitschuldiger; er ist mit bei den Hexen gewesen. Er steht -da wie einer, der seine Zeit abwartet. Und hat er nicht doppelt Grund -dazu? Ist, zwar nicht ihm selbst, aber doch seinem Geschlecht, nicht -die Nachfolge verheißen worden? Für ihn also und seine Erben soll -Macbeth das Gräßliche getan haben? Nein; diesmal will Macbeth den Kampf -mit dem Schicksal, mit der Vorbestimmung selbst aufnehmen; es soll -nicht kommen, wie die Sprecherinnen des Schicksals verkündet haben: -Banquo und dazu noch sein einziger Sohn, beide müssen sie fort aus der -Welt. Er ist es dem Schicksal, seinem Schicksal, schuldig, sich der -Verheißung, die einem andern zu Teil wurde, nicht zu fügen, sondern zu -tun, was geboten ist. - -Das ist das Eigentümliche an diesem Macbeth, der sein Alles an Eines, -an die Macht, gesetzt, der seine Phantasie nur nach diesem Einen hat -fahren und an ihm scheitern lassen, daß er nun seinem Trieb und der -Notwendigkeit seines Schicksals folgt wie einer Pflicht. Das hat Goethe -gesehen: das Wollen wird in Macbeth zum Sollen. Seine Tat an Duncan hat -er geleistet, weil er sie schuldig war, seinem Willen, dem Verhängnis, -seiner pochenden Frau, und nun folgt Schuld auf Schuld: alles aber tut -er finster, hart, in gepreßter Verzweiflung, wie ein Sklave. - -Daß er froh lachen oder lächeln könnte, solche Vorstellung ist uns -unmöglich; ja später, wenn er noch eine Stufe weiter gekommen ist, wird -er höhnisch auflachen können, wenn er an seine Unbesiegbarkeit und an -die Hexenoffenbarungen denkt. - -Es wird immer einsamer um den lustlosen Mann. Noch ist er gut und -sanft zur Königin; aber er zieht sie nicht mehr ins Vertrauen; er ist -nicht mehr der Mann, der er früher war, wo er so gern und immer wieder -ihr all sein Inneres eröffnete und seine Träume und Pläne mit ihr -besprach. Er hat genug von den Folgen, die diese Vertraulichkeit gehabt -hat; er zieht sich ins Schweigen zurück; damit schont er sie und sich -selber. Die Ermordung Banquos, durch gedungene Mörder, die auch eigene -Gründe zur Rache haben, entwirft er allein. Die Tat geschieht; ihr -phantastisches Element, das dem verheißenen Schicksal entgegentreten -sollte, mißlingt; Banquos Erbe entkommt; eine neue Bestätigung für -die Wahrheit der Hexensprüche; aber Banquo, die Gefahr für des Königs -Wirklichkeit, ist aus dem Wege geräumt. - -Nun aber tritt das Dämonische ganz gewaltsam aus seinem Innern heraus. -Längst ja zwingt sich der unselige Mann zu Dingen, die über seine -Kraft, über seine Natur gehen; in dem Augenblick, wo er da droben in -der Bewußtseinswelt die Zunge mit seinem Willen zwingt, heuchlerisch zu -reden und die Abwesenheit dessen zu bedauern, den er hat morden lassen, -stellt ihm das Unterbewußtsein die Gestalt des Ermordeten, so blutig -und entstellt, wie seine Phantasie drunten sie sich ausmalt, leibhaft -vor Augen. Nur er sieht die Gestalt, keiner der Gäste beim Bankett, -und ganz gewiß nicht die Lady, die uns hier noch einmal in ihrem -Rationalismus gegenübertritt; sie versteht ganz gut, was geschehen ist; -aber sie versteht nicht, wie man so sein kann; wollen und nicht wollen; -überlegt tun und bereuen; wie seltsam! - -Banquos Erscheinung ist eine Halluzination der Angst und des Grauens; -keiner hat sie gesehen, aber alle haben gehört, die fürchterlich -verräterischen Worte ihres Königs gehört. Das Land weiß nun, daß der -König durch greulichen Mord auf den Thron gekommen ist; seine eigne -Zunge hat’s ausschwatzen müssen. Und er wiederum weiß, daß die -andern ihn jetzt kennen: er fängt seine Schreckensherrschaft an; er -muß. „Wir sind noch jung in solchen Taten.“ In furchtbarer Bitterkeit -entschuldigt er sich für seine Empfindsamkeit. Er weiß: er muß -fortfahren, wie er begonnen. Und nun _sucht_ er die, die einstmals -von selbst, wie von selbst seinen Weg gekreuzt. Er weiß, hat es heute -Abend durch Banquos Erscheinung wieder neu erfahren: mit ihm ist’s -nicht wie mit andern Menschen. Er dient den Dämonen, sie sollen auch -ihm dienen. Er will alles wissen, will sein Geschick ganz kennen; will -alles tun, was das einmal Begonnene erfordert; und gälte es, weiter und -immer weiter durch Blut zu waten. Zurück? Das ist unmöglich. Vorwärts -also! - -Und so geht er streng entschlossen zu den Hexen in ihre Höhle. Aber sie -sind nun, wo er selber kommt, nicht mehr die nämlichen. Die Wendung -ist da; Hekate selbst, die Herrin und Göttin teuflischen Zaubers, hat -eingegriffen; bisher haben die bösen Triebe und Gewalten ihm gedient -und ihn hochgebracht; jetzt, wo er die schlimmste Mordtat begangen, wo -er letztgiltig sein besseres Ich getötet und sich zum Weg des Unholds -entschlossen hat, muß völlige Verblendung über ihn kommen: der Wahn, -ein Cäsar, ein Gott, ein Unverletzlicher, ein Erkorener zu sein. - -So werden ihm in der Hexenküche die drei neuen Verkündigungen -offenbart, die so sonderbar in einander greifen und die für ihn doch -keinerlei Widerspruch enthalten. - -Zuerst wird er vor Macduff gewarnt. Nun, das ist gut und sicher -ehrlich; dem hat er schon von selber nicht getraut; da soll abgeholfen -werden. Und es wird ja auch wohl gelingen, ihn unschädlich zu machen; -denn die zweite Verkündigung lautet, daß keiner, den ein Weib gebar, -kein Mensch in der Welt also, ihm etwas anhaben kann; und die dritte, -daß er unbesiegt bleibt, solange nicht der Wald von Birnam gegen seine -Bergfestung Dunsinan anrückt! Ja ja, so schwungvoll in Bildersprache -drücken sich diese phantastischen Geister aus, das kennt er schon; -er aber, der jetzt genug hat von der Phantasie und nüchtern geworden -ist, übersetzt es sich in unsre gemeine Menschensprache. Immer also, -immer, sein Leben lang soll er unbesiegt bleiben! Kein Menschenkind -soll ihn überwinden können! Jetzt hat er, was ihm einzig noch das Leben -erträglich macht, was ihn auf einmal befreit von allen Ängsten; denn -bei all seinen Anfällen war es ja immer die trügerische Ungewißheit, -was ihn erschreckt hat, waren es ja vor allem die Folgen, die er -gefürchtet hat. Aber jetzt hat er, was er braucht, was ihn festigt und -feit, was ihn über alle andern Menschen weit erhebt: die Sicherheit! -Eben die Sicherheit, die ihm Hekate als Höllenangebinde zugedacht hat. - -Er hat die Sicherheit, aber er ist nicht der Mann, sich in ihr zu -wiegen; er hat nicht vergessen, womit es angehoben hat: daß die Geister -den Spruch verkünden, und daß er selber das Amt hat, ihn auszuführen. -Kaum einen Augenblick überläßt er sich dem Gefühl der Befriedigung; -dann will er noch mehr wissen; sein Wille möchte übers Grab hinaus -wirken; wird Banquos Nachkommenschaft je über Schottland herrschen? -Und er sieht die ruhmreichen Könige vor Augen, die nicht seine, die -Banquos Erben sein sollen. (Das empfanden Shakespeares Zeitgenossen -nebenbei als eine Huldigung für König Jakob, der seinen Stammbaum auf -Banquo zurückführte; uns geht das nichts an.) Macbeth hat genug von -dem Hexenwesen; die Wut bäumt sich auf und weiß doch, daß sie gegen -das Schicksal ohnmächtig ist; aber in Ausführung des Schicksals gilt -es nun, grimmig im Lande zu wüten, zumal er sofort beim Verlassen der -Höhle die bedenkliche Botschaft empfängt, daß Macduff nach England -geflohen ist. Jetzt soll ein neues Regiment beginnen; hätte er gegen -Macduff sofort so gehandelt, wie es sein Argwohn ihm eingab, so wäre -das nicht geschehen. Nun ist er so weit, wie die Frau ihn hatte haben -wollen: keine Lücke darf es geben zwischen Gedanken und Tat; ohne -Besinnung, ohne Pause soll fürder ausgeführt werden, was er will, was -er soll. Das ist von je sein Feind gewesen, das Grübeln, die Besinnung, -die Betrachtung der Tat vor ihr und nach ihr. Jetzt hört das auf; -er hat Sicherheit; Sicherheit vor allem über seine Aufgabe: wie ein -Würgengel um seinen Thron zu mähen, auf daß er ungefährdet, unnahbar -und erhaben in der Leere stünde. Macduff ist weg, der einzige, den er -noch fürchten soll; da will er helfen, er braucht keine Geister dazu, -will nie mehr mit ihnen zu tun haben, die ihm ein höllisches Leben -bestimmen, aber keine Kinder und keine genießenden und entsühnenden -Erben gewähren. Sofort soll Macduffs Burg überfallen, soll alles -zerstört, sollen Weib und Kinder getötet werden. - -Und immer einsamer wird es um Macbeth. Auch von seinem Weib trennen ihn -jetzt Schranken wie Tore der Hölle; da er nun geworden ist, wie sie ihn -wollte, braucht er sie nicht mehr. Er braucht kein Gespräch mehr und -keine Vertraute; er braucht sich nicht zu äußern und kann sich nicht -äußern; die Tat ist seine Äußerung; er hat keine Gemeinschaft, hat -keine Liebe, hat kein Geschlecht mehr. Er ist der Tyrann: lebendig an -ihm sind nur seine Taten. - -So tritt er denn im Drama fürs erste in den Hintergrund, wie schon -vorher die Lady; wir sehen seine Wirkungen. Persönlich tritt nun -Macduff hervor, der Than von Fife, der Mann aus einer andern Welt, -deren wir uns nun aufatmend versichern: er will nur den als König -anerkennen, der auch die Tugenden des Herrschers hat; wundervoll ist -diese Szene, wie Malcolm, der junge Prinz, zu dem er nach England -kommt, ihn prüft, ob er kein Verräter, kein mörderischer Abgesandter -Macbeths ist; wie der Prinz sich selber alle Laster zuschreibt; wie -Macduff auf die Frage, ob so ein habgieriger, grausamer Lüstling zu -herrschen verdiene, ausbricht: - - Zu herrschen wert? - Nein, nicht zu leben! -- Unglücksel’ges Volk! - -Und gleich darauf trifft den edeln Macduff die Nachricht vom gräßlichen -Untergang seines Hauses: von der Ermordung der Frau und der Kinder. - -Eine der innigsten Szenen Shakespeares ist das, wie der vom größten -Leid Angesprungene kein Wort spricht, das Gesicht im Hut verbirgt und -dann, als Worte kommen, als er im Bilde sieht, wie der Geier auf sein -Nest losgestürzt ist, immer wieder fragt: Alle? Alle? - - All meine lieben Küchlein? samt der Henne? - -Und wie er sich dann mannhaft faßt, den Schmerz um all seine Lieben -zum Schmerz ums Vaterland, um das von einem Tyrannen gequälte Volk -werden läßt, da kommt es in aller Ergriffenheit wie Glück über uns: wir -haben einen Mann und Menschen gesehn, in dem Liebe, Innigkeit, Güte, -Klarheit, Beherrschtheit in Harmonie stehen. - -Und unmittelbar -- zum Beginn des Schlußakts -- folgt dann die große -Szene der Unharmonischen. Nun dürfen wir in Grauen miterleben, was -alles in Lady Macbeth gelebt und empfunden hat, ohne daß sie’s hat -hochkommen lassen, ohne daß sie’s gewußt hat. - -Bei dieser Szene, wo ein enger, aber gewaltig starker Verstand endlich, -endlich überwältigt wird von der lange niedergedrückten Innerlichkeit, -darf uns das entscheidende Wort in den Sinn kommen, das im Kaufmann von -Venedig die Lösung gebracht hat, das Wort von dem Menschen, - - der nicht Musik hat in ihm selbst, -- - -denn die Musik, die Harmonie war in diesem ärmsten Menschen, diesem -bösen Weiblein gestört, und die Seelenkrankheit der Nachtwandlerin -rührt uns nun zu Tränen beglückend wie die Auflösung einer Dissonanz. -(Kein Wunder drum, daß diese Nachtwandelszene ganze Opern geboren hat.) -Nun wäscht sie ohne Unterlaß und immer ohne Erfolg und ohne Ruhe die -Flecken ab, von denen ihr Rationalismus so kühl gemeint hatte, ein -Händewaschen genüge; nun stören Banquo und Lady Macduff ihren Schlaf, -an deren beider Tod sie selbst keine unmittelbare Schuld trägt; nun -seufzt und klagt sie aus dem Schlafe und zerstört sich von innen -heraus. Was tief drunten in ihr verschüttet lag, hat alles, alles -in sich gesammelt, was sie nicht des Aufmerkens für wert hielt; es -war immer noch eine andre in ihr als die, die vor sich und der Welt -die Rolle der Lady Macbeth spielte, -- und nun ist sie gekommen, die -Unterdrückte, und ringt gewaltig mit der bösen, falschen Tyrannin ihrer -selbst. Man sagt später, „durch Gewalttat ihrer eignen Hände“ solle -sie sich das Leben genommen haben -- und das ist sicher wahr, für ihr -Ende und für all die Jahre vorher, gleichviel, wie ihr äußeres Ende -schließlich war. - -Diese Szene geht auf derselben festen Burg Dunsinan vor sich, in der -der Tyrann haust, -- aber haben wir nicht dabei immer das Gefühl, -die beiden, die einst so nah und zärtlich beisammen waren wie ein -Sittichpärchen, seien jetzt längst meilenweit getrennt? So wundert’s -uns nicht, daß Macbeth, wie er mitten im letzten Verzweiflungskampf die -Nachricht von ihrem Tod erhält, aus seiner versteinerten Öde heraus das -Ding erst wie einen unwillkommenen Botenbericht von sich schieben will: - - Sie hätte später sterben sollen; - Es wär’ wohl Zeit für solch ein Wort gekommen. - -Dann aber kommt es doch, nicht wie Trauer um sein geliebtes Weib, -um diesen besonderen Menschen, sondern wie eine Besinnung über die -Sinnlosigkeit des ganzen Lebens über ihn. In diesem Augenblick, wo der -Verblendete, der eiserne Mann der Sicherheit, sich zu besinnen anfängt, -will auch in ihm wieder der alte Macbeth erwachen; auch für ihn ist -diese Auferstehung die Ankündigung des Endes. Wie der Zugefrorene sich -aber jetzt in der wüsten Welt, in seinem verwüsteten Leben umzusehen -beginnt, was gewahrt er? Das Leben ist Kerzenlicht, das Narren ins -modrige Grab leuchtet! Das Leben ist nichts als bewegter Schatten! Das -Leben ist - - ein armer Komödiant, - Der auf der Bühn’ ein Stündlein lärmt und tobt - Und dann nicht mehr gehört wird; ’s ist ein Märchen, - Erzählt vom Irrsinn, voller Lärm und Wut, - Dessen Bedeutung: nichts. - -Nichts! -- Der Systematiker des Nihilismus konnte es nicht deutlicher, -nicht grimmiger sagen, -- nichts bedeutet ihm mehr das Leben. Auch -ist er gar nicht mehr ein Lebendiger, gar nicht mehr er selbst: nur -noch der klapperdürre Träger eines Staatsgewandes, nur noch eine hohle -Rolle, nur noch der Mann, der spielen muß, was die Dämonen aus ihm -gemacht haben. Er selbst der Schauspieler, der den Tyrannen mimt, -- -aber er will, er muß ihn weiter spielen, den königlichen Herrn, der -unbesiegbar ist. Er hat den erhabnen Wahn, den Cäsarenwahn, hat fast -ein Gefühl, als könne er nicht sterben, -- wo doch etwas irgendwo in -ihm sich so längst nach Erlösung sehnt! Nach Erlösung aus dem Tode, den -er als Leben führt. - -Jetzt aber kommt, woran er nicht glaubt, wogegen er sich versteinert, -das Ende, die Nemesis, die Überwindung. - -Das Unmögliche richtet sich in seiner Welt der Tatsachenwirklichkeit -auf -- der Wald rückt gegen seine Burg heran! - -Das ist uns, auch wenn wir nichts von ähnlichen Sagen wüßten, wie -ein Mythos: das grünende Leben empört sich gegen den Steinturm des -Tyrannen, dem das Herz auch von Marmelstein ist. - -Wir kennen aber, aus einer deutschen Überlieferung, die Sage von dem -König auf seiner festen Burg, gegen den am Maientag der König Grünewald -angerückt kam, alle Krieger mit grünen Maien geschmückt; da rief die -Königstochter: - - Vater, gebt Euch gefangen, - Der Grünewald kommt gegangen! - -So wird in der Sage der Winter vom Frühling besiegt. So wird auch der -längst vereiste Macbeth von dem glühend reinen Prinzen Malcolm, von dem -warmherzigen Macduff, von dem ehrenfesten alten Siward, dem weisen und -beherrschten, überwunden. - -Die Orakel erfüllen sich und enthüllen sich in ihrer Zweideutigkeit; -und wie um die tragische Ironie zu verdoppeln und den harten -Tatsachenmenschen, den die Dämonie erzeugt hat, mit seinen eigenen -Waffen zu schlagen, löst sich alles Dämonische und Zauberhafte ins -Natürliche auf, und die Unmöglichkeit ist lange nicht so unmöglich, -wie die gefeite Sicherheit und Majestät von Hexen Gnaden, die der -besessene König für Wirklichkeit genommen hatte: der Wald kann freilich -nie gegangen kommen, -- aber Soldaten der Revolutionsarmee können -Zweige tragen, um ihre große, überlegene Zahl dahinter zu bergen; -kein vom Weibe Geborener sollte Macbeth je überwinden können, nun -denn, Kleingläubiger, Ungläubiger, Wortgläubiger, Macduff hat aus dem -Mutterleib geschnitten werden müssen. - -Und die Führer des Ständeheers, das den Sieg erlangt -- der Jüngling, -der Mann, der Greis -- alle drei sind geprüfte Menschen der Harmonie; -Trieb und Geist sind ausgeglichen in ihnen; ihr Fühlen, ihr Wollen, ihr -Denken streben zur Einheit, ihr Unteres und ihr Oberes halten einander -die Wage. - -Faust -- der Faust jener Zeit -- hat ein Bündnis mit dem Teufel -geschlossen und wird am Ende vom Teufel geholt. - -In Macbeth haben sich die Teufel in der eignen Brust zusammengefunden -mit den teuflischen Mächten der Welt; er war ein Besessener, der hoch -kam und dem es glückte und der gebietend in der Macht stand wie mancher -besessene Unhold; der kein Glück und keine Freude seitdem kannte; der -wußte, daß er ein Fluch der Menschen war, und der, ohne zu wissen, -wofür, ein Sklave der Pflicht, ein ganz hart und trocken gewordener -Pflichtmensch, nur freilich dem Bösen verpflichtet, tapfer bis zum -Schluß sein Dasein verteidigt, sein Nichts! - - Ich fechte, bis das Fleisch mir von den Knochen - Gehackt ist. - -Daß er einst Gewissensbisse, Reue, Grauen, Angst vor Zusammenhängen und -Folgen, Furcht vor den Menschen gekannt hat, ist ihm längst nur noch -wie ein Märchen: - - Vergessen hab’ ich fast der Furcht Geschmack. - Einst war die Zeit, wo meine Sinn’ erstarrten - Beim nächtlichen Geschrei, wo sich mein Haar - Bei einem Unglückswort erhob und sträubte, - Als lebte es; ich aß mich satt an Grausen; - Entsetzen, meinem blut’gen Sinn verwandt, - Erstaunt mich nicht mehr. - -So wenig wie er mehr begreift, wozu man lebt, versteht er, wie man -freiwillig dem Leben ein Ende machen, wie man dem Schicksal durch -den Freitod entrinnen wollen kann. Nichts faßt er, was mit Freiheit -zusammenhängt; es gibt kein vollendeteres Gegenbild des Brutus als -diesen Zinspflichtigen des cäsarischen Dämons; wie in der letzten -Schlacht die Not schon ans Äußerste geht, ruft er voller Hohn über so -eine unmögliche Vorstellung: - - Soll spielen ich den römischen Narren und - Ins eigne Schwert mich stürzen? - -So ist dieser Tyrann, der dämonischer Ehrsucht gefröhnt hat, der Narr -und leibeigene Knecht des Lebenstriebs, eines Lebens aber, das keinen -andern Inhalt hat als Macht über andre, leere, ziellose Macht, die sich -nur behaupten kann durch unausgesetzte Gewalttat und die einen Sinn, -auch nur für ihren Träger selbst, so wenig hat wie einen Erben. Und --- er hat es in einer Stunde, wo ihm mit dem einstmals Liebsten alles -hinsinken und schwinden wollte, durchschaut -- solch ein öder Wille zum -Dasein und zur Macht ist Wille zum Nichts. Solange er Angst und Reue -und Qual hatte, war er noch irgendwie im Reich der Lebenden gewesen; -sowie ihm die Hölle ihre unbewegte Ruhe und Sicherheit gegeben hatte, -gehörte er dem Reich der Leere, dem Nichts an und war nur noch ein -bewegter Schatten, ein Bühnenheld mit allerlei Lärm und Wut, der seine -Rolle gut zu Ende führte und tapfer wie ein Held den Schlachtentod fand. - - -Soviel ich weiß, können dem Dichter des Macbeth nur zwei spätere an die -Seite gestellt werden. Den einen hat Otto Ludwig genannt: Goethe, den -Dichter des Tasso. Für den andern halte ich Dostojewskij, den Dichter -des Raskolnikoff und des Iwan Karamasoff. - -Wenn ich hier bei genialen Menschen, die zeitlich weit auseinander -sind, von An-die-Seite-stellen rede, so kann ich damit nur meinen, daß -ein Gleiches da ist und ein Trennendes, nenne man’s Fortschritt oder -wie man wolle, es wird der Änderung im Geist der Zeit, aus dem oder -gegen den der Künstler sich erheben muß, entsprechen. - -So auch, wenn wir von Shakespeare aus rückwärts gehn und in der -Vergangenheit einen suchen, der seinesgleichen, der wie er also -und anders war. Wir werden keinen eher nennen als Sophokles und -werden erkennen: das Verhältnis des Menschen zu seinem Schicksal, -das Verhältnis innerer und äußerer Dämonie ist in aller Gleichheit -des Wesentlichen bei den beiden Dichtern ein anderes; die Macht der -Vernunftsphäre, die Freiheit, in der der Mensch gegen das Verhängnis -steht, die Macht des Individuums, sich zu wandeln und zu entwickeln, -ist in Shakespeare größer geworden. Selbst an dem finstern, strengen -und streng behandelten, aus der Bahn der Gewöhnlichkeit von den Mächten -ins Reich metaphysischer Lockung und Verfolgung gehobenen Macbeth und -in andrer Art an seiner Gefährtin erkennen wir die Möglichkeit des -μετανοεῖν, der Buße, der Umkehr und Heimkehr ins wahre Wesen, das -keinem Lebendigen in seinem Innern ganz und gar fehlen kann. - -Und dasselbe Verhältnis sehen wir fortschreitend zwischen Shakespeare -und den beiden Dichtern, die nach ihm kamen. Das Gleiche in den -Werken der drei Dichter, die ich nannte -- Shakespeare, Goethe und -Dostojewskij --, ist, daß in vollendeter Art der Charakter sich selber -sein Schicksal baut, daß nicht hier die Tat ist und dort, nachher, von -außen die Vergeltung kommt, sondern daß Tat und Leiden ein einziger -Zusammenhang sind: in der Tat, im ursprünglichen Wesen, das die Tat aus -sich entlassen hat, liegt das Leiden, die Strafe. - -Ödipus straft sich selbst für das, was die Götter dadurch taten, daß -sie ihm sein Schicksal gaben. - -Diese Männer neuerer Zeit indessen sind vom Weltengeist gestraft, nicht -mit äußerem Schicksal zunächst, sondern mit ihrem inneren Wesen. Und -was von außen als Strafe über sie hereinbricht, ist in Wahrheit der -Anfang der Erlösung: auch für Macbeth, der längst kein Lebendiger mehr -ist, wenn der Tod ihn von seinem Posten abruft. - -Hier aber fängt gerade der Unterschied an zwischen den Dichtern unserer -näheren Zeit und Shakespeare: Strafe, Sühne, tragischer Ausgang fällt -für die modernen Tragiker nicht mehr so unbedingt mit dem Lebensausgang -zusammen. Den Knalleffekt des gewaltsam aus dem Leben gerissenen und -dann als Leiche daliegenden Menschen braucht unser Empfinden und unser -Geist -- denn die hohe Dichtung wendet sich keineswegs bloß an die -Empfindung -- nicht mehr. Tasso wie Macbeth, beide leben ihre Tragödie, -solange sie leben; aber für Macbeth und seine Welt ist es so notwendig, -daß er als einer, der gewaltsam gelebt hat, gewaltsam von hinnen geht, -wie für Tasso, daß das Äußere, Plötzliche, Einmalige des Ausgangs ohne -Bedeutung ist. Bei dieser Gestalt kommt alles nur darauf an, daß ihr -Wesen und Leben nicht in die Umgebung, nicht in die Welt paßt. - -Und wieder einer andern Tönung des mit der Zeit und dem Volksschlag -veränderlichen Teiles der Ausdrucksgestalt des Geistes gehören -Dostojewskijs Gestalten an. Raskolnikoff und gewiß auch -- das Werk ist -unvollendet geblieben -- Iwan Karamasoff, beides Mörder gleich Macbeth, -Iwan ein indirekter, der durch Psychologie die Mordtat zustande -bringt, sie beide überleben ihre Tragik, leben über sie hinaus, -überwinden ihr So-tun-müssen, So-wollen-müssen, das ihre Qual bedingt -hat. - -Ihre Tragik, ihr Aufruhr, ihr Nicht-in-die-Welt-passen und Zerfall mit -sich selbst, mit Gott und der Welt, ist ein Krampf und Übergangszustand -der Jugend. - -Da ist ein Neues, und Goethe der junge Dichter hat nicht gewußt, nicht -gestaltet, was Goethe der Mensch langen Lebens würdevoll bewährt hat: -daß Werther nämlich sich in Wahrheit nicht hat töten, sondern nur den -Krampf der Jugend bei furchtbarem Zusammenprall mit der schnöden Welt -hat überwinden müssen. - -Das aber gibt es bei diesen Gestalten Dostojewskijs: sie haben einen -so starken Grad der Erkenntnis in die Zusammenhänge des Innen und -Außen, ihres Wesens und der geschichtlich gewordenen Umgebung, daß -ihre Leidenschaft, ihr Napoleons- und Mordtrieb und ihr Leiden nur ein -Entwicklungsstadium in ihrem Leben bilden, daß sie durch Resignation -und Hoffnung, Hoffnung nicht so sehr für sich wie für die Menschheit, -gerettet werden. - -Etwas von dieser Entwicklung fängt gerade mit Shakespeare an: in -seinen beiden modernsten Tragödiengestalten Troilus und Hamlet und in -der Entwicklung des trotz allem nichttragischen Schauspiels Maß für -Maß. Troilus der Jüngling wächst und reift während der Handlung; als -Lebender sieht er am Ende des Dramas gefaßt und groß dem Untergang -seines Volkes entgegen. Und Hamlet? Wie er leben mußte, in dieser Welt, -das ist für uns seine Tragödie; daß er am Schluß gewaltsam stirbt, -und die Art, wie dieser Tod herbeigeführt wird, das hat etwas fast -Nebensächliches, ja sogar Ungemäßes und Konventionelles an sich. - -Und vielleicht darf ich hier sogar mit einer persönlichen Erinnerung -kommen. Als ich ein junger Student war und mich viel mit Hamlet -beschäftigte, konnte ich nicht anders: ich erklärte mir das ganze -seltsame Wesen des Dänenprinzen, seine Nähe am Wahnsinn, sein -furchtbares Leiden an sich und den Menschen -- wovon allem wir an -seinem Ort ausführlich gesprochen haben --, ich erklärte mir das alles -mit der Pubertät, mit Jugend und Übergangszustand also. - -Kein Zweifel ist, daß auch in Hamlet potentiell eine Macht der Vernunft -vorhanden ist, deren höchste und reinste Gestalt, die Harmonie zwischen -Fühlen und Denken und Handeln, auch die höchste Tragik überwinden kann, -weil kein Äußeres, auch der Himmel und sein Verhängnis nicht, mächtiger -ist als der Mensch, der überwunden hat. - -Was da mit der Gesamthaltung des Sinnspiels Der Kaufmann von Venedig, -mit dem Schicksal und der Läuterung des Angelo und Troilus beginnt, -was im Vernunftwesen Hamlets angelegt ist, das wird auf Shakespeares -letztem Gipfel zu weihevoller Höhe gehoben im Wintermärchen und zumal -im Sturm, der, wie wir sehen wollen, von nichts anderm handelt als von -dem Sieg des Geistes über den Trieb. - -Tragik aber bleibt immer das Teil derer, deren Wesen nicht nur im -Triebhaften wurzelt -- so sind wir alle beschaffen --, sondern aus -denen der Trieb wie Blattwerk und Blüte und Flamme zehrend, zündend -und verderbend nach oben schlägt. Auch sie haben Erkenntnis, manchmal -hohe und starke; aber nur eine solche, die ihr Licht auf den Trieb -wirft und dies Nächtige sichtbar macht, auch für sie selbst; nicht aber -die Erkenntnis, die Macht über den Trieb ist und beherrschend mit ihm -fertig wird. - -Ein solcher Triebmensch, ein Getriebener also, ein Bewirkter, Passiver, -von Dämonen Gepackter, so sehr er sich zumal später, nach seiner -Krise, einbildet, eine aktive Natur zu sein, ist Macbeth der König, -ganz anders denn doch von seiner innern Bestimmtheit seinem Schicksal -zugetrieben als König Ödipus, bei dem die Hybris und der Herrscherwahn -nur eine Begleiterscheinung, eine Folge und Widerspiegelung des -unbegreiflichen Beschlusses der Götter ist. Und als ein Triebmensch, -diesmal aber einer, der zum Lernen, zur Entwicklung der Vernunft wie -der Innigkeit noch im höchsten Greisenalter nicht zu alt ist, der vom -Schicksal in die Schule genommen wird und bei der Natur, beim Volk, bei -Narren und nicht zuletzt beim Unglück in die Lehre geht, wird sich uns -auch ein ganz anderer König enthüllen -- jeder Zoll ein König! -- das -nächste Mal --, König Lear. - - - - -König Lear - - -Im Jahre 1603 erschien ein Buch eines gewissen Harsnet „Entdeckung und -Erklärung hervorragender papistischer Betrügereien“; darin findet sich -ein großer Teil der seltsamen Teufelsnamen, die Edgar Gloster in seinem -vorgegebenen Wahnsinn im Munde führt. Es ist also wahrscheinlich, daß -Shakespeare das Werk für diese Einzelheit benutzt hat, woraus sich -ergibt, daß der König Lear, wofür auch gar nichts spräche, nicht vor -1603 verfaßt sein wird. Im Jahre 1605 erschien ein Schauspiel, „Die -echte Chronikenhistorie von König Leir und seinen drei Töchtern“. -Dieses Stück hat, vom Rohen der Handlung abgesehen, so gut wie keine -Ähnlichkeit mit Shakespeares Stück und weist von seinem Geist so wenig -wie von seiner Komposition und Sprache etwas auf. Da nichts sicherer -ist, als daß dieses Stück nichts mit Shakespeare zu tun hat -- außer -Tieck, der bei all seinem beinahe tiefen Verstand eine wahre Sucht -nach dem Verkehrten hatte, hat es, glaube ich, nur Simrock für möglich -gehalten, der vom Volkstümlichen im allgemeinen wie von Shakespeares -Volksart im besondern einen falschen Begriff hatte --, so kann man -annehmen, daß hier ein älteres Stück rasch gedruckt und als das echte -bezeichnet wurde, weil damals gerade Shakespeares Stück neu, noch nicht -gedruckt, aber begehrt war. Sicher wissen wir, daß Shakespeares König -Lear 1607 mit der Bemerkung ins Buchhändlerregister eingetragen wurde, -das Stück sei Weihnachten 1606 aufgeführt worden; diese Aufführung, -die vor dem König in Whitehall stattfand, braucht aber nicht die erste -gewesen zu sein. 1608 erschienen dann tatsächlich zwei von einander -abweichende Quartausgaben des Stückes. Der Text, den die Gesamtausgabe -von 1623 bringt, ist in vielem einzelnen bedeutend besser; dafür -fehlen ihm aber wichtigste Szenen, so vor allem die, wo Lear in -Wahnsinnswut seine Töchter aus der Luft zusammenballt und vor die -Richter stellt. Da diese Nachlaßausgabe trotz allem redlichen Willen -der Herausgeber Liederlichkeiten genug begeht, da ihr Text nicht im -entferntesten kanonische Geltung hat, da er so wenig von Shakespeare -endgültig festgesetzt worden ist wie der, den die bei seinen Lebzeiten -erschienenen Raubausgaben bringen, da man auf alle möglichen Gründe zur -Erklärung der Auslassung raten kann, haben wir dem Schicksal lediglich -dankbar zu sein, daß wir diese prachtvolle Hauptszene haben; sie aus -dem Text wegzulassen und in den kritischen Apparat zu verbannen, blieb -dem Tieck ~redivivus~ unserer Tage Gundolf vorbehalten. - -Die Geschichte vom König Lear war offenbar sehr bekannt und beliebt; -ich nenne hier, ohne auf einzelnes einzugehen, die Quellen, die -Shakespeare sicher bekannt waren: Mitte des 12. Jahrhunderts verfaßte -der Bischof Galfried von Monmouth nach Überlieferungen in seiner -Heimat Wales die „Geschichte der britischen Könige“, die 1508 in Paris -lateinisch gedruckt erschien; darin berichtet er auch von Lear und -seinen drei Töchtern. In allem Wesentlichen stützte sich Shakespeare -aber wieder auf Holinsheds Chronik, deren zweite Ausgabe aus dem Jahr -1587 stammt. Dichterische Bearbeitungen fand er in dem Lehrgedicht -„Spiegel der Obrigkeiten“ von 1575 und in Spensers „Feenkönigin“ von -1590. Das erwähnte Chronikendrama wird er doch wohl gekannt haben; eine -der hölzernen Gestalten, die sich in Shakespeare zu seinem wundervollen -Kent verwandelt haben kann, der in der sonstigen Überlieferung kein -Vorbild hat, unterstützt die allgemeinen Erwägungen, die dafür -sprechen. In allem übrigen aber hat er das biedere Ding, das so -ungefähr auf dem Niveau von Hans Sachs steht, so gar nicht benutzt, daß -keinerlei wirklicher Beweis dafür da ist, daß er es gekannt hat. - -Nun ist aber in der ganzen Überlieferung von den Vorfällen im Haus -Gloster mit keinem Wort die Rede. Shakespeare flocht diese Tragödie -kunstvoll in die Lear-Tragödie ein, indem er eine ganz andere Fabel, -die Geschichte vom paphlagonischen König, die er in Sidneys „Arcadia“ -vom Jahr 1590 fand, benutzte. - -All diese Texte, die Shakespeare vorlagen, sind im Original -und in guter deutscher Übersetzung in einem sehr hübschen und -lehrreichen Büchlein zu finden, dem ersten Band einer Sammlung von -„Shakespeares Quellen“, die Alois Brandl im Auftrag der Deutschen -Shakespeare-Gesellschaft herausgibt. - -Seien nun zunächst die Grundelemente der überlieferten äußern Handlung -und Shakespeares Abweichungen von den groben Zügen dieser Fabel -zusammengestellt. - -Die Regierung des Britenkönigs Lear, der in noch älterer Gestalt -der Sage ein keltischer Gott gewesen zu sein scheint, wird in eine -fabelhafte Vorzeit verlegt; wir haben die Wahl, ob wir das Jahr 600 -oder gar 800 vor Christus nennen wollen. Immer ist er bei Beginn der -merkwürdigen Geschehnisse sehr alt. Er hat drei Töchter, deren jüngste -sich durch Schönheit und Klugheit auszeichnet und von ihm besonders -geliebt wird; die beiden andern sind, wie wir im Märchen so häufig -hören, böse und neidisch. Nun will er das Reich teilen und zugleich die -Töchter verheiraten. Damit in Verbindung stellt er ihnen die Frage, -welche von ihnen ihn am liebsten habe. Die bösen Töchter antworten -schwülstig schmeichlerisch; Cordelia -- die Überlieferung ist in der -Deutung dieses schwierigen Charakters nicht ganz einig -- spricht sich -bald trocken, bald trotzig, bald keusch zurückhaltend aus; immer aber -für ihn sehr unbefriedigend und überraschend. Sie wird enterbt; aber -der König von Frankreich nimmt sie auch so, als armes Mädchen, zur -Frau. Lear wird dann durch Goneril und Regan schlecht behandelt, sein -Rittergefolge, das er sich ausbedungen hatte, immer mehr verkleinert. -Zuletzt geht es ihm bei diesen vorgezogenen Töchtern so schlecht, -daß er nach Frankreich flieht. Dort findet er am Hof die liebevollste -Aufnahme. Es kommt zum Krieg; Frankreich siegt; Lear wird wieder -König und lebt noch ein paar Jahre. Nach seinem Tod besteigt Cordelia -den Thron. Etliche Jahre später aber erheben sich die Söhne ihrer -Schwestern gegen die Herrschaft der Tante und erlangen den Sieg; sie -wird gefangen gesetzt und erhängt sich im Gefängnis. - -Hier nun können wir Shakespeare sehr schön bei der Arbeit beobachten; -wir sehen, wie er aus kompositorischen und inneren Gründen -zusammengezogen und geändert hat, wie er aber dabei von den Elementen -der Tradition in irgend einer Umgestaltung noch nimmt, was er irgend -brauchen kann. Frankreich und Cordelia siegen in der Überlieferung; -Lear wird wieder König; etliche Jahre später wird Cordelia in einem -neuen Krieg besiegt. Diese Dehnung am Schluß konnte der Dichter nicht -brauchen; ein Sieg Frankreichs über die Briten paßte also nicht zu -seinem Schluß; er wird auch sonst keine Lust gehabt haben, ihn ohne Not -auf die Bühne zu bringen. Aber daß Lear wieder König wird, entsteht, -wenngleich nicht für Jahre, so doch für Augenblicke irgendwie vor -unsrer Vorstellung: er wird wieder groß, königlich, gebieterisch, ehe -er stirbt. Cordelia in der Überlieferung erhängt sich im Gefängnis nach -ihrer Niederlage; bei Shakespeare wird sie gleich das erste Mal besiegt -und von Edmund verräterisch ermordet; aber die Tat geschieht ebenfalls -im Gefängnis und durch den Strick. - -Aber was hat Shakespeare sonst noch der dürren Fabel gegeben! Seine -wichtigste Zutat ist Lears Wahnsinn, von dem die Überlieferung nichts -weiß, und alles, was damit zusammenhängt; die Nachtszenen im Gewitter -auf der Heide, in der Hütte, auf dem Pachtgut. Kents Widerspruch bei -Lears Verstoßung Cordelias, seine Verbannung und Treue sind neu; -wie gesagt, eine Spur davon bot das ältere Drama. Wie Cordelia zum -König von Frankreich kommt, ist völlig verändert; da hat Shakespeare -vor allem viel Liebesromantik, die ihm in dieses Stück nicht paßte, -weggelassen; dafür hat er die Doppelwerbung Burgunds und Frankreichs -erfunden, um Frankreichs edle Gesinnung in Kürze zu zeichnen. -Wiederum Shakespeares Erfindung ist, daß die beiden Ehemänner der -bösen Schwestern sich wesentlich unterscheiden; bei ihm ist Gonerils -Gemahl Albanien ein edler, rechtschaffener Mann; das brauchte er im -Zusammenhang der Glosterhandlung, brauchte es wohl auch zum Ersatz des -Königs von Frankreich, der ganz in den Hintergrund trat. Der Narr ist -völlig Shakespeares Erfindung. Und dann die ganze Glosterhandlung: -Glosters Erlebnisse mit den beiden Söhnen, mit Regan und Cornwall; des -Bastards Edmund Beziehungen zu Goneril und Regan; Edgars verstellter -Wahnsinn und Zusammenhang mit Lear; Glosters Blendung und Erlebnisse -mit dem Sohn und Lear; Edmunds entscheidendes Eingreifen in den Krieg -und gegen Cordelia: all diese aufs engste verflochtenen Beziehungen der -drei Gloster zu Lear und seinen Töchtern stammen ganz von Shakespeare, -können natürlich auch in der Geschichte des paphlagonischen Königs -nicht vorgebildet sein. - -Zwei sinnvoll nebeneinander laufende und aufs natürlichste ineinander -verflochtene Handlungen, reichlich Stoff für ein großes Drama hätte -Shakespeare in der ursprünglichen Überlieferung gehabt: Lears -Erlebnisse mit den Töchtern; Cordelias und des Königs von Frankreich -Liebesabenteuer. Das hätte ein Stück werden können, mit seinem -Ineinander des triebhaft Wilden, Willkürlichen in der alten Generation -und des freien Liebesspiels in der jungen, ganz anders als das hölzerne -Chronikenspiel es machte, ganz shakespearisch, so wie Shakespeare eine -ähnliche Doppelfabel in der Tat später im Wintermärchen behandelt -hat. Aber daß es ihm diesmal auf ganz anderes ankam, zeigt eben die -Tatsache, daß er das Liebesspiel unschuldiger Jugend in Wald und -freier Natur, dem er sich sonst so oft zugewandt hat, radikal aus dem -überlieferten Stoff austilgte und statt dessen mit der Glosterhandlung -Ereignisse einfügte, die gegen Lears Geschichte sich nicht abheben, -sondern das nämliche Thema verstärkt variieren und die Lears Erlebnis, -das er selbst so überraschend in seinen Reden manchmal ins Sexuelle -hinüberspielt, auch in der Handlung, die wir vor Augen haben, in -den Vorgängen zwischen dem Bastard Edmund und Lears Töchtern, in -Verbindung bringen nicht mit unschuldiger Liebe, sondern mit arger und -frevelhafter Verkuppelung von Geschlechtstrieb und Machtgier. - -König Lear, wir sehen es mit seinem ersten Auftreten und blicken immer -tiefer in seinen innern Zustand hinein, ist ein Mann des Triebs, der -Willkür, gutartig dabei, aber jäh, ungezügelt. Ungeheuer stark prägt -sich sein Königsbewußtsein aus; er ist eigensüchtig und eigensinnig, -ist es von je gewesen und in seinem hohen Alter noch viel mehr -geworden. Aber eine ganz besondere Spielart in Shakespeares Sammlung -gebietender Triebmenschen stellt er vor. Ohne Frage hat Lear mit -Macbeth, mit König Claudius, mit Richard III. Züge genug, entscheidende -Züge gemeinsam; am ehesten aber wirkt er, wie ein in langer -Regierungszeit von keiner Rebellion gestörter, alt gewordener Richard -II.; eine unverwüstlich gute Anlage ist in ihm, und sein Schöpfer, -so scharf er ihn ansieht, entzieht ihm niemals seine Sympathie. Auch -insofern darf er mit König Leontes aus dem Wintermärchen verglichen -werden. Der wird von der Raserei seines eingewurzelten Triebs, seiner -Willkür und Tyrannei im Gang der Handlung, vor allem durch das -Eingreifen einer resoluten Frau, die ihn in die Kur nimmt, geheilt. -Die Gattin, der Gegenstand seiner Wut, wird ihm weggenommen; er -glaubt, durch sein Gericht in den Tod; in Wahrheit durch Intrige vor -ihm verborgen. So ist das Wintermärchen, obwohl es in einem Punkt -bis ins Allerletzte der Seelenergründung geht, doch keine Tragödie -und kein Lebensdrama geworden, sondern ein Spiel; darum auch hat in -ihm die heitere Liebesepisode und so manche andre Erholung Platz, -und die Heilung und Befreiung des Königs ist der Zeit anvertraut, -die übersprungen wird. Wie anders im Lear! Da sind wir dabei, wie -allmählich, Stufe um Stufe, auf seltsamstem Weg die neuen Umstände, -die furchtbarsten Erfahrungen eine Wandlung und Läuterung von innen -hervorbringen. - -Lear der König, der alte Mann, der Vater legt großen Wert auf -die Liebe; aber -- Strindberg hat gut darauf hingewiesen -- der -Eigenwillige, Heftige, Launische versteht unter Liebe vor allem: sich -lieben lassen. Mildernd ist da allerdings zu sagen: er ist alt, fühlt -sich hinfällig, hat, ohne daß er’s in seinem starken Verlangen nach -majestätischem Auftreten zeigen will, das Bedürfnis, sich anzulehnen; -sein starkes Reden, Pochen und Kopf-in-den-Nacken-werfen täuscht nicht -darüber, er ist schon ein wenig weinerlich geworden; er blickt sich, -nur soll man’s nicht merken, nach Liebe und Pflege um. - -Wie mag er früher gewesen sein, als er noch rüstig war, in der -Manneszeit, in der Jugend? Auch da hat Strindberg etwas Interessantes, -auch für ihn selbst Bezeichnendes gefragt: was hat König Lear -eigentlich für eine Frau gehabt? Jetzt ist sie tot. Wie hat er mit -ihr gelebt? Die Kinder dieser Ehe sind jedenfalls sehr ungleich -ausgefallen, und ungleich werden wohl auch ihrer beider Naturen, -untereinander und jede in sich, gewesen sein; ungleich etwa auch Art -und Grad ihres Zusammenlebens. Erwähnt wird die Frau nur einmal. Wie -Regan den Vater, der sich unzeitig bei ihr einquartieren will, mit kaum -unterdrücktem Zorn begrüßt: - - Ich freu’ mich, Euer Majestät zu sehn, - -da erwidert er mißtrauisch: - - Regan, ich denk’, du tust’s, und weiß den Grund, - Warum ich’s denke: wärst du nicht erfreut, - Ich schiede mich von deiner Mutter Grab, - Weil’s eine Ehebrecherin verschlösse. - -Schließlich heißt das nur in einer etwas blühenden Gleichnissprache: Du -bist mein echtes Kind nicht, wenn du dich nicht freust, deinen Vater -zu sehen! Aber dies Stück stammt aus der Periode, wo Shakespeare schon -lange nicht mehr die üppige Sprache mit sich, sondern höchstens mit -den Personen davonlaufen läßt, für deren Charakter und Erleben sie -kennzeichnend ist; und überdies dürfen wir glauben, daß dem reifen -Dichter, als er Lear gerade so und nicht anders reden ließ, die Frage -nach Lears Weib schon auch selber einfiel, und vor allem: wir werden -noch hören, wie Lear später, wo mit der Tollheit die Erinnerungen -farbig und brennend heraufgekommen sind, sich über den Zusammenhang von -Machtwillkür und Weibsgemeinheit äußern wird. Ein gewisser Einblick -in das frühere Leben und die Beschaffenheit der Ehe eröffnet sich da -schon, und mehr als diese allgemeine Stimmung brauchen wir nicht; mehr -hat auch der Dichter selbst nicht gewußt. - -Was die beiden ältesten Töchter über ihren Vater äußern, soll wohl -vor allem ihre Lieblosigkeit kennzeichnen; der böse Blick aber sieht -scharf, und was sie von den Schwächen, den Altersschwächen ihres -Vaters sagen, finden wir im Sachlichen selbst bestätigt und glauben -den Töchtern gern, daß das im Alter sich nur verstärkt hat, aber -schon immer seine Manier war. Und wenn nun Goneril, das junge Weib, -klagt, „die besten rüstigsten Jahre seines Lebens“ seien auch schon -voll Übereilung gewesen, so finden wir das recht glaubhaft; sie wird -sich aus ihrer Kinderzeit, etwa auch aus Erzählungen, an genug solche -Auftritte erinnern. Er ist ein Mann, von dem ungestüme Launen, jähe -Machtsprüche zu erwarten sind. Vielleicht ist aber doch die Szene, -mit der die Handlung einsetzt, das tollste Stück, das er je geleistet -hat. Die beiden ältesten Töchter sind schon verheiratet; um Cordelia, -die jüngste, bewerben sich zwei hochansehnliche Freier. Das wurmt ihn -innerlich schon, ohne daß er sich’s eingesteht, daß das jüngste und -liebste Kind ihn nun auch noch verlassen, einem andern in Liebe folgen -soll: - - Sie war mein liebstes Kind; des Alters Trost - Hofft’ ich von ihrer Pflege. - -Sie hätte ganz bei ihm bleiben sollen; er ist nicht der Mann zu -begreifen, wie man einen andern lieb haben kann; und nun soll sie -gar so weit weg; zwei Ausländer, man könnte fast Schlimmeres sagen, -Landesfeinde bewerben sich um sie; die beiden älteren Töchter haben -wenigstens Herzöge Britanniens zu Männern genommen. Nun wird sie wohl -gar, wenn er ihr schon ein Drittel des Landes gibt, die meiste Zeit -fort, drüben in Frankreich oder Burgund sein. Auf jeden Fall will er -sich’s jetzt bequem machen, will die Last der Regierung auf seine alten -Tage los sein, aber ein reiches, üppiges, königlich gebieterisches -Leben mit Jagden und Festen und Ritterfahrten weiter führen. Diesen -seinen Entschluß betrachtet er als einen edelmütig liebevollen -Verzicht, als Großmut; er hält es für selbstverständlich, daß die -Töchter und der Hof ihn so nehmen müssen; und da ist es, meint er, -das wenigste, daß sie ihm dafür jetzt, in feierlicher Staatssitzung -versichern, wie lieb sie ihn haben, das heißt, wie gut er ist. - -Und gerade das kann Cordelia nicht! Ihre beiden Schwestern nehmen die -Sache politisch; wenn Paris eine Messe wert ist, sind sie ja wohl keine -Teufelinnen aus der Hölle, sondern bloß Fürstinnen durchschnittlicher -Art, wenn sie für ein Drittel Britanniens ihrem despotischen Vater mit -schönen Redensarten um den Bart gehen. Wie man Shakespearephilologie -von seiner übrigen Gesinnung trennen kann, verstehe ich nicht, -aufrichtig gesagt; ich habe in der Tat gar nichts dagegen und sehr -viel dafür, wenn man sich auf den wunderschönen Standpunkt Cordelias -stellt; aber damit, daß man ihre Haltung bewundert und die der -andern Schwestern als etwas abgründlich Schlechtes, als schnöde -Heuchelei verdammt, ist es nicht getan. Unser ganzes öffentliches, -gesellschaftliches und Familienleben wird radikal umgestaltet, wenn -man auf Cordelias Boden tritt. Goneril und Regan benehmen sich höchst -abscheulich und ganz nach der Regel. In Cordelia, die bisher ein Kind -war und nun vielleicht zum ersten Mal berufen ist, vorzutreten und ihr -Inneres zu offenbaren, tritt diesem herrischen, eigensüchtigen, an -Liebedienerei gewöhnten König zum ersten Mal ein Ausnahmemensch, zum -ersten Mal jemand entgegen, dem das Gebot des Herzens wichtiger ist als -alles andre in der Welt. Und das ist sein eignes, sein liebstes Kind! -Keine Frage, er weiß es bloß nicht, darum liebt er sie vor allen, weil -ihre Innigkeit, ihre Menschlichkeit, ihre Echtheit ihm wohltut; weil -sich die Übereinstimmung von Fühlen und Handeln, die ihr notwendig -ist, in ihren Bewegungen, ihrem Antlitz, dem Blick ihrer Augen und -hundert täglichen Kleinigkeiten äußert. Keineswegs kann man sagen, daß -sie eine Fanatikerin der Wahrheit wäre; dann müßte das Denken in ihr -besonders entwickelt sein, und sie könnte dann ihrer echten Liebe zum -Vater wahrscheinlich einen recht starken Ausdruck geben. Sie ist aber -in keiner Weise unter wahrhaften Menschen eine Ausnahmeerscheinung; -sie ist es nur in der knechtisch-lügnerischen Umgebung, wie man sie -allenthalben, ganz besonders aber am Hofe trifft. Ein sprödes Mädchen -ist sie; sie kann ihr Herz nicht auf dem Präsentierteller herumreichen, -kann nicht in einer Staatssitzung, kann vor allem nicht zu einem Zwecke -von ihren Gefühlen sprechen. Von den Gefühlen zu sprechen geht gegen -das Gefühl; Gefühle äußern sich im stillen, fortwährenden Tun und in -plötzlichen Erhebungen und Aufwallungen. Der König zwar erwartet, wenn -er verkündet, er wolle zurücktreten und das Reich seinen Töchtern -und Tochtermännern schenken, müsse eine solche Aufwallung, die ihm -echt und von innen aufschießend vielleicht noch nie im Leben, gemacht -aber gewiß immerzu begegnet ist, sich sofort einstellen; und die -gezierten Äußerungen der beiden andern Töchter, derengleichen er für -ungewöhnliche Dankbarkeit, zu der er so oft Veranlassung gegeben hat, -gewohnt ist, nimmt er für solche Ausbrüche. Cordelia aber horcht in -sich hinein und findet in diesem Augenblick nur Leere. Den Äußerungen -ihrer Schwestern hört sie die Berechnung an, und so wird aus ihrem -Unvermögen, sich jetzt zu äußern, Verstocktheit. Es kommt aber noch -etwas dazu. Der Kindheit entwachsen, eine Jungfrau geworden ist sie -durch die ersten Regungen der Liebe, einer Liebe so ganz andrer Art -als die Kindesliebe. Wir dürfen annehmen, daß ihr Herz sich Frankreich -zuneigt; aber selbst, wenn sie davon gar nichts wüßte, wäre doch -Liebigkeit, diese Bereitschaft in ihr, bald ein eheliches Weib zu -werden, die ja auch von außen gefördert wird. Höheres gibt es für -dieses Mädchen nichts in der Welt als diese Erwartung, sich liebend -hinzugeben und hemmungslos, wie es das Gebot der Liebe ist, einem Manne -zu gehören. Und in diesem Augenblick -- die Freier stehn vor der Tür, -werden eben geholt, die Stunde grenzenlosen Aufgebens, wonnig bangen -Umfassens ist da -- verlangt der alte Mann für sich, was bis aufs -letzte Tröpfchen gesammelt in ihr eines andern wartet. Und sie muß -mitanhören, wie ihren Schwestern glatt wie Öl etwas von der Zunge geht, -was ihr nur wie Verrat an der Gattenliebe klingen kann. So vermag sie -ihrem Vater nicht nur das Gehäufte nicht zu geben, worauf er Anspruch -macht; sie kann ihm jetzt gar nichts geben; und was sie schließlich -äußert, kommt gezwungen und hart heraus. König Lears Seelenkenntnis -können wir uns aber nicht verwahrlost, verbogen und verkehrt, man nennt -das naiv, genug vorstellen. Er hat verlangt, mit Recht verlangt, das -war doch das wenigste, daß man ihm bei diesem feierlichen Akt seines -ungemeinen Edelmuts ein paar schöne Worte sagt; ist das denn zu viel? -Nun, die älteren Töchter tun’s; und schon ist er zufrieden und gibt -ihnen ihr überreichlich Teil. Jetzt ist an seinem liebsten, seinem -Schmerzenskind die Reihe; und wie? hört er recht? hart, fast böse -antwortet sie, sagt wohl so etwas von pflichtschuldiger Liebe; aber -merkt man nicht, wie sie sich dazu selbst zwingen muß? Für ihn ist sie -in diesem Moment nicht bloß verstockt und lieblos; sie ist eine arge -Heuchlerin; sie preßt sich Äußerungen ab, die ihr nicht von Herzen -kommen. Was steckt da dahinter? Es muß doch einen Grund haben! Was -offenbart sich da? Wie sieht es in ihrem Herzen aus? In dem Augenblick, -wo sie ihrem Vater, der den Kindern sein ganzes Reich gibt, wie die -Schwestern, überströmend dankbar sein sollte, zeigt sie sich so und -redet mehr von ihrem künftigen Mann als von ihrem guten Vater? Alles -dreht sich um ihn, innen kocht’s auf, und der Ausbruch ist da. - -Vergebens ruft der Graf von Kent, ein Mann, der schon lange an diesem -Hof gelebt und zu Lear voller Verehrung wie zu einem Vater aufgeblickt -hat, dessen kerniger Biedersinn Cordelias verwandte Frauenseele -erkennt, dem König zu, er sei ja toll: - - Was tust du, alter Mann? - -In dieser Verfassung läßt Lear sich von keinem Menschen hemmen: -Kent wird verbannt, Cordelia verstoßen, enterbt, ohne Mitgift dem -überlassen, der sie nimmt. Burgund tritt zurück; Frankreich liebt -Cordelia um ihrer selbst willen; sie wird seine Frau. Cordelias -knospenhaftem Wesen, das überlegener Klugheit fern ist, können wir -nicht zutrauen, daß sie daran gedacht hat; aber ein besseres Mittel, -ihre Freier zu prüfen, als auf jede Würde und Mitgift zu verzichten und -nur noch sie selbst zu sein, konnte es nicht geben. - -Hundert Ritter, mit ihrem stattlichen Gefolge von Edelknappen, Knechten -aller Art, hat der alte Mann sich vorbehalten; mit diesem Hofstaat -will er abwechselnd bei den Töchtern hausen; und hochbeglückt und -erfreut sollen sie sein, wenn ihr Vater kommt. Goneril hat in der Sache -keineswegs unrecht, wenn sie meint, er habe seine Macht verschenkt, -wolle aber nichts davon entbehren. Er tritt herrisch, brutal auf; -die Ritter ahmen das Beispiel nach; was er um seiner Machtfülle, -seines Selbstbewußtseins willen tut, setzen sie in Willkür, Roheit -und Liederlichkeit fort; es ist ein zügelloses Treiben; sein erstes -Wort, das wir bei Goneril von ihm hören, wie er mit seinem wilden -Gefolge von der Jagd kommt, ist: „Laßt mich keinen Augenblick auf das -Essen warten!“ Und noch mehr Proben eines Auftretens erhalten wir, -das übermütig zu nennen wäre, wenn er nicht ein überalter Mann wäre, -der in einem langen, langen Leben niemals vom Leben in die Schule -genommen worden ist. Er ist derart ungezügelt wie kleine Kinder, die -man ungezogen nennt; die Sinneseindrücke scheinen fast ohne jede -geistige Vermittlung Handlungen bei ihm auszulösen; er verstößt, -verbannt, schimpft und schlägt so unmittelbar, nachdem man sich seiner -Willkür entgegengestellt hat, wie das kleine Kind nach dem glänzenden -Gegenstand greift, den es sieht. Hat man das Kindchen ein paarmal aufs -Händchen geschlagen, so wird sich, wenn es die Bewegung noch macht, -schon so etwas wie Zögern, wie böses Gewissen darin äußern; Lear -aber scheint nie im Leben etwas entgegengetreten zu sein, was er als -ernsthaften Widerstand achtete; er hat das beste Gewissen von der Welt; -er meint es wirklich gut zu meinen; er hält sich für gut. Er hat doch -seine Macht abgegeben; bloß auf die Eitelkeiten dieser Welt will er -nicht verzichten; das ist für ihn fast nichts, was er behalten hat; daß -er damit andern sehr lästig fallen kann, daß das -- gleichviel, wie -die Töchter sind -- ein ganz unleidliches Verhältnis ist, -- wer soll -es ihm sagen? So daß er es erkennt? Wer will den alten Mann jetzt noch -erziehen? - -Kein einzelner Mensch könnte das mehr unternehmen wollen; man kann -ihn nur dulden und liebevoll klug, unmerklich lenken. Die Töchter -aber haben von ihrem Vater die Herrschsucht ohne die Würde, ohne die -Liebenswürdigkeit, ohne den Charme geerbt; dafür handeln sie nicht -bloß in Hitze, sondern planmäßig, kalt. Lears Bedürfnis, geliebt zu -werden, ist immer noch ein Grad der Liebe; die Töchter sind in ihrem -Verhältnis zu ihm ganz lieblos und kennen auch die Hemmung nicht, die -man Pietät nennt. Er hat seine Macht weggeschenkt; sie haben, was sie -von ihm wollten; nun soll er ihnen abwechselnd täglich und stündlich -mit anspruchsvollen Narrheiten lästig fallen? Erziehen wollen sie ihn -gewiß nicht, aber los werden und rücksichtslos seines Spielzeugs, -seiner Machtfülle, seines Scheins berauben. Für ihn ist das gerade -so, als wollten sie ihn zum Gerümpel werfen, obwohl die Rumpelkammer, -die sie ihm anweisen würden, wenn alles ginge, wie sie in kalter Ruhe -planen, wahrscheinlich ein ganz stattliches Haus wäre. Davon, daß sie -ihn hungern lassen, in Nacht und Elend, in Obdachlosigkeit hinausstoßen -wollten, ist gar keine Rede: die Vereinfachung der Märchenpsychologie -ist Shakespeares Sache nicht. Für Lears Subsistenz wollen die Töchter -schon sorgen; ihre Lieblosigkeit übersieht nur, daß die Substanz, von -der das Gemüt des alten Mannes sich nährt, eben die Akzidenzien sind, -die sie ihm wegnehmen wollen. - -Um ihn steht es nun so: er war in der Macht, und man war vor ihm -gekrochen, und was sich dabei ergab, hatte er für die wirkliche Welt -genommen. War ihm einmal im Ernst Widerspruch entgegengetreten, so -hatte er ihn unter dem Beifall seiner Umgebung sofort zermalmt. -Niemals war äußerer Widerstand begleitet gewesen von einer inneren -Unruhe in ihm selbst; seine Umgebung hatte immer den Glauben in ihm -befestigt, daß er es um seiner angeborenen Majestät willen verdiene, -zu befehlen. Diesmal ist es anders. An ihm nagt etwas, immerzu, etwas -Doppeltes, etwas Dreifaches: daß er seine Macht weggegeben hat, daß -er sie diesen Töchtern gegeben hat, daß er Cordelia verstoßen hat. -Falschheit kann täuschend wie Wahrheit aussehen, aber die Wahrheit -hat etwas ganz Untrügliches in sich. Hat man einen Menschen, den man -gut kennt, im Vorübergehen zu sehen geglaubt, so kann man sicher -sein, daß er es nicht war; wäre er es gewesen, so wüßte man es. So -ähnlich geht es diesem kurzsichtigen Vater: er glaubt, daß Cordelia -ein liebloses Geschöpf, daß Goneril und Regan liebende Töchter sind; -aber etwas in ihm weiß, daß es nicht so, daß es umgekehrt ist. Der -Klang der Stimme Kents, der so tapfer zu Cordelia stand, liegt ihm noch -im Ohr; und da ist nun noch einer, der auf seine Art ausspricht, was -Lear selber nicht hochkommen läßt, der ein Privileg hat, den er nicht -so ohne weiteres des Landes verweisen kann: das ist sein Narr, sein -scharfer, sein bitterer, sein armer, sein liebender Narr. Der hängt -treu und liebevoll an ihm, ganz gleich, wie er vom Herrn behandelt -wird, der kennt die Liebe so, wie Goneril und Regan sie nicht kennen -und wie auch Lear sie keineswegs kennt und übt, und in immer neuen -Gleichnissen, Verdrehungen und Liedchen gibt der ihm nun zu verstehen, -was für ein Narr er gewesen, das gute Kind zu verstoßen und sich und -sein Reich den harten, scharfen, lieblosen Töchtern anzuvertrauen. Er -kann sich’s nicht verhehlen, denn er merkt’s durch bittre Erfahrung: -an den mitleidig verdammenden Sprüchen des Narren, die immer schärfer -ausfallen, ist etwas, ist viel dran. Und doch glaubte er, so klug und, -da er sich so recht mollig lieben und hegen lassen wollte, ein so guter -Vater zu sein! Das erkennen wir nun aber auch deutlicher, als wir’s zu -Beginn wußten: er kann tun, was er will, selbst Brutales: Böses ist -doch nicht in ihm. In seinem Verkehr mit dem Narren gewahren wir gleich -echte Liebenswürdigkeit und eine Neigung zu Kameradschaft, in der sich -seltsam eine Kindlichkeit angeborener, zurückgedrängter Natur mit -Kindischwerden vor Alter mengt. - -Die Welt sieht doch nun, wo er der Macht entkleidet ist, so ganz anders -aus, als er gemeint hatte! Was sich der Haushofmeister seiner Tochter -gegen ihn herausnimmt, wie scharf und ausfallend die Tochter selbst zu -ihm spricht, wie es der Narr mit seinen Sprüchen kommentiert, -- aber -der arme alte Mann! In dem Augenblick, wo allererst die Erkenntnis -der Wirklichkeit kommen, wo der Wahn sinken will, bricht in dem -schwachen Gefäß, das Druck von außen nie gekannt hat, der Wahnsinn aus. -Sein erstes Zeichen bemerken wir sofort nach der ersten unerbittlich -scharfen Rede Gonerils, wie Lear die Hand über die Augen hält, die -Tochter prüfend, als sehe er nicht gut, ansieht und fragt: Ist das -meine Tochter? - -Sowie wir diese erste Spur merken, können wir nun zurückgreifen, -können uns der Worte Kents erinnern, der es gewagt hatte, seinen -König verrückt zu nennen und dabei an sein Alter zu erinnern, können -dazu nehmen, daß jetzt eben der Narr seinen Herrn den wahren Narren -gescholten hat, und können fragen: war denn nicht wahrscheinlich sein -Benehmen bei der Teilung des Reichs und bei Cordelias Verstoßung auch -schon Geisteskrankheit? - -Fragen können wir so; ich antworte: Nein. Und vergesse dabei -keinen Augenblick die Regel, die Gestalten des Dichters nicht als -Naturgeschöpfe zu nehmen, sondern als Geistgeburten Shakespeares. Ich -untersuche nicht einen Britenkönig Lear, sondern was Shakespeare uns -gegeben hat. Dabei kommen irgendwelche medizinische Ausdrucksweisen, -die der Dichter gehabt hat oder nicht gehabt hat, nicht in Betracht, -sondern lediglich die Züge, die er seinen Gestalten gegeben hat. Die -haben wir, ganz in unsrer eigenen Sprache, zu deuten. Das Problem, -was Krankheit und was gar geistige Krankheit sei, will ich bei -dieser Gelegenheit nicht aufrollen; sicher ist, daß es Namen für -Veränderungen sind, deren wahres Wesen uns unbekannt ist, und daß -diese Namen nur gewisse Komplexe von Symptomen einordnen. Sicher -ist aber auch, daß Begriffe dieser Art haarscharf begrenzt sind, -und daß unsre Menschenwelt untergehen und das Chaos beginnen würde, -wenn diese Grenzen verwischt würden. Wie König Lear bei der Teilung -des Reichs gehandelt hat, war, wie Kent in derber Volkssprache sagt --- nicht umsonst kann der herzhafte, getreue Landedelmann nachher -so gut den Knecht spielen --, verrückt, war verrückt, was das Volk -so verrückt nennt. Der König hat so tun müssen, sonst hätte er’s ja -nicht getan, aber die Notwendigkeit, die ihn zu seinem Verhalten -brachte, war ein sozialer Komplex, bestehend aus den Beziehungen seiner -Erziehung, Stellung, Umgebung; man kann sich darum auch denken, daß -diese Notwendigkeit durch eine gleichfalls soziale Einwirkung, z. B. -das ruhige und vernünftige Auftreten mehrerer im Staatsrat oder einen -plötzlichen Überschwang kindlicher Verzweiflung in Cordelia aufgehoben -worden wäre. Was aber jetzt in Lear allererst sich ankündigt, ist ein -individueller, organischer Zwang unsäglich viel stärkerer und anderer -Art in ihm; irgend etwas funktioniert jetzt anders in ihm; und wenn -Heilung kommen soll -- wie sie denn in der Tat kommt, das Stück, in -dessem erstem Akt wir noch stehen, handelt von ihr --, wird sie ganz -andere Wege gehen müssen, als gutes Zureden oder soziale Einwirkung der -üblichen Art. - - Seid Ihr Unsre Tochter? - -Mit dieser Frage sind wir genau an der Grenze zwischen Vernunft und -Wahnsinn. Man kann völlig vernünftig sein und sein schmerzliches -Staunen über das eigene Kind so ausdrücken, daß man fragt, ob man so -einen Menschen, wie er da vor einem steht, wirklich selbst gezeugt -und aufgezogen habe. Es kann auch tatsächliche Gründe geben, warum -man bei einer starken Enttäuschung, die eine völlige Unähnlichkeit -zwischen Vater und Kind an den Tag stellt, sich ernsthaft fragt, -ob nicht Ehebruch im Spiel sei. Auch ist der Mensch, jeder, da er -gottlob einen Dichter in sich hat, durchaus befugt, in irgend einer -ekstatischen Stimmung mit dem Wahnsinn zu spielen. So hebt es denn -auch bei Lear an: er schwankt zwischen ganz leise einsetzendem echtem -Wahnsinn und dem Spiel damit. Noch spielt er, daß er nicht er selbst -sei, daß er die Dame, die vor ihm steht, nicht kenne, aber schon ist -es einen verschwindenden Moment lang innerer, organisch-funktioneller -Zwang, so zu spielen, der dann aber sofort wieder abgelöst wird von dem -gewaltig ausbrechenden, schmerzlichsten, wütendsten Zorn des in seiner -Königswürde, in seiner Vaterschaft, in seiner Menschheit gekränkten -Mannes. - - Seid Ihr Unsre Tochter? - -Hier an der Grenze haben wir schon die Form, in der sein Wahnsinn -sich äußern wird. Eines hat er sein Leben lang nicht gekannt, ein -Allerwichtigstes freilich: denken. Es hat für ihn keine Wirklichkeit -gegeben, sondern nur Schein und Trug, von Schmeichelei und botmäßigem -Eifer erzeugt; und so war in ihm kein Denken, sondern Trieb, Raschheit, -Laune; und auf diese Weise entstand eine Welt, eine Beziehung von innen -und außen, wo alles glatt funktionierte: seine Umgebung und er paßten -ihre Lücken und Auswüchse an einander an, und was er befahl, geschah. -In diese Welt der Täuschung, und andre kannte er keine, war er nun in -langen Jahrzehnten, bis in sein höchstes Greisenalter, ganz eingelebt. -Nun aber ist er allererst nicht oben in seiner, sondern irgendwo unten -in der wirklichen Welt, und da sieht alles so ganz, so schmerzlich -anders aus. Er sollte also umlernen, nachdenken, sich einordnen, sich -zurechtfinden, und das kann er nicht mehr; er ist zu alt dazu. Zu alt -wenigstens, um noch in der üblichen Art zu lernen, zu wachsen. Denn er -lernt, der arme, alte Mann, lernt sogar erstaunlich, wie in Glut und -Fieber; aber er begreift nicht in Begriffen; in seiner Altersschwäche, -wo ihn immer hilfloses Weinen ankommt, nimmt ihn das Leben in die -Schule, und sein Lernen sieht so aus: Gegen meine Töchter bin ich -immer gut gewesen -- sie müssen also auch gut gegen mich sein -- diese -Damen sind ja so hart gegen mich -- -- ~ergo~ sind es nicht -meine Töchter. Die neue Wirklichkeit, die sich ihm jetzt objiziert, -lernt er nur in der Weise kennen, daß er das Neue, das er nun von der -innern Beschaffenheit und Wahrheit der Menschen entdeckt, als äußere -Halluzinationen, als Zwangsvorstellungen schaut und hört; der Sinn -geht ihm auf in Gestalt von Sinnestäuschungen. Und so wie er daran -ist, die Töchter nicht mehr als seine Töchter zu erkennen, so verliert -er den Glauben, das Wissen, das Selbstbewußtsein, daß er Lear ist; er -verliert sich selbst. - -Aber er versinkt nicht völlig in diesen Wahnsinn; er ergeht sich nur -gefährlich am Rande der Tollheit; ganz wahnsinnig, bloß wahnsinnig -sehen wir ihn nie; wir erleben an ihm einen entstehenden und auch -wieder vergehenden Wahnsinn; wir sind dabei, wie in und mit dem -Wahnsinn sich ihm der Sinn öffnet für den Wahn seines bisherigen -Lebens; wie er jetzt allererst einen Blick ins Leben tut; wie er mit -dem Schmerz, der ihm von außen angetan wird, wütenden Schmerz über -sich selbst, Reue, von daher Einsicht und mit der Einsicht Liebe, -echte Liebe, Liebe zu andern lernt. Der Schein, der Machtkitzel, der -Dünkel, die Hohlheit, die Ichsucht, all das schmilzt weg; indem er ins -Elend hinuntersinkt, vermag er nun auch, die Welt und das Leben vom -Standpunkt des Elends aus zu erblicken. - -Daß er das aber noch vermag, daß er auf diesem einzigen furchtbaren -Weg, den seine Altersschwäche ihm läßt, auf dem schwindelnden Grate -zwischen Verzweiflung und Aberwitz noch lernt, noch wächst, Erneuerung -und Wiedergeburt findet, das zeigt uns, was wir in dem Vater Cordelias, -in dem Freund des Narren, in dem von Kent verehrten König, in der -Gewalt seiner Leidenschaft und der Hoheit seines Auftretens schon -geahnt hatten: daß eine große Natur in ihm von sozialen Narrheiten und -Wüstheiten überklebt war; daß seine brutale Willkür sowohl wie seine -ungeheuerliche Dummheit nur Manier war und nicht Wesen, daß ein guter, -ein allerbester Kern in ihm ist, der nun, wo die gräßliche Not ihn -zeitigt, sich zugleich als Geist und als Güte offenbart. - -Jetzt sehen wir: die Welt seines pompösen Scheins war ihm notwendig -gewesen, weil seine echte Natur eine Welt der Niedrigkeit -nicht ertrug, weil er Größe, Adel, Übereinstimmung braucht. Die -Lebensmöglichkeit entsinkt ihm, sowie er gewahrt, wie es wirklich in -der Welt zugeht. Dieses sein Lernen, seine neue, seine erste Erkenntnis -kommt ganz allmählich, und er kann nur dazu gelangen durch furchtbarste -Not und Schrecknisse. Zum weit überwiegenden Teil aber tut er sich all -dieses Fürchterliche selber an; sein Adel, sein Mißverhältnis zur Welt -äußert sich in dem, was die Welt seine unerhört übertriebene Natur -nennen müßte; durch Erschütterung allerschrecklichster Art, durch Wut -und Leidenschaft, elementar wie eine Naturkatastrophe, arbeitet er sich -aus der Verschüttung zum schmerzlichen Licht empor, ein überalter Mann, -der nach dieser letzten gewaltigen Anstrengung gerade noch Zeit hat, -still und milde für einen Augenblick sein wahres Wesen zu sein, sein -Leben zu führen, wie es ihm zukommt, und dann zu sterben. - -Noch genauer müssen wir zusehen, was ihn zuerst in diese Verfassung -bringt; nur dadurch lernen wir seine wahre Natur und seine Stellung -in der Welt kennen. Gonerils Hausverwalter behandelt ihn nicht mehr -als König, sondern als Myladys Vater: der von Lear selbst geschaffenen -Tatsache entspricht es, aber es ist schonungslos. Dann beklagt sich -Goneril über seinen zügellosen Troß, den er nicht in Zucht hält; -diese hundert Ritter mit ihrem wüsten Treiben machen ihr Schloß zur -Kneipe, zum Bordell gar; sie ersucht kategorisch -- widrigenfalls -will sie selbst einschreiten --, sein Gefolge etwas zu verringern; -er solle nur gesetzte, ältere Männer in seinem Dienst behalten. In -der Sache hätte sie ganz einfach recht; weder ihre Darstellung noch -ihre Forderungen könnten als unmäßig bezeichnet werden. Aber der Ton, -in dem sie redet, ist von schneidender Schärfe, von einer unheimlich -unpersönlichen Sachlichkeit; sie spricht als Regentin zum abgedankten -König; sie denkt nicht daran, sie fühlt nicht, daß alles, worin sie -nun in einem einzigen Punkt empfindlich gestört wird, ihr freiwillig -von ihrem lebenden Vater geschenkt worden ist, ohne daß es einen -andern Grund zu seinem Verzicht gab, als seinen Willen, der für sie ein -guter Wille war; sie offenbart völlige Gefühllosigkeit, Lieblosigkeit, -Undankbarkeit. Er wird nun an der Welt und an sich organisch irre, -irgend etwas in ihm bekommt einen Riß; nur einen Augenblick lang -erliegt er dieser Pathologie; sowie er wieder zu sich kommt, sowie -seine erste gräßliche Wut über diese Undankbarkeit herausgeströmt ist -und fast automatisch der Entschluß da ist, sofort zur zweiten Tochter, -zu Regan zu reisen, sowie er merkt: ja, so spricht, so handelt wahr und -wirklich seine Tochter, kommt sofort, offen eingestanden, die Reue über -sein Verfahren gegen Cordelia. Die, so argumentiert er noch verderbt, -dumm und lieblos genug, hätte ein Recht zu solcher Lieblosigkeit gegen -ihn. So klammert er sich denn blind, vertrauensvoll, im geheimsten aber -schon angstvoll an die einzige Tochter, die noch übrig ist, an Regan; -gegen Goneril aber bricht er in den grauenvollsten, leidenschaftlichen -Fluch aus. Welche Ansprüche stellt dieses Menschenkind, dieser -wahrhaft königliche Tor an die Weltordnung! Ein undankbares Kind muß -mit Unfruchtbarkeit geschlagen werden; ganz einfach, ganz logisch, -ganz unbedingt ist für ihn der Zusammenhang zwischen Menschenlos und -göttlicher Gerechtigkeit: er ist König, ist Vater; die Götter, die -Göttin Natur voran, müssen die undankbare Tochter strafen. Er ist ganz -überzeugt, daß dieser Fluch in Erfüllung gehen muß; darum auch kann er -ihn mit dieser ungeheuren Gewalt ihr zuschleudern. Es wird von einer -jung verheirateten Schauspielerin berichtet, daß sie nie mehr als -Goneril auftreten wollte, nachdem der große Schröder ihr diesen Fluch -ins Gesicht und ins Innerste hinein gedonnert hatte. - -Auf dem Weg zur andern Tochter, zu der letzten, die ihm geblieben, sagt -ihm der Narr das Stichwort seiner Rolle: - - Du hättest nicht alt werden sollen, ehe du zu Verstand kamst! - -Was für eine Reise! Der Narr spricht immer nur aus in seinen -Gleichnissen und Rätselfragen, was in ihm selber auch bohrt. Ist Regan -denn wirklich, wie er hoffen muß, so ganz anders als ihre Schwester, -die jetzt ihr wahres Gesicht gezeigt hat? Und der Gedanke, daß er -Cordelia Unrecht getan hat, die Furcht, um den Verstand zu kommen, -verläßt ihn keinen Augenblick. Und erst sind wir am Schluß des ersten -Akts -- was werden wir noch erleben, was wird der ärmste Abcschütze im -weißen Haar, der, indem er seine äußere Würde freiwillig und großmütig -aufgegeben hat, nun in seiner natürlichen Hoheit angetastet wird, noch -durchmachen! - -Der alte Mann muß eine weite Reise machen. Einen Boten mit einem -Schreiben, in dem er der Tochter Mitteilung von dem Geschehenen macht, -schickt er voraus. Das ist sein neuer Knecht Cajus, in Wahrheit der -treue Kent, der vorhergesehen hat, was kommen muß, und den Herrn, der -ihn verbannt hat, nicht verlassen will. Wie Lear dann ankommt, ist -das Haus leer: Cornwall und seine Frau sind weg. Auch die Schwester -hat sofort Botschaft geschickt; und in dieser Sache sind sie einig, -so weit sonst die Gegensätze zwischen Albanien und Cornwall schon -gediehen sind. Lear muß ihnen nach dem Schlosse des Grafen Gloster -nachreisen; und wie er nun zu später Stunde ankommt, sieht es ganz böse -aus: sein Diener Cajus ist schimpflich mißhandelt worden; Regan und ihr -Mann scheinen ihn gar nicht empfangen zu wollen; sie lassen sich erst -verleugnen; und ihr Wirt, der alte Gloster, muß seinen Einfluß, der zur -Zeit groß ist, aufbieten, damit Tochter und Tochtermann herbeikommen. -Aus Lear will inzwischen die mühsam zurückgestaute Wut losbrechen; -der Zweifel an der Wirklichkeit, die Krankheit zeigt sich wieder -an; aber -- wir erleben’s zum ersten Mal -- er nimmt sich zusammen, -versucht, was er nie gekonnt, sich zu beherrschen, will Vernunft und -Gründe annehmen; und, wenn er nun endlich vor der Tochter steht, -ist es rührend, wie er ihr kindlich sein Leid über ihre schlechte -Schwester klagen will. Die Tränen steigen ihm auf, er kann nicht weiter -reden. Sie weiß ja auch, er hat ja geschrieben; und jetzt eben hat er -erfahren, daß Goneril auch einen Brief geschickt hat. Regan erwidert -zunächst mit kalter Zurückhaltung: höflich, trocken, fast mild, wie -etwa eine kalte, geübte Pflegeschwester einem Kindischen zureden würde, -sagt sie ihm, sie, die Töchter, wüßten besser als er, was ihm not täte; -er möchte zur ältesten Tochter zurückkehren und zugestehen, daß er -unrecht gehabt. Er war nun schon auf so etwas gefaßt, so entsetzlich -es ist; es hatte sich vorbereitet; noch bleibt er dem Grad nach -mäßig; aber was sie da sagt, ist ihm sofort wieder eine suggestive -Anschaulichkeit; er probiert’s gleich, wie sich’s ausnimmt, wenn er, -der König, der Vater, hinkniet und seine Tochter um Verzeihung, um -Schutz und Obdach bittet. Das ahnt er noch nicht, wie seine Entwicklung -bald so vollendet sein wird, daß er das, was ihn jetzt die äußerste, -die tollste Zumutung dünkt, gerade in der Form, die niemand von -ihm verlangt hat, die nur seine im Stolz getroffene Phantasie sich -ausgemalt hat, aus innigem Ernst tun wird, er der König, der Gebieter, -der Vater: in Reue und Demut vor einem Kind, das der Vater gekränkt, -hinknien und um Vergebung flehn. - -So wird er am Ende sein. Jetzt klammert er sich noch an Einbildungen, -die er gewaltsam festhalten will, klammert sich an Regan, sein einziges -Kind. In vernünftiger Auseinandersetzung will er ihr dartun, daß ihr -Vorschlag unmöglich sei, will ihr beweisen, sie sei so milde, wie -Goneril grausam. Aber es ist, als sprächen nur seine Lippen, während -unten in ihm ganz anderes arbeitete; und mit einem Mal, gerade während -der Mund ihr vorhält, daß er ihr das halbe Reich geschenkt, wirft -er den Kopf zurück und fragt zornig, wer es gewagt, seinen Diener -in den Block zu setzen? Er nimmt das ganz, wie wenn an fremdem Hof -sein Botschafter verletzt worden wäre; es ist eine Antastung seiner -Majestät. Aber Trompetengeschmetter reißt ihm die Worte vom Mund: -Goneril trifft zur eiligen Beratung mit der Schwester ein und findet -den Vater. So muß denn die Entscheidung sofort erfolgen; ganz großartig -hat der Dichter alles so aufgebaut, daß nach der Gonerilszene, die in -dem gewaltigen Fluch gipfelte, nun diese ungeheure Steigerung sich noch -ergab. Die beiden Schwestern hatten politisch beraten und dann ihre -Entschlüsse bekannt geben wollen, und nun muß es gegen ihren Willen -doch wieder zu einer dramatischen Szene kommen, wie ihr Vater sie zu -brauchen scheint. - -Sie fassen sich schnell und sind durchaus nicht aus der kühlen Ruhe -gebracht. Regan wiederholt, er solle zur Schwester zurück, fügt aber -nun hinzu, wenn er dann zu dem vereinbarten Zeitpunkt zu ihr komme, -solle er vorher sein halbes Gefolge entlassen. Immer noch hält Lear an -sich; als einen Vorschlag nimmt er das, der ganz falsch ist, und gegen -den er nun, freilich wieder in erregter Bildersprache, Gründe ins Feld -führt. Ja, noch mehr: Goneril läßt vier kalt abweisende Worte fallen, -ohne ihn weiter zu beachten, und er redet nun noch einmal zu ihr, der -er den Fluch entgegengeschleudert hat: mit sanfter, fast brechender -Stimme, wirr, aber der Sinn ist, daß er ihr gütig, bittend zureden -will, in sich zu gehn; schelten und fluchen will er nicht mehr; Gott -soll ihr Richter sein, er will sie nicht verklagen. Er redet ihr zu, -sich zu bessern, er spricht als Vater; er will nichts von ihr. In -höchster Not tut er so, als habe er nichts Entscheidendes gehört; er -bleibt an Regan, die letzte Hoffnung, angeklammert: - - Ich kann geduldig sein, - -sagt er und fühlt vielleicht, daß ihm die Tugend bisher vor allem -gefehlt hat; im Zusammenhang heißt es, Goneril solle sich bessern, auch -wenn sie lange dazu brauche, er wolle es abwarten und einstweilen - - bei Regan bleiben - Mit meinen hundert Rittern. - -Aber die Töchter sind von dieser rührenden Wandlung nicht im mindesten -ergriffen; Regan beharrt darauf, ihn jetzt nicht zu sich zu nehmen; im -übrigen erklärt sie nun fünfundzwanzig Ritter für genug. Er winselt -beinahe, er flüstert: - - Ich gab euch alles, - -und wie nun Regan auf ihrer Entscheidung beharrt, tut der alte Mann, -dem mit seinen Rittern sein Selbstbewußtsein genommen werden soll, -das ganz überraschende: um dies äußere Zeichen seiner Würde behalten -zu dürfen, gibt er in kindischer Gesunkenheit die innere preis und -erklärt, er wolle nun zu Goneril gehen; die läßt ihm doch fünfzig! -Aber nun haben die Töchter genug: sie werden schon für seine Bedienung -sorgen, er braucht keine zehn, keine fünf, keinen einzigen! - - Wozu ist einer not? - -Not? Dabei stutzt er. In der Tat, in Not ist er nicht und braucht es -auch künftig nicht zu sein. Aber seine Würde, seinen Luxus, seine -Hoheit wollen sie ihm nehmen, demütigen wollen sie ihn. Eindringlich, -aber immer noch still hebt er an: - - Beklügelt nicht die Not! Der ärmste Bettler - Hat bei der größten Not noch Überfluß... - -Und nun wechselt es in ihm zwischen Bitten und Zorn; zwischen -Nichtweinenwollen, Weinen, Seufzen und Drohen; die Hitze steigt auf, -es zerbricht etwas; er erträgt’s nicht; er will vor diesen Töchtern -hier nicht mehr, nicht noch einmal ausbrechen; er stürzt hinaus; eben -zieht das Unwetter am Himmel auf. Noch einen Blick hat er in die Runde -geworfen, wie auf der Suche nach einem Menschen, nach einer Stütze, -nach einem Freund; er fand ihn auch: den Narren. - - O Narr, ich werde wahnsinnig! - -Das war in diesem Kreis sein letztes Wort. Die bleiben doch etwas -bestürzt zurück; und vielleicht würde gar der harte Eigensinn der -Töchter erweicht; aber nun tritt eine noch größere Brutalität hervor: -Regans Mann Cornwall. Er befiehlt, während der Sturm zu brausen -anfängt, die Tore zu schließen. Kleinlaut versichern die Schwestern -einander, für den alten Mann wäre hier schon Platz gewesen, aber nicht -für sein Gefolge; an Cornwalls Haltung indessen werden sie wieder -energisch; der Alte soll nur für seinen Unverstand büßen; schafft er -sich selber Kränkungen und Beschwerden, so sollen die seine Schullehrer -sein! Die Tore müssen jedenfalls geschlossen werden; wer weiß, wessen -man sich sonst von seinem wilden Gefolge, das nun so gut wie entlassen -und verzweifelt ist, zu versehen hätte? Um die aber kümmert sich der -kranke, tobende Mann nun gar nicht mehr, und sie, mit Ausnahme eines -einzigen Getreuen, um ihn auch nicht; sie werden schleunig weiter -geritten sein und eine Herberge gefunden haben. - -Lear, seinen Narren und den Knecht, der Kent ist, treffen wir im -tosenden Wettersturm wieder nachts auf der Heide. Er ist, nachdem er -sich so lange gewaltsam unterdrückt hat, in einer Leidenschaft, die -sich wollüstig mit dem Orkan mißt. Ah! sich auslassen zu dürfen! Welch -königliches Herrengefühl, Grund zum Toben zu haben! Recht, recht so, -ihr Stürme und Wetterschläge, Undankbarkeit ist auf diesem Erdenball -eingesät; zertrümmert ihn! Das ist noch bacchantische Raserei der -Leidenschaft; aber zwischendurch zuckt die Logik des Wahnwitzes -auf. Auch ihn, den alten, preisgegebenen Mann, dürfen die Elemente -treffen, sie haben die Erlaubnis, dürfen ihn zausen und schlagen nach -Herzenslust: sie sind ja nicht seine Töchter! Und so apostrophiert er -den Regen, den Donner, den Blitz: - - Ich gab euch nie ein Reich, nannt’ euch nicht Kinder! - -Und dann besinnt er sich, die Logik ist willfährig, man kann die -Sache auch von der andern Seite ansehn: es ist doch unrecht von den -Elementen; sie benehmen sich wie die „knechtischen Helfershelfer der -verruchten Töchter“, und nun geht ihm eine ganz neue Gedankenreihe -auf. Es denkt in ihm: wenn’s nach der Gerechtigkeit zuginge in der -Natur, wer dürfte getroffen werden? Er nicht; er gewiß nicht; ganz -andern müssen die Götter so begegnen: den verborgenen Verbrechern, den -Meineidigen, den Mordlustigen. Und wir gedenken dabei der Greuel, die -im Hause Gloster im Gange sind. Er aber, Lear? - - Ich bin ein Mensch, an dem man mehr - Gesündigt, als er sündigte. - -Und er fängt an, sich noch tiefer zu besinnen, wie’s in der Welt -zugeht; er wird liebevoller als je zuvor gegen den armen Narren, der -gleich ihm selber, aber nur aus Liebe zu ihm, friert: - - Mein armer Narr, mir blieb vom Herzen nur Ein Stück, - das ist betrübt um dich. - -„Obdachlose Armut!“ Das bohrt nun immer in ihm weiter, daß es so etwas -in der Welt gibt, nicht bloß ein Verzicht auf Eitelkeiten, nein, ganz -wirkliche Not, völlige Entbehrung, ein Leben wie das, dem er sich in -der Raserei dieser Nacht ausgesetzt hat. In keinem Augenblick denkt -er praktisch, was nun von jetzt an aus ihm werden soll; ganz andre -Dinge hat er auszumachen; wir sehen, wie sich hinter seiner eiteln, -äußerlichen Hoheit letzte Vornehmheit verborgen hat; er muß mit dem -Allgemeinen, mit den Zuständen dieser Erde, mit der Weltordnung fertig -werden; das ist nun in ihm aufgekeimt, was vorher der eigenwillige -Triebmensch ganz beiseite liegen ließ. - -Sie nähern sich einer armseligen Hütte, die Kent ausfindig gemacht -hat; aber vergebens zunächst fordert dieser treue Knecht den Herrn -auf, sich darin zu bergen. Solche Sorge dünkt ihn gemein; was tut ihm -alles Unwetter da draußen im Vergleich mit dem Sturm in seiner Seele? -Doch ist er nicht mehr zu festen Entschlüssen imstande; und sowie er -sich hoch aufrichten will und auf die Bestrafung der ruchlosen Töchter -sinnt, bricht einer in ihm zusammen, und die Tränen stürzen vor. Ja, -er wird schon hineingehn; er wird zu schlafen versuchen; der gute Narr, -der nicht von ihm gewichen ist, soll nur vorausgehn; er will erst unter -freiem Himmel, für sich allein, sein Gebet verrichten. - -Was der König aber jetzt betet, ist eben diese Erinnerung an die, zu -deren Schicksalsgenossen er sich in dieser Nacht gemacht hat: - - Ihr armen nackten Elenden, wo ihr seid, - Die ihr dies mitleidlose Wetter duldet, - Wie soll eu’r bloßes Haupt, eu’r magrer Leib, - Durchlöcherte Zerlumptheit euch beschützen - Vor solchem Sturm wie der? -- O, nicht genug - Bedacht’ ich das! -- Nimm dir’s zur Lehre, Pomp, - Nur einmal fühle, was der Arme fühlt, - Daß deinen Überfluß auf ihn du schüttest - Und zeigst: es gibt Gerechtigkeit im Himmel! - -Was für eine große neue Erkenntnis diesem König da an der Grenze des -Wahnsinns kommt! Das ist die Gerechtigkeit im Himmel, die man selber -auf Erden übt! Damit, daß man hier auf Erden reichlich seinen Überfluß -auf die Armen schüttet, zeigt man, daß im Himmel gerechte Mächte -walten. Weit ist er jetzt davon entfernt, die Extragötter anzurufen, -die ihm persönlich helfen sollen; und doch hätte er’s nie nötiger -gehabt. Aber er hat schon viel gelernt; hat zu denken gelernt und damit -zu fühlen und gut zu sein. - -Und in diesem Augenblick, wo er von seinem Elend absieht auf die vom -Schicksal Verstoßenen auf dem weiten Erdenrund, tritt aus der Hütte, -die sie leer geglaubt hatten, das nackte Elend leibhaftig: ein nackter -Bettler, toll, besessen, von allen Teufeln verfolgt, wahnsinnig. Wir -wissen: es ist Edgar Gloster, der sich vor seinem Vater und seinem -Bruder bergen muß, der von Cornwall geächtet ist; das Elend ist echt, -der Wahnwitz ist angenommen, wie umgekehrt Lear ganz dicht am Wahnsinn -steht, im Elend nur, weil er’s zur Stunde nicht anders will und -erträgt. - -Bei diesem Anblick schließt der Wahnsinn, das tolle Zwangsspiel mit dem -Wahnsinn: den müssen undankbare Töchter so weit gebracht haben; was -sollte einen sonst um den Verstand bringen? Die beginnende Erkenntnis -aber, die im Fieber des Deliriums arbeitet, bohrt weiter. Sie führt ihn -über die Wahrnehmung der Entblößtheit aus sozialen Gründen noch tiefer -ins Echte hinein, ins Erfassen des Wesens: aller Pomp ist Schein; das, -was da vor ihm steht in der Entblößtheit nicht bloß von Mitteln des -Unterhalts, in der Entblößtheit des Leibes, das ist der wahre Mensch in -seiner Nacktheit! - - Ist der Mensch nicht mehr als das? Betracht’ ihn wohl! -- Ha, drei - von uns sind verfälscht! Du bist das Ding an sich. Der unverzierte - Mensch ist nicht mehr als so ein armes, nacktes, gabelförmiges Tier - wie du bist! - -Zum ersten Mal achtet der Mann, der sich bisher abends hat aus den -Königsgewändern und in sein Nachtgewand helfen, morgens anziehen -lassen, in dieser Sturmnacht beim flackernden Schein eines Kienspans -auf den nackten natürlichen Menschen und seine Gestalt. Wieder ein -Stück Anschauungsunterricht, aus dem er sofort die Lehre zieht: - - Fort, fort, erborgter Plunder! - -Zur Echtheit will er vordringen; er reißt sich die Königsgewänder ab --- und sieht sich dabei in alter Gewohnheit nach den Dienern um, die -ihm helfen sollen, sich zu entkleiden! Welch eine Szene! Wo ein Greis -im nächtlichen Wettersturm anfängt, Wirklichkeit und Güte zu lernen, -aber sein Hirn ist nun so geworden, daß er nur noch in Gestaltensehen -und leidenschaftlicher symbolischer Aktion lernen kann. Und der Sturm -heult, der Donner tobt, der Regen prasselt, Edgars Vater, der alte -Gloster, voller Erbarmen gegen den König, zu mildtätiger Hilfe bereit, -die ihm übel bekommen soll, tritt dazu, und Edgar, um sich vor dem -Vater, der ihm ein grausamer Verfolger ist, zu verbergen, bricht -in tollere Reden aus. Zugleich nimmt Lears immer weiter bohrende -Erkenntnis wieder Wahnsinnsform an. Der ihn das gelehrt hat, die Sache -zu erkennen, wie sie wirklich ist, bis zur Echtheit des Wesens, bis -zur nackten Natur vorzudringen, der ist, nackt und zähneklappernd und -irre redend, wie er vor ihm steht, ein edler Philosoph, ein weiser -Thebaner, ein hoher Gelehrter. Und kaum sind sie durch Gloster auf -einem seiner Pachthöfe unter Dach und Fach gebracht worden, so weiß -er genau, wozu ihm dieser Weise, der die Wahrheit mit seinem Leibe -kündet und der überdies zwischen Tiefsinn und Unsinn ein Kauderwelsch -von sich gibt, aus dem der kranke Sinn des Königs manche Erleuchtung -empfängt, zugeführt worden ist: die Töchter sollen vor Gericht gestellt -werden! Der nackte Bettler ist ihm, eben weil er nackt ist und keine -Falschheit und Verhüllung anhat, „der Mann im Rechtstalar“; der Narr -ist der eine Beisitzer, der treue Knecht der zweite. Vors Gericht des -Volks und der Wahrheit werden die Königinnen gestellt: der tolle nackte -Bettler, der arme Narr, der gute Knecht sind die Richter: alle drei in -Wahrheit tief Verkleidete, hinter deren Masken Güte und Ehre wohnt. -Und sie, selbst so an die Grenze gerückt, daß das Spiel mit grotesker -Phantasie ihnen nahe genug liegt, gehen aus Güte, um ihn zu beruhigen, -und aus Tollheit, von der sie sich gern anstecken lassen, darauf ein. -Die Töchter sollen vortreten, ein Schemel stellt Goneril vor; wie Lear -Regan holt, entwischt sie ihm, seine Gedanken, seine Bilder irren -in andre Richtung. Jetzt sieht er eine Hundemeute vor sich, die ihn -kläffend verfolgt, die dann wieder die Töchter zu Tode beißt, bis er -in Erschöpfung niedersinkt. Und wie der treue Kent ihn bettet, ist er -wieder für einen Augenblick der alte König, und nichts von aller Würde -und Behaglichkeit ist ihm genommen worden: „Macht keinen Lärm, zieht -die Vorhänge zu.“ Er schläft ein. - -So läßt ihn Gloster auf einer Sänfte fortbringen; er soll nach Dover, -zu Cordelia, zu dem Heer der Franzosen, das dort schon gelandet ist. - -In den Wirren des Reichs, die sofort nach König Lears Abdankung -eingetreten sind, in den heimlichen Machenschaften zwischen Cornwall -und Albanien und beider Feindseligkeit gegen den alten König, hat sich -eine Partei zu Frankreich, zu Cordelia geschlagen, deren Rechte in dem -Augenblick erwachen, wo die andern Töchter die Vereinbarungen mit ihrem -Vater brechen. Kent und Gloster gehören zu dieser Partei. Gloster ist -schon in Verbindung mit dem französischen Heer; für Cornwall ist das -ärgste Gefahr, und er hat das Recht, es für Hochverrat zu erklären. Was -da vorgeht, erfährt er durch Glosters eignen Sohn, den Bastard Edmund, -der erst den echten Sohn verjagt hat und nun Graf an seines Vaters -Stelle werden will: grauenhaft ist die Rache, die Cornwall nimmt: die -Augen werden Gloster aus den Höhlen getreten, gerissen; in der Ekstase -des Zorns hatte der alte Mann gerufen, er werde noch sehen, wie die -Strafe des Himmels über die grausamen Kinder komme; das war das Wort, -das die Art seiner eignen Bestrafung über ihn brachte. - -Ein geblendeter Vater war er schon zuvor, wie Lear sein Herr. Und wie -Lear im Wahnsinn das Denken lernt, so gehen Gloster nach der Blendung -die Augen auf. Bei Dover begegnen die beiden einander wieder: Lear -auf der Flucht vor der Tochter, an der er gesündigt hat und deren -Anwesenheit er in lichten Momenten ahnt; der andre, Gloster, durch den -Tod hindurchgegangen und im äußersten Elend wie zu Ruhe und Frieden -auferstanden und wiedergeboren: von der hohen Klippe über Dover hat er -sich hinabzustürzen vermeint; aber der echte Sohn Edgar in allerlei -fremden Gestalten und mit allerlei Täuschungen hat den blinden Vater -gerettet, und wie ein Fluidum der Sanftmut und heilenden Liebe ist es -vom verstoßenen Sohn und vom Tod her über den alten Mann gekommen. - -Und wir empfinden, wie der Elende, der von hoher Herrlichkeit so -hinuntergestürzt ist, als blinder Bettler ergeben am Wege sitzt, sein -noch unerkannter Sohn bei ihm, von diesem Vater verstoßen und auch -im selbstgewählten nackten Bettlerdasein, wir empfinden in tiefster -Seele die alte Weisheit: Es ist alles eitel; alles, was zur innersten -Verborgenheit des Wesens als Aufputz und Zierat dazu kommt. Und in -diesem Augenblick tritt Lear der König auf; wieder ganz herrisch für -diesen Augenblick; und da dem Abgerissenen, der durch Wälder und -Felder gerannt ist, der Königsornat fehlt, hat er sich mit Blumen -ausgeschmückt. Der Wahnsinn hängt nun dicht und schwer über ihm; aber -auch in dieser lastenden Wolke verfolgt er sein seltsames Lernen -weiter. Zum König hat er sich jetzt wieder gemacht, um lebendig in -seinen einstigen Zustand zurückgreifen zu können und mit besserer -Einsicht sein Königserlebnis mit den Menschen zu wiederholen. Wie -hatten sie ihm die Welt mit Schmeicheleien verhüllt; „Ja“ und „Nein“ -zugleich zu allem gesagt, was er vorbrachte! - - Ja und Nein dazu, das war keine gute Religion! Als der Regen kam, - mich zu durchnässen, und der Wind, mich schaudern zu machen; als - der Donner nicht einhalten wollte auf meinen Befehl, da fand ich - sie, da witterte ich sie aus. - -Die unerbittlich wahre Natur, die außer der Sprache ihrer Taten nicht -noch eine der Bemäntelung und Lüge hat, hat diesen Fürsten, der -von Lüge erstickt war, in die Schule genommen. Und nun ist er, der -Selbstherrscher, der König von Götter Gnaden, in Not und Wahnwitz zur -selben Erkenntnis gekommen wie Richard II. in dem Augenblick, wo -man ihn der Macht entkleidete: - - Sie sagten mir, ich wäre jedes Ding; ’s ist erlogen; - das Fieber ist stärker als ich. - -Nun merkt er die Schranken, die Gleichheit alles dessen, was von -Menschenhaut umspannt ist; seine Hand „riecht nach Sterblichkeit“. So -hatte es Richard gesehen: - - Ihr irrtet euch die ganze Zeit in mir: - Wie ihr leb’ ich von Brot, ich fühle Mangel, - Ich schmecke Kummer und bedarf der Freunde. - So unterworfen, -- kann ich König sein? - -Und jetzt, wo Lear weiß, was der nackte Mensch ist, jetzt weiß er -auch, wie in dieser Welt der Kostüme, der Lüge, der Politik von -Würdenträgern, Beamten, Richtern Unrecht geübt wird. Hör’ zu, blinder -Mensch im Staub, der du dich freiwillig von der höchsten Klippe -hinunterwerfen mußtest, um zu dir selbst zu kommen, hör’ zu, wie dein -König auf Elends- und Wahnsinnswegen aus dem Lager seiner politischen -Töchter hinweg endgültig zu Cordelia, zur Menschheit, zur Echtheit -heimgefunden hat! Was hat er denn selber in seinem Königsornat geübt? -Willkür! Laune! Und seine Beamten? Ach, du Blinder, das kannst du -merken, ohne zu sehen. Hör’ nur hin, wie der Richter sich über den -armseligen Dieb erhebt! - - Wechsle die Plätze, dreh die Hand um, horch hin: wer ist der - Richter, wer der Dieb? - -Er gewahrt alles in bewegten Bildern, er erlebt die Wahrheit in -lebendiger Aktion: - - Hast du wohl einmal gesehn, wie ein Pächterhund einen Bettler - angebellt hat? -- Ja? -- Und der Tropf lief vor dem Hund davon? - -- Da hast du das große Bild der Autorität: einem _Hund_ im - _Amt_ gehorcht man. - -Alles, was er je gesehen, was in seinem Namen geschah, wird in ihm -aufgerührt; und zugleich melden sich die Triebe, die ihm sagen: wir -Herren, wir Gebieter, wir strafenden Richter und Henker, wir spielen -eine Rolle; wir stellen uns an, als wären wir wie unser unbefleckter -Mantel, als wären wir unser Amt; und was sind wir in unsrer -Wirklichkeit, in unserm Leib? Die scharfe Erkenntnis, die sich im Ton -der zugleich unerbittlich logischen und bildkräftigen Prosa geäußert -hat, schwingt sich -- wie so oft in diesen Szenen Lears -- wie zu -dichterisch gesteigerter Proklamation auf: - - Du Schuft von Büttel, weg die blut’ge Hand! - Was schlägst du diese Dirne? Peitsch’ dich selbst! - Heiß glühst du, das mit ihr zu tun, wofür - Du sie zerschlägst. - -Da haben wir in Lears Erkenntnis das Motiv, das sich in Maß für Maß zum -Drama ausgestaltet hat. - - Der Wuchrer hängt den Gauner. - Durch lump’ge Kleider scheint der kleinste Fehl; - Ein reich Gewand deckt alles. - -Die Klarheit, wie’s in der Welt zugeht und was die innere Wahrheit der -Dinge ist, kommt jetzt; aber es ist ja zu spät; sein alter Leib hält’s -ja nicht mehr aus; sein Geist ist ja dieser fieberhaften Anstrengung -nicht mehr gewachsen. Es geht alles wirr und wüst durcheinander; -er kann ja schon nicht mehr leben, wo es jetzt in ihm anfängt zu -tagen. Manchmal ist er in hoher Erkenntnis und einmal in höchster; -da eint sich sein alter Königsstolz mit der erhabnen Einsicht eines -Augenblicks; der Ekel hatte ihn übermannen wollen über diese feile, -gemeine, verbrecherische Welt der Lüge; aber wenn man erst so nah der -Enthüllung ist, braucht’s nur noch einen Schritt; er tut ihn: Der -Reiche entgeht dem Speer des Gesetzes; der Arme wird vom Strohhalm -eines Zwergs gefällt; schon will er sagen, daß alle, alle Sünder sind; -aber königlich hoheitsvoll kommt jetzt die Demut über ihn; wie viel -weiter ist er nun in diesem Moment als in der Wetternacht, wo er in der -Hütte des armen Toms die Töchter vors Gericht schleppte: - - Es sündigt keiner; keiner, sag’ ich, keiner. - Ich schütze sie; glaub’, Freund, ich habe Macht, - Des Klägers Mund zu stopfen. - -Was für eine Macht ist das, die da mit all seiner Königshoheit -auftritt? Seine Erfahrung im Unglück und in der Herrlichkeit; sein -Leben in beiden Reichen: er versteht sich jetzt auf das Leben der -Enterbten und auf die Innerlichkeit der Obrigkeiten; er ist ein Mensch -geworden, der das Bewußtsein seiner selbst und das Bewußtsein seines -Gegenübers zugleich hat; aber o Jammer! nur wie Fetzen blauen Himmels, -die die Wolkenschicht mal öffnet, mal schließt, sind diese höchsten -Momente; schon im nächsten Augenblick tollt ihn die Verrücktheit wieder -in seinen alten Königswahn hinein, und der Monarch ruft ungeduldig, -herrisch die Diener herbei, die nicht da sind, ihm schnell die Stiefel -auszuziehn! So ist er in dem Augenblick, wo die Abgesandten Cordelias -ihn auffinden, in völliger Raserei. Dann aber kommt er in Pflege, in -die behutsame, liebevolle Pflege Cordelias und ihres guten Arztes. Der -heilt ihn mit Ruhe, mit Schlaf und weckt ihn schließlich mit sanfter -Musik. Und nun möchte ich Adalbert Stifter das Wort geben, dessen -Schilderung einer Lear-Aufführung am Burgtheater mit Anschütz, die er -in seinen „Nachsommer“ verflochten hat, das Schönste ist, was je über -diese Tragödie geschrieben wurde: - -„Der König erwacht endlich, blickt die Frau an, hat nicht den Mut, die -vor ihm stehende Cordelia als solche zu erkennen, und sagt im Mißtrauen -auf seinen Geist mit Verschämtheit, er halte diese fremde Frau für sein -Kind Cordelia. Da man ihn sanft von der Wahrheit seiner Vorstellung -überzeugt, gleitet er ohne Worte von dem Bette herab und bittet kniend -und händefaltend sein eigenes Kind stumm um Vergebung.“ - -Der Unterricht des alten Mannes ist vollendet: er -- jeder Zoll ein -König! -- hat Demut und Selbstüberwindung gelernt. Wie er die Demut, -als er noch in Wahnsinnsform den Wahn seiner Königswut durchbrach, -verkündet hatte, so kann er sie jetzt in letzter Klarheit und Würde -vor dieser reinen, kindguten, herb wahren Frauengestalt üben, die er -geliebt hatte, ohne sie zu kennen, sie, die an seinem Hof die Echtheit, -die Natur, die Seelenschönheit repräsentiert hatte. - -Und wie hatte er, gerade noch in seiner letzten Raserei, wo alles -Verhohlene in ihm aufgewühlt wurde und er zu den letzten Gründen des -tierisch Allzumenschlichen vordrang, in wüsten sexuellen Bildern gegen -die Weiber gewütet! Die beiden andern Töchter traf’s -- wir haben ja -ihr aus Herrschaftsgier, aus wonnigem Verlangen nach der Gemeinheit -und aus edlerer Sehnsucht gemischtes ehebrecherisches Treiben mit dem -Bastard miterlebt, das nun noch weitergeht: - - Vom Gürtel niederwärts sind sie Kentauren, - Wenn oben gleich ganz Weib. - Nur bis zum Gürtel sind sie Götterwohnung, - Doch drunter ganz des Teufels... - -Es ist eine tiefe Erkenntnis Shakespeares -- fast haben wir ihn doch -über dem Erleben dieser Gestalten vergessen, die alle seines Geistes, -seiner Natur, seiner Kunst Geschöpfe sind --, daß er den Machtkitzel -zu allerletzt auf einen Wahn zurückführt, der mit anderm Namen Wollust -heißt. So weit die ichsüchtige Lüsternheit sich von ewiger Liebe -entfernt, so weit irrt die Herrschgier von der geordneten Eintracht -zwischen den Menschen ab; und beides ist dasselbe, derselbe Fehl unsrer -schwachen, gemengten Menschennatur: daß wir erraffen und haben müssen, -um unsres Ich und der Nächsten sicher zu sein, daß wir haben müssen, um -zu sein. - -Was in ihm Wutmanier, Herrensinnlichkeit und gebieterisch besitzende, -besessene Wollust der Wirklichkeit war, das haben Goneril und Regan, -die politischen Schwestern, als Erbe bekommen; Cordelia, ein völlig -weiblicher Mensch, hat vom Vater die ursprüngliche gute Anlage, die, -da sie aus ihm herauskommen konnte, in ihm von je da war, und die wir -an einem Zug gemerkt haben, der dem Vater und seinem Kind gemein ist, -von dem wir aber an den Schwestern nicht die kleinste Spur finden: -Kindlichkeit. Mit der Kindlichkeit steht alle Reinheit unsrer sexuellen -Natur in tiefem Zusammenhang; das mädchenhaft Holde dieser Tochter, -die ihrem Vater nicht von ihren Gefühlen zu reden vermochte, ihre -Seelenkeuschheit entstammt dieser Unschuld, daß sie als reifer Mensch -und liebende Frau geblieben ist, wie sie als Kind war. Und mit diesem -seinem Kinde zusammen wird der Mann, der vordem so oft ein kindischer -Wüterich gewesen und dessen unerzogene und verzogene Willkür trotz dem -Grundguten seiner Natur der Schlechtigkeit so nah gekommen war, nun, -wo’s zum Ende geht, sanft und kindlich. Nicht aber bloß so, wie man im -gemeinen Leben von einem sanften und kindlichen Menschen spricht; wir -haben schon, als die Wut tobte und die Krankheit verzerrte, gemerkt, -daß da ein ungemeiner Mann sich herausarbeiten will; jetzt ist er -das Urbild dessen, der überwunden hat, und hat ganz den Geist seiner -Haltung. Wie die Schlacht für Cordelia und ihr Heer unglücklich ausgeht -und Lear samt seiner Tochter in Gefangenschaft gerät, macht er sich -aus diesem Schicksalswechsel gar nichts, nicht einmal für sein Kind; -er ist, was er nie hat sein können, fröhlich: in gleichmäßiger Ruhe -heiter, gelassen über die Wechselfälle der Ereignisse hinweg: - - Wir wollen ins Gefängnis - Und wie zwei Vögel in dem Käfig singen. - - ... So woll’n wir leben: - Man betet, singt, sagt alte Märchen, lacht - Der goldnen Falter, hört wohl armer Leute - Gered’ vom Hof und schwatzt wohl selber mit... - Wir tun so wichtig mit geheimen Dingen, - Als sei’n wir Gottes Späher; überleben - Im Kerker Sekten und der Großen Streit, - Was ebbt und flutet mit dem Mond... - -Man sieht, aus der Welt jeglicher Gier und Macht ist er völlig -ausgeschieden; er, dem nichts galt als die Größe, die Herrlichkeit, -das Befehlshabertum und der Pomp, ist ein kleiner Mann geworden, einer -von den Stillen im Lande, deren Erhabenheit in Lächeln, in Frieden, -in Überwindung besteht; ein Armer in jeglichem Sinn, auch in dem der -christlichen Mystik: ein freiwillig Armer, ein Abgeschiedener, der -nichts hat und nichts will. Aber dieses stille Versickern seines -schwachen Lebensrestes in genügsamer Beschaulichkeit ist ihm nicht -beschieden; zu tief hat sein früheres Treiben, zumal sein Handel mit -den drei Töchtern ihn und die gute Cordelia mit ihm ins Böse, ins -Politische, in Krieg und Mord verstrickt. Die sanfte, unpolitische -Cordelia hat um seiner und um Britanniens Rettung willen zur Politik -und den Waffen greifen müssen, die politischen Schwestern haben, um -die Ziele ihrer privaten und öffentlichen Gier durchzusetzen, den -Mann immer weiter nach oben gebracht, in dem das böse Prinzip sich -verkörpert, den Glosterbastard Edmund, und nun ist es so weit gekommen, -daß der Teufel und der Engel in Menschengestalt, Edmund und Cordelia, -einander gegenübertreten; der Teufel bekommt, so weit ist’s in diesem -Reich des Wahns gediehen, den Engel in die Hand, steht siegreich über -ihm und darf ihn umbringen. - -Und nun sehen wir noch einmal den rasenden, den brüllenden, den -wütenden König Lear; jetzt darf er toben; diesmal geht’s nicht um -Eitelkeiten, nicht um ihn selber; sein Jammer tönt um den liebsten -Menschen, nicht weil er sie nun nicht mehr haben soll, nein, weil man -ihr das Leben, weil man sie der Welt genommen hat. - -In dem ganzen Stück scheint sich der Kampf des Guten, -Menschenfreundlichen, Verträglichen mit dem Bösen, Gierigen, -Ränkevollen und grausam Wütenden zu verkörpern, und so wie in Lear -selbst eine tragische Bühne aufgeschlagen ist, auf der dieser -Widerstreit der Mächte ausgefochten wird, so scheint er der König -eines Reichs jenseits Britanniens, jenseits aller Reiche der Erde -zu sein, wo dieser metaphysische Kampf der zwei Mächte um das -Weltregiment gestritten wird. Auf der einen Seite Goneril und Regan, -die wie Zwillingstöchter des Herrschteufels erscheinen; auf der andern -Cordelia; hie Edgar, hie Edmund. Und auch der Verlauf der Geschehnisse -ist so, daß Bös und Gut sich immerzu messen und abwechselnd siegen; und -immer erscheint Bös als Reich dieser Welt, Reichtum, Unersättlichkeit; -Gut als Stille, Friedfertigkeit, Armut. Der gute alte Gloster wird von -Cornwall geblendet; sofort empört sich ein alter Knecht, einer von -den kleinen Leuten der Menge, wir haben vorher nichts von ihm gesehen -noch gehört, gegen den Herrn und verwundet ihn zu Tode; und Schlag auf -Schlag; unmittelbar darauf ist das Böse wieder Meister: Regan bringt -den Knecht um. -- Der Haushofmeister Gonerils, - - ein dienstergebner Bube, - So treu den Lastern der Gebieterin, - Als Schlechtigkeit nur wünscht, - -will den Hochverräter Gloster, blind wie er ist, töten; Edgar der -Sohn, in Gestalt eines Bauernlümmels, nimmt dem Herrenknecht vorher -das Leben. Edmund der Bastard tötet Cordelia; ihn aber erschlägt -in ritterlichem Kampf sein wundervoller Bruder Edgar, der Armut -und Tapferkeit, Milde und Heldentum in sich vereint. Und zugleich -stirbt das Schwesternpaar, das nach dem Bastard lechzt: Regan von -Goneril vergiftet, Goneril von eigner Hand, am meisten aber von der -schneidenden Verachtung ihres „milden Gemahls“, wie sie ihn genannt -hatte, getötet. Der, Albanien, hatte sich in ruhiger Verachtung, in -einer Haltung stiller Größe von ihr geschieden, die ihr bitterer sein -mußte als irgendein Wutausbruch eines Brutalen; zu seiner Schwägerin -gewandt hatte er in dem Augenblick, wie er den Bastard in Haft nahm, -die Worte gesprochen: - - Und Euren Anspruch auf ihn, schöne Schwester, - Muß ich bestreiten namens meiner Frau. - Sie ist mit diesem Herrn geheim verlobt, - Ich als Gemahl tu’ Einspruch Eurer Ehe. - Sucht Ihr ’nen Mann, schenkt Eure Liebe mir; - Mein Weib ist schon versagt. - -Man hat es gewagt, Balzac einen Shakespeare zu nennen; das war weitaus -zu viel gesagt; Gonerils und Regans im Kostüm seiner Zeit sind ihm -trefflich gelungen; viel höher ist es nicht gegangen; aber an solcher -Stelle Shakespeares wie dieser merkt man, woher der Irrtum gekommen -sein mag: in Shakespeare dem Unerschöpflichen steckt auch, diese -Worte Albaniens zeigen’s, der ganze Balzac, dazu aber noch, auch in -schneidender Verachtung, eine Vornehmheit, die Balzac ewig unerreichbar -blieb. - -Sehen wir nun, daß uns die letzten blutigen Entscheidungen, in denen -es um Leben und Tod geht, über das Verhältnis von Gut und Böse in -dieser Welt keine Sicherheit geben, daß der Kampf unruhig hin und her -wogt, so tun wir vielleicht gut, von den Taten, die keine Klarheit -bringen, überzugehen zu den Worten, die sie begleiten. Wie steht es -mit dem Zusammenhang von Menschenschicksal und Weltordnung? Welche -Weltanschauung des Dichters hat im König Lear Gestalt angenommen? -Sehen wir zu; leicht möglich, daß wir hier endgültige Aufklärung über -Shakespeares Weltanschauung erhalten. - -Lear hat sein Reich geteilt; Gloster hat von seinem Bastardsohn Edmund --- dessen Bastardsohn Franz Moor heißt -- mit Hilfe eines gefälschten -Briefes erfahren, daß sein Sohn Edgar ein Ruchloser ist, der nach des -Vaters Besitz und Herrschaft und Leben trachtet. In dieser innern -Verfassung des Jammers über sein mißratenes Kind und über die Lösung -aller Bande in der Familie des Königs spricht er die Anschauung aus: - - Diese neulichen Verfinsterungen der Sonne und des Mondes bedeuten - uns nichts Gutes. Mag sie die Naturweisheit so oder so deuten, - immer findet sich die Natur selbst durch die darauf folgenden - Wirkungen gepeinigt: Liebe erkaltet, Freundschaft fällt ab, Brüder - entzweien sich: in Städten Aufruhr, auf dem Lande Zwietracht, in - Palästen Verrat; und das Band zwischen Sohn und Vater zerrissen. - Dieser mein Bube bestätigt die Wahrsagung: da ist Sohn gegen Vater; - der König tritt aus dem Geleise der Natur: da ist Vater gegen Kind. - -- Wir haben gesehen, wie weit unsre Zeit es bringen kann: Ränke, - Gleißnerei, Verrat, und alle verderblichen Zerrüttungen folgen uns - quälend bis ans Grab!... Und der edle, biederherzige Kent verbannt - -- sein Verbrechen: Ehrlichkeit! -- ’s ist seltsam! - -Eine Beschreibung der Sphäre dieses Stückes, in der all die -verschiedenen Handlungsteile darin sind, haben wir sicher mit diesen -Worten; wenn aber darüber hinaus nicht nur Gloster in seiner bestimmten -Situation, sondern der Dichter sich hier im allgemeinen über den -Zusammenhang der Menschengreuel und der Zeichen der Natur äußern -soll, so muß es uns stutzig machen, daß sich diese Weltanschauung -des Dichters auf einer falschen Voraussetzung, die er eine seiner -Gestalten machen läßt, aufbaut: Glosters echtes Kind Edgar, „dieser -Bube“ bestätigt ja die Wahrsagung in der Tat nicht. So erstaunt es uns -schon weniger, wenn der Bastard sofort darauf das Wort erhält und mit -herzhafter Kraft die entgegengesetzte Auffassung äußert: - - Das ist die ausbündige Narrheit dieser Welt, daß, wenn unser - Glück bei schlechtem Befinden ist -- oft, weil wir selber uns - übernommen haben --, wir die Schuld für alles Unheil, das uns - trifft, auf Sonne, Mond und Sterne schieben; als ob wir Schurken - aus Notwendigkeit, Narren durch himmlische Fügung wären; Schelme, - Diebe, Verräter durch Machtspruch der Sphären, Trunkenbolde, Lügner - und Ehebrecher durch Abhängigkeit vom Einfluß der Planeten, und - alles, worin wir übel daran sind, durch göttliches Verhängnis: eine - prächtige Ausrede für den Hurenjäger von Menschen, seine Bocksnatur - den Sternen zur Last zu legen!... Pah, ich wäre geworden, was ich - bin, hätte auch der jungfräulichste Stern am Firmament meiner - Bastardierung zugeblinzt! - -So spricht der Empörer, der Morallose, der Frevler, der natürliche -Sohn, der sich ganz als Kind der Natur betrachtet und nur nach seiner -Kraft, nicht nach Gesetz und Sitte und Rücksicht auf andre fragt; „ich -wachse, ich gedeihe“; das ist seine einzige Losung. Daß er also diese -Worte spricht, die jedes Band zwischen Himmel und Erde zerreißen, -entspricht seinem Charakter, seiner Situation genau so kraftvoll, wie -das bedenkliche Wiegen des Kopfes, das Grübeln, das Suchen nach einem -Zusammenhang, das Erschauern vor einer Ahnung, die Ergebung in die -Ratschlüsse des Himmels zu seinem Vater paßt. Aber der Dichter? Was -sagt er? Vielleicht -- nichts? Wo ist er? Verschwindet er vielleicht -hinter seinen Gestalten, in seinen Gestalten, aber nicht in einer -einzigen oder einer Gruppe, sondern in allen? Ist er vielleicht darum -mit Notwendigkeit der Dramatiker, weil er einer einzigen Anschauung -nicht verschrieben sein kann? - -Nach seiner Blendung weiß Gloster von dem Verhältnis des Himmels zu -unsern irdischen Losen ganz anderes zu sagen als vorher; da hören wir -die unerbittliche, unerforschliche Grausamkeit des Schicksals also -gedeutet: - - Was Fliegen losen Buben sind wir Göttern: - Sie töten uns zum Spaß. - -Aber er ist sich seiner Sache jetzt nicht mehr sicher; auch er ist, wie -Lear, erschüttert und zum Lernen gekommen: am Ende tragen die Menschen -und ihre Einrichtungen größere Schuld als die Götter; vielleicht ist -gerade das Unglück eine Art ausgleichende Gerechtigkeit? Wie er zum -Freitod entschlossen oben auf der Klippe über Dover in hoher Luft zu -stehen vermeint und einem armen, tollen Bettler -- seinem Sohn! -- -schenkt, was er bei sich hat, Geld und Schmuck, da meint er: - - ... Mein Elend - Bringt dir Glück. Ganz recht so, ihr Himmelsmächte! - Laßt überfluß- und wollusttrunknen Mann, - Der eurer Satzung trotzt, der nicht will sehen, - Weil er nicht fühlt, schnell fühlen eure Macht: - Verteilung tilgte so das Übermaß, - Und jeder hätt’ genug. - -Da ist es nun ganz deutlich, wie der blinde Gloster im Augenblick, wo -er vor dem Tod steht, mit hellen Geistes Augen zu derselben Erkenntnis -kommt wie noch in der nämlichen Stunde der wahnsinnige Lear. Für beide -wird in dem Unterricht, den ihnen der Sturz von der Höhe erteilt, -die metaphysische Weltanschauung, der sie beide wohl in der Zeit der -Herrlichkeit angehangen haben, ergänzt und zu großem Teil ersetzt -durch die soziale Betrachtung, die ja in Wirklichkeit die Erkenntnis -birgt: Schiebt nicht den Göttern zu, was euer Menschenwerk ist, was ihr -schlecht gemacht habt und gut machen könnt. - -Und doch kann-will es der Mensch nicht lassen, in den hohen -Augenblicken des Menschenschicksals manchmal sichtbar und greifbar die -geheime Führung, die Vorsehung, die ewige Gerechtigkeit, den Sinn zu -erblicken. Wie der gute Albanien hört, daß nach Glosters scheußlicher -Blendung der Täter, sein Schwager Cornwall, sofort vom eignen Knecht, -der ihm Jahre gedient und zu Gloster keine Beziehung hatte, aus Aufruhr -der Seele heraus erschlagen worden ist, ruft er, tief erschüttert ob -dieser Vergeltung: - - Dies zeigt, ihr waltet droben, - Ihr Richter, die der Menschen Übeltat - So schleunig rächen! - -Hier erleben wir aber eine wundervolle Steigerung. Edgar hat seinen -Bruder, den Bastard, der über ihn und seinen Vater das Elend gebracht -hat, im Zweikampf feierlich-ritterlicher Art, im Gottesgericht besiegt; -in dem Augenblick, wo er dann sich, mild verzeihend, dem Sterbenden -enthüllt, findet er Worte des Verstehens auch für dies Entsetzliche -selbst, für die Blendung seines Vaters; wie Albanien in der Tat, die -dieses Gräßliche gerächt hat, so findet der eigene Sohn himmlischen -Sinn in dem Gräßlichen selbst: - - Die Götter sind gerecht, aus unsern Sünden - Erschaffen sie das Werkzeug unsrer Strafe. - Der dunkle, schnöde Platz, wo er dich zeugte, - Raubt ihm das Augenlicht. - -Geben wir’s nur zu: wir wären keine Menschen, wenn wir in den Momenten -der innigsten Erschütterung, die uns so hinnimmt, daß wir nicht wissen, -drückt sie uns nieder oder erhebt sie uns, mit dem Ewigen nicht spielen -müßten, wie hier Edgar spielt, wie die Guten alle in dieser furchtbaren -Welt des Zorns, der Bosheit, der Brunst und Gier, wenn Erkenntnis sie -anrührt, spielen, in einem Spiele spielen, das dem Glauben so verwandt -ist, wie ihre Art, die Wahrheit zu schauen, dem Wahn. Was Edgar da -sagt, heißt ja doch: Du, den der Vater in Sünden, in Wollust, in -Unehren, fern von Familie und aller gesellschaftlichen Anerkennung, -wie in einem dunklen Loch in die Welt gesetzt hat, du, der als Bastard -zum Aufrührer geboren war, du Bruder, in dem Neid und Rachsucht von -Geburts und Erziehungs wegen entstehen mußte, du warst von Gottes -und Rechts wegen der berufene Rächer seiner Sünde; und daß er durch -dich der Finsternis anheimfiel, darin kann man tiefen Sinn und Fügung -des Himmels erkennen. Ein solcher Ausruf, eine solche Bewunderung, -ein solches Sichbeugen ist ja nicht die Setzung einer Theorie, es -ist ein Stück heiligen Willens: so sei die Welt! ist ein Entschluß, -ist die Umschaffung der natürlichen Welt in eine Menschenwelt und -zugleich die Anerkennung des unverbrüchlichen Zusammenhangs der -Notwendigkeitsordnung, die wir Ursache und Wirkung nennen: Denn alle -Schuld rächt sich auf Erden. - -Während dies sich zwischen den Brüdern ereignet, wo der milde Held den -bösen Kraftkerl tötet und ihm Verzeihung in sein Sterben ruft, stirbt -der alte Vater still und lebenssatt. Er ist noch mitten in den Krieg -geraten, hat miterlebt, wie die gute Sache, der er gedient hatte, für -die er alles gegeben, unterlag, wie Lear und Cordelia gefangen wurden; -der blinde Greis hockt unter einem Baum, will nicht mehr weiter, will -sich nicht retten: - - Nicht weiter, Freund, ein Mensch verwest auch hier. - -Da ermuntert ihn der immer noch unerkannte Sohn Edgar, mit Worten, in -denen zugleich Resignation und Tatkraft liegt: über nichts verzweifeln, -alles tragen, nicht aber es stumpf über sich ergehen lassen: - - Dulden muß der Mensch - Sein Scheiden wie sein Kommen in die Welt. - Reif sein ist alles. - -In alledem haben wir je nach Charakter, Stimmung, Situation wechselnde -Gefühle, Gedanken, Bereitschaften angesichts großen Unglücks; und -immer versucht der Mensch, Himmel und Erde in Verbindung zu bringen -oder ohne das auszukommen. Aber auch, wenn große, innige Seligkeit zu -einem kommt oder wenn gar die Gleichzeitigkeit und das Ineinander des -Bösen und des Guten gewahrt wird, ist der Mensch geneigt, den Himmel -zur Erde hinabzuziehen und das Wunderbare als geheimen Zusammenhang zu -erfassen. Wie Kent die Güte seines Lieblings Cordelia und die Bosheit -ihrer Schwestern betrachtet, ist es ihm, als reichten irdische Gründe -zur Erklärung des Warum all der Rätsel hier auf Erden nicht aus. Es muß -eine überirdische Lenkung da sein; ein uns unbegreifliches Verhängnis, -das in den Sternen geschrieben steht: - - Die Sterne, - Die Sterne droben leiten unser Schicksal. - Wie könnte sonst ein Paar wohl Kinder zeugen, - So ganz verschieden? - -Die Szene am Schluß aber, wie Lear, selbst ein Sterbender, schwach, -taumelnd, die Leiche der grauenhaft ermordeten Cordelia auf den Armen -herein trägt, wie nun sein letztes Leben als Leidenschaft aufschreit, -diese Szene hat wahrhaft Weltuntergangsstimmung: - - Heult, heult, heult, heult! -- O, ihr seid all von Stein! - Hätt’ eure Zung’ und Augen ich, des Himmels - Gewölbe machte ich zusammenstürzen! - -Und Kent, Edgar, Albanien, die Guten, die im Untergang einer Welt, wo -die Guten mit den Schlechten in unlöslicher Umklammerung hinabgerissen -werden, allein noch übrig sind, bilden den Chorus: - - Ist dies das verheißne Ende? - Ist’s jenes Grauens Bild? - Sink und vergeh! - -Und wie Lear sterben will, flüstert Kent der Vielgetreue, der seinem -Herrn gleich nachsterben wird -- der zehnte und letzte Tote in diesem -Stück --, ängstlich, bange, daß Lear doch ja nicht in dieses Leben hier -noch einmal zurückkehre: - - Quält seinen Geist nicht, laßt ihn ziehn! Der haßt ihn, - Der auf die Folter dieser zähen Welt - Ihn länger spannen will. - -Man sagt, dieses Stück entstamme Shakespeares bitterster, -pessimistischer Periode; der Untergang des Guten mit dem Bösen, durch -das Böse werde darin gezeigt. Das ist wahr und nicht wahr; gezeigt -wird, wie die böse Lust sich der Menschen bemächtigt, ihr angeboren -Gutes unterdrückt und überwächst; wie dieses Schlechte Zustände und -einen Nährboden schafft, wo auch das Gute nicht mehr gedeihen kann; -und wie der Versuch der Umkehr, der Rettung, der Heilung zu spät -kommen mag. Nirgends mehr als hier führt der Dichter das, was die -Menschen einander antun, mit dem, was er zeigt, und mit dem, was er -die Gestalten aussprechen läßt, nicht auf den dunklen Ratschluß der -Götter, sondern auf die Verkehrtheit der Menschen, das Mythologische -auf das Soziale, das Soziale auf die Seele zurück; die Äußerungen der -Deutung gerade für die Beziehung zwischen Charakter und Schicksal -sind mannigfach abgestuft und untereinander entgegengesetzt; nie -äußert sich der Dichter, immer die bestimmte Gestalt nach Maßgabe -ihres Charakters und der wechselnden Situation und Stimmung. Jeder, -möchte man fast sagen, hat jedesmal recht. Shakespeare geht hier so -wenig wie je von einer Idee aus; es ist nicht eine Fabel um der -Darstellung eines Gedankens willen erfunden oder umgestaltet, es sind -auch nicht die zwei Fabeln um einer Abstraktion willen zusammengefügt -worden. Er erfüllt die rohe Skizze der überlieferten äußeren Tatsachen -mit Leben, mit Seele, mit innerster Wahrheit. Ein Geschehnis wird -berichtet; seht her, ruft der Dichter, ich zeige euch, wie’s dabei -im Innern der Menschen zuging; warum sie tun mußten, was sie taten. -Wie’s Herder gesagt hat, ein Stück unsäglich reiche, breite, innige -Menschenwelt ist „zu einem Vater- und Kinder-, Königs- und Narren- und -Bettler- und Elend-Ganzen zusammen geordnet“, eben um dieses Ganzen, -um der gegenseitigen Beleuchtung der einzelnen Teile und Vorgänge und -Gestalten willen. Shakespeare hat kein Stück geschrieben, wo wir so -extensiv und intensiv in der Fülle leben wie im König Lear; Zymbelin -freilich geht noch mehr ins Breite und Bunte, aber nicht annähernd -so ins Tiefste, und wie mager wird selbst die Fabel des Hamlet gegen -dieses Ineinander des Mannigfaltigen: Lears Verhältnis zu den Töchtern --- Cordelia zwischen den zwei Freiern -- Lear und Kent -- Lear und -sein Narr, den der Dichter, so innig lieb er ihn hat, im dritten Akt -verschwinden läßt, weil nun Edgar an seine Stelle tritt -- Gloster und -seine Söhne -- Edgars mannigfaltigste Schicksale und Begegnungen -- -das in seiner Körperlichkeit strahlend schöne, morallose, kraftvolle -Naturkind Edmund und seine Beziehungen zu Lears Töchtern -- Gloster -und Cornwall -- Cornwall und der Knecht -- Albanien und seine Frau -- -Edgars und Edmunds Kampf -- und all das und mehr in breiter Entladung -und nie als dekorativer Auftritt, immer als Gestalt und Handlung -gewordenes Innere; und welche Kühnheit und Sicherheit, die beiden -Greise, Lear und Gloster mit ihren wesensgleichen und doch äußerlich -so verschiedenen Erlebnissen neben- und miteinander agieren zu lassen! -In eine solche Fülle des äußeren und inneren Lebens, der Qual und der -inständigen Not und des über Elend und Wahnwitz und tiefsten Hinabsturz -sieghaft empordringenden Geistes, in einen so mannigfach variierten -und gesteigerten Gegensatz von Affektwut und friedfertig ergebener -Demutsabgeschiedenheit, von sklavischem Herrentum und freier Armut, von -Reichtum und Entblößtheit kommen wir hinein, daß wir, wenn mit einem -Mal das Wort „Shakespeare“ an unser Ohr schlägt, erstaunt uns besinnen, -daß all diese ausgedehnte Welt Werk eines einzelnen Menschen, eines der -vielen Stücke dieses Dichters ist. - -Shakespeares Gestalten sind nicht bloß feurig aus produktiver -Kraft geflossen; sie haben von ihrem Schöpfer solche Zeugungskraft -aufgenommen, als wären sie lebendige Wesen. Kaum ein besseres Beispiel -wüßte ich dafür, wie Shakespeares Gestalten sich in der Erinnerung -nachträglich lebendig verwandeln können, als die Gestalt Lears. -Das Sentenziöse, Sprichwörtliche, das mit dem Bilde dieses alten -Mannes sich verbunden und zu neuen Dichtungen geführt hat, ist aus -Shakespeares Stück, mehr durch Weglassung als durch Hinzufügung, -erwachsen, bezeichnet aber nicht eigentlich seinen Inhalt und Sinn; am -schönsten hat Goethe es in seinem Spruchgedicht geformt: - - Ein alter Mann ist stets ein König Lear! -- - Was Hand in Hand mitwirkte, stritt, - Ist längst vorbeigegangen; - Was mit und an dir liebte, litt, - Hat sich wo anders angehangen. - Die Jugend ist um ihretwillen hier, - Es wäre törig, zu verlangen: - Komm, ältele du mit mir! - -Die weise, gefaßte Heiterkeit dieser Schlußwendung ist ganz goethisch, -ein Trieb, der Shakespeares Dichtung erst in Weimar zugewachsen ist. -Zwar zeigt uns Shakespeare gleich zu Beginn in Cordelias Verhältnis -zu dem alten Vater und zu ihrer jungen Liebe mehr als in Lears -Verhältnis zu den andern Töchtern, daß, wer alt wird, sich gar nicht -erst zurückzuziehen braucht: mitten unter denen, für die er Sorge -trägt, ist er einsam. Aber Lear hat ganz andere, schwerere Dinge zu -lernen als dieses, und wenn er es schließlich bis zu der Demut bringt, -vor der eignen Tochter hinzuknien, so tut es wahrhaftig nicht der -alte Mann, der der Jugend huldigt, sondern der König und Vater, der -im Alter hat lernen müssen, was er sein Leben lang versäumt hat. Und -so ist zum Ganzen dieser Identifikation Lears mit dem Alter zu sagen: -Nachträglich, wenn die Gesamtstimmung Lear sich mit unserm eignen -Gemüts- und Erfahrungsleben verbindet, beim Rückblick auf diesen -Mann, dem sich die Kinder, alle drei, entziehen, gegen den sich der -nicht mehr junge, aber jüngere Freund, der Graf Kent auflehnt, dessen -Altersgenosse Gloster nur für ihn eintritt, um gräßliche Strafe zu -finden, der fühlt, daß ihn niemand mehr braucht, daß er allen im Wege -ist und irgendwohin in die Ecke gefegt werden soll, der schließlich -vor den Menschen nicht als seinen Verfolgern, sondern als lieblos -Abgewandten und Belästigten in Wettersturm und Wahnsinn flieht, so -in der auslassenden und zusammenrückenden Erinnerung empfinden wir -wohl, daß Lear das Bild der Altersvereinsamung ist. Aber in dem Stück -selbst weist nicht der kleinste Einzelzug und keine einzige Äußerung -darauf hin, daß der Dichter auf dieses Typische sein Licht und seine -Wärme sammeln will. Die Dichtung sträubt sich nicht dagegen, daß wir -diese Stimmung mitbringen oder mitfortnehmen oder später um Lears -Bild ranken; was Shakespeare aber darstellt, ist ein sehr besonderer -Fall nicht dieses Allgemeingültigen, das vom Alter handelt, sondern -eines ganz andern. Shakespeare hat solche Allgemeinheiten und darum -Mannigfaltigkeiten wie Alter, Freundschaft, Liebe, Weib nicht auf -die Linie einer Regel gebracht, und für ihn ist ein alter Mann so -wenig ohne weiteres ein König Lear, wie er ein Shylock oder Siward -oder Lafeu oder Bruder Lorenzo ist, oder wie das Weib eine Cleopatra -oder Cressida ist. Und viel mehr als mit den alten Männern, die man -sonst noch bei Shakespeare findet, gehört König Lear mit dem jungen -Richard II. zusammen. Denn wollen wir schließlich doch ein Wort -haben, um das Individuum dieses Stückes einer Gattung einzureihen, -so sagen wir: auch hier geht es um das Problem der Macht. Macht in -ihrer Verbindung mit Willkür, Gier, Affektwut und Brunst bildet für -Shakespeare in der Tat eine Kategorie der Zusammengehörigkeit. Wir -halten schon lange bei diesem Problem der Macht: wir hatten es in -Maß für Maß zwischen Lachen und Weinen; in düster dämonischer Art -in Macbeth; in innigster Gestalt hier im König Lear. In großartig -geschichtlichem Rahmen, wo denn die Verbindung zwischen Machtgier und -Brunst, die wir in Maß für Maß wie im Lear hatten, sich uns noch einmal -als ein Prinzip, das eine Welt beherrscht, weit und stark darstellen -wird, werden wir’s, in unmittelbarem Anschluß der Handlung an Julius -Cäsar, das nächste Mal in Antonius und Cleopatra haben. - - - - -Antonius und Cleopatra - - -Antonius und Cleopatra aufzuführen ist immer wieder in unsrer Zeit -unternommen worden; es muß aber, wie bei mehreren der bedeutendsten -Stücke Shakespeares, am rechten Geist der Aufführung, vielleicht auch -an der rechten Beschaffenheit des Publikums gefehlt haben; denn wir -wissen, Shakespeare gebührt ausnehmend viel Freiheit des Geistes und -Ernst der Gesinnung. Wie auch immer, wir stehen hier vor einem Stück, -dessen Gestalten noch nicht einmal der äußern Erscheinung nach durch -Aufführungstradition feststehen; durch Bühnenanweisungen hilft uns -Shakespeare gar nicht und durch Bemerkungen zu direkter Charakteristik -selten; mit der Handlung erst und ihren Geschehnissen, mit den Taten -der Menschen und der Art, wie sie dulden, bauen sich diese Gestalten im -Lauf der Vorgänge für uns Leser auf. - -Es geht um schwer zu deutende, verworrene, gemischte Naturen; wir -werden erst den Grund legen müssen, auf dem wir uns bewegen. Betrachten -wir erst den äußeren Aufbau der Tragödie. Sie ist von allen Stücken -Shakespeares das szenenreichste: es sind 42 Szenen, von denen viele -ganz besonders kurz sind; ein paar Worte werden gewechselt, und schon -verwandelt sich der Schauplatz wieder. - -Die fünf Akte sind so aufgebaut, daß der erste 5, der zweite 7, der -dritte 13, der vierte 15, der fünfte aber nur 2 Szenen umfaßt: es ist -eine fortwährende Erweiterung in die Breite der Welt, bis -- nach -dem Tod des Antonius -- in dem Epilog, den der fünfte Akt bildet -- -alles Extensive sich am Intensiven, alle Unruhe der äußern Bewegung an -Cleopatras Seelenfülle bricht, die am Ende hervorkommt. ~Bravest at -the last~ -- die Kühnste, die Beste am Ende, sagt Octavius von ihr -in der unnachahmlich vielsagenden Kürze dieser Sprache und hat recht; -und was da nur für Cleopatra gesagt ist, gilt auch fürs Stück. - -Lassen wir alle Erfahrungen der Unzulänglichkeit, die es auf -englischen und deutschen Bühnen bisher gemacht hat, beiseite, so -ist zu sagen: dieses seinem besonderen Wesen der Breite und Tiefe -entsprechend besonders gebaute Drama bietet der Bühne eine ungeheure, -eine prachtvoll lockende Aufgabe; aber es verlangt seinen besonderen -Stil; es braucht ein Tempo des Verlaufs, das in gleicher Weise der -breiten Mannigfaltigkeit der Schauplätze wie der Fieberhaftigkeit der -Seelenstimmung entspricht; keinerlei Dekorationskünste dürfen uns -aufhalten; aber auch die Drehbühne mit ihrer Unruhe, Würdelosigkeit und -Verengung wäre kein Rat. Helfen kann hier, meine ich, am leichtesten -und schönsten das Prinzip der echten, alten Shakespearebühne, dem -moderne technische Mittel zu Hilfe kommen: eine bleibende, für alle -Szenen würdig gestaltete Bühne also, über der nur ganz selten der -Vorhang fallen muß, damit ein paar Requisiten je nach dem Erfordernis -der Szenen gewechselt werden; der Schauplatz aber, die Stelle in der -Welt, in der wir uns jeweils für ein paar Minuten oder auch nur den -Bruchteil einer Minute befinden, ist mit Hilfe des Skioptikons durch -Lichtbild auf die Fläche des Hintergrunds zu projizieren; ist die -Vorstellung nur sonst vom rechten Ernst erfüllt und vermeidet man -jeden Versuch einer parodistischen Erinnerung an Bühnenkindlichkeiten -früherer Zeiten, so darf die geographische Lage des Stückes Natur, das -dieser Hintergrund unsern Augen zeigt, ruhig in Buchstaben, die sich -dem Bilde des Hintergrunds einfügen, mitgeteilt werden; Konzessionen -machen darf das Theater dem Kino keine, aber lernen darf es von ihm. -So können und sollen die Szenen, die alle an ihrer Stelle stehen und -nicht in einander gemengt werden dürfen, gleichviel, ob sie lang oder -kurz sind, so auf einander folgen, daß die Verbindung von Ruhe und -Bewegtheit, von Seeleneröffnung und großem geschichtlichen Hintergrund -entsteht, die das Stück verlangt. -- - -Antonius und Cleopatra liegt uns in keinem früheren Druck vor als in -der Gesamtausgabe aus dem Nachlaß, der Folio von 1623; auch versichern -die Herausgeber, das Stück sei bis dahin noch nicht gedruckt worden. -Gegen die allgemeine Annahme, die sich auf Verstechnik und geistige -Haltung stützt, wonach die Tragödie um 1607 oder 1608 verfaßt sei, ist -nichts einzuwenden. - -Shakespeares Quelle bildet Plutarchs Antoniusbiographie, die er schon -bei Julius Cäsar mitbenutzt hatte; sein Verhältnis zu dieser Quelle -ist auch diesmal, wie wir es damals gesehen haben; viele Einzelzüge -übernimmt er treu; geschichtliche Vorgänge, die in seinen Rahmen nicht -passen, läßt er weg oder läßt sie berichten oder tut sie mit einem Wort -ab; und zu dem Eigentlichen, worauf es Shakespeare dem Brennenden, -Shakespeare dem Ergründer ankam, hat der gute, sacht-pädagogisch mit -dem Pendelfinger warnende Plutarch keinerlei Beziehung. - -Der Schauplatz und mehr, ein Gegenstand des Dramas: das römische Reich, -nichts Geringeres: Rom, Misenum am Golf von Neapel, Messina, Athen, -Actium an der Westküste Griechenlands, Syrien, Alexandria in Ägypten; -und einmal werden wir an Bord eines Schiffes geführt. Und immer die -Breite und die Bewegtheit und der Zusammenhang, immer gehen Boten hin -und her und verbinden die Teile des Reichs, wenn auch zu Streit, so -doch noch zu Einheit. - -Die politische Situation: das Triumvirat, wie es nach Cäsars Ermordung -sich zusammengetan hatte und nach dem Sieg über die Verschworenen -geblieben war, das Regiment von Octavius Cäsar, Julius Cäsars Neffen, -Adoptivsohn und Erben; Marcus Antonius; Lepidus. Alles drängt der -Spitze, dem Kaisertum zu; Lepidus steht als gutmütig-gemeiner -Vermittler -- der sich selbst nicht zu kurz kommen läßt, aber nur -den Geiz, nicht den Ehrgeiz kennt -- zwischen den beiden adligeren -Prätendenten, die ihn ihrerseits nur halten, weil ihr Streit zum -Ausbruch noch nicht reif ist. - -Bei einer Reise in die östlichen Gebiete, die ein Kriegszug war, ist -Antonius bei Cleopatra hängen geblieben. - -Stellen wir hier, wo es erst nur um die äußere Situation geht, gleich -das Alter der beiden fest. Historisch verhält es sich damit so, daß -sie, als Antonius ihr zuerst begegnete, 24 Jahre alt war; bei ihrer -beider Tod hatte sie das neununddreißigste erreicht. Bei Shakespeare -bleibt nun, wie fast immer, der zeitliche Verlauf im Unbestimmten, -Idealen; wesentlich ist, daß die Königin, wenn wir sie kennen lernen, -in dem Gefühl steht, ihre Jugend hinter sich zu haben, daß sie voller -Angst vor dem Alter ist; aber es walten die orientalischen Verhältnisse -der frühen Reife und des schnellen Welkens; wir brauchen das Alter, -das sie erreicht, nicht höher zu schätzen, als eben Ende der dreißiger -Jahre. - -Antonius ist in Wirklichkeit 53 Jahre alt geworden, und als einen -Fünfziger haben wir uns die Gestalt Shakespeares in diesem Stück auch -vorzustellen. - -Octavius Cäsar ist viel jünger, und seine Konstitution ist der Art, -daß er auf Männer von Antonius’ Schlag wie ein Knabe wirkt und immer -wieder leicht wie ein Knabe von ihnen behandelt wird. Das hindert -nicht, daß er kühl, ruhig, berechnend ist; das Männliche wird von -leidenschaftlichen Naturen gerade darum an ihm vermißt, weil er den -Trieben nicht unterworfen, dem Rausch nie preisgegeben ist; er ist -gemäßigt, nicht als einer, der seine Renner im Zügel hat, sondern als -einer, in dem es kalt und gesetzt hergeht, ohne Genialität, ohne Natur; -aber dabei ist er weit ausschauend, kann warten und lauern, hat in -kühler Cäsarenart einen vom Verstand geleiteten zähen Willen und hat -ohne Traum und ohne Wut Machtbegehr und Majestät. Als einer, der ohne -eigene Familie und auch sonst in jedem Betracht nur für sich dasteht, -hat er zwischen sich und der Welt, in die seine Hand herrschend -eingreifen will, eine kalt isolierende Schicht der Leere. - -Antonius ist mit Fulvia, einer geprüften Witwe, die schon allerlei -hinter sich gebracht hat, verheiratet. - -Cleopatra ist die Witwe des Ptolemäus; sie hat aus dieser Ehe wie aus -ihrem Bund mit Antonius Söhne. - -Den Stand des römischen Reiches lernen wir aus den Erwähnungen des -Stückes folgendermaßen kennen (wie immer, so auch hier brauchen wir -bei Shakespeare nur Aufmerksamkeit, keinerlei sonstige Wissenschaft; -darum ist er in all seiner erlesenen Reife stets volkstümlich, eine -ganze Nation vom Höchsten des Geistes her im Gemüt ergreifend): In -Italien wütet Krieg, erst zwischen dem Bruder und der Frau des Antonius -gegen einander; dann haben sich beide zusammengetan und gegen Octavius -gewandt, was diesem argen Verdacht gegen Antonius erregt, der in -Ägypten liegt und sich nicht von der Stelle rührt. - -In Süditalien, Griechenland, vor allem auf dem Meer durch Seeräuberei -macht sich ein außenstehender Prätendent, Sextus Pompejus, der Sohn des -großen Nebenbuhlers Julius Cäsars, immer gefährlicher. - -In Asien ist der Aufruhrkrieg der Parther unter Anführung des -rebellierenden Römergenerals Labienus im Gange. -- - -Und nun, wobei wir aber immer noch im Äußern nur uns bewegen wollen, -zur Handlung und zum Aufbau des Stückes. - -Tolles üppiges Leben in Alexandria am Hof der Cleopatra: Feste, Gelage, -Trinken, Schlemmen, Lieben. - -Derweile ist das Reich also von vielen Seiten in Gefahr; Antonius -leistet Octavius keine Hilfe; der Aufruhr seiner Angehörigen muß -irgendwie, ohne daß Klarheit über die Zusammenhänge zu schaffen ist, -auf ihn zurückgeführt werden; die Boten, die Octavius sendet, hört er -nicht an, läßt sie kaum vor. - -Trotzdem wird Fulvia besiegt, muß fliehen und stirbt eines unversehenen -Todes. Und in dem Augenblick, wo er dieses sein Weib tot weiß, erwacht -Rom in Antonius: in letzter Stunde, wo arg Versäumtes gerade noch -eingeholt werden kann, rafft er sich auf zur Reise nach Italien. - -Da kommt es in der Tat noch zur Versöhnung der Triumvirn: die Ehe des -jung verwitweten, der Cleopatra entflohenen Marc Anton mit Octavia, -auch einer Witwe, der Halbschwester des Octavius, wird gestiftet, und -er zaudert nicht, darauf einzugehen. - -Auch mit Pompejus wird ein Ausgleich zustande gebracht: der erhält -Sizilien und Sardinien. - -Und Antonius steht groß da, wie sein Feldherr drüben in Asien gegen die -Parther siegt. - -Aber kaum ist er in seiner besonderen Provinz, in Griechenland, da -bricht der Streit mit Octavius neu und nun erst recht aus: der geht -nun aufs Ganze; als echter Politiker betrachtet er Friedensverträge -lediglich als unerläßliche Stadien des Krieges: der Krieg gegen -Pompejus ist im geeigneten Augenblick wieder losgebrochen; Pompejus -wird darin ermordet; auch der Mitherrscher Lepidus ist jetzt reif; er -wird ins Gefängnis geworfen. - -So rüstet denn Antonius zum Krieg gegen Octavius; wie schon alles auf -des Messers Schneide steht, erlaubt er seiner Frau, nach Rom zu reisen: -es bleibt alles im Unbestimmten, wie sich’s für eine so politische -Ehe gebührt: halb reist sie zu einem fast aussichtslosen Versuch der -Vermittlung, halb weil ihr, wenn’s denn zum Krieg kommen soll, der -Bruder näher steht als der Gemahl, der sie nur so für eine Zwischenzeit -genommen hat, wie der Vertrag mit Pompejus ad interim geschlossen -worden war; in Antonius’ unterirdischen Bezirken wühlen aber, auch sie -freilich noch gemischt aus Politik und Brunst, noch ganz andre Motive: -kaum ist sie weg, bricht auch er auf -- nach Ägypten. - -Man blickt bei Shakespeare völlig schon in das wahre geschichtliche -Verhältnis hinein; was ein paar Jahrhunderte später kommen mußte, der -Zusammenbruch des großen Reiches, die Trennung in Ostrom und Westrom, -in die byzantinisch-morgenländischen und die lateinisch-abendländischen -Gebiete, das spielt hier vor. Antonius stützt sich ganz, in der äußern -Politik wie in der seiner eignen Natur gemäßen seelischen Haltung, -auf die östlichen Königreiche: Griechenland, Zypern, Lydien, Medien, -das Partherreich, Armenien, Syrien, Kilikien, Phönikien, Libyen, -Kappadokien, Judäa usw., die alle in Shakespeares Stück an ihrem Orte -mit Namen hervortreten. Das orientalische Leben, dessen Repräsentantin -Cleopatra ist, steht ihm an, weil er sich nach Natur wie nach Plan als -Herrscher dieses ungeheuren Reiches im Orient fühlt und von da aus, -auf dieses sein eignes Gebiet gestützt, den Kampf gegen Octavius ums -Weltreich führen will. Wäre durchgedrungen, was sich da regte, so wäre -Alexandria so die Hauptstadt der Welt geworden, wie später Byzanz; -Rom aber wehrt sich und behauptet sich. Wir sehen, wie Tüchtigkeit, -Nüchternheit, kriegerisch-geordnetes Wesen, zweckvoll logisches, -planvolles Staatsregiment sich im Westen unter Führung des Octavius, -des berufenen Erben Julius Cäsars und der Republik, aufbaut, während -eine im Orient wurzelnde Welt, repräsentiert durch den Griechenrömer -Antonius und die Ägypterin Cleopatra, den Luxus und Lebensgenuß, die -Ruhe, die lässige Beschaulichkeit, das Ästhetische, die triebhafte -Willkür und Laune wählt und zum Siege führen will. Wir sehen schon -hier, schon im voraus: es ist viel, was mit diesem Paar Antonius und -Cleopatra zugrunde geht, und diesmal bildet die Geschichte nicht, -wie wohl in solchen Stücken wie Othello oder Romeo und Julia, bloß -eine Art Hintergrund der Landschaft und Temperatur, sondern das -Besondere der Seelenzustände und Leidenschaften dieser Menschen und -aber das Allgemeine der geschichtlichen Verhältnisse sind hier so -innig in einander gehörig, wie für dieses durch Liebe wie Politik -zusammengeschmiedete Paar Seelenliebe, Sinnlichkeit, Glanz, Üppigkeit -und Macht nicht von einander zu scheiden sind. - -Der Entscheidungskampf ist denn nicht mehr hintanzuhalten: große -Landheere und Flotten stehen einander bei Actium gegenüber. Cleopatra -mit ihrer Seemacht nimmt an der Schlacht teil -- und flieht; Antonius -mit seiner gesamten Flotte hinter ihr her -- und die Schlacht ist -zu Cäsars, zu Roms Gunsten entschieden. Octavius, mit einer ganz -unerwarteten, kühnen Geschwindigkeit, deren sich zumal Antonius von -ihm nicht versehen hatte, verfolgt sofort. Geht auch ein Treffen auf -dem Lande bei Alexandria für Antonius zunächst, dank seiner und seiner -Generale und Soldaten persönlicher Tapferkeit, günstig aus, so ist -doch nichts mehr zu hoffen: es ist nur der groß-verzweifelte Kampf ums -ruhmvolle Ende; und wie er -- fälschlich -- hört, Cleopatra sei tot, -bringt er sich um; und Cleopatra stirbt ihm nach. - -Der Westen hat gesiegt; die Einheit des Reiches ist, mühsam genug, -vorerst bewahrt; Octavius Cäsar Augustus ist als alleiniger Imperator -übriggeblieben; ein Kaisertum hebt an, in dem vorerst das Erbe -republikanisch politischer Rechnung mächtiger ist als das orientalisch -üppige Machthabertum, das Antonius gebracht hätte. - -Das ist der bewegte, der wahrhaft lebendig bewegte Hintergrund der -Tragödie: ein Film größter, riesenhafter Art. - -Wenigstens, so wie wir’s bisher skizziert haben, bildet dieses bewegte -Gemälde der Historie nur den Hintergrund des Stückes. In Wahrheit ist -all dieses Geschichtliche, all dieser Machtstreit unlöslich eingeknüpft -in das eigentliche Drama, in die Tragödie, die Antonius und Cleopatra -in dieser weltgeschichtlichen Landschaft an einander erleben und von -der jetzt erst zu reden ist. - -Vorher aber noch ein Wort von der Stimmung und dem Sinn des Ganzen. - -Wir haben drei Dramen Shakespeares, die wie schon der Titel sagt, ein -Paar in die Mitte stellen: Romeo und Julia, Troilus und Cressida, -Antonius und Cleopatra. Nun sagt man wohl, das erste Mal sei die -hohe Liebe, die beiden andern Male aber die niedre, die Sinnenliebe, -die Wollust dargestellt. Es ist aber nicht eigentlich so. So viel -Shakespeare von Anfang an und immer mehr gegen den Teil der Liebe, -der Wollust heißt, auf dem Herzen hat, so sehr er sich, wo er zur -Liebe klagend und anklagend steht, auf kritische Analyse einläßt, -so sehr kennt er, wo er Menschen und ihre Schicksale gestaltet, nur -_eine_ Liebe: die ganze. Er weiß, daß der Trieb selbst in rohester -und tierischster Gestalt bei allen Lebendigen, die nicht Caliban sind, -noch irgendwie von Traum und Phantasieschöpfung verklärt ist und daß -~fancy~ ein Element ist, in dem Lust mit Laune, Leidenschaft mit -Seele, Zwangsgewalt mit Freiheit und Geist mit göttlich-leichtem Spiel -vereint wohnen. Er kennt nur die eine Liebe, die ganze; aber er kennt -unsäglich verschiedene Menschen, die von ihr ergriffen werden und sich -anders in ihr verhalten; er kennt unsäglich viele verschiedene Grade -und Stufen der Liebe und ihres Mischungsverhältnisses. Die hohe Liebe -des holden Jugendpaares Romeo und Julia ist sehr beseelt, sehr sinnlich -und wenig geistig; bei Troilus und Cressida haben wir als bezeichnend -gesehen, wie bei diesem Paar der Jüngling so viel mehr Seele und -Geist in das Gefäß der Sinnenliebe gießt als das Mädchen; und so ist -auch die Liebe von Antonius und Cleopatra, dieser nicht mehr Jungen, -Vielerfahrenen, des reifen, überreifen Mannes, des reifen, überreifen -Weibes Liebe nicht im entferntesten bloß Sinnenliebe; Shakespeare -bleibt hier so wenig wie je im Typischen, Formelhaften, Abstrakten -stecken; Einmaliges, das sich so nie in der Welt wiederfindet, wird -gezeigt; es ist die leidenschaftliche, unentrinnbare, Seele und Leib -und Geist trotz aller Abwehr und allen Fluchtversuchen und allen -Einsichten und Verleumdungen hinnehmende Liebe des Staatsmanns und -Kriegsmanns, des Römers und Griechen Antonius und dieser einzigen Frau, -der Schlange vom Nil, wie er sie nennt, der Königin-Buhlerin Cleopatra. - -Antonius: wir kennen ihn schon aus Julius Cäsar, und er ist der -selbe. Ein herkulischer Mann, der Familiensage nach auch wirklich -aus Herkules’ Stamm entsprossen; Sportsmann, Ringer, Athlet. Tapfer, -aushaltend, nicht umzubringen, von einer ehernen Konstitution, die -man, im ursprünglich bildhaften Sinn, wahrhaft kolossal nennen darf. -Dazu feurig, flammend, rasch einnehmend; er repräsentiert die seltene, -berückende Vereinigung der stärksten Kraft mit der feinsten Eleganz, -der unerschütterten Ruhe, wie sie sonst nur ein Vierschrötiger hat, -mit der leichtesten und witzigsten Beweglichkeit. Sein Denken ist -schnell, schnellend; und so ist auch seine Entscheidung ohne Bedenken -und Skrupel. Solange er sich in der Gewalt hat, ist er imstande, all -seine reichen Gaben in den Dienst eines Zwecks zu stellen, und ist -dann ganz sieghaft. Denn er ist eine reiche Natur, voller Gefühl und -Unmittelbarkeit, und wenn er diese Gaben vermöge seiner angeborenen -und durch viel Übung bezwingend gewordenen Schauspielerkunst seinem -Willen dienstbar macht, so siegt er durch sich selbst und durch die -Popularität, die mit ihm geht. - -Er ist einer, der durch Ausschweifungen so wenig wie durch härteste -Entbehrungen umgebracht wird. Für sein Ausmaß gilt nicht das -Entweder-Oder kleiner oder mittlerer Normalmenschen: entweder -liederlich etwa oder kriegstüchtig; entweder leidenschaftlich oder -besonnen; er ist das eine wie das andre. Nie ist er, in fassungslos -wilder Unbeherrschtheit nicht einmal, in äußerster Anspannung; immer, -ehe es mit ihm zu Ende geht, ist in ihm und um ihn noch etwas von der -Ruhe einer gewissen mittleren Haltung, einer holden Lässigkeit. - -Da sind wir aber bei seiner Gefahr, zumal in dieser dürr gewordenen -Welt der Politik: er kann nicht nur, er muß manchmal den Zweck -ausschalten; er kann nicht alleweile hell, klar, scharf sein, die -Gegner belauern und ein Ziel verfolgen; er braucht Selbstvergessenheit, -Hingebung, Versinken, Trägheit, Lust: Genuß und Rausch. - -Und dazu kommt nun: er steht jetzt an der Grenze, wo die Jugend ihn -bald verlassen würde, wenn er sie nicht mit leidenschaftlicher Gewalt -festhielte. - -Was ihm, ganz abgesehen von allen politischen, allen -Rivalitätsgegensätzen, an Octavius menschlich so widerwärtig ist, -das ist, daß dieser junge Mensch gar keine Gegenwart und also Wonne -so wenig wie Laster zu haben scheint: der lebt nur in der Zukunft, -in der Spannung, im politischen Ziel, im Abstrakten. Über Antonius -aber scheint das Gebot zu walten, das der Dichter des augusteischen -Zeitalters, Horaz, in die zwei Worte faßt: ~carpe diem~, genieße -den Tag, pflücke die Stunde. Lust ist das Element, in das er immer mal -wieder tauchen muß, Lust bis zur Liederlichkeit; nur daß sie tragisch -umwittert ist, in Verbindung wie sie steht mit der Gefahr der Zeit in -jeglichem Sinne: daß die Zeit dahinschwindet, daß die Jugend vergeht; -und dazu noch die Untergangsstimmung dieser besonderen Zeit: es mischen -sich die Kulturen von Ost und West; die republikanische Tugend ist -versunken; wie lange ist’s schon her, daß er selber Brutus erst in den -Untergang gehetzt und ihm dann den erschütterten Nachruf gesprochen -hat! Nun herrschen Frivolität und Skepsis; die Welt hat keinen Halt und -keinen Glauben mehr; und in den großen Kämpfen geht es nicht mehr um -Prinzipien, sondern um persönliche Macht. - -Es ist fast wie ein landschaftliches, ein Natursymbol dieser wogenden -Stimmung -- wie’s uns anders, aber doch verwandt dann wieder im -Sturm begegnet --, daß wir in diesem weiten Drama immer wieder auf -die Wasserfluten, des Meeres und des Stromes, geführt werden: es -ist in diesem Stück etwas Weiches, Wogendes, Nebeldunstiges, feucht -Dahinrinnendes; es fehlt nicht an Sonne, aber es ist die Sonne, die -Maden ausbrütet; wir schwimmen auf einem Flusse wohliger Lust, und wo -wir dem Feuchten entsteigen, kommen wir doch nicht aufs feste, sichere, -trockene Land, sondern in die fruchtbar-schwüle Sumpfniederung des Nils. - -Auf einem Flusse ist Cleopatra allererst dem Antonius entgegengefahren; -drüben in Kleinasien war’s; auf dem Kydnus in Kilikien. Das üppige -prächtige Bild dieser Begegnung stammt ursprünglich von Plutarch; wir -haben es nun, wie eine zauberhafte Wirklichkeit, die aus Geschichte -zur Sage geworden ist, in den Farben, in denen es Shakespeare für -alle Sinne gemalt hat und die noch frisch und strahlend sein werden, -wenn das Bild, das Makart aus der Szene gemacht hat, längst chemisch -zersetzt sein wird: - - Die Barke, drin sie saß, brannt’ auf dem Wasser - Hellstrahlend wie ein Thron; getriebnes Gold - Des Schiffes Spiegel; purpurrot die Segel - Und so durchduftet, daß die Winde sich - In Liebesweh verfingen. Silberruder - Regten im Takt sich nach dem Ton der Flöten, - Und wie in Sehnsucht folgten die Gewässer. - Und nun sie selbst! Der Schildrer wird zum Bettler! - In ihrem Zelt von Goldbrokat lag sie, - Das Venusbild, in dem die Kunst der Laune - Noch die Natur bemeistert: ihr zu seiten - Wie lächelnde Amoretten standen Knaben - Mit holden Wangengrübchen, bunte Fächer - Wehten statt Kühlung Glut dem zarten Antlitz... - Um sie die Dienerinnen, allesamt - Meermädchen, Nereiden gleich... - Ein Meerweib sitzt am Steuer; seidnes Tauwerk - Schwillt an im Druck der blumenweichen Hände... - Und von der Barke trifft - Ein seltsam unsichtbarer Duft die Sinne - Der nahen Ufer... - -Da haben wir sie allererst, Cleopatra die Nilschlange! Der Hörer des -Stückes freilich vernimmt diese begeisterte Erzählung des sonst so -ruhig-klugen Feldherrn Enobarbus erst, nachdem er die Königin schon in -schönen und häßlichen Launen leibhaft kennen gelernt hat. Seltsam und -ganz in der Art großer Dichter, so indirekt fast, wie Homer die Helena -in ihrer Wirkung auf die trojanischen Greise geschildert hat, ist es, -wie wir in diesem Bericht über die Jugend der Schönen, die wir vor -Augen haben, mehr von ihrem Milieu, ihrem Dunst und Duft hören als von -ihr selbst, mehr von ihrer Wirkung als von ihrer Erscheinung, und mehr -von Kunst als von Natur! - -Ihrer äußern Erscheinung aber werden wir Leser besser durch die Szene -habhaft werden, wo sie sich ihre Nebenbuhlerin Octavia schildern läßt; -eine echte Cleopatra-, auch eine echte Shakespeare-Szene das; aus ihren -Ablehnungen der Eigenschaften Octavias erfahren wir, für welche eignen -sie sich selber zulächelt: demnach ist Cleopatra eine hohe, schlanke -Erscheinung, voll graziöser Bewegung; das Gesicht ist oval, der Teint -dunkel -- eine Zigeunerin wird sie genannt; die Stimme aber ist hell -und zart. Sie wirkt königlich und weiblich; bezwingend, verführend vor -allem durch Hinfälligkeit. - -Dies ist nun ein wesentlicher Zug an diesem Geschöpf, der, glaube -ich, bisher nie richtig gedeutet worden ist. Um ihn zu gewahren, -haben wir zunächst darauf zu achten, daß die Menschen sich in ein -paar Jahrhunderten oder auch Jahrtausenden nicht eigentlich, nicht im -Grunde ändern; gewisse Ausdrucksformen, Kleider, Moden und vor allem -Bezeichnungen und Deutungen ändern sich, aber nicht Wesenszüge, weder -normaler noch abnormer Art; und es macht kaum einen Unterschied, -ob wir, darauf nun aufmerkend, den Blick in Shakespeares oder in -Cleopatras Zeiten richten. Frauennaturen, wie sie uns heute begegnen, -wie wir sie heute kennen -- was man so kennen heißt --, hat es -auch damals gegeben. Ich glaube nun zu gewahren, ja, ich bin mir -sicher, daß Shakespeare, wohl der größte Menschen- und vor allem -Frauendurchschauer, den wir haben, in Cleopatra eine Frau dargestellt -hat, die wir besser verstehen, wenn wir sie in den Kreis der -Frauengestalten aufnehmen, wie sie in der uns vertrauten Sprache und in -direkter Schilderung zuerst Stendhal und dann vor allen Dostojewskij -geschildert haben. - -Ja, Shakespeares Cleopatra gehört zum Geschlecht der Aglaja Epantschin -und der Nastasja Filipowna aus dem Idioten und vor allem der Gruschenka -und der Katharina aus den Brüdern Karamasoff. Nur daß sie zu all -der Hoheit, die bei ihr wie auch bei diesen Frauen aus mannigfachem -Erliegen und sklavischem Hingeben, aus arger Erniedrigung sich immer -wieder aufbäumt, noch die Stellung einer echten Königin hat, mit Macht, -Üppigkeit, fabelhaftem Reichtum umgeben, und daß ihr Geliebter der -Imperator ist. - -Sprechen wir das Wort nur aus: eine sinnlich, seelisch, geistig reich -begabte Hysterische ist diese Zigeunerin und Königin aus dem Lande -Ägypten, eine Hysterische von der strahlend reichen, schimmernden -Gattung, die Männer verschwenderisch verbraucht und Männer zauberhaft -anlockt; der Gattung, der gegenüber Worte wie Wahrheit und Lüge, ja -sogar, Natur und Kunst unzulängliche Ausdrücke werden. - -Das entscheidende Wort, von dem aus die Gestalt aufzubauen ist, fällt -im vertrauten Gespräch zwischen Antonius und seinem ersten Feldherrn -und nächsten Freund Enobarbus. Antonius ist entschlossen, Cleopatra -zu verlassen; es ist höchste Not, in Italien nach dem Rechten zu -sehen; die Nachricht von Fulvias Tod hat ihn aufgestört, hat positiv -und negativ ihre Wirkung getan; denn einer der Gründe, warum er -ganz in diesem ägyptischen Weibe wie in einem Versteck und einer -Vergessenheit untergetaucht war, besteht nun nicht mehr: seine Ehefrau, -dies kriegerische Mannweib, vor dem er Respekt in jeder Hinsicht, -wahrhaft Angst nämlich gehabt hat, ist nun tot. Wie Antonius ihm diesen -Entschluß eröffnet, meint Enobarbus bedenklich: O weh! Da stirbt -Cleopatra, sowie sie’s hört, auf der Stelle! Und ihre Frauen, ja, die -leben ja in so einer Art bei weiblicher Freundschaft bekannter Mimikry -mit der Existenz ihrer Herrin, die werden ihr eilends nachsterben! -Damit will der Kauz, der zynische Sprache als Panzer gegen die Welt -sich angelegt hat, sagen: Was wird es diesmal für eine Szene geben! Wie -wird sie in Ohnmacht fallen! - -„Ich habe sie zwanzigmal sterben sehen bei weit armseligerm Anlaß. Es -muß, denk’ ich, ein feuriger Stoff im Tod liegen, der irgendwie einen -Liebesakt auf sie überträgt, sie hat so eine Schnelligkeit im Sterben!“ - -Auf diese Bemerkung, die schon seltsam genug ist, erwidert -Antonius, dem nicht wohl zumut ist, mürrisch: „Sie ist schlau über -alle Begriffe.“ Er deutet also -- in diesem Augenblick -- ihre -Hinfälligkeit, ihre Anfälle, ihre Ohnmachten, im Zusammenhang -mit ihren Launen und ihrer Buhlerei aller Grade, ganz wie der -Durchschnittsbeurteiler, als Falschheit, Schlauheit, List. Wir aber -wollen, noch ehe wir weiter gehen, daran denken, daß unser Wort Laune -von ~la lune~, dem Monde, kommt, der nur bei uns Deutschen nicht -weiblichen Geschlechts ist, und daß Monat und Mond das nämliche Wort -ist. Enobarbus aber, ein feiner Beurteiler, einer, der trotz rauher -Rede fein empfindet, erspart uns vorerst weitere Deutlichkeit, indem -er dies seltsame Wesen noch eindringlicher analysiert, mit sehr -merkwürdigen Worten einer höchst modernen Seelenchemie: - -„Ach nein, Herr,“ so weist er des Antonius brummige Plumpheit zurück, -„ihre Triebe -- ~passions~ -- bestehen aus gar nichts anderm als -dem allerfeinsten Teil reiner Liebe; ihre Stürme und Fluten dürfen wir -gar nicht Seufzer und Tränen benennen; es sind Orkane und Gewitter -einer heftigeren Art, als sie im Kalender stehen: das kann bei ihr -keine Schlauheit sein; wenn das wäre, könnte sie einen Regenschauer -machen so gut wie Jupiter.“ - -Moderne Verkünder der Periodizitätslehre würden sich weniger -anschaulich und formelhafter ausdrücken; aber auch sie würden -Cleopatras Wallungen mit Wind und Wetter, mit Ebbe und Flut und mit dem -Kalender in Beziehung bringen. - -Damit ist also gesagt: ihre Launen, ihre Tränen, ihre Ohnmachten, ihre -Wutanfälle, womit all ihr verführerischer, sinnlicher Zauber und auch -ihr Spielen mit der Liebe, ihre Katzennatur zusammenhängt, all das ist -im Grunde eine überempfindliche Hingebung an Liebe und Leidenschaft. -Die Liebe ist bei ihr etwas Zentrales, und gerade darum ist sie nicht -bloß inwendig, in Seelenkeuschheit Liebe; ihre Liebe ist immerwährend -anwesend und allüberallher in ihrem Leibe verbreitet; bis in die Haut -und jede Regung hinein ist sie lauter Liebe und Trieb; wenn sie alle in -irgend einem Grad in ihre Netze zieht, so nur darum, weil sie selbst -mit Haut und Haar im Netz, im Bann, im Dienst der Liebe steht. Ihre -Unberechenbarkeit ist Schwäche; und diese Schwäche ist ihre Stärke über -die Männer; sie ist eine tödlich Liebende, weil Liebe, das mörderische, -schlangenhaft aussaugende, bebend rastlose Prinzip, ihr in Leib und -Seele sitzt. Ergreifend schöner und dazu unbemäntelt wahrer kann man’s -nicht ausdrücken, als es der Römer Enobarbus getan hat: ein Leben, das -dem Tod entstammt und in jedem kleinsten Zeitteil vom Tode besetzt ist, -führt sie; und dieser Tod ihrer Herkunft und ihres immer zitternd regen -Daseins verwandelt sich ihr in geheimnisvollen Schauern und feurigen -Wallungen wie zu Liebesakten. Fassen wir sie so, wie Enobarbus uns den -Weg zu ihr weist, welche Achtung überkommt uns vor den Gegengewichten, -die diese reiche Arme trotz all ihrer elementaren Natur in sich haben -muß, vor ihrem Geist und ihrer Beherrschtheit, vor ihrer mit allem -Hohen der Welt in Verbindung stehenden, königlichen Liebe zu den Großen -der Erde, ja, sagen wir’s geradeheraus, so paradox es klingt, vor ihrer -Treue in der Liebe! Wie hat sie die pochende, zuckende Ruhelosigkeit -ihrer Natur in sanft und geräuschlos bewegte Grazie, wie hat sie ihre -Schlangenhaftigkeit denn doch in die Wellenlinie berückender Anmut -verwandelt, so oft nicht ihre lettene Ursprünglichkeit die Dämme der -Sitte sprengt und in brutal-abscheulicher Gemeinheit loslegt! - -So wenig ich sonst geneigt bin, aus Shakespeares Dramen in sein -Leben auszubrechen und aus diesen Gebilden Schlüsse auf des -Dichters persönliche Existenz zu ziehen, so sehr bin ich hier davon -durchdrungen, daß er diese wundervoll verführerische, gefährlich schöne -Weibnatur im Leben kennen und als Mann verfluchen gelernt hat. - -Ich denke, wie es auch andern gegangen ist, wie es unausweichlich ist, -an die schwarze Schönheit, die uns in mehreren Teilen, besonders am -Schlusse seiner Sonettendichtung begegnet, an das Weib, in dem sich -ihm zu unerhörter, unheimlicher Klage die Sinnenliebe, das Geschlecht, -die Wollust verkörperte. Davon hören wir später im Zusammenhang, aber -damit die Tragödie von Antonius und Cleopatra uns in unserer, uns in -Shakespearischer Tiefe aufsucht, wird es uns gut tun, jetzt gleich -das 129. Sonett zu hören; und da uns die Gedanken, das Gefühl und -die Stimmung dieses Gedichts in all ihrer Schärfe treffen sollen, -verbleibe der nie ganz mögliche Versuch einer dichterischen Wiedergabe -der späteren Darstellung der Sonettendichtung in ihrem Zusammenhang; -hier folge dieses Sonett in der unverwischten Klarheit, die es im -Original in der rhythmisch gebannten Sprache mit der Schlagkraft der -Reimverschränkung und der Hammerschläge des Schlusses, für uns aber -nur in Prosa hat: - - Schändliche Vergeudung des Geistes ist Wollust in Ausübung; und - bis dahin, vorher ist Wollust meineidig; mörderisch, blutig, - schmachvoll, wild, unsäglich, roh, grausam, ohne Verlaß; - - Sobald genossen, stracks verachtet; sinnlos gejagt, und, sobald - erlangt, sinnlos gehaßt; wie ein verschluckter Köder, der ausgelegt - wurde, um den, der ihn zu sich nimmt, toll zu machen: toll in der - Sucht und toll auch im Besitz; unsäglich, wenn man’s gehabt hat, - hat und zu haben begehrt; - - Ein Segen, den man sucht; wahre Qual, die man gefunden; vorher: - erhoffte Freude; nachher: ein Traum. - - Das weiß die Welt alles gar wohl; und doch weiß keiner den Himmel - zu fliehen, der die Menschen in diese Hölle führt. - -So spricht, so klagt, so klagt an Shakespeare der Mann, der auch in -dieser direkten Aussprache, wir hören’s noch, oft genug so tief und -schön in der verstehenden, gestaltenden, umgestaltenden Phantasie des -Dichters einkehrt, die Liebe, auch Liebe, himmlische Liebe heißt, daß -er auch da die liebenswürdige Milde neben die grausame Aufdeckung -der Wahrheit zu setzen vermag. Das aber ist die vollendetste Höhe -des Dramatikers, daß er zugleich so erschreckend grausam und so -anbetungswürdig milde und liebend in seiner Wahrheit ist. Keiner, kein -einziger vor und neben und nach ihm hat ein solches Volumen der Seele -wie er. - -Sehen wir nun von Anbeginn, wie’s die beiden, in deren Seelen der -Zauberer diesmal hineingeschlüpft ist, mit einander treiben, wie es sie -treibt. - -Sie noch mehr als er steht immer zitternd in Angst vor dem Alter; -Cleopatra lebt in Reminiszenzen, in den großen Erinnerungen, wie -hintereinander Julius Cäsar und Pompejus in ihren Banden waren. - -Und nun ist ihnen Antonius gefolgt, der Herr des dritten Teils der -Welt, der ein so herrlicher Mann ist, daß er Kaiser der Welt sein -sollte. - -Um es aber zu sein, müßte er fort von ihr, in Krieg und Gefahr, das -wäre das wenigste, wiewohl sie, das Weibchen, so feige wie verwegen -ist; aber sie braucht ihn bei sich; ihre Liebe, die immerwährendes -allgemeines Verlangen ist, kann der Gegenwart des Geliebten nicht -entraten; und überdies, ginge er zu seiner Aufgabe, so käme er zu ihrer -größten Gefahr: zu Fulvia. Daß er ein Ehemann ist, auch innerlich, in -einer edlen Region seines Wesens, an eine andre Frau, an eine kühlere -Welt, an Italien gebunden, ist ewig ihr Stachel; sie plagt ihn mit -Bosheit und Hohn, mit „Schelten, Lachen und Weinen“. Ist er traurig, so -will sie tanzen; ist er vergnügt, so will sie, daß er sie krank glaubt. -Will er reden, so läßt sie ihn nicht zu Wort kommen. - -Und wie er nun, gefaßt ruhig, zwischen ernstem Bedauern und großer -Erleichterung, ihr mitteilt, Fulvia sei tot, da ist es für die Unselige -wieder ein stechender Schmerz; denkt sie doch über alles andre hinweg -vor allem an sich, ihr Geschick und ihre Liebe: so also geht es uns -Frauen, wenn wir tot sind; so wird er einst sich über _ihren_ Tod -mit einer andern trösten! - -Kaum aber ist er weg, so hat sie keinen andern Gedanken als ihn. - -So wie der Politiker Octavius täglich Boten allüberallhin entsendet, um -mit allen Teilen des Reiches in Verbindung zu sein, so gehen täglich -ihre Liebesboten zu Antonius und wieder zu ihr zurück. - -Seine rasche neue Ehe mit Octavia ist pure Politik: Mißtrauen und -Kriegsbereitschaft sind bei Octavius aufs höchste gestiegen; der -Stern Antons will sinken; es gibt für ihn nur dies eine Mittel, die -Entscheidung hinauszuziehn. - -Sie aber gerät bei dieser Nachricht in fassungslose Wut. Da hat ihr -Dichter wahrlich nichts schmeichlerisch bemäntelt; wie wir aber in -einem Gemälde oder einer Skulptur die ganze Tiefe der Enthüllung mit -einem Blick umfassen, so erfordert das Kunstwerk, das, wie Dichtung, -Drama und Musik, in der Zeit verläuft, die Aufhebung der Zeit und das -Erfassen von Anfang, Mitte und Ende in Einem durch das einzige Mittel, -das sich bietet: durch unsre innige Vertrautheit mit dem Werk. Ich -pflege, wenn ein junges Menschenkind zum ersten Mal die Bekanntschaft -mit einer der Symphonien Beethovens gemacht hat, in ernsthaftem Scherz -zu sagen: man dürfte sie gar nicht zum ersten Mal hören; und in der -Tat ist das der Unterschied echter Zeitkunst von der Wirklichkeit: -die Wirklichkeit bietet uns nie die Totalität, immer nur den linearen -Verlauf in Hoffnung und Bangen; im Kunstwerk vermögen wir, immer noch -in Harren und Furcht, geheimnisreich das runde Wissen ums Ganze zu -haben und damit in aller Erdennot und Greuel himmlischen Trost. So -dürfen, so sollen wir Cleopatras Liebreiz, ihre samtene Zartheit, ihr -erhaben-liebliches Ende im Liebestod im Sinne haben, wenn wir dabei -sind, wie sie besinnungslos den Boten schlägt und an den Haaren zerrt, -der diese Nachricht bringt: Antonius wieder vermählt! - -Shakespeares gewaltige Kunst und Menschlichkeit, seine Menschen -in all ihrer Mischung zu zeigen, tritt nirgends imponierender und -rücksichtsloser, selbstgewisser heraus als in diesem Drama; das sind -Gestalten, die jeder abstrakten Formel, jeder Typisierung spotten; sie -sind nicht gut und nicht böse; und wollten wir diese Bezeichnungen auf -sie anwenden, so müßten wir sagen, sie seien abwechselnd beides und -manchmal sogar beides zugleich. - -Sein Antonius, wie er erst wieder römischen Boden unter den Füßen hat, -ist guten Willens, Cleopatra zu vergessen; aber immerzu unterhält sie -mit ihren Boten ihr frisches Gedächtnis, sie bringen ihm ihren Duft; -und sein Verhältnis zu Octavius bleibt nicht gut, trotz der Schwester, -die er geehelicht hat, und wird schlimmer; und wie er erst wieder -griechische Luft atmet, weiß er, glaubt er: sein Heil ist -- politisch -und menschlich -- im Osten. - -So flieht er zu Cleopatra und organisiert die Reiche des Ostens zum -Krieg. Die Kunde wird Cäsar Octavius sofort übermittelt, und der -Entscheidungskrieg ist da. - -Antonius, der Heraklide, ist, wo’s vor allem auf persönliche -Tapferkeit ankommt, im Landkrieg, der erste Held seiner Zeit und fast -unüberwindlich. Cleopatra aber mit ihrer schimmernden Flotte, mit ihrer -verwegenen, verführerisch hemmungslosen Lust zum Gefährlichen und -Verderblichen, lockt ihn auf ihr Element, das Wasser. Im Seekrieg aber -entscheidet nicht die körperliche Tapferkeit, sondern die berechnende -Klugheit und kühle Ruhe, deren Meister Octavius ist. - -So fängt’s bei Actium gleich unglücklich an und ist schnell zu Ende: -Cleopatra, die aus Laune in den Krieg gegangen ist, das ängstlichste -Menschenkind, flieht sofort, nachdem Octavius mit scharfem Ernst -losgelegt hat, und alle Ägypterschiffe hinter ihrem Admiralschiff her; -Antonius aber verliert den Kopf und folgt ihr mit seiner gesamten -Flotte. - - Das größre Stück der Welt verloren! - ... Länder und Reiche - Sind weggeküßt. - -„Wie ein brünstiger Enterich“ ist Antonius hinter ihr her gesegelt: -derlei Äußerungen fallen im Kreis der entsetzten, der wie mit kaltem -Wasser begossenen Generale; sie sehen: ein Dämon waltet über Antonius, -sein Schicksal erfüllt sich; einer nach dem andern rüsten sie sich, von -ihm abzufallen. - -In Alexandria im Palast erst findet er sich wieder und schäumt vor -Scham und Wut. Sie sieht und hört er erst gar nicht; dann fährt er -ganz unbeherrscht, tobend gegen sie los. Sie aber ist rührend in ihrer -weiblichen Schwachheit. In diesem Augenblick ganz ohne Sinn für Krieg -und Politik, nicht einmal bewußt weiblicher Politik folgend und gerade -dadurch ihn treffend, unköniglich, wie ein Zigeunermädchen beugt sie -sich tief: - - O mein Herr, - Mein Herr, vergib nur meinen zagen Segeln! - Ich dacht’ nicht, daß du folgtest. - -Zart und geknickt kann sie nur immer um Verzeihung bitten, und wie die -Tränen kommen, ist er besiegt. Es ist zu Ende, er weiß es; aber wer -wird dran denken? Wein her, zum Mahl! zum Kuß! zur Liebe! zur Betäubung! - -Sie aber, der Lieben Leben und Leben Lieben ist, die feig wie eine -Sklavin an Dasein und Wohlsein, an Lust und Üppigkeit hängt, der -hintereinander die Beherrscher der Welt, Pompejus, Julius Cäsar, -Antonius Geliebte waren, kommt jetzt in die größte Versuchung ihres -Lebens. - -Schon liegt Octavius mit seinem Heer vor Alexandrien und sendet -Botschaft: Antonius soll ausgeliefert werden; dann soll Cleopatra Gnade -und Gunst finden. - -Seine Feldherrn haben Antonius fast alle verlassen; selbst der Treue, -der ihn trotz allem Zynismus seines Gehabens fast anbetet, Enobarbus -entschließt sich, von ihm zu gehen (um dann bald in Reue -- eine -wundervolle Szene -- sich selbst zu töten): wo die Römer von ihrem -Herrn und Meister abfallen, wo er verloren ist, was soll sie, die -Ägypterin, sie, die Zigeunerin, Tod und Untergang vor Augen, tun? - -Wir wissen nur, daß sie den Boten des Octavius huldreich empfängt -- -ob sie weiter gegangen wäre? Wer weiß es? Der Dichter weiß nur, was er -wissen will; die Unbestimmtheit und Frage ist sein Kunstmittel so gut -wie die Sicherheit, je nach den Menschen und Lagen, die er behandelt; -hier verrät er uns wieder einmal nichts; soviel er tut, seiner -Cleopatra die schillernde Haut und das Innere zu beleuchten, sie ist -ein Rätsel, soll es sein, und hier läßt er sie unaufgelöst. - -Antonius fährt dazwischen. Schon kommt wieder in der gefährlich labilen -Seelenverfassung dieses Mannes an der Wende, der außen sich noch ans -Leben klammert, während innen in ihm fortwährend etwas weiß, daß alles -aus ist, schon kommt die grenzenlose Wut über ihn. Den Gesandten, der -Cleopatras Hand hat küssen dürfen, läßt er peitschen. - -Nicht etwa, daß keiner sie berühren dürfte; kaum ein paar Stunden -später, wo mit einem schönen Sieg Anmut und Würde wieder in ihm oben -sind, verschafft er selbst seinem tapfern Feldherrn Scarus, der noch -bei ihm ausharrt, diese höchste Gunst als Lohn: Cleopatra die Hand -küssen zu dürfen. Aber hier ist es anders; er kommt von Octavius, -der Hund! Und was brodelt da alles an Unausgesprochenem in dem -Todbedrohten, der beerbt werden soll! In Haß und Härte bricht er nun -gegen sie los. Kein Moderner hat unbarmherziger den Haß offenbart, in -den die Wollust umschlagen kann; mit der blitzschnellen Raffiniertheit -der Wut schreit er ihr das Schlimmste entgegen, was sich der Ärmsten -sagen läßt: - - Ihr wart halb welk, als ich Euch kennen lernte! - -Und weiter: - - Als kaltgewordnen Bissen - Fand ich Euch auf des toten Cäsars Teller; - Ein Brocken ja von des Pompejus Tisch; - Dazu noch was an schwülen Stunden, nur - Vom Leumund unverzeichnet, Eure Wollust - Sich auflas; denn gewiß, könnt Ihr auch ahnen, - Was Keuschheit sollte sein, Ihr wißt nicht, was - Sie ist. - -Kann wohl sein, daß sie, die von Moment zu Moment lebt, in jedem -Augenblicke aber ganz, daß sie erst jetzt, wo seine zürnende Liebe -so schamlos ausbricht und ihr solche Gewalt antut, daß sie, die -Gepeitschte und Übergossene, erst durch diese Gewalttätigkeit wieder -ins Gefühl ihrer unabänderlichen Schicksalsliebe zu ihm kommt. -Jedenfalls beschwört sie nun ihre Liebe zu ihm mit so leidenschaftlich -überzeugenden Worten, daß er wieder umschlägt: auf also in die -Liebesnacht vor der letzten Schlacht! - -Das ist die nämliche Nacht, in der die Soldaten, die auf Posten stehn, -eine seltsame unterirdische Musik vernehmen: - - ’s ist Herkules, der Gott, den er geliebt, - Der jetzt Anton verläßt. - -Ein Mann war er, die verkörperte Männlichkeit, und zu Manneswerk -bestimmt; und als Weiberknecht geht er zugrunde. Im unterirdischen -Trauermarsch verläßt ihn sein guter Geist, der Gott der Männlichkeit. - -Wohl stammt dieser Zug, den Shakespeare hier für die Untergangsstimmung -bringt, wie so manche Einzelzüge, von Plutarch: hier aber erst gewinnen -sie Leben und Sinn und werden mehr als Anekdotenkram, wo sie eingefügt -sind in dieses Gemälde der west-östlichen Leidenschaft im Rahmen großer -geschichtlicher Katastrophe. - -An dem Morgen also, der dieser Nacht folgt, darf Antonius, der kämpft -wie ein Löwe, noch einmal sich Sieger nennen; aber das Treffen ist von -keiner Entscheidung und kann nichts mehr abwenden. Sein Stern sinkt; -der Glaube an ihn verliert sich aus der Welt; am Tag darauf entspinnt -sich wieder eine Schlacht zur See, und seine ganze Flotte übergibt sich -dem Feind. - -Wer ist schuld? Auch hier will es der Dichter nicht wissen; es ist, wie -wenn ein Elementares sich dem Antonius entzöge. Wir wissen nur, daß -Antonius sofort wieder Cleopatra des Verrats bezichtigt. - -An Treue der Liebenden glaubt er nicht und kann nicht dran glauben; -so ist die Welt nicht mehr, so sind seine Erfahrungen nicht, und so -ist vor allem seine Natur und die Lebensart nicht, die er wählte. Zeit -seines Lebens war er, wenn es die Selbstbehauptung gegen die Welt -und die Verfolgung seiner Ziele galt, ein Komödiant; sein schnell -teilnehmendes Gefühl, seine menschliche Wärme, seine kindliche -Hingabe, die alle als echte Gabe natürlich in ihm lebten, hat er in den -Dienst politischer Zwecke gestellt; aus seiner Stärke wie aus seinen -Schwächen hat er Mittel gemacht; wie Enobarbus, der ihn am besten -kennt, einmal daran erinnert wird, wie Antonius bei Cäsars und auch -wieder bei Brutus’ Tod Tränen vergossen habe, da meint der trocken: - - Jawohl, in jenem Jahr plagt’ ihn der Schnupfen; - Was willig er zerstören half, darüber - Vergoß er Tränen. - -Und vor allem, wie könnte er, der seinen Frauen hintereinander die -Treue gebrochen hat, an treue Liebe zu ihm glauben? - -An Treue zu glauben war er gewohnt; an seinen Kriegskameraden, an -seinen Soldaten hat er sie gekannt; an Freundschaft und bewundernde -Ergebenheit hat er geglaubt; aber selbst die verlassen ihn jetzt eben. - -An Liebe glaubt er und hat sie genossen, hat sich leidenschaftlich in -sie hineingewühlt und sich in sie begraben und um ihretwillen Welt -und Treue und Ehre vergessen und verraten. So ist ihm Cleopatra jetzt -wieder die Schlange, das falsche ägyptische Herz, das Zigeunerweib, -- -jetzt hat sie ihm den Rest gegeben, hat ihn dem „jungen Römerknaben“ -verkauft, die Hexe! - -Vor seiner Wut flüchtet sie in ihr Grabmonument wie in eine Festung und -läßt ihm, in Angst und damit seine Stimmung umschlage -- sie kennt ihn -wie sich selbst --, sagen, sie sei gestorben. - -Das aber ist sein Ende. Seine politische Rolle ist ausgespielt; es ist -nichts mehr zu hoffen, der kühle Knabe hat gesiegt. Und nun ist ihm, -wähnt er, Cleopatra im Tod vorangegangen, ist um seinetwillen, ist um -ihn gestorben! Er hat genug; die römische Tradition lebt noch in ihm: -ein Freigelassener soll ihm zum Sterben verhelfen. Er selbst glaubt’s -nicht zu vermögen. Der aber -- Eros heißt er schon bei Plutarch -- -treu bis zum Tod, stürzt sich lieber selber ins Schwert. - -Da nimmt sich Anton ein Beispiel; aber er ist doch kein ganzer Römer -mehr, es gelingt ihm nur, sich schwer zu verwunden; und da erfährt -er, daß es eine falsche Botschaft gewesen, was ihn in die letzte -Verzweiflung brachte; daß Cleopatra noch lebt! So läßt er sich zu ihr -tragen. - -Sie aber inzwischen: in welcher Not der Reue und Angst ist sie! Oh, was -hat sie getan! Schon ehe er gebracht wird, weiß sie: diesmal hat sie in -ihrer Angst die Saite zu stark gespannt. Er hält sie für tot! für so, -um seinet-, um seines Zorns willen den Liebestod gestorben; das wird -er, sowieso schon zum Äußersten gebracht, nicht überleben! - -Rührend ist ihr Abschied; er stirbt im Kuß, wahrlich, kein Romeo! aber -ein Mensch, ein Mann, ein Liebender trotz allem, ein Einziger -- Marcus -Antonius! - -Sie aber fühlt sich neben diesem Leichnam, wie sie aus der Ohnmacht -erwacht, die sie sofort umfangen hat, wie Asche: es rieselt wie Alter -an ihr herab; der Königintraum, der Kaisertraum ist ausgeträumt; sie -ist nichts Besseres als ein armes, schwaches Weib, eine Magd, die -zurückgelassen ist: ihr Herr ist tot. Das Öl ist ausgebrannt. - -Eine bessere Erkenntnis, als sie je gehabt, steigt jetzt in ihr auf, -eine ganz nächtige, die Erkenntnis all derer, die der Macht und dem -Genuß nachgetrachtet haben, deren innere Unbefriedigung, Ungenügsamkeit -und Sucht an der Welt und an sich selber gefrevelt hat, die Erkenntnis, -zu der auch jener so ganz andere, darin aber zum Kreis der Holden -gehörige, der unholde Mann Macbeth gekommen ist: der Nihilismus; das -Leben, _das_ Leben ist -- nichts. - - Aus meinem öden Leid beginnt zu sprießen - Ein beßres Leben. Cäsar sein, wie nichtig! - Fortuna ist er nicht, nur Sklav’ Fortunens, - Ein Diener ihres Willens; aber groß ist’s, - _Die_ Tat zu tun, die alles Tun beschließt, - Den Zufall bändigt und den Wechsel sperrt, - Sich schlafen legt und nie den Kot mehr kostet, - Der Bettler nährt und Cäsar. - -Und doch -- wahrlich, sie ist keine Julia! und auch nicht Portia, die -Römerin -- die Wetterwendische, das Kind des Augenblicks, das von ihrem -Zentralen her schillernde Oberfläche ist, wie der Opal, dessen äußerer -Schlangenhautglanz seine Tiefe ist, -- wer weiß, ob sie nicht doch -noch weiterleben könnte? Aber sie vernimmt, daß der kalte Octavius -- -der erste Imperator und Cäsar, über den sie keine Macht hat -- nichts -andres sinnt, als sie gefangen im Triumph nach Rom zu führen -- und oh, -das wäre das Schrecklichste für sie! - -Die alberne, eiskalte Octavia, die angetraute Gattin ihres geliebten -Toten, ihres Gemahls, soll höhnend auf sie blicken? Der jauchzende -Pöbel in Rom soll ihr entgegenschreien? Auf der Vorstadtbühne soll -irgend ein junger Schauspielerlaffe sie als Hure vom Nil darstellen? -Nein. Nun ist’s aus; sie ist entschlossen. Unzählige Male hat sie -ihrer Lebtag mit dem freigewählten Tod gespielt; das hat zu ihrem -hingegebenen, krampfhaften Leben gehört. Jetzt wird’s Ernst. Längst -kennt sie die sanfteste Todesart: in ihr schönstes Kleid läßt sie -sich schmücken; sie gedenkt des Tages, wo sie Marc Anton auf dem Fluß -strahlend als junge Liebesgöttin entgegenfuhr, -- und dann, nun, wo -sie tapfer frei in den Tod geht, ist sie nicht mehr die feige Sklavin, -die in scheu geduckter Liebe zu ihrem Herrn, dem Gatten einer andern, -emporsieht -- - - Ich komm’, _Gemahl_: - Jetzt gibt mein Mut mir Recht zu diesem Namen! - Ich bin ganz Feuer und Luft; was sonst in mir, - Geb’ ich dem niedern Leben. - -„Was sonst in mir“, im Original aber: ~my other elements~: das -Element des Wassers, dem die tränenreiche Nixe vom Nil angehört hatte, -das Element des Erdenkots, dem sie bis dahin nie hatte entrinnen -können, die sollen nun mit ihrem Leichnam, der zurückbleibt, zu den -Stoffen gehn, deren Teil sie von je gewesen waren; Cleopatra steigt in -ihrem edlen leichten Teil, als Feuer und Luft, in ihre Ewigkeit. - -Noch einmal haben wir hier der Sonettendichtung zu gedenken, wo der -Dichter klagt, daß wir Menschenkinder nicht ganz und gar Geist sind, -daß wir in die „dumpfe Substanz des Fleisches“ gestopft sind. Da wird -auch von dem bittern Naß des Wassers und von der Erde gesprochen, von -diesem Elementaren, das uns an die Natur klebt; unser Leib und unsre -Tränen, das sind Erde und Wasser in uns. Die beiden andern Elemente -aber, die Luft ist Geist in uns, und das Feuer ist ~desire~, ist der -Wille des Excelsior und himmlische Sehnsucht. - -So darf Shakespeares Cleopatra sich zu ihrer Apotheose rüsten. Von -einer Schlange, die ein Bäuerlein bringt, läßt sie sich töten. - - Stille, still! - Siehst du mein Kindlein nicht an meiner Brust - In Schlaf die Amme saugen? - -Sanft und süß, unmerklich sacht holt die Schlange der Schlange -das Leben aus der Brust und träufelt den Tod hinein; im reinsten -aller Geschlechtsgefühle des Weibes, in unwirklich-phantastischer -Mütterlichkeit verscheidet die liebliche Buhlerin. - -Aber noch im Sterben bäumt sich die alte Isis in ihr auf, die alte Eva: -sie freut sich noch, durch ihren Tod den klugen dummen Cäsar, der sie -hatte fangen wollen, um seine Beute zu prellen! - -Treue findet auch sie bis in den Tod: ihre Frauen, die ihr Leben -geteilt haben und ihr ganz ähnlich geworden sind, sterben mit ihr: -die eine setzt sich die Schlange an wie die Herrin; die andre war ihr -einen Augenblick im Tod vorangegangen. Enobarbus’ scherzhaftes Wort vom -schnellen Tod dieser Kammerfrauen ist Ernst geworden: ohne daß man -eine Ursache erkannte, fiel sie tot hin, als Cleopatra, die Schlange -schon am Busen, sie zum Abschied küßte, auch sie ein Weib, für das Tod -und Liebesakt in seltsamem Rapport stehen. - -So endet dieses Drama, eine Liebestragödie wie Romeo und Julia, -eine Römertragödie wie Julius Cäsar, ein Pamphlet auch gegen die -Geschlechtsliebe wie Troilus und Cressida. Dies alles ist es und ist -es nicht; daß es aber -- und ähnliches war für das sehr ernste Spiel -von den Helden des Trojanischen Kriegs zu sagen -- nicht eine Komödie, -wozu sein scharfes Auge den Dichter bei diesem Stoff so leicht hätte -verführen können, sondern trotz allem eine innig liebevolle Tragödie -wurde, das ist das beste. Es ist die besondere Tragödie dieses -besonderen reifen, überreifen, zeitlebens unreifen, zwischen Jugend und -Alter stehenden Menschenpaares Antonius und Cleopatra in dem großen -geschichtlichen Moment, wo die Antike reif, überreif, unreif zwischen -Jugend und Alter, vor dem Ende steht. - -Liebe und Politik gehören in diesem Drama so zusammen, wie in der -wahren Geschichte der Völker privates und öffentliches Leben nicht zu -trennen sind. Die prachtvollen politischen Szenen des Stückes stehen -darum mit seinem Sinn in so naher Berührung wie die Liebesszenen: das -Staatsgespräch, wie Antonius und Octavius sich zuerst wieder begegnen, -das in seiner kühlen Überlegtheit seinesgleichen nur in den politischen -Szenen des Egmont hat; die Bankettszene auf dem Schiff des Pompejus, wo -mitten in römisch-traditionelle, aber nicht mehr durchweg festgehaltene -Würde süditalienische Seeräubertücke und griechisch-orientalischer -Tanztaumel kommt, wo Antonius und Octavius einander scharf -gegenüberstehen, der eine mit seinem lässig-nachgebenden Trinkspruch - - Schickt euch in die Zeit! - -der andre mit dem kühl gebietenden - - Sei Herr der Zeit! - -Da haben wir ein Drama, das fast unergründlich in die Tiefe der Seelen, -fast unermeßlich und farbenschimmernd in die Breite des geschichtlichen -Raums, in die Weite der Zeiten geht; ein Drama nur für reife Menschen --- das gilt für den ganzen Shakespeare, aber für dies Stück besonders ---, das man lieber gewinnt und mehr bestaunt, je öfter man es liest, -das aber noch niemand in seiner umwerfenden und aufrichtenden, -schüttelnden und streckenden Größe ganz kennt, weil es die Gestalt, -nach der es verlangt, die Gestalt auf der Bühne noch nicht gefunden hat. - -Diese Tragödie braucht für wichtige Szenen nach Shakespeares Anordnung, -ich meine, auch zur Einleitung und mancher Überleitung, Musik feiner -und starker Art, wie sie der Egmont gefunden hat, und braucht eine -Stimmung und ein Tempo, eine Zugleichheit von schneller Folge, saftiger -Breite und streng seelenvoller Tiefe, wie wenn ein Rubens und Rembrandt -als einziger Meister ans Werk ginge. - - - - -Timon - - -Der Punkt ist erreicht, wo es kaum mehr möglich ist, von Shakespeares -Schaffen zu reden, ohne auf sein Leben zurückzugreifen. Nicht zwar -auf das Leben, von dem uns Gewährsmänner oder Dokumente berichten; -kurz gesagt, auf den Menschen vielmehr, wie ich genötigt bin, ihn mir -vorzustellen. Denen, die meiner Auffassung widerstreben, räume ich gern -das Recht ein, mir einzuwenden, ich stütze eine Hypothese mit einer -Hypothese. Ich, indem ich zugebe, daß hier die Phantasie am Werke ist, -ohne die ich nicht auskomme, drücke es lieber so aus, daß ich sage: -den Menschen Shakespeare und das Werk seiner letzten Zeit sehe ich -in einem Zusammenhang, in dem allein ich dieses Werk verstehen kann -und gegen den mir weder psychologische Erwägungen noch tatsächliche -Überlieferungen sprechen, von welch letztern im Gegenteil einige meine -Deutung unterstützen. - -Ich brauche einen Rückblick. Das scheint das Besondere der ganz -großen Dramen Shakespeares zu sein: Menschen und Handlung werden so -mit einander zur Entwicklung gebracht, daß die Menschen von innen her -sichtbar werden, daß sie einander gegenseitig erhellen, wobei zu ihrer -äußern Gegensätzlichkeit und Hilfeleistung noch innerer Kontrast und -Verwandtschaft treten, und daß sich uns so das innerste Leben, die -tiefste Wahrheit, das verborgenste Geheimnis dieser Naturen offenbart. - -Ob diese Dramen mit ihren äußeren Geschehnissen im Altertum, in -sagenhafter Zeit, in geschichtlich christlichen Jahrhunderten spielen, -wird für diesen ihren seelischen Gehalt von minderer Bedeutung; die -Gestalten scheinen den Bann von Zeiten und Räumen, die strengen -Grenzen des Vorgangs, in den sie eingesperrt sind, zu sprengen und -untereinander einen Zyklus, einen Reigen und Verein ohnegleichen zu -bilden; nicht nur Shylock und Porzia, Prinz Heinz und Percy, auch -Richard III. und Jago, der Bastard Faulconbridge und der Bastard -Edmund, Julia und Desdemona, Brutus und Hektor, Hamlet und Falstaff -stehen in geheimem Gespräch, in Dialektik zu einander. Es geht um -Menschen und ihre Schicksale; es geht um den Menschen in gröbsten -Gegensätzen und feinsten Tönungen; es geht um Kraft, die als Hoheit -und als Gemeinheit erscheint; um große Leidenschaft, Wildheit, -Tapferkeit, Kühnheit; um Bekenntnis zu sich und um Hader mit sich; um -geniales oder dämonisches Denken und Wollen; um holde Innigkeit, um -heroische Hingabe an Freiheit oder Gerechtigkeit oder Liebe; und um -wie viele Erscheinungsformen für diese Allgemeinheiten! um wie viel -Zwischenstufen und Entgegensetzungen! - -Es sind keine Charaktermasken, keine Typen; besondere Vertreter -eines Typus, eines Schicksals sind sie; es ist Unnennbarkeit, ist -Abgrund, ist Unendlichkeit in ihnen wie im Leben; Shakespeares -Kraft des Gestaltens ist seiner Kraft des Schauens nichts schuldig -geblieben; dem Bild gegenüber, das aus ihren Reden und Handlungen in -uns entsteht, haben diese Reden selbst, die der Dichter geformt, und -diese Handlungen, die der Dramatiker ins Werk gesetzt hat, fast nur -die Bedeutung technischer Behelfe, die uns zum Ungesprochenen und -Unsichtbaren leiten. - -Wie also steht es mit dem, was wir den Charakter dieser Gestalten -nennen? Ist es so, daß sie in ihrem Wesen unverändert die bleiben, die -sie sind, oder wachsen sie, verändern sie sich mit ihrem Schicksal? -Beides; sie stehen unentrinnbar, wie im Ewigen, in ihrem Wesen; dieses -ihr Sein aber offenbart sich uns in Bewegung; im Werden, im Wachstum, -in der Entfaltung. Was wir an ihnen Charakter, Natur, Wesen nennen, -kommt aus den tiefsten Gründen ihrer innern Notwendigkeit, ihrer -Möglichkeit, ihrer Anlage herauf, so aber, wie es gerufen wird von -ihren Begegnungen mit dem Schicksal. Was da also in die Erscheinung -tritt, ist nicht das Wesen im Abgrund, nicht die unsägliche, nur im -Unendlichen, im Grenzenlosen völlig für die Erscheinung ausgeschöpfte -Ewigkeitstotalität, wie sie der Dichter in der ungeformten Konzeption, -in Stille oder Aufruhr, im Moment oder im zuckenden Ringen geschaut -hat; es sind die Teile, die Strahlungen des Wesens, die von außen, von -Erlebnissen gerufen, der Umgebung und dem Träger dieses Wesens selbst -abgerissen bekannt werden. - -So ein Mensch ist immer er selbst, und ist eben um dieses Selbst -willen, eben darum, weil so ein Selbst für die Erfahrung der andern -wie für das eigene Bewußtsein seines Trägers unergründlich bleibt, -nicht immer derselbe. Lear, als er herrisch und launisch zum ersten Mal -vor uns trat, war er selbst, so wie er sich auf Grund der Bedingungen -seines bisherigen Lebens den andern und sich geben konnte; und am Ende -ist er dieser nämliche Mensch, wie er sich in furchtbaren Erlebnissen, -die wir mitgelitten haben, tiefer heraufgeholt, reiner offenbart hat: -nicht bloß für uns Zuschauer, auch für seine Nächsten und vor allem -für sich selber hat er sich durch seine ungemeinen Schicksale noch in -seinen hohen Jahren entwickelt; Dinge sind durch diese gewaltsamen -Erschütterungen und Eingriffe herausgekommen, von denen niemand geahnt -hatte, daß sie in ihm sind. Es ist also wahr und Shakespeare bestätigt -es, daß man einen Charakter nicht lernen und erwerben, daß man seine -Natur nicht verändern kann; es ist aber ebenso wahr und ebenso von -Shakespeare gezeigt, daß der Quell, der als unser Leben zu Tage tritt, -im Unterirdischen unerschöpflich ist und daß dieses Leben seine Grenze -nur findet in Zahl und Art der Schicksale, die uns begegnen, und in der -Zahl unserer Jahre. - -Was also aus Lear, aus Herrn Angelo und so manchem andern, was -pathologisch aus Ophelia im Schluß hervorbricht, das war alles von -Anfang an da, aber verborgen, latent, potentiell, als Möglichkeit, -als Bereitschaft, als Spannung, und war der Erfahrung der andern wie -dem eignen Selbstbewußtsein unzugänglich, bis es allmählich oder -überraschend gerufen wurde. - -So ist der Mensch, wie ihn Shakespeare in diesen Meisterwerken -darstellt, nie eine starre Charaktermaske, aber immer fest von den -Schranken seiner besonderen Bedingungen umgrenzt; seine Beharrung wie -seine Wandlungen sind glaubhaft; immer haben wir in diesen Stücken das -Gefühl der Sicherheit von dem Eindruck her, daß Charakter und Schicksal -einander gegenseitig bedingen, daß der Mensch nicht um der dramatischen -Zwecke des Dichters willen plötzlich aus seinem Wesen gerückt wird. - -Diese Enthüllung und Offenbarung des Innern für uns Zuschauer, -diese Entwicklung und Herausgestaltung für die Personen selbst und -ihre Umgebung ist uns an Shakespeares großen Dramen dieser Art der -wesentliche Zug. Daß diese Dichtungen Dramen, Fortgang, Handlung, -Gegenspiel, gegenseitige Bedingnis sind, liegt tief schon in dem -Widerstreit begründet, in dem Schicksal und Charakter einander vorwärts -bringen und die Wage halten: die Handlung ergibt sich aus den Naturen -und aus ihrem Gegensatz nicht nur zu einander, sondern auch zu den -Aufgaben, vor die jede einzelne von jedem Stadium ihres Geschicks sich -gestellt sieht; und die Naturen werden von den Vorgängen zu ihren -Äußerungen und Wandlungen gereizt. Dieses Wachstum, diese Variabilität -der Naturen im Zusammenhang mit der äußern Handlung ist es, was -Shakespeares Drama nebst dem, daß es uns ein wundervolles Abenteuer -zeigt, daß es ein entzückendes oder ergreifendes Spiel ist, zu noch -mehr macht: zu einer Sichtbarmachung des innersten, des wahrsten Lebens -bis in den Schlund hinein, wo im Ungrund das Nichtmehrsichtbare wogt. -Wie Stifters Jüngling nach der Aufführung des König Lear empfindet: - - Das hatte ich nicht geahnt, von einem Schauspiel war schon längst - keine Rede mehr, das war die wirklichste Wirklichkeit vor mir, - -so ist das, was diese Erschütterung erzeugte, ein wesentliches Element -in all diesen großen Menschenenthüllungen Shakespeares. In der äußern -Wirklichkeit mancher dieser Dramen ist manches uns fremd geworden, -fast so fremd manchmal wie in den Tragödien und Komödien der Antike; -aber die Offenbarung des inneren Menschentums bleibt ein immer frisch -ergreifendes, durchschüttelndes, reinigendes und vorwärts, aufwärts -drängendes Wunder der Lebendigkeit und trotzt der Zeit. ~Tua res -agitur~, deine Sache wird da verhandelt, das ist die Grund- und -Zielempfindung, von der aus diese Dichtungen zu unserm Denken und -Wollen gehn und imstande sind, unser Leben zu wandeln. - -Dieses aber nun, was Shakespeares Neues, Gewaltiges, Eigenes, Größtes -war, womit er nicht nur die Genialischen unter seinen Zeitgenossen, -sondern alles dramatische Genie, das vor ihm und nach ihm war, -übertraf, diese Verbindung von Charakter und Schicksal, von Gestalt -und Handlung, diese Offenbarung des geheimsten Lebens, diese Beziehung -zur Wirklichkeit des Menschenlebens, der Natur, der Weltordnung, all -das, was ihn zu mehr macht als einem bloßen Dichter, was ihn zur -Philosophie, zur Religion, zur Kritik und Umgestaltung, zu Erneuerung -und Wiedergeburt in Beziehung setzt, -- dieses sein Größtes ist -offenbar auch sein Schwerstes gewesen. - -Die Produktivität geht immer irgendwie über die Kraft; sie ist immer -mit Angst, mit Abwehr, mit der Unlust, die auch mit der Wollust gepaart -ist, mit Müssen und Sträuben verbunden; je größer der Genius, um so -mehr fürchtet sein Leibliches, der Komplex seiner normalen Funktionen, -von dieser dämonischen Übergewalt zerbrochen zu werden. Kein Genie, -das über die Jugendjahre hinaus in die Meisterschaft gerät, das sich -nicht, damit der Normale in ihm das Zusammenhausen mit dem Abnormen -erträgt, irgend eine besondere Lebensdiät zulegen müßte; was gibt es -da für mannigfache Stufen! Man sollte einmal den Versuch machen, die -Geschichte der Kunst nicht in zeitliche Perioden, sondern nach dieser -Modalität, nach diesem Lebensstil einzuteilen. Welch ein Unterschied -zum Beispiel zwischen einem Rückert, der Anlage nach einem der größten -Geister, der seinen Geist nur so ertrug, daß er das Genie zum Talent -hinabebnete und das Leben der Produktion in den stillen Bahnen des -privaten Lebens weise verlaufen ließ, und einem Beethoven, der das -Privatleben aller Würde entsinken ließ, nur um dem Schaffen keine -Fesseln anzulegen. Nur von hier aus wird das Rätsel der Deutschen, -Goethe, der Mensch nicht nur und der Geheimerat, sondern der Dichter -einmal seine Lösung finden: seine Schöpfungen und das Verhältnis -seiner Mannes- und Altersproduktion zu den Jugendverheißungen versteht -man, wenn man das Kompromiß versteht, das der Genius und der Normale -in Krisen und in dem unaufhörlichen Ausgleich, der Leben heißt, mit -einander schließen müssen, um es mit einander auszuhalten. Zweie sind -in dem produktiven Menschen stets beisammen, die sich einander bequemen -müssen; es ist ein immerwährendes Ringen, Ausweichen, Pausieren; und -nicht geringeren Grades ist diese Dualität, als wir sie in dem Bilde -des Langschläfers und Morgenfaulen haben, der nie aufstehen würde, wenn -der andre, der mit ihm unter einer Decke und einer Haut liegt, ihm -nicht jeden Morgen die Bettdecke wegzöge. - -Jedes Genie nun, wir können es uns nicht dringend genug vorstellen, -ist ein Kind seiner Zeit; alles Schöpferische geht in dieser Welt aus -dem Geschaffenen hervor. Immer wieder muß sich der Produktive dem -Üblichen, dem er entstammt, das auch von ihm erwartet und verlangt -wird, entringen; er will immer wieder zurücksinken, wie Goethe in den -Großkophta, den Bürgergeneral, die Singspiele und so vieles der Art -sank; er steht in einem Kampf, der oft entsetzlich, dämonisch, der -manchmal ermattend und manchmal beflügelnd ist. - -Jeder Besondere kennt den Wunsch und die Notwendigkeit, zwischenhinein -gewöhnlich zu sein, gleichviel, wie viele seiner Gaben er in -die Gewöhnlichkeit mitnimmt; und so verstehe ich es als völlige -Notwendigkeit, daß auch Shakespeare hie und da und in besonderen Krisen -der Umgebung und sich selbst hat nachgeben müssen. - -Wir haben sein Neues, Besonderes, Großes gesehen; auch läßt sich -zeigen, wie es aus der Art und Mode seiner Zeit und gegen sie entstand. -Die Art der Zeit war Leidenschaftlichkeit, Üppigkeit, Bilder- und -Witzesfülle der Rede und Charakteristik großen Zuges im Sinne einer -rationalen, allgemeine Typen setzenden Psychologie; prachtvolle Muster -dieser Dichtung seiner Zeit sind die beiden glänzenden Gedichte seiner -Jugend, Venus und Adonis und Der Raub der Lucrezia, um derentwillen -er sofort ein gefeierter Dichter wurde. Glänzendes Talent, in der Art -der größten Dramatiker seiner Zeit zu dichten, zeigt sich im Titus -Andronikus; und wie wundersam und abgestuft die Sprach- und Metapher- -und Witzkunst, die Sprache der Empfindung und des Geistes in der -Verlornen Liebesmüh! Wie er dann aber mit seinem Eigenen, Wesentlichen -einsetzt, in der Gestalt des Proteus in den Zwei Edelleuten von Verona, -da ist er ein Anfänger, der den Übergang von der starren Charaktermaske -zur Beweglichkeit des lebendigen Menschen noch nicht zu finden weiß und -aus dem Ernst ins Spiel zurückbiegt, um nur einen Abschluß anzuflicken. - -Zu solchen Vor- und Entwicklungsstufen ist Shakespeare aber während -seiner ganzen Produktion hie und da zurückgekehrt, wenn ihn Bedürfnis -oder Lust überkam, sich’s zwischenhinein leichter zu machen. Da hat -er derbe, rasch gezimmerte Possen geliefert wie Der Widerspenstigen -Zähmung und dergleichen; oder leichte Spiele; in einer ernsteren -Komposition hat er wohl die Charaktere entweder nicht zur Entwicklung -gebracht oder hat sie umgekehrt plötzlich, gegen alle Glaubhaftigkeit, -umfallen lassen; oder er hat nicht seine letzte Kraft aufgeboten und -hat Großes in der skizzenhaften Anlage stehen lassen. Ganz besonders -lag ihm schon immer nahe, sein Größtes und Schwerstes, das, womit -er maßlos fremd in seiner Zeit stand, die Entwicklung menschlicher -Seelen, wie er sie in immer tieferen Abgrund hinein verfolgte, fallen -zu lassen und dafür zweierlei zu bringen: einmal in dramatisierten -Novellen, Romanen, Märchen das buntbewegte romantische Abenteuer, nach -dem die Zeit in allen Völkern und in allen Schichten der Bevölkerung -viel hungriger begierig war als nach der Offenbarung des menschlichen -Innern; und dann die leidenschaftliche, grimmige, weise, satirische -oder polemische Rede. Sonst, wenn er in seiner ganzen Gewalt stand -und das Äußerste von seiner Produktion verlangte, ließ er diese Rede -sublim aus dem tief Menschlichen heraufquellen; war er aber genötigt -oder gewillt, es sich leichter zu machen, so gelang es einem solchen -Virtuosen auch, sie unmittelbar, unterhaltend und geißelnd, zum -Mitgefühl wie zum Nachdenken stimmend, aus den äußern Vorgängen allein -abzuleiten. - -In seiner letzten Arbeitszeit nun tritt sein Eigenstes, die Verbindung -von Handlung und Seelenenthüllung, ganz besonders zurück; keineswegs -verschwindet es ganz und gar; aber irgendwie -- so deute ich dieses -sehr Schwere und will jetzt nicht mehr davon sagen; wie ich es -möglicherweise meine, werde ich erst in den letzten dieser Vorträge -anzudeuten wagen -- irgendwie setzt die höchste und gefährlichste, die -verzehrendste Kraft seiner Produktivität aus. Denken wir einstweilen -nur an das, was hier von dem Dualismus und der Diät und den Krisen der -produktiven Menschen gesagt worden ist; denken wir daran, wie Goethe -eine gewisse zauberhafte, kraftvolle, über Schönheit, Weisheit und -Literatur hinausbrechende zeugungsmächtige Energie der Gestaltung, -wie sie seine Jugendproduktion hatte, früh verloren und nie wieder -erhalten, wie er dafür freilich anderes bekommen und erarbeitet hat, -so werden wir uns nicht wundern, daß Shakespeare zum Ende hin, wiewohl -er an Jahren nicht alt wurde, seine Stimmung und Weisheit, das Höchste -seines Ergebnisses im Drama bringen und leuchten lassen wollte, ohne -es erst so tief in Menschenseelen hineinzustecken, daß es den langen -schweren Weg der Charaktertragödie gehn mußte, um in Fülle des Lebens -wieder herauszubrechen. - -Von den Stücken, die wir noch vor uns haben, unternimmt Shakespeare nur -noch in einem die Fahrt in den tiefen Schacht der Seelen hinein: in -Coriolan; in den andern geht er in dem besondern Stil seiner letzten -Periode, nicht zwar auf einem, sondern auf verschiedenen Pfaden, -immer den Weg der Verbindung von romantischem Spiel und Weisheit, den -er vollendet erstmals im Sommernachtstraum gegangen war. In dieser -letzten Periode aber ist er auf der Suche nach einem neuen Stil; und -über Zymbelin und Wintermärchen hinweg kommt er zu einer wunderschönen -einsamen Höhe im Sturm. - -Ehe er indessen so weit war, in dieser Gattung, die die drei Elemente -seines Dramas: Handlung, Seelenenthüllung und Sprache, in neuem -Mischungsverhältnis brachte, ganz oben zu sein, erlaubte er sich, -tastend oder schnell hinwerfend, zwei leichter gezimmerte Stücke, die -sich sehr merkwürdig von all seinen andern unterscheiden: Perikles, -Fürst von Tyrus und Timon von Athen. Auf ein drittes Gebilde ebenso -und, meine ich, im selben Zusammenhang problematischer Art, König -Heinrich VIII., sei hier nur hingewiesen. - -Perikles soll uns dazu dienen, das Rätsel Timon, soweit es möglich ist, -zu erhellen; die Bedenklichkeit, ich muß beinahe selbst sagen, die -Komik meines Versuchs liegt nur darin, daß die Entstehungsgeschichte -des Perikles auch nicht gerade feststeht. Ziemlich einhellig zwar -sind die Gelehrten jetzt darin, daß sie Shakespeare die Autorschaft -nicht abstreiten; und auch darüber ist man im großen Ganzen einig, daß -das Stück nicht seiner Frühzeit, sondern dieser recht späten Periode -zugerechnet wird. Ich wüßte auch gar nicht, mit welchem Recht man es -der Jugenddichtung zurechnen könnte; es sei denn, daß der Grundsatz -gelte, was einem nicht behagt, sei entweder nicht von Shakespeare oder -stamme aus seiner Jugend. - -Perikles, Fürst von Tyrus ist 1609 in einer Quartausgabe erschienen: -„Das jüngste, viel bewunderte Schauspiel von William Shakespeare“. Ein -Zeichen, daß das Stück beim Publikum großen Erfolg hatte, ist denn -auch, daß rasch hintereinander vier solche Quartausgaben erschienen. -Die große Nachlaßausgabe, die erste Folio aber brachte das Stück nicht; -die zweite von 1632 auch nicht, aber die war auch nur ein Nachdruck -der ersten; die dritte von 1664 nahm das Stück auf, zugleich mit einer -Reihe anderer Stücke, die noch strittig sind, zu einem gewichtigen -Teil aber auch heute mit gutem Grund Shakespeare zugeschrieben -werden. An äußeren Zeugnissen kommen also nur in Betracht erstens -die Quartausgaben, die für Shakespeares Verfasserschaft sprechen; -das ist aber kein ganz durchschlagender Beweis; die Titel dieser -Quartos vermeldeten auch manchmal Irrtümer oder Lügen; und zweitens -die Weglassung des Stückes in der von Shakespeares Freunden besorgten -ersten Folio. Daraus vermag ich aber auch nichts Sicheres gegen -Shakespeares Autorschaft zu holen, so ernst es auch zu nehmen ist; -diese negative Tatsache ist keine Antwort, sondern eine Frage. Haben -die Herausgeber ihre oft bewährte Liederlichkeit und Willkür walten -lassen? Wußten sie aus persönlichen Äußerungen, daß Shakespeare das -Stück verwarf, nicht, weil er es nicht verfaßt hatte, sondern weil er -sich seiner schämte? - -Durchschlagende Zeugnisse sind also keine da; weder für noch gegen -Shakespeares Autorschaft. Ich entschließe mich -- mit den meisten -Forschern -- Shakespeare für den Verfasser zu erklären, weil alles -Sprachliche, wozu ich auch die Gedanken, die Satire, die Polemik, -die Weisheit und die lyrische Betrachtung der Ereignisse rechne, -völlig reifer Shakespeare ist; wir kennen niemanden sonst, der in -Situationen der Höhe und der Gemeinheit seine Menschen so sprechen -ließ. Kunsthistoriker helfen sich in solchen Fällen, wo ein Werk alle -Kennzeichen des Pinsels eines Meisters trägt, ihnen aber seiner doch -nicht ganz würdig scheint, damit, daß sie es seiner Schule zuschreiben. -So ähnlich hat man auch für dieses Stück den Versuch gemacht, von einer -bloßen Bearbeitung oder Mitarbeit Shakespeares zu reden. Dazu nun sehe -ich gar keine Möglichkeit. Das Stück ist ganz einheitlich und aus -einem Guß; es gehört nur eben einer völlig andern Gattung zu, als wir -sie sonst von Shakespeare kennen. Das gilt auch für Goethe und seinen -Großkophta zum Beispiel; Schlüsse, das Stück sei nicht von ihm, oder es -stamme aus seiner Jugend, oder ein andrer habe es verfaßt und Goethe -habe es nur überarbeitet, wären, wir wissen es zufällig, allzumal -falsch. Daß Shakespeare hier, wie es öfter anzunehmen ist, ein eigenes -Jugendwerk oder einen aus der Frühzeit stammenden Entwurf bearbeitet -hat, ist wohl möglich; eine Bemerkung in einem Prolog Drydens, dem noch -persönliche Erinnerungen, die auf Shakespeares Freunde zurückgingen, -zugänglich waren, spricht dafür, ohne irgend Sicherheit zu geben. - -In diesem Perikles nämlich gehen die Handlung, das romantische -Abenteuer, das Spinnen und Abreißen der Fäden in dem einmal erwählten -Stil überaus sicher vor sich; nur ist freilich dieser Stil kindlich, -holzschnittmäßig, fast nach Art der alten Moralitäten; die Leutchen -bringen alle ihren fertigen Charakter mit in das Stück; von einer -Entwicklung oder tiefern Erleuchtung ist gar keine Rede. - -Das Drama geht nicht auf Menschenforschung aus, sondern auf ein -phantastisches Abenteuer, das gefühlvoll, musikalisch, lyrisch umwunden -wird und vor allem Gelegenheit zu Weisheit, zu der Weisheit aber von -Shakespeares unverkennbar besonderer Art gibt. - -In der Quellenüberlieferung heißt der Held dieser romantischen Sage -sonst nicht Perikles, sondern von einem beliebten spätgriechischen -Roman her Apollonius von Tyrus. In England hatte im 14. Jahrhundert -John Gower die Geschichte behandelt; und so ist in unserm Drama -Gower der Prolog, der von Akt zu Akt dazwischen liegende Teile des -abenteuerlichen Seereiseromans erzählt. In den dramatisierten Vorgängen -selbst bleibt alles marionettenhaftes Spiel; nun ist das Puppenhafte -und Spielerische ein Element, von dem das Drama ausgeht und zu dem es -immer wieder zurückkehrt; das gilt nicht bloß für die Geschichte des -Dramas, sondern für die Entwicklung jedes einzelnen Dramatikers; jeder -Künstler besinnt sich manchmal darauf, daß sein Amt nicht unmittelbare -Arbeit an lebendigen Menschen, sondern Schnörkel, Arabeske und Spiel -ist; und dieses Drama sieht so aus, wie wenn Dostojewskij, als er -sich erholen wollte und der Psychologie müde war oder irgendwie das -Tiefste nicht mehr oder zwischenhinein nicht konnte, so etwas wie den -Grafen von Monte Christo geschrieben hätte, ihn aber mit reichlichen -Blitzen seines Geistes und seiner Gesellschaftskritik durchzuckt hätte. -Gerade das hat Dostojewskij ja nicht getan; aber wie er sich oft in -andrer Art erholte, wie er seine genial verzerrende, das Übliche zur -innern Wahrheit verzerrende Psychologie, mit der er als Fremder gegen -seine Zeit stand, ließ und inzwischen Geschichten der kleinen Groteske -hinwarf, wissen wir. - -Im Anschluß an den Roman läßt das Stück Perikles, den Fürsten von -Tyrus, ein paar Jahrzehnte lang zwischen Antiochia, Tarsus, Pentapolis -und Ephesus hin und her reisen; er verläßt die Prinzessin von -Antiochien, weil sie in Blutschande mit ihrem Vater lebt; durch -ritterlichen Kampf gewinnt er Thaisa, die Tochter des Königs von -Pentapolis; auf der Meerfahrt in fürchterlichem Sturm kommt sie nieder, -scheint tot, wird in einer Kiste ins Meer geworfen; sie hat ein -Töchterchen geboren, das er später verliert; die Ärmste soll ermordet -werden, wird geschont, aber von Räubern in ein Bordell verkauft; darin -bleibt sie rein und gut. Später findet Perikles die Tochter wieder, -und mit Hilfe der keuschen Diana wird ihm sogar auch die Frau wieder -geschenkt, die von einem weisen, wundertätigen Arzt als Ertrunkene -wieder ins Leben gerufen und Hohepriesterin in Ephesus geworden war. -Das alles wird farbig und im äußern Vorgang lebendig dargestellt und -könnte auch heute noch interessieren und leicht, spielerisch rühren. - -Tiefere Bedeutung erlangt das Stück immer wieder durch zündende -Worte. Zur Kritik der Fürstengewalt, zur Weisheit der Staatslenkung, -zur Kennzeichnung der Niedertracht wie der schlicht volksmäßigen -Redlichkeit hat Shakespeare da ganz Treffliches gesagt. Und -unübertroffen gut ist die Sphäre des Bordells, des Liebesgeschäfts -dargestellt. - -Ich führe ein Beispiel an, wie der Dichter in seiner Kritik den -absoluten Monarchen, den Tyrannen, und den rechten König, den Vater der -Seinen, einander gegenüberstellt. Die Tyrannen trifft es, wenn gesagt -wird: - - Die Könige - Sind Erdengötter und im Laster schaffen - Sie ein Gesetz aus ihrem Willen. Zeus - Kann keiner strafen, wenn Zeus selber sündigt. - -Dagegen erhebt sich das Bild des rechten Königs in Perikles. Wie um -seiner persönlichen Angelegenheiten willen Krieg mit Antiochien droht, -ist er besorgt, seine armen Untertanen, die mit all den Wirren nichts -zu tun hatten, könnten ganz unschuldig Gräßliches erleiden müssen: - - Ich sorg’ um sie, - Denn mich bedaur’ ich nicht; ich bin nicht mehr - Als wie die Wipfel, die der Bäume Wurzeln, - Durch die sie wachsen, schützen. - -So wird die Handlung, außerdem, daß sie fesselndes und rührendes Spiel -ist, immer wieder, bei jeder Gelegenheit, zu Sentenzen benutzt; nur -freilich geht diese Weisheit nicht aus der innersten Not weder der -Person noch der Situation hervor, und so bleibt unsere Stimmung wohlig, -angenehm unterhalten, aber nichts berührt uns in der Tiefe. - -Ich sage nun, daß Timon von Athen, wiewohl dieses Drama in dem, was ich -die Sprache oder die Rede nenne, zu weit bedeutenderer Höhe ansteigt, -ein Stück ähnlicher Art ist: auch hier treten die Charaktere ganz -fertig und schablonenhaft auf, sie sind keine Individuen, sondern in -bestimmte Kostüme gekleidete Repräsentanten von Typen nach Art der -klassischen und romanischen Komödie, der Komödie von Shakespeares -Freund und gelehrtem Gegner Ben Jonson. Die Handlung ist diesmal nur -ein übernommener, weitmaschig motivierter, Skizze gelassener Vorwand, -ein Stramin, um Reden, Betrachtungen, leidenschaftliche Ausbrüche -gegen Erbärmlichkeit und Verrat der Menschen hineinzusticken. Denken -wir dagegen etwa an Hamlet! Gewiß wird auch da die Handlung immerzu zu -Ausfällen und Betrachtungen benutzt; da erwachsen sie aber, wie mit -innerem Zwang, aus dem Zusammentreffen von gereizter Menschenseele und -Situation; sie gehören zu einem unsäglich reichen, quellenden Leben, -zu einem Stück tragischer Wirklichkeit. Von den Kommentatoren wird -nun allerdings meist behauptet, für einige Szenen des Timon gelte das -ebenfalls, und sie seien nicht geringer an Rang als die Szenen höchster -tragischer Gewalt, die wir von Shakespeare haben; Timons Ausbrüche des -Menschenhasses werden den Wahnsinns- und Verzweiflungsszenen Lears an -die Seite gestellt. Und dagegen findet man dann eine Reihe anderer -Szenen so elend, so stümperhaft hingehudelt, so des Dichters unwürdig, -daß man sagt: sie können nicht von Shakespeare sein. - -Man hat noch viel zu geringe Ehrfurcht und Ergriffenheit vor dem -großen Tragiker Shakespeare, wenn man die prachtvollen Sprachkatarakte -Timons nicht tief unterscheidet von dem Einblick ins Innerste der -Menschenseelen, wie ihn uns die großen Tragödien des Dichters gewähren. -Was er im Timon als höchstes zuwege gebracht hat, tragische Redegewalt, -das hat er auch, aus unmöglichen Situationen heraus, im Titus -Andronikus, das haben auch Marlowe und andere Zeitgenossen vermocht. -Auch ich finde den Abstand gewisser Szenengruppen im Timon von einander -außerordentlich groß; aber er ist nicht unüberbrückbar und nicht so -sehr viel größer als im Perikles zwischen der Art, wie die Handlung -geführt wird, und wie die Weisheit und Satire sich äußert. - -Das nämlich dünkt mich der springende Punkt: wo es im Timon um Polemik, -Satire, Erfahrung, Weisheit geht, um die groß pathetische Rede, da -ist die Sprache prachtvoll, stark und wenn nicht gewaltig, so doch -gewalttätig groß. Aber innerste Glut, Hervorbrechen des schlechthin -Notwendigen, so daß man mit hingenommener Seele bei einer Eröffnung -des Lebens ist, ist auch sie nicht, nie in diesem Stück, nicht einmal -in den höchsten Momenten: immer prasselt da eine gewisse kalte, -virtuosenhafte Pracht auf uns hernieder; immer ist dieses Feuerwerk -Sprache und also Rhetorik, tief empfundene Rede Shakespeares, die -aber den Gestalten und Situationen der Handlung nur so aufgebunden -ist, wie der Redner sich der Bildersprache bedient; immer hat man -den Eindruck wie einer Wiederholung von etwas, was einstens ganz -echt und ursprünglich und dramatisch war, weil der Dichter sich in -seinen Gestalten verlor, während er es jetzt, blendend, bezaubernd und -subjektiv, wie er sich äußert, fast nicht der Mühe wert zu finden -scheint, seinen letzten Ernst auf das zu verwenden, was ihm nur noch -Einkleidung ist. - -Eine Notwendigkeit, die verbreitete Annahme zu teilen, daß etliche -Szenen, in denen die äußere Handlung vom Flecke gebracht wird und -die in der Tat auf einem sehr niedrigen Niveau stehen, nicht von -Shakespeare stammen, sehe ich also nicht; was für Teilhaberschaften -kämen dabei heraus, wenn man jedesmal eine Szene, die einem -minderwertig erscheint, dem großen Dichter absprechen wollte! Man hat -die bedeutenden Szenen Timons überschätzt und zu sehr gerühmt; auch -sie stammen zwar von Shakespeare, aber auch sie nicht von dem ganz -echten, sondern von einem schlaffen, schwankenden, müden, vor allem der -Gestaltung und Seelenergründung müden, von einem Geiste, der wieder -einmal zugleich ruhend und suchend geworden war. - -Es findet sich aber freilich in der Schlußszene des Stückes eine -Stelle, wo man wirklich meint, sagen zu müssen: das ist so unsäglich -jammervoll, nein das kann nicht von Shakespeare stammen! Und müßte -man auch nur das kleinste Stückchen des Textes einem andern abtreten, -so wäre ein Mitarbeiter, ein Überarbeiter oder Überarbeiteter da, -und weitergehende Vermutungen hätten sichern Grund. Diese Stelle ist -die Inschrift, die Timon auf seinen Grabstein gemeißelt hat; sie ist -nach Ton wie Inhalt im Original genau so elend wie in der folgenden -Übersetzung: - - Hier ruht ein müder Leib, die müde Seel’ entschwebt: - Forscht nach dem Namen nicht; die Pest euch Schurken, die ihr lebt! - Hier lieg’ ich, Timon, der im Leben Lebendes gehaßt; - Fluch’, Wandrer, wie du willst, nur halt’ hier keine Rast! - -„Forscht nach dem Namen nicht!“ und „Hier lieg ich, Timon,“ -- das -erinnert doch gar zu sehr an die Legende von dem hilfreichen Mann, der -sich von der armen Frau mit den Worten verabschiedete: „Meinen Namen -werdet Ihr nie erfahren; ich bin der Kaiser Josef“, als daß wir eine so -überhomerische Schläfrigkeit Shakespeare zutrauen dürften. Indessen -ist die Textgestaltung, die wir haben, uns nicht von Shakespeare selbst -vorgelegt; je zwei von diesen vier Versen bilden eine in sich fertige -Grabschrift, die beide Male nichts vorher und nichts nachher erfordern; -es besteht also die Wahrscheinlichkeit, daß zwei Fassungen überliefert -waren, die von den Herausgebern der Folio törichterweise beide -gedruckt wurden. Allerdings brauchte man sich mit dieser Abweisung -noch nicht zufrieden zu geben, könnte vielmehr sagen, auch wenn man -die Grabschrift halbiere, bleibe doch jede, die zur Auswahl stehe, -ein gleichermaßen elend versifiziertes Sprüchlein, das in seltsam -kindlichem Widerspruch stehe zu der sprühenden Geist- und Sprachgewalt -Timons. Ist ein so kümmerliches Gemächte Shakespeare als Krönung eines -Stückes, in dem in den Hauptszenen eine so prachtvoll starke Sprache -geredet wird, zuzutrauen? Darauf aber kann ich nicht ohne weiteres -glatt Nein sagen; ein sehr seltsamer Umstand macht mich betroffen. -Wir haben eine andere Grabschrift, von der eine gut beglaubigte und -nicht leicht zu verachtende Tradition behauptet, Shakespeare habe sie -gedichtet oder zum wenigsten bestimmt: Shakespeares eigene nämlich, wie -sie sich auf seinem Grab in der Pfarrkirche zu Stratford befindet. Die -ist nicht nur gerade so kläglich, sondern auch in der nämlichen Art -elend: in weinerlichem Bänkelsängerton gehalten, der, wenn er nicht -Persiflage ist, gewiß mehr an Jahrmärkte erinnert als an die hohe freie -Würde und Ausdrucksgewalt Shakespeares. Und dabei können wir uns daran -erinnern, daß dieser volkstümliche und kindlich einfältige Leierton, -wie er auch von Gower in den Prologen zu Perikles gesprochen wird, -auch sonst manchmal von Shakespeare zur Zusammenfassung an solchen -Stellen gewählt wird, wo das Ernste und Furchtbare aus der Form des -Spielerischen nicht hinausfallen soll, zum Beispiel in Verschen, die in -Maß für Maß der Herzog zu sprechen hat. - -Ich bleibe also dabei: man kann das Rätsel Timon teils lösen, -teils, weil es sich mit anderm Rätselhaften in Shakespeares letzten -Lebensjahren eng berührt, Rätsel lassen, ohne einen zweiten Verfasser -zu bemühen. - -Um die äußern Daten der Textüberlieferung steht es sehr einfach: wie -viele andre Stücke ist Timon für uns erstmals in der ersten Folio von -1623, und zwar als vierte der Tragödien gedruckt worden. Wann das Stück -zuerst auf der Bühne erschien, ob es bei Shakespeares Lebzeiten auch -schon erschien, wissen wir nicht. Ein andres Stück Timon in der Art -gelehrter Schulkomödien, das aus dem Jahr 1600 stammt, ist bekannt; es -hat gar keinen Berührungspunkt mit unserm Drama. - -Von Timon muß Shakespeare eine Erwähnung in Plutarchs -Antoniusbiographie gelesen haben; da findet sich auch der Name des -Zynikers Apemantus. Dann ist der Stoff von William Paynter, den -Shakespeare auch sonst benutzt hat, als Erzählung behandelt worden. -Einige Züge stammen -- gleichviel, wie sie auf Shakespeare kamen -- aus -den Dialogen Lucians. - -Das Stück zerfällt in zwei parallele Teile, deren erster den -reichen und mächtigen, der zweite den durch seine verschwenderische -Freigebigkeit verarmten Timon zeigt. Die Erfahrungen, die Timon -macht, sowie er arm wird, stürzen ihn nun ganz plötzlich, ohne -jede Vorbereitung oder Überleitung, in grimmigsten, schimpfenden -Menschenhaß, er geht in die Einöde, in Wald und Höhle, und hat auch -für die, die ihm treu geblieben sind oder nichts zu Leide getan haben, -keine rechte, keine schöpferische Liebe mehr. - -Man erhält gar sehr den Eindruck, daß das übrige Stück nur rasch -und leicht hingeworfen ist um der maßlos ausschweifenden Haß- und -Schimpfreden Timons gegen das Menschengeschlecht willen. Daneben -geht noch eine locker und schlecht mit der Haupthandlung vernestelte -Kontrasthandlung: die Athener zeigen sich auch gegen ihren Feldherrn -Alkibiades undankbar; der aber flieht sie nicht, sondern führt Krieg -gegen sie und besiegt sie. - -Alle ziehen sie aus dem reichen Timon, der nur so drauf los schenkt und -übrigens auch geistig einer aus der Zunft von der „schenkenden Tugend“ -ist, da er sich durch weisen Rat ums Vaterland verdient macht, ihren -Vorteil: Staatslenker, Hausfreunde, Wucherer, Tellerlecker, Juweliere, -Maler, Dichter; alle umschmeicheln ihn und er merkt keine Falschheit, -lebt vielmehr in Freude und Harmonie, weil er Gutes tun und beglücken -kann: - - Wozu wären uns Freunde nötig, wenn wir sie niemals in der Tat nötig - hätten?... Ja, ich habe mich oft ärmer gewünscht, um euch näher zu - kommen. Wir sind geboren, Gutes zu tun, und was nennen wir wohl - besser und eigentlicher das unsrige als die Reichtümer unsrer - Freunde? - -Diese Freunde beschenken ihn denn auch in der Tat sehr reichlich; er -merkt bloß nicht, daß sie es lediglich tun, weil sie sicher sind, noch -mehr von ihm zurückzuerhalten. - -Er ist ein Mann, der Vertrauen zu vielen, fast zu einer ganzen Stadt -hat; er glaubt an Gemeinschaft und Gegenseitigkeit. So kennt er nichts -Köstlicheres als Geselligkeit. Drum will er auch von dem Zyniker -Apemantus nichts wissen, der mit berufsmäßiger Galle in alle Häuser -geht und alles höhere Leben, alle Lebensfreude schmäht, ohne daß er je -böse Erfahrungen mit den Menschen gemacht hätte. Man ahnt hier einen -fein angelegten Gegensatz zwischen dem Gewohnheitspessimisten, der in -seinem Handwerk, besser gesagt, Mundwerk des Schlechtmachens eigentlich -immer guter Dinge ist, und unserm Timon, den das Leben, ein gehäuftes -Bündel furchtbarer Erfahrungen erst zur echten Verzweiflung und dann -zum Tode bringt. Im zweiten Teil kommt denn auch dieser Gegensatz -ausführlich zur Sprache; aber so recht lebendig, wie der große -Shakespeare gerade den Kontrast äußerlich ähnlicher Naturen sichtbar zu -machen imstande war, tritt er nicht hervor. - -Dann also stellt sich heraus: Timon ist in jedem Betracht ein -Verschwender gewesen. Nun ist er am Bettelstab und verschuldet. Erst -verzweifelt er darüber gar nicht; er erwartet sich jetzt die Freude, -die er sich schon immer gewünscht hatte; der Augenblick ist gekommen, -wo die Freunde sich erproben werden. Zu seinem treu teilnehmenden -Haushofmeister meint er dann: - - Du sollst sehen, wie du - Mein Glück verkennst; reich bin ich, reich in Freunden. - -In ein paar typischen Komödienbeispielen sehen wir dann aber, wie diese -Freunde ihrerseits nur reich an Ausreden sind. Und über Timon kommt, -besinnungraubend, umwerfend und umwälzend, die Wut. Noch einmal ladet -er zu einer großen Gesellschaft ein. Schon glauben die Stammgäste -seines Hauses, er hätte sie bloß prüfen wollen, und sein Reichtum sei -gar nicht verschwunden; aber in den Schüsseln kommt bloß warmes Wasser -auf den Tisch, - - Deckt auf, ihr Hunde, und leckt! - -Nichts mehr als Grimm und Bosheit ist in ihm: - - Dampf und lauwarm Wasser - Ist ganz euer Ebenbild. - -Leidenschaftlich schmähend wirft er die Schüsseln nach ihnen und eilt -verzweifelt hinaus. - -Es folgt nun der vierte Akt, um deswillen allein fast das -Stück geschrieben scheint: eine barocke Ausschweifung wilder, -leidenschaftlicher Sprache der Verachtung fast ohne gleichen. Der -Akt bringt vier große Monologe Timons des Einsamen und vier große -Gespräche: mit Alkibiades und seinen Hetären; mit dem Zyniker -Apemantus; mit den Dieben und mit dem treuen Hausverwalter Flavius. -Aber er bringt mit alledem keine Entwicklung, keine Steigerung; und -selbst das famose Motiv, daß Timon draußen, fern von den Menschen, in -der wilden Natur einen Goldschatz findet und wieder reich sein könnte, -wenn er nur wollte, wird nur äußerlich aufgesetzt und führt nicht zu -einer inneren Krönung, findet Anwendung nicht auf ein Menschenleben -und dient nicht wahrhafter Seelenerschütterung, sondern nur einer -allerdings grandiosen Rhetorik, die im üppig wallenden Mantel der -Leidenschaft auftritt. - -Shakespeare kommt es hier nur auf das eine Thema an, das er virtuos -variiert: die Gemeinheit der Menschen in ihrer Beziehung zum Geld, -wie sie jetzt von Timon erkannt und mit seinem Fluch auf das -Menschengeschlecht und alle Stände bezahlt wird. Durch diese ihre eigne -Gemeinheit sollen die einzelnen Berufsklassen diesen Fluch an einander -zur Erfüllung bringen, soll jeder den andern verletzen, bestehlen, -betrügen, verwunden, umbringen. Die Leibeigenen sollen nur dreist -stehlen, ihre „strengen Herrn“ sind ja selbst „langarmige Räuber“; - - Magd, in des Herren Bett! - Die Frau ist im Bordell! - -Im Wald, mit dem Wild zusammen will er leben, das nicht so wild ist wie -die Menschenbrut. Dabei ist er aber doch nicht in der Rousseauschen -Stimmung, der Mensch sei böse geworden, die Natur sei gut. Für ihn, wie -er jetzt in die Welt blickt, gibt es gar keinen Trost; denn den Urgrund -für die Niedrigkeit der Menschen findet er in der Fehlerhaftigkeit -der Weltordnung. Es ist in der Natur so eingerichtet, daß es Leben -nur gibt durch Raub des Lebens; was da lebt, muß andre lebendige -Wesen vernichten, um leben zu können. Und gar eine Erhöhung, eine -Bereicherung kann es in der Welt nur geben durch Beraubung eines -andern. Aber er sieht tief und schnell; ja nicht soll man nun nach dem -Äußern urteilen und den Entbehrenden und Beraubten für den bessern -Menschen halten. Der Bettler darf sich nicht besser dünken als der -reiche Senator: mögen sie nur die Plätze tauschen, gleich benimmt sich -der Bettler wie der Reiche. - - Schief ist alles; - Nichts grad’ in unserm fluchbeladnen Wesen, -- - Als zielbewußte Schurkerei. Ein Abscheu - Sind alle Feste, Volksgewühl, Gesellschaft! - Timon haßt seinesgleichen; ja, sich selbst. - Vernichtung wetz’ die Hauer auf die Menschheit! - -Die Menschen sind denn doch in der ganzen übeln Natur die schlimmsten. -Wie so mancher Menschenfeind wendet Shakespeares Timon die -Liebesmöglichkeit, die noch in ihm ist, dem Hunde zu, nicht in der Tat -freilich, nur wieder im Sprachbild, wenn er zu Alkibiades sagt: - - Ich bin Misanthropos und hass’ die Menschheit. - Doch du, ich wollt’, du wärst ein Hund, daß ich - Ein wenig dich noch lieben könnt’. - -Was ist er denn jetzt, als Mensch, dieser Feldherr? Ein Kriegsmann, ein -Menschenschlächter. - - Fort, der Trommel nach! - Bemal’ mit Menschenblut den Grund rot, rot! - -Aber auch der Krieg ist noch entschuldigt; ist denn nicht alles, -was Menschen tun, Zerstörung? Den Krieg nimmt er in seiner grimmig -anschaulichen Art personifiziert, als ein Vorhandenes, Lebendiges, das -sein Wesen erfüllen und sein Daseinsrecht ausüben muß; und da fragt er: - - Grausam sind göttlich Recht und Menschensatzung; - Was soll denn Krieg sein? Deine Hure da - Hegt in sich mehr Zerstörung als dein Schwert, - Trotz ihrem Engelblick. - -Sie nämlich, die feile Dirne, hat diese Kraft der Verderbnis in -Verbindung mit dem Zerstörungsmittel, das in der menschlichen -Gesellschaft aufgekommen ist und das von allen das schlimmste ist: das -ist das Geld! - -Daß er, der sich von allem abgewandt hat und nichts mehr will, beim -Wurzelgraben einen Schatz findet, ist ihm nur ein Hohn. Immer neue -Ausdrücke wirft er dem Geld entgegen: gelben Sklaven nennt er es, -verdammte Erde, - - Der Menschheit allgemeine Hure, die du - Unter der Rotte der Nationen Krieg - Und Zwietracht stiftest; - -einen starken Dieb schilt er es, der davonläuft, wenn sein Herr schwach -auf den Beinen wird und nicht mehr aufrecht bleiben kann. - -Und nun -- was alles mehr in der Art der allegorischen Gedichte -ist, deren Meister Spenser war und denen Leidenschaft und Wucht -des Ausdrucks und Bildes keineswegs fehlte, als in der Art der -Wirklichkeits- und Herzenstragödie Shakespeares -- nun wandelt sich -mittels des Schatzfundes Timons Klage und Schimpf in aktive Verfolgung. -Er behält in seinem Haß so viel von dem Schatz, der für die Fristung -seines Lebens, wie er sich’s jetzt eingerichtet hat, ganz wertlos -geworden ist, daß er damit die Menschen, zumal die Athener, verderben -kann. Dem Alkibiades gibt er Geld, damit er Krieg führe gegen diese -Athener, die ihm das Urbild lasterhaft zivilisierter Menschheit sind. -Das ist ein Anlaß nicht zu einem Fortgang der Handlung, sondern zu -einer neuen Variation der Rede. Ein fürchterlicher Ausbruch des -Menschenhasses knüpft sich daran; grauenhaft wird das Bild des -Vernichtungskriegs entworfen, und bei all diesen Schreckensbildern -findet Timon in wütigem Grimm, daß die Menschen alle, bis auf den -Säugling herunter, mit Recht auszutilgen sind: - - Sei wie Planetenpest, wenn Zeus sein Gift - In kranker Luft auf städtischen Lasterpfuhl - Herab läßt tauen; keinen schon’ dein Schwert!... - Fluch allen Wesen! - Säe Vernichtung; hast du ausgetobt, - So treffe dich Vernichtung! - -Den Dirnen gibt er Gold, um sie recht verführerisch geschmückt auf die -Männer loszulassen. - - Auszehrung säet - Ins hohle Mannsgebein! - -Und wie malt er sich’s nun aus! Und wie hätte ein andrer Shakespeare -dieses hämisch, schmatzend vorwegnehmende Genießen der Rache zu -Timons Charakteristik, zur Fortführung der Seelenentwicklung und -äußern Handlung benutzt; hier aber bleibt alles grandiose Strafrede, -ein dramatisch eingekleidetes Gedicht, das aus dem Abgrund einer -leidenschaftlichen Weltempfindung herausschlagende Wetter gegen Gott -und die Welt losplatzen läßt. Der Anwalt soll durch den Umgang mit -diesen Weibern die Stimme verlieren; dem Priester, der lügnerisch gegen -die Schwäche des Fleisches zetert und doch zu diesen Weibern geht, soll -der Aussatz die Nase aus dem Gesicht fressen; der Kriegsbramarbas, der -keine Wunden hat, soll durch sie kennen lernen, was Schmerzen sind. - - Verpestet alles, daß - Die Quelle aller Zeugung durch euer Wirken - Ausdörre und ersticke. - -Das Furchtbare an dieser Haß- und Fluchgewalt der Rede ist -denn doch ihre Wahrheit, die in der Beziehung zur Wirklichkeit -liegt: die ausschweifendste, gierigst suchende Phantasie des -Würgengelvernichtungswillens kann keine Plagen ausmalen und wünschen, -die mehr wären als Vervollständigung und eine Art systematische Ordnung -der Schrecknisse, die in Natur und Menschenwelt da sind. - -Die Allegorie nimmt wieder eine neue Wendung. Nun, wo es sich -herumgesprochen hat, daß zu Timon wieder Geld gerollt ist, bekommt er -einen Besuch nach dem andern. Und so suchen ihn auch die Diebe auf. Die -aber behandelt er mit Auszeichnung und erklärt sie im Gegensatz zu den -andern, den sonst geachteten Klassen der Gesellschaft, für ehrliche -Diebe; sie treiben ja das Stehlen als ihr erklärtes Handwerk: - - Ich weiß euch Dank, - Daß ihr als Diebe euch bekennt, euer Treiben - In frommen Schein nicht hüllt; Diebe sind alle, - Zu welchem Stand sich jeder auch bekennt. - -Es ist ja, in der ganzen Natur, alles Dieberei: Sonne, Mond, Wasser und -Erde, -- eins bestiehlt das andre. Aber -- wir kennen das Schema schon --- wie viel ärger ist’s gar unter den Menschen! - - Dieb ist alles: - Selbst das Gesetz, das euch in Zaum und Fron legt, - Übt straflos und in roher Willkür Diebstahl. - -Wir kennen das Schema schon: in der Tat, legt man den formalen Maßstab -an, fragt man, ob das ein Drama sei, ob da Menschen, ob seelische -Gewalten einander gegenübergestellt werden, so kommt man immer wieder -darauf, daß hier nicht die Sprache dem Ereignis und das Ereignis dem -Geheimnis des Innersten dient, sondern daß die Vorgänge ein Zubehör der -Sprache sind; die dramatische Begleitung der Rede ist wie die ~Biblia -pauperum~ Bildersprache. Sehen wir aber davon ab und wenden uns der -geistigen Bedeutung der Erkenntnisse zu, die Shakespeare mit solchen -Mitteln zum Ausdruck bringt, so ist zu sagen, daß Shakespeare hier -mit klaren Worten und Begriffen die radikale Kritik unsrer auf dem -Eigentum beruhenden Rechtsordnung, unsrer vom Rechtswesen gesicherten -Eigentumsordnung, die sozialistische Kritik Proudhons und seinen -zusammenfassenden Satz: Eigentum ist Diebstahl vorweggenommen hat. -Und was so in Worten erklärt wurde, wird dann auch mit der Handlung -illustriert, so daß wir als in einem Notwendigkeitszusammenhang die -beiden sehr verschiedenen und doch, solange Menschen Menschen sind, -zusammengehörigen Seiten der Anarchie beisammen haben: Timon beschenkt -die Diebe reichlich und schickt sie, die nunmehr besser für ihr -Handwerk ausgerüstet sind, nach Athen: - - Brecht Läden auf; ihr könnt nichts stehlen, was - Ein Dieb nicht vorher stahl. - -Köstlich ist nun aber, und das beste Stückchen der Handlung, obwohl -auch das nicht wahrhaft ins Menschliche verfolgt ist, sondern nur den -Entwurf eines Menschentums anlegt, wie es hinter aller Berufsteilung -des Lebens und Typenteilung der Komödie steckt, köstlich trotzdem und -ein herrlicher Gipfel in der sozialen Erkenntnis, die hier stufenweise -zu Wort kommt, wie Timons Reden und Geschenke auf die Diebe wirken: -sie, die Ausgestoßenen, verstehen die Herkunft seines Menschenhasses, -erkennen hinter all dem geifernden Grimm den reinen, edeln Idealismus, -sie schämen sich und wollen ehrlich werden! - -Nun aber kommt der Mann zu Timon in die Einöde zu Gast, der von Anfang -an treu und redlich gegen ihn war: Flavius, sein Hausverwalter. Der ist -so traurig, daß er selber ganz nah am Menschenhaß ist: - - Wie herrlich das auf unsre Zeiten paßt, - Wenn uns gelehrt wird: Liebt den, der euch haßt! - Fürwahr, eh lieb ich meinen offnen Feind - Als den, der feindlich ist und freundlich scheint. - -Da bekommen wir eine ganz überraschende, kecke Umdeutung des -Christuswortes: Liebet eure Feinde; die neue, bissige Version lautet: -Liebet jedenfalls eher die Feinde als die sogenannten Freunde! Die -Keckheit beruht darin, daß formal das erhabene Gebot beibehalten ist: -Liebt den, der euch haßt! daß aber doch fast eine Umkehrung daraus -wird: Liebe ist Lüge; im Haß ist Wahrheit! - -Diesem Getreuen gegenüber wird Timon weich; ihn beschenkt er, weil er -es verdient; nicht, um ihn mit dem Gold oder die Menschen mit seiner -Hilfe zu verderben; aber er knüpft eine arge Bedingung an das Geschenk, -das ohne sie auch widerspruchsvoll wäre: - - Bau’ von Menschen fern; - Hass’ alle, fluche allen, tröste keinen! - -Flavius, der untergeordnete Angestellte, wird hier -- trotz der -Erkenntnis, die Timon zu Wort gebracht hat, daß auch der Arme -nichts taugt -- den unabhängigen Reichen so als besserer Mensch -gegenübergestellt, wie die Diebe den Besitzern. Aber schon vorher -konnten wir in der Dienerszene sehen, wie diese armen Domestiken -alle treu und liebevoll zu Timon und zu einander hielten; wie sie -fortwährend die liebreiche Anrede ~fellow~, Kamerad, untereinander -austauschten; und Flavius, der sein Letztes unter ihnen geteilt hat, -gründet unter ihnen eine Art Timon-Orden: - - Wo wir uns wiedersehn, laßt Timons halber - Uns Kameraden sein. - -Auch das greift indessen nicht weiter in die Handlung ein: innerlich -ist diesem Stück keine Entwicklung vergönnt. Äußerlich freilich, -rhetorisch wieder, ist es ein famoser, glänzender Komödien-, noch -besser gesagt, Anekdotenschluß, wie nun in der Reihe der Gäste -die Senatoren kommen, um schamlos oder patriotisch in der Not des -Vaterlandes den, der voll Ekel vor ihnen geflohen ist, gegen Alkibiades -und sein Heer zu Hilfe zu rufen, wie er sie in langer Ironie täuscht -und hinhält und ihnen ein Mittel, ein unfehlbares, verspricht, durch -das sie aller Gefahr entrinnen können: - - Es wächst ein Baum in meinem Waldbezirk, - Den nächstens ich zu eigenem Gebrauch - Umhauen muß. Sagt’s meinen Freunden an, - Sagt’s in Athen, in jeder Abstufung - Vom ersten bis zum letzten: Wer da wünscht, - Sein Leid zu enden, solcher komme spornstreichs - Hierher, eh noch mein Baum die Axt gespürt, - Und häng’ sich auf. -- Bestellt recht schönen Gruß. - -Wir wissen, das ist mehr als böser, plagender Spaß. Weltschmerz, -ja, Weltwut äußert sich so, die keine andre Erlösung weiß, als dem -Leben ein Ende zu machen. So ist es einer der stärksten dichterischen -Züge dieses Stückes, daß Timon in diesen Worten, mit denen er -den verachteten Athenern, die seinen Rat begehren, den Rat gibt, -sich aufzuhängen -- so wie Shakespeares Coriolan sich den Römern -gegenüber die Redensart angewöhnt hat: Hängt sie! --, daß Timon -da ein paar Wörtchen einfließen läßt, in denen er seinen eignen -Freitod ankündigt. Nächstens, sagt er, werde er den Baum, an dem er -am liebsten die Athener gehängt sähe, zu eigenem Gebrauch umhauen -müssen. Wir erfahren es bald, zu welchem Zweck: um sein Grab zu -bauen. In seinen ungeheuren Gewaltreden hat er sich ganz ausgegeben; -es gibt für ihn so wenig wie für die Tragödie, die von ihm handelt, -einen innern Fortgang; er hat nichts mehr auf der Erde, nichts auf -der Bühne zu suchen: er verkriecht sich und stirbt, ohne daß wir -dabei sind, ohne daß der Dichter darauf ausgeht, uns mit diesem -Sterben in der Verlassenheit menschlich zu erschüttern. Goethe hat -schon recht: Molière, der große Komödiendichter, hat aus seinem -Menschenfeind den Helden einer Tragödie, Shakespeare, der größte aller -tragischen Dichter, hat aus Timon eine Molièrekomödie, allerdings mit -Shakespearischer Sprachgewalt, gemacht, und Timons Tod sogar ist eine -Art epigrammatisches Auftrumpfen, ein Komödienschluß. - -Von diesem Helden einer fast allegorisch zu nennenden, dramatisch nur -eingekleideten vehementen Predigt, in der die Übergangsszenen der -Handlung lässig und unlustig hingeworfen sind, von diesem Menschenfeind -und Feind seines Volkes und von seiner Ergänzung Alkibiades, der -den Krieg seinem eignen Volk ins Land trägt, gehen wir nun in der -nächsten Betrachtung zu jenem andern Adelsmann über, der eben schon -genannt wurde, zu dem Verbannten, Volksfeind und Kämpfer gegen sein -Vaterland Coriolan. Wie anders wird der zuinnerst und in der Art, wie -er steht und geht, lebendig werden als Timon; wie wird Coriolan ein -Mann und ein Mensch sein, wo Timon ein Exempel ist; was werden ihn in -mannigfaltiger Abstufung für Römer und Römerinnen umgeben gegen die -Puppen von Athenern, die wir hier finden! Einmal noch, zum letzten -Mal also, werden wir da den Shakespeare zu uns sprechen lassen, der -uns mit der Geschichte der Seele die Seele der Geschichte gibt. Dann, -nachher, wollen wir sehen, wie der Shakespeare, der die Moralität von -den wunderbaren Reisen des Perikles und die Satire von Glanz und Wut -Timons des Menschenfeindes gedichtet hat, auch in diesem Stil noch -wieder aufwärts steigt zu reiner Höhe der Milde, der Heiterkeit, der -Weisheit, in dem Drama von Imogen, im Wintermärchen, im Sturm. Die -Märchen- und Meeres- und Sphärenmusik des Sturm klingt schon in den -Reisen des Perikles an, wie auch Miranda in manchem an Marina, die -Tochter des Perikles, erinnert; aber der letzte Aufwärtsweg, den wir -mit Shakespeare machen, ist noch weit, so weit wie von der gequälten -Wut Timons des Menschenfeindes zu der Überlegenheit Prosperos, der das -innerste Grauen der Welt kennt und den unrettbar verworfenen Caliban im -Urgrund der Welt und des Menschengeschlechts finden muß und dennoch, -heiter in Düsterkeit, Ruhe und Liebe nicht aufgibt. - - - - -Coriolan - - -Coriolan ist das dritte und letzte Stück, das Shakespeare nach Plutarch -aus der römischen Geschichte behandelt hat. Über die Zeit der Abfassung -oder der ersten Aufführung liegt uns kein Bericht vor; auch sonst -fehlen äußere Merkmale, aus denen etwas zu schließen wäre. Ich folge -denen, die auf Grund der Sprache und der Verstechnik die Jahre zwischen -1608 und 1610 als Zeit der Abfassung annehmen: ich möchte glauben, daß -Antonius und Cleopatra und auch Timon von Athen vorher gedichtet sind. -Man könnte aber nicht leicht drei Stücke eines Verfassers nennen, die -sich nach Aufbau, Stimmung, seelischer und poetischer Technik radikaler -von einander unterschieden als diese; Shakespeare war gerade in seiner -letzten Periode zu mehreren, sehr verschiedenen Darstellungsarten -geneigt und war vielleicht jetzt mehr ein Suchender als je. - -Zu Plutarch steht Shakespeare bei diesem Stück eher noch freier -als die beiden andern Male: wohl dankt er ihm viele Einzelzüge, -folgt ihm auch im Aufbau der einen oder andern Rede; aber er nimmt -Abweichungen wichtiger Art auch in der äußern Handlung, vor allem -Zusammenziehungen vor. Die Vorgänge, die den Stoff der beiden Tragödien -aus dem Beginn der Kaiserzeit lieferten, waren und sind ein Stück der -eignen Geschichte auch unsrer Völker; es geht um Entscheidungen, die -Shakespeares Zeitgenossen angingen, wie sie auch für uns noch bedeutend -sind; der Krieg zwischen Römern und Volskern und alles, was damit -zusammenhing, hat als äußerer Verlauf keine solche Aktualität; es kommt -alles nur auf das geschichtliche Beispiel für immerdar wirksame Kräfte, -Tendenzen und Gegensätze und auf das innere Leben der Gestalten an. -Die spontane Lebendigkeit aber der inneren Antriebe, das Feuer, von -dem diese Menschen erfüllt sind, das ist ebenso völlig auch diesmal -Shakespeares Eigentum wie die geschichtliche Weite, zu der sich das -Ereignis ausdehnt. - -Coriolan gehört zu den Stücken Shakespeares, die besonders sorgsam -komponiert, straff gebaut, rund vollendet sind; keines übertrifft es -in diesem Betracht; wenige, wie Macbeth und Othello, können ihm darin -gleichkommen. - -Welch ein Abstand aber in jeder Hinsicht, wenn man von Timon kommt! -Nicht einmal die Hauptperson ist da wahrhaft individualisiert und -im Innersten ergriffen; die Nebengestalten aber sind allesamt -schablonenhaft; der Timon zielt ganz auf das Wort, auf die Rede -ab; große, herrliche Reden bringt wahrlich auch der Coriolan, aber -alle stehen sie im Zusammenhang der ergreifenden, lebendigen Aktion -und dienen der Erhellung der Seelen; und jede Gestalt bis zur -kleinsten Nebenperson herunter ist individuell behandelt, und nun -gar die Hauptgestalten! Neben Coriolan Menenius Agrippa, die beiden -Volkstribunen, Tullus Aufidius der Volskerheld, Coriolans Mutter, seine -Frau und das Volk. - -Eine sehr bezeichnende Abweichung Shakespeares von Plutarch bringt -eine Bestätigung für etwas, was schon früher gesagt wurde, und deutet -zugleich das Bereich, in das uns der Coriolan führt. Es hat wahrlich -seinen tiefen Grund, warum die Natur einen zum Dichter und nicht zum -Philosophen oder Forscher geschaffen hat. Ein Dichter, ein Dramatiker -wie Shakespeare _kann_ sich nicht nur in die verschiedensten -Naturen, Temperamente und Weltanschauungen einfühlen; er muß es, weil -seine Natur ihre herrliche, stramme Sicherheit und Eindeutigkeit -nicht in _einem_ System, sondern in einer Vielheit von Bildern -findet; immer macht der Künstler aus der Not eine Tugend; und eben aus -dieser Entbehrung an eng begrenzter Festigkeit macht der Dramatiker -den Reichtum seiner Gestalten, Sphären und innern Verfassungen. Der -Dichter lebt in Einem Himmel, der durch alle Reiche waltet; er kniet -nicht vor Einem Gott. Diese Proteusnatur des Dichters bringt es mit -sich, daß er mit einer Kraft und Eindringlichkeit, die nur von -eigener Übereinstimmung zu kommen scheint, in das Denken und Fühlen -eines Menschen eingeht, daß er ihn von innen gestaltet, als wäre er es -selbst, daß er ganz mit ihm und in ihm ist, daß er dann aber wieder -hinausschlüpft und ebenso untrennbar sich mit einem wesentlich andern -zu decken scheint. - -Damit dünkt mich nun zusammenzuhängen, daß die Sphäre eines jeden -der Stücke, gleichviel ob sie weit oder eng ist, in jedem Fall ihre -begrenzte Bestimmtheit hat und in Abhängigkeit von dem Trieb oder der -Weltanschauung der Person oder des Kreises von Personen steht, um die -als Mitte das Stück sich bewegt. So finden wir in solchen Stücken, -in deren Mitte die Macht steht, die als Gier zu herrschen und auch -sonst als Lebensgier erscheint, als Sphäre eine wilde, ungezügelte -Natur, Aufruhr und Gärung der Elemente, dämonisches Eingreifen der -Schicksalsmächte, Zeichen und Wunder. So geht es im Macbeth zu, so -auch im Lear und ebenso auch in den beiden Römerdramen, in denen der -Republikanismus abgelöst wird von der Herrschgier, im Julius Cäsar -und in Antonius und Cleopatra. Überaus bezeichnend aber, daß es in -der besonderen Welt des Brutus nicht nur die Zeichen und Wunder des -Cäsarismus nicht gibt, sondern daß auch der fürchterliche Wettersturm -da nicht zu toben scheint; wir sind bei ihm in der furchtbaren Nacht -in seinem Garten; aber wovon er auf Grund seiner Natur und seiner -Situation nichts merkt, das umgibt auch uns nicht; und ein pedantisch -aufmerksamer Regisseur könnte nichts Verkehrteres tun, als uns in -dieser Fortsetzung der Nacht von dem Aufruhr aller Elemente, in dem wir -eben bei Cassius auf der Straße waren und von dem nachher gleich Cäsar -wieder ins Wanken gebracht wird, im Garten des Brutus das kleinste -Donnerchen rollen zu lassen. Wovon ich hier spreche, geht aber positiv -und negativ durch Shakespeares ganzes Werk: es ist völlig unmöglich, -sich in solchen Stücken, in deren Mitte ein gemäßigter, gezügelter -oder gar harmonischer Mann steht, wie zum Beispiel Heinrich IV. -oder Heinrich V., um diesen Helden eine wilde Natur oder ein -Eingreifen von Geistermächten zu denken. Welch ein Unterschied herrscht -vielmehr im gesamten Ton, in der Stimmung, der Atmosphäre, wenn man -die beiden Heinrichsdramen und ihre behaglichen, niederländischen -Einlagen besonders der Falstaffszenen mit Richard III. und -seinen schweren Träumen und Geistererscheinungen vergleicht. Ich -übersehe nicht, daß Richard III. noch der Jugendperiode und der -Abhängigkeit von Marlowe und ähnlichen Gewalttätigen angehört; aber ich -will ja nur zeigen, warum solche begleitende Elementarstimmung in den -Heinrichsdramen nicht sein kann. Warum aber im Lear das Wetter tobt, -im Hamlet das Gespenst erscheint, im Julius Cäsar Zeichen und Wunder -geschehen und in Antonius und Cleopatra Herkules der Gott unterirdische -Musik machen darf, all dieses Elementare und Dämonische steht in -Zusammenhang mit den Elementartrieben und dämonischen Leidenschaften, -um die das Stück sich dreht; Hamlet, in dessen Weltanschauung und -Neigung, das Leben zu führen, die Wiederkunft und das handelnde -Eingreifen eines Gestorbenen ursprünglich so wenig paßt wie in die -Horatios, hätte das Gespenst nie mit Augen gesehen, wenn er nicht der -Erbe eines Geschlechts der Wut wäre, wenn er nicht im Dunstkreis seines -Oheims stünde. - -Wenn dem aber so ist, können wir, was im Verlauf dieser Vorträge zu -Shakespeares Weltanschauung gesagt worden ist, noch um eine Stufe -fortzuführen versuchen. Es ist gesagt worden, es gehe nicht leicht an, -aus den Dramen Schlüsse auf Shakespeares Religion, Philosophie und -Naturbetrachtung zu ziehen, weil nicht nur die Äußerungen der Personen, -so sentenziös und überzeugt sie auch herauskommen mögen, von ihrem -Charakter und ihrer Aufgabe im Stück, sondern sogar die Naturelemente, -die Kräfte, die Geister, die der Dichter selbst leibhaft vorführt, -von der innern Beschaffenheit der jeweils in dem Stück zentralen -Personen, also wiederum nicht von den Gedanken des Dichters abhängen. -Es ist dann weiter versucht worden zu sagen, der Dichter mit seiner -Künstlernatur sei Weltanschauungen gegenüber sehr labil, er könne -darum seine Menschen so fest, so innig an einem Glauben oder einer -Auffassung hängen lassen, weil für ihn, dem alles zum Gleichnis und -Bilde wird, an jeder lebendig ergriffenen Deutung der Welt etwas Wahres -sei. Wenn es indessen so ist, daß Hexen, Naturdämonen, Gespenster, -Zeichen und Wunder von Shakespeare immer nur als gemäßer Ausdruck in -solche Stücke aufgenommen werden, in deren Mitte Menschen der Gier, -des wilden Triebs, der Genuß- und Machtaffekte stehen, daß er dagegen -Menschen, die er mit besonderer Liebe behandelte und denen er als die -Triebe beherrschende hohe Kraft Vernunft, Gemeinsinn, Gerechtigkeit, -Maß, Harmonie mitgab, in einer unsrer Naturanschauung entsprechenden -heitern, stillen und wunderlosen Welt leben ließ, so ist das am Ende, -besonders wenn wir dazu nehmen, daß in seinen subjektiven Äußerungen -in den Sonetten nur offenbares Spiel mit mythologischen Vorstellungen, -aber keinerlei Befangenheit in Dämonen- und Vorbedeutungsglauben -vorkommt, ein Kriterium dafür, daß die Vernunftüberlegung Shakespeares -so rationalistisch war wie die Anschauungen etwa Horatios und Bruder -Lorenzos. - -Man wird einwenden wollen, ob so ein Motiv der Naturdämonie verwendet -werde oder nicht, sei in erster Linie von dem in den Quellen -überlieferten Stoff abhängig. Aber gerade darauf will ich ja hinaus. -Diesmal nämlich ist es nicht so. Der gesprächige und etwas wohlweise -Plutarch berichtet in der Biographie Coriolans genau so wie in der -Cäsars und Antonius’ von Zeichen und Wundern; aber dieser ganzen -Überlieferung von schreckhaften Vorbedeutungen, Wahrträumen und -Wahrsagern schenkt Shakespeare diesmal keine Beachtung. Nichts von -dieser Atmosphäre kann er für dieses Rom und für diesen Römer brauchen. - -Wir sind nicht in der gärenden Zersetzung der Republik, sondern in -ihrer Frühzeit; und die Seele Coriolans ist von nichts weniger erfüllt -als von Machtgier. - -Das klingt nun vielleicht erstaunlich; man wird sagen wollen: er sei -aber doch der Typus des Aristokraten, des Adligen, des Herrschenden; -er sei doch der Führer in dem Kampf des Adels gegen das Volk, der -Patrizier gegen die Plebejer; und bei all diesem Streit zwischen -Kleinen und Großen, Volkstribunen und Senatoren drehe sich alles um die -Macht. Man darf sich aber von Worten, die für sehr verschiedene Sachen -gleich lauten, nicht verführen lassen. Das Spezifische, das ich hier -Macht nenne, ist eine Selbstherrlichkeit, die alles von sich abzuleiten -und auf sich zu beziehen geneigt ist, ist ein Absolutismus, der mit -dem Gefühl der Majestät, der Gottähnlichkeit, des Übermenschentums -oder aber mit dem wild dämonischen, verzehrend teuflischen Drang der -Niedrigkeit, Herr zu sein, verbunden ist, und das gibt es nur in der -Form der Tyrannei, der unumschränkten Königsgewalt. - -Hier bei Coriolan aber sind wir in einer ganz andern Welt, eben in -der, deren Idee Brutus noch rein in sich fand und für die Umwelt -wiederherstellen wollte: in der ständisch gegliederten, ritterlichen -Republik. - -In dieser römischen Stadtrepublik, die nur erst einen kleinen Teil des -benachbarten Landes in ihr Bereich eingezogen hat, herrscht in noch -engerem Bezirk dieselbe Staatsverfassung, dasselbe Staatsideal, wie es -Shakespeares Ulysses für die frühe griechische Welt aufgestellt hatte, -und wie es ganz ähnlich in der Welt des ritterlichen Königs, zu dem -Prinz Heinz geworden ist, Heinrichs V. gilt: - - Denn wie kann ein Verein, - Der Schulen Stufen, Brüderschaft in Städten, - Ein friedlicher Verkehr entfernter Küsten, - Das Erstgeburts_recht_, _Pflichten_ der Geburt, - Vorrecht des Alters, Thrones, Zepters, Lorbeers - An ihrer rechten Stelle anders stehen - Als durch die _Gliederung_? - -So hatten wir’s von Ulysses für kleine Königreiche gehört, in denen -Rangordnung, Gliederung, ständische Verfassung herrscht und sie so der -Republik nicht minder annähert, wie andrerseits die aristokratische -Republik im frühen Rom die Ordnung und Sicherheit gewährte, die man -gern als Vorzug der Monarchie bezeichnet. - -Und von Ulysses hören wir in derselben großen Rede zweierlei über die -Auflösung von ständischer Gliederung und Ordnung. Einmal gerade das -nämliche, was wir jetzt eben über den Zusammenhang von Naturdämonie und -Machtwillkür bei Shakespeare wahrgenommen haben: - - Irren - In unheilvoller Kreuzung die Planeten, - Welch Schreckenszeichen dann, welch Seuchen, Gärung, - Welch Erderschütterungen, Meerestoben, - Aufruhr der Luft, Umsturz, Entsetzen, Graus - Zerteilt, zerreißt, erschüttert und entwurzelt - Jedweden Zustand eheruhigen Friedens - Bis auf den Grund! Wenn Stufenordnung wankte, - Zu jedem hohen Ziel die einzige Leiter, - Dann krankt die Unternehmung! - -In warnender Rede also, die ihren prophetisch eindringlichen Ton gewiß -nicht bloß von der Lage der Griechen vor Troja nimmt, stellt Ulysses -die Auflösung des organisch Gegliederten ins wüst Elementare zusammen -mit unheilvollen Naturkatastrophen derselben Herkunft. Dann aber fährt -er unmittelbar fort und stellt den Zusammenhang her zwischen der -Auflösung der festgegliederten, sich gegenseitig auspendelnden Ordnung -und der Willkürgewalt der Despotennatur: - - Nimm Gliedrung weg, mach’ diese Saite stumm, - Und ach, welch Mißton folgt! Die Dinge stoßen - In ew’gem Streite sich: es schwillt der Busen - Der eingedämmten Flut, des Strandes spottend, - Bis sie dies feste Rund auflöst in Schlamm; - Zum Herrn der Schwäche wirft sich auf die Kraft; - Der rohe Sohn schlägt seinen Vater tot; - Gewalt wird Recht, nein, vielmehr: Recht und Unrecht - -- Die ew’gen Feinde, von Gerechtigkeit - Beherrscht -- verlieren samt der Herrscherin - Dann ihren Namen. Alles wird Gewalt, - Gewalt wird Willkür, Willkür zur Begier, - Und die Begier, ein allgemeiner Wolf - Mit ihrem Dienerpaar Gewalt und Willkür, - Nährt sich vom allgemeinen Raub und frißt - Zuletzt sich selbst auf. - -Es war nötig und gut, daß wir diese entscheidende Stelle, in der -Ulysses das politische Gewalthabertum auf die Seelenverfassung des -gierigen Einzelmenschen und diese wiederum auf die Auflösung einer -festgegliederten Ordnung der Gegenseitigkeit zurückführt und so die -Gemeinschaft oder Wechselwirkung feststellt, in der sich öffentliche -Zustände und inneres Leben der Individuen immerzu einander bedingend -und steigernd bewegen, hier noch einmal vernahmen. Denn die Warnung, -sofern sie nicht vor Troja, sondern vor den europäischen Völkern zu -Beginn des 17. Jahrhunderts ausgesprochen wurde, hat nichts verhütet, -hat nur vorausgekündet; der Prophet hat in den Wind gesprochen, dessen -Wehen er schon spürte, und der Wind ist zum Sturm geworden. Und wir -heutigen Tags sind an den so vorausgesagten Zustand der Auflösung, -in dem wir seit langem darin sind, derart gewöhnt, daß wir uns erst -historisch zurückversetzen müssen in eine Zeit, wo das, was heute -spukender, zerfetzter Rest und dabei Willkürgewalt ist, in seiner -Gesundheit, seinem Rechte und seinem Amte stand, in eine Zeit, wo Adel -und Rittertum ihre Aufgabe der Landesverteidigung und des Regiments -mit gutem Gewissen als Recht und als Pflicht betrachteten. Nichts ist -uns heute selbstverständlicher als die Forderung oder demokratische -Tatsache, daß der Bauer, der Handwerker, der Arbeitsmann seine Arbeit -und private Muße abbricht, um sich über Gesetzgebung, Verordnungen, -Verhandlungen aller Art erst zu unterrichten und dann zu beraten und -schlüssig zu machen; wir denken gar nicht daran, daß dieser Zustand, -in dem die Angelegenheiten des Gemeinwesens nicht besonders Berufenen, -Geschulten, Geübten anvertraut bleiben, sondern dem allgemeinen -Dilettantismus überlassen sind, daher kommen könnte, daß die Erben der -einst Berufenen des Vertrauens unwürdige Usurpatoren und dazu noch -Pfuscher geworden sind. Shakespeare aber lebt, äußerlich schon am -Rande, seiner Gesinnung nach noch inmitten dieser Welt der ständischen -Ordnung, so wie selbst Goethe zwar an und sogar hinter ihrem Ende, aber -für sein Wollen und Denken noch und schon wieder in ihr gelebt hat. - -Und in dieser Welt der ständischen Ordnung, eines Vorrechts, das nicht -ein Privileg mit dem Stempel des Unrechts, sondern ein Rang mit der -Aufgabe der Lenkung und Führung war, lebt Coriolan, im Kampf gegen die -Tendenzen der Auflösung. - -Sehen wir uns seine politische Ethik, seine Anschauung vom Verhältnis -der Individuen zur Gemeinschaft, von der Aufgabe des Adels zunächst an. -Und zugleich damit seine und seiner Freunde Stellung zum niedern Volk, -zu den Massen der einzelnen. - -Denn dies vor allem: es geht um ein Ganzes, das ist die Polis, die -Politeia, die Stadt, der Staat; die Massen aber sind einzelne, die wild -durcheinander wimmeln und toben und einander auffressen würden, wenn -nicht das Regiment wäre, das sie zusammenhält und einem Ziele zulenkt. -In dieser Zeit, wo das patrizische Regiment von der Auflösung bedroht -ist und sich zur Wehr setzen muß, besteht ihm die Menge aus lauter -Vertretern des Typus, - - der nicht herrschen _kann_ - Und nicht gehorchen _will_. - -Man kann es etwa auch so ausdrücken: die Machtgierigen, die Tyrannen -und Usurpatoren, zu denen Coriolanus keineswegs gehört, betrachten sich -als Gottähnliche, als Übermenschen; Coriolan sieht sich und die echten -Adligen als eigentliche, rechte Menschen an; die Massen, die weder -Klarheit der Einsicht noch Bestimmtheit des Willens haben, sind für ihn -Menschen wohl in ihrem Haus und Handwerk -- da achtet er sie durchaus ---, aber nicht im Staat; von dem verstehen sie nichts und sollen sich -also auch nicht drum kümmern, weil sonst die Auflösung, mit ihr die -Gier und die Tyrannei der Willkür kommt. In dieser Rolle der Führenden, -Regierenden, Befehlenden, der Vormünder für Unmündige -- unmündig -nur in Sachen des Gemeinwesens, das in hoher Sonderung für sich -verwaltet sein muß, nicht in die private Ökonomie und den Werkeltag -biederer Handwerker vermantscht werden darf -- hat dieser Adel ein -gutes Gewissen, soll es haben, so beschwört sie Coriolan. Ordnung und -Unterordnung muß sein: - - Seid ihr gelehrt, - Tut nicht wie blöde Toren; seid ihr’s nicht, - Setzt _sie_ [die Plebejer] auf Polstern euch zur Seit’! - _Ihr_ seid Plebejer, - Wenn Senatoren sie... - -Der Staat muß einheitlich sein; er muß die Macht haben, das Gute und -Rechte zu tun. Jetzt aber, wo die Patrizier den Plebejern Rechte -eingeräumt haben, sie am Staatsleben teilnehmen lassen, sieht er -Schlimmes voraus; es besteht eine - - Doppelherrschaft, - Wo stolz ein Teil mit Grund, frech ohne Recht - Der andere; wo Klugheit, Rang, Geburt - Nichts machen kann, als nach dem Ja und Nein - Des unverständ’gen Schwarms... - -Demgegenüber verfechten die Volkstribunen die modern demokratischen -Ideen; für sie ist das Ganze nichts andres als die Summe der einzelnen, -und das Staatswohl identisch mit dem Wohl der Massen. - -Dagegen aber empört sich gerade die Staatsgesinnung; und in der Tat, -wäre Rom -- die Stadt -- wäre sie Rom geworden, das gewaltige römische -Reich, das heute noch lebt in all unsern Staaten, in allen, gleichviel -wie sie heißen, wenn es zu irgend einer Zeit nur oder hauptsächlich auf -das Wohl der gerade lebenden einzelnen in den Massen angekommen wäre? -Auf diese Demokratenfrage - - Was ist die Stadt sonst als das Volk? - -erwidert darum auch der Konsul Cominius, Coriolans Freund und -Parteigenosse: - - Das ist der Weg, zu schleifen unsre Stadt, - Das Dach herabzubringen an den Grund - Und alles, was noch Rang hat, zu begraben - In aufgehäuften Trümmern. - -Nein, so empfinden sie alle, diese Ritter, Adligen, Vornehmen, nein, -das ist nicht der Zweck des Lebens, nicht die Bestimmung ihrer heiligen -Stadt, lediglich die Masse, das „Tier mit vielen Häuptern“, zu ernähren -und zu befriedigen. Sie, die Adligen, sie haben ihre besondere -Bildung, Ausbildung, Lebensart, sie haben Muße; sie bleiben für Ehe -und Nachkommenschaft streng innerhalb ihres Standes; auf den Wegen der -Natur und der Gesellschaft sind sie Auslese geworden: darum sind sie -die von Geburt Vornehmen, Ausgenommenen, privilegiert nicht zum Genuß, -sondern, wohl auch vom Genuß des Lebens her, privilegiert zu ihrer -Aufgabe. - -Was Nietzsche, von Jakob Burckhardt geleitet, in der Renaissance --- Shakespeares Zeitalter noch -- gefunden hat und was er darum -und sowieso in der Form der Vermischung von Adelsordnung und -ausbrechender Willkürtyrannei brachte, das hätte er nirgends -in so reiner, vollendeter Gestalt finden können wie in diesem -aristokratisch-republikanischen Drama Shakespeares. - -Wohl aber zu beachten: das ist Coriolan, ist der vollendete Typus des -Adelsideals, es ist nicht, nicht ganz und gar Shakespeare. Wir haben -in dem schimmernden Ritterkönig Heinrich V. eine nach Gesinnung -und Stellung ähnliche Gestalt gesehen, der Shakespeares Bewunderung und -Wunsch freilich wohl auch am nächsten stand; aber aus Sehnsucht -- für -sich und die Menschheit -- baut der Dichter die Gestalten, an denen -sein Herz hängt und die uns zu Mahnern aus großer Zeit, zu Führern oder -zum Ziele auf unserm Wege zu werden vermögen; er baut damit auch an -seinem Leben, seiner Wandlung, seinem Sichfinden; was alles jedoch in -der Unendlichkeit der Vorwelt und Umwelt hat schon früher entscheidend -an ihm, dem Menschen, der so dichtet, gebaut? So lebt in Shakespeare -auch schon das Neue, die Gärung, die Zersetzung; sonst hätte er nie -einen Hamlet schreiben können, die Tragödie dieses Prinzen, der die -gesunkene und in Stücke gebrochene Ordnungswelt weder einzurenken noch -zu lenken vermag, sie aber, gleich uns andern Plebejern, drunten oder -abseits scharf und erschütternd kritisieren muß und darf. - -Shakespeares Kunst -- o nein, das ist nicht bloß Kunst, die -unvergleichliche Größe seiner Persönlichkeit ist, daß er jedesmal in -jedem Drama um seinen Helden herum eine solche Sphäre der Sicherheit, -eine so weltweite Atmosphäre, die von seinem, dieses Helden Wesen ganz -gesättigt ist, legt, daß wir lange keinen andern Atem schöpfen als die -Luft dieses Wesens. In der Welt Coriolans vergessen wir alles, was -heutigen Tags auch noch solche Namen führt wie Adel, Herrenkaste, -Kriegertum, Staat; wir vergessen, daß inzwischen die Auflösung, die -Coriolan bekämpft hat, so Herr geworden ist, daß sie Besitz von allen, -auch von unsern Hirnen ergriffen hat; wir vergessen, daß heutigen Tags -die Losungen, die einstmals bindende und im Keil vorwärts führende -Wahrheit gewesen sind, wir vergessen, daß dieser herrliche Wahn -inzwischen zu Gewaltdruck, Gierverkleidung und Lüge geworden ist; -wir vergessen die Durchgangszeit, welche die unsre ist; vergessen, -daß wir so auseinandergefallen, so in Rückfall geraten sind, daß -unsre Verneinungen das einzig Positive sind, das wir haben, und daß -darum kein Staat uns mehr einen Geist, dem wir uns fügen, vorstellt, -der irgend ein Ziel gegen das Wohl der einzelnen verfolgt; wir -vergessen die Zeit und den Tag; all das Trompetengeschmetter, all der -soldatisch-kriegerische Adel jener Welt ist uns nicht eine Erinnerung -an Äußerliches, das heute in der Welt just noch ein bißchen herrschen -will und bei seinem gewaltigen Todesgetöse sich mit den heiligen -Worten und Geschmeiden längst vergangener wahrer Geltung ziert: diese -aggressive Lust ist uns ein Sinnbild alles Großen, Gebietenden, -Tapfern, Edeln in unsern Seelen, das sich inzwischen in ganz andern -Gebieten angesiedelt hat, so daß es geschehen mag, daß unser Herz bei -Coriolans Kriegsrufen jauchzt, weil dabei die Saiten mitschwingen, -auf denen wir bereit sind, tapfer in starken Tönen das Lied von der -Friedensordnung der Menschheit und der endgültigen Vernichtung aller -feudalen Reste zu spielen. - -So bannt uns Shakespeare in den Geist hinein, der sein Drama vom -Helden aus erfüllt, und wenn wir ganz drin sind, kann es kommen, kommt -es auch bei diesem Stück, daß irgendwo drunten eine ganz andre, eine -entgegengesetzte Gesinnung und Menschenart so erschütternd für einen -Augenblick ihre Lage und ihre Seele ausspricht, daß über all unsrer -ruhig-gesicherten Festigkeit wieder wogend die Allseitigkeit, die -Beidseitigkeit, der Übergang und die Auflösung zusammenschlägt. Und -sehen wir uns dann, wenn auf einen stolzen Gipfel, den der Dichter -gebaut hat, ein Gipfelchen fast mitleidig und verachtend herabblickt, -das auch dieser Dichter gebaut hat und das er auch gelten lassen -will, sehen wir uns nach diesem Dichter dann nochmals um und wollen -versuchen, den Dramatiker, der so erstaunlich gerecht zu sein vermag, -zu verstehen, so wissen wir nicht, ob wir diese Gabe harte Stärke oder -weiche Schmiegsamkeit nennen sollen; es wird eine weiche, wandelbare, -allem leicht hingegebene und von allem gefärbte Seele sein, der die -Ausdrucksgewalt eines starken Geistes dient. - -Einer aus dem Herrengeschlecht und der Kriegerkaste also ist der Mann, -der Coriolan heißen wird; er hat die Eigenschaften, um derentwillen er -sich und seinesgleichen als Geschlecht der Regierenden berufen fühlt, -die typischen Eigenschaften, die ihn zum Führenden bestimmen; dazu aber -noch die besonderen, die ihn zum tragischen Sturze bringen. - -Die Bürger und Volkstribunen, die von ihm reden, haben die -Allgemeinempfindung, daß er ihnen unerträglich zur Last sei; „er hat -der Fehler mehr als zuviel“, ruft einer, als man ihn auffordert, sie -zu nennen; er weiß ihrer keinen als immer den einen: Stolz. Das merkt -jeder gleich: stolz über die Maßen ist dieser Mann. Ja, das ist er; -aber er hat auch die nötige Ergänzung: einen Stolz, der kein Lob hören -kann, der bescheiden ist; denn den Stolz und seinen Grund hält Coriolan -für Eigenschaften jedes echten Menschen; eine Sprödigkeit hat er, die -mädchenhaft ist wie die Cordelias, der Adelstochter. - -Und ein andrer Bürger, der ihm wohlgesinnt ist, erwidert ein -nachdenkliches Wort: - - Was ihm nun einmal so im Blut liegt, daraus macht - ihr ihm ein Laster. - -~What he cannot help in his nature~...: er ist nichts -Nachträgliches, nichts Aufgeklebtes, dieser Stolz, ist kein -Zierat: er kann’s nicht ändern, es ist so seine Natur: seine -Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit. Er ist, wie er öfter von -Freunden und Bewunderern angeredet wird, „ein edles Blut“. - -Im Krieg, der in der Zeit des Rittertums, in der wir hier stehen, -ein anderes Ding war, als was sich heute in der Zeit der Technik so -nennt, zeigt sich sein Adel besonders. Er kann befehlen und Menschen in -Mengen in Kampf und Tod treiben, er kann die Plebejer als feige Memmen -verachten, weil er selbst jeden Augenblick, von nichts getrieben als -von seiner Tapferkeit, die ihm Natur ist, bereit ist, das Leben fürs -Vaterland zu wagen. - -Allein, ohne daß die Truppen ihm folgen, und ohne daß er fragt, ob sie -ihm folgen, dringt er den Feinden nach in die Festung Corioli; das Tor -wird hinter ihm geschlossen, aber er, allein unter Feinden, schlägt -sich durch und hält sich, bis die andern nachkommen. Und er ist kein -homerischer Held, an dessen Seite unsichtbar oder sichtbar in der -größten Gefahr die Götter kämpfen; kein Siegfried, der von Drachenblut -eine unverwundbare Hornhaut hat; es geht alles ganz menschlich zu: -er ist ein Held von Natur, der die Kultur und die Gesinnung seiner -Natur hat. Wenn er nicht von Zorn und Heftigkeit, die seine Erbfehler -sind, übermannt ist, hat er etwas sehr angenehm Urbanes an sich; sein -Heldentum hat gar nichts ländlich Ungeschlachtes, Raufboldiges, sein -Kämpfen steht immer mit seiner Gesinnung in Verbindung; immer lebt die -Urbs, die Stadt Rom in ihm. - -Wie er dann seine Soldaten in kurzer, feuriger Ansprache auffordert, -ihm in den Kampf zu folgen, da faßt er wohlgesetzt zusammen, was sein -ritterliches Wesen ausmacht. Der soll ihm folgen, - - der glaubt, - Ein edler Tod wieg’ auf ein ruhmlos Leben - Und höher hält sein Vaterland als sich. - -Man fürchtet wohl manchmal, solche Gesinnung der Todbereitschaft, -der völligen Unterordnung der Person unter ein überindividuelles -Gebilde, unter eine Zusammenraffung, einen schimmernden Namen wie die -Nation, raube dem Menschen die Individualität und mache ihn zu einem -bloßen Teilchen. Mag sein, daß die Zeiten sich geändert haben: noch -wahrscheinlicher, daß es Ausnahmemenschen und Dutzendmenschen allezeit -gegeben hat und daß man gar wohl zwischen dem inneren Zwang, der -Freiheit ist, Freiheit nicht nur der eigenen Entscheidung, sondern auch -des Denkens, und jener kläglichen Unterordnung unter eine von Jugend -auf eingetrichterte Losung unterscheiden muß, die mit Unfähigkeit -zu eigenem Denken und eigener Entscheidung und mit Unkenntnis der -Tatsachen, mit abergläubischer Geducktheit und dem Schlendrian des -unabänderlichen Heute wie immer in genauer Verbindung steht. Coriolan -jedenfalls zieht seine tapfere Todesverachtung im Gegenteil aus -seinem stolzen, eifersüchtigen Individualismus. Ganz wirft er, wenn’s -sein soll, das Leben hin, gerade weil er, solange er lebt, auf seine -Selbständigkeit und Eigenheit bedacht ist, so sehr, daß er einen Zug -seines Wesens bezeichnet, wenn er einmal ausruft: - - Ich wäre lieber Knecht nach meiner Art - Als Herr mit ihnen nach der ihren. - -Aufgerufen sein, frei über sein Leben zu verfügen, kann nur der Freie. -Aber das ist ein sehr kompliziertes Verhältnis, diese Beziehung des -Individuums zur Gemeinschaft, wo man dem Ganzen nur richtig dient, -wenn man ganz ein eigenes Selbst, wenn man ein Ganzer ist; und wo man -wiederum ein Eigener nur ist, wenn man ganz in der Sache aufgeht, -unverbrüchlich sachlich ist; und sachlich heißt: hingegeben bis zur -Vernichtung. - -Coriolan weiß das, weiß, daß durch ihn hindurch die Sache wirkt; daß -sie aber den Weg durch ihn nur recht nimmt, wenn er zusammengerafft, -abgesondert, stolz er selbst ist; ist aber dann die Tat, die die Sache -gewollt und durch ihn getan hat, vorbei, will der Gedanke, das Wort, -die Lobrede sie an ihn, der das erkorene Werkzeug war, ankleben, dann -empfindet er das, als nehme man ihn nicht für voll, als halte man es -doch für eine Art Zufall, was er getan und was er am Ende auch hätte -lassen können; als rühre man seine tiefe Verbundenheit mit der Sache -auseinander; er wird rot, er läuft weg: - - Eh’r lass’ ich mir den Kopf kraun an der Sonne, - Wenn man zum Angriff bläst, als müßig hören, - Wie man mein Nichts zum Wunder schwellt. - -Lohn oder besondern Anteil an der Beute schlägt er aus; nichts der Art -freut ihn; das aber erquickt ihn, daß seine Tat ihm einen Namen gemacht -hat und daß er jetzt zugleich nach sich und der Sache heißt, Cajus -Marcius nicht mehr allein, sondern Cajus Marcius Coriolanus. - -Seine Verachtung gegen die Plebejer hängt auch zusammen mit der -Abneigung seiner Natur gegen jeden Schachersinn, jede Kleinlichkeit -und Erwerbsgier. Zumal, wenn dieser niedrige Erwerbssinn sich auf -dem Gebiet der Ritterlichkeit, im Kriege zeigt, wenn die römischen -Plebejer, als Soldaten nur wie maskiert, den Kampf unterbrechen, um -gierig Beute zu machen, bricht sein Zorn los. - - Die Beute stieß er weg - Und sah auf Kleinodien, als wären sie - Verworfner Unrat. Weniger begehrt er, - Als Geiz selbst gäbe; Lohn genug der Tat - Hat er am Tun... - -Die Senatoren, der Konsul Cominius, der kluge Menenius Agrippa, sie -alle da oben sind ganz seiner Gesinnung; aber sie haben nicht seine -unnachgiebige Natur; sie sehen, wie die Zeiten sich gewandelt haben, -sehen wohl gar ein gewisses Recht auch auf der andern Seite, so sind -sie politisch, bedächtig, manchmal fast -- so dünkt es ihn -- feige. - -Er aber -- seine Mutter sagt es, die ihn am besten kennt, weil sie ihm -am meisten gleicht --, er will und muß die soldatisch kriegerischen -Tugenden auch auf die Dinge des Friedens, der Politik übertragen; er -ist immer geradeheraus, offen, rücksichtslos: - - Sein Wesen ist zu edel für die Welt, - -meint der alte Menenius, - - Sein Herz ist auch sein Mund, - Was seine Brust denkt, sagt die Zung’ heraus, - Und aufgebracht vergißt er, daß er je - Den Namen Tod gehört. - -Im Kampf ist er sofort der Führer, weil er eben der Vorderste ist; er -ist von Natur der Fürst, wie eins die erste Zahl ist, aus der sich -alle andern kumulieren; und wie der First das Oberste vom Haus ist, -weil er nicht drunten sein kann, so ist er der Oberst, wenn’s auf -tapfre Tat ankommt; er denkt gar nicht daran, ob man ihn auch formell -zum Feldherrn ernannt hat. So hat er im Krieg gegen die Volsker seine -Vorgesetzten und ehrt sie; wo’s aber das Einsetzen der Person gilt, -da ist er der erste, gleichviel, welchen Titel er führt und wo er zu -Anfang stand. - -Daß das aber so ist, daß die andern, die zu ihm gehören und -seinesgleichen sein sollten, es nicht sind, das weiß er wohl; er kann -es nicht übersehen; sachlich ist er bescheiden, unsachlich wüßte er -nicht, warum, und zeigt den ungescheutesten Stolz und Anspruch. Er -weiß, daß er der Edelste in Rom ist; er ist der echte Vertreter des -jetzt bedrohten Adels, er ist der berufene Führer der Gemeinschaft. -Gar keinen unedeln, persönlichen Trieb hat er, wenn er in großartiger -Haltung und Selbstverständlichkeit sich seiner Aufgabe nicht entziehen -und also Consul der Republik werden will. - -Und da fängt er an, sich selbst untreu zu werden, sich gegen seine -Natur zu vergehen. Die Situation ist so, daß seine Natur die Stellung, -die sie zu ihrem Wirken in der Welt braucht, nur erlangen kann, -wenn sie nicht ist, was sie ist. Für ihn, der keine Anpassung, keine -Klugheit und Berechnung kennt, gibt es den Grundsatz nicht: Der Zweck -heiligt die Mittel. Womit gesagt ist: er ist kein Politiker, wie es -sein alter Freund Menenius Agrippa, wie es auch seine starkgeistige -Mutter Volumnia ist, die es in einer andern Mischung der Gaben vermag, -hoheitsvoll und doch klug zu sein. - -Der Consul muß gewählt werden, und der Kandidat hat ein gewisses -Zeremoniell zu erfüllen. Unter äußerster Selbstüberwindung fügt er -sich dem Brauch, die Bürger um ihre Stimmen zu bitten, ihnen gar -seine Narben zu zeigen; denn nur der kann Consul werden in diesem -Kriegerstaat, der dem Vaterland im Krieg mit persönlicher Tapferkeit -gedient hat; und wer’s werden will, muß sich persönlich zu dem Volk -bemühen, das auch einmal etwas vom Herrentum schmecken will. Sein -Werben aber, seine Wahlreden klingen mehr wie knirschender Hohn als wie -ein demütiges Bitten. - -Zwei stehen ihm immerzu gegenüber, deren persönliche Berufung so -wenig wie ihre Amtsbefugnis er anzuerkennen vermag; die beiden -Volkstribunen, die der Individualisierungskünstler Shakespeare genau -so ununterscheidbar paarweise auftreten läßt, wie Rosenkranz und -Güldenstern, die Höflinge mit den deutschen Namen, im Hamlet; und beide -Male zeigt dieses Verhältnis des Einzigen zum Paarigen die Stellung -des Genies gegenüber der Herde: denn Coriolan ist ein Genie der Tat, -wie Hamlet eines der grübelnd bohrenden Phantasie; alle beide sind -Repräsentanten der Vornehmheit, der adligen Seele, die in dieser Welt -vereinsamt ist. - -Wie aber Hamlet bei all der Vornehmheit seiner Natur mit Polemik, -Bosheit, derbem oder stechendem Witz, hie und da sogar mit Zoten gegen -die Welt reagieren muß, so kocht es in Coriolans adliger Seele immer -über, und wenn er nach Rom auf die Straßen muß, läuft er mit rotem -Kopf und Zorn herum. Er ist grob und er schimpft über die Maßen. Wie -die andern Patrizier sich nur so anpassen können, begreift er nicht. Da -fehlt es in Rom an Korn, die Plebejer treten in Aufruhr und geben den -Patriziern die Schuld. Menenius Agrippa ist erfolgreich daran, sie mit -einer sinnreichen Parabel zu beruhigen; er redet dabei recht vorsichtig -und in liebevollem Ton mit ihnen, nennt sie Landsleute, Bürger, -Nachbarn, liebe Freunde; daß er freilich innerlich nicht anders über -sie denkt wie Marcius, merkt man in dem Augenblick, wo er den Schritt -des Kühnen auf dem Pflaster hört; da fängt er auf einmal an, mit Wicht -und Lumpenhund um sich zu werfen. Nicht zu leugnen, daß das der Ton -ist, auf den Cajus Marcius seit langem seinen Umgang mit den Leuten -gestimmt hat. Er fühlt sich gehaßt, und er macht es nicht wie jener -General, der nach der Besichtigung und Kritik sich von den stumm sich -verbeugenden Offizieren mit den Worten verabschiedet: „Mich auch“ -- er -redet deutlicher. „Hängt sie!“ hat er sich so als Redensart angewöhnt, -wie andre „Na ja“ sagen; und im übrigen nennt er sie Hunde. Fast das -Herz will es ihm brechen, wie man, um ihren Aufruhr zu unterdrücken, -ihnen eine ihrer Hauptforderungen zugesteht und ihnen die Volkstribunen -bewilligt, die sie als Vertreter ihrer Interessen selbst wählen dürfen. -Fünf sind sie an Zahl; der kluge Dichter läßt immer nur das Paar -auftreten. - -Mit dieser neuen Einrichtung ist ihm das Vaterland und die alte -Verfassung entscheidend von innen bedroht. Aber wie er so herumläuft -und wütet, bekommen wir den Eindruck: gäb’s keine triftigen Gründe -für seinen Zorn, er müßte sie sich schaffen, solange sich seiner -Angriffslust kein Ziel bietet; er braucht die große Tat; der Krieg um -Corioli war darum wie eine Erlösung für ihn. Wie er nun das Vaterland -gerettet hat und als Coriolanus, mit dem Eichenkranz gekrönt, -zurückkehrt, da merkt auch das römische Volk, da merken selbst seine -ärgsten Feinde, daß das nicht der eigentliche Marcius war, der Mann, -der wie ein ärgerlicher Wüterich, wie ein nach Taten hungriger Wolf mit -starken Schritten zornig über ihre Straßen gegangen war. Jetzt tritt er -auf, wie einer der Volkstribunen zugestehn muß, - - Als hätt’ der Gott, sein Lenker, wer’s auch sei, - Sich leis’ in seine Menschheit eingeschlichen - Und gäb’ ihm edle Hoheit. - -Und wie nun das römische Volk, das von furchtbaren Ängsten befreit -ist, in ihm nicht mehr den Feind, sondern den Retter und berufenen -Führer erblickt, wie sie ihn als ihren populärsten Mann beim Einzug -umjubeln, davon, da solche Szene in ihrem innern Wert auf der Bühne -nicht sichtbar zu machen ist und da Shakespeare aus äußerlichem Theater -sich nichts macht, erhalten wir eine Beschreibung aus dem Munde des -neidischen Ärgers. Der Volkstribun berichtet: - - ... Die geschwätz’ge Amme - In Seelentzückung läßt den Säugling schrein - Und schnakt von ihm; die Küchenschlampe steckt - Den besten Fetzen um den rußigen Hals - Und klettert auf den Wall, ihn zu begucken; - Gestopft sind Buden, Erker, Fenster; Giebel - Und Dach von allerlei Gestalt beritten... - -Und in diesem über alles günstigen Augenblick soll Coriolan Consul -werden; der Feind draußen ist besiegt, Rom ist gesichert; nun soll, -wenn’s nach seinem Willen geht, der alte Zustand wiederhergestellt -werden, sollen die Patrizier ungeschmälert das Amt ausüben, zu dem -sie berufen sind. Der Senat versammelt sich in feierlicher Sitzung; -den Bericht über seine Taten, den der alte Consul zu erstatten hat -und der -- Coriolan weiß es -- eine Lobrede werden muß, kann er nicht -anhören und läuft weg; wie er dann aber wiederkommt und der Senat ihm -die einzige Ehre erweist, die für ihn eine ist, und ihn zum Consul -ernennt, nimmt er hochgemut an. Hier steht er vor seinesgleichen, ein -stolzer Mann, der so fröhlich sein könnte, wenn die Zeiten danach -wären; und warum soll der Senat in diesem Augenblick nicht das Rechte -tun, damit alles gut wird? Da bittet er herzhaft: ihr habt mich nun zum -Consul gemacht; die Bettelei beim Volk ist ein schnöder Brauch ohne -Bedeutung; erspart mir’s! Das, einen Brauch aufzugeben, hätte auch -in andern Zeiten schwer gehalten; jetzt aber sind die Volksvertreter -da, die ihre neue Macht zeigen wollen; der Brauch soll mit einem -Mal verhaßte Bedeutung gewinnen; der Consul soll nunmehr vom Senat -vorgeschlagen, vom Volk aber in vollem Ernst gewählt werden. So muß er -sich nicht nur dem Brauch fügen, der Brauch soll parteimäßig ausgenutzt -werden; schon organisieren und bearbeiten die Tribunen ihre Truppen und -lauern auf die Gelegenheit, ihn zu Fall zu bringen. - -So muß er sich, da er sein Ziel erreichen will, zu einer Komödie -bequemen, die ganz gegen seine Natur geht und für ihn Erniedrigung -ist. Er könnte es nie auch nur versuchen, wenn’s die neue Einrichtung -wäre; aber zunächst sind’s die Formen des alten Brauchs. Trüppchenweise -stehn die Bürger beisammen; jedem soll er sein Verdienst nennen -und seine Wunden weisen. Er versucht’s; es wird die sonderbarste -Bewerbung, die Rom je gesehen hat; in ihm kämpfen Wut, Lachen und -stolzes Aufbäumen. Was ihn hergebracht habe? fragt da so einer. Mein -eignes Verdienst! gibt er zur Antwort und fügt hinzu: Soll ich denn -etwa arme Leute anbetteln? Seine Wunden verspricht er zu zeigen, -wenn er mit dem einen oder andern einmal allein ist. Und dann geht -er weiter und knirscht etwas von Almosen zwischen den Zähnen. Die -Bürgersleute sind so bestürzt und stehn zugleich noch so unter dem -Eindruck seiner Rettertat, daß sie ihm -- es ist ja keine Wahl -zwischen mehreren, ist ja ein Zeremoniell -- die Stimmen eben geben; -schon darf er sich für den Consul halten; da kommen die Tribunen -dazwischen. Nichtwählen, einen andern wählen, das war nicht möglich; -diese Einrichtung, solches Volksrecht besteht nicht; aber jetzt, wo -die Bürger mit ihren Klagen kommen, wie sie behandelt wurden, läßt -sich alles noch wenden: das Staunen und die beleidigten Gefühle werden -demagogisch zur Wut zusammengeballt, werden von den alten Glatzköpfen, -den politischen Volkstribunen gegängelt; tumultuarisch protestiert -das Volk gegen die Wahl, nimmt sie zurück; und es kommt zunächst zu -dem großen Zusammenstoß zwischen Coriolan und den Tribunen. Die ganze -Aufruhrstimmung, die durch die Einsetzung der Volksvertreter und dann -durch den Krieg gedämpft worden war, lebt wieder auf, Coriolan spricht -rückhaltlos, leidenschaftlich seine Meinung, seine Absichten aus, und -keiner der klug bedenkenden Adligen tritt ihm zur Seite. Für ihn aber -geht’s nun gar nicht mehr um den neuen Konflikt; er will gründlich -Wandel schaffen, er wühlt das Alte wieder auf, die neue Einrichtung -besteht ihm nicht zu Recht, das echte Rom ist ihm in seinem edeln -Kern bedroht. Im Aufruhr sind die Tribunen eingesetzt worden; jetzt -ist bessre Zeit, ruft er auf dem Marktplatz aus, jetzt muß ihre -Macht wieder zertrümmert werden. Die Situation ist die, daß in dem -Augenblick, wo es gälte, eine sehr demagogische und in ihrem Recht -zweifelhafte, wiewohl von Coriolan herausfordernd ermöglichte Anwendung -der neuen Macht der Tribunen abzuwenden, Coriolan Öl ins Feuer gießt -und, was die Revolution errungen und der Senat bestätigt hatte, nach -siegreichem Krieg durch eine Gegenrevolution wieder abzuschaffen -vorschlägt. So sieht es aus; er aber platzt damit ganz als einzelner, -in der schwierigsten Lage, in der er schon sowieso ist, ohne Verbindung -mit seinen Standes- und Parteigenossen heraus. Er steht ganz allein; -und nun soll er auf Befehl der Volkstribunen, da er sie in ihrem Amt -angetastet und zum Staatsstreich aufgerufen hat, verhaftet werden, -er soll, nach dem alten Recht, als Hochverräter behandelt werden. -Freilich ist die Situation gänzlich neu, anständigerweise könnte das -alte Recht hier nicht angewandt werden; aber die Volkstribunen haben -ja die Szene mit demagogischen Künsten vorbereitet; sie haben ja -Coriolans Zorn und Heftigkeit im voraus in ihre Rechnung gestellt, -sie haben gehetzt und geschürt, und es ist noch viel besser für sie -gekommen, als sie erwarten konnten; nun wollen sie den Moment eiligst -ausnutzen: Coriolan, eben noch der Held und Retter, soll als Feind des -Vaterlands, als Volksfeind vom Tarpejischen Felsen gestürzt werden. Es -sind welche unter den Patriziern, die ganz wie er denken, die ihn im -stillen bewundern; aber keiner will jetzt den Kampf, zu dem Coriolan -mit gezogenem Schwert herausfordert; das Höchste, was sie für ihn tun -können, ist, daß sie ihm zur Flucht in sein Haus verhelfen und nun -allseitig zu begütigen, zu vermitteln versuchen. - -Und nun kommt es, auf einer viel höheren Stufe, in einer weit -gefährlicheren Lage, zu demselben Versuch Coriolans noch einmal, seine -Natur zu vergewaltigen. Die Mutter, die im Innern ganz zu ihm steht, -ihn bewundert und seine Gesinnung völlig teilt, eine Frau, tapfer wie -ein Mann und klug wie eine Römerin, die den Taten der Männer und ihrem -Treiben lange zugesehen hat, überredet ihn, sich zu verstellen und -gute Worte zu geben. Um der Sache willen soll er es tun. Die Szene, -in der ihr dem Festen, Geraden, Tapfern, Zornerfüllten gegenüber -diese unglaubliche und äußerste Umstimmung für den Augenblick des -Entschlusses gelingt, ist so groß, daß auch wir überzeugt werden: ja, -er darf es tun, er vergibt sich nichts. - -Wie baut sie sich auf, diese Szene! Coriolan hat schon mit der -Mutter geredet und ist zu seinem Staunen bei ihr auf Kummer und -Unzufriedenheit gestoßen. Jetzt kommt sie wiederum zu ihm; kaum im -Glauben, daß noch zu helfen sei, aber mit Entschluß gewappnet, ihr -Ganzes aufzubieten. Das ist ihr Kummer: was er toll in die Welt gerufen -hat, hätte er tun sollen, und dazu hätte er die Macht gebraucht, und -darum hätte er jetzt schweigen sollen! - -Und eminent reif ist, was sie dem Wilden sagt: - - Ihr konntet ganz der Mann sein, der Ihr seid, - Bei mindrem Eifer, es zu sein. - -Wie es überaus klug und doch schon leicht greisenhaft drollig ist, wenn -der gute Menenius, der dazukommt, meint: - - Nun, nun, Ihr wart zu rauh, etwas zu rauh; - Kehrt um und macht es gut. - -Daß die Sache besser nicht geschehen wäre, sieht Coriolan allenfalls -ein, aber es ist eben so gekommen, und er weiß nichts andres, als -sich dreinzufinden; hängt sie! Nun, wenn der Mann nur erst einsieht, -daß etwas besser hätte gemacht werden können; den Weg, es wieder -gutzumachen, wird die Frau schon finden. So geht sie einen kühnen -Schritt weiter in der Klugheit und erinnert ihn daran, wie er selbst -auf dem Gebiet seiner Meisterschaft immer gesagt habe, die Kriegslist -sei erlaubt. Warum nicht auch die List im Frieden? Und nun nimmt sie -ihn ganz als ihr Kind, das sie zu unterrichten hat, und gibt ihm genaue -Unterweisung, bis auf Gebärden und Mienen, wie er um Verzeihung zu -bitten habe. Menenius ist ganz entzückt; er kostet gern voraus, der -Psycholog und Feinschmecker; er kennt doch seine Römer; nichts macht -sie glücklicher, als wenn man bittender Weise zu ihnen spricht; und nun -gar, wenn Coriolan, der ihr Kriegsheld und ihr Schimpfheld ist, sich -vor ihnen demütigt! Coriolan steht schweigend da und kämpft den letzten -Kampf mit sich; sein Verstand ist überzeugt. Und wie dann Cominius dazu -kommt und die Gefahr schildert, und wie die andern zu dem reden, als -sei Coriolan schon gefügig, und wie Cominius zeigt, daß er an diese -Möglichkeit nie geglaubt, nie gedacht hätte, da gibt Coriolan gerade -nach; er sieht ein, er ist hier der Vertreter der guten Sache; damit -er tun kann, was er geredet hat, muß er seine Rede zurücknehmen. - - Wohl, ich tu’s. - Wär’ nur dies Stück Mensch hier bedroht, der Kloß, - Der Marcius heißt, sie möchten mich zerreiben - Und in die Winde streu’n. - -Aber die Sache will’s, und so preßt er sich zusammen und will das -Unmögliche vollbringen. - -Aber es graut uns, wenn wir mit ansehen, was es ihn kostet, wie er sich -quält und sich krümmt und sich beschimpft und im ehrlichen Versuch, das -Allerschwerste einzustudieren, fast groteske Gesichter schneidet; wie -er schließlich nur noch als folgsames Kind zur Mutter redet: - - Sei ruhig, Mutter. - Ich geh’ schon auf den Markt; schilt nicht mehr, Mutter. - -Und nun, in schneidendster Kürze die furchtbare Wendung. Wie hat sie -bitten, beschwören, begründen können, wie hat sie die ganze Autorität -einer römischen Mutter geltend gemacht, solange er ungebärdig vor ihr -stand, als einer, der die große Sache seines Lebens verdorben hatte, -so daß sie nichts mehr vor sich sah als dies eine Mittel. Schimpfliche -Verstellung und Demütigung für einen Augenblick; nun sei’s drum! Der -Verstand ist so gern bereit, zum Letzten hinzustreben und aus einem -Berg, der dazwischen trotzt, eine Stufe zu machen. Aber jetzt, wo er -ganz nachgibt und gar nicht mehr widerstrebt, empfindet sie ein solches -Leid in ihm, daß sie innerlich zusammenbricht und an alles nicht mehr -glaubt, was sie gesagt hat. Sie kennt doch ihren Sohn! Weiß, wie es -ist, wie es wird, wenn er sich Gewalt antut. Sie kann nichts mehr -sagen: „Tu, was du willst“, bringt sie noch heraus und geht. - -Sie sieht in der Einsamkeit, in die sie sich zurückzieht, gewiß voraus, -was nun auf dem Marktplatz der Männer vor sich geht. Inzwischen haben -die Volkstribunen nicht geruht, haben die Zünfte organisiert, um -ihren nun bevorstehenden endgültigen Richterspruch zu einmütiger -Annahme und sofortiger Vollstreckung zu bringen. Es soll Coriolan, -dem Volksverächter, den Hals kosten, und das Mittel, jede freundliche -Wendung zu verhindern, kennen die Gewitzten: ihr Feind hat dafür -gesorgt, daß seine schwache Stelle nicht unbekannt blieb: - - Reizt ihn sogleich zum Zorn... - ... Braust er erst auf, - So bringt ihn nichts zur Mäßigung. - -Coriolan kommt, von den Getreuen geleitet; sehr unruhig redet Menenius -immer auf ihn ein, vor allem ruhig zu sein. Er kommt denn auch ganz -in der beschlossenen Haltung sanfter Nachgiebigkeit. Wenn nur der -wohlmeinende alte Menenius, um’s vollends gutzumachen, nicht anfinge, -von seinen Heldentaten und Wunden zu den Bürgern zu reden! Da kommt -doch sofort der Zorn wieder über ihn; vor denen da, jetzt, davon -Rühmens machen! Wenn nur überhaupt Augen und Ohren nicht wären! Aber -was nützt aller Vorsatz des Verstandes, wenn diese Volkstribunen auf -seine Sinne wirken, wenn er sie nicht riechen kann? Und schon richtet -er sich auf und stellt sie zur Rede: Was? ihn erst zum Consul wählen -und ihm dann das Amt nehmen? Das ist aber nur ein Augenblick des -Vergessens; sowie ihm bedeutet wird, er habe jetzt Rede zu stehen, fügt -er sich wieder in die vorgesetzte Rolle. Und so beginnt die Anklage -gegen ihn; und er hört das Wort Verräter. Da geht es ihm genau wie -Sir Launcelot in Malorys englischem Artusroman; wie hat der seinen -König schonen und sogar feig scheinen können, der Held; aber sowie -er das Wort Verräter hört, muß er sich wappnen und kämpfen. Coriolan -wollte mild, versöhnlich, bittender Weise reden; aber nun ist’s aus. -Er hat sich ja nicht vorgestellt, wie es sein wird. Sagen hätte er -schließlich alles gekonnt, sich selber zwingen; aber mit anhören, sich -gefallen lassen? Ein Edler geht, ohne Fesseln, freiwillig, in Ruhe und -Fügsamkeit zum Schaffot; aber wenn ihm der Henker die Hand auf die -Schulter legt, zuckt er. Jetzt schreit Coriolan alles, alles hinaus; -und die Erinnerung an das Versprechen, das er der Mutter gegeben hat, -hilft nun nichts mehr. Das Wort Verräter in den Ohren zu haben, diese -Gesellen als Richter vor sich zu haben, reißt alle Dämme ein; er bricht -aufs furchtbarste los: - - Ich will nichts weiter wissen. - Ihr Urteil sei Tod vom Tarpejischen Felsen, - Landflüchtig Elend, Schinden, Qual im Kerker, - Bei einem Korn des Tags, -- nicht wollt’ ich mir - Erkaufen ihre Gnade um ein gut Wort - Noch hemmen meinen Trotz um all ihr Gut, - Kriegt ich’s um einen Gruß zum guten Morgen. - -Nein, er ist nicht der Mann dazu, jetzt ist nicht die Zeit dazu, -planvoll zu leben; es gilt nur der Augenblick. Wer ein Ganzer ist, kann -nicht an der einen Stelle einen Lenker, einen Vergewaltiger haben, -der den andern in ihm mit Prinzipien und Vorsätzen beim Kragen nimmt -und vorwärts schiebt. Das Vaterland ist zerrissen; nicht mehr ein -einiger Stand herrscht, sondern Parteien mit ihrem Geschwätz ringen -mit einander. Er allein ist noch ein Ganzer; er ist allein: ihn, den -man Verräter zu nennen wagt, hat man verraten, als man dem Aufruhr -nachgegeben hat. - -So wird ihm denn das Urteil gesprochen, diesmal nicht tobend gebrüllt, -sondern in politischer Erwägung vorbereitet: Verbannung. Er aber -steht, fortgerissen vom Zorn, von einem Zorn aber, der in nichts aus -den Gierwünschen einer Person, der nur aus einer Gesinnung hervorgeht, -fortgerissen und unerschüttert da. Bei diesem Anblick, empfinde ich, -geht es uns gar nicht mehr um den großen geschichtlichen Moment, um -den entscheidenden politischen Gegensatz, noch weniger um politische -Analogien zwischen damals und heute, die falsch wären; es geht um den -ewigen Streit der vereinzelten tapfern Hoheit gegen die massenhafte -Niedrigkeit, der so alt ist wie die Welt steht. Unser Herz jauchzt -bei seiner herrlich kühnen Antwort, wir begreifen wie zum ersten Mal, -daß für gewisse Augenblicke der liebe Gott unsrer Zunge die Fülle -der Schimpfworte, die zugleich zorniger Angriff und humoristisches -Spiel, Ausgleichung der Tat und Gleichnis des Geistes sind, zur -Entladung gegeben hat, wir sind dankbar, daß Shakespeares Sprache diese -Barocküppigkeit der alles überschwemmenden Flut zur Verfügung hat; denn -dieser Katarakt Coriolans kommt doch aus einer tieferen Seelenfülle als -das Wasserleitungsplatzen des Badearztes Stockmann, des Volksfeindes -Ibsens; sie haben den Bann über ihn ausgesprochen und nun biegt er sich -langgereckt zu ihnen vor und spricht: - - Ihr bellend Hundepack! des Hauch ich hasse - Wie fauler Moore Stank,... - ich verbann’ euch! - _Hier bleibt_ mit eurem zagen Hin und Her! - Beim leisesten Gerücht beb’ euer Herz!... - Bleib euch nur stets die Macht, - Den, der euch schirmt, zu bannen, bis zuletzt - Euer stumpfer Sinn, der nicht glaubt, bis er fühlt, - Nicht einen übrig läßt als nur euch selbst, - Die eure eignen Feinde!... - -Rom, dieses Rom, ist in sich selbst gebannt; Coriolan hat das Gefühl, -nur das, was ist, ausgesprochen zu haben; und er, der einzige, der -zum echten Rom steht, um das zu leben es sich lohnt, wandert nun in -die Fremde. Er geht, und sie jauchzen hinter ihm her: Der Volksfeind -ist fort, ist fort! Verbannt haben wir unsern Feind, er ist fort! Die -Mützen fliegen in die Höhe; daß sie vor kurzem ihm als dem Befreier aus -höchster Not zugejubelt haben, wissen sie nicht mehr. - -Shakespeare wäre aber nicht Shakespeare, wenn wir das Verhältnis der -Patrizier zu den Plebejern nur von dieser einen Seite kennen lernten, -nur so, wie der Repräsentant des Patriziats, der Patrizier, wie sie -sein sollten, es auffaßt. Wohl steht der Held auch für die innere -Handlung in der Mitte; von ihm aus sind die Vorgänge gesehen, die -Geschehnisse und die Gestalten gruppiert, von ihm aus die Stimmung und -Sympathie gewoben; dann aber zuckt unten aus dem Dunkel der namenlosen -Menge einmal ein Licht auf, und wir sehen in andrer Beleuchtung die -Dinge, die Coriolan nicht sieht, und hören die uralte Klage der Armen. -Unter den Aufrührern will einer eine Rede halten und hebt zu den -Plebejern an: „Ein Wort, gute Bürger“, da ruft einer aus der Menge -grell dazwischen: „Wir gelten für arme Bürger, die Patrizier für gute!“ -Reichtum macht gut! Und die da droben wissen es auch gar wohl: unsere -Armut brauchen sie nicht bloß, weil sie Überfluß brauchen; sie brauchen -sie als Gegenstück, um ihres Selbstbewußtseins willen; sie haben die -Distanz nötig. Wären sie grade so reich, wie sie jetzt sind, gäbe es -aber dabei uns Arme nicht, was hätten sie dann von ihrem Reichtum? - - „Die Magerkeit, die uns drückt, das Bild unsres Elends ist für sie - ein Inventarium aller einzelnen Stücke ihres Überflusses; unser - Leiden ist ein Gewinn für sie.“ - -Was das Opfer leidet, das ist der Gewinn und die Wonne der andern -- -haben wir so etwas nicht schon einmal, in ganz anderm Zusammenhang -gehört? Ist das nicht der gerade in der Barockdichtung, wo das feste -Dogma seelenhaft spielerisch von der Empfindung umrankt und umjauchzt -wird, immer wiederkehrende Ausdruck für die Heilswahrheit des -Christentums? Sind nicht die Armen dieses Opferlamm und ihr Blut und -Wunden ein Hochgewinn für die Reichen? - -Aber auch abgesehen von so abgründlich feiner Psychologie, die mit -einem raschen Griff das letzte Geheimnis des Privilegs entblößt, kommen -die rein sozialen Klagen der Unterdrückten so stark heraus, daß wir -wieder einmal merken: so ein Dramatiker sieht und empfindet zweiseitig; -würde er von allem Anfang an und immer Licht und Schatten gerecht -verteilen, so wäre es nicht im entferntesten so berückend als wie -er’s macht: mit ganzer Inbrunst, wie ein tief Befangener, der einen -Seite verschrieben, und dann, mit einem Mal, und nur immer für einen -Augenblick, drüben, drunten, bei den andern. - -Als Menenius Agrippa die Plebejer besänftigt und ihnen sagt, wie -wohlwollend die Patrizier Sorge für sie tragen, da erwidert einer -aus dem Volk in Worten, -- nun, der Zensor behütet uns heute davor, -entsprechende zu lesen oder zu vernehmen: - - „Für uns Sorge tragen! -- Ja, fürwahr! -- Sie haben noch niemals - für uns gesorgt: sie leiden es, daß wir verhungern, wenn ihre - Speicher vollgepfropft sind von Getreide; geben Gesetze wegen des - Wuchers, mit denen sie den Wucherern auf die Sprünge helfen; heben - täglich eine heilsame Einrichtung gegen die Reichen auf und setzen - täglich mehr lästige Verordnungen fest, um die Armen zu fesseln und - zu hemmen. Wenn uns der Krieg nicht aufzehrt, so werden sie’s tun. - -- Und das ist die ganze Liebe, die sie für uns haben.“ - -Ich weiß, was ich tue, wenn ich immer wieder den Blick von der Sache -selbst auf ihren Urheber, wenn ich ihn hier von der Tragödie Coriolans -auf ihren Dichter ablenke; denn ich möchte dieses mein Staunen auf -alle, die mich hören, übertragen: woher hat der Unergründliche das -alles gewußt? Über Rom wie über unsre Zustände verrät er uns Dinge, -enthüllt er uns verborgene Zusammenhänge, die wir erst seit, erst im -Gefolge der französischen Revolution zu wissen anfangen. Und wenn -zum Beispiel Mommsen imstande war, uns ein Bild der Kämpfe zwischen -Patriziern und Plebejern zu geben, das eine gewisse Farbigkeit, -Lebendigkeit und Glaubhaftigkeit hat, so haben ihn eben die Kämpfe -der modernen Demokratie dazu in Stand gesetzt; für diesen Anblick hat -er aber ein gehöriges Lösegeld zahlen müssen: für das Wesentliche, -eben für das, was Shakespeare als Tragödie dargestellt hat, hat er -keinen Blick gehabt: er hat nicht gewußt, daß der Kriegs- und Adels- -und Herrschergeist einmal ein Amt, eine Aufgabe, eine Würde und eine -Hoheit gehabt hat; er hat die hohe Sendung, den seelischen Rang und das -gute Gewissen dieser ritterlichen Zeiten nicht gekannt; und so hat er -gräßlich banal von dem Kampf Coriolans in seiner Vaterstadt und gegen -sie liberalisierend gemeint, diese Geschichte öffne den Einblick „in -die tiefe sittliche und politische Schändlichkeit dieser ständischen -Kämpfe“. Das ist, wie wenn man das Rittertum nach den Raubrittern, -den Raubritter Götz nach dem Schinderhannes und den Schinderhannes -nach irgend einem Dutzendmenschen aus unsrer großstädtischen -Verbrecherklasse beurteilen wollte. Jakob Burckhardt und Nietzsche -haben kommen müssen, um den Zusammenhang zwischen der politischen und -sozialen und der Geistesgeschichte erst wieder herzustellen. Was sie -aber aus der Betrachtung der Renaissance, indem sie Kunst, Geist, -privates und öffentliches Leben zusammen nahmen, gelernt haben, das hat -Shakespeare der Renaissancemensch lebendig gewußt: daß, was heutigen -Tags -- auch für ihn schon genugsam heutigen Tags -- in Verfall und -Entwürdigung Rest, Gespenst und Schmach ist, einst groß, würdig, -geweiht und notwendig war. - -In der ganzen modernen Geschichte weiß ich keinen, der Shakespeares -Coriolan in dem tiefen Grunde, wo das Wesen sich aus dem Elementaren -aufbaut, so nah käme wie ein Mann, der einer der größten Revolutionäre -aller Zeiten war, der Vertreter der Plebejer, obwohl ein Mann des Adels -in jeder Hinsicht, der Graf Mirabeau, der tolle leidenschaftliche -Feuerkopf, der doch zugleich -- wie Coriolan der größte Soldat -- so -er der größte Politiker seines Volkes ist. Von äußerlichen Analogien -stimmt nichts; die Zeiten und die Lagerung der sozialen und der -psychischen Schichten zu einander haben sich geändert; die Ähnlichkeit -liegt im elementar Wesentlichen: eine Leidenschaft so starker Art, wie -sie sonst den Menschen verzerrt und verzettelt; hier aber der Ausdruck -nur der unabänderlichen Festigkeit eines Kernes; ein Temperament, wie -es sonst die persönlich Gierigen haben, hier aber Sprache und Gewand -der Gesinnung und Sachlichkeit. Die entgegengesetzte Stellung, die die -beiden zu haben scheinen, darf uns gar nicht täuschen: schon dieses -Coriolan nächster Bruder, Shakespeares Cassius, hat sich in einen -Revolutionär und zugleich Politiker gewandelt. Alle drei, Coriolan, -Cassius und Mirabeau sind innerlich und in der explosiven Art ihrer -Äußerung geeint: sie gehören, wie Mirabeau es einmal ausdrückt, -zu den „starken Seelen, welche die Freiheit im Naturzustand wild -und im zivilisierten stolz macht“, und immer wieder kommt es zu -solchen Gegensätzen ihrer stolzen Natur zur Umgebung, daß sie in den -Naturzustand zurückfallen und wild werden. Und die beiden, die hier -zusammengestellt werden, Coriolan und Mirabeau, gehen doch auch in -ihren äußeren Schicksalen einen guten Schritt zusammen; nicht bloß -die großen Menschen, auch die Zeiten und die politischen und sozialen -Zustände ändern zwar die Gewänder und Masken, bleiben sich im Kern aber -gleich. Auch Mirabeau, abgesehen davon, daß er als tief Unsittlicher -gilt -- die Heuchelei und Verbannung auf _diesem_ Gebiet ist -eine moderne Neuerung --, und daß von seiner Nötigung, die unbändige -Kraft der Seele und des Leibes in Geschlecht und Erotik zu üben und -zu verschwenden, Coriolan, der Sohn einer keuschen und harten Welt, -keinen Zug hat, auch Mirabeau ist bis auf den heutigen Tag, gerade bei -denen, deren politischer Führer er heute noch sein müßte, als Landes- -und Volksverräter, als Verräter seiner Sache in Acht und Bann getan wie -Coriolan. - -Nun aber geht die Parallele nicht weiter, denn Coriolan erlebte seine -Verbannung und sollte weiter leben. Er war ein politischer Feind der -Zustände, die die Plebejer durch Aufruhr ertrotzt und die Patrizier -in Nachgiebigkeit zugestanden hatten; er stand allein zwischen den -Parteien, niemand wagte es, in diesem Augenblick ihm zur Seite zu -treten und den Kampf aufzunehmen; und so benutzten seine Todfeinde, die -Volkstribunen, ihre Macht und verwiesen ihn als Verräter des Landes. -Nun aber, nach seiner Verbannung, macht er sich äußerlich ohne Zweifel -wirklich zum Verräter, zum Feind seines Landes. Wie zeigt ihn uns -Shakespeare in dieser Situation? Warum geht er zu den Volskern und -zieht mit ihnen kriegerisch vor die Tore Roms? - -Wenn dieser Mann Coriolan sein Leben überblickt, dann war es seit -langen Jahren immer so, daß er zwei Feinde hatte, mit deren einem er in -einer Gemeinschaft des Zorns und Ekels zusammen wohnen mußte, während -er den andern ritterlich auf Tod und Leben bekämpfte. Für die Idee -Roms hat er dies beides getan: mit den zufälligen, in mannigfacher -Abstufung erbärmlichen Menschenexemplaren, die sich Römer nannten, -nicht bloß zusammengehaust, sondern sie immer wieder geführt und fast -gewalttätig mit seinem kriegerischen Feuer erfüllt und in den Kampf -getrieben, in den Kampf eben gegen Tullus Aufidius und seine Mannen. -Den aber, Tullus Aufidius, den Feldherrn der Volsker, darf er achten, -indem er mit ihm ficht, er sieht ihn als einen Ebenbürtigen, als -den Ebenbürtigen an, als seinen Zweiten in der Welt; sie gehören zu -feindlichen Völkern und stehn im Wettstreit um den Heldenruhm: ihrer -Natur nach Zusammengehörige, die von den Verhältnissen zur Feindschaft -bestimmt sind; Coriolan und die Bewohner Roms sind ihrer Natur nach -tief Getrennte, die von den Verhältnissen zum Zusammenhalten bestimmt -sind. Nun sind diese Bande zerrissen worden, von den Römern selbst; und -ihre Verbindung mit der Idee Roms, die nur durch Coriolan geschlossen -wurde, in dem sie verkörpert ist, haben sie auch gesprengt. - -Tief drunten, in Coriolans innerster Notwendigkeit also ruht der -Seelenzwang, um der Idee Roms willen Krieg zu führen gegen die Römer. -Aber Menschen von Coriolans Art, die sich so stolz auf sich selber -verlassen und so aus dem Grunde leben, in denen alles Geistige zur -Natur und wie zum Trieb geworden ist, leben ihr Leben, sie leben -nicht ihre Motive. Sie handeln nicht nach Prinzipien, mit Plänen, zu -Zielen; sie stehen im Augenblick. Daß er für Rom kämpft, wo er auch -kämpft, ob er auch gegen die Römer kämpft, das weiß der Zornige jetzt -nicht. Er weiß nur, daß Rom ihn ausgestoßen hat, daß Rom sein Feind -ist, gegen den er äußersten Krieg zu führen hat, und daß einer, den -er achtet, einer seinesgleichen gerade schon wieder angefangen hat, -den kaum erloschenen Krieg gegen Rom aufzunehmen. Die Römer haben -ihren Feldherrn vertrieben, obwohl der große Feldherr Tullus Aufidius -ihnen droht; nun sollen sie sehen, diese führerlose Herde, wie sie -allein fertig werden, wenn zwei Helden gegen sie anrücken. Coriolan -ist mit den Wurzeln aus seinem Boden gerissen worden; da er voller -Kraft und Zorn und Leben ist, bleibt nur übrig, zu sterben oder diesem -Leben einen neuen Sinn zu schaffen. Seine Stadt hat mit ihm Ehre und -Ruhm verstoßen und hat das Regiment den Krämern, den Pfuschern und -Neidlingen ausgeliefert; er geht zu Roms Feind, zu Tullus Aufidius. -Rache muß geübt werden; die, die ihn strafen und vernichten wollten, -müssen gestraft und unschädlich gemacht werden; daran hängt jetzt sein -Leben, daß er über die triumphiert, die ihn wie einen räudigen Hund -fortgejagt haben -- die Hunde! hängt sie! --, daß er als Sieger Rom zu -seinen Füßen sieht. - -Es gibt eine schöne Erzählung von Aaron Bernstein, die von dem -Schicksal eines starken, heldischen Jünglings in der jüdischen Enge -eines Landstädtchens berichtet. Da kommt ein wohlweiser Schwätzer vor, -der gern zu allem seine talmudisch zugespitzten Sprüchlein macht; und -in einer bestimmten Situation gibt er seinem Publikum das Rätsel -auf: Warum ist Mendel Gibbor, der starke Mendel, so traurig? Aber -siehe da, wie der Starke sich wieder sehen läßt, ist er wider Erwarten -gar nicht traurig: es ist fast so etwas wie Lustigkeit in ihm; diese -starken Naturen sind unberechenbar. So ähnlich könnte es uns gehn, -wenn wir jetzt Coriolan nach allem, was wir gesehen und über seine -Verfassung und Lage gesagt haben, nach der Ausstoßung beim Abschied -von der Mutter, der Frau, den Freunden sehen. Er ist gar nicht zornig, -der Zornige! Irgendwo in ihm ruht der Zorn und nährt sich; was in die -Erscheinung tritt, ist gefaßte Gemächlichkeit und liebevoller Trost -an die Teilnehmenden! Er hat sich ausgetobt und ist ruhig, mit einem -liebenswürdigen Anflug von Humor; und vor allem: wie kann er zornig -sein, da es nun seine Mutter an seiner Statt ist und da er überdies -den Schmerz seines zarten, zagen Weibes sieht! Mutter Volumnia weiß -gar nichts mehr davon, daß sie je mit ihrem Sohn unzufrieden war; es -ist alles so gekommen, wie es ihre Klugheit widerraten, wie es eine -tiefere Stimme in ihr aber unabweisbar vorhergesagt hat. Ihr ganzer -Zorn gilt denen, die ihren edeln Sohn, auf den sie nie so stolz war, -wie in diesem Augenblick, vertreiben. Coriolan hat nichts zu tun, als -sie zu beruhigen. Für sich braucht er nichts mehr, keinen Zuspruch, -keine Hilfe, kein Wüten und vor allem keine Begleitung. Er ist ganz -gefaßt; etwas in ihm hat schon den Entschluß gefaßt. Daß er frische, -ungebrochene Kraft in sich spürt, spricht er aus; und im übrigen: - - Solang ich atm’ in dieser Welt, sollt ihr - Stets von mir hören, und nie andrer Art, - Als je mir eigen war. - -Wie er aber nun weg ist, wie die beiden Frauen durch die Straßen -Roms zurückgehen, und die beiden Tribunen ihnen, sehr gegen ihren -Willen, in die Arme laufen, da wird auch Virginia, Coriolans stilles, -ängstlich-schüchternes Weib, tapfer; den armen zurückgelassenen Frauen -bleibt nichts als die Zunge; aber mit ihren leidenschaftlichen Worten -und Wünschen sagen sie triumphierend voraus, was dann geschieht: daß -Coriolan mit dem Schwert in der Hand seine römischen Feinde zu strafen -kommt. Wie anders wird diesen Frauen die Wirklichkeit aussehen als ihr -Wunsch! Sie können nur ohnmächtig und ohne Vorstellungskraft wünschen, -Coriolans Feinde möchten gestraft werden; er aber wird’s tun, auf dem -Wege, den die Wirklichkeit bietet, auf keinem andern; und mehr und -mehr wird auch der Zorn, der jetzt noch schlummert, in ihm gegen die -erwachen und wachsen, die hätten mannhaft zu ihm stehen sollen und ihn -allein gelassen haben. - -Als armer Mann verkleidet tritt er in Antium in das Haus seines -Todfeindes Aufidius. Jeder Einwohner dieser Stadt hat Grund, ihn -niederzuschlagen. Aber er fürchtet nichts; alle Gefühle hat er tief -drunten geborgen, oben in ihm lebt nur die Verwunderung über diese -seltsame Welt und ihre Wandlungen: - - Ich hasse meine Wiege, liebe nun - Die Feindesstadt! - -Für ihn gibt’s nun nichts zu tun; es ist fast, als ob bloß sein Körper -da wäre; nachdem er seinen Entschluß, es zu wagen, gefaßt hat, ist -alles Tullus Aufidius anheimgegeben; er selber ist in der Sache nichts -weiter wert. Schlägt der ihn gleich nieder, so hat er recht; kann er im -Vaterlandsfeind aber den Ebenbürtigen erkennen, ist da in Antium eine -solche Stätte des Adels und des verstehenden Edelmuts, daß Platz für -zwei solche Gleiche ist, dann ist er, wo er jetzt hingehört: dann dient -er entschlossen den Volskern gegen Rom. - -Einen Gentleman, einen Adelsmann nennt er sich, wie der Diener den -Zerlumpten fragt, wer er sei; und es ist so, wie der Diener höhnisch -hinzufügt: „aber ein armer“! Auch in Lumpen ein Adliger, auch als -Landesverräter ein Ritter, das ist Coriolan. - -Und dann steht er dem Feind gegenüber und offenbart sich ihm kühn. -In diesem Augenblick kommt, für uns wie für ihn, zum ersten Mal klar -heraus, was ihn über diese Schwelle gebracht hat: er spielt ~Va -banque~. Irgendwie weiterleben und warten, bis die etwa da drinnen -in Rom sich anders besinnen und ihn gnädig zurückberufen, das kann er -nicht. Entweder -- oder. Entweder ist Tullus Aufidius zu dem Großen, -Herrlichen imstande, dessen er sich von ihm versieht; dann auf zur -Rache! Oder er, der Heimatlose, ist allein und waffenlos in die Stadt, -in das Lager, in das Haus des Todfeinds gegangen: dann hat er den Tod -gefunden, den er sucht. - -Der Römer bietet sich dem Feinde seines Vaterlands als Bundesgenossen -an: Coriolan übt Verrat! Die Worte klingen, als bezeichneten sie -eine ärgste, eine viel schlimmere Vergewaltigung des Edlen gegen -sich selbst, als er sie früher zweimal versucht hat; zuerst, als er -Consul werden wollte, das war fast harmlos gegen das Zweite, das sich -daraus ergab, den furchtbar gescheiterten Versuch, den reuigen Sünder -vorzustellen und Verachteten Achtung vorzumachen. Das hat ihn in die -Verbannung getrieben; ist er jetzt bei der dritten, der äußersten -Gewalttat gegen sich selbst? Sicher ist, damals litt er gräßlich -darunter, daß er sich anders geben sollte, als er ist; jetzt ist er -seinem eignen Gefühl von sich selbst nach in höchster Lust mit sich -eins. Das offenbart sich uns in der Ruhe, der Größe, der Freiheit -seiner Rede. Wer so dasteht, wie der Mann in diesem Moment, und sich -Aug in Auge dem Tode stellt, wer Tage und Nächte einsam gewandert -ist, mit keinem andern Gedanken als diesem Ziele zu, vor dem er jetzt -steht, dem ist Rom, Vaterland und alles, was Namen führt, wie Kleid und -Schuppen abgefallen, er steht nackt da in der Natur seines Heldentums -und seiner ungebrochenen Kampflust, als einer, der voller Leben ist und -zu sterben bereit ist. Ja, in diesem Augenblick lebt kein Rom in ihm, -hat keine Mutter ihn geboren; er hat kein Vaterland, ist losgelöst von -allem, wovon der Mensch sich nur freimachen kann, ohne aufzuhören, er -selbst zu sein; und wüßten wir das nur, daß alles andre als eines, dem -wir uns ergeben, in jedem Augenblick frei von uns gewählt und ergriffen -wird, wie viel inniger, wie viel mehr wir selbst würden wir unsrer -Sache uns hingeben! Er hat nur noch dies eine: seine heldische Natur; -ein Schwert hat er und weiß einen Feind. So steht er vor dem Mann, der -ihm zum Tod oder zu seiner allein noch gebliebenen Bestimmung helfen -soll, und spricht: - - Nicht in der Hoffnung, - -- Verkenn mich nicht -- mein Leben zu erhalten; - Scheut’ ich den Tod, wohl keinen in der Welt - Hätt’ ich geflohn wie dich; nein, bloß aus Trotz, - Um völlig quitt zu sein mit den Verbannern, - Steh’ ich vor dir nun da... - Denn -- ich kämpfe gegen - Mein krankes Vaterland mit der Erbittrung - Von allen Höllengeistern. Doch wofern - Du es nicht wagst und, mehr das Glück zu proben, - Satt bist, so hör’s mit einem Wort: auch ich - Bin fortzuleben herzlich müd und biete - Die Kehle dir und deinem alten Grimm... - -Man braucht gar noch nicht in Betracht zu ziehen, daß Aufidius und sein -Volk ein hohes Interesse daran haben, ihren furchtbaren Feind in ihren -Dienst zu ziehen, Roms Helden und den Führer der gekränkten und auf -ihre Stunde harrenden Adelspartei als Feldherrn im Kampf gegen Rom zu -gewinnen; all solche Erwägungen kommen später entscheidend zur Geltung; -für jetzt ist Aufidius von diesem tragischen Geschick und dieser -tragischen Größe menschlich erschüttert: - - Mein Marcius -- - bricht er aus -- - Und hätten wir nichts gegen Rom, als daß - Es dich verbannt, wir wollten alle mustern - Vom zwölften Jahr zum siebzigsten und wütend - Ins tiefste Mark des undankbaren Roms - Wie kühne Flut einbrechen. - -Wie wäre es gegangen, wenn nicht die hohe Erschütterung, wenn die -niedrigen Elemente die Entscheidung hätten treffen sollen und wider -einander gestritten hätten: kluge Politik und eingefressener Haß? -Keine leichte Wahl; und so sind denn auch diesmal die Interesse- und -Haßpolitiker in Rom, die beiden Volkstribunen beim ersten Eintreffen -der Nachricht nicht gleich einig. Der eine meint: sehr wahrscheinlich; -das leuchtet ihm erschrecklich ein; der andre aber glaubt’s nicht; er -glaubt nicht daran, daß die Klugheit über den Haß gesiegt habe: - - Er und Aufidius sind nicht mehr versöhnbar, - Als wie der ungeheu’rste Widerspruch. - -Was da in Antium zwischen den beiden Helden vorging, war nicht das -Wahrscheinliche, wie die Niedrigkeit nachrechnete, und war nicht das -Unmögliche, das die andere Niedrigkeit aus dem eigenen Hasse erschloß; -es war das Überwältigende. - -Und schon kommt Coriolan wie ein Wetterstrahl schnell und zündend -bis vor die Tore Roms, ganz in Rache eingehüllt, er weiß von nichts -anderm mehr, hat keinen Gedanken, kein Ziel, keine Vorstellung des -Nachher; „eine Art von Nichts“ nennt er sich, und damit wissen wir -schon, wie er sich bei den Volskern vereinsamt, unter Feinden und ganz -fehl am Ort vorkommen würde, wenn er zur Besinnung käme. Nicht einmal -einen Namen hat er mehr; Cajus Marcius? er darf nicht daran denken, -zu welchem Geschlecht er gehört, wo er gegen die Stadt seiner Väter, -seiner Mutter, seiner Frau und seines Sohnes zieht; Coriolan? das ist -der Name, der Schimpf und Hohn für seine, ach ja, für seine Freunde in -sich birgt. So fühlt er sich als einen aus der Menschheit Gestoßenen, -Namenlosen, - - Bis er sich selbst geschmiedet einen Namen - Im Brande Roms. - -Rom, die Stadt der Plebejer und der feigen Patrizier, die zugesehen -haben, wie sein Held und Retter ausgetrieben wurde, soll brennen. - -Wie haben da inzwischen die Stimmungen gewechselt; wie sieht’s da jetzt -aus! Wie die Boten die furchtbaren Nachrichten immer bedrohlicher -bringen, ist die erste Wirkung eine innerpolitische: wie erheben die -Patrizier, die sich ehrlich für Coriolans Freunde halten, deren Sache -er geführt hat, die ihn aus Politik allein gelassen hatten, wie erheben -sie das Haupt; was für eine kühne Sprache findet nun der bedächtige -Menenius Agrippa! Ihr habt’s schön gemacht! Ihr seid schuld! Derlei -bekommen nun die Tribunen mit derbem Schimpf und Spott zu hören. Und -die Volkstribunen lassen die Ohren hängen und werden immer kleinlauter; -und das Volk kommt in Angst; dem ist jetzt, als ob es gleich sehr -ungern in Coriolans Verbannung gewilligt hätte. Coriolans Fluch, der -den innern Zustand des Volks und seiner politischen Führer beschrieben -hatte, will äußerlich in Erfüllung gehen. Aber dann, wie die Gefahr -immer entsetzlicher wird, klingt aus den bösen, aufgebrachten Reden -der Patrizier doch auch schon die Angst durch, und es kommt dahin, -daß angesichts der Gefahr der Parteistreit zurücktritt: die Stadt -muß gerettet werden. Aber wie? Zu verteidigen ist da nichts, wenn -Coriolan vor den Toren steht, statt als Schützer auf den Wällen. Er -muß zurückgerufen werden; er muß gebeten werden, abzuziehen; er muß um -Schonung angefleht werden. - -Der Konsul Cominius versucht’s; umsonst. Coriolan weiß nichts andres -als: Rom muß brennen. Hängt sie! hatte er, wie gewohnt, einmal unwillig -vor sich hingebrummt; und die Mutter, um ihn freundschaftlich mahnend -zur Besinnung zu bringen, hatte ironisch fortgesetzt: Und brennt sie! -Nun soll Ernst daraus werden; Coriolan hat den roten Blick und sieht -nichts mehr vor sich als Flammen. Cominius erinnert ihn wohl an seine -nächsten Freunde und Angehörigen; er aber ist in der Verfassung des -Würgengels, der keine Schonung, keine Unterscheidung mehr kennt: - - Torheit - Wär’s, kränkenden Gestank nicht zu verbrennen - Um ein, zwei Körner willen. - -Und der alte Menenius ächzt, wie er das hört: Eins von den Körnern bin -ich; und seine Mutter, sein Weib, sein Kind! Für diese Volkstribunen -sollen wir mitverbrannt werden! - -Er will’s aber, auch weil diese alten Männer, die Volksvertreter, -jetzt so verschüchtert und manierlich bitten können, versuchen, ob ihm -nicht glückt, was der Feldherr Cominius nicht über Coriolan vermocht -hat. Er ist ein Pfiffiger, der alte Mann, und eitel dazu, und mit so -einer Art physiologischer Psychologie redet er sich ein, man müsse nur -den rechten Augenblick wählen, vielleicht habe Coriolan nüchtern vor -dem Frühstück abgelehnt, was er ihm nach dem Mittagessen gutgelaunt -bewilligen würde. - -Aber da urteilt die kleine feine Klugheit -- oder die Angst, die sich -etwas einreden möchte, woran sie selbst nicht glaubt; die vehemente -Glut des ungestümen Mannes Coriolan zwingt noch mehr unter sich als die -Funktionen des Leibs. Er hat ein für allemal den Befehl gegeben, keinen -aus Rom mehr vorzulassen; die da drin -- alle! -- sind schuld, daß er -nun nicht mehr kann, wie er will, selbst wenn er umkehren wollte. Jetzt -geht’s nicht mehr bloß um die Rache; die Ehre verlangt’s, daß er denen -Treue hält, in deren Dienst er getreten ist. So schickt er auch den -Menenius heim, der trotz aller Abweisung nicht weichen wollte und dem -er in den Weg gelaufen ist: - - Weib, Mutter, Kind, sind fremd mir. Meine Pflicht - Ist andern dienstbar. Hab’ ich schon zur Rache - Besondres Recht, liegt die Vergebung doch - Im Volskerherzen. - -Da ist der Zwiespalt; darum kann er nicht denken, sich nicht zureden -lassen; das ist jetzt seine Härte. Er ist nie ein Mann des Triebs und -der Laune gewesen; so sehr ihn die Leidenschaft verdüstern, umdunkeln -kann, sie ist nie ohne Gesinnung in ihm; aber haben sie ihn nicht -vaterlandslos und zum Landsknecht, zu fremden Landes Knecht gemacht? Er -kann nicht mehr wie er -- gar nicht will -- -- sie sollen’s büßen. - -Eine so hohe Stimmung, die aus der erhabenen Öde gänzlicher -Beziehungslosigkeit kam, wie Coriolan, als er zuerst vor Aufidius -stand, sie hatte, kann nicht dauern, wenn der Mann erst, sei’s auch -um dieser Stimmung willen, in die mannigfachen Bindungen des Lebens -wieder eingegangen ist. Jetzt zerfällt Coriolan schon lange wieder in -die obern und untern Bezirke, in das, was er denkt und sagt, um bei dem -zu verharren, was er als den neuen Coriolan in die Welt getrotzt hat, -und in jenes andre, was von innen erwacht, von außen alt und neu ihn -mit vertrauten Stimmen ruft und was er, solange es irgend geht, nicht -hochkommen läßt. - -Daß das kein Zustand ist, in dem der Edle bleiben kann, daß seine -Verhärtung wegschmelzen muß, sowie gegen die künstliche Macht der -Soldatentreue eine natürliche und ideale Macht ausrückt und unsäglich -seelenvoll zu ihm spricht, das fühlen wir voraus. - -Und so sind wir bereitet zu einer der strahlendsten, innigsten, -höchsten Szenen der gesamten dramatischen Literatur. Die Frauen -kommen: seine Mutter; sein zartes, unkriegerisches Weib, sein „holdes -Schweigen“, Virgilia die Sanfte, die neben ihm, dem Rauhen steht, wie -Desdemona neben Othello; und den Knaben bringen sie mit, der sein -Ebenbild ist. Und dazu bringen sie ihm, was mit Cominius dem Feldherrn -und dem klugen Staatsmann Menenius Agrippa nicht mitgekommen war: das -Vaterland. - -Sie kommen in Trauergewändern. Sie beugen sich, sie blicken zum -Erbarmen auf ihn; sie knien hin; sie kommen näher. Sonst wohl, wenn -einer aufs tiefste erschüttert ist, braucht bloß das Wort, das das -Erlebnis ausdrückt, noch dazuzukommen, und schon fließen unhemmbar die -Tränen. Der starke Coriolan macht’s umgekehrt; er klammert sich an -Aufidius, der bei ihm im Zelt ist, und wiederholt dem und sich selbst -alles in Worten, was seine Sinne gewahren, was auf sein Herz eindringen -will; die Worte der Beschreibung sollen sich verbinden mit Worten des -Gelöbnisses -- vor sich selbst und dem Oberfeldherrn der Volsker --, -sollen ihn binden: nein, er wird nicht nachgeben. Und schnell, die -Sprache ist dazu da, verwandelt er alles, was wie Trotz, Eigensinn, -Gebundenheit aussehen könnte, in Gesinnung, in Freiheit, in das Prinzip -der völlig ungebundenen, individualistischen Selbstherrlichkeit; -gewaltsam, mit Worten, will er sich an den Ursprung des neuen Coriolan, -des Namenlosen, an die Stimmung der weltverneinenden Öde anbinden; was -geht ihn noch das Vaterland an? muß er, ein Mann, ein Ausgetriebener, -ein vom Schicksal Adoptierter, noch Weib und Mutter kennen? - - Laß die Volsker - Rom pflügen und Italien eggen, nie - Folg’ ich wie’n Gänslein dem Instinkt; ich stehe, - Als wär’ der Mensch Urheber seiner selbst - Und keinem sonst verwandt. - -Aber dann klingt die Stimme seines Weibs: Mein Herr und Gatte! und -die Mutter blickt ihn stumm an; da will er zwar im Öffentlichen ganz -unnachgiebig bleiben; aber dies holde, lang entbehrte Weib wird er -doch küssen dürfen; der Mutter den Gruß der Ehrerbietung zollen? Das -erlaubt die Sache; und Aufidius geht’s ja wohl nichts an. Er preßt -Virgilia ans Herz; er beugt das Knie vor der Mutter. - -Da heißt sie ihn aufstehn. Und dann beugt sie die stolzen, steifen -Knie, und kniet vor ihm hin auf dem harten Stein, und spricht dabei -bitter, scharf, mit einer Stimme, die noch härter als Stein ist, von -der „Huldigung neuer Art“, - - die bisher ganz falsch verteilt - War zwischen Kind und Eltern. - -Die Welt ist ja verkehrt worden; man muß sich danach richten und -muß auf seine alten Tage umlernen: der Römer kämpft jetzt gegen die -eigne Stadt, die Weib, Kind und Mutter birgt; so ist ja wohl auch das -Grundprinzip der Republik, die Familie und die Oberherrschaft der -Eltern aufgehoben: die Mutter, die den frühverstorbenen Vater vertritt, -bittet das Kind! - -Wie ist diese große Frau immer dieselbe, und wie wechseln die -Situationen und damit ihre äußere Stellung zum Sohn! Das erste Mal die -herbe Unzufriedenheit, mit Angst gepaart, und die klug unbedenklichen -Ratschläge, an deren Befolgung sie im geheimsten nicht zu glauben -vermag; dann, wie er in der Tat gegen all ihren Rat und Unterricht -und gegen seinen Vorsatz dem Willen seiner Seele gefolgt ist und -schrankenlos seine Wahrheit herausgerufen hat, der Stolz, die Liebe, -der Haß gegen seine Feinde in Rom, der Wunsch, er möchte sie ausrotten; -und jetzt der letzte Versuch, die Stadt vor seinem tauben Grimm zu -retten. Und immer um Roms, immer zugleich um seinetwillen, in dem Rom -sich verkörpern soll! - -Und sie hebt zu bitten an; dem Inhalt nicht nur, auch der Disposition -nach getreu nach dem Bericht Plutarchs; wer aber Shakespeares Seelen- -und Sprachgewalt an einem ganz großen, wunderbaren Beispiel kennen -lernen will, der soll diese Rede Volumnias in Plutarchs und in -Shakespeares Fassung neben einander halten. - -Sie hält ihm, auf ihre Trauerkleider weisend, die Situation vor, die -er kennt; das ist ihre stärkste Waffe, daß sie ihm nichts sagt, was er -sich nicht selbst sagt. Vorhin hat er sich noch stark machen können, -indem er, was seine gerührten Blicke sahen, in Worte versteckte; -jetzt wickeln ihm die Worte einer Stärkeren, Redegewaltigeren nicht -bloß seine Eindrücke wieder aus der Umhüllung aus, sie drehen ihm das -Herz in der Brust herum. Was wird das Los dieser Frauen sein, wie die -mörderische Schlacht auch ausgehe? Wenn er besiegt als Gefangener nach -Rom kommt? Wenn er Rom in Trümmer gelegt hat? Und Frau, Kind und Mutter -in den Tod getrieben? Ja, in den Tod! - - Denn ich, ich, Sohn, denk’ nicht zu warten, bis - Der Krieg entschieden -- -- - -über den Leib seiner Mutter hinweg wird er zum Angriff auf Rom -schreiten müssen. - -Und Virgilia, die schon früher gezeigt hat, wie ihr im Augenblick der -Entscheidung Sprache und Tapferkeit kommt, fällt ein und erklärt für -sich, schnell, kurz, eh’ die Tränen quellen, dasselbe; und der kleine -Bursch, sein Sohn, redet drein: - - Mich soll er nicht treten; - Ich lauf’ fort, bis ich größer bin, dann fecht’ ich! - -Das soll ein Mensch mit anhören, von Mutter, Frau und Kind? Er -steht auf und will gehn. Die alte Römerin aber hält ihn fest. Die -Mutter hat gesprochen und hat nichts mehr zu sagen. Sie hat ihm die -Naturnotwendigkeit der Umkehr gemeldet; jetzt spricht die Politikerin -und zeigt ihm die Möglichkeit, den Ausweg. Römer und Volsker sollen -einen dauernden Frieden schließen; das soll sein großer Ruhm sein: die -beiden Völker zu versöhnen. -- Und das Höchste und Letzte, was auf -einen edeln Mann wirkt, fügt sie hinzu: - - Hältst du es ehrenhaft für einen Edlen, - Der Kränkung stets zu denken? - -Er schweigt, schweigt immer noch, er kehrt sich ab, er kämpft furchtbar. - -Und wiederum knien die Frauen. Und nun umtönt ihn nur noch ein Wort, in -immer neuen Wendungen: Rom! - -Und endlich hat die Mutter, hat die Sprecherin des Vaterlands, das mehr -und andres ist als die zufällig gerade lebenden und sich vergehenden -Einwohner, als alle Gemeinheit einer beliebigen Summe, sie hat gesiegt. - - O Mutter, Mutter! - -Mit diesem Wehruf gibt er nach. Was dann fieberhaft aus ihm redet, zu -Aufidius, daß der’s doch einsehen müsse, daß es nun zu einem günstigen -Frieden kommen werde, und alle Ausrufe der Erregung und Entzückung, das -ist nicht er selbst. Einer in ihm kennt sein Geschick, ahnt gar den Weg -schon, auf dem es kommen kann. - -Es kommt durch Aufidius. Einmal, als der Mann sich dem Manne gestellt, -zu Tod oder Blutbrüderschaft, war über den die große Überwältigung -gekommen. Zu mehr, zu einer Wiederholung und Umkehrung ist er nicht -imstande. Zudem war das Verhältnis nicht so geworden, wie er sich’s -gedacht: neben dieser überragenden Natur, neben Cajus Marcius -Coriolanus ist er für seine eignen Landsleute immer nur der Zweite -gewesen, und die Eifersucht hat schon an ihm genagt. Was da gekommen -ist, was diesen „Coriolan“, der nun alles wieder vergessen und Römer -werden will, so ergreift, was geht’s ihn an? Zu ihm hat Rom nicht -gesprochen; seine Mutter ist Volumnia nicht. Verschärft ist da, was in -Jahren des Krieges zwischen ihnen war: Feindschaft auf Leben und Tod. -Es ist kein Krieg; aber der Feind ist in seiner Gewalt. - -Es fällt ihm leicht, gegen den „zwiefachen Verräter“ eine Verschwörung -zustandezubringen. In dem aber, den sie so nennen, ist kein Funke böses -Gewissen und kein Hader mit sich selbst. Seltsame Stille ist in ihm -eingezogen. Nicht die unheimlich auf einen Punkt gespannte Gefaßtheit -von ehedem; eine fast wohlige Entspannung scheint es zu sein. Wie -süß ist es, zumal für diesen adligen Mann, in dem Unbändigkeit und -Sachlichkeit so persönlich beisammen sind, sich überwinden zu lassen, -sich gefangen zu geben; wie verwunderlich wieder, daß sich noch einmal -alles umgekehrt hat und daß er, der Kriegsmann, jetzt die beiden -Völker, denen er nun beiden angehört, zu einer dauernden, zu einer -neuen Art Frieden bringen soll. Wie traumbefangen, wie einer, der -leise auftritt, um das Schicksal und sich selbst nicht zu wecken, -tut er alles, was die neue Pflicht ihm auferlegt. Die Zeit des Zorns -scheint ganz für ihn vorbei; er geht vor, als könne noch alles sehr -gut werden. Er verläßt die Volsker nicht; er denkt nicht daran, -sich in Rom vor ihnen zu bergen; keineswegs verrät er sie im groben -Sinne; er verhandelt mit den Römern als der Mann, der zur Vermittlung -berufen ist, aber er geht davon aus, daß Rom wehrlos und daß er der -Volskergeneral ist: was er den Volskern bringt, ist eine Demütigung -Roms, freilich nicht die Vernichtung; es ist ein Vergleich, der Frieden -für immer stiften soll. Er ist nicht mehr ein Kind seiner Zeit; er -geht vor, als sehe er Möglichkeiten, an die sonst keiner glaubt; aber -es sind nicht seine Gesichte, es ist ihm von sanftem, festem Zwang -auferlegt worden wie in tiefe Schlafbetäubung hinein; er bewegt sich -wie in seliger Zeitlosigkeit oder wie in ferner Zukunft wiedergeboren -oder wie einer, der schon im Schatten des Todes steht. Es geht zu Ende -mit ihm: sein Schicksal war entschieden, als er sich Roms Feinden -verbündet und, ohne daß er’s wußte, sein Herz in Rom gelassen hatte. -Damals hatte er sich Tullus Aufidius zum Tode gestellt; Aufidius und -der Tod sind jetzt da. - -Volumnia konnte als Retterin und Erlöserin Roms, als Mutter Coriolans, -von Jubelrufen umbraust, in Rom einziehen; bald darauf wird Coriolan -bei den Volskern, denen er den Friedensvertrag gebracht hat, von der -Schar der Verschworenen, die Tullus Aufidius führt, ermordet. Er -war ihnen zu gefährlich, war auch ihnen zu groß, stand unter ihnen -erst recht als ein Fremder da. Er war aus Rom und damit aus der Welt -gebannt; als einer, den die Welt gebraucht hätte, den die Welt nicht -dulden konnte, liegt er nun tot zu Boden. Sowie er nicht mehr auf den -Füßen steht, sowie sein Schritt ihnen nicht mehr in den Ohren weh tut -und seine stolze Sprache, sowie sie in dem Leichnam, der da liegt, -nur das Bildnis des Helden vor sich haben, dieses adligen, stolzen, -wunderschönen Mannes, da erkennen sie, daß ein Großer gefallen, der -Kleinheit dieser Welt zum Opfer gefallen ist. Unter den Klängen -eines strahlenden Totenmarsches wird sein Leichnam aufgehoben und -fortgetragen. - -Diese Totenmusik, das Heldenleben, wie es Shakespeare gestaltet -hat, ist wirklich zu Rhythmen und Melodien geworden in der -Coriolan-Ouvertüre Beethovens, die freilich durch äußern Zufall zu -irgend einem andern Drama Coriolan komponiert wurde, in Wahrheit aber -ganz Geist vom Geiste Shakespeares ist, der in diesem Römerdrama -- ich -wiederhole die Worte -- in die Seele der Geschichte hineingeleuchtet -hat, indem er die Geschichte einer Seele gab. - - - - -König Zymbelin und Das Wintermärchen - - -Gewiß würde jedes der beiden Stücke, die ich hier zusammenstelle, eine -besondere und eingehende Behandlung verdienen, das reichverzweigte und -an seltsamen Schönheiten reiche Drama, dem König Zymbelin den Namen -gegeben hat, und erst recht das tiefe und entzückende Wintermärchen; -aber sie sollen gemeinsam behandelt werden, weil mir daran liegt, die -Betrachtung fortzusetzen, die ich im Anschluß an Perikles und Timon -begonnen habe. Zu einer solchen Zusammen- und Gegenüberstellung der -beiden Stücke laden schon die Herausgeber der ersten Folioausgabe ein: -sie haben Zymbelin an den Schluß der Tragödien und das Wintermärchen -an den Schluß der Komödien gestellt; zu was für Betrachtungen kann -dieses Verfahren schon an der Schwelle Veranlassung bieten! Denn die -Stücke sind alle beide nicht einzuordnen; die Herausgeber betätigten -aber in ihrer Reihenfolge auch diesmal einen feinen Sinn; Zymbelin ist -eher eine Tragödie, das Wintermärchen eher eine Komödie zu nennen. -Zymbelin aber ist aus zwei Stoffen zusammengesetzt, die der weniger -seltsame frühere Shakespeare alle beide in der Komödie behandelt hätte: -die Gegenüberstellung des verderbten Hoftreibens und des romantisch -natürlichen Hausens in Wald und Höhle, wie sie so ähnlich in Wie es -euch gefällt behandelt wurde; und andrerseits die Charakterkomödie -von dem Ehemann, der mit der Wette über die Treue seiner Frau in -mannigfachem Sinn sich selbst betrügt. Dagegen mutet die Haupthandlung -des Wintermärchens ganz wie die Vorlage zu der großen Tragödie der -Eifersucht an; und doch ist es wahr, daß der Dichter aus diesem -düsteren, schneidenden Stoff das gemacht hat, was schon der Titel -uns an Stimmung vermittelt: ein Wintermärchen, ein Spiel, das schwer -lastende Umstände mit Heiterkeit überwindet. - -Zymbelin steht nach Sprache, Ernst der Durcharbeitung und Anlage der -Charaktere, nach der Menge auch der rund gesehenen Gestalten weit -über Timon (von Perikles gar nicht zu reden); aber dennoch ist es mir -das bedeutendste und dazu seltsamste der Stücke, in denen Shakespeare -eine Ergründung des inneren Lebens, der geheimen Menschlichkeit, des -Seelenwesens der Gestalten höchstens begonnen, angelegt, skizziert, -aber nicht vollendet hat. - -Ferner gehört dieses Drama wie Perikles und Timon in die Reihe der -späten Stücke, in denen die Handlung besonders stark als Gelegenheit -zur Weisheit benutzt wird: hier dient sie fortwährend zu herrlich -tiefen und scharfen Reden und Aussprüchen über das Verhältnis von Natur -und Hof als dem Gipfel von Unwahrheit, Künstlichkeit und Entartung, -zu Satire und Polemik, wie zum Lob der Einfachheit, des Land- und -Hirtenlebens. - -Wie Perikles (nicht wie Timon) hat überdies Zymbelin eine reiche, -romantische und romanhafte, dramatisch kaum zu bewältigende, epische, -märchenhafte, bunte Handlung; an die Stelle der Intensität der -Seelenergründung ist die Extensität des geradezu fabelhaften Reichtums -der Motive, die angeschlagen werden, getreten. - -Diese Art Stücke, und keines so wie Zymbelin, geben überdies -dem Schauspieler gerade dadurch, daß das innere Wesen angelegt, -aber nicht ausgeführt ist, Gelegenheit, durch eigene Erfüllung -die Skizze des Dichters zum vollen Menschenbild zu ergänzen. Die -Gedächtnisschwierigkeiten, die dieses Stück dem Leser und seiner -unsinnlich arbeitenden Phantasie bietet, sind auf der Bühne, wenn der -Regisseur mit scharf herausgearbeiteten Masken, Redeweisen, Kostümen, -Schauplätzen seine Schuldigkeit tut, gar nicht vorhanden; und so -könnte und müßte das Stück, wenn nur unsre Bühnen nicht mit Feigheit, -Trägheit, Schlendrian und neuerdings sogar Glauben an den Philologen -behaftet wären, eine ganz ungeheure Theaterwirkung tun und überdies -Seeleninnigkeit wie Leidenschaftsgewalt wie stark eindringlichen -Gegensatz der Sphären und Naturen in einer tollen Folge von Szenen, für -die der Stil zu finden wäre, wundervoll zur Geltung bringen. - -Das Wintermärchen dagegen ist -- wenn wir vom Sturm als etwas einzigem -absehen -- das Stück, das mit dem späten Stil Shakespeares, mit -der seltsamen Verbindung von Sinnenschmaus und Sinnspiel, mit der -Verwandlung der Tragödie in Spiel und romantische Ironie und mit -der Weisheit und Polemik des Elements, das ich Sprache nenne, eine -in Knappheit und Sicherheit unerhörte, ganz genialische Kunst der -tiefen Charakteristik verbindet. In einem Teil der Handlung werden -dabei aber die letzten Konsequenzen dieser Seelenenthüllung nicht so -gezogen, wie es sonst Shakespeares Art ist: für einen früheren Stil -Shakespeares hätte die Art, wie der Charakter des Königs Leontes -angelegt ist, unweigerlich den äußern Untergang als Ausdruck der -innern Unmöglichkeit, das Leben weiterzuführen, bedungen. In diesem -tiefsinnigen Märchenspiel aber sehen wir den neuen Ausdruck der -Tragik, von dem wir schon gesprochen haben und zu dem Shakespeare -überleitet, in einer vollendeten Gestalt ausgebildet. König Leontes -stirbt in der Tat, stirbt, wie seine Frau Hermione von ihm unschuldig -in den Tod geschickt wurde, und ist tot, solange sie ihm und der Welt -tot ist; er ist der Welt abgestorben; aber dieser Tod ist ein Tod -im Leben, ist Erneuerung, ist Buße, ist Wachstum und Umkehr. Hier -ist für Shakespeare der Weg vollendet, auf dem er die Gattung seiner -eigenen großen Tragödie überwand und durch die starre, schon aus der -Antike überlieferte Schablone eine Bresche schlug und Freiheit für -die Dichter unsrer und der künftigen Zeiten schuf. Mit Ende gut, -alles gut, mit Maß für Maß, mit Perikles, ja schon mit dem Kaufmann -von Venedig und auch mit Troilus und Cressida hatte er diesen Weg -beschritten: die Tragik ihren Gipfel und ihre Überwindung nicht in -dem von der Antike überlieferten gewaltsamen Tod, sondern in der -Erneuerung und Steigerung des Lebens finden zu lassen. Der Sturm ist -diesem neuen Shakespearedrama, ist dem ganzen Werk Shakespeares die -Krönung und Verklärung. Aber nicht nur einen Wesenszug der alten -Tragödie, eine Gattung der Dichtung und Kunst erschüttert und wandelt -Shakespeare mit diesen Werken; mit ihnen hebt er eine Reformation an, -die größer ist als sein Werk und größer auch als das Werk Luthers, das -wir die Reformation nennen. Er beginnt das Werk, das unsre deutschen -Frühromantiker mit allzu schwachen Kräften als Shakespeareepigonen -aufnehmen wollten: auf den Wegen der Kunst und des Spiels, mit dem, was -romantische Ironie heißt, die Stellung des Menschen zum individuellen -Leben umzugestalten. Das war es, was einen der Kunst und dem Spiel so -fernen, so abgründlich ernsten Mann wie Fichte in engste Beziehung und -Bundesgenossenschaft zur Romantik brachte: die Leugnung des Ich als -einer ans Leben gebundenen, vom Tod zerstörbaren Substanz. Auf dem Weg -zu einer neuen Religion, einer neuen Praktik, einer neuen Gestaltung -des Lebens, der einzelnen wie der Gesellschaften, eines neuen Lebens -der Menschheit, für deren Empfinden der Tod von Individuen eine -nebensächliche Angelegenheit geworden ist, bedeutet dieser Romantiker -Shakespeare eine wichtige Etappe. - -Eine vollendete Gestalt für den neuen Ausdruck oder die Überwindung -der Tragik habe ich das Wintermärchen genannt, werde ich den Sturm -nennen können. Das war Shakespeares Vollendung auf diesem Weg; die -Kunst aber kennt allewege mehr als einen Gipfel der Vollkommenheit. Die -Reihe Stücke, die ich genannt habe und die Shakespeare über mancherlei -schwache Stellen und Irrpfade so hoch und rein hinauf geführt haben, -sind, so viel Herrlichkeiten sie bergen, doch nur Anfänge und -Verheißungen. Sie geben uns die Gewähr, daß -- gleichviel wann, in ein -paar hundert oder ein paar tausend Jahren -- noch einmal ein Dramatiker -kommen kann, der so Shakespeare hinter sich läßt, wie der bis jetzt -der größte aller Dramatiker ist, die der griechischen Antike nicht -ausgenommen. Fragen wir im lebendigen Gefühl, was Shakespeare ist, -welche Kraft der Seele ihn zu dem gemacht hat, was er wurde, dann muß -uns schwindlig werden, wenn wir an die Freiheit und Ausdrucksgewalt, -an die Kühnheit des Mannes denken, der einst Shakespeare zum Zweiten -machen soll. - -Shakespeare ist der Genius der Freiheit. Messen wir nicht an den -verklärten Freien, die überwunden haben und die uns mehr Gestalten -als Menschen sind, an Jesus oder Buddha, gedenken wir der Freiheit, -die ringend und körperhaft dem Leben angehört und ihm entsteigt, -so weiß ich keinen auf keinem Gebiet, nicht einmal Michelangelo, -der so repräsentativ der Gestalter der Freiheit zu nennen wäre wie -Shakespeare. Und mit seinem letzten Werk, auf dem Weg, dem Zymbelin und -Wintermärchen Stufen sind, hat er, indem er noch einmal ein Beginnender -wurde und das Werk der Tragik verließ, das er so glänzend abschloß, -schon seinen Nachfolger und Überwinder vorbereitet, der höher steigen, -tiefer wühlen, kühner befreien wird als er. - - -Von Zymbelin kennen wir zwar keinen früheren Druck als den der Folio -von 1623, aber aus einer Notiz im Tagebuch eines Zeitgenossen erfahren -wir, daß das Stück 1610 oder 1611 aufgeführt wurde; um diese Zeit herum -ist es gewiß auch entstanden. - -Das Datum des Wintermärchens können wir auf Grund äußerer Tatsachen -mit Sicherheit zwischen zwei Grenzen festsetzen: das Stück kann nicht -vor Herbst 1610 und nicht nach Mai 1611 entstanden sein. Beide Stücke -gehören also, wie es auch aus inneren Gründen wahrscheinlich ist, der -nämlichen Zeit an. - -Der Britenkönig Zymbelin und seine Söhne sind historische Gestalten, -die in der Tat zur Zeit der Kaiser Augustus und Claudius gelebt und -wegen der Tributzahlung Konflikte mit Rom gehabt haben. Wir wissen das -aus Erwähnungen bei römischen Historikern und Dichtern, die Shakespeare -kaum gekannt haben kann; seine Quelle für diese Teile kann Holinsheds -Chronik gewesen sein. - -Der Teil der Handlung, der bei Shakespeare zwischen Posthumus Leonatus, -Imogen und Jachimo spielt, stammt aus einem altfranzösischen Roman, -von dem es eine Reihe Bearbeitungen gibt, die auch zu einer Novelle -Boccaccios Veranlassung gegeben haben. Die Namen aber, die Shakespeare -diesen Gestalten gibt, finden sich in keiner dieser Bearbeitungen, -und ebensowenig die geringste Verbindung dieser Abenteuer mit der -Geschichte des Königs Zymbelin. - -Ein Seitensproß dieses Handlungsteils, das Verhältnis Imogens zu -ihrer Stiefmutter und deren Gift, ihr Scheintod bei seltsam von -der Menschheit abgeschiedenen Höhlenbewohnern im Wald, kann an -Schneewittchen und ähnliche Märchen gemahnen. - -Der alte Edelmann Belarius und sein Prinzenraub stellen einen ferneren -Teil der Handlung dar, der an eine andere Novelle des Boccaccio -erinnert. - -All solche Erinnerungen, zumal bei märchenhaften Novellenmotiven, -die durch alle Völker und Zeiten wandern, beweisen aber gar nichts -dafür, daß wir mit diesen Überlieferungen Shakespeares wirkliche -Vorlagen haben. Die Annahme vielmehr, Shakespeare selbst habe diese -ganz verschiedenen Geschichten zu einer fabelhaft bunten, gestopft -vollen Handlungsgemeinschaft aufs kunstvollste verbunden, ist mir -sehr zweifelhaft. Vielmehr erinnert das Ganze, wie es beisammen ist, -so auffallend an die Geschichten von Geschichten mit immer neu sich -hebenden Schleiern und immer neuen unerwarteten Wendungen, wie wir -sie aus den orientalischen Märchen etwa von Tausendundeine Nacht, -aus altfranzösischen, altitalienischen, spanischen Erzählungen und -den deutschen Volksbüchern kennen, daß es mich sehr wahrscheinlich -dünkt, daß diese Verknüpfung schon vorher in einer jetzt nicht mehr -vorhandenen Erzählung dagewesen ist. Wesentliche Änderungen in der -Motivierung, eine Menge Einzelzüge und vor allem das ganz fabelhafte -Unternehmen, diese buntgedrängte Fülle der Gesichte in der Form -des leibhaft für alle Sinne dargestellten Dramas, die fabulierte -Unwirklichkeit, die Märchenhaftigkeit in Gestalt lebendig bewegter -Wirklichkeit vorzuführen, dieses vorher wie nachher Unerhörte schreibe -ich Shakespeare zu. Diese Märchen, Volksbücher und Abenteuerromane, -die alle richtige Lese- und Schmökerbücher sind, haben es an sich, daß -in ihnen nicht Bestimmtheit, Festigkeit, unverwischbare Einprägsamkeit -ist, sondern in aller nüchtern sachlichen, nur Tatsachen referierenden -Erzählung eine Art traumhaft musikalisches, wiegendes Weitergleiten, -wo man ganz süchtig dem Erzähler hingegeben ist und es einem das -wichtigste ist, daß immer neue Bilder, Überraschungen, Erregungen, -Spannungen und Stimmungen auftauchen. Man will nicht eine Sache -erfahren und diese dann stehen lassen, wie sie ist; sondern will -sich der bunt wechselnden Dingwelt bedienen, um gerührt, betroffen, -gestreichelt, gekitzelt zu werden; eine sehr objektive, chronikalische -Darstellung ist das Mittel zu völliger Subjektivität schmachtender, -lechzender Gefühle. Diese Art Roman ist bei uns aus doppelter Auflösung -entstanden: aus der Auflösung der christlich ritterlichen Erotik ins -Bürgerliche und aus der Auflösung der festen, rhythmisch gebannten -epischen und episch-lyrischen Form in Prosa. Es ist beides dasselbe: -Sehnsucht, die mit Dogma, Sitte und Form beschränkt und bemeistert war, -ist in Schrankenlosigkeit zerflossen. Mit alledem hängt es zusammen, -daß man diese Geschichten nur vernehmen und schlürfen, nicht behalten -will; sie tragen Vergessenheit in sich: immer wieder Vergessen des -Stofflichen wie Selbstvergessen des Hörers oder Lesers; man hat das -Bedürfnis, diese Geschichten wie Musikstücke, die mehr als faßliche -Melodie, die außen strömende und wallende Harmonie sind, immer wieder -zu genießen. - -Das ganz Eigentümliche an Shakespeares romantischem Bühnenspiel ist -nun, daß er solch ein völlig romanhaftes Gebilde zum Drama gemacht -hat, daß das Unfeste, Schwimmende, Schimmernde der buntbewegten -Abenteuerfolge zugleich mit der Bestimmtheit von Gestalten, die vor -unsern Sinnen stehen, auf uns eindringt. - -Weder kann ich nun die lebendige Kenntnis der Handlung voraussetzen -- -sie ist ebenso bunt und vielfältig und abenteuerlich und im Romanhaften -zerronnen, daß man sie immer wieder vergißt -- noch kann es meine -Aufgabe sein, sie hier ausführlich zu erzählen. Ich will nur an die -Hauptpunkte erinnern, vorher aber noch einmal darauf hinweisen, daß, -was fürs Gedächtnis des Lesers schwer zu behalten ist, dem Zuschauer -ohne weiteres sinnenmäßig eingeht: das ist Shakespeares eigene Größe, -daß seine Dramen zugleich im Bühnenmäßigen und im Sprachlichen gipfeln, -daß sie lebendigste Natur und höchster Geist, daß sie Sinn und -Sinnlichkeit sind. - -Das Stück heißt König Zymbelin, wie es Shakespeare immer liebt, -getreu dem Prinzip der Gliederung oder Rangordnung -- ~ab Jove -principium~ -- seine Darstellung eines großen Zusammenhangs nach dem -Herrschenden zu benennen. Die Gestalt aber, die von innen her in dem -Stücke herrscht, die die Einheit herstellt, um die sich alles dreht -und die die verschiedenen Kreise mit einander in Berührung bringt, ist -dieses Königs Tochter Imogen. - -Die Kompliziertheit der Handlung ergibt sich schon aus der ersten -Personalangabe: König Zymbelin ist in zweiter Ehe mit einer Witwe -verheiratet. Seine Söhne erster Ehe sind vor langer Zeit rätselhaft -verloren gegangen; seine Tochter erster Ehe hat zu seinem Zorn einen -Edelmann unter ihrem Stande geheiratet; die Ehe soll aufgelöst -werden, sie soll den Sohn, den die zweite Frau aus einer früheren Ehe -mitgebracht hat, Cloten, heiraten. Der Mann, Posthumus Leonatus, wird -verbannt; er fährt nach Italien. In einer internationalen Gesellschaft -wird er mit dem Italiener Jachimo bekannt und geht mit ihm eine -gefährliche Wette ein: seine Frau, die Königstochter Imogen, sei rein -und treu; jede Verführung müsse an ihr zuschanden werden. Hier sei -gleich darauf hingewiesen, wie Shakespeare in Märchenstücken dieser -Art mit voller Absicht und auch mit vollem Recht die Kulturelemente -mischt: der Kaiser Augustus des Volksbuchs ist ein ganz anderer als der -des Plutarch; und der Verfasser von Antonius und Cleopatra wußte, was -er tat, als er diesmal zur Zeit des sogenannten Cäsar Augustus moderne -Franzosen und Italiener einführte. - -Jachimo reist nach England; sein kecker Versuch, Posthumus zu -verleumden, Imogen zu verführen, mißlingt. Nun verleitet ihn -Gewinngier, Eigensinn, Ehrgeiz dazu, die Wette durch Betrug zu -gewinnen: in einer Kiste, die er von innen öffnen kann, läßt er -sich in Imogens Schlafzimmer tragen; er prägt sich die Einrichtung -dieses Gemachs und intime Merkmale an Imogens Körper ein. Mit dieser -Wissenschaft reist er nach Italien zurück; so überzeugt er schließlich -Leonatus; die Wette war eigentlich darum gegangen, ob es Ehre und -Treue beim Weibe überhaupt gebe; Posthumus war in der galanten -Männergesellschaft mit seinem Glauben allein gestanden, der ihm jetzt -zusammenbricht; Imogen ist ein Weib. Sein Vertrauter Pisanio soll sie -ermorden; der rettet sie; als Knabe verkleidet kommt sie in Wales in -eine Waldhöhle zu einem alten Mann und seinen zwei Söhnen; sofort -entsteht seltsame Sympathie der drei jungen Menschenkinder zu einander; -es sind ihre Brüder, die der Alte in ihrer Kindheit aus Rache und zum -Pfand gestohlen hatte; Cloten in den Kleidern des Leonatus -- sie hatte -einmal gesagt, ein Rock ihres Mannes wäre ihr lieber als der ganze -Dümmling Cloten -- kommt sie zu suchen und gewaltsam an sich zu reißen; -der eine Bruder gerät in Streit mit ihm, tötet ihn und schlägt ihm den -Kopf ab. Derweile ist Imogen von all ihrem Leid krank geworden; sie -trinkt eine Arznei, die sie von ihrer Stiefmutter erhalten hat; die -Königin hält den Trank für Gift; der Arzt, der es gut meint, hat ihr -aber nur ein Betäubungsmittel gemischt. Die Brüder halten den geliebten -Jüngling Fidele -- ihre Schwester Imogen -- für tot, den Rumpf Clotens -wollen sie fromm neben Fidele bestatten; die Leichenfeier halten sie -ab; sie entfernen sich. Imogen erwacht; neben sich erblickt sie den -Toten ohne Kopf in den Kleidern ihres Manns; sie ist verzweifelt; der -Feldherr der Römer, der gerade im Kampf mit Zymbelin des Wegs zieht, -nimmt Imogen-Fidele als Pagen mit. - -Derweile ist Leonatus in tiefer Reue über das, was er -- vermeintlich --- getan hat. Als römischer Offizier kommt er nach Britannien, -hilft aber, als Bauer verkleidet, die Schlacht zugunsten seines -Vaterlands entscheiden. In diesen Entscheidungskampf zur Rettung der -Unabhängigkeit Britanniens greifen ebenso der Alte -- der verbannte -Edelmann Belarius -- und die Söhne Zymbelins unerkannt ein. - -Mit dem Feldherrn der Römer kommt Imogen gefangen an des Vaters Hof, -und so löst sich alles: Leonatus und seine Frau finden sich wieder, -die beide einander als tot beweint hatten; Zymbelin erhält seine Söhne -zurück; der reuige Betrüger Jachimo wird begnadigt. - -Hat man sich so den Gang der Handlung im groben vergegenwärtigt, wobei -noch viele Episoden unerwähnt geblieben sind, so muß man wahrlich noch -einmal ausrufen: Welch erstaunliches Drama! Wie begreift man jetzt, -daß Shakespeare auch der Verfasser des dramatisierten Reiseromans -Perikles ist, der nur eine leichte Vorarbeit zu diesem dramatisierten -Volksbuch zu sein scheint. Gar nicht zu leugnen, daß dieses Stück -nicht minder wie etwa Kleists Käthchen von Heilbronn in gewissen -Teilen zum Gebiet der Schauerromantik gehört und daß die schnelle -Aufeinanderfolge der immer auf Irrtümern und Verwechslungen beruhenden -Verzweiflungsausbrüche das Kino vorwegnimmt. Es sieht aus, als habe -es Shakespeare gereizt, eben das Fürchterlichste und Schaurigste -immer noch ins Spiel der Romantik und des bloßen Scheins abzubiegen, -die Tragik immer wieder auf die Schwelle treten zu lassen und ihr -jedesmal den Eintritt zu verweigern. Überdies aber bot der Stoff eine -Fülle von Gelegenheiten, in der Handlung und in dem aus ihr fließenden -gesprochenen Wort die Zusammenhänge und Gegensätzlichkeiten zu -behandeln, die dem Dichter besonders am Herzen lagen. - -Eines dieser Themen ist das allgemeine Mißtrauen der Geschlechter -gegen einander, zumal des Manns, der sich als Herrn betrachtet, -gegen die Frau. Entsprechend der Mode der Zeit, wie sie in der -internationalen Novellenliteratur zum Ausdruck kommt, wird in den -Kreisen, in die Leonatus in Italien kommt, als Regel vorausgesetzt, -daß die Frau den abwesenden Ehemann betrügt. Und Hahnrei sein ist -nicht bloß und nicht einmal in erster Linie ein privater Schmerz, -sondern, wenn es bekannt und nicht gerächt wird, eine gesellschaftliche -Schande: die List der Frau erweist sich dann stärker als die -Herrengewalt des Mannes. Bei solchen Ehebrüchen trifft die Entehrung -nur den Ehemann; der überwiesene Einbrecher verliert nichts an -seiner gesellschaftlichen Geltung. Aus solcher Modegesellschaft und -Konvention der Leichtfertigkeit heben sich nun Leonatus und Imogen als -Ausnahmemenschen der Reinheit und des Adels; sie sind in Vertrauen -und hohem Geist geeint. In der Entfernung aber, wie der Betrug ihm -handgreifliche Beweise liefert, verzweifelt er und glaubt, Imogen sei, -wie die Weiber alle sind; da kommt es zu einem ungeheuren Ausbruch der -Verachtung gegen das weibliche Geschlecht. Die Situation, in der sich -Leonatus da findet, ist in der örtlichen Entfernung von seinem Weibe -genau dieselbe wie die Othellos, der mit Desdemona zusammen und doch -so vielfach von ihr geschieden ist: Leonatus lebt nicht mehr in der -Sicherheit des Wissens vom Innern dieses fremden Menschen, der dem -andern, dem ewig unbekannten Geschlecht angehört; und die Verstrickung -durch die Lüge ist so, daß Imogen überführt ist; denn wie kann -Leonatus annehmen, daß ein geachteter Mann, gegen den nichts vorliegt -und der keinen Grund hat, ihn zu hassen, um einer Wette willen ihn -so raffiniert umgarnt! Es ist wieder die Wahl, ob der Ehemann einem -ehrlichen Mann oder der Frau, die er nur durch seine Liebe kennt, -glauben soll; und wieder fällt die Entscheidung gegen die Frau aus. -Eine sonderbare Vorstellung von dem Dichter Shakespeare würde man sich -nun machen, wenn man nicht annähme, er habe bei diesen Teilen der -Handlung und bei den entsprechenden im Wintermärchen ebenso an seinen -Othello gedacht, wie wir es tun. Beide Male entscheidet der Mann wie -Othello: das Weib muß sterben; und beide Male glaubt der Mann, die Tat -der Rache auszuführen. Beide Male aber geschieht diese Ausführung im -Wahn; der Mann überlebt seine Tat, bereut sie, wünscht sie sehnlichst -ungeschehen; und zum Schluß zeigt sich: es war alles nur wie verzerrter -Traum und Fieber; die Tat ist in der Ausführung ins Reich des Spieles -gefallen; die Umkehr des Ehemanns und sogar des Betrügers steht nicht -im normalen Kausalzusammenhang mit der Rettung der verleumdeten -Unschuld: das Schicksal hat auf abenteuerlichen, wunderbaren Wegen -eingegriffen, und Natur und Gottheit haben wieder gutgemacht, was die -schnelle Rachetat schon vollendet glauben mußte und was die Reue nicht -mehr wenden konnte. - -Das üppige Gedränge der Geschehnisse läßt dem Dichter gar nicht -den Raum, das Innere seiner Gestalten so zu eröffnen und sie so in -schaudernder Wirklichkeit aus Seelengrund heraus leben zu lassen, wie -in seinen Tragödien des früheren Stils; Leonatus lebt uns nicht wie -Othello, und Jachimo nicht wie Jago; und auch Imogen, obwohl ihr des -Dichters besondere Liebe gilt, ist uns keine Desdemona: die Charaktere -sind nicht ausgeführt, und wir brauchen die Erinnerung an jene andern -Stücke Shakespeares, wenn wir die Lücken in der Seelenenthüllung, die -skizzenhaft bleibt, ausfüllen wollen. Auch Cloten, der Dümmlingsprinz, -steht nicht fest in seinem Charakter; je nachdem die Handlung eine -Gelegenheit zu Weisheit und Polemik bietet, läßt der Dichter ihn -manchmal erstaunlich kluge Sätze der Erfahrung sprechen. Es ist aber -offenbar Shakespeare bewußt, daß er es diesmal anders macht; wenn -uns seine Offenbarungen aus dem Reich der Affekte unendlich wertvoll -sind, so ist doch deutlich zu erkennen, daß er in diesen Stücken -gerade dieses Gebietes überdrüssig war: er hatte genug von Haß, Rache, -Mordwut, Umdunkelung und Gier; in seinem Timon ließ er einen Menschen -in Haß und Grimm losbrüllen; was er aber haßte, war die Gemeinheit -der ichsüchtigen Menschen; für sich wollte er nichts; Rache übte er -im Namen der verratenen Menschheit an eben dieser verräterischen -Menschheit; und seine Rache kam so grotesk übertrieben heraus, daß sie -ganz unwirklich und nur Bildersprache eines Phantasiemenschen wurde; -und was der Dichter so überwunden hatte und wessen Überwindung durch -eine nicht den Dämonen unterworfene, sondern geisterfüllte, göttliche -Natur und Vorsehung er gerade zeigen wollte, das wollte oder konnte er -auch nicht mehr mit intensiver, erbarmungsloser Kraft darstellen. Nicht -zu leugnen, daß diese Teile im Zymbelin, zum Beispiel des Leonatus -Posthumus Monolog, in dem die Wut gegen das ganze weibliche Geschlecht -ihn übermannt, von dem virtuosen Dichter aus Erinnerungen an früher aus -dem Tiefsten geschöpfte Ausbrüche gespeist werden. Um so wunderbarer, -wie er im Wintermärchen in einigen Szenen noch einmal mit voller -Kraft zur Tragödie zurückkehrt, um dann die Szenen des Spiels, der -Heiterkeit, der Überwindung sich ganz rein und leicht dagegen abheben -zu lassen. Im Zymbelin ist eines ins andre gemischt, und Shakespeare -rettet sich da vor der Tragik, die ihm Unlust und Qual zu bereiten -scheint, vor allem in die äußerliche Romantik der sich überstürzenden -und aller Wirklichkeit spottenden Abenteuer- und Wunderhandlung, die -freilich das Element des Spiels und vor allem der in starken Gegensatz -zur Zivilisationsverderbnis gestellten reinen und unschuldigen Natur -schon in sich birgt. - -Ganz entzückend sind die Szenen im Walde, wie Imogen, die sich schon -immer vom Hofe weg in ein Leben der Einfachheit und Natur gewünscht -hatte, auf der Flucht in Knabentracht zu ihren jungen Brüdern und dem -alten Mann kommt, der die Knaben dem Hof geraubt und in der rauhen, -gesunden Wildnis hat aufwachsen lassen. Dreierlei kommt da teils zur -Sprache, teils zur Gestaltung: der Gegensatz zwischen der Einfachheit -und Redlichkeit der Natur und der höfischen Lüge; der angeborene Adel -und heldenhafte Sinn, das Königsblut, das sich in den beiden Prinzen -meldet, obwohl sie nichts von ihrer Herkunft wissen; und schließlich -die Stimme des Bluts, das die Geschwister in sofortiger, zwingender -Liebe zu einander zieht, wiewohl sie sich nicht kennen. - -In diese Szenen hat der Dichter eine Fülle der Kraft, der Polemik, -der Weisheit und der Zartheit gestreut. In all den Stücken dieser -Art bekommt man den Eindruck, Shakespeare habe seine Werke vor allem -für die jungen Herren vom Adel aufgeführt und es habe ihm Freude -gemacht, ihnen immer wieder anschauliche Lehren zu erteilen. Sofort -zu Beginn dieses Teils, mit dem eine ganz neue Handlung einsetzt, -wird das niedrige Tor der Höhle mit den hohen prächtigen Türen in -Königsschlössern verglichen: - - Bückt euch, ihr Knaben: - Das Tor lehrt euch den Himmel ehren, gebeugt - Zu frommem Frühdienst. Königstore sind - So hoch gewölbt, daß Riesen durchstolzierten - Samt ihrem frechen Turban, ohne Gruß - Der Morgensonne. -- Heil dir, schöner Himmel! - Wir hausen hier im Fels, doch wir begegnen - Dir nicht so hart, als die in Schlössern wohnen. - -Und wie dann der Alte die Knaben auf die Jagd den Berg hinauf schickt, -gibt er ihnen sofort wieder eine Lehre: - - Ich bleib’ im Tal. Seht ihr von oben mich - Wie eine Krähe, denkt, der Platz nur macht - Uns klein und groß; bedenkt, was ich erzählt - Von Höfen, Fürsten und von Kriegeslist. - -Die Jungen aber wollen in die Welt; sie wollen sich nicht mit -Erzählungen belehrend moralischer Art und Warnungen abspeisen lassen; -sie wollen selber ihre Erfahrungen machen, um auch einmal so ein weiser -Alter zu werden. Da bietet sich dann gleich wieder Gelegenheit zu -einer Beschreibung der argen Welt: Wucher in den Städten; künstliches, -geschmeidiges Treiben am Hof; Bevorzugung des Schlechten und Unechten -auch im Kriegswesen. - -Wie nun Imogen als Knabe Fidele dazu kommt, verbindet sich mit dieser -Reinheit des Naturlebens, die auch sie sofort als Gegensatz zum Hof -empfindet, der Zug der Liebessympathie: die drei jungen Menschen nennen -sich, ohne zu ahnen, wie wahr es ist, unter einander Bruder, und Imogen -erweitert diese Liebe zum Wunsch allgemeiner Menschenverbrüderung: - - „Sind wir nicht Brüder?“ - Mensch und Mensch sollt’s sein! - Doch sieht der Lehm in Würden stolz auf Lehm - Herab und ist doch all ein Staub! - -Wunderschön, groß und rein ist dann, wie nach dem vermeintlichen Tod -Fideles da tief im Waldesinnern das Natur-Requiem angestimmt wird; -und auch hier wieder wählt Shakespeare den seltsamen Weg, Tragik in -Spiel zu wandeln, daß er uns vorher wissen läßt, die Trauer sei echt -und rein, doch Grund zu ihr sei nicht da: was da als tot beklagt wird, -lebt noch! Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit verkündet dieses -Natur-Requiem als Lehre der idyllischen Natur und des nivellierenden -Todes, eines Todes, der nur Schein und Maske tötet, aber nicht das -Wesen: der Tod macht frei; der Tod macht alles gleich; vor dem Tod sind -wir Brüder: - - Scheu nicht mehr das Machtgebot; - Fern von des Tyrannen Streich, - Sorg nicht mehr um Kleid und Brot, - Dir ist Schilf und Eiche gleich. - Zepter, Weisheit, Heilkunst werden - All auf einem Weg zu Erden. - -Vieles im Wintermärchen erinnert an Zymbelin: auch da in der Mitte -eine adlige, seelenvolle Frauengestalt; unbegründete, jäh ausbrechende -Eifersucht des Mannes gegen sie; das allgemeine Milieu wieder die -Hahnrei-Mode und Frauenverachtung, Frauendienstbarkeit; der Gegensatz -von Hirtenleben und Hof; die märchenhafte, romantisch abenteuerliche -Sphäre der Handlung. Aber es darf nicht geleugnet oder verschwiegen -werden, daß das Wintermärchen das Werk eines Meisters, König Zymbelin -aber trotz wunderbar schönen und tiefen Einzelzügen das Werk eines -wirren oder müden Suchenden und in elenden und gänzlich mißratenen -Einzelzügen das Werk eines Pfuschers ist. Der Unterschied zwischen den -beiden zeitlich und stofflich so benachbarten Werken ist viel größer -als der zwischen Clavigo und Götz; er ist so groß wie zwischen dem -Großkophta und dem Egmont oder zwischen Claudine von Villabella und -Iphigenie. Damit aber, daß ich an diese ungeheuere Verschiedenheit -im Werk Goethes erinnere, verfolge ich noch einen Nebenzweck. Goethes -Leben ist historisch, ist von Tag zu Tag bekannt; Shakespeares Leben -ist mythisch; von ihm als Menschen wissen wir eigentlich, wenn unter -Wissen völlige Sicherheit zu verstehen ist, nichts. So wenig aber, -wie eine Möglichkeit vorliegt, Goethe ein Werk darum abzusprechen, -weil es seines Idealbildes nicht würdig ist, weil es tief unter seinem -Besten zurückbleibt, so wenig dürften wir Shakespeare für unfähig -halten, sich hie und da recht von Herzen oder herzlos gehen zu lassen -oder in die Irre zu gehen oder auch etwas zu schreiben, was durch -geheimnisvolle vergängliche Beziehungen, die wir nicht mehr nachfühlen -können, seiner Zeit viel bedeutete, uns aber zu großem Teil nichts -als abstrus ist. Daß Zymbelin von Shakespeare stammt, ist freilich -noch nie bezweifelt worden; aber auch bei diesem Werk hat man, obwohl -nichts dafür und alles dagegen spricht, von einer Bearbeitung einer -Jugenddichtung reden wollen und hat auch da wieder den Versuch gehabt, -solche Teile, die einem besonders mißfielen, flugs für Einfügungen -von andern zu erklären, obwohl in Wahrheit die Handlungsteile und -selbst die Intermezzi so alle mit einander verzahnt sind, daß sich gar -nichts herausnehmen läßt. Daß doch die Leute immer einen Normaltypus -brauchen! Da sie Shakespeare zum Durchschnittsmenschen nicht machen -können, muß er der unentwegt Große und Fehlerlose sein. Er war aber -weder der betrunkene Wilde, als den ihn die französischen Kunstrichter -sahen, noch wird je die Sorte Klassiker aus ihm werden, zu dem ihn die -Klassenlehrer machen wollen. Ich glaube das Große, Neue zu ahnen, zu -dem Shakespeare mit König Zymbelin unterwegs war, und habe versucht, es -auszusprechen; wie der Schluß, den wir heute von Goethes Faust haben, -auf dem Wege der Resignation entstand, weil der Dichter ungeheuer viel -Größeres, von dem wir Proben in den Paralipomenen haben, nicht hat -bewältigen können, so ist das Wintermärchen im Vergleich zum Zymbelin -darum wieder meisterlich, weil Shakespeare sich da in seinem Suchen -nach dem neuen Ausdruck einer neuen Lebensstimmung beschränkt hat: er -hat im einen Teil die alten bewährten Methoden seiner großen Tragödie, -und im andern Teil die gleichfalls bewährten Methoden des romantischen -Lust- und Schäferspiels angewandt und hat das Schwerste des Schweren, -die Verbindung dieses Zweierlei zu einem neuen Stil, wozu er im -Zymbelin und im Timon und im Perikles lauter verschiedene und im großen -Ganzen nicht gelungene Anläufe genommen hatte, aufgegeben. Auf dem Wege -über die Zweiteilung des Wintermärchens ist ihm dann zwar nicht das -Ungeheure, unaussprechlich Neue, nach dem er gerungen hat, aber doch -eine edle, reife Einheit gelungen in seinem Schwanengesang, dem Sturm. - -~The Winter’s Tale~ heißt in der Tat das Wintermärchen; die -Übersetzung ist ganz richtig. Die Erklärung findet sich in der -entzückend lieblichen Szene, wo der junge Prinz, Leontes’ und Hermiones -Sohn, in der traulichen Frauenstube von den Hofdamen verhätschelt wird -und nun anfängt, seiner Mutter und den jungen Damen ein Märchen zu -erzählen. Traurig soll es sein, meint er: - - Ein traurig Märchen - Paßt besser für den Winter. - -Das Schöne ist nun, daß wir hier in diesem traurig ernsten Drama ganz -im Märchen und dabei ganz im Menschlichen sind; das Märchenhafte wird -nicht mit den üblichen Mitteln und Requisiten hergestellt. Der Prinz -wollte ein Märchen von Gespenstern und Kobolden erzählen; in dem Stück -aber greift, wenn man von dem nebensächlichen Orakel von Delphos (die -Insel Delos ist gemeint) absieht, gar keine Geistermacht ein. Das -Märchenhafte liegt ganz in der Stimmung des Ganzen, in dem, was die -Romantiker im feinsten, duftigsten Sinne Ironie genannt haben: in -aller menschlichen Ergriffenheit verlieren wir nie das Gefühl: es ist -ein Spiel. Und gelenkt wird das Spiel von einer Frau, die zugleich die -böse und die gute Fee ist, von Paulina, der Freundin Hermiones: sie -rächt die Frau am Zorneswahn des eifersüchtigen Mannes. - -Das Wintermärchen ist nächst dem Porzia-Stück, das Der Kaufmann von -Venedig heißt, das frauenhafteste Drama Shakespeares: Hermione, Paulina -und Perdita sind in ihren verschiedenen Tönungen die Vertreterinnen -lieblich ernster, natürlicher, fein gebildeter, denkender Unschuld. Und -Paulina ist so herzhaft, tapfer, konsequent bis zur Unerbittlichkeit, -so stark und scharf in ihren Reden, man fühlt so lebhaft, wie sie -- -so sagt man ja wohl -- „ihren Mann steht“, daß man -- es ist ja doch -ein Spiel, ein Spiel mit dem bösen Popanz von Mann, und ein anmutig -tiefsinniges Spiel mit uns Zuschauern -- daß man den Bericht von -Hermiones Leben in Verborgenheit und den sechzehn Jahren, die sie so -zur Strafe für den Wüterich fern war und für tot galt, gern hinnimmt: -daß diese Flucht aus der Ehe und aus dem Leben psychologisch so -trefflich aus der tiefgekränkten Seele der Frau heraus motiviert ist, -ist uns wichtiger als die Frage nach der äußern Wahrscheinlichkeit; -ja wir sind sogar lächelnd bereit zu helfen und sagen -- es ist ein -Märchen, sechzehn Jahre sind’s, damit Perdita inzwischen heranwächst; -im übrigen mag’s wohl kürzer dauern. - -Was sonst die Anachronismen und geographischen Freiheiten angeht, -so ist das Nötige darüber schon vorhin bei Gelegenheit von Zymbelin -gesagt worden: der Dichter braucht diese Aufhebung der von Zeiten, -geographischen Wirklichkeiten und Kulturen gesteckten Grenzen für -die Märchenstimmung. Und überdies haben die rechtes Unglück, die -aus so einem Fabelland wie dem am Meer gelegenen Königreich Böhmen -Shakespeares Unbildung beziehen wollen: diese und ähnliche Angaben -übernahm Shakespeare aus seiner Quelle, einer Novelle von Greene, der -ein akademisch graduiertes gelehrtes Haus war. - -Die zwei Teile des Märchens werden von der Zeit, die dazwischen als -Chorus auftritt, getrennt; der erste Teil besteht aus drei Akten, -die aber zusammen kürzer sind als die beiden letzten, und die ersten -zwei sind besonders kurz; durch ein überhitztes Fiebertempo müssen -sie noch zu besonders raschem Verlauf gebracht werden, während -die beiden letzten mit den Schäfer-, Spitzbuben-, Liebes- und -Erwartungssehnsuchtsszenen breit, behaglich und dann wieder schmachtend -ausladen müssen. Dieser zweite Teil mutet an wie eine Verbindung von -niederländischer Malerei und Romantik; wie wenn auf einer Kirmeß von -Teniers eine sehnsuchtsvolle Musik, die nicht enden will, gespielt -würde. - -So falsch es ist, in Othello den Vertreter der Eifersucht zu sehen, -so wahr ist, daß König Leontes an typischer Eifersucht, an Eifersucht -als Gewohnheit und Wesenszug erkrankt ist. Wie er im Grunde ist, wenn -diese Wahnsinnswut ihn nicht umklammert, sehen wir ihn erst spät; -beim ersten Auftreten, beim ersten Wort ist verzehrende Eifersucht -in ihm. Der Grund ist einmal, was wir vorhin bei Zymbelin sahen, die -allgemeine Mißachtung der Frau, die gesellschaftliche Bereitschaft, -ihr nicht zu trauen. Der Kampf der Geschlechter wird nicht aufhören, -solange die Welt steht; kennt kein Mensch mit ganzer Sicherheit den -andern Menschen, so noch weniger je ein Mann eine Frau und die Frau -den Mann; die Ehe also ist ein Bund besonderer Vertrautheit auf dem -Grunde besonderer Fremdheit. Kommt dazu das männisch-befehlshaberische -Regiment im Formalen des Hauses und Staates und die Lockerung der -Zügel im tatsächlichen Leben der Zivilisation, so daß Frauenanmut und -Frauenwitz öffentlich hervortreten, so bilden sich die Zustände in -der Gesellschaft aus, die diesen Stücken die Voraussetzung liefern. -Überdies aber kennt der König etwas nicht, was in solcher Zivilisation -der Renaissance sich frei an die Öffentlichkeit traut und was Hermione -in wundervoller Unbefangenheit kennt und übt: Freundschaft zwischen -Mann und Frau. Sie gesteht, unvorsichtig genug, frei und groß, daß -sie den Jugendfreund ihres Mannes, den König Polirenes von Böhmen, -liebe, wie es ihr Recht und ihre Pflicht sei. Ausdrücklich läßt -Shakespeare sie diese Freundschaft Liebe, ~love~ nennen, obwohl nicht -die leiseste Spur Begier oder Sexualität darin ist; Shakespeare weiß -aus ernstem und tiefem Freundschaftsleben, aus seiner ganzen starken -innigen Menschlichkeit, daß der Eros, aber darum noch lange nicht die -Geschlechtlichkeit, überall ist, wo Menschen sich in Sympathie zu -einander neigen und finden. - - Ich liebt’ ihn, wie sein Wert es forderte, - Mit solcher Art von Lieb’, als einer Frau - Wie mir geziemte. - -Auch Desdemona, wiewohl sie noch ganz ein Mädchen und von Natur und -Liebe aus viel mehr zur Unterwürfigkeit geneigt ist als die reife, -selbstbewußte Hermione, die ihren Gatten nicht mehr ehrt als sich -selbst, hatte ihren Trotz und ihre Unschuld darein gesetzt, Cassio -freundschaftlich zugetan zu sein und es ihrem Mann und aller Welt zu -zeigen; Hermione geht weiter und macht geradezu zur Bedingung ihrer -Ehe und ihres Lebens, daß sie in der Freiheit und freien Äußerung -ihres Gefühls nicht beschränkt werde. Er aber, der eifersüchtige -Narr, beobachtet unter Qualen jedes Lächeln und gar den Händedruck, -das Streicheln und dann den Erfolg ihrer liebreichen Bitten, zu denen -er selbst sie veranlaßt hat, der Freund möge noch bleiben. Es ist -wahr, daß Hermione sehr weit, bis an die äußerste Grenze geht und die -Mißdeutung nicht scheut; es ist wahr, daß ihr Verhalten eine Probe und -eine Prüfung für den Gemahl ist. - -Daß ihre Reinheit ihr dazu aber das Recht gibt, das sehen wir daran, -daß der König -- wie ganz anders als in dem Stück von Othello und -Jago! -- keinen einzigen Menschen findet, der seinen Wahnsinn teilt -oder begünstigt: alle ehren sie die wundervolle Frau; Camillo, -sein treuer Minister, tritt dem Herrn scharf entgegen und verrät -ihn schließlich lieber, als daß er im Dienst seiner Narrheit dem -unschuldigen König von Böhmen ans Leben geht. Nur Leontes -- vielleicht -im Gefühl, daß er sie nicht verdient -- hat kein Vertrauen mehr; es -bohrt und wühlt in ihm, bis die volle Wut ausbricht; nun war sie von -allem Anbeginn an niedrig und treulos: sein Sohn ist nicht von ihm, und -das im Gefängnis neugeborene Mädchen gewiß nicht: die Zeichen treffen -ein, neun Monate gerade ist der König von Böhmen in Sizilien zu Gast. - -Wie er dann anfängt zu toben -- wir haben es kommen sehen, es hat sich -lange genug vorbereitet, hat sich so lange in ihm eingedrückt und ihn -wie eine Feder zusammengepreßt, daß er mit einem Mal losbrechen muß ---, wieder der Frau, der Hochschwangeren den schlimmsten Schimpf ins -Gesicht sagt, da ist es himmlisch, wie sie, aufs tiefste verletzt, fest -und mild erwidert. Kaum versteht sie, was er Fürchterliches meint, so -denkt sie schon an ihn: - - Wie wird Euch dieses schmerzen, - Wenn Ihr zu hell’rer Einsicht kommt, daß Ihr - Mich also habt beschimpft! -- Liebster Gemahl, - Ihr könnt mir kaum genug tun, sagt Ihr dann, - Daß Ihr Euch irrtet. - -Sehr zu beachten ist aber, daß sie, die beschimpft und tödlich -beleidigt ist, die das Vertrauen ihres Gemahls verloren hat, die ins -Gefängnis abgeführt wird und gerichtet werden soll, nicht da getroffen -wird, wo Seele und Körper an einander grenzen: sie ist nicht gebrochen -oder außer sich; es kommen ihr, und sie weist selbst darauf hin, keine -Tränen; so himmlisch mild ist sie nicht von der Sphäre des Naturtriebs -und des Körpergefühls her; in ihr lebt der göttliche Funke des Geistes; -ihre Milde kommt daher, daß sie das Wesen des gepeinigten Mannes mit -einem weiten Blick übersieht; der Überblick über den Zusammenhang -macht es ihr möglich, den schweren Fehler dessen, über den dieser -Zusammenhang bis zur Verblendung und Betäubung zusammenschlägt, -übersehen, nachsehen zu können; nur für solche geistige Naturen ist im -Verstehen das Verzeihen inbegriffen. - -Zum Verzeihen ist sie im voraus geneigt für den Zeitpunkt, wo er wieder -zu sich, wo er zur Erkenntnis kommt; mit dem, der er jetzt ist, zu -leben ist ihrer Würde unmöglich. Bis dahin übernimmt die Führung ihre -kluge, resolute Freundin Paulina, die Verstand, Mutterwitz in hohem -Maße, aber nicht diesen schon fast nicht mehr menschlichen Geist der -verzeihenden Milde besitzt. Sie läuft vor allen Dingen zum König; ihm -muß die Meinung gesagt, muß der Kopf zurechtgesetzt werden. Solch ein -Narr! Solch ein Wüterich! In all ihrer Herzhaftigkeit hat sie etwas -entschieden Humoristisches, den Durchschnittsmenschen gegenüber lustig -Überlegenes an sich. Diese Höflinge! Was für Mannesseelen! Wie sie -sich den Mund selber verbinden, wie sie brav schlucken können, diese -armen Schlucker! Muß erst eine Frau kommen und tapfer die Wahrheit -heraussagen? Wir finden Antigonus, ihren Mann, und die andern Herren -vom Hof verhältnismäßig tapfer, im Verhältnis nämlich zu dem wütenden -Tyrannen, zu dem die Eifersucht diesen König macht. Paulina aber, in -zärtlicher Bewunderung für die herrliche Frau und innigem Mitgefühl, -hat nur Sinn für das Verhältnis zur Reinheit und Hoheit Hermiones. -Wie es dann zu der abscheulichen Gerichtsfarce kommt, noch mehr, wie -das Kindlein ausgesetzt wird und ihr eigener schwacher Mann sich dazu -hergibt, dies Entsetzliche zu besorgen, wie die Königin in tiefer -Ohnmacht totengleich daliegt, da ist Paulina entschlossen: mit diesem -Mann, für diese Untat muß die Männerwelt bestraft werden, die eine -Hermione nicht verdient. - -In ihr leben kann auch Hermione nicht mehr; für ihre Ehre ist sie -in großer Haltung, tapfer auf Freiheit und Menschenrecht bestehend -eingetreten, solange es not tat; nun die Ehre durch den Orakelspruch -des Gottes gerettet ist, muß sie tun, was ihre Seele schon immer -begehrte: sich zurückziehen aus dieser Welt. Ihr Sohn, der Erbe -ihres Geistes, dieses phantasievolle Kind, ist, weil er sich die -Kränkung seiner Mutter und den Riß, der seine Eltern trennte, zu -lebhaft vorstellte, gestorben; ihr neugeborenes Mädchen ist in der -Wildnis ausgesetzt worden; sie hat keine Wirklichkeit mehr, nur noch -die Hoffnung auf das Wunder, daß dieses Kind irgendwo lebt und ihr -wiederkehrt; das ist das einzige, was sie im Leben hält. - -So der Abgeschiedenheit geweiht ist aber von nun an auch Leontes, -ihr Gemahl. Jetzt, wo er sich in einer nicht wütigen, in einer ganz -stillen Reue verzehrt, wo er die Frau für tot, an ihm gestorben halten -muß, erkennen wir ihn erst in seinem wahren Wesen. Aber wir ahnen das -beinahe nur; das tragische Schattenspiel verschwindet; die alte Welt -dämmert in ihrem Todleben dahin; wir leben mit der neuen Generation. - -Der Übergang ist, wie es dem Sinnspiel taugt, märchenhaft: Antigonus, -der das Kind in einer Wüste aussetzen sollte, wird mit dem Schiff -an Böhmens Küste verschlagen, im Traum naht sich ihm die Gestalt -Hermiones, die er, da er wohl von Gespenstererscheinungen, aber nichts -davon weiß, daß der Geist einer Mutter aus ihrem Körper steigen und -in Angst und Sorge dem Kinde nachgehn kann, für tot halten muß; die -Frau, die, als ihr Gemahl sie bitter kränkte, ob diesem Einsturz des -gesellschaftlichen Gefüges, der Ehe nicht hat weinen können, vergießt -jetzt, wie sie um die Frucht ihres Leibes sich härmt, strömende Tränen; -sie fordert, daß Antigonus das Kind in Böhmen lasse, und gibt dieser -Tochter den Namen Perdita. Dann verschwindet die Erscheinung; bleibe -es ganz dahingestellt, ob Shakespeare hier ein Märchen gedichtet -oder mit vielen Denkenden unter unsern Zeitgenossen an eine solche -Fernkraft und Reisegabe der Seele geglaubt hat. Das Schiff, das das -Kind hergebracht hat, scheitert und geht unter; Antigonus wird von -einem Bären zerrissen; Perdita von einem Schäfer in Pflege genommen. -Nun räumt die Zeit die sechzehn Jahre weg: wenn der Vorhang sich wieder -öffnet, ist in der neuen Generation aus der edeln Freundschaftsliebe -zwischen Sizilien und Böhmen die echte innige Liebe zwischen Mann und -Weib geworden, wo Naturtrieb, Seeleninnigkeit und geistige Achtung in -einem beisammen sind: Perdita, die Schäferin, und Florizel, der Sohn -des Königs von Böhmen, haben sich in Liebe gefunden. - -Nun entsteht aufs feinste und natürlichste, so daß es nicht eigentlich -in die Aufmerksamkeit unsres Verstandes, nur in unsre Ahnung und unsre -Lust eingeht, in allem, was in Böhmen geschieht, ein Gegenstück zu dem, -was vordem auf Sizilien vor sich ging. - -Hier in Böhmen sind wir in der freien Natur, im ländlichen Leben, in -Spiel und Tanz; wieder, wie einst am Königshof, kommt die Wut und -stört die Liebe; die Wut des Königs von Böhmen ist es diesmal gegen -den Prinzen Florizel, seinen Sohn, der eine Schäferstochter liebt und -heimlich heiraten will; wie aber im ersten Teil Konvention, Pathos und -Tragik walten, so hier durchaus Freiheit, Heiterkeit und Komik. Wir -wissen von Anfang an, daß diesmal Natur und Adel vereint sind, daß -Perdita die vermeintliche Schäferstochter ihrem Geliebten ebenbürtig -ist; wir wissen, daß die Wut diesmal nicht zu tragischem Konflikt -führen kann. - -Es ist diesen Stücken eigentümlich, daß Maske und Verkleidung gewählt -wird, um gewagten Ernst aussprechen zu lassen. Im Zymbelin wird das -gesunde Bauerntum den verderbten Höflingen gegenübergestellt, und -die Bauern sind es, die das Vaterland retten; schließlich aber waren -es doch nur verkleidete Bauern, waren es Ebenbürtige, war alles nur -warnendes Spiel. Hier im Wintermärchen wird jede Gelegenheit benutzt, -um von dem alten Schäfer und seinem Sohn in treuherzigem Ernst, von -dem lustigen Spitzbuben Autolykus in überlegenem Spott, von Perdita in -natürlichem Selbstgefühl am Hof und seiner Überhebung Kritik üben zu -lassen. Stolz und freimütig ist dieses Naturkind Perdita; kaum kann sie -sich enthalten, dem König ins Gesicht zu sagen, - - Die selbe Sonn’, die seinen Hof bestrahlt, - Verberg’ ihr Antlitz unsrer Hütte nicht, - Nein, schau’ auf beide; - -aber sie ist damit das echte Kind ihrer Mutter; es kommt nicht zum -wahren Gegensatz und zur wahren Ebenbürtigkeit der Bäuerin und des -Fürsten; darf in diesen Dramen nur in Maske und Spiel Rousseausche -Naturstimmung nicht zu Ereignis, bloß zu Wort kommen? Zu starkem, -innigem und leidenschaftlichem Wort freilich; auch die Handlung -läßt sich so an, als ob die Natur über die Standesunterschiede -hinwegschritte, bis dann die letzte Wendung kommt. Der Prinz ist -bereit, um seiner Liebe willen auf alle Vorrechte zu verzichten, es -genügt ihm, sein Liebesgefühl zu erben und weiter nichts; der Minister -Camillo ist gewillt, ihm zur Ehe mit dem Schäferkind zu verhelfen. - -In der Tat ist für Shakespeare der Adel, der Geblüt heißt, und der -Vorrang, der diesem Geblüt zukommt, nicht bloß eine gesellschaftliche, -sondern eine Naturtatsache. Dieser Adel, diese natürliche Auszeichnung -vererbt und kumuliert sich, kann also nicht ohne weiteres für -nichts, für bloße Konvention erachtet werden. Die ganze Schärfe -von Shakespeares Kritik richtet sich gegen die Vertreter des Adels -und Fürstentums, die nicht erwerben wollen oder können, was sie -als Vätererbe besitzen; in den Waldszenen Zymbelins und verwandter -Stücke, in den Dorfszenen des Wintermärchens kritisiert er nicht den -Adel als Vererbung, sondern den Adel als Milieu, zeigt er, wie Leben -und Erziehung in Natur und ländlicher Einfachheit so unsäglich viel -gedeihlicher ist als in der Verderbtheit des Hofes. Manche seiner -Gestalten gehen weiter und sind zu der Anschauung bereit, daß diese -Verderbnis schon erblich, schon Verfall geworden ist, daß also der -angeborene Adel Ausgenommener, Vornehmer nicht mehr in der Natur -existiert; der Dichter selbst tut diesen Schritt noch nicht; vielleicht -mußte er auch nur von späteren Generationen getan werden, weil das -Leben des Adels, gegen das der Dichter seine Polemik richtete, in der -Folgezeit nicht besser, nur schlimmer wurde und den natürlichen Vorzug -der Privilegierten, der einmal Wirklichkeit war, allmählich in diesen -Jahrhunderten vernichtete. - -Da der Geburtsadel in Shakespeares Zeit noch etwas anderes war als -in unserer, da die Rückwirkung des Lebens auf den Keim noch nicht -so verderbend gewirkt hatte, bot dieses Stück Natur ihm auch noch -Probleme, die wir nicht ganz mehr so lebendig erfassen wie seine -Zeit. Da ist vor allem das Problem der Auffrischung des Adels durch -Volksblut, das Problem der Bastards, das Shakespeare immer wieder -gereizt hat. Hier im Wintermärchen ist es wunderfeine Ironie, wie -der, der bald zum Wüterich gegen seinen Sohn werden soll, König -Polixenes, dem Landmädchen, das, ohne es zu wissen, eine Fürstin ist, -von dem er aber demnächst vermeinen muß, sie verführe seinen Sohn den -Prinzen zu einer unadligen Vermischung, Unterricht über den Wert der -Bastardierung erteilt. In Perdita wie in den Söhnen Zymbelins bricht -das fürstliche Blut immer durch; sie weiß nur nicht, was es ist, und -nimmt es für Natur schlechtweg. Ihr vermeintlicher Vater, der alte -Schäfer, schilt sie aus über ihre vornehmen Manieren; und wie sie sich -dann entschließt, bei dem Fest und der Bedienung der Gäste mitzuhelfen, -wählt sie die adlige Weise: sie begrüßt die Gäste mit Blumen. Da kommt -nun die Rede auf eine Blume, die sie in ihrem Garten nicht duldet: der -gestreifte Sommerveiel, den manche, sagt sie, auch den Bastard der -Natur nennen: - - Ich hörte, - Nicht bloß die große schaffende Natur, - Auch Kunst hab’ Teil an ihrer Buntheit. - -Da belehrt er sie: - - Immer bleibt - Die Kunst, von der Ihr sagt, sie woll’ Natur - Verbessern, von Natur geschaffne Kunst. - Ihr seht, holdselig Mädchen, wir vermählen - Ein mild’res Pfropfreis mit dem wilden Stamm, - Befruchten eine Rinde schlechter Art - Durch edle Knospen. Dies ist eine Kunst, - Die die Natur verbessert, nein, verändert; - Doch diese Kunst ist selbst Natur. - -Solche Blumen, solche Züchtungen, ermahnt er, solle sie nicht Bastarde -nennen. Vielleicht müssen wir uns selbst mit unserer Phantasie einer -vergangenen Zeit aufpfropfen, um den ganzen holden Liebreiz dieser -Szene zu empfinden, wo derselbe Mann die Bastardierung rühmt, der dann, -wo’s ihm und seinem Geschlecht ans Blut geht, wütend aufbegehrt, und wo -wir doch als Eingeweihte im voraus wissen, daß die, die er mit Auge und -Herz erst so hold und dann mit Konvention und Verstand so verächtlich -findet, in jedem Betracht eine adlige Natur ist: dem Geblüt nach adlig -und nicht vom verderbten Adelsleben, sondern von der Natur erzogen. -Vielleicht aber wird es uns auf unserm Weg zur Zukunft hin gut tun, -wenn wir uns lebendig auf diesen Standpunkt Shakespeares versetzen? -Vielleicht ist unsre Zeit, die nichts von Züchtung und Erlesenheit -weiß, nur ein Übergang und eine Zwischenstufe? - -Will die Aufführung mit der Wiedergabe dieses zweiten Teils dem -Sinn der Dichtung gerecht werden, so ist es nicht genug, in diesem -vierten Akt, in den Szenen der weltunerfahrenen Bauern, des gerissenen -Spitzbuben, des holden Liebespaars Anmut, Derbheit und Lustigkeit -zu vereinigen und darüber dann die Wolke der Königswut streichen zu -lassen. Es muß vielmehr, wie es fortwährend in Worten geschieht, -so auch in der Stimmung dieser Szenen der Gegensatz zwischen der -natürlichen Freiheit, die hier waltet, zu der gepreßten Hofluft des -ersten Teils enthalten sein. Wir müssen nachträglich spüren, daß -zwischen der konventionellen Hahnrei- und Despotenwut des Königs -Leontes und den konventionellen Lastern des Hofes ein Zusammenhang -besteht. Wir müssen begreifen, warum es Prinz Florizel auch am -Hof seines Vaters nicht aushält und zu den Schäfern gegangen ist, -warum Autolykus, der einst eine gute Stellung am Hofe und seine -wohlgekleidete und -genährte Sicherheit hatte, lieber durchs Land -streicht und sich mit Gaunereien durchhilft, als seine Freiheit und -Heiterkeit wieder einzubüßen. Die Teile dürfen nicht von einander -getrennt sein; der Dichter hat zwischen allen einen Zusammenhang -hergestellt; es hat seinen guten Grund, warum Autolykus der freie -Vagabund den Prinzen, der dem Hof entflieht und den Menschenadel in der -reinen Natur sucht, lieb hat und seine Schelmenstreiche nur für ihn, -nicht gegen ihn anlegt. - -Kommen wir von dem Gebiet der Freiheit, in dem Perditia und Florizel -sich fanden, zum Hof des Königs Leontes zurück, so mutet uns die -Wandlung, die dort, die vor allem in der Seele dieses Königs -vorgegangen ist, an, als ob sie dieser Natur und Heiterkeit, von der -wir herkommen, verwandt wäre. Indem wir, nach der argen Pressung in -der wütigen Gewalttätigkeit, jetzt bei Tanz und Lied und Spiel und -derber Schelmerei und Ironie waren, erlebten wir in der erleichterten -Behaglichkeit, die in uns einzog, etwas, was der Befreiung des -Konventions- und Affektsklaven entspricht, die in all der Zwischenzeit -in unsrer Abwesenheit geschah. Wir glauben an sie, weil wir selbst in -derselben Richtung entspannt wurden; weil die Freiheit der Natur das -äußere Bild und die Vertretung der moralischen Freiheit ist. So löst -sich nun alles: der Minister Camillo, einer der seltenen Ehrenmänner, -die am Hofe aufrecht und selbständig bleiben, und Autolykus, der das -Intrigieren, das er am Hofe gelernt hat, gern in Freiheit besorgt, -bringen die Handlung in Gang: das Liebespaar flieht nach Sizilien, der -König folgt ihm nach, und dort wird Perdita an den Gegenständen, die -ihr Pflegevater bewahrt hat, und vor allem an der Ähnlichkeit mit der -Mutter erkannt. So ist denn das Wunder geschehen, um dessentwillen -Hermione in Abgeschiedenheit, ohne an einem Leben teilzunehmen, am -Leben geblieben war: das Kind ist da, eine neue Zeit ist gekommen, eine -neue Generation, eine neue Art Fürst, der den Adel in der natürlichen -Freiheit aufgerichtet hat, und von innen, von Reue und Liebe und -Vernunft her, ist Erneuerung und Befreiung auch über den König, -ihren Gemahl gekommen. Der hat gelernt: der Jugendfreund, dem seine -Eifersuchtswut galt, ist ihm jetzt der Bruder; und wie nun Hermione, -von den liebenden Blicken dieses Freundes zuerst als lebendig erkannt, -sich aus der Starrheit der Statue löst, da ruft Leontes, selbst wie ein -aus langem, bösem Zauber Erlöster, den beiden, seiner Frau und seinem -Freunde, zu: - - O vergebt, - Daß zwischen eure heil’gen Blicke je - Ich schnöden Argwohn warf. - -Hermione aber scheint Blicke und Sprache nur noch für eines zu haben: -für ihr Kind, auf das sie geharrt hat, das ihr aus der Freiheit -geschenkt wird und in der Freiheit den Geliebten fand. Was immer auch -dieser Verlorenen, dieser Perdita das Leben bringen wird: sie wird -ein Weib sein, das, in sich den ererbten Keim des Adels tragend, in -Freiheit aufgewachsen, von der Natur erzogen, ebenbürtig neben ihrem -Gemahl stehen wird; in dieser Generation gibt es beim Mann nicht die -Knechtschaft unter rohe Triebgewalt und Konvention, beim Weibe nicht -die Versklavung unter den Mann; Mann und Weib, ein Paar in Natur, -Freiheit, Adel. - -Das Märchen, das uns diese Dinge anschaulich und in Stimmung und in -manchem Wort der Weisheit und Polemik zeigt, ohne je der Abstraktion -oder Allegorie zu verfallen, das Wintermärchen ist zu Ende; mit kaltem -Grauen hat es begonnen, mit Frühlingshoffnungen, durch die noch ernste -Trauer webt, schließt es: das Märchen von Männerwut, Frauenheiligkeit, -Frauengeist, Frauenklugheit und Frauengericht; das Märchen von den -Sklaven der Affekte und Satzungen und von den Freien der Natur und des -Adels. Es ist uns nicht im entferntesten so ausgelassen zumut wie dem -frech gemeinen Klassenlosen und Enterbten Autolykus; aber das spüren -wir doch, wie er’s beim ersten Auftreten fast im Jubel gesungen hat: es -sprießt wieder unterm Schnee, die Liebe und die süße Zeit wollen wieder -ins Land kommen, und das rote Blut herrscht allmächtig in der Blässe -des Winters. - - - - -Der Sturm - - -Mehr als einmal in diesen Betrachtungen habe ich Grund gehabt, -Übersetzungen Schlegels als ungenügend oder falsch zu bezeichnen; oft -habe ich auch stillschweigend bei ihm wie bei andern den Text von -Stellen, die anzuführen waren, selbständig oder durch Aushilfe bei -andern Übersetzern verbessert. All die Ungenauigkeiten, Irrtümer, -Lässigkeiten und Abschwächungen, die man bei Schlegel gefunden hat -und noch findet, ändern aber nichts daran, daß er der größte, daß -er der wundervolle Übersetzer Shakespeares in die deutsche Sprache -ist. Es bleibt ein noch immer unersetzter Verlust, daß er nicht alle -Stücke Shakespeares übersetzt hat; lange schon haben wir ihn vermißt; -in der Folge von Stücken, die hier behandelt werden, war Hamlet das -letzte, dessen deutsche Fassung von ihm stammt. Der Sturm aber ist -wieder von Schlegel übersetzt, und in den entscheidenden Höhepunkten -wenigstens ist diese Nachdichtung ganz so trefflich wie seine andern -Übersetzungen; in den lyrischen Partien freilich fehlt dem deutschen -Ausdruck manchmal die Sicherheit und Notwendigkeit, der feste Sitz des -Bildes und der Stimmung im Rhythmus. Aber selbst wenn diese oder sonst -eine deutsche Fassung so gut wäre, wie sie irgend sein kann, sollte -jeder, der dazu imstande ist, mit oder ohne daneben gelegte Übersetzung -den Sturm im Original lesen: diese Mischung von Zartheit und Derbheit, -Roheit und Lieblichkeit, Feinheit und Gemeinheit, Naturgewalt und -Geistesschärfe, inniger Lyrik, plumper Prosa und schließlich noch -dämonisch elementarer Schlechtigkeit im hohen Ton der Verssprache ist -ganz unnachahmlich. - -Die Tradition sagt, der Sturm sei Shakespeares letztes Stück; es -spricht nichts dagegen, unser Wunsch spricht dafür, beweisen läßt es -sich nicht; der Zymbelin, das Wintermärchen, auch Heinrich VIII. -stammen aus derselben Zeit, den Jahren zwischen 1610 und 1612. Die -Herausgeber der Gesamtausgabe von 1623 haben den Sturm als erste in -der Reihe der Komödien gebracht und damit an die Spitze der ganzen -Ausgabe gestellt; auch diesen Umstand können wir, da das Gedicht in der -Fassung, in der es uns einzig vorliegt, ein ganz spätes Stück sein muß, -so deuten, als hätten Shakespeares Freunde diese erste Gesamtausgabe -mit seinem letzten Drama als seinem Vermächtnis und einem weihevollen -und tief persönlichen Dokument beginnen wollen. - -Was unser Wissen auf Grund von äußeren Tatsachen angeht, so steht -eigentlich nur fest, daß der Sturm im Jahre 1613 schon vorgelegen -ist: da wird er von Ben Jonson polemisch erwähnt. Daß Shakespeare -wahrscheinlich eine Stelle in Montaignes Essays benutzt hat, -deren englische Übersetzung 1603 erschienen ist, sagt uns für die -Abfassungszeit so gut wie nichts; und daß er den Bericht Silvester -Jourdans über eine Entdeckung der Bermudas, sonst die Teufelsinseln -genannt, vorher gekannt habe und nicht vor 1610, wo er im Druck -erschien, gekannt haben könne, ist eben auch nur wahrscheinlich. Und -gewisse Dokumente, die Nachrichten über Aufführungen bei Hof 1611 und --- zur Hochzeit des Winterkönigs -- 1613 bringen, stehn im Verdacht der -Fälschung. - -Wir wissen gar nichts davon, wo Shakespeare den Stoff her hat. Aber -es besteht eine Ähnlichkeit, die nicht zufällig sein kann, zwischen -Handlungsteilen des Sturm und der „Komödia von der schönen Sidea“ des -im Jahre 1605 schon gestorbenen deutschen Dramatikers Jakob Ayrer. Was -uns von der Handlung dieser Komödie angeht, ist folgendes: Der Fürst -in Littau, Sideas Vater, ist vom Fürsten in der Wiltau seines Reichs -beraubt und in die Wildnis getrieben worden. Mit einem Zauberstab bannt -er den Teufel Runcifall, der ihm prophezeit, er werde dadurch wieder -zur Macht gelangen, daß er den Sohn seines Feindes gefangennehme. -Dies geschieht denn auch mit Hilfe des Zauberstabs; der gefangene -Sohn des Feindes wird streng gehalten, muß Klötze schleppen und Holz -hacken; Sidea ist seine Wärterin, die bald Mitleid mit ihm empfindet -und sich von ihm entführen läßt. Nach allerlei Abenteuern, die mit -Shakespeares Stück keine Berührung haben, werden sie vermählt; es -kommt zur Versöhnung und zur Wiedereinsetzung von Sideas Vater in sein -Reich. Das Stück enthält sonst noch eine Menge meist komische Dinge, -die nichts mit dem Sturm zu tun haben. Daß Shakespeare nun dieses -Stück gekannt und daraus den Stoff zu seinem Gedicht bezogen habe, -ist sehr unwahrscheinlich; der Weg eines Dramas, und gar eines noch -ungedruckten -- erst 1618 erschienen Ayrers Theaterstücke im Druck --- von Deutschland nach England war bedeutend weiter als von England -nach Deutschland. Überdies gibt es eine Novelle in einer Sammlung des -Spaniers Antonio de Eslava, die ähnliche wunderbare und zauberhafte -Vorfälle an den Streit eines Königs von Bulgarien und eines Kaisers von -Konstantinopel anknüpft; diese Erzählung wurde 1609 oder 1610 gedruckt, -und insofern spräche nichts dagegen, daß Shakespeare, Ayrer und dieser -Spanier aus einer gemeinsamen Quelle, einer uns unbekannten Novelle -geschöpft haben. Den Schauplatz und den Namen der Fürstenhäuser bei -einer solchen Benutzung einer Vorlage jedesmal zu verändern, war in der -Zeit bei Dichtern und Handwerkern allgemein üblich. - -Nun spricht mir aber einiges dafür, daß der Zusammenhang noch -komplizierter ist. Ich möchte mich einer Vermutung anschließen, die -Tieck geäußert hat: daß der Nürnberger Ratsschreiber Jakob Ayrer -von einem aus England stammenden Stück angeregt wurde, das er von -den sogenannten englischen Komödianten in deutscher Sprache gehört -haben kann. Der Teufel, der bei Ayrer in den Dienst des Zauberfürsten -gezwungen wird, heißt Runcifall, und dieser Name weist auf englische -Herkunft hin: Runcival, von Ronceval aus der Rolandsage stammend, -heißt im Englischen Riese; und Ayrers Teufel hat nichts Geistiges oder -Ätherisches an sich wie Ariel, sondern ist ein ungeschlachter Kerl mit -Riesenkräften. - -Sind wir aber von Ayrers Stück her erst auf die Vermutung geführt -worden, daß es vor unserm Sturm ein englisches Stück gab, das die -nämliche Hauptfabel behandelte, so können wir der Annahme nicht wohl -ausweichen, daß nicht bloß der Deutsche Ayrer, sondern vor allem der -englische Schauspieler und Theaterdichter Shakespeare mit diesem -früheren Zauberstück etwas zu tun hatte. Wir reden da freilich nur -von Möglichkeiten, und mit jeder weiteren Vermutung, die wir auf -eine Vermutung bauen, wird unser Weg luftiger. Nachdem ich das -aber gesagt habe, darf ich den Mut haben, noch weiter zu muten: -für ganz ausgeschlossen kann ich’s nicht halten, daß das Stück, -dessen Bearbeitung Ayrer vielleicht kennen gelernt hat, ein verloren -gegangenes Stück des jungen Shakespeare war, daß also unser Sturm die -reife Bearbeitung eines Jugendwerks wäre. Was mich dazu bringt, mit -dieser Möglichkeit zu spielen, ist einmal das Stück, das Meres 1598 in -seiner „Palladis Tamia“ neben zwölf andern, darunter der Verlorenen -Liebesmüh’ als eine von Shakespeares Komödien rühmt: ~Love’s labour’s -won~, Gewonnene Liebesmüh’. Dieser Titel würde für eine jugendliche -Behandlung des Zaubermärchens ausgezeichnet passen; und die Versuche -der meisten Ausleger, ihn einem der vorhandenen Lustspiele Shakespeares -zuzuschreiben, das der Dichter später anders benannt hätte, wollen mir -nicht recht einleuchten; Titel wie Wie es euch gefällt oder Ende gut, -alles gut oder Viel Lärm um nichts deuten darauf hin, daß Shakespeare -sich für Stücke dieser Art gern mit einem Namen begnügte, auch wenn -er nicht viel besagte; wenn zum Beispiel, wie meist angenommen wird, -Ende gut, alles gut früher Gewonnene Liebesmüh’ geheißen hätte, -würde ich nicht recht einsehen, was Shakespeare dazu gebracht haben -könnte, diesen ausgezeichneten Titel, unter dem sein Stück schon so -früh Berühmtheit gefunden hätte, wieder aufzugeben. Dagegen wäre mit -meiner Annahme durchaus erklärt, warum das schon 1598 berühmte Stück -Gewonnene Liebesmüh’ von dem Herausgeber der Gesamtausgabe nicht -aufgenommen wurde: weil es nur eine unvollkommene erste Fassung eines -so vollendeten Stückes wie Der Sturm wäre. Überdies aber finde ich -in unserm Sturm eine Stelle, über die ich nur mit Hilfe der Annahme -hinwegkomme, daß sie ein Rest aus einer früheren Fassung ist. - -Es ist sehr wahrscheinlich, daß in der Vorlage, nach der Ayrer -arbeitete, die beiden Fürsten, deren einer den andern entthronte, keine -Brüder waren; der biedere Mann hätte gewiß eine solche Steigerung -des Konfliktes, wenn er sie vorgefunden hätte, nicht getilgt; sowohl -bei ihm wie bei dem spanischen Erzähler handelt es sich um einfache, -nicht durch Verwandtschaft und besondere Ruchlosigkeit komplizierte -Feindschaft. Die Stelle, die ich meine, deutet mir nun darauf hin, -daß erst der reife Shakespeare diese Änderung der äußern Handlung -vorgenommen hat und sich so die Gelegenheit verschafft hat, nochmals -auf das Rachethema seines Hamlet zurückzukommen, und daß in seinem -eigenen Stück die Feinde anfangs keine Brüder waren. Jetzt ist es so, -daß an der ruchlosen Entthronung und Aussetzung Prosperos, des Herzogs -von Mailand, zwei Fürsten beteiligt sind: sein Bruder Antonio und -Alonso, der König von Neapel. Dieser Alonso hat einen Sohn Ferdinand, -und dieser bringt mit seiner von Prospero geförderten Liebe zu -Miranda die Feindschaft zur Aufhebung und Versöhnung und brüderliche -Menschenliebe zum Sieg. Sowie Shakespeare die Feinde zu Brüdern machte, -konnte der Jüngling, der beim ersten Blick in Liebe zu Miranda fiel, -nicht mehr der Sohn des Usurpators von Mailand sein, weil er sonst der -blutsverwandte Vetter seiner Geliebten gewesen wäre, und das ging nicht -an; der Sohn des Feindes wiederum mußte er aber sein, und so mußte ein -zweiter Feind in Gestalt des Königs von Neapel erfunden werden, unter -dessen Lehnsoberhoheit der Usurpator Mailand verräterisch gebracht -hatte. Diese Entwicklung der Fabel folgere ich aus der Tatsache, -daß nur bei Shakespeare von Bruderfeinden die Rede ist, und aus der -einzigen Stelle, die ich jetzt zu nennen habe. Wie Ferdinand zum -ersten Mal vor Prospero erscheint, erwähnt er in dem Bericht von dem -Schiffbruch, den er erstattet, einen Sohn des Herzogs von Mailand, der -auch mit untergegangen wäre: - - Der Herzog Mailands und sein guter Sohn - Auch unter dieser Zahl, -- - -worauf Prospero, der nur sich als echten Herzog von Mailand anerkennt, -beiseite bemerkt: - - Der Herzog Mailands - Und seine beßre Tochter könnten leicht - Dich widerlegen -- -- - -Wir wissen aber, daß in Wahrheit niemand untergegangen ist; feierlich -versichert Prospero seinem Kind von vornherein, - - Daß keine Seele, nein, kein Haar gekrümmt - Ist irgend einer Kreatur im Schiff --. - -Wo ist aber dann dieser Sohn des Usurpators von Mailand, dieser Neffe -Prosperos hingekommen? Nur dies einzige Mal wird er erwähnt; wir -finden ihn nicht bei den Gestrandeten, er existiert gar nicht, die -Stelle ist nur aus Versehen stehen geblieben. Sie zeigt mir aber, daß -Shakespeares Fabel zuerst so aussah wie die Ayrers: zwei Feinde, nicht -verwandt, der eine hat einen Sohn, der andre eine Tochter, die zwei -werden mit Hilfe mächtigen Zaubers ein Liebespaar. Als dann die Feinde -Brüder wurden, mußte ein neuer Sohn und zu ihm, da er durchaus der Sohn -eines Feindes sein mußte, ein neuer Feind als Vater erfunden werden; -der ursprüngliche Sohn blieb zuerst auch noch im Stück; späterhin -aber -- vielleicht, als aus wichtigem inneren Grund noch ein neuer -Bruder, der Bruder des Königs von Neapel, Sebastian eingeführt wurde --- konnte Shakespeare mit dem ersten Sohn nichts mehr anfangen, und so -existiert er nur noch in dieser einen Erwähnung, die merkwürdigerweise -aus dem Munde des andern Sohnes kommt, der ihn verdrängt hat. Ist -aber diese meine Erklärung der rätselhaften Stelle richtig, wie mich -wahrscheinlich dünkt, weil sie die Veränderung, die Shakespeare mit der -überlieferten Fabel vornahm, auf Gründe innerer Handlung zurückführt, -so muß man annehmen, daß Shakespeares Stück auf einer früheren Stufe -eine Handlung hatte, die der von Ayrer behandelten einfacheren Fabel -entsprach, und so findet die Annahme, Ayrers Vorlage könnte ein Stück -des jüngeren Shakespeare gewesen sein, eine Stütze. - -Ich wiederhole: von alledem wissen wir nichts. Es kann so sein, und -es ist sogar einer der ausphantasierten Zusammenhänge, in die ich ein -wenig verliebt bin; aber würden irgendwelche bestimmte Daten entdeckt, -so wäre die plausible Phantasie vielleicht widerlegt. Denkt man aber -daran, wie allgemein üblich es in der Shakespearephilologie ist, auf -eine nicht ganz sichere Vermutung oder nicht ganz eindeutige Tatsache -ganze Häuser zu bauen, so möge man meine mit geziemender Vorsicht -vorgebrachte Hypothese, wenn man nicht an sie glaubt, wenigstens zur -Erschütterung anderer Hypothesen benutzen, die nicht besser begründet -sind. - -Daß der Geist dieses Stückes nur von Shakespeare, und nur vom -reifen Shakespeare stammt, ist sicher, und so gut wie sicher, daß -viele Einzelzüge der äußern Handlung, die zur Motivierung und zur -Gegenüberstellung der drei Reiche dienen, wie die Gestalten Calibans -und Ariels, die Repräsentanten der niedern Sphäre Trinkulo und -Stefano, der Rat Gonzalo, der neue Brudermordversuch, von ihm gedichtet -sind. - -Immer hat man in dieser Komödie etwas besonders Weihevolles und -eine tiefere Bedeutung gefunden; hat man schon Hamlet mit Goethes -Faust verglichen, so hat man, wozu sehr viel Grund besteht, den -Sturm wiederum mit Hamlet und auch mit Faust in Parallele gesetzt; -Strindberg, dem der Sturm mit seinem Geist der Vergebung und Versöhnung -in seiner letzten Zeit besonders nah gehen mußte, hat sogar daran -erinnert, daß der Name Prospero eine ähnliche Bedeutung hat wie -Faustus: der Begünstigte, der Götterliebling, der Gedeihliche. - -Immer hat man bei diesem Geistesfürsten auch an eine besondere -Beziehung zu Shakespeare dem Dichter und zu seinem Abschied von der -Produktion gedacht; und auch dazu besteht Grund genug. In der Tat darf -man sich bei dem Drama von Prospero, dem Fürsten der Geister, der sein -letztes und höchstes Werk, das Werk der Versöhnung anstatt der Rache -tut, an Shakespeare und die Werke seiner letzten Periode gemahnen -lassen, an die alles verzeihende Milde am Schluß des Zymbelin, an das -Wintermärchen, an die Gestalt Katharinas in Heinrich VIII.; an -Shakespeare bei dem Geisterkönig, der nun den Zauberstab in die Erde -versenken und sich zur letzten Ruhe bereiten will. Und man darf noch -weitergehn, man darf im allgemeinen bei dem Stück im Sinne haben, daß -dieser Dichter in seinem Denken, Wollen, Phantasieren, im Gefühl seines -Könnens und seiner Berufung immer mit den Dingen des Regiments, der -Ordnung, der Gesellschaft, des Staats zu tun hatte und daß ihm doch -so gut wie jede tatsächliche Einwirkung, jede Stellung gebieterischer -Art genommen war. Dichten ist immer Resignation, das Phantasieland -immer ein Exil, Form immer Beschränkung, Metrum der Verse und Maß -der Gesinnung beim genialen Menschen immer nur der Maßlosigkeit -abgerungen, und Shakespeare, wie jeder überragend große Mann des -Geistes, fühlte sich von seinen Zeitgenossen, von den Gewalthabern -der Öffentlichkeit in die Einsamkeit verbannt und wie auf eine Insel -gestoßen. Von dieser seiner von Wildheit umbrandeten Insel des Geistes -aus hat er dann, wie mit Zaubermitteln, die aus der Entfernung wirken, -alle Elemente der Natur und alle Geistermacht in Bewegung gesetzt und -dann doch noch, tief in die Seelen hinein gewirkt; ohne irgend welche -physische, tödliche Macht, nur durch die Gewalt des Worts, durch -eine geistige Magie ohnegleichen hat er gezwickt, geplagt, geneckt, -bloßgestellt, entlarvt, vergolten und gestraft: und nun, ganz reif, -ruhig, friedfertig, müde geworden hat er nur noch Werke der Liebe, -der Versöhnung, des zauberischen Spiels getan, um schließlich den -Zauberstab niederzulegen, sich von allem zurückzuziehen und zum Sterben -zu gehen. - -All das darf und soll uns das Stück in seinen Höhepunkten immer wieder -umschweben, darf die seltsamen Vorgänge mit Weiterem, Tieferem, dessen -Zeichen und Ausdruck sie sind, in Verbindung bringen; doch mehr auch -nicht. Abgesehen von einer kleinen festlich-lyrisch-mythologischen -Einlage, in der sich Shakespeare dem Zeitgeschmack anbequemt, ist -er auch in diesem mit Bedeutung geladenen Drama keineswegs ein -Allegoriker; die Vorgänge enthalten die Bedeutung in sich; sie weisen -nicht auf Bedeutungen hin, die irgendwo draußen wären. Keineswegs -dürfen wir meinen, es seien Rätsel oder Chiffern zu raten, und Ariel, -Miranda, der Liebesbund, Caliban usw. bedeuteten das und das. Diese -Gestalten und Vorgänge bedeuten sich selbst; die gesamte Handlung, -die äußere wie die innere, erleben wir in aller Märchenhaftigkeit als -Wirklichkeit und gewahren so mit allen Sinnen, im Gemüt und im Denken -ein sinnvolles Spiel von der Überwindung und Rache für Gewalttat nicht -durch Blut und Mord, sondern durch Geistesmacht, der die Natur mit all -ihrem Bösen und Guten dienstbar ist. - -Und so viel wir uns durch eine allegorische Deutung nehmen, -beeinträchtigen, fälschen würden, so verkehrt wäre auch der Versuch -einer rationalistischen Erklärung. Zu solcher natürlichen Erklärung der -Wunder dieses Schauspiels gäbe sich mancherlei her: verhärtete Leute, -die schlimme Dinge auf dem Gewissen haben, sind, könnte man sagen, -an einer Fieberinsel gestrandet; in der Krankheit kommen allerlei -Wahnvorstellungen und Besessenheiten über sie, die alten Sünden -erwachen und nehmen die Form von Halluzinationen an. Auch hier ist es -so, daß wir all dessen gedenken, daß uns solche Begleitvorstellungen -auftauchen dürfen; die Welt der Seele ist in allen Formen und -Verkleidungen, seien sie Musik oder Begriffssprache oder Märchen oder -Krankengeschichten, dieselbe; aber Shakespeares Ganzes und Echtes haben -wir nur, wenn wir ins Land seiner Dichtung gehen und diese Zauberwelt -drei Stunden lang als Wirklichkeit nehmen. - -Auch darnach brauchen wir, hier so wenig wie anderswo bei Shakespeare, -viel zu fragen, wie weit er an solche Geister und Dämonen geglaubt -hat. Daß er in Glaubensvorstellungen irgendwelcher bestimmten -Einkleidung nicht befangen, daß er nicht ihr Sklave war, daß sein die -Religion als Kunst war, die unsre Romantiker als Ironie begründen -wollten, geht daraus hervor, daß Vorstellungen abergläubischer Art -sich ihm niemals da einschlichen, wo sie nicht hingehörten. So war es -für seine Ausdrucksgewalt, für den Reichtum seiner Motive, für die -Selbstverständlichkeit, mit der er sich in den Mythologien der Antike, -der Christenheit, der Naturvölker und niederen Stände bewegte, ein -bedeutender Vorteil, daß solche Vorstellungen zu seiner Zeit im Volk -wie in der gelehrten Literatur völlig lebendig waren; der Zeitgeist -im allgemeinen glaubte an Hexen, Teufel, Geister, Elfen, magische -Bücher und Beschwörungsformeln und an die ausnahmsweise Möglichkeit -des Verkehrs zwischen Menschen und dämonischen Mächten. Ich habe -schon früher gezeigt, wie dieser Glaube mit der Naturwissenschaft, -mit dem Versuch, das neue Wissen zu einem ungeheuern Können zu -steigern, die Religion durch die Wissenschaft zu erneuern und zur -übergewaltigen Macht des Geistes zu erheben, in engster Beziehung -stand; es darf hinzugefügt werden, daß unsre strenge, kahle, logische -Scheidung zwischen einer berichteten Tatsache, an die man glaubt, und -der tieferen Bedeutung, dem Sinn, den ein solcher Bericht, etwa ein -heiliges Dogma ausdrückt und der diese geglaubten Tatsachen von den -Gefühlen unendlichen Hinüberlangens, Ausgreifens und Aufschwebens -begleiten läßt, so daß ein Jauchzen und eine Gewißheit, die selige -Schau der Wahrheit in uns ist, -- daß diese Scheidung und dieses -Unvermögen zum Mythos dem Zeitalter des Glaubens, dem die Renaissance -gerade noch angehört, so fremd waren, wie uns in Wahrheit dieser echte -Glaube fremd geworden ist: wir kennen nicht mehr die Erschütterung -und Durchdrungenheit durch das Epische, durch die Erzählung von -Geschehnissen, in der sich der Sinn und die Hinweisung auf ewige, über -die Sinnenwelt hinausführende Bedeutung birgt. Shakespeare steht dieser -Welt des Mythus, des Dogmas, des Kultus als ein Bewältiger gegenüber, -der gerade noch fähig ist, sich überwältigen zu lassen; als ein Heller, -der, wie im Licht, so noch in der Flamme steht; als ein Freier, der -die Ehrfurcht noch nicht verlernt hat; als ein Weiser schließlich, -der noch ein Kind sein kann. Er steht der Zeit noch nahe, in der in -Deutschland jener Georgius Sabellicus durchs Land zog, der sich den -jüngeren Faustus nannte; und sein Zeitgenosse war Giordano Bruno, -- -mit dem er in jungen Jahren sogar persönlich verkehrt haben könnte. -Wie in der Luther- und Faust- und Hamletstadt Wittenberg, so auch in -London hat der italienische Genius des Lichts und der Flamme längere -Zeit gelebt; der junge Shakespeare war damals schon in London, und es -spricht gar nichts dagegen, daß Bruno, der dem Philipp Sidney ein Buch -gewidmet hat, den jungen Dichtersmann persönlich kennen gelernt haben -könnte. In ihm wäre Shakespeare dem genialsten Vertreter des Typus, der -zugleich Ketzer und Magier, Gläubiger und Naturforscher, Philosoph und -Mystiker war und dem das Element des Geistes mit Spiel und Neckerei -und satirischer Plage der Bösen und Dummen in engster Beziehung stand, -nahe getreten; dem Vertreter des Typus, der mit Faust und Prospero zur -dichterischen Mythusgestalt erhoben worden ist. - -Eines aber bringt Shakespeares Sturm und die Stellung seines Prospero -in Gegensatz wie zu der Rolle der Geister und Elementardämonen in -Macbeth und Sommernachtstraum so zur Faustsage noch in ihrer letzten, -höchsten Gestalt bei Goethe. - -Im Macbeth und im Sommernachtstraum kommt es zu keinem Bunde der -Geisterwelt mit den Menschen, zu keiner Dienstbarkeit: was innen in -den Menschen schon dämonisch, lockend, verführerisch, irreführend da -ist, scheint draußen in der Natur noch einmal, parallel, wie eine -Spiegelung, zu leben; das Reich der Geister ist dem Seelenleben des -Menschen wie eine Verstärkung oder wie das Quellgebiet, aus dem all -seine wilden Triebe zu fließen scheinen. Im Sommernachtstraum halten -sich die Geister in kühler Ferne; sie greifen wohl ein, necken, hetzen, -plagen oder begünstigen; aber der Mensch hat keinen Einfluß auf sie -und keine unmittelbare Kenntnis von ihnen; sie sind, was bei ihrem -schwebenden, flitzenden Wesen ganz gut zusammengeht, so scheu, wie -sie zudringlich sind. Daß Macbeth hinwiederum sich mit ihnen einläßt, -ist ein Sinken, hinab in das höllische Reich, das auch drunten in ihm -wohnt. Die Hexen und ihre Meisterin führen ihr Werk durch; der Mensch, -der ihnen verfallen ist, erfährt nicht mehr von ihnen, als sie wollen; -er hat keine Macht über sie. - -Faust und Prospero haben Macht über die Geister; die sind ihre -Diener. Faust aber ist nur dadurch Herr über dämonische Gewalten -und ihre einzelnen Leistungen, die sie ihm für bestimmte Frist -gewähren, daß er der Teufelsmacht von einem bestimmten Punkt ab ein -für allemal verfallen ist; er darf ihr eine Weile gebieten, weil er -ihr ewig untertan sein soll. So wäre es für Fausts Bewußtsein selbst -noch bei Goethe, wenn man es so genau nähme, wie man es für diese -Gesamtdichtung freilich nicht darf; man muß sie läßlich nehmen, wenn -man nicht Unbestimmtheiten und Schwankungen finden will statt der -Einheit, die Goethe meinte, als er sich entschloß, ein Werk doch noch -zu vollenden, dessen erster Teil ihm fremd geworden war; daß der -Böse, der dem Menschen dient, damit wieder Gottes Plänen mit dieser -Menschen-Entelechie hilft und sie zur Gnade und in ihre Steigerung -hinein reizt, geht in Fausts eigenes Gefühl von seinem Verhältnis zu -Mephisto nicht eigentlich ein. - -Prospero allein hat seine volle Menschenfreiheit bewahrt und durch -seinen Zwang über die Geister gesteigert; er hat sich zu nichts -verpflichtet, ist in nichts untertan oder angetastet; es ist keine -Rede von Höllendienst oder schwarzer Magie; was uns alle in Lüften -umspielt und doch in seiner ungebundenen Freiheit, von uns unbehelligt -und ungewahrt bleibt, hat er erkannt und eingefangen, so wie der Müller -den Wassergeist fängt und seine Mühle treiben läßt oder wie wir sonst -Naturkräfte zähmen; ihm, dem Mann des überlegenen Denkens, dient die -Natur mit ihren schöpferischen, ihren bösen und guten Kräften nach -seiner Bestimmung, so wie wir den Blitz eingefangen haben und zu -stillem Leuchten und rastloser Arbeit bringen; er lenkt die Geister, -wohin er will; er zwingt sie, beherrscht sie, ist Fürst über sie. Er -hat gelernt, sich der Mittel zu bedienen, diese Kräfte zu rufen; er -tut es, solange und wie er will, als einer, der es darf, weil er dazu -berufen ist; und er läßt es dann wieder, ganz freiwillig; niemandem -verantwortlich als sich allein. Freilich ist er in dieser gesteigerten -Sphäre genau so irgendwie beschränkt, wie der Mensch immer; bis zu -einer bestimmten Grenze reicht seine Macht, nicht weiter; bestimmte -Geister dienen ihm, andre existieren nicht für ihn, er kann sie nicht -rufen. Und er muß die Dämonen in ihrer eigenen Sphäre und Begrenzung -lassen und sich ihrer Natur anpassen, wenn er sie nutzen will; muß -leicht und wie fliegend und lieblich schmeichlerisch kosend mit Ariel -umgehen und hat ein tragisches Erlebnis mit Caliban, weil er sich -unterfängt, ihn erziehen und heben zu wollen; aber die Strafe, die -ihn darnach trifft, ist eben die natürliche Folge dessen, was er tut: -Enttäuschung und Rückschlag; in dieser Übernatur geht alles natürlich -zu, und dieser Übermensch steigt oder fällt nie aus dem Menschlichen. -Er muß geduldig sich in die Bedingungen seiner Existenz fügen, muß -auch die Gelegenheit zu seiner Vergeltung in Ruhe abwarten: er ist ein -erhöhter Mensch, aber in keinem Punkte ein Unbedingter. - -Hier also sind die Elementardämonen, der luftig neckische, feenhafte -Geist wie das Wüsteste und Böseste in den untern Bezirken der Natur, -in den Dienst des überlegenen, freien Menschengeistes gezwungen. -Die Menschenkraft, die Kraft des Geistes, Kraft der Vernunft wie -des Gemüts, ist sieghaft oben; keinerlei Sünde oder Frevel, keine -Verschuldung, kein Zugeständnis an feindliche Mächte ist für den -Magier mit seinem Tun verbunden; es ist alles hell, heiter; der -Sproß eines Teufels und einer Hexe wird ohne Gnade in den Dienst -gezwungen und, soweit es nur irgend geht, unschädlich gemacht und -vom Menschlichen überwunden; Sprengstoff wird immer zerstörerisch -bleiben, und vergeblich wäre ein erzieherisches Bemühen, ihn etwa in -Pflanzensamen zu verwandeln; aber der Mensch kann die zerstörende Kraft -zu den Zwecken seines Bauens verwenden. So übt Prospero die Macht des -Menschlichen über die von Geist und Kraft durchflutete Natur; nicht -zu Werken der Technik oder irgend eines Genusses; die Gleichnisse aus -diesen Bereichen waren Gleichnisse, nichts weiter; er lebt auf seiner -verlorenen Insel mit seinem Kinde das Dasein einfacher Menschen; er -läßt sich keinen Palast bauen und keine Schätze herbeischleppen, -sondern Brennholz in seine Hütte, damit sie nicht frieren; all sein -Sinnen und herrschendes Walten gilt nur der Seelentat, sich und -seinem Kinde durch Geisteskraft das Leben zu wahren, das er nach -menschlichem Alltagsermessen verwirkt hatte, und die rohe Gewalt der -Menschenniedertracht, die ihn überwältigt und wie ermordet hatte, -durch den Geist und, wenn’s zum Letzten kommt, durch die Liebe zu -besiegen; durchaus verdient Prospero den Namen, den Goethe in seinen -„Geheimnissen“ einem so höchst wunderbaren Mann des Geistes geben -wollte, den Namen Humanus. In seinem Faust hat Goethe das herrliche -Wunderwerk vollbracht, in dem himmlischen Zusammenhang, der vom -Prolog bis zum Epilog im Himmel geht, die Gottesmacht zu entteufeln, -zu entmenschen, zu entchristen; Shakespeare in seinem Prospero hat -den Menschen entchristet und hat einen Mann geformt, der ein Freier, -in Reinheit, in Adel, in Schönheit, mit gutem Gewissen, weil in Güte -herrlich den Elementen gebietet. Was für eine unsägliche, was für eine -das Menschenleben von Generationen und Generationen für Jahrtausende -vorwegnehmende Tragik liegt aber darin, daß dieser Reinste und Größte -und Höchste und Mächtigste der Sterblichen, nachdem er seiner Seele -Genugtuung geschaffen und an die Stelle des Hasses die Liebe gesetzt -hat, am Leben, an der Natur, am Geiste für seine Person genug hat, zur -Seite geht und sich zum Verstummen und Verscheiden rüstet. Das ist für -mich der Gipfel der Renaissance und damit der bisher erreichte Gipfel -unsrer neueren Menschheit: der vollendet zur Herrlichkeit gediehene -Personalismus, der in seiner Glorie resigniert; ganz und gar das -Gegenbild zu dem Christus, der vom Marterholz zum Himmel emporsteigt. -Prosperos gebietende Gestalt und Apotheose im Abscheiden steht mir da -wie ein Werk von einem bildenden Künstler, der bisher nicht gekommen -ist, wie von einem, der Michelangelo und Rembrandt ins Raffaelische -vereinigte; oder -- das nämliche in anderm Bilde gesagt: wie eines der -ganz hohen Werke Beethovens, wie das Quartett mit dem Dankgebet eines -Genesenden. Weiß man, wer dieser Genesende ist? Es ist Sokrates, der -dem Asklepios für die Genesung dankt, indem er der Welt den Rücken -kehrt; es ist Prospero, der die Natur und den Haß bezwingt und die -Liebe gründet und aus all seiner Herrlichkeit tritt und zur Seite geht -und sich zum Tode bereitet; es ist Shakespeare, der uns noch den Sturm -gibt und dann das Schweigen wählt und dahinstirbt. - -Wir bemerken oft, zumal bei leidenschaftlichen Dichtern, wie das, was -auf ihrer Höhe herausbricht, schon früh da ist oder sich wenigstens -vorbereitet und in starken Spuren zeigt, wie sie selbst aber von einem -gewissen Zeitpunkt der Krise an von dieser ganzen Vergangenheit nichts -mehr wissen wollen und sich als völlig Erneuerte fühlen. So ist es in -unserer Zeit Tolstoi und Strindberg gegangen. Auch Shakespeare scheint -mir zu bestimmter Zeit bei einer Wende angelangt zu sein, wo er die -Form, in der er früher die Triebe und Leidenschaften der Menschen mit -einer Wahrheit ohnegleichen darstellte, wie ein eigenes Versinken -in diesem Pfuhl der Affekte nicht mehr ertrug. So hat er nach neuen -Formen gesucht, und fast jedes einzelne der Stücke aus dieser letzten -Zeit ist ein neuer Weg, in dramatischer Aktion zur Überlegenheit, -zum Spielerischen, zur Polemik und Weisheit, zur Ironie zu kommen. -Im Zymbelin und im Wintermärchen und im Timon und im Perikles hatte -Shakespeare es jedesmal mit einer neuen dramatischen Form versucht, -die er jedesmal wieder aufgab. Der Sturm nun ist wiederum in einer -für Shakespeare ganz neuen Art gebaut und ist für dieses Suchen nach -dem neuen Stil der Gipfel und die Krönung. Die Form aber, der sich -Shakespeare diesmal und, wenn wir recht vermuten, zu guter Letzt -zuwendet, ist nicht etwa eine neu ausgeheckte, sondern die für seine -Zeitgenossen zugleich ehrwürdigste und modernste, und seine gelehrten -Kritiker hatten sie ihm schon immer tadelnd als Muster vorgehalten. Die -gelehrten klassizistischen Dramatiker, die neben Shakespeare standen -und die nicht von der Überlieferung des Volksdramas herkamen, sondern -in der Tragödie Seneca, in der Komödie Plautus nachstrebten, legten -viel Wert auf die Einheit des Orts und vor allem der Zeit. Schon früher -manchmal hat Shakespeare gezeigt, daß er das auch konnte, wenn es dem, -was er an Inhalt und Stimmung geben wollte, entsprach; nie hat er sich -pedantisch nach einer Schulregel gerichtet, aber der Sommernachtstraum -verläuft in aller Tollheit in einer Nacht und einem Walde; im Othello, -der auch sonst dem bürgerlichen Trauerspiel am nächsten kommt, geht, -abgesehen von dem Prolog des ersten Aktes, alles auf der Insel Zypern -in einer fast ununterbrochenen zeitlichen Folge weniger Tage vor sich. -Hier aber im Sturm ist er dem klassischen Muster am nächsten: nicht nur -dem geistigen Gehalt nach, sondern auch formal ist die Dichtung ein -Epilog. Eine lange, bewegte, leidenschaftliche Handlung wird in einem -bei Shakespeare ganz ungewohnten erzählten Bericht in die Vorgeschichte -verlegt; das Stück selbst bringt, in der Art wie bei Sophokles zum -Beispiel im Ödipus, nur die Auflösung des Konflikts; hatte das -Wintermärchen uns eine Handlung von sechzehn Jahren und in ihr zwei -Generationen auf die Bühne gebracht, so geht es auch im Sturm um zwölf -Jahre und wieder um die scharfe Gegenüberstellung von zwei Generationen -und um ein Paar, das durch die Liebe dem Haß der Väter Versöhnung -schafft: aber die Handlung, in der wir all das erfahren und erleben, -läuft hintereinander in drei Stunden ab, von etwa zwei Uhr bis fünf -Uhr an einem Nachmittag, so daß das klassizistische Ideal erfüllt ist: -die Handlung, die in dem Stück verläuft, erfordert ungefähr dieselbe -Zeitdauer wie das Stück selbst, und innerhalb dieser Handlung erfahren -wir von den Vorbedingungen und Geschehnissen früherer Zeiten durch -Berichte und Gespräche. - -Keineswegs dürfen wir annehmen, Shakespeare habe sich diesmal der -Modeform anbequemt, um Gegnern oder Freunden wie Ben Jonson zu zeigen, -daß er das auch konnte. Der Grund ist vielmehr offenbar der, daß -Shakespeare gemerkt hat: das Wesentliche, worauf er in dieser letzten -Schaffensperiode ausging, konnte er mit dieser Technik erreichen. -Dieses Wesentliche ist, das, was in seinen großen Tragödien Mitte -und Hebel war, die elementare Kraft der Triebe und Leidenschaften, -das menschlich Wilde, Gewalttätige, den Schrei des Zorns und der -Rache, die Gewaltgier und Brunft, was alles ihm seit langem steigend -widerwärtig und schließlich unerträglich geworden war, zurücktreten -zu lassen und dafür das Element des Spiels, der Abgeklärtheit, des -romantischen Zaubers und der tieferen Bedeutung, der Versöhnung -oder Polemik, in jedem Fall der Weisheit und Rede sich ausbreiten -zu lassen. Der Dichter, zumal der dramatische, empfindet bei seiner -Arbeit viel stärker als wir Leser oder Hörer sein völliges Darinsein -in den Gestalten, die er mit so seelischer, plastischer, dynamischer -Kraft ins Leben setzt; wir empfinden, wenn Othello rast und die -Unschuld ermordet, die in des Dichters Gestaltung so volles Leben -gewonnen hat, den Dichter selbst viel mehr in Desdemona als in dem -Mohren und entsprechend mehr in Macduff als in Macbeth; der Dichter -aber weiß, wie viel nicht bloß von zehrender Kraft, sondern auch -von eigenen Wesenszügen in all diesen Ausbrüchen der Wut und der -Bestialität enthalten ist. Hätte er, als er den Hamlet dichtete, -schon die Möglichkeit zu Prosperos Überwindung und Überlegenheit in -sich getragen, so hätte er dem Dänenprinzen nicht in der Art seine -Unbewußtheit, sein Nichtauskennen in den eigenen Motiven auf den Weg -geben können. Indem Shakespeare dem Timon zwar noch die gewaltigsten -Reden der Wut und Verachtung aus dem Mund strömen lassen kann, -aber nicht mehr imstande ist, weil es ihn sonst umgebracht hätte, -diesen Mann dazu noch lebendig als Individuum zu gestalten; indem -er das innere Seelenleben des durch Selbstbetrug betrogenen Gatten -im Zymbelin durch eine gewaltige Maschinerie einer ungeheuerlichen -Handlungsfülle von sich schiebt, im Wintermärchen nur genial skizziert -und dann von frei heiterem Spiel, das zur Tragik der früheren -Generation in Gegensatz steht, ablösen läßt, mit alledem verrät er -etwas, was man auf zweierlei Art ausdrücken kann, weil beides nur -verschiedene Ausdrucksform für ein und dieselbe Wandlung ist. Man -kann sagen, daß er nicht mehr robust genug für die unerbittlich -realistische Darstellung der von der Leidenschaft geschüttelten und -gepeitschten Menschen war; man kann sagen, daß er eine Stufe höher -gestiegen war und diese Darstellung nicht mehr brauchte. In jedem Fall -hatte er in dem Augenblick, wo er für das Neue, das er suchte, die -vollendete Form gefunden hatte, seine Bahn ausgelaufen. Der junge, der -leidenschaftliche, der wilde Shakespeare mußte den Schrei der Wut und -Verzweiflung immer wieder, in den mannigfachsten Verkleidungen, wie -sie Geschichte, Sage und Novelle als Abbild der eigenen Innerlichkeit -boten, ausstoßen; der mild und reif gewordene Shakespeare suchte nach -dem Ausdruck der Resignation und des Verzichtes in Überlegenheit und -Heiterkeit und verstummte, als er ihn gefunden hatte. Er fand ihn aber -in dem Inhalt und der Stimmung und der Form seines Sturm. Diese Form -erlaubte ihm, aus dem, was nun Vorgeschichte war, nicht nur, sondern -auch aus dem, was in den drei Stunden der Handlung geschieht, alles -von den sichtbaren Vorgängen auf der Bühne zu verbannen, was in die -Abgründe der inneren Dämonie der Menschen geführt hätte: nicht nur -bleibt die Gewalttat des Bruders gegen den Bruder aus schnödester -Machtgier in der Vorgeschichte; dieser Bruder selbst tritt mit seinem -fessellosen inneren Wesen nie mit voller Entladung heraus; meist steht -er wie ein Angeketteter, dem die Zunge in Bann getan ist, im Schatten. -Über ihn, über Alonso von Neapel, über dessen Bruder Sebastian wird -der Wahnsinn verhängt, der Wahnsinn der Reue und Gewissensqual, der -rasenden Tollheit: nichts davon wird gezeigt; Ariel berichtet kühl -überlegen darüber, ohne auch nur den Versuch zu einer Schilderung. - -Recht gut hat sich Tieck, der in all diesem neuen, letzten Stil das -Urbild seiner romantischen Ironie gefunden hat, darüber, schon 1793, -geäußert: „Im ganzen Stücke hat der Dichter sorgfältig alle hohen -Grade, alle Extreme der Leidenschaften vermieden... Er läßt die -Affekte nie einen sehr hohen Grad erreichen, er will uns in keiner -Situation tief rühren oder erschüttern, keine Person soll unser Mitleid -erregen...“ Was Tieck da sagt, ist ganz richtig, wenn man diese -Rührung und Erschütterung, dieses Mitleid als Affekt, als Qual, als -das betrachtet, was Goethe manchmal das Pathologische genannt hat. An -all diese tiermenschlichen Grundtriebe wendet sich hier Shakespeare -nicht mehr. Unser Mitleiden beim Anblick der von Leidenschaften -fortgerissenen und zerfetzten Menschen ist selbst leidenschaftlicher -Art, wie sich hinwiederum, wir haben es früher gesehen, die wilde, -kochende Hitze der Brunstmenschen mit schneidender Kälte berechnenden -und verderbenden Verstandes gatten kann. Von dieser Sklaverei der -Sinne, in der der Verstand, so hell er auch war, dem modrigen Dunkel -diente, ist Shakespeare, mit Spinoza wieder zu reden, über die Stufen -der Vernunft weg aufgestiegen zur intuitiven, überlegenen Gelassenheit -des Geistes, der in der Freiheit wohnt. Und so bringt auf der Höhe -der Sturmdichtung das warme Gefühl, das innige Erbarmen, die schöne -Ergriffenheit, die der Dichter wohl erregt, unser Seelenleben nicht -mehr mit den tierisch elementaren, dämonischen Qualtrieben, sondern mit -Geist, Vernunft und Klarheit in Verbindung. Unser Mitgefühl entstammt -nicht mehr dem Bezirk der Venus, sondern des platonischen Eros, nicht -mehr dem Reich der Furien, sondern des Friedens. Wiewohl ich selbst -zu gewahren glaube, daß diese Steigerung Shakespeares zum Himmlischen -mit einem Zustand seiner Leiblichkeit und Geistigkeit zusammenhing, wo -Nichtmehrkönnen und Nichtmehrwollen fast ununterscheidbar an einander -grenzten, -- wie viel kräftiger und seelenvoller ist Shakespeare doch -noch nahe der Entrücktheit und Auflösung als Tieck und Romantiker -seines Schlages in ihrem Beginn, in dem schon das Ende war; wie schnell -verirrten sich diese Nachfahren, die die Lust zur allergrößten Wandlung -und zur neuen Religion nach rasch versprühender Jugend höchstens -noch als eine Art intellektuellen Kitzels in sich spürten, aus dem -Ätherreich beseelten Geistes zu bloßer Spielerei des Witzes und krauser -Arabeske! Seine Verwandtschaft aber zu dem Shakespeare, wie er vom -Sommernachtstraum über Wie es euch gefällt zum Sturm kam, hat Tieck -recht empfunden, und so zeigt er in dieser jugendlichen Äußerung gut, -wie der Dichter des Sturm Gelegenheit zu Verzweiflungsausbrüchen, -Martern aller Art, Hunger- und Entsetzenswahnsinn gehabt hätte, wie -er aber all die Darstellung des wild und triebhaft Ausbrechenden -- -vor kurzem, man denke an Lear, noch seine größte Stärke -- vermieden -hat. So also erklärt sich mir die dramatische Technik, die Shakespeare -dieses Mal erwählt hat: er zeigt nicht ein von Gewalt und Untaten -erfülltes Leben, sondern als zauber- und musikerfülltes Spiel in -raschem Ablauf nur die Auflösung, die Vollendung, den Gipfel: nicht wie -die Leidenschaft zu ihrem Gipfel ansteigt, sondern wie sie von einem, -der in sich nach oben gekommen ist und Selbstbeherrschung gelernt hat, -überwunden und gedemütigt wird. Nach einer gewaltigen, stürmischen -Introduktion, durch die aber auch schon das Mildernde, Kauzige, -beruhigend Spielerische hindurchgeht, kommen wir immer mehr in die ganz -eigene Mischung von Abgeklärtheit, Humor, Neckerei, Sanftmut, innig -Friedlichem, koboldig Polterndem, ungefährlich Bellendem und Heulendem -bis zur Verklärung. Versucht man, diese Stimmung, dieses Tempo, diese -Variationen und Auflösungen des Dramas sich als musikalisches Gebilde -vorzustellen -- und man ist dazu eingeladen, da das ganze Werk wie -in Musik getaucht ist und die Musik Ariels und seiner Geister in den -Lüften keine Begleitung und Zutat, sondern ein Stück der Handlung ist ---, so versteht man, meine ich, ausnehmend gut die Antwort Beethovens -auf die Frage nach der Bedeutung seiner Gespenstersonate: „Lesen Sie -nur Shakespeares Sturm.“ - -Die dümmste Versündigung, die aber vom Ende des 17. Jahrhunderts bis -auf den heutigen Tag nicht auszurotten scheint, an diesem leichten, -luftigen, zarten Traumspiel, in dem die Hoffnung und das Gelöbnis -eines Dichters unserer Zeit, Georg Kaisers, erfüllt ist, daß das -Schauspiel zum Denkspiel aufsteige, und das die Erdenschwere nur als -derb burleskes Scherzo und schon himmlische Schwermut kennt, begeht die -Bühne, wenn man es als Ausstattungs- und Spektakelstück gibt. - -Ich habe schon angedeutet: auch die schreckliche Erhabenheit zu -Beginn, der Sturm, der zum Schiffbruch und zum Schein rettungslosen -Untergangs führt, wird noch in dieser ersten Szene selbst durch -komischen Gegensatz und durch die Verschiebung der Perspektive -gemildert: nicht die Personen erster Geltung, von deren Wesen, -Vergangenheit und Reisezweck wir vorerst nicht das Mindeste erfahren, -sondern eine Nebengestalt, der Bootsmann, ein prachtvoll geschauter -Zyniker, steht im Vordergrund des Interesses. Das ist ein Galgenvogel -nach Art des frevelhaft und lustig überlegenen Mörders Bernardin in -Maß für Maß; im Angesicht des Todes flucht und wettert er ohne jede -Angst und verrichtet mit einem derben und hohnvollen Vergnügen seine -Schuldigkeit inmitten der äußersten Not und Bangnis als ein sachliches, -roh vertrautes Geschäft. Für die Todesangst der andern ist er ganz -gefühllos; er wird schon alles besorgen, was not tut; er will sich ja -selber auch retten. Brauchst du mir erst zu sagen, daß der König an -Bord ist? Hab ich ihn denn lieber als mich? Und - - Fragt der Sturm nach dem Namen König? - -Oder er wendet sich etwa zu dem edeln, alten, aber in Wohlredenheit und -Klugheit leicht komischen Rat Gonzalo: Na, du bist ja Rat, übe du doch -dein Amt wie ich meins, vielleicht hilft’s: gib doch den Elementen den -Rat, sich zu besänftigen! Er hat nur ein paar Worte durch den Orkan -zu brüllen, der Mann, aber die ganze Wut und Verachtung gegen die -brutale Natur, mit der er zeitlebens brutal sein mußte, und gegen die -brutale Gesellschaftsordnung wettert aus seiner heisern Kehle; und daß -er größte Nichtachtung und unbewegte Gleichgültigkeit auch den Großen -gegenüber hat, die seinem Schiff anvertraut sind, bleibt uns nicht -verborgen. - -Dann stehen sie alle -- in der ersten Szene dieser Komödie -- vor dem -sichern Tod; die Matrosen, der König und sein Sohn beten; der Usurpator -von Mailand und der Bruder des Königs, in dem auch Usurpatorträume -schlummern, fluchen; Gonzalo behält sanften Humor und überlegene, -stille Ruhe; der Bootsmann lacht: - - Was? müssen wir ins kalte Bad? - -So haben wir, ohne noch das geringste vom Zusammenhang zu ahnen, nicht -die Stimmung des gewalttätigen Untergangs, den wir vor Augen sehen, -nicht Furcht und Mitleid für die, die sich fürchten und leiden, -sondern eine Art Staunen im Denken, wie im tobenden Aufruhr der Natur -und im Angesicht des Todes die Menschen so verschieden, im Adel und -Vorrecht klein oder mäßig, in Gemeinheit groß sein können. - -Und ganz schnell verwandelt sich die Szene: das Schiff scheint unter -die Wellen zu tauchen, das Meer tobt, der Sturm heult, dickes, -ziehendes, tief herab hängendes Gewölk droht und wird hin und her -gefetzt; da steigt vor unsern Blicken eine kleine Insel auf, die -aus den brandenden Wassern emportaucht, auf ihr, wie in der Mitte -des kleinen Rundes, in gebietender Haltung der Ruhe der Zauberer in -dem langen Mantel des Magiers und mit dem Zauberstab; bei ihm ein -liebliches, fünfzehnjähriges Mädchen, das nun mit einem Mal, so daß -wir aus all dem Graus zu seligem Lächeln verklärt werden, die wild -natürliche Situation in eine Geistersphäre rückt mit den Worten, mit -denen diese zweite Szene anhob: - - Wenn _Eure_ Kunst, mein liebster Vater, so - Die wilden Wasser toben hieß, so stillt sie. - -Es ist eine sehr ernste Beschämung, nicht nur für unsre Bühnen, für -den Zusammenhang vielmehr zwischen unsrer Geistesverfassung und unsern -Zuständen, daß die liebliche Größe, die hebende, erlösende Wonne dieses -Übergangs und dieser Szenengemeinschaft unserm Erleben noch immer nicht -vertraute Wirklichkeit geworden ist. Wie das Kind beim starken Gewitter -meint, der liebe Gott sei zornig, so erleben wir hier sinnenkräftig, -als lebendiges Bild, daß es so ist, wie das Mädchenkind Miranda mit -ihren ersten Worten uns bedeutet: Er, Prospero, hat den tollen Aufruhr -der Lüfte und Gewässer mit Hilfe seines Ariel erregt: der Tag der -Vergeltung, der Entscheidung, wir merken bald, der Versöhnung und -Heimkehr ist da. - -Ein zartes, reines, liebliches Kind, eben zum Fraulichen erknospend -ist diese Miranda, die Wunderbare; ganz des Vaters Geschöpf; seit -ihrem dritten Lebensjahr ist sie auf dieser Insel und hat außer ihrem -Vater nie einen Menschen gesehen; nur das Ungetüm Caliban und Prosperos -Geister. Er muß sie nur beruhigen, sie ist außer sich, daß ihr Vater -so Böses zu tun imstande scheint; so hat sie ihn in all der Zeit nicht -kennen lernen; sie weiß aus seinem Unterricht, daß ein Schiff Menschen -über den Ozean trägt, und Menschen sind, glaubt sie, gute und herrliche -Wesen wie ihr Vater. - -Die Stunde ist gekommen, wo er ihr die Menschenwelt anders zeigen muß; -aber ehe er noch daran geht, sie über ihre Herkunft, über seine düstere -Geschichte, über die Art, wie es draußen bei den Menschen zugeht, -aufzuklären, beruhigt er sie und uns: keinem soll ein Leid geschehen; -kein Haar soll gekrümmt werden; durch die Macht des Geistes, nicht -durch Gewalt soll Wiedergutmachung erfolgen. - -Und nun erzählt er, erstmals, wer er ist, was ihm und ihr angetan -worden ist, und deutet im voraus an, was jetzt kommen soll, welche -Männer er auf ihrer Fahrt gebieterisch angehalten hat. Der Mann, der -da sein Leiden berichtet, ist uns erst als der zaubermächtige Meister -gezeigt worden; so haben wir bei diesem langen Bericht, der die -Vorgeschichte bringt, nicht das Gefühl des Stillstands, sondern des -bewegten Geschehens. Er erzählt, wie ihn sein eigener Bruder Antonio -- -wie Claudius den König Hamlet -- vom Thron gestürzt und im Bunde mit -Alonso dem König von Neapel ihn und das noch nicht dreijährige Kind -nach menschlichem Ermessen ermordet hat: kein Mensch zu Hause kann -etwas anderes meinen, als daß sie gewaltsam getötet sind und längst -auf dem Meeresgrund verfault. Aber dieser Ermordete kehrt nicht ins -Reich des Lebens als Geist zurück, um einen Sohn zur Rache zu rufen; -er herrscht über die Geistermächte, wohl auch, um über die Feinde zu -triumphieren, aber durch Beschämung soll es geschehn, dadurch, daß -sie in all ihrer Unwürde machtlos und geschlagen dastehn: der Sohn -aber seines mächtigsten Feindes und die eigene Tochter sollen in Liebe -vereint werden. - -Was für ein Bericht ist das! Er steht als Meister und Lehrer vor ihr -und erzählt ihr in stark eindrucksvoller Haltung und Rede, fesselt ihre -ganze Aufmerksamkeit, so daß sie mit großen Augen zu ihm aufblickt -und wie vom Traum umfangen wird, da nun zum ersten Mal das wogende, -gefahrvolle Leben, wie es draußen unter Menschen ist, sich vor ihr -auftut, daß sie in den seltsamen Zustand gerät, sich vor Benommenheit, -Staunen und Entsetzen in plötzlichen Schlaf flüchten zu müssen; wir -leben ganz in dieser Situation zwischen dem Vater und dem Kind auf -der Insel, und zugleich öffnet sich die Vergangenheit vor uns und wir -erleben Prosperos Schicksal und Wesen. Was für ein Mann! Er war der -Herzog von Mailand, hatte aber seinem Bruder das weltlich-politische -Geschäft überlassen, weil er selbst „in geheimes Forschen verzückt und -hingerissen“ war: in Stille versunken lebte er der Erhöhung seiner -Seele und, von Büchern umgeben, in tief geheimem Forschen. Von seiner -Verborgenheit aus wirkte er aber mit seinem Geist und Gemüt tief ins -Volk hinein, das ihn verehrte und liebte. Und nun der Bruder! Nichts -ergreifender, als wie Prospero, der seit so vielen Jahren den Fall -bedacht hat und jetzt die Gelegenheit zu seiner Vergeltung magisch -ergriffen hat, ihm gerecht werden will und ihn, soweit es irgend geht, -entschuldigt. Der Bruder, sagt er, gewöhnte sich in seine Rolle des -Befehlens, das ihm in Stellvertretung anvertraut war, so hinein, daß -er sich als Herzog fühlen lernte und fast nichts anderes wußte, als -daß er es war, zumal er den gelehrten Bruder in der Verachtung des -Ungebildeten und Rohen für ganz ungeeignet zur Regierung hielt. So -riß er ihn, verbündet mit dem König von Neapel, dem er Mailand als -Vasallenstaat überantwortete, vom Thron und setzte den Bruder, da er -ihn, den Allbeliebten, wegräumen mußte, öffentlich umzubringen aber -nicht wagte, mit dem dreijährigen Kind zusammen in einem morschen -Boot, das nicht Segel noch Masten hatte, aufs hohe Meer aus: er -sollte unweigerlich zugrund gehen, ohne daß jemand von der Mordtat -erfuhr, so wie der Usurpator Claudius seinen Bruder eines natürlichen -Todes sterben ließ. Der Rat Gonzalo gab Prospero aber aus Mitgefühl -heimlich Kleider, ein bißchen Hausrat und vor allem Bücher mit auf die -Schreckensfahrt, und so rettete der Ausgestoßene sich und das Kind -auf diese kleine Insel, die wir uns -- nach späteren Erwähnungen -- -irgendwo zwischen Neapel und Tunis zu denken haben. Ohne sein Wissen -hätte er das nicht vermocht; denn dieses Wissen ist, das ungebildete -Volk ahnt es, sein obenhin polierter, bevorrechteter Bruder freilich -weiß nichts davon -- dieses Wissen ist, was jedes Wissen sein sollte, -Macht, nicht zur Unterdrückung von Menschen, sondern ein Schlüssel zu -Kräften der Natur. Oder anders gesagt, in der Sprache der Welt, in der -wir gläubig für drei Stunden sind: er hat Zaubermacht über Geister. - -Mit zwei Geistern oder wenigstens Außermenschen sehr entgegengesetzter -Art bekam er es auf der sonst unbewohnten Insel zu tun: mit Caliban, -einem elementaren Scheusal, dem Kind der Hexe Sykorax und eines -Teufels; und mit Ariel, einem mächtigen und doch zarten Luftgeist, den -die Hexe durch bösen Zauber seines Elements der Freiheit beraubt und in -den Spalt einer Fichte geklemmt hatte und den er befreite. - -Caliban, der Erdkloß, die am Boden kriechende Schildkröte, der -dienende, schnöde Sklave für die grobe Arbeit, repräsentiert die -brutale, hundsgemeine Materie; den durch nichts gemilderten Lebens- das -heißt Freßtrieb des Tiers, eines Tiers, das ein Höllenhund ist und dazu -noch -- durch Prosperos Schuld -- sprechen und denken gelernt hat. Der -Meister hat sich mit dem wilden Höllenkind gläubig pädagogische Mühe -gegeben; durch Bildung wollte er es zu einer Seele bringen und vergaß, -daß man nur ausbilden kann, was da ist, daß aber ins leere Nichts -Hineinbildenwollen eben das ist und das bewirkt, was unsre Sprache -Einbildung nennt: wozu keine Anlage da war, das konnte von außen -nicht eingegossen werden, und etwas wie Mitgefühl selbst mit dieser -Personifikation des Unrats ruft der Dichter hervor, wenn er diesen -Unerlösten und Unerlösbaren ausrufen läßt: - - Ihr lehrtet Sprache mir, und mein Gewinn - Ist, daß ich fluchen kann. Die Pest hol’ Euch, - Daß Ihr mich reden lehrtet! - -Eine Satire ingrimmigster Art aber ist es, wie Shakespeare uns -zeigt, welchen Gebrauch dieser Wechselbalg der Hölle von dem Geist -macht, der ihm nicht zukam, und wie er Calibans Sprache mit der -Redeweise niedriger Menschen aus der Sphäre der oberen Scheinbildung -kontrastiert. Es geht um ein fürchterliches Thema: um die Ermordung -eines schlafenden Menschen. Shakespeare hat es mehrfach behandelt, -und nicht ein Mal wie das andre. Der edle Mohr von Venedig weckt -Desdemona, und in aller Wut heißt er sie doch in würdigen Worten sich -auf den Tod vorbereiten. König Claudius tötet seinen schlafenden Bruder -in Einsamkeit, sprachlos; wir haben nicht anzunehmen, daß er sich -vorher mit seiner Buhlin darüber beraten habe. Macbeth braucht solche -Beratung; wir kennen alle das heiße Gespräch des liebenden Mörderpaars -vor der Tat. Die beiden Berufsmörder in Richard III., die -Clarence aus der Welt zu schaffen haben, bringen es nicht zustande, den -Schlafenden zu erstechen; sie disputieren so lange über den Fall, bis -ihr Opfer erwacht, und auch dann müssen sie erst in langem Gespräch ein -Verhältnis zu ihm herstellen, bis ihnen aus bewegter Sprache heraus die -altbewährte Gebärde des Zustechens geschenkt wird. Sie sind nicht das -übliche Paar von Gleichen, sondern gegen einander fein differenziert; -ihre Szene indessen, so liebevoll sie gebaut ist, ist in dem Drama, -dem sie angehört, nur eine Episode. Hier im Sturm aber bildet ein -solcher Kontrast ein wichtiges Element der Handlung. Der Dichter stellt -einander die Art gegenüber, wie der Mensch Antonio, der Brudermörder -und Fürst, einen andern zum Meuchelmord an einem Schlafenden überredet, -und wie das sprechende Ungeheuer Caliban das nämliche tut. - -Was ist das bei Antonio, wie er Sebastian dazu verführt, seinen -Bruder Alonso, den König von Neapel, der in tiefer Schlafbetäubung -daliegt, zu ermorden, für ein langes vorsichtiges Ausholen, ein Tasten, -ein Andeuten, wie wird die Sprache, indem sie den Plan der Untat -ausspricht, zugleich dazu benutzt, das Schwarze schön zu färben, das -Widrige zu bemänteln und die Gedanken zu verhüllen. Der Mensch, zumal -in der politischen Sphäre, deren Vertreter der Usurpator von Mailand -ist, hat es gelernt, Rauben Selbstbestimmung und Morden Wohltat zu -nennen; die Sprache zugleich als Mittel und Vorbereitung zur Tat und -zum Weglügen der Tat zu benutzen. Indem Shakespeare uns den Menschen -von dieser Seite vorführt, wählt er, und erhöht damit die Gewalt seiner -entlarvenden Offenbarung, ein Exemplar, das der brutalste, verhärtetste -aller Menschen und einer Regung wie Reue oder Skrupel ganz unzugänglich -ist. Gewissen? Davon weiß er nichts; er liebt Tatsachen, so was wie -Gewissen aber ist für ihn ein Wort ohne Sinn: - - Ei, Herr, wo sitzt das? Wär’s der Frost im Fuß, - Müßt’ ich in Schlappen gehn; allein ich fühle - In meinem Busen so ’ne Gottheit nicht. - -Gewissen hat er nicht, aber da er ein sprechender Mensch ist, hat er -Lüge und Heuchelei. Den Sebastian will er dazu bringen, seinen Bruder -zu ermorden, um dann den Brudermörder, dessen Untat er kannte, zu -beherrschen; aber nur in langsamem Ausholen, in wiederholtem Ansetzen, -in Tasten, Drumherumreden, Umschreiben und Andeuten nähert er sich -seinem Ziel. - - ’s gibt Leute, die Neapel - So gut, wie der hier schläft, regierten... - Hättet Ihr - Doch meinen Sinn! Was für ein Schlaf wär’ dies - Für Eure Standserhöhung. Ihr versteht mich? - -Ja, er versteht ihn, sie verstehen sich. Das war sein deutlichstes -Wort; und doch, wie euphemistisch, wie keineswegs roh im Wortlaut, -wie harmlos und gesittet ist ein solcher Satz, mit dem sich die zwei -Sprecher adliger Sprache darüber verständigen, den Schlaf zu ermorden. - -Wie aber ein paar Szenen darauf das bestialische Ungeheuer, das von -Prosperos und des Dichters Gnaden die Gabe empfangen hat, sein Wesen -und Wollen auszusprechen, dasselbe Unnennbare an Prospero tun will, wie -prachtvoll geradlinig, wie wahr, wie unbemäntelt sagt Caliban da, was -er will, ganz ohne Moral, ganz ohne Wohlklang, ganz ohne Heuchelei, -ganz sachlich, kein Wort zu viel: - - Ich liefr’ ihn dir im Schlaf, - Wo du ihm seinen Kopf durchnageln kannst. - -Oder wenn seinem Partner, der ja immerhin ein Mensch und also -bedenklich und wählerisch ist, dieses gerade Verfahren nicht paßt, weiß -er noch andre Methoden, die ebenso gut sind, zum Beispiel: - - Du kannst ihn würgen,... - mit ’nem Klotz - Den Schädel ihm zerschlagen, oder ihn - Mit einem Pfahl ausweiden, oder auch - Mit deinem Messer ihm die Kehl’ abschneiden. - -Man sieht, Gemüt hat ihm die Sprache nicht gegeben, aber -- auch -diesem Höllenungetüm! -- eine Steigerung des der Freßsucht dienenden -Tierverstandes durch Mitteilung, Werkzeuganwendung, Berechnung. - -Wie zum Mord, genau so steht er zu allem: er arbeitet unweigerlich, -wenn er so lange gezwickt und geplagt wird, daß er’s nicht mehr -aushält, sonst zieht dieser Sohn einer Hexe und eines Teufels, nicht -anders als die Masse verderbter Menschenkinder, das Fressen und -Schlafen vor. - -Nur in einem Fall kann das froschkalte Tier hitzig werden: wenn der -Geschlechtstrieb sich regt. Als der zuerst in Caliban erwachte, -stürzte er sich eben auf Miranda das Kind, das der Vater gerade noch -retten konnte, wofür alle Sklaven des Triebs dem jungen Kerl dringende -Entschuldigung gewähren müssen: dies Kind war das einzige weibliche -Wesen auf der Insel. Von Liebe weiß er weiter nichts, als daß so ein -Trieb unweigerlicher Art in uns ist und befriedigt sein will, und daß -ein gesundes schönes Weib „wackere Brut bringt“, -- und da weiß er in -Wahrheit ein gut Teil mehr als eine Masse Menschenpöbel im Lande der -Bildung; denn wenn wir calibanisch die Wahrheit sagen wollen: denken -denn die, denen kannibalisch wohl ist „als wie fünfhundert Säuen“, -in ihrer Wollust an die Brut, an die Kinder? Höchstens mit Unbehagen -und mit Angst vor der Plage und den Alimenten! Möge sich doch -- ich -glaube hier nicht abzuschweifen, ich glaube, daß Shakespeare uns diesen -Zusammenhang zwischen Caliban und uns vor Augen stellt, den ich hier -mit seinen und meinen Worten ausdrücke -- möge sich der alimentäre -Mensch nicht gar zu stolz über das elementare Ungeheuer erheben! - -Im Zusammenhang Calibans mit den zwei köstlich gemeinen Kerlen, die -auf dem Schiff waren, den Trunkenbolden Trinkulo und Stefano, führt -Shakespeare sein Thema noch eine Stufe höher hinauf. - -Vorhin, als ich von den beiden Bewohnern der Insel, die Prospero -zuerst da vorfand, sprechen wollte, war ich in Verlegenheit um -eine Gesamtbezeichnung. Ariel ist ein Geist und steht jenseits der -menschlichen Gesellschaft; aber Caliban? Dieses sprechende Tierwesen -hat alle Bedürfnisse des Menschen, und da er gewillt ist, sich mit -einer Menschin zu paaren, und überdies aus Gründen, die uns näher -angehen, dürfen wir diesen Sproß der Hexe und des Teufels, dies unser -Zerrspiegelbild nicht verleugnen: er wird schon so was wie ein Mensch -sein. So dürfen wir sagen, daß Shakespeare uns in diesem Stück die -menschliche Gesellschaft in drei Stufen vorführt und ihrer jede in -drei Vertretern: unten in der unverfälschten Roheit Caliban, Stefano -und Trinkulo; dann in der durch Bildung verfälschten Niedrigkeit der -herrschenden Kaste: Alonso, Antonio und Sebastian; oben im Reich -beseelten Geistes Prospero und das junge Paar, das in der Liebe die -Tierleiblichkeit und den Geist vereinigt und versöhnt: Miranda und -Ferdinand. - -Man sollte meinen, ein widerlicheres, scheußlicheres Ungetüm als -Caliban wäre nicht möglich. Er ist die verkörperte, die wahrhaft -von der innern Niedertracht her Körper und bewegter Organismus -gewordene Häßlichkeit. Und doch hat Caliban etwas an sich, was uns zu -Versöhnung und fast zu Rührung stimmen könnte. Er ist das Zerrbild -des Menschen, ist aber insofern kein Mensch, als er wie ein Tier ist, -dem der göttliche Funke nicht erloschen ist, sondern von Geburts -wegen fehlt. Man kann ihn nicht mehr schuldig nennen als eine Hyäne -oder eine Schlange; er trägt die Urschuld oder Erbsünde der gesamten -Schöpfung, nicht mehr, nicht weniger; er ist ein Unerlöster, wie die -tierischen Kreaturen alle, deren trauernde Augen wie Fenster vor -dunkeln Kerkern sind. Könnte man sich vorstellen, daß mit all dieser -ursprünglichen, völlig unwillkürlichen Niedertracht einer Bestie, -die die Verstandessprache erlernt hat, auch noch die Lumperei eines -von Haus aus mit Gemüt begnadeten und für sich verantwortlichen -Menschen, der von sich in tiefsten Schmutz gefallen ist, leibhaft und -unabtrennbar verbunden wäre, so wäre Calibans Ekelhaftigkeit noch weit -übertroffen. Und gerade so ein zusammengewachsenes Doppelscheusal zeigt -uns Shakespeare auch noch in einer der lustigsten Grotesken, die er -geschrieben hat, wo wir in allem zwerchfellerschütternden Lachen, das -uns überfällt, empfinden, Allerbösestes swiftisch vor Augen geführt -zu bekommen. Ich spreche von der zweiten Szene des zweiten Aktes, wo -es der genialste aller Szeniker auf die ungezwungenste Art zuwege -bringt, diese lebendige Maschinerie, den Knäuel nämlich von Caliban -und Trinkulo, vor unsern Augen aufzubauen. Caliban fürchtet sich vor -Trinkulo, den er für einen der Plagegeister Prosperos hält, und wirft -sich platt auf den Boden; Trinkulo, in aller gemeinen Liederlichkeit -ein feiger, schwächlicher Wicht, flüchtet sich vor dem Gewitter unter -den Mantel des Scheusals, ganz dicht an ihn heran gedrückt, denn er -ist gesunken genug, um die Berührung mit dem Widerwärtigsten nicht -so zu fürchten, wie die Drohung des Wetters; Stefano, ein verwegener -Kerl mit einer Art von rohem, beherztem Rationalismus, findet das -Doppelungeheuer mit vier Beinen und zwei Köpfen und denkt vor allem -daran, was für ein Geschäft er machen kann, wenn er diese unerhört -wunderbare Mißgeburt vor den Potentaten Europas produzieren wird. -Und so gießt er, um das redende Monstrum von dem Fieber zu heilen, -von dem es befallen scheint, in die beiden Mäuler Schnaps aus seiner -Flasche, die er aus dem Schiffbruch gerettet hat. Trinkulo läßt sich -herauswickeln und begrüßt seinen Zechbruder; Caliban aber ist zum -ersten Mal in seinem armen Leben in Seligkeit und Verzückung. Denn -die Bestie hat nun eine wundersame Menschenerfindung kennen gelernt, -mit der wir auch sonst die Naturkinder in wilden Ländern, die keine -Calibans waren, beglückt haben: den Alkohol. Prospero hatte den ganz -vergeblichen, verderblichen Versuch gemacht, ihm in seine Leere Geist -einzutrichtern; nun aber ist ihm der wahre Geist aus Stefanos Flasche -eingegossen worden! Wer den Göttertrank spendet, der ihm wie Wonne und -Verwandlung durch alle Glieder rieselt, der muß ein noch mächtigerer -Geisterfürst sein als Prospero, der gegen ihn in Wahrheit, wie wir -das Elementare in der Natur nur mit Gewalt in unsern Dienst zwingen, -nichts üben kann als harten Zwang. Sofort betet drum Caliban den Lumpen -Stefano als König an. Gegen Prosperos Herrschaft, der ihm vornehm, -unfaßbar als Wesen andrer Art gegenüberstand, hat er sich, wie es -Naturnotwendigkeit war, gewehrt, hat sie als Unterdrückung empfunden; -jetzt, wo er dem dienen darf, den er als einen zu ihm Gehörigen, der -ihm hilft, der ihn niederträchtig glücklich macht, als Herrn anerkennt, -fühlt er sich frei. Und wiederum, und für diese Stelle der Dichtung -noch nachdrücklicher sage ich: es ist innig ergreifend und zugleich -tiefsinnig und grandios grotesk, wie dieses arme Untier, das von -dem edlen Prospero nur mit Zwicken und Prügeln zur Arbeit gebracht -worden war, jetzt zu den niedrigsten Diensten willfährig ist, wie es -aus Religion, wenn’s auch nur die Religion des Schnapses ist, ein -freiwilliger Sklave wird, wie es „Freiheit! Freiheit!“ und Jubelrufe -brüllt und ihm aus dieser Freiheitsstimmung und Begeisterung die Gabe -des Liedes zuwächst. Aus dieser Situation heraus, in dieser Bedeutung, -die sich aus dem anschaulich gestalteten Sinn des Dramas für unser -erlebendes Gefühl ergibt, kann es kein lyrisches Stück geben, das -zugleich so lustig, so abstoßend, so lehrreich, so gewaltig und so -rührend wäre wie Calibans Lied, das dieses „heulende Monstrum, trunkene -Monstrum“ wild energisch in besoffener Courage und in schrecklichen -Tönen, die so Musik sind, wie Häßlichkeit Schönheit ist, dem Prospero -zusingt, dessen verhaßte Herrengestalt vor seiner Phantasie ersteht: - - Will nicht mehr Fischfänger sein, - Noch Feurung holen, - Wie’s befohlen; - Noch die Teller scheuern rein! - Ban, ban, Cacaliban - Hat zum Herrn einen andern Mann! - Schaff einen andern Diener dir an! - -Auch hier, im Letzten, der ganz große, der Dramatiker, das heißt der -Gerechte Shakespeare: der höchste und der niederste Mensch stehen sich -gegenüber, von einander ewig getrennt wie der römische Plebejer von -Coriolan, wie Thersites von Hektor, und doch jeder in seinem Recht. -Bei uns ist aus Gerechtigkeit Toleranz und Unsicherheit geworden, -und so ist der moderne Dramatiker wacklig und schwankt auch mit -seinen Sympathien hin und her; das Erstaunliche, das Umfängliche -an Shakespeare ist, daß er nicht ins Periphere bebt, sondern einen -ursicheren Mittelpunkt hat, in dem er bei seinem Helden steht. Und -von da aus dann mit einem Mal das Licht auf die tief Beschatteten -im dunkeln Winkel fallen zu lassen, vom entschlossen erwählten und -festgehaltenen Adel aus der Niedertracht ihre eigne Stimme aus -dem Tiefsten hervorzuholen, das ist Shakespeares Gerechtigkeit, -Stufenordnung und dramatische Kunst. - -Nach Freiheit begehrt auch das Naturwesen, das zwischen Erde und Himmel -flattert, Ariel der Luftgeist. Er gehört im beseelten Reich der Natur -zu Blüten, die sich im Winde wiegen, zu Schmetterlingen und Schwalben, -aber nicht zu Menschen. Und nur durch zartesten, schmeichlerischen, -liebevollen Umgang, dadurch, daß er selbst sich frei, neckisch, heiter, -schwingend seinem dienenden Freund anpaßt, kann Prospero in Güte und -Herzensnähe mit dem ätherischen, zarten und doch -- im menschlichen -Sinne -- seelenlosen Geistwesen leben. Nichts entzückender als dieses -herrenmäßig ergebene immerwährende Kosen von Prospero zu diesem -lebendig bewegten Stück Natur hin, das immer wieder fliehen will wie -der Wind und sich doch immer wieder für eine Weile festhalten läßt; wir -haben immer den Eindruck, daß kein Mensch außer Prospero diesen Freien, -Beweglichen, der sich nie ganz gefangen gibt, an sich bannen könnte. -Und wir haben den Eindruck: hat schon Prospero Caliban nicht erziehen -können, Ariels in aller Naturschrecklichkeit natursanftes Wesen hat -den Menschen Prospero, der als Anlage alles in sich trägt, in seinem -Besten bestärkt und gehoben. - -Ariel gibt allem, was in der Dichtung geschieht, den luftigen, -heiteren, dem Geist der Schwere entronnenen Charakter; er ist -die Kraft, die vor unsern Augen und im Hintergrund die Handlung -mit wunderbarsten Mitteln, mit Sturm und Flammen und Liedern und -Trommelschlag vorwärts bringt. Er ganz allein hat Sturm und Meereswut -und Blitz und Brand auf dem Schiff hervorgebracht, und diese seine -bloße Erzählung von dem Sturm und Feuer, wie es als Sinnenschein -aus ihm, der geeinten Naturkraft hervorging, muß in der rechten -Aufführung, die in diesem Stück noch weniger als sonst bei Shakespeare -aufs Dekorative, noch mehr auf die Greifbarkeit des Geistes ausgehen -muß, gewaltiger wirken als das Gewitter der ersten Szene; durch die -Geteiltheit unsrer Sinne hindurch vernehmen und gewahren wir in -Ariels Darstellung eine höhere Region der Naturwelt, Fechners drittes -Reich, wo das, was Platon die Idee genannt hat, der Zusammenhang, das -Schöpferische waltet: - - Ich enterte das Schiff - Des Königs; jetzt am Schnabel, jetzt im Bauch, - Auf dem Verdeck, in jeglicher Kajüte - Flammt’ ich Entsetzen; bald zerteilt ich mich - Und brannt’ an vielen Stellen; auf dem Mast, - An Stang’ und Bugspriet flammt’ ich abgesondert, - Floß dann in eins... - -Und so hat er den Schein und die volle Wirkung eines fürchterlichen -Schiffsbrands und Untergangs im schrecklichsten Sturm erregt, und -alle Reisenden sprangen im Entsetzen ins Meer, wo sie dann zu ihrem -Staunen unbeschädigt an den ganz nahen Strand gespült wurden. Zu dem -rüden Bootsmann aber und seinem Schiffsvolk können wir, wenn wir gut -aufmerken, nachträglich verstärkte Sympathie fassen: sie alle sind -in Ausübung ihrer Pflicht bis zuletzt auf dem Schiff geblieben und -liegen jetzt durch Ariels Zauber im untersten Schiffsraum in tiefem -Schlaf. Die schuldigen Fürsten und ihr Gefolge sind vorerst heil auf -einem entfernteren Teil der Insel; nur der Sohn und Erbe des Königs -von Neapel ist verloren gegangen und wird von dem trauernden Vater und -frohlockenden Schelmen für tot gehalten. Der junge Prinz Ferdinand -aber lebt; es geschieht alles, wie der Meister es bestimmt hat; Ariel -führt ihn Prospero zu, der ihn -- zur Prüfung -- gefangen nimmt, zu -Knechtschaftsdiensten verdammt und so in Mirandas Gesellschaft bringt. - -Wir sind auf Wundersames vorbereitet, denn wir wissen: es ist außer -ihrem Vater der erste Mann, den das Mädchen erblickt. Entzückend, -wie die Ausschließlichkeit der Liebe auf den ersten Blick, die sonst -den Erwählten aus der Schar aller andern herausgreift, hier die Form -annimmt: er ist der erste und einzige, den ich je gesehen; nun denn, -ich brauche keinen andern! Was die Bestie Caliban nicht kennt, die -wählende, unentrinnbare Liebe, die Paargemeinschaft zwischen dem einen -Mann und dem einen Mädchen, die Verklärung des Geschlechtstriebs durch -seelische Innigkeit, erblüht ihr in dieser Ausnahmelage, daß sie nicht -vergleichen kann: - - So hat in Demut denn - Mein Herz gewählt; ich hege keinen Ehrgeiz, - Einen schönern Mann zu sehn. - -Und dies Kind der Natur und des Geistes kennt die Heuchelei der -Gesellschaft gar nicht, wiewohl die natürliche Keuschheit gar sehr: -sofort bekennt sie sich, dem Vater, dem Geliebten selbst ihre Liebe: - - Ich bin Eu’r Weib, wenn Ihr mich haben wollt, - Sonst sterb ich Eure Magd; Ihr könnt mir’s weigern, - Gefährtin Euch zu sein, doch Dienerin - Will ich Euch sein, Ihr wollet oder nicht. - -Das ist eine Stelle, die Strindberg ganz besonders wohl im Herzen -tut, und er spricht sie gegen den Noramann, wie er Ibsen nennt, und -alle Vorkämpfer der Frauenemanzipation aus; aber für einseitige und -willkürliche Tendenzen wird man bei Shakespeare nur Unterstützung -finden, wenn man unachtsam oder gewalttätig ist; dieses Gefühl, dem -die Freiheit der Liebe Hingabe bis zur Dienstbarkeit ist, wird von -Ferdinand dem Jüngling sofort für sich gerade so ausgesprochen, wie -von dem Mädchen. Beide geloben einander die Ehe als gegenseitige -Dienstbarkeit, welche der Liebe, das heißt der Freiheit entstammt. -Es ist nicht zu übersehen, daß dieses Verhältnis zwischen Freiheit -und treuem Dienst eines der Themen ist, die durch die ganze Dichtung -hindurchgehn. Wir haben gesehen, wie Caliban ein geplagter Sklave -ist, weil er in den Dienst des Guten gewaltsam eingespannt wird, und -daß ausgelassener Jubel über ihn kommt, sowie ihm der Schnaps einen -Herrn gebracht hat, den er in Freiheit verehrt. Und das haarfeine, in -jedem Augenblick gewagte, gefährdete und wieder geknüpfte Verhältnis -zwischen Prospero und Ariel haben wir kennen gelernt: Prospero, der -Ariel aus schmählichster und ärgster Gefangenschaft befreit und ihn bei -der Gelegenheit in seinen Dienst gezwungen hat, ist keinen Augenblick -seiner sicher, da mächtiger noch als der Zauberbann und das gegebene -Wort der Freiheitsdrang dem flüchtigen Geiste in der Natur sitzt; aber -etwas, was zwischen dem Menschen und dem Elf gar nicht möglich scheint -und keinem als dem Herrscher im Reich der Phantasie Prospero erreichbar -ist, die Liebe ruft Ariel immer wieder aus der Flucht in den Dienst -zurück, bis Prospero dem Liebling, dem Herzensariel freiwillig die -Freiheit schenkt. All das, was Shakespeare uns da zur Letze gegeben -hat, ist ein heiliges Vermächtnis für das Miteinanderleben der Menschen -in Familie, Bünden und Gesellschaften und liegt als totes Gut unberührt -da; all das ist uns Frevlern der Trägheit nur Literatur, Lektüre und -Schauspiel; wir bleiben unsern Meistern, ob sie Shakespeare oder -Goethe oder Beethoven heißen, die Religion schuldig, die sie uns -geliehen haben, damit wir mit ihr wuchern. - -Wir haben Shakespeare gegenüber eine Entschuldigung: er spricht -nicht zu uns, nicht bloß, weil wir nicht hören, sondern, weil er ein -Stummer ist. Nie hat die Erde einen getragen, dem das Schweigen, -das Nichtredenkönnen mehr Gebot war als diesem Menschen. Das klingt -erstaunlichst, denn nie auch hat einer größere Gewalt über die Sprache -besessen und geübt, als er. All diese strömende Fülle aber hat er -immer nur den Leidenschaften und krausen Einfällen, den Ergüssen und -Repliken seiner Gestalten geliehen; den Sinn dessen, was zwischen -diesen Gestalten waltet, den Geist seiner Dichtungen hat er szenisch -gebaut, hat ihn gezeigt, hat ihn sichtbar gemacht und zwischen den -Worten aufleuchten lassen; er hat nie vermocht, einer seiner Gestalten -in den Mund zu legen oder sonst irgend voll und gerade heraus zu sagen, -was das Drama, was auch nur eine Gestalt bedeutet. Darum aber auch, -weil diese Sprachwerke in ihrem Eigentlichen weit über die Sprache -hinausgehn, weil sie nie abstrakte Lösungen, sondern immer Aufgaben -für uns sind, weil sie nie fertig sind, sondern immer auf Empfängliche -und Berufene stoßen müssen, die sie in Empfindung und Verständnis -vollenden, darum sind sie heute noch jung und neu wie am ersten Tag und -sind jedem neuen Geschlecht der Erdenbürger von neuem eine unbekannte -Küste, zu der wir Entdeckungsfahrten machen. - -Auch das Verhältnis Prosperos zu seinem Bruder empfängt von dem -Standpunkt aus, zu dem wir hier gekommen sind, neues Licht. Seine Frau, -Mirandas Mutter, ist früh, bald nach der Geburt gestorben (dies Unglück -trifft auffallend viele von Shakespeares Vätern; so nebenher, wenn er -nicht gerade das Eheverhältnis selbst darzustellen hat, weiß er mit -Ehefrauen selten etwas anzufangen); Prosperos ganze Liebe galt nun dem -Kind und -- er sagt es ausdrücklich -- dem Bruder. Damals und noch -lange hin, er bewährte es später bei dem Versuch, Caliban zu erziehen, -war er noch ein Gläubiger, der die Menschen nach seinem Bilde sah und -ihnen unbegrenztes Vertrauen entgegenbrachte. Nichts schmerzt und -erzürnt ihn bei der Rückerinnerung mehr, als „daß ein Bruder so treulos -sein kann“. - -Treulos aber war dieser gemütlos Gierige nicht bloß gegen den Bruder, -genau so gegen das Volk von Mailand, dem er die Freiheit raubte, das er -unter fremdes Joch brachte, um selbst den Herrscher zu spielen und die -Staatseinkünfte zu genießen. Wir erhalten ein großes Gegensatzbild: wie -Antonio der Usurpator sich eifrig und nach außen tätig im politischen -Betrieb übt, die Bureaukratie und andre Interessenten an sich fesselt -und vor lauter Egoismus so betriebsam ist, daß er kein eigenes Leben -lebt, während Prospero, der sich zu völliger Einsamkeit zurückgezogen -hat, fern von allen Staatsgeschäften nur seiner Seele lebt und eben -damit dem Volke dient und sich als echter Herzog fühlt. Er, den das -Volk über alles liebte, der ein Fürst unter den Menschen war, weil er -ein Fürst im Reich des Geistes war, hat dann, während, vom Verräter -hineingelassen, der Feind in Mailands Tore einzog, ausgesetzt in -morschem Boot hilflos im Meer treiben müssen, und nur das Lächeln -seines Kindes, in dem etwas Ewiges zu ihm sprach und ihm die Zuversicht -gab, man brauche an den Menschen trotz allem nicht zu verzweifeln, -gab ihm die Kraft, noch leben zu wollen. Damals, wie er, den Wellen -und Winden preisgegeben, ein aus der Menschheit Verstoßener, vom -nächsten Menschen Verratener, ziellos mit dem lächelnden Kind übers -Meer hintrieb, mag dem innigen Mann zuerst die Vision erschienen sein, -wie dieses Kind einst über Gier und Haß hinweg im Land seiner Feinde -den Bund der Liebe gründen würde. Und nun ist es durch eine wunderbare -Fügung des Schicksals so weit: jetzt kommen, von Tunis heimgekehrt, wo -die Tochter des Königs von Neapel eine verhaßte Heirat schloß, zu der -sie die Staatsraison ihres Vaters zwang, die Feinde in stolzer Fahrt -über dasselbe Meer, das einst Prosperos elenden Kahn wiegte; sie sind -in seiner Hand. Ferdinand, der Jüngling, fast ein Knabe noch, dessen -Reinheit der Geisterfürst ahnt, wird von den andern getrennt; er allein -von allen, die sich ins Wasser stürzten, kämpft kühn mit dem Element; -so kommt er an Prosperos Strand, zu seiner Prüfung und seiner Liebe. -Wir sehen, wie beglückt Prospero, wie dankbar er der Naturmacht Ariel -ist, daß dieser erwünschte Bund nun wunderbar zustande kommen soll. -Die andern aber, die Mörder, die sollen erst durch Wahnwitz hindurch, -sollen wie im Alptraum ihre längst vergessene Schuld an Prospero -empfinden, um in Herzensleid zu büßen und, wenn sie’s vermögen, zu -reinem Leben zu kommen. - -Bei einem, dem mindest Schuldigen, dem König von Neapel gelingt es; -noch ehe Ariel in Gestalt der Harpyie ihnen gemeldet hat, daß sie um -ihres Verbrechens gegen Prospero willen leiden und nur durch Umkehr -von innen heraus sich aus dem Bann befreien können, noch ehe ihnen der -Geist so verkündet, was sie in all der langen Zeit nicht gewußt hatten, -daß der Frevel nämlich eine Wirklichkeit ist nicht nur für den, gegen -den er sich richtet, sondern auch für die Täter, eine Wirklichkeit, -die lebt und zehrt, solange die Buße nicht ihr noch stärkeres Leben -und Reinigen anhebt, schon vorher, gleich nach der Landung auf der -Insel und beim Verlust des Sohns ist tiefe Schwermut und dumpfes Brüten -über ihn gekommen; all die Einfälle, Witzreden und geistreichen oder -gewagten Gespräche seiner Umgebung vermögen ihn nicht aufzuheitern und -dienen von der Technik des Dichters aus nur dazu, uns immerfort das -Schweigen dieses Mannes, der sich immer tiefer verliert und findet, -vernehmlich zu machen. Die andern Schuldigen, Prosperos eigener Bruder -und der Bruder des Königs, die jetzt eben wieder Brudermordpläne -schmieden, welche nur von Ariel vereitelt werden, bleiben verstockt -bis zuletzt, und keine Erinnerung, keine Musik, kein Wahnwitz, keine -Mahnung kann ihnen Erneuerung bringen. - -Aber Prospero will die Prüfung und Plage nicht länger hinziehn; er hat -sich genug getan, daß er die Macht des Geistes und der Natur gegen die -aus der Gesellschaft geborene Schlechtigkeit verderbten Menschentriebs -zum Sieg geführt hat; die Natur solcher ererbten, verderbten -Gemütsart kann er doch nicht ändern; die Kruste, die in ihnen das -Gute überwachsen hat, ist so hart geworden, daß der, der es noch bei -ihren Lebzeiten wachrufen will, einem Nichts, einem unerreichbar -Verschütteten gegenübersteht; und gegen das Nichts gibt es nicht Rat -noch Tat; der resignierte Lehrer Calibans weiß es nur zu gut. - -Zur Milde und letztgiltigen Verzeihung stimmt ihn vor allem, in einer -himmlisch schönen, verklärten Szene Ariel. Der spricht -- ohne weitere -Schilderung -- von dem plötzlichen Wahnsinn, den er über die drei armen -Sünder vom Thron verhängt hat, und von dem Eindruck, den diese grausige -Verwandlung ihrer Fürsten auf die Herren vom Hof, vor allem auf den -guten alten Gonzalo gemacht hat, - - Daß, wenn Ihr jetzt sie sähet, Eu’r Gemüt - Erweichte sich. - -Prospero fragt sinnend oder prüfend: - - Glaubst du das wirklich, Geist? - -und Ariel erwidert in tiefem Ernst: - - Meins würd’ es, wär’ ich Mensch. - -Da ist Prospero entschieden und bricht in inniger Ergriffenheit aus: - - Auch meines soll’s. - Hast du, der Luft nur ist, Gefühl und Regung - Von ihrer Not? und sollte nicht ich selbst, - Ein Wesen ihrer Art, gleich scharf empfindend, - Leidend wie sie, mich milder rühren lassen?... - - Der Tugend Übung - Ist höher als der Rache... Geh, befrei’ sie. - Ich brech’ den Zauber, löse ihre Sinne: - Sie soll’n sie selbst nun sein. - -Ich weiß nichts, was rückwirkend eine bessere Erklärung für Hamlet -wäre, als diese Wendung, wie sie der Sturm bringt. Wir werden nie wagen -dürfen, zu entscheiden, wie weit die Unklarheit Hamlets über seine -Motive und seinen heimlichen Willen eine Unklarheit des Dichters noch -war, die jetzt der Klarheit gewichen ist; zu solchem Rätselraten hat -sich Shakespeare zu tief in seinen Gestalten geborgen. Aber sicher -ist, daß Hamlet, als er, die Hand am Schwert, um es zu ziehen, und -zugleich an seinem Rachetrieb, um ihn nicht loszulassen, unentschieden -dastand und darüber sann, wie er das Schwert schrecklicher zücken -könne, auf der Suche nach dem war, was Prospero gefunden hat. Sehr -seltsam dünkt mich das Verhältnis unsrer Empfindung zu den raschen -Instinktuntaten, wie sie etwa Othello oder auch Hamlet begehen, -und zu den wohlerwogenen, milden, kurzen Plagen, die Prospero über -seine frevlerischen Feinde verhängt. Wir scheinen geneigt, mit jenen -Ausbrüchen der Wut wie mit etwas Natürlichem mitzugehn, uns an den -Strafen Prosperos, ja sogar an seinem rationellen Plageverfahren -gegen den unbezähmbaren Wilden Caliban als etwas sehr Hartem zu -stoßen. Das kommt, meine ich, daher, daß wir selbst die Bereitschaft -zu jeder blutigen Gewalttat in uns locker genug finden, wenn wir in -unsrer Triebnatur stehen, daß wir es aber, sowie wir zur Vernunft, zur -Beherrschtheit, zur Abgeklärtheit übergetreten sind, nicht ertragen, -irgendein lebendes und nun gar menschliches oder menschenähnliches -Wesen als Mittel, ja sogar, ein Stadium seines Daseins als Mittel zu -einem künftigen benutzt zu sehen. Wir haben beides als Möglichkeit -in uns, den Affekt und die Vernunft; wir gehen aber in unbeirrtem -Mitgefühl mit dem Triebmenschen, während wir beim Überlegenen jeden, -auch den kleinsten Rest aus der tierisch-sinnlichen Sphäre als -unangenehm empfinden. - -Im Hamlet hat eine Geisterstimme den Sohn, der seiner ganzen Anlage -nach so ein Geistiger, so ein Dichter zu sein berufen ist wie -Prospero, zur Rache aufgerufen; zu blutig mörderischer Tat drängt’s -ihn unterirdisch von außen, unterirdisch in ihm selbst; von seiner -inneren Höhe aber, von seinem besten Wesen ruft es ihn zur Gewalt -der gestaltenden Rede, des strafenden, bannenden Worts, zu dem jetzt -Prospero mit tiefem Atemzug ausholt. Und zu diesem Verzicht auf -jegliche Strafe und Plage ermuntert hat ihn Ariel der Geist, dem Grazie -und spielerische Leichtigkeit und holde Anmut etwas verleihen, was -wie eine natürlich gewachsene Nachbildung des sanftesten Teils unsres -menschlichen Gemüts ist, wo es von der Stille der Vernunft, wo Seele -von Geist, Gefühl von Denken nicht mehr zu trennen ist. - -Wozu auch, sagt sich Prospero, wozu strafen, verletzen, töten, Leben -zerstören? Ist ja doch alles Leben nur ein seltsames Spiel, das mit uns -getrieben wird, und so unwirklich und vergänglich, wie der Geisterspuk -und Hokuspokus, den er selbst schmerzlos entstehen und vergehen läßt. -Schmerzlos! Das ist der Unterschied zwischen dem Leben der Gestalten, -die der Phantast in die Lüfte zaubert, und derer, die das dunkle -Schicksal aus den Elementen ins Dasein bannt. Darum tut Milde und -inniges Mitleid not, auch gegen die Schlechten: das Leben, an dem die -dämonischen, erdenschweren Naturkräfte hämmern und zerren, ist mit -Gefühlen, mit Schmerzen verbunden, gleichviel ob einer gut oder schlimm -geraten ist, während Prosperos luftiger Trug nur Spiel und bunter, -flimmernder schmerzloser Geistertraum ist. Sonst aber freilich, was ist -Leben, was ist Erde, was ist Welt andres als Traum und Spiel? - - Unsre Spieler, - Wie ich Euch sagte, waren Geister und - Sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft. - Wie dieses Scheines lockrer Bau, so werden - Die wolkenhohen Türme, die Paläste, - Die hehren Tempel, selbst der große Ball, - Ja, was daran nur teilhat, untergehn - Und, wie dies leere Schaugepräng erblaßt, - Spurlos verschwinden. So ein Stoff sind wir, - Wie der, aus dem man Träume macht; ein Schlaf - Hält unser Stückchen Leben rings umgürtet. - -Man hat gezeigt, daß diese Worte Ähnlichkeit mit einigen Verszeilen -haben, die sich in einer 1603 erschienenen Tragödie des Lord Stirling -finden. Das ist nicht wichtig. Wichtiger ist mir, daß das ganze -modische Maskenspiel, das Prospero vor Ferdinand und Miranda von -seiner kleinen Geistertruppe in den Lüften aufführen läßt, eben um -dieser Worte willen, die daran anknüpfen, hauptsächlich veranstaltet -scheint. Derart ist Shakespeares Technik in dieser Zeit; wir haben -Ähnliches vorhin bei Gelegenheit der Dialoge gesehen, die Alonsos -Schweigsamkeit umklingen. Ein wenig kann bei der Maske, die aufgeführt -wird, mitbeabsichtigt sein, noch einmal die bräutliche Beherrschung des -Geschlechtstriebs hervorzuheben, die Prospero dem jungen Menschenpaar, -fast noch zwei Kindern, auferlegt hat. Das steht mit dem Sinn des -Dramas, der Überwindung des Triebs durch den Geist, wohl aber auch -in seiner fast etwas schrullenhaften Gestalt mit unauslöschlichen -persönlichen Erfahrungen Shakespeares aus der Jugendzeit in Verbindung. - -Wir hören es aus den Worten von der Vergänglichkeit, die Prospero zu -Ferdinand spricht: die Heiterkeit, zu der der Herrscher im Geistland -schließlich gelangt ist, ruht auf schwerster Melancholie; und seine -Güte zu den Menschen ist mit Lebensmüdigkeit und Menschenverachtung -verbunden; und dieser Stimmung widerspricht nichts in dem Stück; die -Utopie eines goldnen Zeitalters in Kommunismus und südlichem ~dolce -far niente~, die Gonzalo nach Montaigne vorträgt, kommt nur als -Erheiterung für den Trübsinn des Königs, als schönes Bild, als Scherz, -keineswegs gläubig heraus; und wenn Prospero nicht Geisterfüllte, -Seelenvolle, wenn er nicht Ausnahmen und seines Gleichen kennte, wenn -er nicht seine Hoffnung auf das junge liebende Paar und damit auf die -kommenden Geschlechter setzte, wäre ihm Welt und Leben nicht mehr zu -ertragen. - -Schön ist es, daß diese Worte von der Vergänglichkeit aller Dinge der -Welt, von der Traumhaftigkeit und Schlafumgürtung des Menschenlebens -ihren Platz am Sockel von Shakespeares Denkmal in der Westminsterabtei -gefunden haben. - -Wie das Leben von Schlaf und Traum, so ist dieses Vermächtnisdrama -Shakespeares von Musik umringt. Wir hören es gleich noch, wie jetzt für -Prospero-Shakespeare an Stelle der dämonisch leidenschaftlichen Magie -die heilende, lösende Musik der neue, der luftgleiche, verschwebende, -leicht sich wiegende, spielerische, immaterielle Zauber sein soll. -Was es mit dieser Musik, der nämlichen, von der schon Lorenzo im -Kaufmann von Venedig so feierlich sprach, auf sich hat, sagt uns der -Dichter auch mit dem entzückenden Orpheuslied, das er um dieselbe Zeit, -in der er den Sturm dichtete, in seinem Heinrich VIII. der -unglücklichen Königin Katharina vorsingen läßt: - - Orpheus beugt der Bäume Wipfel, - Und der Berge eisige Gipfel - Seiner Leier süß Getön. - Blum’ und Pflanze blüht entgegen, - Gleich als blüht’ in Sonn’ und Regen - Junger Frühling, ewig schön. - Sanft zum Wellenspiel sich lösen - Sturmesfluten, alle Wesen - Lauschen seines Sangs Gebot. - Solche Macht ward süßen Klängen; - Sorg und Weh, die uns bedrängen, - Wiegen sie in sanften Tod. - -Durch Geistermusik läßt Prospero die Besessenen von dem auferlegten -Wahnsinn einer kurzen Stunde wieder heilen, läßt sie vor sich treten, -gibt sich ihnen noch in den Taumelschlaf hinein zu erkennen und -spricht, da er die Hauptschuldigen von der Schlechtigkeit, von der sie -besessen sind, nicht erlösen kann, mit der verachtungsvollen Milde, die -jetzt für ihn die äußerste Strenge ist, die der Geist zu üben hat, zu -dem Brudermörder: - - Fleisch und Blut, - Mein Bruder du, der Ehrgeiz hegte, austrieb - Gewissen und Natur, der mit Sebastian - -- Des inn’re Pein deshalb die stärkste -- hier - Den König wollte morden, -- ich verzeih’ dir, - Bist du schon unnatürlich! - -Der Bruder Antonio findet in der ganzen langen Szene erst gegen den -Schluß hin ein einziges Mal, wie ihn sein Kumpan Sebastian direkt -anredet, ein paar Wörtchen; die beiden rohen Bemerkungen, die die -zwei Gesellen austauschen, zeigen genugsam, daß ihre Gemeinheit auch -von diesem Erlebnis, das für König Alonso die zermalmende und neu -aufbauende Erschütterung war, nicht umzubringen ist. Aber im Verhältnis -zu allen andern, die bei dem Vorgang sind, stehen die beiden wie -fortgeschoben und entehrt zur Seite. Der Usurpator ist von nichts, für -ihn nichts, von bloßen Worten überwunden; er ist zu nichts geworden und -hat sein Herzogtum eingebüßt und wird im Leben nicht fassen, daß eine -andere Macht ihn besiegt hat als die, die er versteht und übt: rohe -Gewalt. - -Der Geisterfürst ist wieder Herzog von Mailand; bald aber wird das -junge Paar an seiner Stelle herrschen; denn Prospero will nur mit nach -Italien segeln, um seine „Herzgeliebten“ zu vermählen und dann nach -Mailand zu ziehen; dort soll „jeder dritte Gedanke dem Grab gelten“. - -Seine Geister aber hat er schon hier, auf der Zauberinsel, auf der -er ihre Kraft an sich gefesselt hat, entlassen; er ist nun am Ziel -und will als ein gewöhnlicher, sterblicher, sterbender Mensch in die -Heimat zurückkehren; die Kraft der Magie, mit der er Feuer aufrührte -und Stürme entfesselte, ist zu Ende, und auch am luftig leichten -Arielspiele will er fürder keine Lust mehr haben. Wir, die wir uns -Shakespeares Werk in feiner Gesamtheit, Einheit und Entwicklung -vergegenwärtigt haben, müßten verhärteten Herzens sein, wenn wir bei -diesen Worten Prosperos nicht im ganzen und im einzelnen in wundersamer -Gemeinschaft den gewaltig erhabenen, fast unbegreiflichen, wonnevollen -Stolz und die leidvollste, die wahrhaft abscheidende Resignation -William Shakespeares vernähmen: - - Ihr Geister alle, - Mit deren Hilfe ich am Mittage - Die Sonn’ umhüllt, aufrühr’sche Wind’ entboten, - Die grüne See mit der azurnen Wölbung - In lauten Kampf gefetzt, den furchtbarn Donner - Mit Feuer bewehrt und Jovis Baum gespalten - Mit seinem eignen Keil, des Vorgebirgs - Grundfest’ erschüttert, ausgerauft am Knorren - Die Ficht’ und Zeder; Grüft’, auf mein Geheiß, - Erweckten ihre Toten, sprangen auf - Und ließen sie heraus, durch meiner Kunst - Gewalt’gen Zwang: all dieses grause Zaubern - Schwör’ ich hier ab; und hab’ ich erst -- wie jetzt - Ich’s tue -- himmlische Musik gefordert, - Zu wandeln ihre Sinne, wie die luft’ge - Magie es soll: so brech’ ich meinen Stab, - Begrab’ ihn manche Klafter in die Erde, - Und tiefer, als ein Senkblei je geforscht, - Will ich mein Buch ertränken. - -Dies ist das letzte Drama Shakespeares, das hier zu besprechen war. Es -bleibt noch seine persönliche Lyrik, in der wir schon seinem inständig -schweren Leben, seiner Innerlichkeit und Persönlichkeit ganz nahe -treten. Nach 1612 wissen wir von keinerlei dichterischer Tätigkeit -Shakespeares mehr, von 1613 an ist er in seiner Vaterstadt Stratford, -und 1616 ist er dort gestorben: ein König ohne Land, ein Verbannter -und vom Geist Gezeichneter und wahrhaft Ausgesetzter, ein Zauberer und -Geistesfürst ohnegleichen, ein Herrscher über Natur und Geist, dem -nichts Menschliches fremd war und der darum sein Leben lang ein Fremder -war unter den Menschen. - - - - -Die Sonette - - -Ich sage etwas voraus, was nicht gesagt zu werden brauchte, aber ich -sage es: Daß Shakespeares Sonette da sind und zu uns sprechen, daß wir -über sie reden dürfen, ist eine Ehre, die wir durch ganz unbedenkliche -Freiheit und Würde zu verdienen haben. Ich werde also frei sagen, was -die Sache verlangt; der Genius der Freiheit hat diese Gedichte gezeugt. -Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß viele Leute diesen Sonetten -gegenüber verlegen und verschämt werden; und solange das Publikum es -nicht verwehrt, dürfen auch solche sich als Kritiker auftun; aber sowie -sie dann etwas anderes sagen, als daß diese Sonette sie in Verlegenheit -setzen, sowie sie ihren offenbaren Sinn fälschen wollen oder etwa -sagen, diese Gedichte hätten keinen großen Wert, wären langweilig -und dergleichen, so muß man ihnen bedeuten, daß es zu weit geht, -aus der Verlegenheit die Verlogenheit und aus der Verschämtheit die -Unverschämtheit zu machen. - -„Shakespeares Sonette, bisher noch nie gedruckt“, erschienen 1609, um -die Zeit also etwa von Troilus und Cressida, Antonius und Cleopatra -und Coriolan. Als Verleger war T. T. genannt, das ist Thomas Thorpe. -Als Anhang folgt in dieser Ausgabe die Romanze Der Liebenden Klage. -Manche haben dieses Gedicht aus einem triftigen Grund, der oft -vorhalten muß, weil es nämlich manchen nicht gefiel oder nicht paßte, -Shakespeare absprechen wollen; sonst gibt es für diesen Versuch keinen -Grund. Übrigens ist es in der Einkleidung schwach und modisch, in der -Form vollendet, so wie die beiden großen episch-lyrischen Gedichte -Shakespeares, an die es auch sonst erinnert. Ich schließe mich der -Meinung, die öfter geäußert wurde, durchaus an, daß dies Gedicht, das -nach Art und Form nichts mit den Sonetten zu tun hat, beigefügt wurde, -weil es ein Porträt des in den Sonetten besungenen Freundes bringt und -also inhaltlich sehr viel mit ihnen zu tun hat. - -Daß die Veröffentlichung dieses Buches mit Shakespeares Wissen und -Zustimmung geschah, ist sehr wahrscheinlich. Daß die überaus kunstvolle -Anordnung vom Dichter selbst stammt, ist so wenig zu bezweifeln, wie -daß Goethe seine Gedichte selbst geordnet hat. - -Daß diese 1609 veröffentlichten Sonette mindestens zu beträchtlichem -Teil einer weitaus früheren Zeit entstammen, ist sicher. Erwähnt hat -sie -- für uns -- zuerst 1598 in Shakespeares 34. Lebensjahr Francis -Meres in dem Lob Shakespeares, das hier öfter erwähnt wurde; da spricht -er von Shakespeares „zuckersüßen Sonetten unter seinen privaten -Freunden“ und vergleicht diese Gedichte mit Ovid; in dem Ausdruck -zuckersüß darf man nur Lob hören, keinerlei ironische Nebenbedeutung. -Im Jahr darauf, 1599 erschien dann eine Sammlung von Gedichten, die -Shakespeares Namen trug: Der verliebte Pilger; es ist kaum möglich -zu entscheiden, ob diese Gedichte -- zwanzig an der Zahl -- alle -Shakespeare zugehören, da einige sich auch in Sammlungen anderer -Dichter finden; aber zwei Sonette, die auch in der endgültigen Sammlung -von 1609 stehen, zwei sehr wichtige, um die sich dem Sinne nach andre -gruppieren, sind schon da 1599 veröffentlicht. - -Es gibt Übereinstimmungen gedanklicher und formaler Art, die von dieser -Sonettendichtung zu Shakespeares beiden großen Gedichten aus den Jahren -1593 und 1594 leiten, und ebenso zu den frühen Liebesspielen, besonders -den beiden Veronesern und der Verlornen Liebesmüh. - -Wir haben also anzunehmen, daß die Sonettenproduktion und das zu Grunde -liegende Erlebnis oder, vorsichtig gesagt, ein zu Grunde liegendes -Erlebnis schon in den neunziger Jahren einsetzen. - -Andere von diesen Gedichten aber wieder sind nach Inhalt, Stimmung und -Form so anders, so reif, düster, streng, daß eine spätere Zeit der -Abfassung, bis gegen 1605 hin mindestens anzunehmen ist. Ich lasse -mich dabei nicht von der Strenge, Festigkeit und Geschlossenheit, -der Neigung zur Antithese, zum Witz, zum Geist täuschen, die schon -die Form des Shakespearesonetts mit sich bringt; über das, was all -diesen Sonetten gemeinsam ist, hinaus, wachsen einige ins besonders -Herbe, Abgewandte und Furchtbare; sprechen überdies von Erfahrungen, -die der jüngere Shakespeare nicht haben konnte. Über etwa ein Dutzend -Jahre also kann sich sehr wohl die Entstehung dieser Sonettendichtung -erstreckt haben. - -T. T. der Verleger hat dem Buch eine Widmung mitgegeben, der ich so -wörtlich wie möglich hier eine deutsche Fassung zu geben suche: - - Dem einzigen Erbringer dieser nachfolgenden Sonette Herrn W. H. - alles Glück und jene von unserm immerlebenden Dichter verheißene - Ewigkeit wünscht der wohlwünschende Abenteurer beim Auslaufen. T. T. - -Bei der Übertragung der Schlußwendung (~the wellwishing adventurer -in setting forth~) habe ich mir von dem trefflichen Sprachenmeister -Regis helfen lassen; ich glaube in der Tat, daß der Mann T. T. in -seiner geschraubten Sprache, in der sich Modeton und kleinbürgerliche -Unbeholfenheit treffen, seine Empfindung, daß er als Verleger ein -Wagnis begehe, mit diesem aus der Schiffersprache genommenen Bild hat -ausdrücken wollen. Mit dem gedrechselten Wort Erbringer versuche ich -~begetter~ wiederzugeben. Damit steht es so. Die einen sagen, -es heiße hier, was der gewöhnlichen Bedeutung von ~to beget~ -entspricht: Erzeuger. Die andern beziehen sich auf eine seltenere -Bedeutung des Zeitworts und sagen: Nein, es ist Beschaffer gemeint; der -nämlich, der dem Verleger das Manuskript verschafft hat. Nach Prüfung -der beiderseitigen Argumente finde ich, daß alle beide recht haben, -und glaube, daß der Verleger dieses beides mit der einen Bezeichnung -in verschwommener Wortgemeinschaft hat ausdrücken wollen: Du bist -der Mann, an den diese Sonette sich richten, dem der Dichter die -Unsterblichkeit verheißen hat, welche ihm selbst nicht fehlen wird, -und dir verdanke ich die Möglichkeit, daß ich sie herausgeben darf; -ich bescheidener Mann will dir dasselbe wünschen, was dir der Dichter -gelobt hat. Sicher ist, daß der Dichter in diesen Sonetten die Ewigkeit -nur dem Freund verheißen hat, an den sie sich richten; und dem und -keinem andern widmet der Verleger das Buch. Daß er den aber auch in -dem anderen Sinn den ~begetter~ der hier folgenden Sonette nennt, -ist sehr wohl möglich. Wir wissen nichts weiter, und es bleibe jedem -überlassen, wie er sich dieses Beschaffen vorstellen will: ob dadurch, -daß er ihm eine Abschrift der Sammlung verschaffte, oder so, daß er -die Erlaubnis oder die Anregung zum Druck gab. Ich denke, bei näherer -Bekanntschaft mit den Tatsachen wird jeder zugeben müssen, daß auch -der waghalsigste Abenteurer nicht ohne Zustimmung des Objekts dieser -Gedichte das Buch veröffentlicht hätte, es sei denn, man nehme an, der -Besungene sei schon tot gewesen, wofür nichts spricht. Ich halte für -wohl möglich, daß der Mann, den T. T. Herrn W. H. nennt, veranlaßt -hat, daß das Dichtwerk erschien; daß für ihn darin höchstes Lob, -Anzweifelung und bitterer Tadel vereint zu finden war, beirrt mich -durchaus nicht; es gibt solche Männer, die für ein solches Verhältnis -zu einem großen Künstler eine Mischung von Geheimnis und Öffentlichkeit -brauchen, und W. H. könnte ein solcher gewesen sein. - -Wer ist dieser Mr. W. H.? An wen richten sich diese Sonette? - -Man hat viel herumgeraten, ist sogar auf William Himself, William -(Shakespeare) in Person und auf die Königin Elisabeth geraten, und -hat sich, wie in fast allen Shakespearefragen, nur ganz selten -zu dem Geständnis bequemt, man wisse es nicht und es gebe keine -Möglichkeit, es aus dem Material, das uns vorliegt, herauszubekommen. -In England stehen in der Gegenwart zwei Parteien einander gegenüber, -von denen die zweite im Vordringen ist: die erste entscheidet sich -für Henry Wriothesley Graf von Southampton, die zweite für William -Herbert Earl von Pembroke. In Deutschland nehmen es die meisten für -selbstverständlich, daß die Sonette dem Gönner und Patron Shakespeares -galten, womit Graf Southampton gemeint ist. - -Beide Parteien arbeiten viel mit gewissen Anspielungen auf -Zeitereignisse, die sich in den Sonetten finden und die nach ihrer -Behauptung nur auf den Mann deuten können, auf den sie gewettet haben. -In Wahrheit sind die Stellen, die man anführt, viel zu unbestimmt, -vieldeutig, allgemein, als daß man sie auf etwas Bestimmtes beziehen -könnte. - -Ich habe nun zu sagen, was ich weiß und was ich nicht weiß. - -Die Abkürzung Mr., Master, woraus dann Mister geworden ist, ist -lediglich die Anrede für Bürgersleute. Wenn aber -- wie wir noch sehen -werden -- etwas mit Sicherheit aus dem Inhalt der Sonette hervorgeht, -so ist es zuvörderst das, daß der Angeredete der höchsten Aristokratie -angehörte. Es liegt also, wie zu erwarten war, in der Widmung eine -Mystifikation, die sich, meine ich, der Herausgeber nicht ohne -Zustimmung des Betroffenen erlauben durfte. Ist das aber so, dann wäre -es nicht unbedingt nötig, daß die Buchstaben Mr. W. H. etwas mit den -Anfangsbuchstaben seines Namens zu tun haben. Die Southamptonisten -sagen: es ist eine Umstellung von Henry Wriothesley, oder auch: es ist -Wriothesley Hampton, oder auch: es ist bloß irgendein unbekannter, -gleichgültiger Beschaffer des Manuskripts; die Herbertisten haben es -leichter: William Herbert. - -Ich kann aber noch einen Schritt weiter gehn und sage: trotz aller -Einschränkung der Verläßlichkeit der beiden Buchstaben W. H. durch -das unzutreffende Mr. haben wir doch wieder Grund, sie beide für eine -Namensbezeichnung zu halten, weil das W sicher zutrifft. Gar kein -Zweifel darf für jeden, der die Sprache der Sonette kennt, bestehen, -daß der Vorname des Freundes uns mitgeteilt ist: er heißt William. In -drei Sonetten findet sich das anmutige Spiel mit „Will“ als dem Willen -der launisch tyrannischen Geliebten und dem Namen William für die -Liebenden alle beide: durch dieses dreifache Will wird das seltsame -Verhältnis der drei Menschen zu einander ausgedrückt. - -Das also wissen wir: der Freund war ein Jüngling aus hohem Adel und hat -wie Shakespeare William geheißen. - -Auf Hypothesen baue ich nichts; um Tatsachen komme ich nicht herum. -Solange man nicht auf Grund irgendeiner Tatsache wahrscheinlich macht, -daß der Graf Southampton außer seinem Taufnamen den Rufnamen William -gehabt hätte, kommt er mir für die Sonette nicht mehr in Betracht. Was -sonst für ihn angeführt wird, ist nicht durchgreifend: Shakespeare hat -ihm 1593 devot und im üblichen unausstehlichen Dedikationston Venus -und Adonis gewidmet; er hat ihm im Jahr darauf schon in herzlicher -Vertraulichkeit, wiewohl immer noch in gezierter Modesprache die -Lucretia gewidmet. Das könnte aber nur etwas beweisen, wenn man zeigte, -daß Shakespeare mit keinem andern jungen Adligen vertraut sein konnte, -wozu keinerlei Möglichkeit ist. Statt dessen aber weiß man, daß es -geradezu Mode war, dem Grafen Southampton in Herzlichkeit und Verehrung -Werke zu widmen; wir kennen eine große Zahl solcher Widmungen; -Chapman, der Homerübersetzer, nennt ihn nicht etwa den Gönner des -Einzigen, sondern den „Auserwählten _aller_ edlen Geister unsres -Vaterlands“, und Nash begrüßt ihn in einer Widmung als einen „teuren -Freund und Begünstiger sowohl der Dichter-Freunde als der Dichter -selbst“. Da kann man sich von seinem vielseitigen Mäcenatentum ein Bild -machen; und ich habe nichts dagegen, daß man ihn sich als Begünstiger -des Freundschaftsbundes zwischen William Shakespeare und dem andern -William vorstellt. - -Für William Herbert Earl von Pembroke steht die Sache viel besser; er -hat den großen Vorzug, daß er William, daß er W. H. heißt. Die Widmung -der beiden Gedichtbände an Southampton wird dadurch wettgemacht, daß -Shakespeares Freunde Heminge und Condell die Gesamtausgabe eben diesem -William Herbert und seinem Bruder Philipp gewidmet haben und diesem -„adligsten und unvergleichlichsten Bruderpaar“ nachrühmten, sie hätten -den Stücken Shakespeares und ihm selbst bei seinen Lebzeiten viel Gunst -erwiesen. - -Wäre William Herbert der Freund der Sonette, so könnten die frühesten -dieser Sonette, die zu dem Zyklus vereinigt sind, nicht wohl vor 1598 -geschrieben sein; da kam der junge Adelsmann als Achtzehnjähriger -nach London. Das nehme ich nicht gern an; aber es könnte sein. Meres -könnte, als er 1598 von Sonetten Shakespeares sprach, die unter seinen -privaten Freunden kursierten, gerade einige der ersten kennen gelernt -haben, ganz abgesehen davon, daß, was er kannte und rühmte, auch solche -Sonette gewesen sein können, die gar nicht auf uns gekommen sind. -Und es spricht nicht gegen die Herberttheorie, daß 1599 der Verleger -Jaggard zwei von den Sonetten, die unserem Dichtwerk angehören, in den -Verliebten Pilger aufnehmen konnte. - -Aber was in aller Welt zwingt oder berechtigt uns denn, aus der -Möglichkeit eine Notwendigkeit zu machen? Wäre das Geheimnis so -durchsichtig gewesen, daß wir, die wir eigentlich gar nichts wissen, -die sichere Lösung finden, warum haben dann weder Shakespeares -Zeitgenossen noch die ersten Forscher, die Nachrichten aus seinem Leben -zusammentrugen, etwas davon berichtet? Ja, wenn die Sache so auf der -Hand liegt, so aus den Sonetten selbst herauszulesen ist, wie jede -der beiden Parteien behauptet, warum zierte dann der wackere Thorpe -sein Buch nicht einfach mit dem Namen des Freundes? Denn lesen konnten -Shakespeares Zeitgenossen auch; und Anspielungen auf Zeitumstände, die -wir mit ausschließlicher Sicherheit deuten können, mußten für sie gar -ganz handgreiflich sein. - -Mit alledem ist es aber nichts; nichts ist bewiesen, als daß die -Sonette sich an einen Adligen richten, der William hieß. Und es schadet -gar nichts, daß wir weiter nichts wissen. Weder die Southamptonisten -noch die Herbertisten haben zu dem Verhältnis, wie es in den Gedichten -steht, aus anderweitiger Kenntnis das allergeringste dazugebracht. Wir -wissen davon auf jeden Fall, was in den Gedichten steht, und überdies -nichts. - -Das Gedichtwerk besteht im ganzen aus 154 Sonetten. Davon stehen die -letzten beiden, die eigentlich nur eines in zwei Fassungen sind, für -sich; ein Epigramm aus der griechischen Anthologie -- von dem es -lateinische Übersetzungen gab -- wird nachgebildet und fortgeführt; -und es steht da als sinnvoller, vom Persönlichen ins Allgemeine -verflößender, besänftigender Abschluß des ganzen Zyklus: das Feuer der -Liebe durchdringt alles; nicht einmal Wasser löscht es aus, das Wasser -selbst wird feurig und kocht; und dieses von Liebe durchglühte Wasser --- der heiße Sprudel -- kann wohl Krankheiten des Leibes heilen, aber -kein Wasser kann die Liebe kühlen, die Liebeskrankheit heilen. Dieses -letzte Motiv, mit dem die ganze Sonettenfolge schließt, daß der von der -Liebe Geschlagene vergebens im Heilbad Heilung von der Liebeskrankheit -sucht, findet sich in der antiken Vorlage nicht. - -Die übrig bleibenden 152 Sonette bilden einen Zusammenhang, der sich -zunächst wieder in eine große und eine kleine Abteilung spaltet: -1-126 und 127-152. Da ich annehme, daß Shakespeare das Buch, wie es -uns vorliegt, komponiert hat, brauche ich die Teilung in 126 und -dann 26 für keinen Zufall zu halten; ein bißchen mit Zahlen spielen -die Dichter alle gern; das ist wie ein spielerisches Ausruhen vom -bannenden Spiel des Rhythmus; und der Dichter hat gewiß das Werk aus -einem größeren Vorrat zusammengestellt und manches weggelassen. Die -kleine, als Anhang folgende Abteilung der 26 Sonette richtet sich an -die schwarzäugige, auch sonst schwarze Geliebte -- möge diese Wendung, -die ihr Recht hat, nur keiner nach Art von Wilhelm Jordan verstehen, -der diese Frau in allem Ernst mit abgeschmacktesten Deutungen und -Deutlichkeiten für eine Negerin erklärt hat! Dieser kleine Zyklus -steht in engster Verbindung mit dem vorhergehenden großen, in dem die -nämliche Frau schon ihre Rolle spielt. - -Die Sonette 1-126 richten sich unmittelbar an den Freund. Daß diese -Gedichte der Liebe im ganzen einem Freund und nicht einer Geliebten -gelten, ist längst solchen, die es nicht haben wollten, aus einzelnen -Stellen zwingend bewiesen worden. Das tut heute nicht mehr not; -die Wahrheit ist durchgedrungen. Aber da auch neueste Erklärer den -unwürdigen Versuch machen, wo nur die allgemeingültige Sprache der -Liebe es zuläßt, wieder einzelne Steine aus dem Bau herauszubrechen -und Shakespeare vor dem Verdacht, er habe dem Freund leidenschaftliche -Worte der Anbetung gewidmet, zu retten, ist die seltsam beschämende -Geschichte, die diese Gedichte im Urteil der Kunstrichter erlebt haben, -immer noch nicht veraltet. - -In die Gesamtausgabe haben Shakespeares Freunde 1623 nur die -Bühnenwerke aufgenommen, keins von den Gedichten. Die Sonette wurden -nach der ersten Ausgabe von 1609 erst im Jahre 1640, zusammen mit den -andern Gedichten, wiedergedruckt; der Herausgeber zerstörte -- wie -später bei uns Bodenstedt -- die wundervolle und notwendige Anordnung -und ließ eine Reihe Sonette fort. Als einheitliches Gedichtwerk -kamen sie erst wieder 1710 heraus, ein Jahrhundert nach ihrem ersten -Erscheinen; und der Herausgeber erklärte, sie seien alle miteinander -dem Lobe der Geliebten gewidmet. Damit war eine Losung ausgegeben, bei -der es bis 1780 blieb; da sprachen erst Malone und die andern Forscher, -die ihm beim Kommentieren halfen, die klare Wahrheit aus. Chalmers -versuchte es mit der Theorie des Mannweibs, der Königin Elisabeth -nämlich, konnte aber kein Glück mehr damit haben. Die Gelehrsamkeit -half sich jetzt anders; Drake 1817 und noch später berühmte Forscher -wie Dyce, Charles Knight und Nicolaus Delius erklärten, hinter diesen -Gedichten stünden im allgemeinen gar keine Erlebnisse; es handle sich -um eine warnende Darstellung unerlaubter Liebe, meinte der eine; um ein -bloßes Spiel der Phantasie, sagten so ungefähr die andern. - -Daran nun läßt sich immerhin eine ernsthafte Frage knüpfen. Ist es -denn sicher, darf gefragt werden, ob diese Gedichte alle an einen und -den nämlichen Mann gerichtet sind, und ob die Folge dieser Gedichte -etwa die zeitliche Folge eines einheitlich in sich zusammenhängenden -Erlebnisses darstellt? - -Wir müssen immer unterscheiden zwischen biographischen Tatsachen, auf -die wir aus dem Buche schließen wollen, und dem Dichtwerk, wie es uns -der Dichter gegeben hat, auf daß wir es ganz für sich nehmen sollen. -Was die Tatsachen aus Shakespeares Leben angeht, so wissen wir davon -außerhalb des Buches gar nichts. Es ist aber kein Zweifel, daß die -Ordnung der Gedichte künstlich und künstlerisch ist. Viele, je zwei -und mehrere, haken in einander ein, so daß ein Gedicht aus Gedichten -entsteht; die einzelnen Sonette sind nur wie Strophen; niemand kann -entscheiden, ob jedesmal die Gedichte von vornherein so im Zusammenhang -entstanden, ob manchmal dieses Ineinandergreifen erst vom Ordner -hergestellt wurde. Auch wie sich das Herausströmen des Gefühls aus den -Notwendigkeiten der Unwillkürlichkeit und das gebietende, komponierende -Schaffen zu einander verhalten, kann man nicht sagen. Keinem aber, -der aus eigenem Erleben heraus für die Dichtung empfänglich ist, -kann in Zweifel stehen, daß diese Sonette Gelegenheitsgedichte im -Sinne Goethes, daß sie erlebt sind und daß auch ihr Zusammenhang dem -Zusammenhang eines Erlebnisses entspricht. Der so dieses Dichtwerk -empfängt, wird nicht zweifeln, daß die meisten, die zyklischen -dieser Gedichte im Leben des Dichters an eine und die nämliche -Person gerichtet wurden, so wie es gewiß ist, daß nach dem Plan des -zusammenhängenden Dichtwerks der Dichter William von Anfang bis zu -Ende zu einem einzigen jüngeren Freund, dem Adelsjüngling William -spricht. Alles Wesentliche, das gewiß ist, aus dem Wirklichkeitsleben -eines so auserwählten Mannes wie Shakespeare muß uns bedeutend sein; -und der Empfindungen, die hier Gestalt geworden sind, können wir gewiß -sein. Diese Empfindungen aber leben uns in dem Kunstgebilde, und an -diesem haben wir für unser Mitfühlen den einzig sicheren Halt. Die -Wege der Dichterseele sind dunkel; selbst bei Goethe, von dem wir -so viel wissen, können wir nicht sagen, ob das oder jenes Gedicht -Christiane oder Marianne oder sonst einem Weibe galt, oder ein andres -Bettine oder Minna Herzlieb oder beiden zugleich; daß diese Gedichte -aber der Liebe gelten und welche Stelle sie in den gedichteten -Zusammenhängen einnehmen, in die sie der Dichter gestellt hat, wissen -wir. Und so ist in allem Wesentlichen klar, wie der Roman in Sonetten, -den Shakespeare uns gab, für sich zu deuten ist; und dahin, zur -geschaffenen Kunstgestalt, zum Bild der Empfindungen sollen wir immer -wieder von unsern Abweichungen ins Originäre, ins Nebelland der wirren -Entstehung der Empfindungen zurückkehren. Wahres Leben ist gestaltetes, -gemeistertes Leben; wahres Leben Shakespeares finden wir in seinen -Werken. - -Ich will nun, ehe ich von dem Dichtwerk und seinem Gehalt rede, etwas -von der Sprache und Form und dann von den Übersetzungen sagen. - -Sonette wurden um diese Zeit in England vielfach gedichtet; auch die -besondere Form des Shakespearesonetts haben vor ihm und neben ihm -andere angewandt. Dieses Shakespearesonett besteht aus 14 Zeilen wie -das echte; das echte aber besteht aus zwei Abteilungen, deren erste 2 × -4, deren zweite 2 × 3 Verse hat, und das Band der Reime in ihm ist so, -daß in der ersten Abteilung zwei Reime, in der zweiten drei durchgehen. -Das Shakespearesonett hat dagegen 3 Strophen zu 4 Versen, denen dann -rasch 2 Verse als Abschluß folgen: 3 Quatrains und 1 Couplet. Jedes -Quatrain hat seine zwei besondern, in einander verschränkten Reime, -so daß die Strophen nicht formal in einander geschlungen sind; das -Couplet hat seinen Schlagreim für sich. Im Rhythmischen aber und in -der formalen Behandlung des Inhalts ist der Charakter des Sonetts, -die Geschlossenheit eines Gefüges, dessen Teile gleichermaßen -selbständig und an einander gebunden sind, streng gewahrt; nur daß -das abschließende Couplet zu dieser Strenge und Unnahbarkeit, zu -dieser geschmiedeten Klammer um die Gefühle, daß sie nicht zuchtlos -zerfließen, noch ein anderes Mittel gegen Gärung und unreine -Verworrenheit fügt: Witz, Geist, Leichtigkeit, Spiel, immerwährende -Rückkehr zum Grundthema: Huldigung für den Freund. - -Formvollendet sind auch viele andre Sonette, die wir von Shakespeares -Zeitgenossen haben; aber sie besagen meist wenig, weil sie selten -aus einer Persönlichkeit gekommen sind, weil keine Not vorlag, -Überfließendes zu bändigen; so sind sie inhaltlich meist allegorisch, -mythologisch, schwülstig oder sonstwie rhetorisch oder gekünstelt. -Bei Shakespeares Sonetten steht die Sprache in den vollendetsten, -deren es viele sind, in geradem Gegensatz zu der Geschwollenheit -und pathetisch barocken Gleichnisverstiegenheit, die in seiner Zeit -Mode war und auf die er sich selbst in einigen Dramen und in den -episch-lyrischen Gedichten so bis zum Grotesken grandios verstanden -hatte. In den Sonetten aber haben wir, wie es diesen Gebilden -entspricht, eine Annäherung der Sprache in Ausdruck und Syntax an -die Prosa, welche dann durch die Geschlossenheit der Form, das hohe -rhythmische Gleichmaß, die Parallele der Reimpaare zu einer Poesie -erhoben wird, in der das Sprachgebilde nie Rhetorik oder Tirade, immer -aber, zugleich in einem, Plastik und Musik wird. Und Shakespeare, -der von jenem schäumenden Schwulst herkam, der von seiner Natur, der -Art jeder Jugend und einer Mode bedingt war, in der sich Pathos, -Bilderfülle, Wahl des seltenen Ausdrucks und also Gesuchtheit und -Geziertheit, Antithese und Witz seltsam mengten und selten einander -wahrhaft die Wage hielten, konnte keinen bessern Zuchtmeister brauchen -als das Sonett, und das entzückende Spiel Verlorne Liebesmüh ist das -Denkmal, das er dieser Reinigung seines Stils und seines Gefühlslebens -gesetzt hat. Wie er dann zu seiner Reife kam und leidenschaftlichen -Schmerz, unauslöschlichen Gram und wilde Weltwut mit der Strenge des -Sonetts meisterte, nicht, indem er zum Zierlichen und zum Spiel ausbog, -sondern, indem er sein Stärkstes und seine ganze Vehemenz in diese -Form goß, da ist dieser Anblick: Shakespeare im Sonett! mir unsäglich -wunderbar und ergreifend, ein Sinnbild für das, was in seinen eigenen -Worten „Reif sein ist alles“, in Goethes Worten „In der Beschränkung -zeigt sich erst der Meister“ heißt; ein Bild noch höherer, weil -unheimlicherer Art als Goethe, wie er das Erlebnis seines Werther in -die marmorglühende Form des Tasso bannt, nur vergleichbar mit Spinoza, -wie er das, was seine Ethik in Ursprung und Springkraft ist, in die -geometrische Form preßt. - -Die Vollkommenheit und Unnachahmlichkeit dieser leuchtenden klingenden -Gebilde ist zurückzuführen einmal auf die englische Sprache und dann -auf Shakespeare. Es verhält sich mit diesen Sonetten entsprechend wie -mit Dantes Göttlicher Komödie: da die englische Sprache mit weniger -Silben dasselbe sagen kann wie die deutsche, da überdies ihr Reichtum -an Reimen, vor allem einsilbigen, männlichen Reimen viel größer ist -als im Deutschen, wäre eine vollkommene Nachbildung im selben Versmaß -nur dann erreichbar, wenn Shakespeare die Möglichkeiten seiner Sprache -nicht vollkommen ausgenutzt hätte. Das hat er aber ganz wunderbar -getan: mit einer zauberischen, oft wie fliegenden, spielerischen -Leichtigkeit, oder mit einem sicher, fest, selbstverständlich -fortschreitenden Ton, wo die Schlagkraft und der Verbindungsring der -Reime wie eine logische, sachliche Notwendigkeit eintritt, hat er diese -Gedichte gebaut. Es ergibt sich daraus, daß bei den allermeisten dieser -Gestaltungen der deutsche Dichter, wenn er sie übersetzt, irgend etwas -fallen lassen oder schwer, dunkel, gedrängt sein muß, wo Shakespeare -sich mit Leichtigkeit und Klarheit und Freiheit bewegt. Bei der -Verssprache der Dramen, in denen Shakespeare die Möglichkeiten seiner -Sprache so bis zum letzten ausmünzt, ist eine Aushilfe möglich, deren -sich die besten Übersetzer in rühmlichem, rührendem, aber der Sache -schädlichem Eigensinn noch zu wenig bedient haben: für den Bau einer -Szene ist es in Wahrheit nebensächlich, ob sie 200 oder 210 Blankverse -hat, und ebenso ändert es am Gehalt und der Komposition einer Replik -oft nichts irgend Wesentliches, wenn sie statt 5 Versen 5½ hat. Bei -diesen Gedichten aber steht die Zahl der Verse, das Metrum und damit -die Zahl der Silben fest; auch ist es keineswegs gleichgültig, wenn -an die Stelle eines männlichen ein weiblicher Reim tritt und damit -Charakter, Stimmung und Zeitdauer des Ausdrucks geändert wird. Der -Übersetzer wird es bald da, bald dort, im Inhaltlichen, im Formalen --- was beides doch wie in der Musik hier gar nicht zu trennen ist -- -anders und schlechter machen müssen als Shakespeare; und seine Kunst -wird sich darin zeigen, zu welcher der verschiedenen Möglichkeiten -er sich jedesmal entschließt, wie er jeweils aus der Not eine Tugend -macht. - -Die meisten Deutschen aber werden trotzdem auf Übertragungen angewiesen -sein; auch wer sonst sehr gut englisch kann, braucht sie. Ein großer -Teil der Ausdrücke und Wendungen gehören in dem Sinn oder den Nuancen, -in denen die Sonette sie gebrauchen, der heute lebendigen englischen -Sprache nicht mehr an, so daß die Verschmelzung zwischen Gedicht und -Empfangendem, die wir mit den gleichermaßen elenden Worten Genuß oder -Verständnis der Dichtung bezeichnen, nicht unmittelbar möglich ist, -sondern erst einer ernsten Vorarbeit bedarf, welche nicht immer gelingt. - -Deutsche Übersetzungen gibt es in großer Zahl; ich kenne die von Regis, -Wilhelm Jordan, Bodenstedt, Gildemeister, Eduard Sänger, Stefan George -und Ludwig Fulda. - -Wilhelm Jordan beherrschte die Sprache mit ungewöhnlicher Leichtigkeit -und war darum zum Übersetzen berufen; wo es auf Respekt vor -dem Original nicht gar zu sehr ankam, wie zum Beispiel bei den -lyrisch-epischen Gedichten Shakespeares, hat er die englischen Strophen -durch treffliche deutsche ersetzt, wenn er auch fast durchweg an die -Stelle der pathetisch starken oder lyrisch weichen Bildersprache und -metaphorischen Ausschweifung, die im Begriff und an der Grenze ist, -in den Witz umzuschlagen, den schon fertigen und platt geschlagenen -Witz gesetzt hat. Für die Sonette aber hat es ihm an Ehrerbietung -gefehlt und an der Fähigkeit, sich in einen Mann, der zugleich -leidenschaftliche Natur und gehaltene Fassung war, zu versetzen. Er -ist zu leichtsinnig und keck ans Werk gegangen, was schon aus seiner -kuriosen Entschuldigung, er habe doch schließlich durchschnittlich -nur vier Sonette auf den Tag zustande gebracht, und aus seinem Rezept -hervorgeht, wie diese Sonette deutsch ebenso gut oder gar besser zu -verfertigen seien wie die Originale: Shakespeare habe für die zehn -oder elf Silben seines Verses bei der Knappheit der englischen Sprache -nicht genug zu sagen gehabt, und so müsse man nur die Watte aus den -Gebilden herausnehmen und habe dann auch deutsch Sprachstoff genug für -die Nachbildung! So ist er auch hier zu witzig, zu unlyrisch geworden; -und schließlich ist nur eine oft sehr geschickte Mimikry von Poesie -entstanden, hinter der sich Abgeschmacktheit und Fadheit verbirgt. -Shakespeares Hoheit, Haltung, Tragik und süße Lieblichkeit ist nicht -mehr da. - -Bodenstedt und Gildemeister haben ebenfalls ansprechende deutsche -Gedichte gemacht; aber an die Stelle des Wesentlichen, des Ernstes, des -formalen Schauers Shakespeares, des heroischen und graziösen Tons des -Renaissancedichters haben sie modern oberflächliche Gesprächigkeit oder -Empfindsamkeit gesetzt. - -Fulda gar verbindet eine ganz ungewöhnliche Gelenkigkeit der Sprache -mit einer betrüblich gewöhnlichen Unvornehmheit des Tons und der -Gesinnung. Er spricht Berlin ~W~; auch an Schlegel und Tieck wird -man manchmal erinnert; nur leider nicht an die edeln Übertragungswerke, -die von ihnen herrühren, sondern an die ordinären Quartiere, die -schändlicherweise in Berlin ~N~ nach ihnen benannt sind. - -Gottlob Regis hat seine Übersetzung des Sonettenwerks 1836 in seinem -Shakespeare-Almanach veröffentlicht. Er hat Sinn für den echten -Ton Shakespeares und für seine feste, tragisch-heldenhafte Haltung -und steht in dieser wie jeder Hinsicht weit über den Nachfolgern, -die ich bisher behandelt habe. Es gelingt ihm, einem der größten -Übersetzungsmeister, die wir Deutsche haben, im Inhalt sehr getreu zu -sein, und oft ist er wundervoll sprachschöpferisch. Nur kann leider -die genialste Kraft, in bewußter Suche schöpferisch die Sprache zu -meistern, noch keinen Dichter machen; und so vollendet er Rabelais’ -und Swifts Prosa nachbildete, so fehlt ihm doch für diese Sonette -das Lyrische, der Rhythmus, die Musik. Die Härte des Mannes, der sie -weicher Zerflossenheit abgerungen hat, ist etwas ganz anderes, als -die Sprödigkeit des Gelehrten, der sich angelegentlich bemüht, seine -Sprache weicher und geschmeidiger zu machen. Aber es sollte ein Dichter -über diese sehr respektable Übersetzung kommen und sie neu bearbeitet -herausgeben. Wir können der Übersetzungen dieser Geschmeide nicht genug -haben. - -Dem Willen und auch der Dichterkraft nach bei weitem am höchsten steht -Stefan George; er hat den Geist und die Musik, hat das Formprinzip -dieser Kunstwerke nicht nur erfaßt, sondern in sich; überdies ringt -er ergreifend und fast tragisch um Treue, selbst wo es sich um das in -diesem Fall Schwerste, um das Vorwiegen des männlichen Reims handelt; -aber nur selten ist ihm ein ganzes Sonett geglückt; um der treuen -Nachbildung der Form willen vergewaltigt er die Möglichkeiten der -deutschen Sprache oft unerträglich; so wird aus der Not die spezifisch -Georgesche Tugend, mit der der adlig-volksmäßige Shakespeare nichts -gemein hat: das Hieratische, Esoterische, das an die Stelle des Volks -und der natürlichen Vornehmheit, die unsrer Zeit alle beide fehlen, den -Klüngel setzt; und zum Verständnis und Genuß seiner Übersetzung -- ich -übertreibe nicht -- braucht man immer wieder das Original. - -Nach der Zahl der gelungenen oder wenigstens erträglichen Sonette -ist Sänger der beste: aber wie viele Spitzen bricht er ab; wie viel -ebnet er; wie viel Erklärungen, Auffassungen, Deutungen bringt er in -den Text hinein; aus Unbestimmtheiten macht er Bestimmtheiten und aus -Bestimmtheiten Unbestimmtheiten; er trivialisiert das Gehobene und, -was schlimmer ist, er bringt eine gewisse bürgerliche Feierlichkeit -und Selbstbewunderung in Äußerungen hinein, die der Dichter wie eine -unverrückbare Wirklichkeit sich allerschlichtest und natürlich hat -aussprechen lassen. - -In den Zitaten, die ich im folgenden mitzuteilen habe, habe ich alle -Übersetzungen, die mir etwas boten, benutzt, kombiniert und nach -Bedarf und eigenem Vermögen verändert und zur Einheit gebracht. Ich -glaube, daß dadurch für diese einzelnen Stücke und Bruchstücke etwas -Rechtes herausgekommen ist, und ersuche berufene Leser um Prüfung; -dies um einer wichtigen Sache willen, denn es ist in all solchen -Fällen, wo kombinierte Kraft und gleichzeitige oder zeitlich getrennte -Gesellschaftsarbeit etwas Rechtes zustande bringen, ein scharfer und -unnachgiebiger Kampf gegen die verruchte Monopolform, die das geistige -Eigentum in unsrer Zeit angenommen hat, zu führen. - -Zu wünschen wäre, unter Beiseitesetzung aller Vornehmtuerei, für -deutsche Leser, die des Englischen mächtig sind, eine Ausgabe -des Originals mit deutscher Prosa-Übersetzung und sachlichen und -sprachlichen Erklärungen. Denn man kann sich dieser Sonette nur in -derselben Art bemächtigen, wie der Göttlichen Komödie und des Don -Quijote, und für die, die keine Erklärungen mehr brauchen, gibt es -Ausgaben würdiger Ausstattung, in denen niemand dem Dichter dreinredet, -genug. - -Was drücken nun diese Sonette insgesamt aus, wenn ich den Versuch -mache, ihren Gehalt, wie sie ihn von Inhalt, Stimmung und Form -bekommen, fast wie in einem einzigen Satz auszudrücken? Und was -bedeuten sie im Gesamtwerk des Dichters? - -Von diesem letzten zuerst zu reden und mit dem Äußerlichsten zu -beginnen: diese Sonette beziehen sich nur fortlaufend auf einander, -auf nichts anderes; der Dichter, der da von sich spricht, ist nur der -Dichter dieser Sonette, man dürfte sagen: ihr gedichteter Dichter. -Wären sie uns erhalten, aber nicht unter Shakespeares Namen, so wäre -ihr Verfasser für uns, so wie der Dichter des herrlichen Dramas Eduard -III., der doch wohl nicht Shakespeare ist und von dem wir -dann gar nichts wissen, ein unsterblicher Dichter der Weltliteratur; -in einem Teil der Sonette würden wir wohl an Spiele wie Die beiden -Veroneser erinnert; in einem andern käme uns eine Gesinnung zum -Ausdruck, die uns überaus stark an die Stimmung von Troilus und -Cressida, Hamlet, Timon und Verwandtem erinnerte, aber wenn ich -diesen Dichter, wie ich für möglich halte und hoffe, mit Shakespeare -identifizierte, ist kein Zweifel, daß ich hinzufügen würde: bewiesen -ist es nicht. Er erwähnt seine Dramen nie; auch in keiner allgemeinen -und unbestimmten Wendung weist er irgend auf sie hin; Anspielungen sehr -dunkler Art sind wir geneigt, auf seinen Schauspielerberuf zu beziehen; -ob wir darin recht haben, steht dahin; sicher ist, daß wir keine -Möglichkeit dazu hätten, wenn wir ihn nicht als Verfasser kennten. - -Der Ton dieser Sonette ist: es äußert sich eine überschwängliche, -innige, hingenommene, knieend verehrende Empfindung ganz unrhetorisch, -sachlich, so wie das Wirkliche sich äußert. Es wird nicht begeistert -über die Sache geredet; sondern die Sache selbst spricht sich aus, und -diese Sache ist Innerlichkeit, ist Seelenabgrund und Geisteshöhe. - -Es gibt für den Dichter dieser Sonette nur die Welt, nur die Erde, nur -Menschliches. Mythologie tritt selbst als Schmuck der Rede nur ganz -selten hervor; viel seltener als in fast jedem der Bühnenwerke; und von -Befangenheit in Vorstellungen der Religion, des Dämonenglaubens oder -irgendeines Aberglaubens ist nichts zu finden. - -Keinerlei Interesse an den Dingen der Macht, an Politik oder nationalen -Gegensätzen oder Kriegen oder Zeitfragen irgendeiner Art tritt in -dieser direkten Aussprache des großen Dramatikers zutage. Einige Male -im Gegenteil die Abneigung gegen Politik und Herrentum: - - Stünd’ es mir an, den Baldachin zu tragen, - Dem äußern Schein die äußre Ehr’ zu geben? - An Türmen bau’n, die in die Zukunft ragen - Und Umsturz und Verfall nicht überleben? - ... Nein, laß mich nur in deinem Herzen fronen, - Und nimm du meine Gabe, arm, doch frei, - Sie kennt kein Arg, du brauchst sie nicht zu lohnen, - Nur daß die Liebe unser Austausch sei. - -Der Dichter tritt auf als Hingegebener, als Gefangener, als Anbeter der -Schönheit. Nicht der Schönheit in abstrakter Gestalt oder allegorischer -Einkleidung; er -- der Dichter dieser Gesamtdichtung, wie sie uns -komponiert vorliegt -- ist Einem Menschen, einem Manne, der jünger -ist als er, rettungslos verfallen: dieser Jüngling repräsentiert ihm -nach Gestalt, Ausdruck, Grazie, Würde den schönen, den adligen, den -seelenvollen, den herrlichen Menschen. Er repräsentiert ihm, was er -anbetet; das heißt, und er drückt es nicht anders aus: diesen Menschen, -diesen Mann liebt er. Wir dürfen nicht weniger, wir dürfen nicht mehr -sagen. Hinzuzufügen haben wir, daß der Sprachgebrauch, das heißt, das -Denken und Empfinden der Zeit, für innige Freundschaft, die die Seelen -erfüllt und nicht von einander läßt, die Worte lieben und Liebender -nicht vermeiden kann und will. Wir haben dafür Beispiele bei andern so -gut wie bei Shakespeare. Wir wissen, wie Hermione sich von ihrem Mann -das Recht nicht nehmen läßt und ihm frei und unschuldig heraussagt, -daß sie seinen Jugendfreund, der auch ihr Freund geworden ist, liebe; -der alte Menenius gebraucht von Coriolan den Ausdruck ~my lover~, -mein Liebster, um damit seine eigne Freundschaft zu ihm zu bezeichnen; -wenn Porzia von Antonio sagt, er sei der ~bosom lover~ ihres Herrn -und Gemahls, so findet sie das so recht und in Ordnung, wie wenn wir -vom Busenfreund sprechen. Und weiter haben wir zu sagen, daß in der -Handlung, in der Geschichte dieser Liebe ein Fortschritt ist: immer -mehr tritt die Anbetung der äußern Form, der Schönheit der Gestalt in -unlösliche Verbindung mit der Liebe zum Innern, zur Seele, zum Gut- und -Adligsein; immer mehr wird dann aus dieser Verbindung der Gegensatz: -Leib und Seele; und der Leib ist Tod und Vergehen; die Seele ist -Unvergänglichkeit; Leib und Tod finden den Ausdruck ihrer Lebensgier -und ihres Vernichtungsdranges im Geschlecht; die Seele macht sich frei -in der Freundschaftsliebe zur Verehrung des Ewigen. - -Ein neues Moment ist also hinzugetreten, ein dramatisches: der Kampf, -den der Dichter in sich, gegen sich mit der Geschlechtsliebe einer -gewissen Art, mit der Wollust zu führen hat. - -Diesen Kampf zwischen Venus und Eros hatte Shakespeare schon einmal -darzustellen unternommen: in seinem Gedicht Venus und Adonis, das -er 1593 herausgab und das ihn sofort zum berühmten Dichter machte. -Es ist fast unbestrittene Gewohnheit geworden, mit der größten -Verachtung über dieses Gedicht und die bald folgende Lucretia, die -zur nämlichen Gattung gehört, rasch wegzugehn, mit einer Verachtung, -die dem Stil wie der sogenannten Unsittlichkeit gilt. Der Stil -ist, daß nicht Menschen und Situationen aus der Wirklichkeit -geschildert werden, sondern allgemeine Kategorien von Trieb- oder -Geisteskomplexen, leidenschafterfüllte Allegorien, und Situationen -nicht real-individueller, sondern gattungsmäßig allgemeiner Art. -So wird die Klage der Lucretia über ihre Schändung benutzt zur -Darstellung der Nacht in sechs, der Gelegenheit in sieben, der Zeit -in elf Strophen, immer aber aus der Glut und Wut der menschlichen -Situation heraus, immer in Metaphern, die sich steigern, überhitzen, -überspitzen und dem Witz so bewußt und gewollt nah getrieben werden -wie bei Ariost. Ich finde, daß wir uns in diesen Stil hineinfinden -können, daß auch in diesem Barockstil sehr viel Starkes und Liebliches -zu finden ist, und daß Shakespeare die Form ganz vollendet gemeistert -hat. Es fällt mir nicht im entferntesten ein zu leugnen, daß gräßliche -Verstiegenheiten, Abgeschmacktheiten, Gesuchtheiten da sind; darüber -sind aber wundervolle Schönheiten und Bilder von prachtvoller Kraft und -Sicherheit wie zarter Feinheit nicht zu übersehen. Ganz und gar leugne -ich aber die Unsittlichkeit. Mit der Kühnheit und Freiheit, die alle -Kunst der Zeit zum Ausdruck des Äußersten trieb und die in Shakespeare -zu einem Gipfel emporstieg, werden die äußere Gestalt und die innere -Verfassung der als Menschen personifizierten ungeheuren Trieb- und -Seelengewalten und die leidenschaftlichen Situationen, in die sie mit -einander geraten, geschildert; wenn man aber diesen jugendlichen Werken -Shakespeares etwas auf diesem Gebiet vorwerfen könnte, dann wäre es die -zu direkt sich aussprechende Moral. - -Die Art aber, wie -- in beiden Gedichten -- die Wollust sich ausspricht -und die Seele ihre Klage über sie anstimmt, ist der Sonettendichtung -schon nah verwandt. - - Gen Himmel ist die Liebe längst entwichen, - Seit stinkend Lust in ihrem Namen steckt; - Die kommt zur Schönheit, so vermummt, geschlichen, - Und was sie nicht verzehrt, das ist befleckt. - -Oder: - - Die Lieb’ ist wahr und mäßig; Wollust praßt - Und wird erstickt von ihrer Lügen Last. - -Und wie großer Art ist die Schlußrede der Venus, ihre Klage um Adonis, -der der Welt verloren ging, und ihr Fluch auf die Liebe: - -Weil Eros nicht mehr da ist, soll sich nun, muß sich nun Leid und -Eifersucht, Qual und Gift und Treulosigkeit mit der Liebe verbinden; -Krieg und Feindschaft zwischen Nächstverwandten wird sie hervorrufen, -in allem Bösen sich einnisten, alles Gute untergraben. - -Oder wie groß, wie stark, wie eindringlich ist die Darstellung von -Tarquins Ernüchterung, nachdem die Wollust ihn zur Notzucht getrieben -hat; wie findet das menschlich Wahre im Allegorischen leidenschaftlich -innigen Ausdruck, wenn das Gierverlangen nun wie ein bankrotter Bettler -matt und elend geworden ist, und seine Seele nun klagend zu ihm spricht: - - Lebend’ger Tod und ew’ges Leid - Sind nun mein Los; empörte Knechte haben - Mein Heiligtum zertrümmert und entweiht; - Die Sünden meiner Sterblichkeit begraben - Im Schutt der Schande die Unsterblichkeit; - Das alles hab’ ich klar vorher gewußt - Und wurde doch das Opfer dieser Lust! - -Der Shakespeare dieser Gedichte darf sich getrost in der Gesellschaft -sehen lassen, in die er mit ihnen gehört und in der er Genosse der -Schar ist, die von Ariost, Edmund Spenser, Victor Hugo und Swinburne -angeführt wird, nicht ihr Erster, aber auch keineswegs ihr Letzter. -Neben dem großen Spenser steht der beginnende Shakespeare nicht anders -da, als etwa Goethe mit seinen ausgezeichneten, wiewohl noch nicht -goethischen Mitschuldigen neben Molière. - -Wie er aber mit seinen dramatischen Werken trotz den Großen, die -neben ihm standen und nach ihm kamen, der Einzige ist, als den ihn -Goethe gepriesen hat, so mit seinem Sonettenwerk, in dem er das Thema -der allegorischen Gedichte in einer so völlig andern, so einzig -vollendeten, so in schlichter Menschlichkeit ungeheuren Gestalt aufnahm. - -Hier verbinden sich nun die beiden Teile innerer Handlung, die der -Dichter schon in jenen epischen Gedichten einander gegenübergestellt -hatte, die Wollust und die geistige Liebe, zu einer seltsam -geschlossenen einheitlichen äußern Handlung: er, der Dichter, der -den Freund liebt, hat, so heftig er widerstrebt, so sehr er ringt, -loszukommen von dieser unwürdigen, verzehrenden Begehrlichkeit, eine -Geliebte, offenbar, deutlich genug ist’s gesagt, eine verheiratete -Frau; und nun schließt sich der Ring: Geschlechtsliebe entsteht auch -zwischen dem Freund, dem andern William, und dieser dunklen Schönheit, -die dem Dichter gehört. - -Da ist nun vor allen Dingen zu sagen, daß ähnliche Motive in der -Literatur der Zeit auch sonst behandelt wurden, besonders in den -berühmten Moderomanen John Lylys. - -Ich gebe hier in den kurz zusammengedrängten Worten Conrad Henses -den Inhalt des 1579 erschienenen Romans „Euphues, die Anatomie des -Witzes“: „Euphues ist ein junger Athener, der nach Neapel kommt, hier -einen Freund, Philautus, gewinnt, durch seine witzige Beredsamkeit die -Geliebte desselben, Lucilla, zur Untreue verleitet, selbst die Untreue -der Lucilla erfährt, mit dem getäuschten Freunde sich wieder versöhnt, -und zuletzt sich wieder nach Athen zurückzieht.“ - -Außerdem ist zu beachten, daß Shakespeare selbst das Motiv in seiner -Komödie Die beiden Veroneser behandelt hat. Die Entstehungszeit -dieses Stückes kennen wir nicht; aber es wirkt sehr jugendlich, und -ich zweifle nicht, daß es vor dem Sommernachtstraum und vor Venus -und Adonis, in die Gegend der Verlornen Liebesmüh, vielleicht noch -etwas früher, etwa um 1590 also zu setzen ist. Daß Shakespeare die -Einkleidung der Handlung irgendwo gefunden hat, daß er also nicht -lediglich ein eigenes Erlebnis maskiert hat, ist gar nicht zu -bezweifeln. Es sind Anklänge an einen spanischen Roman da, und einiges -spricht sogar dafür, daß ein älteres Drama ihm Vorlage war, das wir -nicht haben. - -Der große Reiz, den dieses Spiel hat, ist sein schwebendes Wesen. Die -Personen sind nicht so recht feste Gestalten, weil der Dichter es noch -nicht vermag, einmalige Menschen von innen her kraftvoll zu beleben, -und weil er über dieses Ziel hinüberspringt und sich gar nicht bei ihm -aufhalten will: es soll alles in eine Sphäre der Unwirklichkeit, des -zierlichen Scheins hinüber. Und doch ist es wieder so, als wäre bei -diesem Sprung aus dem Nochnichtmenschlichen ins Nichtmehrmenschliche -gar manches Menschliche, psychologisch Feine und Tiefe an den Gestalten -hängen geblieben. Auch in dem andern als dem psychologischen Sinn -ist das Menschliche dieser Dichtung, wie es, wenn auch nicht so -stark wie in der Verlornen Liebesmüh, überall, nicht nur in der -prächtigen Gestalt des Dieners Lanz -- der im ganzen und einzelnen -Lessings Vorbild für den Just gewesen sein könnte -- hervortritt, sehr -erquickend. Der verräterische Freund, Proteus mit Namen, ist treulos -nicht nur gegen seinen Herzensfreund, dem er seine Geliebte nehmen -will, sondern auch gegen die eigne Geliebte, die er zurückläßt und die, -als Page verkleidet, in die Welt reist, um ihn zu suchen. So sind zwei -liebende Frauen in dem Stück, die alle beide nichts Wetterwendisches -oder von der Wollust Verderbtes an sich haben, sondern im Gegenteil von -einem sehr liebevoll, schwärmerisch das Weibliche verehrenden Dichter -gezeichnet sind. Der Schluß ist, auch wenn man das Stück noch so sehr -fast wie ein Marionettenspiel auffassen möchte, ganz mißraten: kindisch -unvermittelt folgt auf Valentins tiefe Klage: - - O Proteus, - Es schmerzt mich tief, ich darf dir nimmer trauen - Und bin der Welt entfremdet deinethalb. - Die Wund’ ist tief, die uns im Innern trifft. O Welt, - Wo sich als Freund der schlimmste Feind verstellt! - -unvermittelt folgt darauf ein Sätzchen tiefster Reue des Proteus, der -kurz vorher frevlerisch gerufen hat: - - Wen, der liebt, - Kümmert noch Freundschaft? - -nun aber, eine Minute darauf seine Liebe zu Silvia vergessen hat; die -Freunde versöhnen sich; Proteus liebt wieder Julia, und so ist auch -für die zwei Liebespaare alles in Ordnung. Erst an diesem Schluß aber -wird dieser Proteus ein grotesker Proteus; vorher sollte gerade er -psychologisch vertieft betrachtet werden. - -Was also dieses Spiel vom Freund, der dem Freund die Geliebte nehmen -will, angeht, so sehe ich ihm durchaus nicht an, daß damals, als es -entstand, der Dichter ähnliches erlebt habe; das Gegenteil scheint -mir eher aus der leichtherzigen Unbefangenheit, mit der das Motiv -behandelt ist, hervorzugehn. Dagegen könnte es leicht sein, daß -Shakespeare um diese Zeit herum das weibliche Wesen, das in dem -Sonettenwerk so unheilvoll hervortritt, schon gekannt und von ihr -ein Liebesglück empfangen hat, das vielleicht stürmisch und durch -ihre Koketterie beeinträchtigt, aber noch nicht vom Freunde gestört -oder von Shakespeare als tragisch empfunden war. Die Schilderung -Rosalinens in der Verlornen Liebesmüh, dieser geistvollen, -schlagfertigen, unberechenbaren Schönen mit den schwarzen Augen und -der dunkeln Haut, nicht nur diese ihre Leibesbeschaffenheit, sondern -die etwas empfindliche und leidenschaftlich verteidigende Art, wie -sie geschildert wird, klingt mir ganz so, als ob ein Urbild dieser -reizenden Gestalt die nämliche Frau gewesen wäre, aus der, als der -Dichter ein unsäglich höherer Mensch und unsäglich tiefer in ihre Seele -hinabgestiegen war und als er diese Geschlechtsliebe mit seinem ärgsten -Weltschmerz in Verbindung gebracht hatte, Cleopatra die Schlange vom -Nil wurde. - -Ich habe also auf die Frage, um derentwillen ich von Lylys Roman und -von den beiden Veronesern sprach, schon Antwort gegeben. Ja, es ist -wahr, daß das Motiv der Handlung, das in der Mitte des Sonettenwerks -steht, ein beliebtes Thema der damaligen Literatur war und daß -Shakespeare selbst es jugendlich, spielerisch, unbefangen behandelt -hat; aber nein, es ist unmöglich, daß es sich in der Sonettendichtung -auch bloß um Literatur, nicht um tiefstes Erlebnis handle. Es steckt -eine Wahrheit in der These, die Oscar Wilde so ernst wie entzückend -spielerisch behandelt hat, daß die Dichtung dem Leben mit den Motiven -vorhergehe und auf das Leben abfärbe; gar vieles in den Sitten und -Moden ist von den Dichtern geschaffen worden; und mehr, als mancher -glaubt, hängt das außerordentlichste Erleben selbst solcher Menschen, -die nicht in Reih und Glied stehen, mit Sitten und sozialen Moden -zusammen. So sehr ich also immer wieder selbst betone, daß das -Sonettenwerk eine Dichtung und daß auch der Mann, der darin Ich sagt, -eine Dichtergestalt ist, so gewiß ist doch, daß die Empfindungen und -Erlebnisse dieser Dichtung echt und gelebt sind. Wo es nur geht, wenn -es sich um äußere Tatsachen handelt, weise ich die Beweisführung aus -innern Gründen ab und sage, auch wenn mir etwas sehr wahrscheinlich -ist: es steht nicht fest. Empfindende Menschen, die das Recht haben, -Poesie aufzunehmen, verstehen sich aber unmittelbar und zweifellos auf -die Sprache der Lyrik, auf Echtheit oder Unechtheit der Empfindungen, -und so sage ich: so gewiß es ist, daß Günthers Leonoren gelebt haben -und Goethes Liebesgedichte keine Erfindungen sind, so gewiß hat -Shakespeare empfunden, was ihm die dunkle Geliebte, was ihm der Freund -angetan hat. Das ändert nichts daran, daß alles, noch viel mehr als -im Westöstlichen Divan, Gestalt geworden ist; der Dramatiker hat sich -auch in diesem lyrischen Werk nicht verleugnet; und dem Umstand, daß -es diesem Menschen, der Unsägliches lebte, von seiner Natur verwehrt -war, sich unmittelbar auszusprechen, daß er auch für die Gestaltung -seiner Gefühle erst in eine Rolle hinein mußte, schreibe ich es zu, -daß wir in diesem Werk mit einer fast fanatischen Ausschließlichkeit -nur den Freund und den Liebenden kennen lernen. Will Shakespeare -sich über den Staat äußern, so muß er Ulyß oder Hektor oder Coriolan -werden; will er Gesellschaftskritik üben, so wird er Falstaff oder -Hamlet oder Thersites; hier ist er der Freund, ist er der Liebende, -und alles von seinem Wesen, was mit diesen wesenhaften Empfindungen -in Verbindung steht, kommt zum Ausdruck; nichts aber, was nur Rolle -in der Gesellschaft, nur Maske und Gewand ist, es sei denn, damit es -fortgewiesen werde. - -An der Spitze des Dichtwerks stehen 17 zusammengehörige Sonette, die -gewiß in der Tat der frühen Zeit des Freundschaftsbundes angehören. -Sie gelten alle in mannigfacher Variation einem Thema, das manche, -die von pseudowissenschaftlicher Behandlung der Freundschaftsliebe -herkommen, überraschen könnte; das Thema ist: Freund, deine Schönheit -darf nicht mit dir untergehn; die Natur tötet alles Einmalige, das ihr -gelungen ist, alles Individuelle, Persönliche; sie hat nur einen Weg, -es in neuer Gestalt zu erhalten, zu vererben: Ehe und Kind. - - Verschwender du! dein Vater war ein Mann: - Sorg’, daß dein Sohn das Gleiche sagen kann. - - Nichts schirmt dich vor dem Sensenhieb der Zeit - Als Sprößlinge: durch sie bist du gefeit. - -Es sind aber diesem siebzehnmal wiederholten Zuruf zwei Sonette -beigefügt, die etwas andres sagen, etwas, wovon der Dichter auch sonst -immer wieder in hohem Selbstbewußtsein spricht: Unsterblich bist du -Schöner, Guter, Edler in jedem Falle: - - Solange Menschen atmen, Augen sehn, - Lebt mein Gedicht, in ihm wirst du bestehn. - -Ganz nüchtern glaube ich, daß das buchstäblich wahr ist: solange -Menschen leben und lesen, werden diese Gedichte geliebt werden und -mit ihnen ~the love~, der geliebte Freund ihres Dichters. Um so schöner -dünkt es mich, daß nichts weiter von ihm lebt; der Unbekannte lebt nur -in dieser Dichtung; nichts wissen wir von seiner Nachkommenschaft; -vielleicht nicht auf dem Weg der Natur, ganz gewiß durch das Mittel des -Geistes ist er unsterblich geworden. - -Diese Vorstellung, er der Dichter werde den bewunderten Freund zur -Unsterblichkeit erheben, tritt auch im weitern Verlauf kräftig -hervor. Vielleicht entspringt diese häufige Betonung aber vor allem -dem Bedürfnis der Selbstbehauptung und also einer Schüchternheit, -die dann in den Stolz umschlägt. Denn zu Beginn des Verhältnisses -äußert sich dem adligen Jüngling gegenüber eine Demut, die keineswegs -bloß den inneren Grund der Verehrung hat. Die Ungleichheit der -gesellschaftlichen Stellung tritt scharf heraus; und im Anfang scheint -der Dichter, von seiner Anbetung getrieben, eine selbstquälerische -Lust darin zu finden, diese Unterordnung eifrig zu betonen. Für seine -Hingebung, seine Rolle in dem Verhältnis, seine demütig bettelnde -Liebe wie für den äußern Rangunterschied, den er zu einem freiwillig -erwählten macht -- die Schweizer Mundart sagt im Sinne von demütig: -niederträchtig, das ist ursprünglich einer, der sich aus innerem -Bedürfnis niederbeugt -- ist es bezeichnend, wie er sich den Sklaven -des Freundes nennt, dem er geduldig aufwartet; der andre mag tun, was -er will, der Dichter wird nicht murren, bis der Souverän Zeit für ihn -hat. Er ist sein Vasall und wird ihm -- Gott verhüte es! -- seine -lustigen Stunden nicht nachrechnen: - - Zum Warten bin ich da, der Höllenglut, - Und gönn’ dir deine Lust, ob bös ob gut. - -So scheint es auch zunächst kaum möglich zu sein, daß sie unbefangen -einander besuchen und zusammen sind, wie es unter Freunden Brauch ist; -der Dichter freut sich auf besondere Gelegenheiten, auf Feste, wo er -den Freund sehen und im selben Raum mit ihm zusammen sein kann. Das -muß später anders geworden sein, und die Stellung des Dichters zum -Freund muß sich auch in äußerer Hinsicht gehoben haben. Aus andern -Sonettenkreisen geht hervor, daß sie Zeiten hintereinander sich Tag um -Tag trafen und daß ihr Beisammensein nur durch Reisen des einen oder -des andern unterbrochen wurde. - -Vor dieser von äußern Verhältnissen und innerer Ergebenheit befohlenen -Demut flüchtet sich das Selbstgefühl des Dichters in Beobachtungen -über die Zeit, als die Vernichterin alles Materiellen und Natürlichen, -und die Unvergänglichkeit des Geistes. Ringt er nach Bildern und -Wendungen, um die Gestalt des Freundes zu formen, so kommt ihm -vielleicht ein altes Buch zu Hilfe, wo ein längst verblichener Dichter -aus der Zeit der Anfänge der Schrift diese nämliche Mannesgestalt -schon dargestellt hat. Jugend und Schönheit gehen dahin, das Wort des -Dichters bleibt: - - Und dennoch hält mein Lied der Zukunft stand - Und singt dein Lob trotz ihrer grausen Hand. - -Daran befestigt sich sein Stolz immer wieder: er kann dem Freund, der -ihm so viel durch sein Dasein gibt, dieses eine durch seine Kunst -leisten, daß er ihn in die Reihe der Unsterblichen hebt. In späten -Sonetten überwiegt dieses Gefühl manchmal so stark, daß er gegenüber -dieser seiner Dichtertat die Hinfälligkeit alles Äußern betonen kann: - - Nicht Marmor, nicht das Gold von Fürstenmalen - Wird überleben mein gewaltig Lied, - Du wirst in diesen Zeilen heller strahlen - Als stumpfer Stein, den Moder überzieht. - - Der wüste Krieg wirft Säulen wohl zusammen, - Der Aufruhr macht des Maurers Kunst zunichte; - Doch nicht das Schwert des Mars, nicht Krieges Flammen - Vertilgen deine lebende Geschichte. - -Nach dem Gedicht Der Liebenden Klage, das in der Originalausgabe den -Sonetten folgt und ihnen in allen folgen sollte -- es geschieht aber -fast nie --, wollen wir uns ein Bild dieses Jünglings machen; es ist -nicht unwichtig, von Shakespeare zu erfahren, wie sein geliebter -Freund, als er ihm zuerst nahe trat, ausgesehen hat und mit welchen -Augen er ihn damals und später betrachtet hat; damit steht uns William -Shakespeare nicht nur dem Freund gegenüber, sondern auch in der -Bedingtheit seiner Zeit und seiner Natur in klaren Linien da. - -In braunen Locken hingen dem Freund demnach die Haare bis auf die -Schultern. „Wie ungeschorner Samt“ sproßten um sein Kinn die ersten -Spuren des Bartes: - - Er läßt gerade noch dem Zweifel Raum, - Ob voller Bartwuchs oder weiße Glätte - Die Schönheit dieses Kinns gesteigert hätte. - -Schön wie seine Gestalt war das Wesen, das in seinen Äußerungen zur -Geltung kam: sanft wie von einem Mädchen war seine Art zu sprechen -und also frei vom Herzen; aber im Männerstreit konnte dieses weiche, -warme Organ so seltsam anwachsen wie der Föhnwind zum lauen Sturm. -Saß er zu Pferd, so war es ein schöner, lieblicher Anblick: wenn das -Roß sich stolz tummelte und herumschwenkte und in langen Sätzen unter -ihm sprang, wußte man erst nicht, ob dieser Stolz und diese Anmut dem -Reiter von dem Tier oder dem Tier von seinem Reiter kam. Dann aber fand -man schon heraus: - - Der Quell der Anmut ist sein innres Leben. - -Wie beherrschte er die Menschen mit seiner Dialektik, wie stand ihm die -rasche, sichere Rede zu Gebote; er brachte Weinende zum Lachen, Lacher -zum Weinen, „er hatte die Mundart und feinste Unterscheidungskunst, um -alle Regungen nach seinem Willen hervorzulocken“. So war er Herrscher -über Junge und Alte, Männer und Frauen; alle Herzen flogen ihm zu, wie -von einem Zauberer gebannt, und taten ihm seinen Willen. - - Gar viele schafften sich sein Bildnis an, - Das Auge sah’s, das Herz vergaß es nie -- - -und manches Weib bildete sich ein, er neige sich zu ihr, auch wenn er -nie ihre Hand berührte. - -Obwohl, was nun folgt, zur Handlung des Gedichts gehört, glaube ich -doch, glaube es nach dem, was uns spätere Sonette selbst sagen, daß es -zu William Unbekannts Bildnis dazu gehört, wie es William Shakespeare -wenigstens in Stunden des Schmerzes und Unmuts sah: falsch konnte er -sein und all seine organische Sanftheit und Weichheit, seine milde, -tugendreiche Rede zum Fang der Herzen, zum Berücken der Frauen benutzen: - - Er ist ein Inbegriff von feinen Stoffen, - Die sich in jede Form beliebig fügen; - Bald wild und kühn, bald blaß und wie betroffen, - Bald schlau versteckt, bald ungestüm und offen, - Versteht er stets, aufs beste zu betrügen. - Ihm stehen Schamrot, Ohnmacht, bleicher Schreck - Sogleich zu Diensten, je nach seinem Zweck. - - Und wenn sein Herz der Wollust Glut verzehrt, - So spricht er von der Keuschheit hohem Wert. - -Stimmungen, die dieser bösen genau entsprechen, werden wir aus den -Sonetten noch ertönen hören; zu Beginn der Handlung, der Treulosigkeit, -des Verrats, den der Freund, der Geliebte an der Liebe beging, kommt -noch eine verwandte und doch ganz andere, eine rührend ergebene zu Wort. - -Der Freund -- der Geliebte -- die Liebe: ~the love~; da haben wir -noch eine Schwierigkeit für die Übersetzung und das Verständnis: ~the -love~, die Liebe, bedeutet in diesen Gedichten fast nie das Gefühl -der Liebe von einem Menschen zu einem andern Menschen hin, sondern -den Gegenstand der Liebe: nicht die Liebe zwischen zwei Menschen, -sondern den Geliebten und manchmal, selten, auch die Geliebte. In einer -gewissen Zahl Gedichte, auf die ich schon deutete und von der jetzt zu -sprechen ist, haben wir nun gar das Wort im Wortspiel einer zugleich -dreifachen Bedeutung: Liebe -- Geliebter -- Geliebte. - -Es kann nie wahrhaft gelingen, aus dem folgenden 40. Sonett, das für -dieses Thema entscheidend wichtig ist, ein anderes als ein plumpes und -halb unverständliches deutsches Gedicht zu machen; es ist aber gerade -sein Wesen, daß es in seiner ungemeinen Gewagtheit so in der Form glatt -und ohne Anstoß dahinfließt wie die allerüblichste Sache: - - ~Take all my loves, my love,~ Nimm all meine Liebsten - ~yea, take them all;~ (Lieben), Liebster, ja, - nimm sie alle, - - ~What hast thou then more~ Was hast du da mehr, als - ~than thou hadst before?~ du vorher hattest? - - ~No love, my love, that thou~ Keine Liebe, mein Lieb, die - ~mayst true love call;~ du wahre Liebe nennen - kannst; - - ~All mine was thine before~ Alles Meine war dein, ehe - ~thou hadst this more.~ du das noch dazu hattest. - - ~Then, if for my love thou~ Wenn du dann statt meiner - ~my love receivest,~ Liebe (zu dir) meine Liebe - (die Liebste) nimmst, - - ~I cannot blame thee, for my~ Kann ich dich nicht tadeln, - ~love thou usest;~ denn du gebrauchst meine - Liebe (meine Liebste); - - ~But yet be blam’d, if thou~ Und doch sei getadelt, insofern - ~thyself deceivest~ du dich selbst betrügst - - ~By wilful taste of what~ Und launisch kostest, was dir - ~thyself refusest.~ selbst widersteht. - - ~I do forgive thy robbery,~ Ich verzeihe dir deinen Raub, - ~gentle thief,~ adliger Dieb, - - ~Although thou steal thee~ Obschon du dir meine ganze - ~all my poverty;~ Armut stiehlst; - - ~And yet, love knows, it is~ Und doch, weiß die Liebe! - ~a greater grief~ ist’s ein größerer Gram, - - ~To bear love’s wrong than~ Das Unrecht der Liebe (des - ~hate’s known injury.~ Liebsten) zu tragen als des - Hasses vertraute Kränkung. - - ~Lascivious grace, in whom~ Lüsterner feiner Gesell, dem - ~all ill well shows,~ alles Schlechte gut steht, - - ~Kill me with spites; yet we~ Töte mich mit Unbill; aber - ~must not be foes.~ wir dürfen nicht Feinde - werden. - -Wie ist das nicht bloß im Sprachlichen, auch im Ton fast unnachahmlich; -was für eine Einheit von Wehmut und Schelmerei! Da wird das Kleine -klein und leicht und doch ganz zugleich und im gleichen das -Schmerzliche so schmerzlich genommen. Da ist wirklich in ~the love~ -alles Hohe und Niedrige beisammen; und so ist auch dieses Gedicht in -allem Bedenklichen adlig; es wird mehr der Makel im Freund beklagt als -der Verlust der Geliebten, nur daß die Sprache es hergibt, das, was im -Geschehnis geeint ist, auch mit demselben Sprachausdruck zu bezeichnen: -der Makel des Freunds ist die Verführung der Geliebten. Über das, was -den Menschen gemeiniglich das Wirkliche und Wichtige ist, ist dieser -vom Freund und der Geliebten betrogene Dichter erhaben; so sehr wir von -hier aus neu verstehen, welche Rolle Umdunkelung und Vernichtungswut -des Hahnreis in Shakespeares Rachedramen spielen, so sehr dürfen wir -ganz selig und leicht und frei hier erleben, daß es für den Dichter -dieser Gedichte kein Hahnreitum gibt. Die Phantasieliebe wird zum -wahren Leben; des Lebens Notdurft wird zum Spiel. Das empfinden wir -noch mehr, wenn wir die innere Handlung dieses Vorgangs in den beiden -unmittelbar anschließenden Sonetten 41 und 42 noch weiter verfolgen. - - Die art’gen Sünden, die der Leichtsinn tut, - Wenn manchmal ich von deinem Herzen fern, - Stehn deiner Schönheit, deinen Jahren gut, - Denn wo du bist, folgt die Versuchung gern. - - Adlig bist du, und deshalb zu gewinnen, - Schön bist du, deshalb geht um dich der Krieg, - Und welches Weibes Sohn, wenn Weiber minnen, - Verließe mürrisch sie vor ihrem Sieg? - - Ach! solltest doch wohl mein Gehege fliehn - Und deiner Schönheit fluchen und der Lust, - Die dich im Jugendtaumel dahin ziehn, - Wo du zwiefach die Treue brechen mußt: - - Ihre, die deine Schönheit lockt zu dir, - Deine, weil deine Schönheit falsch an mir. - -Und nun im nächsten das Höchste in Einem an Scherz, an Schmerz, an -herzlicher Wonne im Weh: - - Daß du sie hast, das schmerzt mich nicht so stark, - Und doch ist’s wahr, ich liebte sie gar herzlich. - Daß sie dich hat, das frißt mir recht ins Mark, - Der Liebeskummer trifft mich wahrhaft schmerzlich. - - Doch weiß ich Mildrung euch, ihr Liebessünder: - Du liebst sie, weil du weißt: ich bin ihr gut, - Und meinethalb betrügt sie mich nicht minder - Und duldet, was mein Freund ihr meinthalb tut. - - Verlier’ ich dich, so hat mein Lieb Gewinn, - Geht sie verloren, macht mein Freund den Fund; - Zwei finden sich, zwei fahren mir dahin, - Und beide richten meinthalb mich zu Grund. - - Ach, freu dich! wir sind Eins, mein Freund und ich; - O holder Wahn! so liebt sie doch nur mich! - -Denken wir von hier aus an solche Stücke wie Die beiden Veroneser, -Wie es euch gefällt, Was ihr wollt, wo immer auf Shakespeares Bühne -der junge Schauspieler, der die jugendliche Liebhaberin zu spielen -hat, sich noch einmal als Mann zurückverkleidet und so, während ein -Weib sich in ihn verliebt, der Freund eines Mannes wird, der sich in -erotischer Sympathie zu ihm hingezogen fühlt: aus dem, was Shakespeares -Lyrik uns über seine Erlebnisse und die Art, wie er sie nahm, enthüllt, -verstehen wir die leichte, neckische und doch innige Grazie jener -Szenen besser. Bei aller Innigkeit und Gewalt der Schmerzen hat er so -viel überlegene Heiterkeit, daß er mit einer gewissen mathematischen -Kombinationsfreude, wie sie sich gerade der Form des Sonetts so -wundervoll anschmiegt, die innern und äußern Möglichkeiten des Dreiecks -abwandelt. - -Mit der sehr ernsten Aufgabe, vor die die Art, wie Shakespeare dieses -Erlebnis hier in die freie Luft des Spiels und damit der Reinheit -gehoben hat, uns stellt, sind wir noch lange nicht fertig; und so -ist zu sagen, daß es nichts Moderneres, nichts, was uns mehr angeht, -gibt als diese Sonettenfolge. Die Liebe abwechselnd, wie es die Natur -verlangt, gewaltig ernst, und dann wieder, wie es der Geist rät, ganz -leicht und heiter, immer aber frei nehmen scheint mir in der Tat -eine Aufgabe, die Shakespeare besser verstanden hat als wir. Auch in -diesem zarten Punkt stehen unsre frühen Romantiker, Novalis, Friedrich -Schlegel, Schleiermacher in naher Beziehung zu ihm. Shakespeare aber -hatte es leichter als sie und wir, weil er in andern Sitten oder Moden -stand als wir. - -Lebendig genug im England seiner Zeit war noch die höfische Sitte der -Ritterliebe, wie wir sie aus den Artusromanen und ähnlichen Dichtungen, -aus der Minnepoesie, aus dem Leben Ulrichs von Liechtenstein kennen: -in all den Büchern dieser Art, wie sie in dem Jahrhundert nach -Einführung des Buchdrucks in den Kreisen des Adels, des Bürgertums -und des Volks begehrt waren und verschlungen wurden, gehörte es sich -und war Mode, daß der -- übrigens verheiratete -- Ritter eine Dame -hatte, der er seine Phantasieliebe widmete. Es gehörte sich, daß in -der Liebesdichtung von allem eher die Rede war als von der Hausfrau, -der Mutter der Kinder. Es gehörte sich, mit einem gesagt, daß der -seelenvolle Sänger und ritterliche Kämpfer, unabhängig von seiner -Häuslichkeit, seine Sehnsucht, seine Romantik hatte, die ihn, wie -die gotischen Münstertürme aus muffigen Bürgergäßchen in die freie, -frische, blaue Luft nach oben wuchsen, aus der Enge in die weite Welt -führte. - -Zu dieser Verzauberung und Verklärung des Lebens aus dem Mittelalter -kamen nun noch die hohe, heroische Seelenstimmung des erotischen -Freundschaftsbundes in der Renaissance und die Einflüsse aus der -Antike; Plato war der Abgott der Kreise, aus denen Giordano Bruno -herkam, und die Schriften der griechischen und der neuen italienischen -Platoniker, in denen die Liebe des Sokrates ins Erhabene gerückt und -als heitere, die Menschen frei und unverzerrt an einander bindende -Religiosität erfaßt war, wurden durch den Druck verbreitet. Die „Minne“ -fing in diesem Zeitalter des Don Quijote und der Cressida gerade an, -auf die Stufe des holden, flatterhaften, irdischen Liebchens zu sinken; -die Geschlechtsliebe wurde analysiert und also angetastet und von der -verklärenden und steigernden Phantasie abgeschnitten. Shakespeare, -dessen Volumen daher rührt, daß er an der Wende der Zeiten in beiden -Lagern stand, war auch auf diesem Gebiet nach beiden Seiten zum -Höchsten imstande: keiner hat wie er die Liebe zwischen Mann und Weib -von der Phantasie ins Himmlische heben lassen, keiner hat wie er solche -Liebe mit inniger Qual und zäher Energie untersucht und zergliedert. -Die Art Geschlechtlichkeit und Wollust, die den Mann nicht zur Freiheit -steigert, sondern ins Gemeine bannt und unter seine Würde hinabzerrt, -hat er mit dem großen Fluch der Menschheit belegt, und gegen sie hat er -das Ideal der männlichen Gesellschaft, der Männerfreundschaft erhoben -und hat diesem Gegensatz Troilus und Cressida gewidmet. - -Das Heroische und Erhabene, nicht mehr lechzen und verlangen, ins Tier -hineinschlüpfen, der Natur sich unterwerfen, sondern die Kühnheit, -die freie Bahn des sich selbst bestimmenden Geistes kommt in dieser -Liebesfreundschaft zum Ausdruck. Die Augen haben einen andern Blick; -Sehnsucht, Habenwollen, Entbehrung, Leid und Qual und Wonne: all -das ist da, aber alles nicht der Venus, dem finstern Leibestrieb -unterworfen, sondern frei als ernstes, strenges Geschick erwählt. - -Noch einmal sei in dieser Vortragsfolge Rembrandt genannt. Den -Gegensatz der Welt des Rubens und des Rembrandt, der Sinnenlust -und der magischen Geistesfreude erkenne ich in Geschlechtstrieb -und Liebesfreundschaft, wie sie Shakespeare in den Sonetten und in -den eng zu ihrem Höhepunkt gehörigen Bühnenwerken, Antonius und -Cleopatra und Troilus und Cressida darstellt. Wie ich das meine, -möge das Sonett zeigen, das gleich auf die Reihe der Sonette von -den drei Menschen folgt, deren jeder jedem Liebesgefühle zuträgt -und deren einer verlassen erleben muß, wie zwei ihm doppelt treulos -sind. Erstaunlicherweise zwar will Brandl in der Abhandlung, die er -Fuldas Übersetzung beigibt, dieses wie so manches andre Gedicht, in -dem die Freundschaftsliebe einen besonders gewaltigen, passionellen -Ausdruck findet, auf die Liebe zu dem Weibe beziehen, -- aber überall, -wo es aus inhaltlichen und sprachlichen Gründen sicher ist, daß -der Dichter von ihr spricht, sind ganz andre Töne zu hören, und zu -solcher Umbiegung hat keiner ein Recht. Shakespeare bedarf keiner -Entschuldigung; sein ganzes Herz hängt an seinem Freunde; und warum -etwa nicht? Weil die Freundschaft aus der Mode gekommen ist? Weil die -meisten, wenn sie von ihr hören, den Eros mit dem Sexus verwechseln -und von einer Hingerissenheit nichts wissen, die nur der Seele und dem -Geist entstammt? Weil man nur immer an solche ins Drollige mißratene -Verhältnisse verzweifelt Täppischer und Phantasieloser denkt, die in -ihrem Unterbewußtsein Verwechselungen begehen und irgendein Glied -ihrer Notdurft in einen Bund hineintragen, der schmutzig, lasterhaft -oder komisch ist, wenn er nicht ein Bund der Freiheit ist? Weil man -nur immer faulige oder pervers triebhafte Nebenregungen mit dieser -Freundschaft in Verbindung bringt oder sich gar von einer im Dumpfen -ausgebrüteten Pseudowissenschaft sagen läßt, solche Freundschaft müsse -mit einem fruchtlosen Mißbrauch der zur Kindererzeugung bestimmten -Organe des Leibes verbunden sein? Weil die Phantasielosigkeit nirgends -komischere Triumphe feiert als auf dem Gebiet der Liebe jeglicher -Art? und weil die meisten gott- und liebeverlassenen Leute mehr von -einem Wind, der in ihrem Leibe spaziert, zu begehrender Begeisterung -gebracht werden als vom Anblick der Seelenschönheit? Äußerung braucht -die Freundschaft, wenn sie innen in jedem von zwei Menschen da ist -und zwischen zwei Menschen weben will; der Vermittelung bedarf die -Seele der zwei, die eins werden will, der Vermittelung durch den -Leib, weil es andre Wege des Verkehrs für uns unter dem Himmel nicht -gibt; aber auch die Sprache, auch die Musik, auch die Kunst gehört -zu dieser leiblichen Vermittelung, und die Nuance ist auf diesem -Gebiet der unphysiologischen, der Phantasieliebe alles; von dem Talent -und der Übung zum Verkehr der Geister wird es bei den Menschen, die -zusammenstreben, abhängen, ob ihr Umgang grotesk oder schön sein wird. -Sie wird wieder Mode werden, die Freundschaft; ohne gefühlvollste -Untrennbarkeit zueinander gezogener und gebannter Menschen auch -über die Familiengruppe hinaus kommt es zu keiner Erneuerung der -Menschengesellschaft; die Kameradschaft, wie sie Whitman verkündet -hat, wird die Bünde schaffen, die nicht wie die Familien und Nationen -gemeinsamer Notdurft der Natur, sondern der freien Wahl des Geistes -entstammen, und die nicht aus der Wut des Geblüts zu blutigen Kriegen, -sondern zu hell freudigem Wettkampf schöpferischer Kräfte führen. Dann -wird ein Gedicht wie das 43. Sonett Shakespeares, das Rembrandt-Sonett -den Menschen ein Labsal und wie eine weihevolle Inschrift sein, die -ihr öffentliches Leben mit der glühenden Innigkeit ihres intimsten und -geheimen Lebens befeuert: - - Geschloßnes Auge dient am besten mir, - Da es sich tags an nichtige Dinge wendet, - Doch wenn im Schlaf ich träume, ist’s nach dir - Und nächtig hell, hell in die Nacht gesendet. - - Denn du, deß Schatten Schatten leuchten macht, - Was gäb’ dein leibhaft Bild für holde Schau - Dem lichten Tag mit deiner lichtren Pracht, - Deß Schattenbild erstrahlt in Schlummers Grau! - - Wie, sag’ ich, wär’ des Auges Glück erst groß, - Wenn es dich sähe im lebendigen Tag, - Da hell in toter Nacht dein Schatten bloß - Durch schweren Schlaf vor blinde Augen trat. - - Nachtgleich die Tage all’, wo du nicht hier, - Und taghell nachts, führt dich der Traum zu mir. - -Ich denke an Rembrandt nicht bloß wegen des ~darkly bright, bright -in dark~, wegen des Helldunkels, sondern weil dieses Licht, das auf -die Nacht flammt, bei beiden dieselbe Magie der düster klaren, des -Geschicks bewußten Freiheit, Haltung und Entschlossenheit des Geistes, -der sich von den Banden des Triebs losmacht und selig gefaßt in der -Phantasie lebt, zum Ausdruck bringt. Dieser entschlossene, zu Tod wie -Leben bereite, rationelle und doch tragische, helle und doch nächtige -Geist, wie ihn dieses Sonett, wie ihn in den Dramen am schönsten -Brutus und Hektor und Macduff und Prospero zum Ausdruck bringen, und -hinwiederum die andre Gestalt des Geistes, die die Tierwildheit durch -Witz, Ironie, Spiel, Heiterkeit überwindet, das sind die beiden Pole, -denen die schönsten Dramen Shakespeares ebenso wie diese Sonette -wechselseitig zustreben. Und wie braucht der Geist die Abwechselung -zwischen diesen Standpunkten und Arten des Verfahrens, wie muß er in -dieser Welt sich so schwer durchs Leben winden, um sich zu behaupten, -da wir, so klagt das nun folgende Sonett in derselben Stimmung und mit -ähnlichen Worten wie der junge Prinz Hamlet, nicht ganz und gar Geist, -sondern in die „dumpfe Substanz des Fleisches“ gestopft sind! Wie wäre -der Raum, der die Trennung und den Schmerz schafft, überwunden, wenn -wir ganz Geist wären! Aber „dieser Gedanke ist tödlich, daß ich nicht -Gedanke bin“. Wir sind elementar -- und in der Trennung leiht uns der -schwere Stoff unsres Fleisches keinen leichten Flug der Überwindung -aller Schranken des Raums, der Zeit, sondern nur die Mischung aus -luftgleicher Seele und „allzu festem Fleisch“: das Naß der Tränen. - -Da haben wir die elementare Chemie dieses Tragikers, der wir in -Antonius und Cleopatra schon begegnet waren: Zwei Elemente, Erde und -Wasser, unser Leib und unsre Tränen binden uns an die Natur. Mit den -Tränen unsrer Schmerzen aber, mit der Empfindung aber geht die Fahrt -schon aufwärts, da steigt der Leib hinauf in die Seele. Wie gut erst, -daß wir auch der beiden andern Elemente teilhaftig sind, von denen das -unmittelbar anschließende 45. Sonett spricht: die Luft, unser Denken; -das Feuer, unser Wollen und Sehnen: ~desire~. Mit dieser Ausdeutung -der Elemente als Symbole für die Urprinzipien der Welt berührt sich -Shakespeare mit der ältesten griechischen Philosophie, ohne daß wir -sagen können, ob diese Einkleidung seiner Gedanken und Stimmungen aus -philosophischen Gesprächen im Freundeskreis, etwa mit Jüngern der -italienischen Neuplatoniker, oder aus Büchern zu ihm kam. Das Erlebnis -aber mit dem Leib und den Schmerzen, die ihn flutend durchgeistigten, -hatte Shakespeare sehr leibhaft in der Wirklichkeit; er vielleicht -mehr als irgendein anderer Sterblicher. Denn er hatte ein unheimliches -Erlebnis mit seiner Körperlichkeit, das, ich muß es nach langer Prüfung -glauben, irgendwie mit den immer wiederholten Klagen über Makel und -Flecken in seinem Leben, über Schmach und Scham zusammenhängen muß, -welche Klagen keineswegs durchgängig mit seinem Schauspielerdasein -erklärt werden können. In den dreißiger Jahren seines Lebens beginnen -die erschütternden Klagen, daß er alt, müde, verbraucht werde, und -werden immer grimmiger und schärfer; im Jahre 1599, aus dem wir die -ersten noch gemäßigten Klagen dieser Art (im Verliebten Pilger) im -Druck haben, war er 35 Jahre alt, und diese Sonette könnten sogar noch -ein paar Jahre älter sein. Wer sich damit helfen kann, zu erklären, -diese Klänge wären Versspielereien ohne Wirklichkeit, dem sei’s -überlassen; ich glaube ein Ohr für Lebensechtheit der Empfindungen zu -haben und vermag es nicht. - -Obwohl Shakespeare alt nicht geworden ist und ganz gewiß kaum vierzig -vorbei war, als die ganz bittern dieser Sonette entstanden, redet er -scharf und bitter von dem Bild, das ihm sein Spiegel zeigt: die Jahre -haben ihn wie mit Lohe gegerbt, rissig gemacht, zerquetscht. Gewiß -haben wir da die Übertreibung in Betracht zu ziehen, eine doppelte -sogar, die eine, die zur melancholischen Gemütsart gehört und die -das, was sie anfangs übertreibt, bald genug selber herstellen hilft -und immer ärger macht; dann auch die andre, künstlerische, die einen -dunklen Hintergrund braucht, von dem sich das strahlende Bild des -Freundes abheben soll. Aber alles zusammengenommen, und erwogen, daß -so übergroße geistige Macht nicht geschenkt wird, daß die Natur, die -in Eines Menschen Leib solch zehrendes Feuer goß, ohne Ausgleich -nicht auskommt, daß jede Genialität sich irgendwie, am Körper, an der -Lebensführung, am schwierigen Umgang mit Menschen rächt und daß nur -noch etwa einer der Zufälle, die draußen als Dämonen immer lauern, dazu -treten muß, um eine Katastrophe herbeizuführen, so müssen wir sagen: -die Äußerungen und fast schon Schreie, zu denen Shakespeare zuletzt in -den Sonetten kommt, entsprechen dem Bild, das wir uns auch sonst von -diesem gewaltig Lebenden machen müssen: seine Leibeskräfte, gleichviel, -was von außen antastend und zehrend dazu gekommen war, waren früh -verbraucht; er war alt lange vor der Zeit; die Leiblichkeit hielt dem -innern Sturm auf die Dauer nicht stand. Und in dieser Stimmung nun, die -da über ihn gekommen ist, malt er sich bis in alle Einzelheiten aus, -wie einst die Zeit auch mit dem Freund umgehen wird: auch der wird alt -werden; auch der dahingehn; Türme zerfallen, Erz und Stein sind nicht -für die Ewigkeit; Meer und Land vernichten sich gegenseitig; die Vision -und Bildersprache für dieses Untergangsgefühl ist dieselbe, wie sie, -ein paar Jahre später wohl, aus Prosperos Mund kommen wird; auch die -Schönheit muß welken und in den Kot sinken wie eine Blume. Da gibt es -nur immer den einen Trost -- denn der Gedanke an die Unsterblichkeit -durch die Nachkommenschaft, wie er in manchmal noch naiver Form sich im -Beginn der Sonettendichtung ausgesprochen hat und wie ihn der Dichter -schließlich in Gestalt einer Erbfolge des Geistes in dem Verhältnis -Prosperos zu Miranda und Ferdinand fassen wird, taucht an dieser Stelle -der Sonette nicht auf -- den einen Trost kennt der Dichter hier nur, -daß die Liebe in den schwarzen Lettern dieser Gedichte erhalten bleibt. - -Daran schließen sich dann Gedichte von einer ungeheuren Bitterkeit -und Weltverachtung und einem Lebensüberdruß ohnegleichen, die auch -in Ton und Form von einer geschmiedeten Wucht sind, allen voran das -66. Sonett, das der nämlichen Stimmung Ausdruck gibt wie der Hamlet, -der Lear, der Timon, der Coriolan: O pfui, o nein, was für eine Welt, -lieber nicht leben! Zehnmal hintereinander fängt von den vierzehn -Zeilen jede mit „Und“ an; der Dichter kann sich nicht genug tun in der -Aufzählung der Häßlichkeiten und Erbärmlichkeiten der Welt: - - _Dies_ alles müd schrei’ ich nach Todesrast: - Verdienst zu sehn als Bettelmann geboren, - Und dürftiges Nichts in Herrlichkeit gefaßt, - Und reinste Treu’ zum Jammer auserkoren, - - Und goldne Ehre, die den Falschen krönt, - Und jungfräuliche Tugend roh geschändet, - Und echte Hoheit ungerecht verpönt, - Und Kraft von lahmer Tyrannei entwendet, - - Und Kunst geknebelt von der Obrigkeit, - Und Geist vorm Doktor Narrheit ohne Recht, - Und dumm befunden schlichte Redlichkeit, - Und Sklave Gut im Dienst beim Herren Schlecht: - - Dies alles müd möcht’ ich begraben sein, - Ließ ich nicht sterbend, Liebster, dich allein. - -Seltsam allmählich wendet sich dieser Überdruß an der Welt, wie sie -jetzt ist, gegen den Freund, der bei allem doch, wir hören’s in -dieser furchtbaren Klage, wenn nicht sein Trost, so doch sein Grund -ist, in der Welt bleiben zu wollen. Die Natur scheint wie bankerott -zu erliegen; sie hat kein Blut mehr, das durch lebendige Adern zu -rinnen vermag. Und steht nicht in diesem Untergang der Freund als -einziger Besitz der echten Natur inmitten der Falschheit? Aber schon -klingt es uns, als färbe die unnennbare Bitterkeit dieser Schilderung -auch auf den Freund selbst ab; er wird geschildert als einer, der -inmitten der Verpestung lebt; die Ruchlosigkeit begnadet er mit -seiner Gegenwart, die Sünde darf sich mit seiner Gesellschaft zieren. -Und von geschminkten Wangen und falschen Locken ist viel die Rede, -die man in diesen lügnerischen Zeiten den Gräbern stiehlt, damit -sie auf einem zweiten Kopf ein zweites Leben führen; wir wissen, -wie Shakespeare seinem Ekel vor solcher Fälschung der Attribute der -Schönheit auch sonst, zum Beispiel in Bassanios Rede, Ausdruck gegeben -hat; Schönheit war ihm nicht Äußerlichkeit, sondern Ausdruck, und sie -außen aufzukleben und vorzutäuschen keine geringere Heuchelei als die -moralische. Der Freund, an den er sich klammert, ist dem Dichter der -Sonette das letzte Bild der Echtheit in dieser Zeit; er macht nicht -aus andrer Grün einen künstlichen Sommer, er möge der falschen Kunst -zeigen, was einstens allerwege die Schönheit war. - -Und nun spricht er sich im weitern noch deutlicher aus, wenn auch -keineswegs so deutlich, wie es manche Übersetzer gemacht haben. Was -die Welt an dir sehen kann, Freund, dein Äußeres ist ohne Fehl; und -künstliche Mittel wendest du nicht an; Freund und Feind müssen gestehn: -schön bist du. Aber ist diese Schönheit deines Leibes wahrhaft Ausdruck -deines Wesens? Bist du nicht ein Beispiel für das Furchtbare, daß -Schönheit, Liebreiz, adlig gewinnendes Wesen selbst täuschender Schein -sein können? Wenn man tiefer in dich eindringen will, hinter den -entzückenden Schein und Schimmer deiner Erscheinung, woran anders soll -man die Schönheit deiner Seele prüfen als an deinen Taten? Schon öfter -hat der Dichter in diesen Sonetten an den Blumen die schönen Farben -als den holden Schein und aber den Duft als den Ausdruck des Innern -unterschieden; jetzt sagt er von dem Freund, seine Blüte sei schön zu -schauen, aber sie dufte ~rank~, das heißt geil, scharf stinkend. -Und warum, du Blume kommt dein Duft nicht deinem Anblick gleich? - - ~The soil is this, that thou dost common grow.~ - -Das ist ein wundersames, rein formal genommen, wundervolles Wortspiel, -eine Doppelbedeutung, mit der sehr viel gesagt ist. Es kann heißen: - - Der Grund ist der, daß du gemein wirst. - -Aber im Zusammenhang mit dem Bild der Pflanze soll eher der Sinn -herauskommen: - - Der Grund ist der, daß du in Gesellschaft wächst, wie das Unkraut, - -der Grund ist der Umgang, in dem du dir gefällst und dich gemein machst. - -Aber jedenfalls sehen wir: das Verhältnis hat sich geändert, hat sich -beinahe umgekehrt. Früher war es der Dichter, der sich vor der reinen -Erhabenheit des Jünglings, des Adligen fast verkrochen hat. Adel ist -ihm Naturerbe, ist ihm ein Vorzug des Geblüts, echt und berechtigt -wie der Anspruch der Schönheit. Und immerhin möglich ist es und -manche Wendung deutet in der Tat darauf hin, daß er, wie er in dem -Adel und der Schönheit des Freundes, wenn diesen Zeichen das Innere -entspricht, eine Gabe der Natur erblickt, seinen Schauspielerberuf als -etwas ansieht, das sein Wesen tief nach innen und unaustilgbar gefärbt -habe, wie das Färben die Hand des Färbers; daß er diesen Beruf wie ein -schimpfliches öffentliches Gewerbe betrachtet, und von ihm in Wendungen -spricht, wie Schmach und Schuld und Flecken und Makel, die sonst nur -innere Eigenschaften bezeichnen. Fortuna nennt er die „schuldige -Göttin seiner qualvollen Taten“. Ist diese Deutung so richtig, -wie sie allgemein akzeptiert ist, so dürfen wir, auf dieses Leben -zurückblickend, wohl ausrufen: was muß der junge Shakespeare schon für -eine Persönlichkeit gehabt haben, um aus solcher Stellung heraus zu -diesem Verhältnis zu so einem verwöhnten Jüngling aus höchstem Adel zu -kommen! Wie dem auch sei, jetzt redet der Dichter überlegen von oben, -scheu und behutsam immer noch, aber nur aus schonender Liebe, die -glauben will; denn um Verdacht schlimmster Art geht es. Verdacht: das -ist das Thema eines dieser Sonette. Der beweist freilich noch nichts; -Verleumdung tastet grade das Edelste an, und die Krähe fliegt in der -holdesten Himmelsluft; Verdacht ist geradezu die Auszeichnung der -Schönheit: - - ~The ornament of beauty is suspect.~ - -Sollte der Freund, der die Jugend und ihre schlimmen Gefahren hinter -sich hat und entweder gar nicht angegriffen wurde oder als Sieger -hervorging, nicht seine Unschuld bewahrt haben, sollte er nicht gut -geblieben sein? Die Frage bleibt zunächst offen: - - Verhüllte nicht der Argwohn deinen Ruhm, - Du hättest aller Herzen Königtum. - -In den Zusammenhang dieser Sonette 67-70 und der später folgenden -Reihe 92-95, die das Motiv verstärkt aufnimmt, stellt sich mir aber -die böse Stelle aus der Klage der Liebenden, von der ich früher gesagt -habe, daß sie mir nicht bloß zur Handlung der Romanze, sondern auch -des Sonettenwerks gehört. Und in diesem Zusammenhang gedenke ich eines -Dichters unsrer Zeit, den man den natürlichen Sohn dieser Sonette -nennen könnte. Ich meine Oskar Wilde, der in diesen Gedichten und -ihrer Vorstellungs- und Empfindungswelt gelebt und geatmet hat. Von -dem amüsanten und doch schließlich betrüblichen Büchlein „Das Porträt -des Herrn W. H.“ will ich weniger reden als von einem andern Bildnis. -In dem Büchlein hat er eine verführerische Theorie über den Mann, an -den die Sonette sich richten, mit welcher er lange kokettiert haben -mag, schließlich in einer Novelle beigesetzt. W. H. sollte nach dieser -Erklärung der junge Schauspieler sein, der in Shakespeares Truppe die -jugendlichen Mädchengestalten spielte. Das läßt sich nicht halten; -daß der Mann, dem die Sonette gelten, ein Aristokrat in vornehmster -Stellung war, geht aus vielem hervor. Aber wichtiger ist es, von -einer der bestkomponierten Romandichtungen unsrer Zeit, vom Bildnis -Dorian Grays in diesem Zusammenhang zu reden. Mir ist, als wäre diese -Dichtung aus Shakespeares Sonetten und besonders aus dem Teil, der uns -jetzt beschäftigt, entstanden; und Die Klage der Liebenden könnte das -Vorbild zur kläglichen letzten Liebe Dorian Grays abgegeben haben. Die -Motive der Sonette 67-70 sind in der Tat die Grundmotive des Romans: -alle, so klingt es uns hier wie dort entgegen, alle werden vom Alter -angefressen; du allein strahlst in unvergänglicher Schönheit. Aber -- -wie steht’s um deine Seele! Wenn man die sehen könnte --! Gut ist’s -nicht damit bestellt, wenn man nach deinem Rufe, gut auch nicht, wenn -man nach deiner Gesellschaft urteilt. Und dieser Eindruck verstärkt -sich noch in den Sonetten 92-95. Ist es nicht wie ein Motto zu Dorian -Gray, wenn wir da hören: - - Doch Gott beschloß an deinem Schöpfungstag: - Nie soll die Liebe dir vom Antlitz schwinden, - Was auch dein Geist, dein Herz ersinnen mag, - Dein Blick soll immer Holdes nur verkünden. - -Bei diesem Bilde der zum Staunen unvergänglichen Anmut und -Liebenswürdigkeit wie nun bei der Schilderung, die den Prinzen -Wunderhold mit einem Mal unverhüllt in seiner innern Beschaffenheit -zeigt, haben wir ganz das Porträt, das die verratene Liebste in -der Romanze am Schluß des Sonettenwerks von dem bezaubernden Manne -entwirft; wenn es etwa im 95. Sonett heißt: - - O welch ein Schloß das Laster sich erkor, - Als es in dir zu wohnen sich entschied! - Jedweden Makel deckt der Schönheit Flor, - Und schön wird alles, was das Auge sieht. - -In tiefster Schwermut wendet sich dann der Dichter von den Zweifeln -an dem immer geliebten Freund, dem er ein Mal für alle verfallen ist, -weg zur Betrachtung des Todes, dem er sich immer näher fühlt. Eine -entsetzliche Vorstellung aber ist ihm jeder Gedanke an die Auflösung, --- so grauenhaft wie uns allen, nur daß wir nicht hinblicken, nicht den -Schädel unsres guten Freundes aus der Knabenzeit in der Hand wiegen -und dabei empfinden, es sei unser eignes kahl gefressenes Gebein. Den -Dichter aber lockt es unbezwinglich hinzublicken auf dieses Unfaßbare; -und sich, wie er jetzt ist, empfindet er in tiefstem Schauder als -denselben, der er bald sein wird, ein maßlos Erniedrigter. Dem -Freund ruft er, wie schon mit Grabesstimme zu: Nicht länger klage -um mich, als die Totenglocke schallt! Lies meine Verse, aber denke -nicht mehr an den Menschen, der sie geschrieben hat! Nenne meinen -Namen nicht mehr, liebe mich nicht mehr, wenn ich weg bin! In der -Niedrigkeit war ich in dieser Welt, zu allerniedrigsten Würmern geh’ -ich, wenn ich ihr entronnen bin. Und noch stärker wird diese ganz -und gar düstere Stimmung, in die gar kein Licht fällt, ausgedrückt. -Ich werde dieses dunkle Rätsel nicht lösen, aber ich werde es nicht -verhehlen: dieser Dichter, ganz weltlich, ganz ohne jede Beimischung -etwa religiös-asketischer Umkehr, im Gegenteil, indem er die ganze -Welt lichtlos, freudlos, hoffnungslos, sinnlos sieht, nimmt aus dieser -Stimmung auch sich den Lebenden und sein Werk nicht aus. Was er getan, -geleistet hat, mißt er in dieser Verfassung der Krise offenbar an -einem Wollen ganz andrer Art, ganz andren Zieles, das vielleicht auch -ganz andern Gebieten angehört; was da ist, ist nichts und schlimmer -als nichts. Da, in der direkteren Aussprache dieser Lyrik, ist nicht -die in Bitterkeit noch milde Resignation, mit der Prospero seinem Werk -und Leben entsagt; da ist Verzweiflung. Wie er in jüngern Jahren von -Verschuldung und von Flecken gesprochen hat, so nennt er jetzt seine -Leistung Schmach und Schande. Ich habe zugegeben, man kann jene starken -Ausdrücke auf sein Schauspielerdasein beziehen, aber will man für -jetzt, wo er auf der Höhe seiner dramatischen Produktion steht, auch -noch sagen, mit dieser entschlossenen, finstern Verachtung rede er nur -von seiner äußern Stellung als Schauspieler und Dramatiker? Nichts -unglaublicher als das! Nirgends sind wir im ganzen und einzelnen der -Stimmung und dem innersten Wesen von Shakespeares reifsten Dramen so -nah wie in diesem Teil der Sonette; nirgends aber in den Bühnenwerken -spricht sich uns die Abkehr und Verzweiflung an sich selbst so namenlos -schrecklich aus wie hier. Ich habe für diese Äußerungen, für diese in -Entschlossenheit gefaßten Ausbrüche keine andre Erklärung als die -einer oft fast völligen Umdüsterung, fast müßte man sagen: Umnachtung. - -Er verfügt in einem Tone wie letztwillig: sein Name solle vom Freunde -da begraben werden, wo sein Leichnam liegen werde, und solle nicht -länger am Leben bleiben und ihn und den Freund in Schmach bringen. - - Denn ich schäme mich dessen, was ich hervorbringe, und du solltest - dich schämen, Dinge zu lieben, die nichts wert sind. - -Doch solange er lebt, soll der Freund ihn lieben! Das bringt -uns vielleicht doch der Lösung des Rätsels noch etwas näher. -Diese Düsterkeit steht in untrennbarer Verbindung mit den -Verfallserscheinungen seiner Körperlichkeit -- er ist höchstens ein -früher Vierziger --, mit der Todesnähe, auf die er immer wieder zu -sprechen kommt und die -- vergessen wir das doch nicht! -- Wirklichkeit -ist. Wir wissen nicht, an welcher Krankheit Shakespeare jung starb, -- -aber wir wissen, daß er sich mindestens acht bis zehn Jahre vorher vom -Tode gezeichnet fühlte. - -Da redet er -- und es ist sicher dieselbe Zeit, in der über den -Dramatiker vom tiefst Menschlichen her zuerst die Krise gekommen war, -die wir kennen gelernt haben -- den Freund an: - - In mir siehst du den Herbst! Gelbe Blätter, oder keine, oder ein - paar hängen in frierenden Zweigen, und man kann bei diesem Anblick - an einen eingestürzten Chor denken, in dem einst die süßen Vögel - sangen. - -Daß sich dieses Bild auf seine Produktion bezieht, daß er diesmal ein -Jetzt, wo ihm alles mißraten scheint, mit einem früheren Reichtum -vergleicht, wie mit einem Strom, während seinem Gefühl nach jetzt -Stocken und Versiegen gekommen ist, hören wir aus dieser Stelle -deutlich: - - In mir siehst du in Zwielicht düstern Tag, - Der nach Sonnuntergang gen Abend bleicht, - Den schwarze Nacht gar bald entführen mag, - Des Todes Schatten, der von hinnen scheucht. - - In mir siehst du das Glimmen einer Glut, - Die auf der Asche ihrer Jugend endet, - Als ihrem Todbett, und bald völlig ruht, - Verzehrt von dem, was Nahrung ihr gespendet. - -Wir haben gehört, was das für ein Feuer ist; ~desire~ -- die -Sehnsucht, das unbändige Wollen, die Leidenschaft; von innerem Feuer -ist dieses Dichterlebens Feuer allzu rasch, allzu glühend verzehrt -worden. Man sagt, die gewaltigsten, verzehrendsten Waldbrände könnten -nur durch Feuer gelöscht werden, das man gegen sie treibt. So will -das Feuer dieses Dichters erlöschen: von Flammen verschlungen; und -er unterscheidet gut genug den guten und den bösen Engel, das reine -Feuer der Seele und der Dichtung und der Schönheitsliebe und aber das -brennende, sündhafte Feuer der Triebe. Und -- ich wollte die Feder -verstauchen und nicht mehr zur Hand nehmen, wenn sie nicht alles heraus -ließe, was gesagt werden kann und gesagt sein muß; und ich möchte sie -nicht mehr führen, wenn sie nicht zart vom Unnennbaren reden könnte --- und ich empfinde, wie der Dichter mit diesem bösen Feuer, das sein -reines verzehrt, mit dieser sinnlichen Leidenschaft und Wollust seine -Krankheit, seine steigende Kraftlosigkeit und frühes Alter und die -Todesnähe in Verbindung bringt; und ich empfinde die Verzweiflung und -der Umnachtung nahe Verdüsterung als die nicht bloß seelische, sondern -leibliche Folge und Begleiterscheinung des Leidens, das ihn aufrieb. -Wie Ekel ist ihm sein Leib, als ob schon jetzt der Tod daran fräße; -kein Gedanke soll ihm, diesem Naturding mehr gelten, wenn der Tod -sein Werk getan hat. Die Stimmung des Gequälten schwankt; jetzt ist -dem Dichter dieser Sonette sein Werk wieder der Grund, auf den er die -Unsterblichkeit baut: - - Doch sei getrost: wenn jener grimme Spruch - Ohn’ allen Aufschub mich von hinnen treibt, - So trägt mein Leben Frucht in diesem Buch, - Das zum Gedächtnis dann noch bei dir bleibt. - -Die Erde soll Erde bekommen, der Geist bleibt dein; nur die Hefe, der -Bodensatz des Lebens wird Würmerspeise; der Tod ist ein kläglicher -Wicht, der mit seiner Hippe Wertloses an sich reißt und das Beste nicht -treffen kann. - -Es ist mir, ich möchte beinahe sagen, ein Dogma oder Axiom, daß jeder -Dichter im privaten Leben, wie er es von Natur, Körperlichkeit und -Menschenumwelt wegen führen muß, die eine Seite seines Wesens zeigt -und in seiner Dichtung die andre, und daß man von der einen so wenig -wie von der andern ausschließend sagen kann, sie sei die wahre. Es -ist wahr, wir haben in der Gesamtheit seiner Dichtungen Shakespeares -innerstes Wesen, haben es aber im Höchsten dieser Werke und in den -Gestalten, bei denen die Sympathie des Dichters steht, nicht, wie -er als Mensch unter Menschen sein kann, sondern wie er, ein anderer -Mensch in andrer Umgebung, sein zu können sich sehnt. Ich glaube, die -Gelähmtheit Hamlets, die grausig zum Ausdruck kommende Todesfurcht -des Sklaven der Sinnenliebe Claudio in Maß für Maß und die zwischen -Selbstbewußtsein und schüchterner Demut schwankende, zur Selbstanklage -immer bereite Gemütsverfassung des Sonettendichters deuten auf Züge, -wie sie der lebendige Shakespeare in jäher Unvermitteltheit neben -kühnen und strahlenden von früh auf gehabt haben mag. - - -Von alledem, was ich hier und früher über Shakespeares Persönlichkeit -gesagt habe, habe ich nichts gesucht; ob ich mich sträubte oder willig -war, ich habe es alles bei der Begegnung zwischen mir, wie ich bin und -auffasse, und diesen Dichtungen, wie sie unverrückbar sind, gefunden. -Ich war bereit, den Sonettendichter als Helden dieses Gedichtwerks so -von William Shakespeare zu trennen, wie Romeo oder Brutus oder Herr -Angelo von ihm zu trennen ist; aber die Lohe des Persönlichen und -zutiefst Erlebten schlug immer wieder in das gebändigte Maß der Form -und die entrückte Gestaltung hinein. Diese Gedichte sind reinste Lyrik, -in demselben Sinne, in dem wir Deutsche diese Gattung von den Großen -und Echten unsrer Minnedichter her, von den Dichtern des Volkslieds, -von Andreas Gryphius und Paul Fleming, von Günther und Goethe, von -Claudius und Hölderlin her kennen: Leben der eigenen Empfindung in -Verbindung mit dem eigenen Schicksal, zur Gestalt erhoben und zur Form -geprägt. - -So haben uns die Sonette schon in das Thema hineingeführt, das -uns jetzt zum allerletzten Schluß obliegt: William Shakespeares -Persönlichkeit, seine Stellung im Leben. Und ich will von dem letzten -Teil der Sonettendichtung, der dem Weibe gilt, das in Shakespeares -Leben eine so verhängnisvolle Rolle gespielt hat, von dem Teil, der -auch das Endgültige dieses Mannes zur Frage des Lebens, des Leibes, -der Seele sagt, nur im Zusammenhang mit seiner persönlichen Existenz -sprechen. - -Nie mit der geringsten Hinweisung ist in diesen Sonetten von -Shakespeares Familie, von seiner Frau, von seinen Kindern die Rede. Sie -haben nirgends in seiner Dichtung auch nur das kleinste Plätzchen. Sei -auch von ihnen gesagt, was allenfalls zu sagen ist, wenn wir nun vom -Schlußteil der Sonette aus den unheimlichen Weg vom Dichter Shakespeare -zu William Shakespeare dem Menschen weiterzugehen wagen. - - - - -Shakespeares Persönlichkeit - -(Aufzeichnungen zum Schlußvortrag) - - -Was hier noch gesagt wird, ist ein Nachtrag und eine Zusammenfassung. -Vom Leben und der Persönlichkeit des Dichters habe ich schon immer und -immer mehr gesprochen, je näher wir dem Ende kamen. - - -Shakespeares Persönlichkeit: wir wollen also aus seinen Werken uns ein -Bild seines Wesens machen, im Zusammenhang mit den Umständen seiner -Zeit und seiner Lebensführung. - - -Vor allem also müssen wir die Identität des Verfassers der Gedichte, -der Sonette, der Dramen mit William Shakespeare aus Stratford, -Schauspieler am Globe- oder Blackfriars-Theater in London feststellen. - - -Denn gleich stellt sich uns die Behauptung in den Weg: Shakespeare sei -nicht Shakespeare; ein anderer hätte die Werke verfaßt. - -Über diesen andern sind die Vertreter dieser Theorie nicht mehr einig. -Außer Lord Bacon werden noch andre genannt. - - -Mit den Beweisen für diese Theorie sieht es nun so aus: sie sind -jedesmal durchschlagend; aber sie haben kein langes Leben; sie lösen -einander ab. - -Zum Beispiel: Wenn wirklich in der Folio-Ausgabe in Chiffredruck -mitgeteilt ist, daß Francis Bacon der Verfasser ist, so ist der Beweis -geliefert. - -Aber -- nach einiger Zeit läßt man diese unerhört freche und dumme -Behauptung fallen und -- behauptet etwas andres. - -Oder: wenn wirklich ein Notizenheft in Bacons eigener Handschrift da -ist, wo er zu einer Zeit, wo die entsprechenden Dramen Shakespeares -noch nicht verfaßt sein konnten, sich Wendungen, Bilder, Gleichnisse, -Redensarten notierte, die dann etwa in Romeo und Julia und andern -Dramen genau so verwandt sind, so ist der Beweis geliefert. - -Aber -- die Voraussetzungen treffen alle nicht zu; beim ganz -Verblüffenden handelt es sich um Fälschungen einer armen Irrsinnigen --- -- und nach einiger Zeit wird es von diesem Beweisstück wieder ganz -still. - -Und so geht es durchweg: es ist wie bei einem Indizienbeweis gegen -einen Unschuldigen, wo lauter Einzelheiten, die entweder nichts -beweisen oder falsch sind, als Gesamtheit eine gewisse Stimmung -erzeugen. - - -Fragen wir jetzt im ganzen: ist die Theorie nötig? -- ist sie möglich? - - -Nötig ist sie denen, denen Shakespeare der Stratforder zu ungebildet -ist. Sie meinen, diese Dichtungen müßten einen Aristokraten, einen -Gelehrten, einen Akademiker zum Verfasser haben. Ein greuliches -Überschätzen der Bildung schulmäßiger Art tritt zu Tage. - -Die meisten aber gehen noch weiter und sagen: gewisse gemeine, -pöbelhafte, volkstümliche, komische Elemente in den Stücken stammten -von Shakespeare dem Schauspieler; die edlen Teile hätte der Lord und -Gelehrte verfaßt. - -Damit ist aber dem Dichter Shakespeare Wesentliches genommen, -nicht bloß seine zeitliche Bedingtheit, seine Konzessionen an den -Zeitgeschmack, seine Müdigkeit und Lässigkeit, die Derbheit, die ihn -mit der Zeit verbindet -- worauf ich aber auch keineswegs verzichten -möchte -- sondern seine Allseitigkeit, sein Aufsteigen, seine -gegensätzliche Art zu charakterisieren und den innern Sinn der Handlung -herauszuarbeiten. - -Und wo soll man da, wenn man ihm die Clown-, die Wirtshaus-, die -Bordellszenen nehmen will, anfangen und aufhören? - -Und wozu? Das ist eine ganz blaustrumpfmäßige Art, den „Tichtēr“ -aufzufassen. - -Jetzt aber das Entscheidende: die Frage nach der Möglichkeit der -Theorie. - -Sie ist nicht möglich. Die Zeugnisse für die Identität des Dichters mit -dem in London lebenden, aus Stratford stammenden William Shakespeare -sind zahlreich und unumstößlich. - -Der Dichter William Shakespeare hat seine Gedichtbücher Venus und -Adonis und Der Raub der Lucretia selbst herausgegeben und -- was ohne -des Grafen Erlaubnis nicht möglich war -- dem Grafen Southampton -gewidmet. Und grade die sind mit glänzendem Verstalent, mit -Anschauungen und Wendungen, wie sie in den Dramen wiederkehren, in der -modischen, gelehrtenhaften, klassisch eingekleideten Art verfaßt. - -Nach William Shakespeares Tod in Stratford haben seine -Schauspielerkollegen Heminge und Condell 1623 die Gesamtausgabe -besorgt; sein Porträt beigegeben; von seinen Handschriften in der -Vorrede gesprochen, in denen sich fast keine Korrekturen fänden. - -Die und die andern Schauspieler, darunter der große Künstler Richard -Burbage, haben mit Shakespeare zusammen die Stücke einstudiert, gegeben. - -Ben Jonson, eine bedeutende Persönlichkeit, ein Dichter und Gelehrter, -mit Shakespeare nachweislich und selbstverständlich persönlich bekannt, -der sich immer wieder an ihm rieb und gerade sein volkstümlich -Unregelmäßiges tadelte, gab der Gesamtausgabe seine Ode bei, mit der -Überschrift - -„Zur Erinnerung an meinen geliebten William Shakespeare.“ - - Nicht daß dein Name uns erwecke Neid, - Mein Shakespeare, preis’ ich deine Herrlichkeit, - Denn wie man dich auch rühmen mag und preisen, - Zu hohen Ruhm kann keiner dir erweisen. - - * * * * * - - Du Seele unsrer Zeit, kamst sie zu schmücken - Als unsrer Bühne Wunder und Entzücken! - - * * * * * - - Und wußtest du auch wenig nur Latein, - Noch weniger Griechisch, war doch Größe dein, - Davor sich selbst der donnernde Äschylus, - Euripides, Sophokles beugen muß -- -- -- - Voll Stolz war Rom, voll Übermut Athen, - Sie haben deinesgleichen nicht gesehn! - - * * * * * - - Doch darf ich der Natur nicht alles geben, - Auch deine Kunst, Shakespeare, muß ich erheben; - Denn ist auch Stoff des Kunstwerks die Natur, - Wird Stoff zum Kunstwerk durch die Form doch nur. - - * * * * * - - O säh’n wir dich aufs neue, süßer Schwan - Vom Avon, ziehn auf deiner stolzen Bahn! - Säh’n wir, der so Elisabeth erfreute - Und Jakob, deinen hohen Flug noch heute - Am Themsestrand! -- -- -- - -Wie will man denn um dieses Zeugnis eines Zeitgenossen, eines -vertrauten Bekannten, einer großen Persönlichkeit, die Urteil und -Schärfe und Bosheit hatte, herumkommen! - -Der hat dem Schauspieler Shakespeare, mit dem er Umgang pflog, diese -Werke zugetraut. - -Was für Narren wären wir, wenn wir bloß darum daran zweifelten, weil -unsre Kenntnis der Person Shakespeares weniger intim ist als seine! - -Diese Zeugnisse könnten aber nun gehäuft werden. - -Im Anfang von Shakespeares Londoner Laufbahn erscheint eine Schrift aus -dem Nachlaß des Dramatikers Robert Greene, eines Gelehrten: darin warnt -er in bittern Worten vor den Schauspielern, die sich jetzt auch als -Dramatiker auftun; mit einem deutlichen Hinweis auf Shakespeare, der -„in dem Wahne lebe, der einzige ~Shake-scene~, Bühnenerschütterer -im Lande zu sein“. - -Ein paar Monate darauf erklärt der Herausgeber dieser Schrift, Henry -Chettle, sein Bedauern über diesen Angriff auf Shakespeare: „ich habe -mich persönlich davon überzeugt, daß seine höflichen Umgangsformen -seinen Vorzügen, die ihn in seinem Berufe auszeichnen, in nichts -nachstehn. Überdies wissen einige angesehene Persönlichkeiten von -seiner rechtschaffenen Handlungsweise -- als Beweis für seine -Ehrenhaftigkeit -- und von der glücklichen Anmut seines Stils -- als -Beweis für seine Kunst -- zu erzählen.“ - -Genug, zu viel schon davon: ob es uns lieb ist oder leid: der Verfasser -der gewaltigen Dichtungen ist 1564 in Stratford geboren und 1616 dort -gestorben und war zwischenhinein Schauspieler in London. - - -Sind wir nun so weit, so möchten wir uns gern ein Bild von seiner -äußern Gestalt, seiner Leiblichkeit, seinem Gesicht machen; das ist uns -für die Persönlichkeit sehr wichtig. Aber da hapert es sehr, -- wie -es mit all diesem Persönlichen, was Überlieferung von Tatsächlichem -angeht, fast in allen Stücken hapert. - -Der elegante Mann mit dem schönen Bart, wie er vor den meisten -Shakespeare-Ausgaben steht, oder wie man ihn, im Hofgewand und mit -einer begeistert-anmutigen Gebärde vor der Königin Elisabeth -- man -tut’s nicht billiger -- auf Ölgemälden und Stahlstichen vorlesen sieht, --- diese Gestalt mit diesem nichtssagend glatten Gesicht geht auf -das sogenannte Chandos-Porträt zurück, das in London in der National -Portrait Gallery hängt und erst lange nach Shakespeares Tod gemacht -ist. Es spricht gar nichts für diese Ähnlichkeit, -- denn es ist sehr -unähnlich den beiden Abbildungen, in denen seine Bekannten ihn doch -wenigstens irgendwie erkannten und die untereinander übereinstimmen. - -Das ist einmal die Büste in der Stratforder Kirche, nicht weit vom -Grab, ein paar Jahre nach dem Tod von der Familie aufgestellt: ein -elendes Machwerk, fabriziert von dem holländischen ~tomb-maker~ -Jansen, der sein Geschäft in London betrieb. Immerhin wird er -Shakespeare gekannt haben, vielleicht hat er gar nach einer Totenmaske -gearbeitet; und die Familie wird ja wohl zufrieden gewesen sein. - -Hier sei gleich gesagt, daß der tote Shakespeare in Stratford und von -seiner Familie nach Verdienst gewürdigt wurde, wenn auch wie alles, was -von dieser Seite kam, abgeschmackt. Unter der Büste stehen schlechte -lateinische und wenig bessere englische Verse, die lauten: - - „Nestors Einsicht, des Sokrates Geist und die Künste Vergils - Decket die Erde, betrauert das Volk, hat der Olymp.“ - -Und englisch: - - „Steh, Wandrer, warum willst du so schnell vorbei? - Lies, wenn du kannst, wen der neidische Tod hier gebettet, - In diesem Grabmal Shakespeare, mit dem die flinke Natur starb, - Dessen Name dies Monument mehr schmückt als der Kostenaufwand, - Denn alles, was er schrieb, läßt die überlebende Kunst zurück - Wie einen Pagen, sein Genie zu bedienen.“ - -Das andre Bild steht als Kupfer vor der Folioausgabe, rührt wiederum -von einem Holländer, Martin Droeshout, her und ist ein kümmerliches -Machwerk. - -Aber eine äußere Ähnlichkeit mit der Stratforder Büste kann -herausgefunden werden, und überdies hat es Ben Jonson gelobt. - -Wir haben nun zwar seit 1892 auch ein Ölgemälde, das in Stratford -entdeckt wurde, und das die Jahreszahl 1609 trägt: gleichviel, wie -es entstanden ist, jedenfalls gibt es nur in nicht viel besserer -Handwerksmanier dasselbe Gesicht wieder, wie der Stich vor der -Gesamtausgabe. - -Man kann aber, wenn man sich in eines dieser Machwerke, die offenbar -eine gewisse äußere Ähnlichkeit haben, versenkt, sie von innen heraus -beleben und dann einen Augenblick lang einen Eindruck wie von einem -großen Lebenden haben. - -Dazu helfen kann nun die wunderschöne sogenannte Darmstädter Totenmaske -oder eine Abbildung von ihr. Die ist in den 40er Jahren in Darmstadt -aufgetaucht und befindet sich noch da in Privatbesitz. Die Ähnlichkeit -besonders mit der Stratforder Büste ist groß, außerordentlich: während -die aber leer und albern dreinblickt, hat die Maske einen wunderbar -ernsten großen Ausdruck. Ich halte sie für ein Meisterwerk -- wie die -Tiara des Saitaphernes; womit ich schon sage, daß ich sie für eine -großartige Fälschung halte (Herman Grimm und andere sind begeistert für -die Echtheit eingetreten). - -Aber so stelle ich mir Shakespeare vor, weil diesen Ausdruck auch die -authentischen Bilder annehmen, wenn man sie zu beleben versucht. - - -Zu Shakespeares Leben und zur Shakespeare-Biographie: -- das ist nicht -das nämliche! - -Vier Elemente bezeichnen Shakespeares Leben: Leidenschaft oder -Trieb -- Innigkeit oder Seele -- überlegener Geist oder Verstand -- -Menschenfreundlichkeit (~humane gentleness~). - -Vier Elemente ganz andrer Art bezeichnen die Shakespeare-Biographie: -Dürre oder Leere -- Hypothese -- Komik -- und Langeweile. - -Wie viele solcher dickleibigen Werke gibt es, in einem oder zwei -Bänden, die alle so aussehen: - -Eine Schilderung der Zeit -- Beschreibung der Lage Stratfords -- des -Lebens in solchen Städten -- sehr Ausführliches über die damaligen -Theaterverhältnisse -- eine Abhandlung über den Modestil des Euphuismus --- ausführliche Analysen sämtlicher Stücke Shakespeares -- und -zwischenhinein gestreut die meist gänzlich unwichtigen zufälligen -Dokumente, die sich auf Shakespeare und seine Familie beziehen, ein -paar dürre Nachrichten, und Vermutungen über Vermutungen, Behauptungen -über Behauptungen! - -Überall aber geht es so zu, wie es naiv genug einer der Biographen in -seinem Vorwort bekennt: - -„Manche Behauptung stützt sich mehr auf Vermutung und Kombination -als auf sicheren Beweis. Ich habe solche Angaben mit allem Vorbehalt -gemacht, aber die Natur des Werkes bringt es mit sich, daß auf diesen -nicht ganz zuverlässigen Steinen später weitergebaut werden mußte.“ - -Ein paar Beispiele für dieses Verfahren, aus einem der kürzesten, -tatsächlichsten dieser Art Bücher, das von Dowden verfaßt ist: - -„Shakespeare wurde sicherlich in die Stratforder Lateinfreischule -geschickt.“ Das heißt: man weiß gar nichts davon. -- Der nächste Satz: -„Dort lernte er nicht bloß Englisch, sondern auch etwas Latein und -vielleicht ein klein wenig Griechisch.“ Ein paar Sätze weiter: „Daß er -seine lateinische Grammatik auswendig konnte, kann fast mit Sicherheit -angenommen werden.“ - -So geht es durchweg: Schauspieler waren in Stratford -- der Vater mag -den kleinen William mitgenommen haben; ein Fest in Kenilworth: „der -Vater dürfte mit dem vor ihm auf dem Sattel sitzenden Buben hinüber -geritten sein.“ - -Aus der Schule, von der wir bloß nicht wissen, ob er je drin war, -mußte Shakespeare sehr wahrscheinlich wegen des Vermögensverfalls -herausgenommen werden, der indessen auch nicht feststeht. - -Wenn wir schon Tatsachen dichten wollen, was bindet uns denn z. B. -an die armselige Lateinfreischule? Kann denn nicht ein gelehrter -Pfarrer oder Gutsherr oder ein Mönch wie Pater Lorenzo, oder mehrere -der Art hintereinander sich des Wunderkindes, des genialen Jünglings -angenommen und ihn zu Büchern geleitet haben? - -Und so durchweg, das ganze Leben hindurch! - - -Und nun will ich die gesicherten nackten Tatsachen aufstellen, die uns -etwas angehn; zwischen diesen Grundpfeilern darf und soll die Phantasie -arbeiten, die vom Dichter, seinen Werken aus fühlen, nicht aber -Tatsachen erdichten soll. - - -Eine kleine Landstadt -- Fluß, Felder, Wiesen, Wälder. Ländliches, -zunftmäßiges Handwerk; die Gemeindeverfassung ganz mittelalterlich. - -Was der junge William trieb, wissen wir nicht. Gerüchte allerlei Art -besagen nur, was wir uns sowieso denken müssen: daß eine glühende -Jugendnatur in der Enge wild und schäumend wurde. - -Für das Gerücht von der Wilddieberei und den Konflikten mit dem -Gutsherrn gibt es tatsächliche Anhaltspunkte: da muß etwas dran sein. - -Etwa 18½ Jahre alt heiratet William Shakespeare; eilig, mit nur -einmaligem Aufgebot und besonderer Erlaubnis des Bischofs. Die erfolgt -November 1582; Mai 1583 ist das erste Kind da, die Tochter Susanna. -Shakespeares Frau, Anna Hathaway, ist acht Jahre älter als er: 18:26. - -Daß es da stürmisch, unregelmäßig herging, ist sicher. - -Zwei Jahre darauf, 1585, gibt es Zwillinge: der Sohn Hamnet, der dann -als Elfjähriger in Stratford starb, die Tochter Judith. - -Von 1592 an ist Shakespeare in London als Schauspieler und -Theaterdichter bekannt. - -Wann er dahin gekommen ist, ob er einfach ausgerissen ist, wann er mit -Dichten anfing, wo er die Bildung her hatte, die sich von allem Anfang -an zeigt: nichts von alledem wissen wir; in nichts ist unsre Phantasie -behindert; keine Tatsächlichkeit stellt uns vor eine Unmöglichkeit oder -Unwahrscheinlichkeit. - -Nicht die geringste Nachricht, daß seine Frau und die Kinder je in -London gewesen wären. - -Dagegen wissen wir, daß Shakespeares Beziehungen zu Stratford nie -abbrachen, daß er früh begann, dort Grundstücke zu erwerben. - -In den Sonetten sehen wir ihn manchmal -- schwermütig die Trennung vom -Freund beklagend -- über Land reiten. - -1592 erscheint Heinrich VI., erster Teil auf der Bühne, 1593, 94 -erscheinen seine beiden Gedichtbände, von ihm selbst herausgegeben, von -1597 an ununterbrochen hintereinander im Anschluß an Aufführungen die -Quartbändchen, die seine Dramen drucken. - -1598 nennt ihn Meres als großen Dichter und zählt 12 seiner Stücke auf. - -1599 erlangt der alte Shakespeare das Recht, ein Wappen zu führen; -damit gehören er und seine Nachkommen zur ~gentry~, einer Art -niedern Adels oder erhöhten Bürgertums; in den Dokumenten erscheint -der Dichter-Schauspieler jetzt als William Shakespeare, „Gentleman aus -Stratford“. - -Er erwirbt ganz ansehnliche Grundstücke in Stratford; auch ein Haus in -London. - -1607 heiratet seine Tochter Susanna, 24 Jahre alt, den Arzt John Hall, -1608 kommt sein Enkelkind Elisabeth zur Welt († 1670, und damit war -Shakespeares Nachkommenschaft zu Ende). - -Von 1612 an etwa -- der Tradition zufolge -- wird Shakespeare wieder -seinen Wohnsitz in Stratford gehabt haben. - -Januar 1616 erster Entwurf des Testaments, das dann wieder weggelegt -wird. Februar heiratet, 31 Jahre alt, die Tochter Judith einen -Stratforder Weinhändler. - -Am 25. März: Testament. - -Am 23. April -- nach unserm Kalender 3. Mai -- starb er. - -Die Grabschrift auf dem Grabstein -- ich habe sie schon erwähnt -- wird -von der Tradition auf ihn selbst zurückgeführt: - - „Um Jesu willen, Freund, laß ab, - Den Staub zu stören hier im Grab. - Gesegnet der, so schont die Stein’! - Verflucht, wer rührt an mein Gebein!“ - -Der Ton ist der übliche etwas bänkelsängerische Grabsteinton; die -Stimmung entspricht den Gedanken, die wir aus den Sonetten kennen: - - Kümmert euch nicht um den Würmerfraß! laßt mich da drunten in Ruhe! - -In der Tat ist das Grab nie geöffnet worden, obwohl die -Shakespeareforscher und Kuriosen immer wieder Lust dazu verspürten und -die arme kranke Miß Bacon es jahrelang umkreiste und dort die Lösung -des Rätsels suchte. - - -Und nun, wo in diesen kahlen Umrissen eines Lebens so unendlich viel -Platz ist, atmen wir einmal auf, denken wir einen Augenblick an den -unsäglichen Reichtum von Lebendigkeit aus Zeiten und Schicksalen in den -Werken dieses Dichters, hören wir eine Stimme aus einer der Tragödien. - -Bürger Roms, leidenschaftlich aufgepeitschte wollen wir sein, eben ist -der große Cäsar ermordet worden, Antonius steht auf dem Forum über dem -Leichnam und ruft in die Menge: - - „Seht hier dies Pergament mit Cäsars Siegel, - Ich fand’s bei ihm, es ist sein letzter Wille. - Vernähme nur das Volk dies Testament, - - * * * * * - - Sie gingen hin und küßten Cäsars Wunden -- --“ - -Wie hat dieser Shakespeare die Größe, die Gehobenheit, die Erhabenheit -des gebietenden, des über seinen Tod hinaus wirkenden Mannes immer -wieder gedichtet, gepriesen! - -Wie hat er selbst, in der großen Stimmung, wenn er zu dem Freunde -sprach, hie und da immer wieder sich der Unsterblichkeit seiner Zeilen -versichert! - -Dürften wir nicht, wenn wir das Testament William Shakespeares -vernehmen sollen, irgendwie ein Vermächtnis des großen Mannes, wenn -nicht an die Menschheit, nicht an sein Volk, so doch an gleichstrebende -Freunde erwarten? Eine Verfügung wenigstens über seine Schriften, seine -Manuskripte? Oder doch -- wir werden schon ganz bescheiden -- über die -Bücher seiner Bibliothek? - -Aber nichts, nichts von alledem hören wir. - -Ich gestehe aufrichtig, es überläuft mich jedesmal kalt, wenn ich an -Shakespeares Testament denke. - -Die Echtheit ist nie bezweifelt worden, ist wohl auch nicht zu -bezweifeln, obwohl es keine saubere Reinschrift ist, sondern nur eine -erste Niederschrift mit Ausstreichungen und Einfügungen von seiten des -Notars (nicht Geistlichen). Von Shakespeare geschrieben ist darin nur -die sehr zittrige Unterschrift. - -(Diese und noch ein paar Unterschriften unter Aktenstücken: das ist -alles, was wir von seiner Hand haben.) - -Sehen wir von dem, was nicht da steht, ab, und ebenso von einer -kleinen nachträglich eingeschobenen Verfügung, so hat das Testament -im positiven Inhalt gar nichts Befremdliches: verfügt man über -wirtschaftliche Güter, so kann es sich nur um wirtschaftliche -Zweckmäßigkeit handeln. Shakespeares Besitz bestand im wesentlichen aus -Liegenschaften, und wie ein Bauer oder Edelmann hatte er den Wunsch, -daß diese Besitzung ungeteilt beisammen blieb. Sohn war keiner mehr -da; es sollten also die Häuser in Stratford und das in London und die -Grundstücke in Stratfords Umgebung alle an die älteste Tochter fallen, -von da nach dem Erstgeburtsrecht an Söhne; und gibt es in dieser -Linie keine Söhne mehr, an Söhne aus der Linie der zweiten Tochter -Judith. Die Linien starben aber beide schon in der nächsten Generation -aus. Judith wird mit 300 Pfund abgefunden, das sind nach heutigem -Geldwert etwa 48 000 Mark, die allmählich in Raten unter bestimmten -Bedingungen zu zahlen sind. Das bewegliche Vermögen fällt ebenfalls in -der Hauptsache der ersten Tochter anheim; dafür wird eben die zweite -mit Geld abgefunden. Legate werden ausgesetzt: für Shakespeares einzige -noch lebende Schwester, drei Schwestersöhne; zehn Pfund für die Armen -Stratfords, etwa 1600 Mark also; etliche Bekannte in Stratford; ferner -die drei ehemaligen Schauspielerkollegen Richard Burbage -- der die -größten Gestalten Shakespeares verkörperte --, John Heminge und Henry -Condell -- die dann die Werke herausgaben: die erhielten je 26 Shilling -8 Pence, über 200 Mark, für Ringe, die sie zu seinem Gedächtnis tragen -sollten; diese ~In-memoriam~-Ringe entsprachen einem Brauch der -Zeit. - -In dem Entwurf, der dann Rechtskraft erlangte, ist nun ursprünglich -Shakespeares Frau, die ihn um 7 Jahre überlebte, mit keiner Silbe -erwähnt. Wäre sie unerwähnt geblieben, so könnten wir sagen, was die -ängstlich aufs Normale bedachten Biographen sowieso stark betonen: sie -war vor Not geschützt, sie hatte, woran kein Testament etwas ändern -konnte, ihr gesetzliches Witwenausgedinge: ein Drittel aller Einkünfte. - -Schön: wer denkt an Not? - -Aber die Tochter Susanna und ihr Mann erhalten alle -Einrichtungsgegenstände und Schmucksachen; deren Tochter Elisabeth -alles Silbergeschirr; die Tochter Judith eine vergoldete Schale; -Shakespeares Schwester seine sämtlichen Kleidungsstücke; seine Frau -zuerst nichts und dann, in einem nachträglich eingeflickten Sätzchen -- -wer es nicht weiß, würde es nie erraten -- das zweitbeste Bett. - -Wir wissen nichts; wissen nicht, ob die Ehe ganz zerfallen war; ob die -Frau krank, ganz siech oder gar schwachsinnig war, wissen auch nicht, -wie es um Geist und Gemüt William Shakespeares jetzt am Rande des -Todes, am Schluß eines körperlichen Verfalls, einer Zermürbtheit, die -er schon lange in sich gespürt hat, bestellt war, -- -- all das, was -ich hier sage, was ich kaum anzudeuten mich getraue, -- -- all das ist -möglich; wir wissen nichts. Wir wissen bloß, daß dasteht: für die Frau -das zweitbeste Bett, -- und daß das der Dichter des Lear, des Hamlet, -des Macbeth verfügt hat, dieses ganze Testament, und weiter nichts, -kein Wort. (Die christliche Eingangsphrase und die Versicherung... bei -guter Gesundheit, ohne Bedeutung.) - - -Ist das ein Rätsel? Halte ich mein Versprechen, daß ich wahrlich dieses -Rätsel nicht lösen werde, wie dieser glühendste, wildeste und innigste -aller Menschen -- ich sage nicht zu viel -- alles, worin er wahrhaft -lebte, abbrach und sich irgendwie ins Bürgerliche verkroch, um da mit -dem Leibe, am Ende gar noch vorher mit dem Geiste zu sterben? - -Wir lösen es nicht, aber wir erblicken das ganze schauerliche Rätsel, -wenn wir unmittelbar nach diesem bürgerlichen Geschäftstestament das -geistige, das franziskanische Testament Shakespeares hören: - - „Seele, o arme Seele, Kern im Kot, - Im sündigen, des Aufruhrs frevelmächtig! - Was quälst du dich im Innern, leidest Not. - Und kleidest deine Außenwände prächtig? - Was wendest du bei also kurzer Pacht - So große Kosten auf dein eitles Haus? - Daß einst der Wurm, der Erbe solcher Pracht, - Die Last auffresse? Geht dein Leib so aus? - Dann wag’s, auf Kosten dieses Knechts zu leben, - Und laß ihn darben, daß dein Schatz sich mehre; - Für Himmelsgut sollst Erdentand du geben, - Sei außen fürder arm, dein Innres nähre! - Den Menschenfresser Tod, o Mensch, verzehr! - Ist Tod erst tot, dann gibt’s kein Sterben mehr.“ - -Dieses 146. Sonett steht, in der letzten Abteilung der Sonette, mitten -in der Auseinandersetzung des Dichters mit dem Weibe, mit seinem -Weibe, der Art Weib, die ihm so arg zu schaffen machte. - -Von seiner Frau rede ich hier nicht, von der Geliebten in London, die -die Frau eines andern gewesen war, der noch lebte. - -~Fair is foul, and foul is fair~: schön ist wüst, und wüst ist -schön -- so haben wir es von den Hexen im Macbeth gehört. - -Und ganz ähnlich klingt’s in dem ersten dieser Weibsonette: Schwarz -soll jetzt als Schönheit gelten, soll der Erbe der Schönheit sein, denn -Schönheit muß sich wie ein Bastard verstecken. - -Jetzt, wo jede Hand künstlich die Kräfte der Natur anwendet und das -Häßliche schön macht -- ~fairing the foul~ -- jetzt lebt Schönheit -in Schmach und Verbannung. - -Drum sind die Augen der Geliebten schwarz: sie tragen Trauer um die, -die, nicht schön geboren, doch der Schönheit nicht entbehren; doch -in ihrer Trauer werden sie schön, durch das Seelische, das aus ihnen -spricht. - -Es ist zweifelnde Liebe, unwillige Liebe: der Dichter ist gespalten in -Trieb und Geist: oben wohnt einer, der sich wehrt; unten treibt etwas, -und es kann sich nicht frei machen. - -Drum analysiert er sie, zerlegt ihre Reize. - -Was ist denn an ihr? - -Und -- fast gegen seinen Willen, so klingt es, so soll es klingen, denn -es ist ein Kunstwerk -- entsteht aus der kritischen Prüfung ihrer Reize -das Lob der Geliebten. - -In lauter Skepsis ist es doch ein entzückend kecker Einfall, so zu -loben: - - Ihre roten Lippen -- Korallen sind eigentlich röter; Schnee strahlt - doch noch heller als ihre Brüste... Ich hör’ sie gern reden, aber - Musik klingt doch noch schöner; eine Göttin hab’ ich zwar nie - wandeln sehen, aber den Boden berührt die Geliebte immerhin: -- - - „Und dennoch ist mein Lieb so wohlgefügt, - Wie irgendeins, von dem ein Dichter lügt.“ - -Aber dann kommen die so ganz andern Töne, wo er nicht mehr zweifelnd -spielt, sondern ingrimmig verzweifelt, wie wenn alles Heil verspielt -wäre. - -Da ist das 129. Sonett, das ich Ihnen, als ich von Cleopatra sprach, -in Prosa mitteilte, möge es jetzt, wennschon viel verloren geht, -als Dichtung erklingen. Es wirkt noch stärker und schauriger, wenn -wir das wissen, daß es unmittelbar solchem Spiel folgt und wieder -vorhergeht. Solch ein Spiel mit kritischer Liebe, das nicht will, -aber muß, hat mancher Dichter, etwa Heine, auch getrieben; aber dann -diese irdisch-höllische Liebe in so wahrhaft biblisch-gewaltigen Tönen -verfluchen, das finden wir nur bei Shakespeare. Das Spielerische, das -Innige des Hohen Liedes ist da, - - Schwarz bin ich und doch lieblich, - Ihr Töchter Jerusalems -- --, - -aber bei Shakespeare wendet sich die ganze glühende Leidenschaftsgewalt -im selben Zusammenhang ebenso von der Liebe ab wie vorher und nachher -der Liebe zu. - -Das ist die Notwendigkeit der Natur und des Geistes, wie er sie eben in -diesem Sonett erklärt: - - „Geübte Wollust ist des Geists Verschwendung - In wüste Schmach; Wollust ist bis zur Tat - Meineidig, mördrisch, blutig, voll Verblendung, - Roheit, Ausschweifung, Grausamkeit, Verrat. - Genossen kaum, verachtet allsogleich, - Sinnlos erjagt, und wenn ihr Ziel errungen, - Sinnlos gehaßt, dem gift’gen Köder gleich, - Gelegt, um toll zu machen, wenn verschlungen. - Toll im Begehren, toll auch im Genuß; - Gehabt, erlangt, verlangend -- ohne Zaum; - Im Kosten Glück, gekostet Überdruß, - Im Anfang Seligkeit, nachher -- ein Traum. - Das alles weiß die Welt, doch keiner flieht - Den Himmel, der uns so zur Hölle zieht.“ - -Es muß im Ausdruck dieser Frau etwas bezaubernd Seelenvolles gewesen -sein, was sich dann in ihrem Tun und Lassen nicht bewährte. - -Erinnern wir uns an das Bild, das er von Cleopatra, der hysterischen -und eben darin zauberhaften Frau, entworfen hat; so ähnlichen Eindruck -bekommen wir auch hier: - - „Euch Augen bin ich hold, die voll Bedauern, - Derweil mich mit Verachtung quält dein Herz, - In schwarzem Schleier liebend mich betrauern, - Mit edlem Mitleid schauend meinen Schmerz.“ - -Und dann kommt die Entwicklung der äußern Handlung auch in diesem Teil: -bald spielerisch, bald in wild-vezweifelndem Ausbruch hören wir von dem -Verhältnis der drei Menschen zu einander: - - „Kannst du dich nicht mit meiner Qual bescheiden, - Muß auch mein Freund ein Knecht der Knechtschaft sein?“ - -Und: - - „Er ging von mir; du hast statt Eines Zwei; - Er zahlt das Spiel, und doch bin ich nicht frei.“ - -Und wie Antonius im Wutausbruch die zweideutige Geliebte wie eine -Dirne behandelt, so hören wir auch den Sonnettendichter Shakespeare -selbst seine Liebste „~the wide world’s commonplace~“, den -gemeinsam-gemeinen Jedermanns-Ort schelten. - -Dann aber wird dieses Zwiefache, in dem jeder der drei Menschen steht, -wo sie zu dreien einen Reigen, einen Totentanz bilden, in dem jeder -den andern an der Hand hält, und ihre Plätze immer neu tauschen, wie -programmatisch auf die Höhe des ewigen Kriegs zwischen Seele und Leib, -zwischen irdischer und himmlischer Liebe gehoben: - - „Zwei Lieben hab’ ich, die mein Trost und Bangen, - Die wie zwei Geister üben ihre Macht. - Der gute Geist ein Mann in Schönheitsprangen, - Ein Weib der böse, dunkel wie die Nacht. - Das weiblich Böse rüstet mich zur eil’gen - Verdammnis, drum entführt sie mir den guten, - Und wandelt’ gern zum Teufel meinen Heil’gen, - Sein Herz umbuhlend mit verruchten Gluten. - Ob er verwandelt, ob er rein geblieben, - Vermuten kann ich’s, kann es nicht bestimmen; - Doch weil die Zwei mich nicht, nur sich noch lieben, - Wird einer in des andern Hölle glimmen. - Allein mein Zweifel wird sich nimmer lösen, - Bis einst mein Engel flieht, versengt vom Bösen.“ - -Wahrhaftig, es gehört viel dazu, ein so arges, zweifelndes Trieb- -und Liebeserlebnis nicht bloß mildernd und stillend zum Spiel -hinabzustimmen, sondern es so, wie es hier geschieht, zur Höhe des -Symbols zu erheben. - -Was ihm, ihm im wirklichen, persönlichen Leben das Schicksal bereitet -hat, diese seine Freundschaftsliebe zu dem bestimmten hellen Mann, -diese seine Brunstliebe zu der dunklen Frau, und daß nun die beiden -sich zu einander, gegen einander wenden, das erlebt er als Gleichnis, -mit der Düsterkeit seines Gemüts als Verheißung trostlosen Ausgangs: -hat der böse Geist den guten ganz an sich gezogen, so ist sein, des -Dichters Schicksal erfüllt: die böse Macht hat gesiegt. - -Hier empfindet er sein Leben und die Gewalten, die von außen in sein -Leben eingreifen, so, wie er’s im Macbeth dargestellt hat: innen und -außen -- es ist ein dämonischer Zusammenhang; wie der Träger der -Wünschelrute ein metallisches Element in sich hat, das die Metalle im -Erdinnern grüßt und lockt, so besteht eine geheime Kongruenz zwischen -den Strömen in unserm Gemüt und den Kräften und Wesen draußen, zu denen -es uns, die es zu einander von uns her hinzieht. - - -Mehr als einmal im Lauf dieser Vorträge habe ich auf einen großen Mann -des Geistes, einen Zeitgenossen und Landsmann Rembrandts, auf den -spanisch-holländischen Juden Spinoza hinzuweisen gehabt, der 16 Jahre -nach Shakespeares Tod geboren wurde. - -Was wir bei Shakespeare immer wieder als letzten Sinn der Dramen -erleben, daß der Triebmensch, auch wenn er ein gebietender Fürst ist, -ein Knecht, ein Sklave ist, daß der Geist aber frei macht, das haben -wir jetzt eben wieder in den Sonetten gehört, in der Klage, die sich an -die Wollust richtet: - - „Muß auch mein Freund ein Knecht der Knechtschaft sein?“ - „Und doch bin ich nicht frei.“ - -Und so hat es Spinoza seiner Ethik zugrunde gelegt: - -„Die Ohnmacht des Menschen zur Mäßigung oder Hemmung seiner Affekte -nenne ich Knechtschaft; denn der von seinen Affekten abhängige Mensch -ist nicht Herr seiner selbst, sondern dem Schicksal untertan.“ - -Nicht Herr seiner selbst, sondern dem Schicksal untertan -- das Thema -der großen Charaktertragödien Shakespeares. - -Und dann folgt bei Spinoza eine Analyse der verschiedenen -Erscheinungsformen der Knechtschaft, in der kühlen Begriffssprache so -unerbittlich scharf, so vollendet und letztgiltig, wie Shakespeare -diese Musterkarte in seinen Dramen in lebendiger Anschaulichkeit -entworfen hat. - -Und haben wir nicht eben als höchsten Gipfel von Shakespeares Leben, -als sein Vermächtnis, zu dem er in glühenden Kämpfen kaum für seine -Wirklichkeit, nur für seine Sehnsucht, für seinen Glauben gekommen ist, -die Botschaft von der Überwindung des Todes gehört? - -Wende nichts mehr an das Außen, nichts mehr an den Leib und seine -Triebe, sei außen arm, nähre deine Seele! - -Entringe dich, so heißt das, der Knechtschaft der Triebe, du -vernünftiger, du geistiger Mensch, sei frei! - -Genau so hören wir’s von Spinoza, der’s nicht, wie der Phantasie- und -Leidenschaftsmensch, sich mit dem Leben erarbeiten mußte, bei ihm nicht -als ersehnten Gipfel glühend eruptiven Lebens, sondern als stille Höhe -der Weisheit: - - „Der freie Mensch denkt an nichts weniger als an den Tod, und seine - Weisheit besteht im Nachdenken über das Leben und nicht über den - Tod.“ - -Das ist das Letzte und Höchste, wozu Shakespeare der Dichter gekommen -ist. Das ist der Gipfel, die Krone seiner Persönlichkeit, wenn wir mit -Fug und Recht als die Persönlichkeit eines Dichters, eines Künstlers -nicht das nur nehmen, was äußerlich in die Welt hinein ragt, sondern -was innen eine neue Welt, einen neuen Menschen schafft und in den -Werken der Kunst verkörpert. - - -Wir haben ja doch wahrlich heutigen Tags eine ganz andre biographische -Neugier als Shakespeares Zeitgenossen, aber nehmen wir doch einmal ein -Beispiel. - -Wie gräßlich unbegreiflich, was für ein widerwärtiges Rätsel wäre uns -der große Vincent van Gogh in seinem persönlichen Leben, wenn wir für -dieses Leben angewiesen wären auf die Berichte seiner Verwandten, -Bekannten und Freunde, und auf die amtlichen Dokumente. - -Nur dadurch, daß wir die wundervollen Briefe dieses Mannes haben, -kennen wir die heilige Glut seines reinen Innern; außen in dieser -unsrer Welt wurde das Schöne wüst; gehen wir in ihn hinein, so wird das -Wüste schön, wie in seinen Bildern. - -Und dasselbe gilt für Courbet, dasselbe für Verlaine, für Oscar Wilde, -für so viele andre, für alle, die das Reine, das Hohe, das Göttliche -nicht in der Ruhe des Denkens, sondern in der Glut der Gesichte, der -Gestalten, des Lebens suchen mußten, die es sich erarbeiten mußten, -indem sie sich durch das Leben, durch alle Triebe durcharbeiten mußten. - -Nicht wie eine Spinne im Netz konnte Shakespeare in Stille verweilen, -bis ein Gewalträcher seiner Natur wie Richard III., ein -adliger Wutmensch wie Othello, ein junger, stechender, unerbittlicher -Umklammerer wie Jago, ein finsterer, nur auf Eines starrender, von -Einem gebannter Machtmensch wie Macbeth, eine universell tändelnde, -amoralische, berückende, geniale Machtnatur wie Antonius, bis all diese -all-alle Männer- und Frauen-, Greisen- und Mädchengestalten in seinem -Netz hängen blieben. - -Ich glaube nicht, daß er viel nach Modellen arbeiten konnte, die er -kühl, unbeteiligt beobachtete; denn er entdeckte so bis ins letzte und -tiefste ihre innerste, verräterische Wurzel, daß wir notwendig annehmen -müssen: mit den Menschen, die er so kannte, hat er gelebt, mit ihnen -hat er erlebt: die Phantasie, die ihm half, war glühendes Hineinbohren, -gleichviel, ob Liebe oder Haß oder gar wohl auch einmal Neid: er hat -sich so in ihre Seele, in ihre Lage versetzt, daß er lebte, als wenn er -sie wäre. - -Wer das kann, wer das muß, -- nun, wundern wir uns nicht mehr, daß -William Shakespeare, der Schauspieler, der Dramatiker, der Künstler in -seinen Sonetten sich der Schmach und Sünde anklagt: wer so inständig -Glut der Seelen und Flammen der lodernden Leidenschaft miterlebte, -nacherlebte, vorerlebte, der war mehr als einmal, in Gedanken, in -Wünschen, im Spiel, in Wirklichkeit, gleichviel, ein Verbrecher. Wilde, -flammende, zehrende, vernichtende Leidenschaft, gebändigt durch Form, -die Beschränkung und Verklärung ist, das war sein Wesen, das war sein -Weg. - -Die Sonette sind die Briefe Shakespeares, die uns erhalten geblieben -sind; Briefe nur an einen oder zwei bestimmte Adressaten, Briefe auch, -die keine bloß persönlichen Dokumente, die Kunstwerke sind, aber von -hier aus dringen wir in die Seele des Menschen, hier ist der Punkt, wo -die Werke, die Dramen sich mit dem Menschen, mit der Persönlichkeit zu -einem verbinden. - - -Könige aller Sorten; Mörder, Säufer, Beutelschneider, Tunichtgute, -Bordellwirte, -- sie alle haben uns keine Geständnisse gemacht, wie -tief sie Shakespeare durchschaut hat. - -Wollen wir für dieses sein unbegreifliches, nie so erreichtes Talent, -sich in Lagen, Tätigkeiten, Berufe bis ins einzelne zu versetzen, -Zeugnisse haben, so müssen wir uns in ungefährlicheres Fahrwasser -begeben. - -Niemals, in der weiten Welt, im Lauf aller uns bekannten Zeiten -ist ein Dichter so einhellig von den Fachmännern bewundert worden -wie Shakespeare: Die Juristen, besonders die Advokaten, die Jäger, -besonders die von der Falkenbeize, die Ärzte, besonders die Irrenärzte, -sagen, er müsse irgendwann in seinem Leben einmal einer der ihren -gewesen sein. Zoologen, besonders Entomologen, Botaniker, Gärtner, -Navigationskundige, Musiker, Maler, Buchdrucker, Physiologen, alle -haben sie spezielle Bücher geschrieben, in denen sie aufzeigen, wie -erstaunlich viel Shakespeare von ihrem Fach verstanden habe, und wie -weit er darin seiner Zeit voraus gewesen sei. - -Er hat geologische Anschauungen geäußert, ehe es eine Wissenschaft der -Geologie gab; er hat die Lehre von der Blutzirkulation gekannt, die -Harvey erst bekanntgab, als Shakespeares Blut nicht mehr zirkulierte; -er, der sich nichts draus machte, in Märchenstücken alle Zeiten und -Kulturen durcheinanderzubringen und ein Nirgendwo am Meeresstrand -Böhmen zu nennen, hat Verhältnisse und einzelne Umstände in Oberitalien -so genau gekannt, daß manche Gelehrte drauf schwören, er müsse dort -gewesen sein. - -Das, diese Kenntnisse, die Shakespeare an den Tag legt, bringt ja die -Baconianer hauptsächlich dazu, einen Mann der Wissenschaft hinter dem -Dichter zu suchen. - -Wie wenig ahnen sie von der Differenzierung des Geistes! - -Dieser Bacon, der noch nicht einmal das kleinste Gedicht -zurechtstümpern konnte, war ein echter Mann der Forschung, der Kritik, -der wissenschaftlichen und denkerischen Sprache. - -Shakespeares Wissen war völlig andrer Art; war immer mit Anschauung, -immer mit Intuition, immer mit einer bestimmten Lebenssphäre verbunden, -die es zu gestalten galt. - -Hätte ihm einer die Aufgabe gestellt, eine botanische Abhandlung -über die Flora von Warwickshire oder eine über das Leben der Bienen -zu schreiben, er hätte es keineswegs gekonnt oder, wenn’s hätte sein -müssen, wäre es ganz armselig geworden. - -Im Zusammenhang aber von Erlebnissen, in Gemeinschaft mit Gefühlen und -Leidenschaften strömten ihm als Gleichnisse die Erinnerungen zu, und -verstand er es überdies, sich all das aus Büchern, aus Gesprächen, aus -der Umschau, in der freien Natur und im Handwerk zu holen, was er im -Zusammenhang seines Schaffens, seiner bestimmten Zwecke brauchte. Wenn -etwas gewiß ist, so gerade das, daß Shakespeare gar nichts Lehrhaftes -an sich hatte, daß es ihm nie auf die Verbreitung oder auch nur -Behauptung einer Ansicht ankam; jede Anschauung, die er äußerte, stand -immer im Zusammenhang mit einer bestimmten Seite des Menschenwesens, -mit bestimmtem Erleben eines Charakters. Und so bleiben uns diese -wissenschaftlichen, all diese Erkenntnis- und Beobachtungsäußerungen -auch nur im Gedächtnis im Zusammenhang mit Gefühlen, Repliken, -Ausbrüchen; wir empfinden es als völlig unshakespearisch, wenn die -Gelehrten solche Äußerungen jede für sich aus ihrem Gefüge lösen und -zusammenstellen. - -Auch Homer, den man am ehesten mit Shakespeare in einem Atem nennen -darf, hat sich auf Wagenbau, auf Tischlerei, auf Waffenhandwerk, aufs -Schmiedehandwerk, auf Obstbau, auf Schiffahrt, auf Schweinezucht -trefflich verstanden, -- aber noch niemand ist auf die Idee gekommen, -der Dichter Homer müsse mit dem Mann der Wissenschaft Pythagoras -identisch sein. - -Bei ihm ist’s auch nicht nötig; er hat das Glück, daß man von seinem -Leben gar nichts weiß; er lebt nur in seinen Gedichten. - - -William Shakespeare wollte ich im ersten dieser Vorträge weniger in -seine Zeit hineinstellen, als in seiner fast schreckhaft-starken -Vereinzelung von seiner Zeit abheben; siebzehnmal habe ich dann in -seine Werke geführt, und in Liebestragödien, in Liebesspielen, in -Machthabertragödien haben wir seine Persönlichkeit gefunden, nie -einseitig in einer Gestalt ausgeprägt, vielmehr immer allseitig, -immer beidseitig, immer das Tier und die Hoheit, den Trieb und die -Vernunft, den Mann der Gier und die adlige Frau, und das verderbliche -Weib und den seelenvollen Mann, alle in ihrem Recht, der Ritterkönig -und Falstaff, der herrliche Hektor und der gemein zausende, geifernd -kritische Thersites; nie einer ein Typus bloß, immer ein einmaliger, -ganz individueller Vertreter dieses Typischen. - -Im 19. der Vorträge habe ich Sie dann von den Werken, von der -Sonettendichtung zur Person Shakespeare, heute aber schnell und fast -scheu von der Person zurück den Weg zur Persönlichkeit führen wollen, -wie sie sich in den Dichtungen offenbart. - -Ich für meine Person habe es in diesen Vorträgen wohl nicht immer -vermieden, persönlich zu sein; und der furchtbare und für die -Menschheit vielleicht entscheidend wichtige Zeitabschnitt, in dem wir -stehen, hat, ich fühle es selbst, auf meine Art, Shakespeare zu sehen, -bestimmend eingewirkt. Der Weg vom Trieb zum Geist hinauf, Shakespeares -schwerer und gefahrvoller Weg ist auch der Weg vom Krieg zum Frieden, -vom Tod zum Leben, -- ich glaube es, gleichviel, wie lang und gewunden -dieser Weg noch sein mag. - - -_Ende_ - - - - - -End of Project Gutenberg's Shakespeare (Volume 2 of 2), by Gustav Landauer - -*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SHAKESPEARE (VOLUME 2 OF 2) *** - -***** This file should be named 52013-0.txt or 52013-0.zip ***** -This and all associated files of various formats will be found in: - http://www.gutenberg.org/5/2/0/1/52013/ - -Produced by Mark C. Orton, Itay Perl, Reiner Ruf, and the -Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net -(This book was produced from scanned images of public -domain material from the Google Books project.) - -Updated editions will replace the previous one--the old editions will -be renamed. - -Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright -law means that no one owns a United States copyright in these works, -so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United -States without permission and without paying copyright -royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part -of this license, apply to copying and distributing Project -Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm -concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, -and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive -specific permission. 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You may copy it, give it away or re-use it under the terms of -the Project Gutenberg License included with this eBook or online at -www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have -to check the laws of the country where you are located before using this ebook. - -Title: Shakespeare (Volume 2 of 2) - Dargestellt im Vorträgen - -Author: Gustav Landauer - -Editor: Martin Buber - -Release Date: May 6, 2016 [EBook #52013] - -Language: German - -Character set encoding: UTF-8 - -*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SHAKESPEARE (VOLUME 2 OF 2) *** - - - - -Produced by Mark C. Orton, Itay Perl, Reiner Ruf, and the -Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net -(This book was produced from scanned images of public -domain material from the Google Books project.) - - - - - - -</pre> - - -<div class="section"> - -<div class="transnote mtop3"> - -<p class="s3 center"><b>Anmerkungen zur Transkription:</b></p> - -<p>Der vorliegende Text wurde anhand der 1922 erschienenen Buchausgabe -so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Zeichensetzung -und offensichtliche typographische Fehler wurden stillschweigend -korrigiert bzw. ergänzt. Einige altertümliche Wortformen wurden vom -Autor offenbar in illustrativer Absicht eingefügt; diese Begriffe -wurden nicht verändert. Unterschiedliche Schreibweisen wurden nicht -vereinheitlicht.</p> - -<p>Im Originaltext beginnen neue Absätze ohne Kennzeichnung durch -Einrückungen oder vergrößerte Zeilenabstände. In einzelnen Fällen -mussten daher vom Bearbeiter willkürliche, aber möglichst sinngemäße, -Entscheidungen bezüglich des Beginns eines neuen Absatzes getroffen -werden.</p> - -<p>Wie bei den meisten Frakturschriften üblich, kann auch im Original -zwischen den Großbuchstaben ‚I‘ und ‚J‘ nicht unterschieden werden. Die -Zuordnung erfolgte in einigen Fällen gezwungenermaßen rein willkürlich; -obwohl beispielsweise die Schreibweisen ‚Iago‘ und ‚Jago‘, sowie -‚Iachimo‘ und ‚Jachimo‘ gleichermaßen bekannt sind, wurden in diesem -Text die Formen ‚Jago‘ bzw. ‚Jachimo‘ verwendet.</p> - -<p>Die Originalausgabe enthält am Ende des vorliegenden zweiten Teiles -ein Inhaltsverzeichnis für beide Bände, welches in der elektronischen -Fassung der Übersichtlichkeit halber vom Bearbeiter an den Beginn des -Textes gestellt wurde. Die Links zu den entprechenden Seiten sind nur -innerhalb des vorliegenden zweiten Bandes aktiv.</p> - -<p><span class="nohtml">Gesperrt gedruckte Passagen im Original werden hier -<em class="gesperrt">in Fettdruck</em> hervorgehoben, </span> Antiquaschrift -in der Buchausgabe wird <em>kursiv</em> wiedergegeben.</p> - -</div> - -</div> - -<div class="titelei ptop2 break-before"> - -<p class="s2 center">Gustav Landauer</p> - -<h1>Shakespeare<br /> - -<span class="s7">Dargestellt in Vorträgen</span></h1> - -<p class="s4 center ptop5">Zweiter Band</p> - -<p class="s4 center ptop5">1922</p> - -<hr class="r80" /> - -<p class="s4 center">Literarische Anstalt Rütten & Loening</p> -<p class="s4 center">Frankfurt am Main</p> - -<p class="s5 center ptop2 break-before">Alle Rechte, besonders die der Übersetzung, vorbehalten</p> - -<p class="center"><i>Copyright 1920 Literarische Anstalt</i><br /> -<i>Rütten & Loening, Frankfurt a. M.</i></p> - -<p class="center ptop5"><em class="gesperrt">6. bis 10. Tausend</em></p> - -<p class="s5 center ptop5">Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig</p> - -</div> - -<hr class="full" /> - -<div class="chapter"> - -<h2 class="nobreak" id="Inhaltsverzeichnis">Inhaltsverzeichnis</h2> - -</div> - -<table class="toc" summary="Inhaltsverzeichnis"> - <tr> - <td class="tdc s4" colspan="2"> - <em class="gesperrt">Erster Band</em> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="kap"> - - </td> - <td class="pag s5"> - Seite - </td> - </tr> - <tr> - <td class="kap"> - Vorwort - </td> - <td class="pag"> - V - </td> - </tr> - <tr> - <td class="kap"> - Romeo und Julia - </td> - <td class="pag"> - 1 - </td> - </tr> - <tr> - <td class="kap"> - Der Kaufmann von Venedig - </td> - <td class="pag"> - 42 - </td> - </tr> - <tr> - <td class="kap"> - König Johann - </td> - <td class="pag"> - 91 - </td> - </tr> - <tr> - <td class="kap"> - Julius Cäsar - </td> - <td class="pag"> - 139 - </td> - </tr> - <tr> - <td class="kap"> - Hamlet - </td> - <td class="pag"> - 189 - </td> - </tr> - <tr> - <td class="kap"> - Troilus und Cressida - </td> - <td class="pag"> - 256 - </td> - </tr> - <tr> - <td class="kap"> - Othello - </td> - <td class="pag"> - 303 - </td> - </tr> - <tr> - <td class="tdc s4 ptop2" colspan="2"> - <em class="gesperrt">Zweiter Band</em> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="kap"> - Maß für Maß - </td> - <td class="pag"> - <a href="#Seite_1">1</a> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="kap"> - Macbeth - </td> - <td class="pag"> - <a href="#Seite_48">48</a> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="kap"> - König Lear - </td> - <td class="pag"> - <a href="#Seite_80">80</a> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="kap"> - Antonius und Cleopatra - </td> - <td class="pag"> - <a href="#Seite_130">130</a> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="kap"> - Timon - </td> - <td class="pag"> - <a href="#Seite_160">160</a> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="kap"> - Coriolan - </td> - <td class="pag"> - <a href="#Seite_189">189</a> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="kap"> - König Zymbelin und Das Wintermärchen - </td> - <td class="pag"> - <a href="#Seite_238">238</a> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="kap"> - Der Sturm - </td> - <td class="pag"> - <a href="#Seite_269">269</a> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="kap"> - Die Sonette - </td> - <td class="pag"> - <a href="#Seite_318">318</a> - </td> - </tr> - <tr> - <td class="kap"> - Shakespeares Persönlichkeit - </td> - <td class="pag"> - <a href="#Seite_371">371</a> - </td> - </tr> -</table> - -<hr class="chap" /> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_1" id="Seite_1">[S. 1]</a></span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Mass_fuer_Mass">Maß für Maß</h2> - -</div> - -<p class="initial">Von dem Augenblick an, wo ein Registrator sich auf den Himmelsthron -setzt und mich als gebietender Gott zwingt, Shakespeares Stücke -ordentlich auf die gehörigen Rubriken zu verteilen, werde ich -Troilus und Cressida zu den ganz großen Tragödien, Maß für Maß aber -unbedenklich als größte zu Shakespeares Komödien stellen. Eine Komödie -größter Art ist dieses Stück gerade darum, weil es seinem Stoff nach -durchaus tragisch ist; die Komik liegt nicht im entferntesten in den -Geschehnissen, die zur Höhe der Handlung emporgeführt werden, nicht -einmal eigentlich in der Art, wie der Dichter die Welt, in der diese -Dinge geschehen, ansieht: die größte Schärfe des Blicks und Bitterkeit -der Stimmung ist mit unsäglich liebender Innigkeit und verzeihender -Milde verbunden, so daß ein Umfang der Empfindung von einer Weite -und Höhe entsteht, die man Heiterkeit oder Humor nur nennen kann, -wenn man jeglichen Beigeschmack von Vergnüglichkeit oder idyllisch -kauziger Beschränktheit aus diesen Begriffen entfernt; die Komik -liegt vor allem in der gleich von Anfang an vorbereiteten Wendung, -die die Handlung auf ihrem Höhepunkt nimmt: ein geheimer Lenker, -ein <em>deus</em> nicht <em>ex machina</em>, sondern <em>ex anima</em> ist da, -der mit einer liebenswürdigen Grazie ohnegleichen wilde Wallungen -besänftigt, schroffe Gegensätze ausgleicht und den pochenden Schmerz -der Leidenschaften in sinnvollen Scherz und ernstes Spiel verwandelt. -Wie wenn ein ironischer Gott die Menschen erschaffen hätte und nun -als Zuschauer sie frei gewähren ließe, bis ihre Leidenschaften und -Widersprüche zu solchen Verwicklungen und Konflikten geführt hätten, -daß sie ohne sein Eingreifen verderben müßten, und dann käme er und -lenkte sie mit sanfter Bestimmtheit, wohin er sie haben will, so -erschafft der Herzog dieser Komödie einen Fürsten an seiner Statt -mit dem Vorbehalt, ihm eine Weile zuzusehen, zur rechten Zeit aber -einzuschreiten. Die Ironie weckt die Tragik und gestattet<span class="pagenum"><a name="Seite_2" id="Seite_2">[S. 2]</a></span> ihr ihre -verzerrte Bahn, bis es der Pein und des Frevels genug und schon fast zu -viel ist und die Ironie wieder die Herrschaft antritt.</p> - -<p>Shakespeares Lustspiele könnte man einteilen in die Spiele, in denen -alle Erdenschwere in Ironie, Musik, Traum und Geisteszauber aufgelöst -scheint; dahin gehören der Sommernachtstraum und der Sturm; auch der -Kaufmann von Venedig, nur daß da das Geisterhafte ganz vom Menschlichen -und Natürlichen bestritten wird; und in die Stücke, die zwar oft in -dieses Reich hineinragen, deren Leichtigkeit und Spielerei aber zum -Teil auch daher kommen, daß der Dichter in ihnen etwas auszuruhen -scheint, nicht nur die Probleme, sondern auch die Durchführung leichter -nimmt und sich eine Umbiegung der Charaktere je nach dem Erfordernis -der Handlung und Bühnenwirkung keineswegs immer verbietet; Was ihr -wollt, Wie es euch gefällt, Viel Lärm um nichts sind die vollendetsten -Exemplare dieser Gattung. Aus diesem Bezirk ins Reich der großen, -bitter ernsten Komödie hebt sich Ende gut, alles gut, ohne die letzte -Vollendung zu erreichen. Diesem Schauspiel ist Maß für Maß in mehr -als einem Punkte benachbart; hier aber ist die Vollendung erreicht, -und die Wendung zum Sinnspiel bringt diese Dichtung wieder in die -Nähe der Gattung menschlich-natürlicher Märchen, die Der Kaufmann von -Venedig repräsentiert, nur daß im Kaufmann die Tragödie als alles -überschattende Episode im Lustspiel steht, während in Maß für Maß die -gesamte Handlung, in der alle Hauptpersonen stehn, zu tragischer Höhe -ansteigt, bis vom Scheitelpunkt an die Tragik mählich gemildert und in -Prüfung verwandelt wird.</p> - -<p>Der erste Druck, den wir von dem Stück haben, steht in der Folioausgabe -von 1623. Nach einem Dokument, dessen Echtheit nicht völlig feststeht, -wäre das Stück 1604 am Hof aufgeführt worden.</p> - -<p>Der Stoff findet sich zuerst in derselben Novellensammlung<span class="pagenum"><a name="Seite_3" id="Seite_3">[S. 3]</a></span> -Hecatommithi von Giraldi Cinthio, in der sich auch die Novelle vom -Mohren von Venedig findet; Shakespeare stützte sich aber überdies auf -zwei Arbeiten von Georg Whetstone, die Komödie Promos und Kassandra -(1578 gedruckt), und eine kurze Novelle, die er 1582 in der Sammlung -<em>Heptameron of civil discourses</em> herausgab. Die ursprünglichen -Namen und Schauplätze Cinthios haben sowohl Whetstone wie dann wieder -Shakespeare verändert. Shakespeares Herzog Vincentio von Wien ist bei -Cinthio Kaiser Maximilian in Innsbruck, bei Whetstone König Corvinus -von Ungarn und Böhmen; der Statthalter heißt erst Juriste und dann -Promos; unsre Isabella bei Cinthio Epitia, bei Whetstone Kassandra; in -all diesen Fassungen vor Shakespeare muß dies Mädchen um der Rettung -ihres Bruders willen sich tatsächlich dem Statthalter hingeben; und aus -der Umgestaltung dieses Hauptmotivs, die Shakespeare vornahm, ergibt -sich schon, wie er mit dem äußern Stoff und innern Sinn im Kleinen und -Großen frei geschaltet hat.</p> - -<p>Maß für Maß hat sehr vielen, die über Shakespeare geschrieben haben, -aus demselben Grund und im nämlichen Grad unangenehme Gefühle und -Verlegenheit erzeugt, wie Troilus und Cressida. Man hat von berühmten, -geachteten und anerkannten Männern Urteile gehört, wie: das Stück sei -auf <em class="gesperrt">unsrer</em> Bühne nicht möglich; für <em class="gesperrt">unsern</em> Geschmack -dürfe bei einem solchen Motiv von komischer Behandlung und Wirkung -keine Rede sein; <em class="gesperrt">unser</em> sittliches Gefühl werde in unerträglicher -Weise verletzt; und die üblichen Epitheta sind: peinlich, abstoßend, -widerlich. Mit alledem zeigen, die so schreiben, nur, daß sie für -Shakespeare nicht reif sind; und daß ihresgleichen in Ehren und nicht -in verlachtem Schimpf stehen, ist kennzeichnend für unsre öffentlichen -wie geheimen Zustände.</p> - -<p>Ich sage von vornherein, daß mir Maß für Maß zu Shakespeares -vortrefflichst gebauten, schlagkräftigsten, spannendsten, -bühnenwirksamsten, innigsten, reinsten und reifsten,<span class="pagenum"><a name="Seite_4" id="Seite_4">[S. 4]</a></span> freiesten und -tiefsten Schöpfungen gehört. Kann es denn für eine Komödie, das heißt -für eine solche Darstellung von Gegensätzlichkeiten, über die wir -lachen dürfen, weil wir sie in uns und um uns zugleich kennen und nicht -kennen, in unsrer erbärmlichen Wirklichkeit kennen, in unserm Glauben, -Wünschen und Umschaffen nicht kennen, kann es tauglichere Motive geben, -sowie wir die Komik ernst genug nehmen und mit ihr nicht Vergnügliches -betrachten, sondern wollend in unsrer eignen Zwiespältigkeit eine -Entscheidung treffen? Wer, der in Betracht kommen will, ist denn durch -elende Lustigkeit, bei der die Gemeinheit mit der Gemeinheit lacht, -oder gar durch Frohsinn, bei dem der Philister mit den Philistern -vergnügt ist, so verdorben, daß er nicht weiß, daß das echte Lachen -der Komik ebenso gegen die Niedrigkeit Partei ergreift, wie die -Ergriffenheit der Tragik für die Hoheit und Innigkeit eintritt? Ich -habe das Wort Tränen hier vermeiden müssen, weil die Rührung allermeist -erbärmlich geworden ist und weil bei diesen edeln Tropfen nicht mehr -die adligen Gefühle der Teilnahme am Großen und Reinen, das beschmutzt -und zu Fall gebracht wird, von den Regungen der Tröpfe zu unterscheiden -sind; genau so ins Gemenge und in die Menge gekommen ist das Lachen, -das eine Steigerung sein sollte und allermeist eine Erniedrigung oder -Plattheit geworden ist.</p> - -<p>Maß für Maß zeigt uns die Macht und den Mißbrauch der Macht; das -Verhältnis des wahren Menschen zu der Rolle, die er im Amt spielt; -die hohe richterliche Pose; zeigt uns den Mann, der in einem idealen -Wortgebäude wohnt, welches einstürzt, sowie der Sturm der Triebe -kommt; den Anspruch des Staates, regulierend und sittlichend ins -Geschlechtsleben einzugreifen, wobei sich dann ergibt: was für eine -Erfindung, vom Staat zu reden, als ob das ein Gebilde übermenschlicher -Art für sich wäre, und ist doch nur ein Name für Menschen und -Untermenschen! Einen Fürsten sehen wir, der wie Harun al Raschid im -Verborgenen, verkleidet, die Vorgänge in seinem Staat beobachtet, -Zeuge wird, die Fäden<span class="pagenum"><a name="Seite_5" id="Seite_5">[S. 5]</a></span> lenkt, alles zum Guten wendet, der Milde und -Nachsicht, vor allem aber Wahrheit an die Stelle der Strenge, der -Übergriffe, der Heuchelei setzt; dazu kommen die Probleme des Rechts, -vor allem des Strafrechts und geradezu der Strafrechtstheorie; der -Moral und Moraltheorie, der Gnade, der himmlischen und irdischen Liebe, -des Lebens und des Todes.</p> - -<p>Dazu ist die Sprache dieses Dramas nach Form und Gefühls- wie -Gedankengehalt rein, reich, voll, kräftig, knapp; sie bringt Bilder -von wundervoller Ausdrucksgewalt; die Komposition ist glänzend und -sicher; die Abwechslung zwischen Verssprache und Prosa ist besonders -weise abgestuft; die Szenen der niederen Komik, diese burlesken -Scherzo-Variationen sowohl des erotischen wie des Beamtenthemas, die es -mit den entsprechenden in Viel Lärm um Nichts getrost aufnehmen können, -sind lustig, reich an Einfällen, famos; und selbst in diesem untern -Bezirk ist das höchste tragische Motiv mit Fug in eine keineswegs bloß -das Zwerchfell erschütternde, in eine schlechtweg erschütternde Komik -gewandt: da haben wir den Mörder und Räuber, der lustig leben und -sterben will.</p> - -<p>Dies Stück, das, wie jedes von Shakespeares bedeutenden, seinen Sinn -nicht irgendwie sentenziös ausspricht, sondern sich deiktisch verhält, -ist darum auch nur denen voll zugänglich, die schauend, Gegensätze -schauend, empfindend, in der Phantasiesphäre zu denken vermögen, die -überdies das, was ihnen plastisch, als bewegtes, dissonierendes Leben, -als Gegensätze der Sphären, der Regungen, der Charaktere entgegentritt, -aufzulösen und zu vereinigen wissen in der Musik, die durch dieses -Stück so waltet wie in Rembrandts Schöpfungen. Das hat sehr schön Hugo -von Hofmannsthal gesehen und zum Ausdruck gebracht, und besonders gut -weist er auch auf diese gegenseitige Ergänzung des oberen und unteren -Bereichs hin: „Welche Lichter auf dem Finsteren, welches Leben des -Schattens durch das Licht.“</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_6" id="Seite_6">[S. 6]</a></span></p> - -<p>Das Stück setzt, so wie der König Lear, in der Staatsszene, die den -Eingang bildet, sofort mit einem Sprung in die Haupthandlung hinein: -der Herzog entfernt sich aus Wien, seiner Hauptstadt, und übergibt aus -besonderen Gründen dem jungen Angelo mit voller Statthalterhoheit das -Regiment; einen alten, klugerfahrnen Mann, Escalus, der eigentlich das -nächste Anrecht auf die Vertretung des Herzogs hätte, gibt er ihm nur -als Gehilfen bei. Was sind das für Gründe besondrer Art? Was ist Angelo -für ein Mann? Das merken wir, daß die besondern Gründe in ihm, in -seiner Natur liegen; ihn selbst aber, wie er ist, zeigt uns der Dichter -noch lange nicht; und auch, was der Herzog über ihn zu ihm selbst -äußert, ist zwar von entscheidender Wichtigkeit, aber mit Absicht -dunkel gehalten; so dunkel, daß die meisten Übersetzer, die ich habe -prüfen können, — zumal der neueste und doch wohl allerschlechteste, -Hans Olden — den Sinn verfehlt, oft ins Gegenteil verkehrt haben; der -Herzog sagt:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft13">Angelo,</div> - <div class="verse">Auf deinem Leben zeigt sich eine Prägung,</div> - <div class="verse">Die dem, der aufmerkt, deinen Lebenslauf</div> - <div class="verse">Völlig enthüllt. Du selbst und deine Gaben</div> - <div class="verse">Sind nicht so ganz dein eigen, daß du dich</div> - <div class="verse">An deine Tugenden, noch sie an dich</div> - <div class="verse">Verschwenden darfst. Der Himmel macht’s mit uns,</div> - <div class="verse">Wie wir’s mit Fackeln tun: um ihretwillen nicht</div> - <div class="verse">Entzünden wir sie; wenn die Tugenden</div> - <div class="verse">Aus uns heraus nicht flössen, wär’ es so,</div> - <div class="verse">Als hätten wir sie nicht...</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Ein paar Szenen weiter, nachdem Angelo dem Rat, dem Gebot prompt -gefolgt ist und schon begonnen hat, seine Tugenden in die Welt wirken -zu lassen, hören wir vom Herzog in seinem Gespräch mit dem Bruder -Thomas schon deutlicher, wie er’s gemeint hat: die scharfen Gesetze, -über die das Land verfügt, hat dieser Fürst in den vierzehn Jahren -seiner<span class="pagenum"><a name="Seite_7" id="Seite_7">[S. 7]</a></span> milden Regierung kaum zur Anwendung gebracht; so ist vielerlei -Zügellosigkeit eingerissen,</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Die Freiheit zupft dem Rechte an der Nase;</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>würde er selbst jetzt mit einem Male auf die Gesetze zurückgreifen, die -fast vergessen wurden, so wäre das eine Härte, die er geneigt wäre, -Tyrannei zu nennen. Denn hatte er nicht selbst all die Schlechtigkeiten -geradezu geboten?</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Denn wir gebieten’s,</div> - <div class="verse">Wenn wir der Übeltat den Freipaß geben,</div> - <div class="verse">Anstatt der Strafe.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Darum also soll Angelo,</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">ein Mann</div> - <div class="verse">Der keuschen Selbstbeherrschung und der Strenge,</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>wie uns jetzt gesagt wird, den Gesetzen wieder Geltung verschaffen. -Und mit den Worten, die wir vorhin hörten und die keineswegs bloß uns, -die auch Angelo selbst dunkel bleiben sollen, hat er ihn dazu bringen -wollen und dazu sofort dazu gebracht, aus sich herauszugehen und seine -Tugenden — im Anschluß an die alten Gesetze — an die Anwendung zu -lassen. Der Herzog hat aber, er deutet es Bruder Thomas schon an, -noch einen geheimen Hintergedanken: nicht bloß sollen die Gesetze -jetzt wieder zu Leben erweckt werden; diesen Statthalter, der nun auf -öffentlichem Gebiet seine Tugenden ans Werk lassen soll, will er prüfen.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Herr Angelo ist genau</div> - <div class="verse">Und sieht sich vor. Kaum, daß er zugibt, Blut</div> - <div class="verse">Fließ’ ihm in Adern oder es gelüste</div> - <div class="verse">Ihn mehr nach Brot als Stein; die Probe lehrt,</div> - <div class="verse">Wie sich im Machtbesitz der Schein bewährt.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Nach diesen Worten sehen wir schon viel deutlicher in das Verhältnis -des Herzogs zu dem jungen, begabten Mann, den er zu seinem Statthalter -gemacht hat: etwas Strenges, Asketisches, Welt- und Wirkungscheues -hat Angelo bisher an sich gehabt; drum hat der Herzog ihn ermahnt, er -solle sein<span class="pagenum"><a name="Seite_8" id="Seite_8">[S. 8]</a></span> Licht der Welt leuchten lassen, solle seine Tugend auf die -Menschen anwenden; und den weitesten Spielraum hat er ihm gelassen, -überdies noch zu dem Versuch, in seinem Staat für Zucht und Ordnung zu -sorgen. Bist du so tugendhaft, hier hast du Arbeit! Verschwende nicht -deine Tugenden in dir, in sich selbst; gib ihnen entfesselte Freiheit, -so wie in meinem Lande die bösen Triebe allzu lange diese Freiheit -genossen haben.</p> - -<p>Das soll sich also nun zeigen; die Widersprüche der Menschennatur -sollen an den Tag kommen; der Gegensatz von Schein und Wesen, vor allem -von Reden und Handeln soll heraustreten. Ganze Systeme hat sich das -Reden geschaffen: das System der Tugend oder die Moral; das System der -Religion; das System des Rechts. Sie alle treten in diesem Stück auf -und spielen ihre Rolle; und ihnen allen treten die leibhaften Tatsachen -gegenüber und entlarven sie.</p> - -<p>Eine kleine Probe solcher Kritik bekommen wir gleich zu Beginn der -zweiten Szene in einer kleinen episodischen Einlage. Der Herzog hat -absichtlich seine Spuren verwischt; am Hof meint man, er sei in den -Krieg gegen Ungarn gezogen; die Berufsoffiziere kennen aber seine -milde, vernünftige Natur und fürchten, es könne zu einem Vergleich mit -dem Feind kommen. Da seufzt einer den frommen Wunsch:</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>Der Himmel schenk’ uns Frieden; nur nicht mit dem -König von Ungarn!</p></div> - -<p>Und ein andrer ruft Amen dazu. Da spottet der Edelmann Lucio mit seinem -bösen Mundwerk:</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>Du amenst wie der andächtige Seeräuber, der sich mit den zehn -Geboten einschiffte, aber eins davon von der Tafel auskratzte.</p></div> - -<p>Da lachen sie und wissen gleich, welches Gebot der Seeräuber nicht mit -auf seine Berufsfahrt nahm: Du sollst nicht stehlen.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - - <div class="verse">Ja, das schabte er weg.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_9" id="Seite_9">[S. 9]</a></span></p> - -<p>Und einer der Offiziere macht sofort die aufrichtige Nutzanwendung:</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>Kein rechter Soldat ist unter uns, der im Tischgebet an der Bitte -um Frieden Gefallen fände!</p></div> - -<p>So geht’s, das sehn wir sofort nach der kurzen feierlichen Einleitung -der Übergabe des Regiments, in diesem Staat, in dieser Stadt Wien zu: -es gibt gewisse allgemeine Normen, gewisse Lehren, die ihre Wortmacht -üben, so daß man sie mit den Lippen bekennt; aber im vertrauten -Kreis macht man kein Hehl daraus, daß dieses Allgemeine sich auf die -besondern Stände und Interessen in Wirklichkeit gar nicht anwenden läßt.</p> - -<p>Und nun ist ein junger Mann ans Ruder gekommen, nicht durch Ehrgeiz -oder Usurpation; er hatte sich’s, wir haben es wohl zu beachten, nie -träumen lassen, so hoch hinauf zu kommen; und er muß ja auch von -vornherein annehmen, daß es nur für eine Weile ist und daß er für -alles, was er verfügt, Rechenschaft abzulegen haben wird; wir wissen -zunächst weiter nichts von diesem Statthalter, als daß er ein strenger -Idealist oder Ideologe sein soll. Wo wird er zunächst angreifen? -Welches Gebiet liegt seinem Reform- und Reinigungseifer am nächsten?</p> - -<p>Noch ehe wir so weit sind, über Angelos Wesen, seine Sittenstrenge und -Selbstbeherrschung aus dem Mund des Herzogs etwas zu erfahren, sehen -wir, daß dies das Gebiet ist, auf dem der Rigorist vor allem eingreift: -die Gesetze zur Aufrechterhaltung und Hebung der Sittlichkeit sind -da — nicht von diesem Herzog, der sie kaum angewandt hat, gegeben, -sondern von seinem Vorgänger — nun soll Ernst gemacht werden. Die -Freudenhäuser in den Vorstädten sollen niedergelegt werden; den -Kupplern und Kupplerinnen will Herr Angelo das Handwerk legen; ein -junger Edelmann, Herr Claudio, der einem Mädchen — das er sogar zu -heiraten gedenkt, nur aus Gründen der Mitgift ist der Akt verschoben -worden — ein Kind gemacht hat, ist verhaftet<span class="pagenum"><a name="Seite_10" id="Seite_10">[S. 10]</a></span> worden; auf diesem -Verbrechen steht nach dem Gesetz der Tod.</p> - -<p>An dem nämlichen Tag, an dem Claudio ins Gefängnis abgeführt wird, -tritt seine Schwester Isabella ins Kloster ein, um da als Novizin ihre -Probezeit durchzumachen. Aber sie wird ganz anders, als sie sich’s -dachte, wird mitten in der Welt geprüft, wird in die Prüfung Herrn -Angelos verwickelt. An sie wendet sich der Bruder durch Vermittlung -eines Freundes: sie soll durch Freunde und vor allem persönlich beim -Statthalter tun, was sie irgend kann, um ihren Bruder zu befreien. So -widerwärtig dem reinen Mädchen, das in einem Zusammenhang, von dem wir -nichts Äußeres wissen, im Begriffe steht, der Welt Valet zu sagen, -ehe es sie aus Erfahrung kennt, diese Männergeschichten sind, so weiß -sie doch, daß der Fall hier anders liegt, als der Anschein sagt: das -Mädchen, das Mutter werden soll, ist ihre Freundin, sie hat schon immer -gewünscht, daß ihr Bruder sich mit ihr vermähle. Und dann: der Tod! -Tod, weil gegen die Ordnung des Staats, aber nach der Ordnung der Natur -ein neuer Mensch geboren werden soll! Sie ist bereit, zur Rettung alles -zu tun, was sie kann.</p> - -<p>Wie allmählich, wie zurückhaltend Shakespeare diesmal seine Motive -bringt! Da haben wir, jetzt ganz im Hintergrund, den Herzog, den die -Leute seiner Regierung und das Volk im fernen Polen glauben, der sich -aber in einem Kloster verbirgt, um bald als Mönch zum Volk und zum -Statthalter zu gehn, und zu sehen, wie die Dinge sich entwickeln. Da -ist der junge Mann im Gefängnis, vom Tode bedroht, und seine fromme -Schwester soll helfen. Und da ist der Herr über Leben und Tod, der -stellvertretende Fürst, Herr Angelo, und noch wissen wir nichts von -seinem innern Wesen, noch kennen wir ihn nur aus Amtshandlungen und -Kennzeichnungen aus dem Munde andrer; von seinem privaten Leben sehen -wir gar nichts. Können wir uns auf das verlassen, was die Leute so -über ihn sagen, jetzt zum Beispiel Claudios<span class="pagenum"><a name="Seite_11" id="Seite_11">[S. 11]</a></span> mit dem Mundwerk so -leichtfertiger Freund Lucio, der Herrn Angelo also schildert:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">... ein Mann, des Blut</div> - <div class="verse">Zerlass’ner Schnee ist; einer, der der Sinne</div> - <div class="verse">Begier und süßen Stachel niemals fühlt,</div> - <div class="verse">Nein, stumpft und schwächt den Antrieb der Natur</div> - <div class="verse">Durch Geistesarbeit, Fasten und Studieren.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Ist er so? Ist damit alles über ihn gesagt? Nicht sehr wahrscheinlich; -Lucios Psychologie steht auf schwachen Beinen: die Heiligen und -Anwärter zur Heiligkeit, die durch Fasten und Kasteien ihre Triebe im -Zaum halten, spüren die Regungen und den Aufruhr der Sinnlichkeit nur -allzu stark. Sollte das vielleicht der Fall des jungen, strengen Mannes -sein, den der Herzog jetzt aus seiner Abgeschiedenheit holte und in die -freie Welt, in die Welt des Befehls und der Verantwortung stellte?</p> - -<p>Mit solchen Fragen und auf wahre Innerlichkeit gespannten Erwartungen -treten wir in den zweiten Akt ein, in dem nun sofort Angelo als -Hauptperson dasteht.</p> - -<p>Bei einem Aufbau, wie ihn Shakespeare hier gewählt hat, daß eine -Person inmitten des Dramas agiert, deren letztes Wesen und Geheimnis -noch unbekannt bleibt und erst später enthüllt wird, könnte es eine -Schwierigkeit für den darstellenden Künstler sein, daß er von allem -Anfang an einen ganzen Menschen hinstellen muß, während wir nach der -Absicht des Dichters noch im Unbestimmten bleiben, das Ganze noch gar -nicht durchschauen sollen. Hier ist das keine ernste Schwierigkeit, -weil Angelo, das sehen wir jetzt sofort und er sagt es überdies selbst, -solange er’s irgend vermag, nicht in seiner privaten Menschlichkeit -unter die Leute geht, sondern in der Rolle seines Amtes. Wie es mit -ihm bestellt war, als er noch in seinem Wiener Palast sein strenges, -privates Leben führte, ob auch da die Sittenstrenge ein Gewand war, -das er aus Pflicht oder sonst einem Grund über seinen Menschen -streifte und nicht auszog, das wissen wir nicht. Jetzt<span class="pagenum"><a name="Seite_12" id="Seite_12">[S. 12]</a></span> aber ist er -vom Herzog mit dem Amtscharakter bekleidet worden; den trägt er, den -hat er darzustellen, das ist seine Aufgabe im Staat, dagegen darf -nichts aufkommen. Und das eben wird in dem Drama vorgeführt, wie der -zurückgedrängte Mensch Sieger über die Rolle wird. Selbst wenn das -nicht ein so wundervolles Motiv wäre, das unser aller Leben, das im -Haus und das auf dem Markt, aufs nächste angeht, so wäre es immerhin -erstaunlich, daß das Theater sich diesem Stück trotz manchen Versuchen -in Wahrheit noch heute verschließt, einem Stück, in dessen Mitte das -Problem steht, das den Schauspieler in seiner innersten Menschheit -angeht: der Konflikt zwischen der Rolle, die ein Mensch annimmt, -und dem von dieser Rolle unterdrückten Triebleben, das, während -die Amtsperson ihre Rolle agiert, eben in der Betätigung des Amtes -herausgekitzelt wird.</p> - -<p>Escalus, der alte weise Mann, den der Herzog Herrn Angelo als nächsten -Berater unterstellt hat, bittet für den mit dem Tod bedrohten Claudio. -Da der Fall ihm arg ans Herz greift — er hat Claudios und Isabellas -Vater gekannt und verehrt —, wird er sehr warm, und es fügt sich -natürlich, daß er Herrn Angelo sagt: Kein Zweifel gegen Eure strenge -Tugend; aber bedenkt doch nur, um welches Vergehen es sich handelt, -besinnt Euch auf Euch selbst; hätte sich die Gelegenheit günstig und -verführerisch erwiesen, hättet Ihr nicht denselben Fehler begehn -können? Das ist menschlich gefragt; was Herr Angelo zur Antwort gibt, -ist in großer Art unmenschlich und heißt nichts anderes als: Richtet -euch nach meinen Worten und nicht nach meinen Taten, und noch viel -weniger nach Trieben, Gelüsten und Regungen meiner Natur.</p> - -<p>Was Angelo hier, in Vornehmheit und Amtswürde eingehüllt, ohne mit der -Wimper zu zucken, ohne über seine Natur das geringste zu verraten, -verkündet, ist weder Tartüfferie noch Heuchelei zu nennen. So viel ist -jetzt schon sicher, wo wir den Mann immer noch von außen abtasten: -eine solche vereinfachende Karikatur wie den Tartuffe hat Shakespeare<span class="pagenum"><a name="Seite_13" id="Seite_13">[S. 13]</a></span> -mit diesem Herrn Angelo nicht dargestellt; eher könnten wir darauf -gefaßt sein, daß das, was Molières elende Psychologie als Heuchelei -des isolierten Individuums gegeben hat, von Shakespeare in seinen -gesellschaftlichen Zusammenhang eingefügt wird. Angelos Erklärung, -Recht müsse Recht bleiben, auch wenn unter den zwölf Geschworenen, -die einen Dieb verurteilen, einer oder zwei sitzen, die ärgere Diebe -seien als der Beschuldigte, seine Erklärung, der Richter habe das -Gesetz anzuwenden, ohne an seine eigene Natur, an seine eigenen -verbrecherischen Triebe auch nur zu denken, diese Losung, die wir -nannten: Richtet euch nach meinen Worten und nicht nach meinen Taten, -— das ist in Wirklichkeit die Losung jeglicher Kirche, worunter hier -jede Organisation zu verstehen ist, in der fehlbare Menschen die -Hüter und Rächer eines Idealismus sind. Es geht in dieser gewaltigen -Komödie nicht um so eine vom primitiven, abkürzenden, verleumderischen -Denken erfundene Figur wie den Tartuffe, mit der man die Lacher aller -Stände mit Ausnahme des jeweils betroffenen immer auf seiner Seite -hat, sondern es geht um dieses Grundproblem der Kirche, der Schule, -des Staats und seiner Rechtsordnung, um ein Problem von unendlicher -Erhabenheit und unendlicher Komik, um ein Problem, das immer wieder -neu ersteht, solange der Pfarrer in der Sakristei den Talar über den -bürgerlichen Anzug streift, unter dem sein nackter Leib sitzt, solange -der Richter in der Robe sich zur Frühstückspause zurückzieht, solange -es in unsern Menschengesellschaften Bacons Idole gibt, an welche man -hier, ohne vor den törichten Schlußfolgerungen der Baconianer Angst zu -haben, sachlich zu erinnern hat<a name="FNAnker_1_1" id="FNAnker_1_1"></a><a href="#Fussnote_1_1" class="fnanchor">[1]</a>. Ehe wir Herrn Angelo wegen der<span class="pagenum"><a name="Seite_14" id="Seite_14">[S. 14]</a></span> -These, die er hier verficht, einen Heuchler nennen, wollen wir uns -besinnen, ob wir nicht wie er in unsrer Maske stehn, wenn wir als Vater -oder Mutter mit unsern Kindern, als Kaufmann mit unsern Kunden, als -Offizier mit unsern Soldaten, als Arzt mit unsern Patienten, als Mann -mit der Frau, als Mensch mit Menschen, ja sogar als einzelner mit uns -selbst und unsern Bedürfnissen zu tun haben.</p> - -<p>Vielleicht verstehen wir jetzt besser, was es mit dem Problem auf -sich hat, das Shakespeare hier behandelt, und mit der Behauptung -der Prüderie, dieses Problem könne und dürfe bei uns nicht komisch -behandelt werden, das Problem nämlich des Zusammenstoßes zwischen -Geschlechtsleben und Rechtsordnung. Vielleicht verstehen wir jetzt -besser, warum es grade die Grundnatur des Tiermenschen, das Geschlecht -ist, mit dessen Regulierung sich hier der Fürst und oberste Richter zu -beschäftigen hat. Vielleicht verstehen wir jetzt auch schon, warum in -diesem Stück die niedrige Sphäre der Hurenwirte und Kuppelknechte einen -so breiten Raum einnimmt, verstehen, warum hier auch der niedrigste -Standpunkt der Kritik an diesen Regulierungen des Staates zu Wort -kommt, so, wenn zum Beispiel der Kuppelknecht, der den pompösen Namen -Pompejus führt, bei den neuen Maßnahmen und Verfolgungen erstaunt fragt:</p> - -<p>Soll die ganze Jugend in der Stadt kapaunt und wallacht werden?</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_15" id="Seite_15">[S. 15]</a></span></p> - -<p>Und wie das verneint wird, begreift er gar nichts mehr; braucht man -denn nicht Freudenhäuser oder so ähnliche Anstalten, solange es lockere -Buben und liederliche Dirnen gibt?</p> - -<p>In der Tat ist das Geschlechtsleben von allen Grundtrieben des -Menschen bei weitem der geeignetste, um auf der Bühne mit der Maske -der Gerechtigkeit und Hoheit konfrontiert zu werden. Ein Zeichner kann -eine komische Wirkung schon erzielen, wenn er einen Priester den Talar -hochheben läßt, um, sagen wir, einen Floh zu fangen; oder wenn er einen -Monarchen in seinem Ankleidezimmer im Hemd zwischen den Uniformen -seiner verschiedenen Regimenter und Feldherrnstellen im In- und Ausland -zeichnet; eminent komisch wirkt es, wenn wir etwa in einem Briefe -Mirabeaus lesen, die Abgeordneten der Nationalversammlung hätten eine -Sitzung in einem entscheidenden und kritischen Moment unterbrochen, -weil sie das Bedürfnis verspürten, zu pissen; aber alle solche -natürlichen Bedürfnisse und Verrichtungen, auch das Essen und Trinken, -haben nicht annähernd eine so seelische Weite wie das Geschlecht, -das in seiner Verbindung mit Wildheit, unbezwingbar Leiblichem und -erschütterter Innigkeit das Tierische in uns mit der Phantasie und dem -Geiste in nächste Beziehung bringt, das vor allen Dingen durch seine -Polarität das Element des Dramatischen schon in sich trägt. So daß mich -dünkt, Shakespeare hätte sich auf das, was aus dramatischen und eminent -wichtigen ethischen und sozialen Gründen auf unsre Bühne gehört und in -höchst bedeutendem Sinne komisch zu behandeln ist, besser verstanden -als seine Kritiker.</p> - -<p>Irgend etwas muß in Angelo leben, was ihn zu der unnahbaren Pose des -Monarchen, der die staatliche, schon fast die göttliche Gerechtigkeit -zu repräsentieren hat, besonders geeignet macht; und der Herzog muß -es bemerkt haben. Aber ein andres — oder ist es das selbe? — lebt -noch dazu in ihm, was die Grenze der Strenge bis zur Härte, bis zu -einer fast wilden Grausamkeit hin überschreitet. Von dem Verhör<span class="pagenum"><a name="Seite_16" id="Seite_16">[S. 16]</a></span> der -armseligen Kupplergesellschaft wendet er sich schließlich wie ein -Gelangweilter ab und kann den Wunsch nicht unterdrücken, es möchte -sich Grund finden, alle miteinander auszupeitschen. Mild und klug, als -ein Mann, der in seinen hohen Jahren es noch nicht aufgegeben hat, mit -Warnungen, Verweisen, bedingter Strafandrohung zu arbeiten, zeigt sich -dagegen Escalus. Aber er, so will es für diese Zwischenzeit der Prüfung -der Herzog, darf der Gerechtigkeit, sagen wir besser, der Justiz, nur -dienen; Angelo ist ihr Herr.</p> - -<p>Zu diesem Herrn des Rechts, der schon auf den nächsten Tag die -Hinrichtung Claudios verfügt hat, kommt nun, um den Starren zu beugen, -die angehende Nonne Isabella, des Verurteilten Schwester. Himmel -und Welt treffen da auf einander, Welt in den beiderlei Formen von -Staatsregiment und privatem Libertinismus. Furchtbar ist es diesem -herben, keuschen Mädchen, daß sie für eine Sünde eintreten muß, die ihr -vor allen verhaßt ist; so sind in diesem Zwiegespräch, das nun anhebt, -die Rollen verteilt: Isabellas Natur sträubt sich gegen alles, was mit -geschlechtlicher Unordentlichkeit im geringsten zu tun hat, sie hat -aber, aus Liebe zu ihrem Bruder, das Amt übernommen, ihn zu erretten; -Herr Angelo hat das Amt, ihn zum Gericht und zum Tode zu bringen; wie -steht es mit seiner Natur? Was sagt die dazu?</p> - -<p>Isabella hebt damit an, daß sie bittet, die Schuld und den Schuldigen -zu trennen; die Schuld soll verdammt werden, nicht ihr Bruder. -Schwächer könnte sie’s nicht beginnen; aber auch nicht gefährlicher -für sich selbst; denn was geht es den Hüter des Rechts an, daß der -Verurteilte eine Schwester hat? Lenkt sie nicht in ihrer Verlegenheit, -in ihrer Scham sofort den Blick auf sich? Und tut sie übrigens damit -nicht das, was ihr verzweifelter Bruder und sein leichtfertiger Freund -Lucio von ihr erwarteten? Wenn Claudio meinte:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Ihre Jugend</div> - <div class="verse">Spricht sprachlos eine wirkungsvolle Mundart,</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>was kann er andres gewollt haben, als daß sie mit ihrem<span class="pagenum"><a name="Seite_17" id="Seite_17">[S. 17]</a></span> Persönlichen -durch die starre, stachlige Hecke des Rechts hindurch auf die Person -Herrn Angelos wirken solle? Wie schön wäre das, wenn die reine -Menschlichkeit der Jungfrau alle Überzüge, Decken, Masken und Kostüme -der Wortsysteme entfernte und zur reinen Menschlichkeit des Fürsten -durchdränge? Aber ist das, in dieser Situation, unter Menschen, wo -ein Menschliches ganz andrer Art dazwischen steht, zu erwarten? Wird -es vielmehr nicht dahin kommen, daß Mensch von Mensch, wie sie jetzt -getrennt sind durch das trotz allem ideale Gestrüpp des Rechts, nach -dessen Entfernung noch viel tiefer getrennt sind durch das, was sich -statt dessen zwischen ihnen erhebt und sie zusammenwerfen will? Das ist -die Frage, vor die wir jetzt gestellt sind; und um dieser Frage willen -ist das Stück so gebaut, daß wir Herrn Angelo nicht kennen, nichts von -seinem Wesen, nichts von seinem Leben.</p> - -<p>Auf diese Anforderung Isabellas, die Schuld zu verdammen, aber nicht -den Schuldigen, hat der Mann des Strafrechts leicht antworten. Die -Schuld zu verdammen, einmal für alle, dazu ist das Gesetz da. Er hat -gerade das Amt, das Gesetz anzuwenden, ohne Ansehen der Person, auf die -Personen, die es übertreten. Isabella, der ihre Rolle über die Kraft, -so ganz gegen die Natur geht, sieht es seufzend ein und will gehen. -Lucio hält sie zurück, ermahnt sie, flehentlicher zu sprechen; erinnert -sie, daß es ums Leben geht. Das bringt sie zu größerer Klarheit, was -hier ihres Amtes ist; sie darf nicht mit dem Wahrer des Rechts rechten, -sie hat um Gnade zu bitten. Das aber ist ein Punkt, wo irgend etwas in -ihm ganz besonders empfindlich getroffen sein muß; er scheint sich noch -fester in den Mantel der Justiz einzuhüllen, ehe er schroff zur Antwort -gibt:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich will’s nicht tun.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Kaum, daß er als Mann, der sich eifrig, eifersüchtig an die -Wahrheit hält, anderes sagen kann. Er ist ja nicht bloß der oberste -Gerichtsherr; ihm ist in vollem Maße, ohne<span class="pagenum"><a name="Seite_18" id="Seite_18">[S. 18]</a></span> Einschränkung, auch die -Gnade anvertraut worden. Das entnimmt sie, die, wir merken es mehr -und mehr, eine der Frauen ist, die den Geist haben, der ihrer schönen -Natur gewachsen ist, seiner kurzen Abweisung sofort; sie wird wärmer, -weil sie nun am rechten Ort ist, und fragt, stellt fest, er könne also -Gnade üben, wenn er nur wolle. Das rührt nun wieder an ein ungeheures -Problem, an kein geringeres als das der Willensfreiheit. Herr Angelo -hat in seinem Leben offenbar Gründe genug gehabt, sich mit ihm zu -beschäftigen; und der Rigorist hat es in seiner Art gelöst:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Was ich nicht tun will, seht, das kann ich nicht.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Was hilft da alles Zureden? heißt diese Antwort, aller Versuch, ihn -umzustimmen? Er kann doch den Willen nicht haben, den Schuldigen zu -begnadigen. Während wir aber dieser Dialektik zuhören, achten wir noch -auf etwas andres, kaum Merkliches. Der Mann, der da cäsarisch als Fürst -steht, ist kurz, schneidend, schroff, sachlich in seinen Antworten bei -dieser Audienz; er will seine Schuldigkeit tun, die Fürbitte zu hören, -nichts weiter. Da fällt es auf, wie er allmählich ein ganz klein wenig -weicher, wie auftauend wird; mal fügt er als Anrede das Wort „Mädchen“ -in eines seiner knappen Sätzchen ein; mal mildert er eine Schroffheit, -indem er „<em>look</em>“, seht her, dazu sagt. Man könnte wohl einwenden, -das seien kleine Flickworte des Versdichters; aber da kennte man -den Shakespeare dieser Stufe schlecht! Bei einer solchen Szene ist -jedes Wort erwogen und steht kein Wort umsonst; und so sind wir an -dieser Stelle schon ahnungsvoll gespannt, was sich weiter mit seiner -Menschlichkeit begeben wird.</p> - -<p>Und siehe da! Gleich bei seiner nächsten Replik ergibt sich zur -Evidenz: der Mann ist verwirrt, er ist nicht mehr ganz verwachsen mit -seiner Rolle, etwas in ihm fängt an, den Mann von dem Gewandträger -loszulösen und einen Spalt zu eröffnen. Denn diese Antwort:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Er ist verurteilt; ’s ist zu spät,</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_19" id="Seite_19">[S. 19]</a></span></p> - -<p>hätte er in normaler Gemütsverfassung nie geben können; so weit kennen -wir den gegen sich selbst viel mehr noch als gegen andre harten -und gewalttätigen Mann nun schon aus Schilderungen und aus seinem -eignen Auftreten. Von der Gnade ist jetzt die Rede; er kann es nicht -vergessen haben; und für Gnade ist es niemals zu spät. Isabella merkt -auch sofort, daß da so etwas wie eine nachgiebige Stelle ist; jetzt -erst läßt sie ihre schöne Menschlichkeit in ihr bitteres Geschäft, -sie wird warm, lebhaft beseelt. Sie weiß ja, fühlt ja im Innersten, -daß die Gnade, die menschliche Nachsicht mit der wahren Menschheit, -wie sie in ihr selber lebt, mehr zu tun hat als das starre Recht. Sie -spricht als eine Liebende; Eros redet aus ihr; und sie, die Strenge, -Züchtige, Herbe, beinahe schon Nonne, ahnt nicht, wie der Eros und das -Geschlecht bei dem einen aufs feinste, bei dem andern aufs gröbste und -leidenschaftlichste beieinander wohnen, sie ahnt nicht, was sie in -dem Manne erweckt, dem sie mit ihren kühnen, beflügelten, erwärmenden -Worten, mit der ganzen Bewegtheit ihrer Seele, die aus Augen und Mienen -und Haltung zu ihm hinüberstrahlt, das Amtskleid herunterreißt! Sie -will die Liebe, die Gnade darunter zeigen, wenn sie sagt:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Seid gewiß,</div> - <div class="verse">Nicht festliches Gepräng’ und große Herrn,</div> - <div class="verse">Nicht Königskrone noch Statthalterschwert,</div> - <div class="verse">Des Marschalls Stab, des Richters Amtsgewand,</div> - <div class="verse">Nicht geben die nur halb so schönen Schmuck,</div> - <div class="verse">Wie Gnade gibt.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Irgendwie wird auch in ihr selbst in dem Grade und in der Art, wie -es der keuschen Seele ziemt, damit, daß sie das so sagt, eine Hülle -dünner, die das Geschlecht von dem Geiste des Eros in ihr trennt, -und sofort findet sie die Brücke von ihrem Appell an die Gnade zu -der Betrachtung: Wie bist du Mann denn eigentlich selbst in deinen -Regungen?</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_20" id="Seite_20">[S. 20]</a></span></p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wär’ er wie Ihr, und wäret Ihr wie er,</div> - <div class="verse">Ihr wärt wie er gestrauchelt, doch nicht wär’ er</div> - <div class="verse">Wie Ihr, so finster streng.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Das trifft; diese Betrachtungen liegen dem Mann des Determinismus nahe -genug; und vielleicht hat er auch sonst in seinem Inwendigen Gründe zu -solchen Erwägungen, der Heilige? Aber heute hat er ganz Ähnliches schon -einmal gehört, von Escalus, und da hat er scharf und trefflich erwidern -können, ganz in der Hoheit des Amtes und der Ideologie:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nicht dürft Ihr sein Vergehn drum schmälern, weil</div> - <div class="verse">Auch ich ja fehlen könnt’, nein, lieber sagt mir,</div> - <div class="verse">Wenn ich, der ihn bestraft, mich so vergehe,</div> - <div class="verse">Mein eigner Spruch sei dann mein Todesurteil.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Was aber weiß er jetzt zu erwidern? Er sagt:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich bitt’ Euch, geht nun,</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>sagt es dumpf, als handle es sich um etwas für ihn Persönliches, was -er fast nicht mehr aushalten könne. Sie aber wird davon, von diesem -Hauch des Verstehens, der von ihm zu ihr geht, nur kühner, sie ist -jetzt mit Feuereifer, mit Hingegebenheit, mit Größe bei ihrer Sache. -Erst zeigt sie ihm, was sie für ein ganz andrer Richter an seiner Statt -wäre, wenn er als Isabella vor ihr stände; sie kann nicht ahnen, was -sie mit dieser Vertauschung in dem wüsten Manne anrichtet, der bei -dieser Vorstellung fast zurückweicht; Lucio, der mit dem Kerkermeister -dabei steht, merkt es wohl. Sie aber ist eine so reine himmlische -Seele und lebt so in den innigsten Vorstellungen ihrer Religion, daß -sie von diesem Gedanken, sie wäre Richter, sofort wieder zur Gnade -übergeht, die seinen mechanisch stereotypen Einwand, das Gesetz habe -gesprochen, fortweist. Und wieder, von noch höher oben, erinnert sie -ihn: Bist nicht auch du ein Sünder? Ähnlich ihrer Schwester Porzia, -aber christlicher getönt, wie es der Novizin natürlich ist, ruft sie -ihm in die Seele hinein:</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_21" id="Seite_21">[S. 21]</a></span></p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wie? Was an Seelen war, das war verfallen,</div> - <div class="verse">Und er, dem Fug und Grund zur Strafe war,</div> - <div class="verse">Fand noch Vermittlung. Was wohl würd’ aus Euch,</div> - <div class="verse">Wollt’ er, der Allerhöchste des Gerichts,</div> - <div class="verse">Euch richten, wie Ihr seid?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Während sie so sprach, dadurch, daß sie so sprach, ist viel, ist -Großes, ist fast schon Entscheidendes in ihm vorgegangen. Irgend -einer in ihm hat einer Stelle in ihm eine Erlaubnis gegeben; etwas -ist losgelassen worden. Er wird aufgeräumt, zutraulich, freundlich, -und — oh über uns seltsame Menschenkinder! über das absonderliche -Verhältnis in uns zwischen Trieb und Geist! — gerade dadurch, daß er -da drunten irgendwo den Mann der Erhabenheit, den Mann im Amtskleid -verrät und dadurch freier wird, ein Erlöster in ganz anderm Sinn, als -die Christin jetzt eben dies Wort an sein Ohr klingen läßt, grade -dadurch kann er die Sache seines Amtes jetzt wieder besser, jetzt -wieder mit trefflichen Gründen verteidigen. Er ist nicht mehr starr und -zugeknöpft; „schönes Kind“ sagt er zu ihr, und wie sie denn wieder, -jetzt gar nicht mehr widerstrebend, im Feuereifer ihrer Rolle, der -sie so sehnsüchtig Erfolg wünscht, von den „Vielen“ spricht, die -dasselbe getan wie ihr Bruder, da doziert er ihr mit offenbarer Freude, -wohlgefällig und mit vorzüglicher Beherrschung der Sache seine Theorie -des Strafrechts:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nicht tot war das Gesetz, wiewohl es schlief.</div> - <div class="verse">Die ‚Vielen‘ hätten nicht gewagt den Frevel,</div> - <div class="verse">Wenn gleich der erste, der die Vorschrift brach,</div> - <div class="verse">Gebüßt hätt’ seine Tat.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und wie sie ihn von dem starren Recht abbringen will und sein Mitleid -anruft, da fährt er gewandt, elegant, beredt und grausam fort, Mitleid -erweise er am meisten, wenn er Gerechtigkeit erweise:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Denn Mitleid zeig’ ich dem, den ich nicht kenne,</div> - <div class="verse">Den die erlaßne Schuld einst schäd’gen würde,</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_22" id="Seite_22">[S. 22]</a></span> - <div class="verse">Und tu’ dem Recht, der, büßt er ein Vergehn,</div> - <div class="verse">Ein zweites nicht erlebt...</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Das alles ist für Isabella, an der wir mit immer innigerer Freude -die schöne, seelen- und geistvolle Natur entdecken, unbegreiflich -unmenschliche Überhebung und Pose; so ein kleiner Mensch will den -strafenden Gott spielen, wo Gott selber lieber für unsre Sünden den -Martertod erlitt, als daß er strafte!</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Oh, es ist herrlich,</div> - <div class="verse">Zu haben Riesenkraft; doch ist’s tyrannisch,</div> - <div class="verse">Zu brauchen sie als Riese!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Sie fühlt sich ihm nun, ohne zu ahnen, wieso der Machthaber -einschrumpfte und der Mensch vor ihr wie in Fesseln kam, überlegen; es -kommt wie Glück, wie Heiterkeit über sie; und mit der Vorwegnahme des -Gefühls, sie könne ihren Bruder retten, fällt von ihr das Christelnde -ab; sie wird weltlich, witzig, heidnische Vorstellungen, in denen sie -in der gebildeten Sphäre ihres edeln Vaters aufgewachsen ist, werden -von Angelos Theorie des gestrengen Rechts, nach dem jeder für seine -Taten büßen muß, damit andre sich von ihnen abschrecken lassen, erweckt:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">Wenn Große donnern könnten,</div> - <div class="verse">Wie Zeus es selbst kann, Zeus fänd’ nimmer Ruhe,</div> - <div class="verse">Denn jedes winzige Beamtlein würde</div> - <div class="verse">Aus seinem Himmel donnern, nichts als donnern!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Sie erkennt, sie durchschaut den Mann, der jetzt selbst wie -niedergedonnert kläglich vor ihr steht, wäre sie gleich erschrocken, -wenn ihr einer von einem Wissen in ihr spräche, von dem sie in der -obern, oberflächlichen Region unsres Geistes nichts weiß. Sie redet von -dem Hochmut des Menschen; und in dem</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse"><em>man, proud man</em></div> - </div> - </div> -</div> - -<p>klingt noch etwas anderes, klingt das spezifisch Männische in dem -herrschenden Menschen an; von der armseligen autoritären Gewalt redet -sie, von der gläsernen Gebrechlichkeit<span class="pagenum"><a name="Seite_23" id="Seite_23">[S. 23]</a></span> dieses Herrschaftsmannes, der -sich wie ein wütiger Affe aufspielt, — sie weiß und weiß nicht, was -sie dem Manne da vor ihr, da unter ihr sagt. Er wird ganz verwirrt, -weiß gar nichts mehr zu sagen, schweigt und stammelt schließlich -beinahe die Frage, wozu sie ihn mit all den Worten überhäufe; und sie -nimmt herzhaft ihre ganze Kühnheit zusammen und schneidet mit großem -Zuruf den Würdenträger vom Menschen ab:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Greift in den Busen,</div> - <div class="verse">Klopft an und fragt Euer Herz, ob nichts drin wohnt,</div> - <div class="verse">Gleich meines Bruders Fehl. Wenn’s nur bekennt</div> - <div class="verse">Natur<em class="gesperrt">trieb</em>, so zu sündigen wie er,</div> - <div class="verse">So tön’ auf Eurer Zunge auch kein Laut</div> - <div class="verse">Von meines Bruders Tod.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Nönnlein! Nönnlein! Nur allzu gut ist dir geglückt, was du da -unternahmst! Isabella hat Herrn Angelo mit diesen Worten, mit all -ihrem schönheitsvollen, seelenberauschten Wesen das Amtsgewand -heruntergezogen; aber der Arme, der Gepeinigte, der Peiniger seiner -selbst! Darunter ist, meint er, nicht die seelenvolle Güte und Gnade, -sondern der nackte, pochende, fiebrig gierende Leib. Wir aber, die -wir ihn besser kennen, als er sich selbst, dürfen vorwegnehmend -sagen: der Mann, der so lange den kalten Juristen sich und der Welt -vorgespielt hat, der strenge Mann, der sich selbst vergewaltigt, der -seine Triebe unterdrückt hat, der vielleicht von einer Gewissensschuld -erdrückt wird, die er weit aus dem Gedächtnis verbannt, der nimmt -da etwas für Brunst, für wütende, unwiderstehliche Geilheit, was -seelische Innigkeit, was Mitfreude wäre, wenn er seine gute Natur nicht -verfälscht und verwandelt hätte. Kaum ist sie weg — denn sowie er die -Sinnlichkeit deutlich in sich hochsteigen fühlt, schickt er sie eilends -fort, morgen soll sie wiederkommen, er flieht vor ihr und vor sich -selbst, indem er sie für heute entläßt, aber — wie vielfältig ist der -Mensch! — heute sind auch Zeugen bei der Unterredung, morgen werden -sie wohl allein sein — da bekennt er sich, da fragt er sich staunend:</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_24" id="Seite_24">[S. 24]</a></span></p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Ist es möglich denn,</div> - <div class="verse">Daß Sittsamkeit mehr unsre Sinne aufrührt</div> - <div class="verse">Als Weiberlockung?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Es ist nur möglich bei Gewaltsmännern gleich ihm, die so anfällig sind, -daß sich in ihnen die wunderzarte Erotik, die bei jeder Seelenfreude, -Seelenbewegtheit auch das Geschlecht leise rege macht, in tobende Sucht -verwandelt. Er wehrt sich, wehrt sich mit gewaltiger Anstrengung, hält -sich ihre Reinheit, ihre Tugend, ihre Himmelsart vor, aber gerade -damit, daß er ihre Seelenschönheit und den Ausdruck, den sie im -bewegten Leibe findet, vor seine verwahrloste und verderbte Phantasie -stellt, wird sein schmerzlich-begehrender Überwältigungstrieb zu diesem -Weibe hin immer ärger.</p> - -<p>Dieses Gespräch zwischen Angelo und Isabella ist von dem zweiten, -das, wir fühlen es voraus, entscheidend sein wird, nur durch eine -kurze Szene getrennt, die uns in unsrer erwartungsvollen Erregung -eine Trosteshoffnung bringt: der hinter alledem steht, der diese -Zwischenzeit der Prüfung gewollt und so ähnliche Ereignisse vielleicht -gar vorhergesehen hat, der Herzog ist als Mönch in dem Gefängnis -eingetroffen, in dem der junge Claudio auf seinen Tod wartet, und -versteht sich gut mit dem braven, menschenfreundlichen Kerkermeister. -Und dann sind wir wieder bei Herrn Angelo. Er erwartet Isabella; er -möchte beten, aber Isabellas Gestalt tritt zwischen ihn und Gott; -er will sich an den Staat, dem sonst all seine Gedanken gelten, -anklammern, aber mit einem Mal, zum ersten Mal, findet er diese -Beschäftigung langweilig und abgedroschen. Sonst streckte er sich stolz -in Amt und Würde hinein und stand aufrecht und — er bekennt es sich -— eitel in dieser Figurine da; jetzt sieht er ein: Rang und Form sind -äußre Schale und Gewand, doch</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Blut bleibt Blut!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Isabella, die nun bei dem Gepeinigten eintritt und gleich wieder -als „schönes Mädchen“ begrüßt wird, hat am Tag zuvor alles gesagt, -was sie irgend weiß; sie ist wieder herb<span class="pagenum"><a name="Seite_25" id="Seite_25">[S. 25]</a></span> und spröde geworden; und -wie sie aus Angelos ersten, gepreßten Reden entnimmt, es müsse beim -Todesurteil bleiben, wendet sie sich zum Gehen. Er hält sie aber auf, -zunächst mit einem furchtbar heftigen Ausbruch, äußerlich gegen das -Laster, das ihren Bruder zur Verdammung gebracht hat; er braucht aber -diese leidenschaftlich aufwallende Rede, einmal, um seine eigne Glut -irgendwie herauszulassen, dann, um mit dem Inhalt dessen, was er sagt, -eben diese seine Wildheit in gewalttätiger Unterdrückung zu zähmen. -So schäumt er gegen die unsaubere Lust, die das Standesamtsregister -des Staates bastardiert, die Akten fälscht, das Leben der Neugebornen -fälscht und in unheilvolle Bahnen lenkt; solche Zeugung ist nichts -Bessres als Mord! Für staatsrechtliche und gesellschaftliche Argumente -der Art, wie sie sein verzweifelter Kampf gegen sich selbst ihm aus -dem bereiten Vorrat seiner Studien und Gesinnungen jetzt über die -Lippen bringt, hat sie wenig Sinn; was ihr Bruder getan, ist ihr eine -schwere Sünde vor Gott und eine Unordentlichkeit, die ihr widerwärtig -ist; kein Verbrechen, das auf Erden, dem Staat gegenüber, mit dem Tode -gesühnt werden müßte. Bei diesen ihren Worten jubelt es in ihm; sie -wird also zu gewinnen sein, sagt er sich; er gibt den Kampf gegen sich -auf und geht zum Kampf gegen sie, zu seiner Art der Werbung über. Ganz -erbarmenswürdig, ganz erbärmlich geht er da vor; er denkt nicht daran, -sein Begehren nach ihr nun vor allen Dingen loszulösen von dem Fall -ihres Bruders; er denkt nicht daran und versteht es nicht, sich bei -dieser Frau liebenswert zu machen; seine Gier kann er nicht trennen -von der Situation, durch die sie ihm, wähnt er, verfallen ist. Haben, -erobern, besitzen will er sie, da in ihm Gewalt des Triebs hämmert, mit -Gewalt; die Gewalt des Triebs setzt sich bei diesem Mann, der darin -geübt ist, den Trieb durch den Geist zu unterdrücken, jetzt, wo er ihn -loslassen will, zur Vermittlung in Logik um. Das ist sein Instrument; -raffinierte Manneslogik soll ihm zur Vergewaltigung, zu<span class="pagenum"><a name="Seite_26" id="Seite_26">[S. 26]</a></span> nicht viel -Besserem als zur Notzucht dienen; in ein Dilemma, in diese gespreizte -Gabel der Logik will er sie hineintreiben.</p> - -<p>So legt er ihr zunächst die Frage vor, was ihr lieber wäre: daß ihr -Bruder stürbe oder daß sie ihren Leib derselben lustvollen Unsauberkeit -hingäbe, wie jenes Weib, das ihr Bruder befleckte? Sie ahnt nicht im -entferntesten, was der Mann, den sie nun als starren Theoretiker schon -kennen gelernt hat, mit der Abschweifung will, und erwidert zerstreut, -aus frommer Gewöhnung heraus, den Leib würde sie gewiß eher geben als -die Seele. Er antwortet ungeduldig; mit greulich dummer Brutalität -versteht er so, als meine sie, eine beseelte Liebe, die zu solcher -Sünde führe, wäre ihr ärger als die Preisgabe des Leibes selbst; und zu -ihrer Beruhigung sagt er, die Seele könne ganz aus dem Spiele bleiben; -es handle sich um eine pure Zwangslage. Sie versteht nicht, und er will -jetzt ganz deutlich werden:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Darauf nur gebt Antwort:</div> - <div class="verse">Ich, jetzt der Mund des gült’gen Rechtes, fälle</div> - <div class="verse">Ein Urteil über Eures Bruders Leben;</div> - <div class="verse">Wär’ etwa nicht Barmherzigkeit die Sünde,</div> - <div class="verse">Die Euren Bruder rettete?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Entzückend, wie sie nicht im entferntesten versteht, was er meint, -ganz sicher aber ist, recht zu verstehen; ja, er will barmherzig sein! -Und eifrig, beglückt versichert sie ihm, das wäre keine Sünde, solche -Gnade sei nur Barmherzigkeit. So geht es nun noch eine Weile mit dem -Mißverstehen hin und her; der elende Tropf wird ärgerlich und redet -grob, wie er wohl in schlechter Laune als Untersuchungsrichter mit -einer unlogischen oder schlauen Angeklagten umgegangen wäre; und so -legt er ihr denn knappe, ganz klare Fragen vor, um ihr jeden Ausweg -zu verrammeln. Der Bruder muß sterben; das Gesetz spricht klar dieses -Urteil. Das muß sie zugeben. Nun aber, wo er ihr bedeuten will, wie -der Bruder noch zu retten sei, hindert ihn doch die Scham, direkt -heraus<span class="pagenum"><a name="Seite_27" id="Seite_27">[S. 27]</a></span>zureden; er setzt einen Fall, wie aus der Moralkasuistik. -Gesetzt den Fall, der Bruder wäre vom Tod nur zu retten durch einen -Mächtigen oder Einflußreichen; und „dieser Supponierte“ stellte zur -Bedingung, daß sie, die Schwester, ihm ihren Leib preisgäbe; was würde -sie tun?</p> - -<p>Die Frage ist nun klar; nur daß sie noch immer keine Ahnung hat, warum -er so fragt. Sie zögert keinen Augenblick mit ihrer entschiedenen -Antwort. Wo’s um die Tugend geht, die von Seele und Züchtigkeit geboten -wird, ist sie so fest bis zur Härte, wie er’s bis vor kurzem war, wenn -sich’s um die Tugend handelte, wie sie Staat und Gesetz vorschreiben. -Nur daß in der edeln Frau die Tugend keine Idee, sondern zur Natur -gewordene seelische Notwendigkeit ist, während im Mann — selbst wenn -ihm, wie Herrn Angelo, Adel nicht fehlt — die Staatsidee immer eine -kahle Sache der Überlegung und des Verstandes bleibt, die sich gegen -ursprünglichen Naturtrieb niemals behaupten kann. Was sie tun würde? -Qualvoll sterben würde sie lieber — für ihren Bruder wie um ihrer -selbst willen —, ehe sie den Leib der Schmach gäbe.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Viel besser, daß ein Bruder einmal sterbe,</div> - <div class="verse">Als daß, ihn frei zu kaufen, eine Schwester</div> - <div class="verse">Auf ewig stürbe.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Er gibt es noch nicht auf, sie mit Theoretisieren zu fangen. Aber sie -ist jetzt, in der Wallung des Zorns bei der bloßen Vorstellung solchen -Schimpfs, wieder glühend geworden und repliziert schlagkräftig. Er -möchte ihre Härte erweichen und meint grob aufmunternd:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Gebrechlich sind wir alle!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>sagt es aber nicht entschuldigend für Claudio, nicht einmal so recht -für sich selber, sondern für die Weiber. Da gibt sie, und wundervoll -wirkt in dieser Situation die unschuldige Lebhaftigkeit ihres Geistes, -auf dieses sein Wort: Nein, auch die Weiber sind gebrechlich! zur -Antwort:</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_28" id="Seite_28">[S. 28]</a></span></p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, wie der Spiegel, drin sie sich beschaun,</div> - <div class="verse">Der so leicht bricht, wie er Gestalten formt.</div> - <div class="verse">Das Weib! — Weiß Gott, der Mann entwürdigt sich,</div> - <div class="verse">Nutzt er <em class="gesperrt">den</em> Vorteil! Nennt uns zehnmal schwach,</div> - <div class="verse">Denn wir sind sanft, so sanft wie unser Bau,</div> - <div class="verse">Und trauen falscher Prägung.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Jetzt glaubt der Mann, den die Vermengung des Triebs mit entartetem, -willfährigem Verstand zum bösen, verrannten Narren gemacht hat und den -dazu noch gerade bei diesem Bilde des schwachen, leicht verführten -Weibes eine persönliche Erinnerung ermuntern mag, sie zu haben. Sie -redet der Schwäche der Frauen das Wort; nun — er faßt sich einen -gewaltigen Mut — wir Männer sind auch nicht stärker. Sie soll nur ein -Weib sein; mehr tut gar nicht not. Und er wird deutlich genug, daß sie -endlich verstehen muß, was er ihr anträgt. Erst will sie immer noch -annehmen, er wolle sie prüfen; wie er dann aber „auf Ehre“ erwidert, es -sei ihm Ernst, muß sie’s glauben. Kaum einen Augenblick verweilt sie, -deren Sittsamkeit so rein wie ihr Denken schnell ist, bei der Schmach, -die dieser Antrag ihr antut; ihr liegt bei dem ganzen Gespräch nichts -im Sinn wie ihr Bruder. Jetzt, glaubt sie, muß er gerettet sein: sie -scheut die Erpressung gegen den elenden Machthaber nicht:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Gleich stell’ des Bruders Gnadenbrief mir aus,</div> - <div class="verse">Sonst künd’ ich aller Welt aus lautem Hals,</div> - <div class="verse">Was für ein Mann du bist.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Ihm aber, der die Schwelle der Schamlosigkeit überschritten hat, ist -nun keine Wahl mehr geblieben. Er kann nicht, er will nicht zurück; -seine Gier läßt sich so nicht abweisen. Ihre Drohung schreckt ihn -nicht; wer wird ihr denn glauben, wenn er’s abschwört? Solche Anklage -gegen ihn, den Vertreter des Fürsten, dessen Ruf fleckenlos ist, dessen -strenges Leben die Welt kennt? Einen Tag noch gibt er ihr Frist; bis -dahin muß sie nachgeben; sonst stirbt ihr Bruder nicht den einfachen -jetzt mehr, den martervollen, schweren, langsamen Foltertod.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_29" id="Seite_29">[S. 29]</a></span></p> - -<p>Damit verläßt er sie. Und sofort sieht sie ein: ihr letzter Versuch -ist gescheitert; sie kann die Gnade nicht erpressen. Ihr Bruder ist -zum Tode verurteilt; jetzt auch von ihr; um ihrer Ehre willen muß er -sterben. Sie geht zu ihm, um ihm das zu sagen: er stirbt nicht mehr -bloß für sein heißes Blut; er stirbt für die Reinheit seiner Schwester.</p> - -<p>Wiewohl sich alles um die Rettung dieses Bruders drehte, galt unser -Anteil bisher viel mehr Herrn Angelo und Claudios Schwester, die ihn -nun beide verurteilt haben. Jetzt, wo Angelo für lange zurücktritt, -lernen wir Claudio kennen; durch den Konflikt zwischen Angelo und -Isabella, der fürs erste in der Schwebe bleibt, ist, wir sehen es -voraus, ein Konflikt zwischen den Geschwistern reif geworden. In -dem Moment, wo der dritte Akt beginnt, stehen wir zwischen der -physischen Möglichkeit und der psychischen Unmöglichkeit mitten inne: -Claudio kann durch Isabella gerettet werden; er kann nicht durch sie -gerettet werden. Der Vorhang geht auf; wir sehen den Herzog-Mönch -bei dem zum Tod Verurteilten und sagen uns noch stärker als zuvor: -Der aber, der wahre Fürst, wird ihn retten! Der Mönch bereitet den -Gefangenen indessen zum Tod vor und spendet ihm die Tröstung keineswegs -christlicher Verheißung, sondern allerbitterster pessimistischer -Philosophie. Der Mann, der sich in den Tod finden soll, erfährt von dem -erfahrenen, leidgeprüften Pilger durch sein Reich, was das Leben ist. -Claudio, dessen Gemüt rasch bewegt und dem Moment unterworfen ist, ist -für den Augenblick ruhig:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Auf Leben hoff’ ich, bin gefaßt auf Tod.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Da sagt der Mönch, und diese große Rede, die weniger auf den Tod -vorbereiten als den Tod im Leben, die Abgeschiedenheit, lehren will, -wollen wir ausführlich vernehmen:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Seid’s unbedingt auf Tod. Tod oder Leben</div> - <div class="verse">Wird dadurch süßer. <em class="gesperrt">Redet so zum Leben</em>:</div> - <div class="verse">Wenn ich dich lasse, lasse ich ein Ding,</div> - <div class="verse">Dran nur ein Tor sich hängt. Ein Hauch bist du,</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_30" id="Seite_30">[S. 30]</a></span> - <div class="verse">Abhängig jeder Änderung der Luft,</div> - <div class="verse">Wie sie die Wohnung hier, in der du weilst,</div> - <div class="verse">Stündlich bedroht. Du bist des Todes Narr;</div> - <div class="verse">Durch deine Flucht strebst du ihm zu entgehn,</div> - <div class="verse">Und rennst ihm stets doch zu. Du bist nicht edel;</div> - <div class="verse">Denn alles Angenehme, was du hegst,</div> - <div class="verse">Stammt aus Gemeinem. Du bist gar nicht tapfer;</div> - <div class="verse">Denn dir macht Angst das schmale Züngelchen</div> - <div class="verse">Des armen Wurms. Dein bestes Ruhn ist Schlaf,</div> - <div class="verse">Den suchst du täglich, doch dich schreckt dein Tod,</div> - <div class="verse">Der auch nichts mehr ist. Du bist nicht du selbst,</div> - <div class="verse">Denn du bestehst durch Tausende von Körnern,</div> - <div class="verse">Aus Staub entsprossen. Glücklich bist du nicht,</div> - <div class="verse">Denn was du nicht hast, strebst du stets zu fassen</div> - <div class="verse">Und gibst auf, was du hast. Du bist nicht stetig,</div> - <div class="verse">Denn deine Farb’ ist launisch wandelbar,</div> - <div class="verse">So wie der Mond... Nicht Jugend und nicht Alter</div> - <div class="verse">Hast du, nur gleichsam den Nachmittagsschlaf,</div> - <div class="verse">Der beides träumt; all deine selige Jugend</div> - <div class="verse">Tut wie bejahrt und bettelt lahme Greise</div> - <div class="verse">Um Gaben an. Und bist du alt und reich,</div> - <div class="verse">So fehlt dir Glut und Trieb, Gelenk und Schönheit,</div> - <div class="verse">Des Reichtums froh zu sein. Was ist doch dies?</div> - <div class="verse">Das Leben heißen darf? Birgt doch dies Leben</div> - <div class="verse">Viel tausend Tode, — und wir scheun den Tod,</div> - <div class="verse">Der alles ausgleicht?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Erst ist Claudio davon wunderbar besänftigt; dann aber, wie zum Mönch -der skeptischen Resignation mit frommem Friedensgruß die Nonne in -dieses Gefängnis dazukommt, wie die Lichte aber nicht die Erlösung -bringt, sondern den Zweifel, da kommt die Todesangst über ihn.</p> - -<p>Ihr ist es notwendig, ihm alles zu sagen; keineswegs um ihm die -Entscheidung zu überlassen; so lieb sie ihn hat, so sehr wir ihr -glauben, daß sie ihr Leben an seine Rettung setzen würde, in dieser -Sache gibt es keine Beratung und<span class="pagenum"><a name="Seite_31" id="Seite_31">[S. 31]</a></span> keine Wahl für sie. Sie will aber, -daß er sie stützt, daß er jeden Gedanken an ihr Opfer verwirft; -daß sein Tod jetzt einen Sinn bekommt: er soll wissen, daß er für -seine Schwester stirbt. Mit dieser Absicht ist sie gekommen; jetzt -aber, wo sie seine weichen Züge sieht, bangt sie im voraus vor dem, -was nicht ausbleibt. Erst, wie er’s vernimmt, ist er entsetzt, daß -sein strenger Richter so dastehn soll; dann sieht er ein, daß sie -sich nicht preisgeben darf, und will sich in den Tod, vor dem jetzt -keine Rettung mehr ist, finden. Aber es regt sich ein Sinnen in ihm; -also dieser erhabene weisheitsvolle Mann ist doch auch dem Trieb -unterworfen! Claudio wagt nicht zu sagen, kaum auszudenken, wie ihm -von dieser Vorstellung, daß die Lust doch mächtiger sei als alles, die -Gedanken von Angelo zur Schwester, von der Schwester, die nun über sein -Schicksal verfügt, zu seiner eigenen Lebenslust irren. O Isabella! Mehr -vermag er noch nicht als diesen Ausruf; und dann, immer noch wieder -gebändigt und bedächtig, sinnt er vor sich hin:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sterben ist schrecklich —</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Wie sie aber, schon in streng vestalischer Abwehrstellung, erwidert:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und schmachvoll Leben greulich,</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>da, wo für ihn auf der einen Seite das Leben, sein Leben, steht, -auf der andern — ein Nichts, ein Wort, eine Tugend, von deren -Notwendigkeit seine eigne Natur kein Wissen und keine Erfahrung -hat, die ihm ein so kaltes Schema ist wie der Staatsgedanke, dem er -geopfert werden soll, da wallt die Todesangst zu einem gewaltigen -Ausbruch heraus. Vergessen auch alles, was der Mönch — der, ohne daß -die beiden es wissen, alles mit anhört — Schlimmes an die Adresse -des Lebens gesagt hat; nur leben, leben will Claudio, leben um -jeden Preis! Er sieht das Grauen des Grabes vor sich, er ist in der -Situation des Prinzen von Homburg, und ich zweifle nicht, daß Kleist, -dem dieses Stück ja auch sonst so ganz besonders, so unsäglich nah -gehn mußte, aus dieser<span class="pagenum"><a name="Seite_32" id="Seite_32">[S. 32]</a></span> Szene den Mut zur Fassungslosigkeit seines -Prinzen geschöpft hat; geht Kleists Szene darin über Shakespeares -hinaus, daß sein romantischer Prinz sonst von Natur und Gewöhnung in -der Rolle des Helden steht, so ist wiederum Claudios Ausbruch insofern -erschütternder, als dieser weiche Genießer nicht bloß die eigne Würde -wegwirft, sondern die Schwester anbettelt, sie solle um seinetwillen -sich in Schmach und Ekel stürzen:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ja, aber sterben! gehn, wer weiß, wohin,</div> - <div class="verse">Daliegen kalt und reglos starr und faulen,</div> - <div class="verse">Aus sinnbegabter, warmer Regsamkeit</div> - <div class="verse">Verschrumpft zum Kloß; der Geist, noch lebensfroh,</div> - <div class="verse">Getaucht in Feuerwogen, hingebannt</div> - <div class="verse">In schaudernde Gefilde ew’gen Eises;</div> - <div class="verse">Im Kerker unsichtbarer Sturmgewalt</div> - <div class="verse">Rastlos gejagt rund um die schwebende</div> - <div class="verse">Weltkugel; ja, noch Schlimmres als das Schlimmste</div> - <div class="verse">Von dem, was zügellose Phantasie</div> - <div class="verse">Sich heulend ausmalt — gräßlich, schauderhaft!</div> - <div class="verse">Die schwerste Last von Lebensmühsal hier,</div> - <div class="verse">Was Alter, Armut, Schmerz, Einkerkerung</div> - <div class="verse">Dem Menschen auferlegt, ist Paradies,</div> - <div class="verse">Mit dem verglichen, was der Tod uns droht.</div> - <div class="verse">— — —</div> - <div class="verse mleft3">O Schwester! laß mich leben!</div> - <div class="verse">Was für des Bruders Leben du auch tust,</div> - <div class="verse">Oh, die Natur rechtfertigt es so sehr,</div> - <div class="verse">Daß es zur Tugend wird.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Erst war die Schwester bei diesen apokalyptischen Bildern von den -unausdenkbaren Schrecknissen, die der Seele im Tode warten, unnennbar -erschüttert worden, ins Gewissen hinein; was kann den fühlenden -Menschen schwerer treffen, als wenn er aktiv hilflos sein muß: wenn -er physisch erretten könnte, aber angesichts bitterster Not in dem -moralischen Entschluß steht, stehn muß, nichts zu tun? Wie Claudio -dann<span class="pagenum"><a name="Seite_33" id="Seite_33">[S. 33]</a></span> aber seinen fassungslosen Jammer in diesen Anruf münden läßt, da -schlägt all ihre Innigkeit in lodernde Empörung um. Über alle Grenzen -setzt ihre Verachtung gegen diesen Wicht vor ihr, der um diesen Preis -sein Leben erhandeln möchte. Sie spricht ihm endgültig das Todesurteil; -sie kann ihn nicht retten; das wußte sie vorher; er verdient nicht zu -leben; das empfindet sie jetzt und sagt es ihm.</p> - -<p>Da tritt der Herzog dazu. Was hat er gehört! Von all diesen -Zusammenhängen, von seinem Statthalter Angelo!</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Die Probe lehrt,</div> - <div class="verse">Wie sich im Machtbesitz der Schein bewährt.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Er hat’s geahnt, als er das sagte; diese drei, Angelo, Claudio und -Isabella, sind geprüft worden und haben ihr Innerstes, ihr Äußerstes -gezeigt; über ihre Grenze gegangen sind sie — alle drei. Nun ist’s -höchste Zeit, einzugreifen, nach dem Rechten zu sehn und diese -verirrten Menschenkinder zu ihrem Maß zurückzuführen. Angelo zwar — -das muß noch näher untersucht, muß sehr behutsam behandelt werden. Die -entfernte Möglichkeit, daß er das Mädchen nur prüfen wollte, liegt -immerhin vor; und sehr wahrscheinlich ist es zum mindesten, daß er sich -so ausreden würde.</p> - -<p>Das Drama ist in den drei Gestalten Angelo, Isabella, Claudio und ihren -Erlebnissen an einander bis zur Tragik gediehen. Nur das Vorspiel, nur -die Gewißheit, daß wir in einer Zwischenzeit der Prüfung sind, und die -Gestalt des Herzogs haben uns immer getröstet. Wie er jetzt mitten -in den exzentrischen Überschwang der todesbangen Lebenslust und der -lustverächterischen Tugend dazwischentritt, wie in die zum Höchsten -gesteigerte Verssprache seine kluge, sichere Prosa hineinredet, da -werden wir ganz ruhig, da biegt der Konflikt der von der Leidenschaft -Fortgerissenen in das überlegene Spiel eines Weisen, die Tragik in die -Komik um.</p> - -<p>Wir wissen, der Herzog hat Angelo schon lange beobachtet und hat -Mißtrauen gegen seine Tugend gehegt; aber wir<span class="pagenum"><a name="Seite_34" id="Seite_34">[S. 34]</a></span> wußten nicht, daß er -mehr von ihm weiß, als wir bisher erfahren haben. Jetzt, so spät in -diesem Stück, dessen ganze Technik von allem Anfang an darauf angelegt -ist, Herrn Angelo sehr allmählich und immer mehr die Hüllen zu nehmen, -erfahren wir aus dem Gespräch des Herzog-Mönchs mit Isabella, was -Angelo noch auf dem Gewissen hat. Wir haben gesehen, wie dieser Jurist, -dieser Staatsheilige es seinem Intellekt erlaubt hat, seit langem die -Triebe und die Seele zu vergewaltigen; jetzt hören wir das Schlimmste, -was er sich und vor allem einem andern Menschen angetan hat. Er hat -eine Braut gehabt; hat es elenden Verstandesgründen erlaubt, die Liebe -zu diesem Mädchen, die er hegte, in ihm zu ersticken; hat diese Mariana -um einer verloren gegangenen Mitgift willen sitzen lassen. Jetzt -vereint der kluge Herzog, der Philisterbedenken nicht kennt, vielmehr -seiner herrlichen Losung folgt:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Tugend ist kühn und Güte niemals furchtsam,</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>der Mönch flicht Claudios Todesnot, Angelos Brunst, Isabellas tapfere -Tugend, Marianas Liebessehnsucht in eines: Isabella soll Angelo ein -kurzes nächtliches Liebesbeisammensein bewilligen; Angelo soll, ohne es -zu ahnen, statt ihrer Mariana umarmen:</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>Damit ist Euer Bruder gerettet, Eure Ehre unbefleckt, die arme -Mariana versorgt und der arge Statthalter entlarvt.</p></div> - -<p>Wären wir von vornherein in einem lustigen Spiel gewesen, wo dann -aber von Anfang an Mariana dabei gewesen wäre, so wäre diese Lösung -nichts weiter als ein höchst übermütiges Motiv. Nun aber, wo wir so -zu teilnehmender Not hochgeführt worden sind, wo sich uns allmählich -erst das Rätsel Angelo erschlossen hat, das für uns immer noch nicht -ganz erklärt ist, von dem wir jetzt eben wieder Neues erfahren haben -und auf dessen noch tiefere Ergründung wir gefaßt sind, nun ist uns -diese plötzliche Wendung eine wahrhafte Erlösung. Der Dichter und sein -fürstlicher Mönch schalten mit uns, als ob<span class="pagenum"><a name="Seite_35" id="Seite_35">[S. 35]</a></span> die strafende Rede, die -dieser ans arge Leben gehalten hat, Wirkung getan hätte: das Leben -ist in sich gegangen; seine bebende Not und Gefahr war nur Schein -und Prüfung; alles, was wir da als Grauen erlebt zu haben glaubten, -ist, wenn wir näher zusehen, gar keine Wirklichkeit, ist nur Spiel, -sinnvolles Spiel, in dem sich die Bilder des Wesens tummeln. Und mit -einem Sinnspruch in dem Bänkelsängerton, den Shakespeare liebt, wenn er -die Naturgewalt der Tragik in das freie Spiel überleitet, faßt darum -der Herzog-Mönch die vergangene und künftige Handlung zusammen und -beschließt damit den dritten Akt.</p> - -<p>Und doch wäre es — mit Goethe zu reden — ein klattriges Motiv, -welche Aushilfsrolle diese Mariana spielen soll, wenn der Dichter, -der so meisterhaft von innen heraus komponiert, Mariana nicht bei -ihrem ersten, späten Auftreten zu Beginn des vierten Aktes wie -umlodert zeigte vom Feuermantel der Liebesglut, die, verschmäht, in -sie zurückgeschlagen ist. Da verliert sich sofort der Eindruck, ein -Menschenkind solle als Mittel dienen, dazu noch mit seinem Geschlecht; -wir erleben, wie die Liebesvereinigung dieser Süchtigen eigenes, -äußerstes Bedürfnis ist.</p> - -<p>Sie sitzt da, passiv, lechzend, wartend auf nichts; sie hört -schmachtend zu, wie ein Knabe ihr ein Lied, ihr Lied, das Lied ihres -brünstigen Verlangens und ihrer Verlassenheit vorsingt; eines der -wunderbarsten Liebeslieder, in dem die ganze Wonne des Schmerzes, der -ganze Schmerz der Brunst liegt; keine Übersetzung kann ihm Genüge tun:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Weg, o weg die Lippen dein,</div> - <div class="verse">Die so süßen Meineid schworen;</div> - <div class="verse">Weg dies Auge, Funkelschein,</div> - <div class="verse">Licht, das mir die Nacht geboren.</div> - <div class="verse">Nur die Küsse bring zurück, bring zurück,</div> - <div class="verse">Liebessiegel, falsche Siegel falschem Glück, falschem Glück!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Es geschieht nun alles nach dem Plan des Herzogs. Aber der weise -Dichter, der die Sensation, das bloße Sinnenbild,<span class="pagenum"><a name="Seite_36" id="Seite_36">[S. 36]</a></span> auch wenn es von -zentraler Bedeutung ist, gerne im Hintergrund läßt, wenn es die innere -Entwicklung nicht fördert und bloß die Erfüllung dessen zeigt, was wir -in der Anlage miterlebt haben; und der die Sensation im gröberen Sinn -des Wortes gewiß nicht auf die Bühne zieht, läßt nun alles, was wir -im Entwurf schon kennen, im Hintergrund vor sich gehn: wir sind nicht -bei Isabellas Gespräch mit Angelo, in dem sie ihm zusagt, sich ihm -preiszugeben; nicht einmal bei der Einweihung Marianas in den Plan, -und gewiß nicht bei Mariana-Isabellas nächtlicher Begegnung mit Herrn -Angelo. Shakespeare mit seinem zarten Takt hat Bühne und Sichtbarkeit -aufs feinste unterschieden: nichts, was geeignet war, das Menschenwesen -zu ergründen, hat er, der freie Geist, der er war, von der Bühne -verbannt; aber er hat auch gewußt, daß keusche Ohren in der Form der -Sprache, welche durch die Verwandlung des Sinnlichen in Geist alles -rein zu machen imstande ist, alles hören können, daß aber nicht alles -in sinnlicher Erscheinung gezeigt werden kann. So ist es unsäglich -weise, frei und witzig von ihm, daß er auf der Stufe der Handlung, wo -unzüchtige Seelen, deren es unter seinem Publikum genau so gut gab -wie unter seinen Kommentatoren späterer Jahrhunderte, Sinnenkitzel -und angenehmes Ärgernis von den Vorgängen erwarteten, die Bühne statt -dessen mit Szenen aus der niederen Welt der Kuppler und Verbrecher -füllte, wo eben die Gemeinheit nicht vor Augen, sondern zu Sprache und -robustem Spaß gebracht wird.</p> - -<p>Die Zusammenhänge von Brunst und Machtgier, wie sie von Shakespeare -auch in andern Stücken aufgezeigt werden, stehen in der besondern Art -in der Mitte dieses Dramas, daß der Machthaber ein rigoristischer -Staatstyrann ist, solange er den Trieb zurückdrängt und ein Diener -am Wort ist, daß er dann ganz schlecht, in jedem Sinn wortbrüchig, -verräterisch und nur mehr auf seine Stellung und Sicherheit bedacht -werden muß, sowie die Lust ihn überwunden hat.<span class="pagenum"><a name="Seite_37" id="Seite_37">[S. 37]</a></span> Wollust wie Tyrannei -aber hat der Dichter diesmal noch in andre Verbindungen gebracht: wir -wandern vom Palast des Tyrannen zum Gefängnis, zu den Verbrechern, -zu den Henkern; von der Sinnengier des Mächtigen zu den Lieferanten -der Genußbefriedigung und den leichtlebigen Genießern; und durch das -alles geht noch das Verhältnis des Menschen zu der Instanz hindurch, -die, sollte man meinen, ihm die Lebenslust am gründlichsten austreiben -könnte: zum Tod. Wir sehen den prachtvollen Kerl, den Zigeunermörder -Bernardin, den sein langjähriger Aufenthalt im Gefängnis so wenig wie -der Gedanke an die seit vielen Jahren immer mal wieder bevorstehende -Hinrichtung oder ans Jenseits vom lustigen Leben abbringen kann, den -vollendeten Gegensatz in seiner zynisch robusten Gesundheit zu dem -weich genießerischen Claudio und seiner Todesangst; und wir gewahren: -nicht der Staat und nicht einmal der Tod mit ihrer Drohung von außen -vermögen es, die Triebe im Zaum zu halten und die Menschen entscheidend -auf neuen Weg zu bringen; nur zwei Menschen in diesem Drama, die vom -innern Sinn bedeutungsvoll zusammengedrängt werden, haben vermocht, die -Lust des Lebens, die übergreift und ausbricht, zu beschränken, mit dem -Tod einzuschränken, den sie in ihr Leben aufgenommen haben, mit der -Ordnung und Zucht, die nicht von außen auferlegt wird, sondern die das -Bedürfnis ihrer Seelen ist: Isabella und der Herzog, die Nonne und der -Mönch.</p> - -<p>Das ist die Sphäre dieses Stückes: von der liederlichen Gemeinheit -und denen, die mit dem Geschlechtstrieb Handel treiben, zu dem -Männerpaar Claudio und Angelo zunächst; der eine umgeht die Ehe und -scheut sich nicht vor allerlei dunklem Schmutz für sich, seine Liebste -und ihr Kind, weil er auf eine Mitgift wartet; der andre bricht -das Ehegelöbnis, weil die Mitgift verloren ist; sitzt über seinen -unsittlichen Bruder zu Gericht und schickt ihn in den Tod; drängt den -Trieb zurück, bis er alle Schranken durchbricht und Geist und<span class="pagenum"><a name="Seite_38" id="Seite_38">[S. 38]</a></span> Macht -als Werkzeuge der Vergewaltigung benutzt. Und eine Stufe höher Mariana, -der die Sinnlichkeit des Leibes in die Seeleninnigkeit flammt; deren -Sehnsucht und Wollust duftet, und tönt und von der sich Angelo, der -ehrlich seinen Geist nüchtern und frei vom Trieb halten möchte — es -wird genügend angedeutet —, vielleicht doch nicht bloß aus schnöden -Besitzgründen getrennt hatte. Und hoch hinauf endlich zu den beiden, -die uns lange vor dem schönen Schlusse, der sie zusammenfügt, als -Paar zu einander gehören: zu dem Herzog und Isabella. Der Herzog, -ein gereifter Mann, dem zwar um seiner Milde und der geheimnisvollen -Geborgenheit willen, die dem ernsten Manne unter Menschen notwendig -ist, die lästernde Liederlichkeit geheime Sünden nachredet, der aber -in der Reinheit steht, bis er seine weibliche Ergänzung gefunden hat; -Isabella, Marianas Gegenbild, die nicht wie der Herzog das Klosterkleid -zu sinnvoller Vermummung bloß gewählt hatte, die einen Widerwillen -gegen alle Sinnenlust im Herzen trug und voll verdammender Härte war; -welche Wirren und Nöte erst, welche Kühnheit und Überschreitung der -Grenzen mußten kommen, um ihren Geist zur Natur zu bringen, um ihre -Seele zu vermögen, beruhigt, ohne Aufruhr und einverstanden im Leibe zu -wohnen.</p> - -<p>Von unten nach oben, die Skala der Sinnlichkeit immer wieder berührend -und kreuzend, geht’s auch im Bezirk der Macht. Ganz draußen bleiben -die Wiener Lüstlinge, in deren Gesellschaft sich auch Claudio gefällt, -Genießende, die im Schutz der Macht Bevorzugte sind, bis die Macht -daran geht, sie als geile Schmarotzer auszurotten; ganz drunten steht -Bernardin, der brutale Mörder; es folgen die Berufsoffiziere, die -den Krieg um des Kriegs willen treiben und sich selbst mit Piraten -vergleichen; der Konstabel Ellbogen, ein Duplikat Holzapfels aus -Viel Lärm um nichts, eine der aus Dummheit, Brutalität, Gutmütigkeit -und Aufgeblasenheit zusammengesetzten Volksgestalten, die es den<span class="pagenum"><a name="Seite_39" id="Seite_39">[S. 39]</a></span> -studierten Beamten gleichtun möchten; der Henker Abhorson oder -Grauserich, der mit gefühlloser Lust aus dem gesetzlichen Morden nicht -bloß ein Gewerbe, sondern eine Technik und ein System gemacht hat; der -Staatsmann und Jurist Angelo, der auf derselben Stufe stünde, wenn -er nicht die weiten Gesichtspunkte, den Ernst und den Geist und die -Bildung dazu brächte; und oben in reiner Höhe der gütige Kerkermeister -und der nach milder Gerechtigkeit trachtende Herzog, der doch hart, -stetig, ausdauernd, abwartend bis zur Peinigung sein kann, wenn er mit -Menschen zu tun hat, denen es not tut und die es wert sind, erzogen zu -werden.</p> - -<p>Ein solcher Mensch ist für ihn der junge Herr Angelo; ein solcher -Mensch auch Isabella. Um sie beide zu ihrer guten, echten Natur zu -bringen, scheut sich der Herzog nicht, Angelo die Gelegenheit zu -schaffen, wo das Verkehrte in ihm sein Bösestes tun kann, wie ihn kein -Mitleid hindert, Isabella, die in furchtbarer Tugendhärte ihrem Bruder -den Tod gewünscht, seinen Tod als gerecht und verdient bezeichnet hat, -diesen Tod, diese Hinrichtung des Bruders ganz erleben, den Bruder als -tot betrauern zu lassen.</p> - -<p>Denn es geht nun keineswegs alles nach dem Plane des Herzog-Mönchs. -Wohl hat Angelo — wie er meint — sein Gelüste an Isabella befriedigt, -rauh, heimlich, nachts, seelenlos, brutal; wie er dann aber die Brunst -gelöscht hat und von der ganzen Glut nichts mehr da ist als brennende, -unauslöschliche Scham, erwägt er, daß gefährlicher als die Anzeige des -geschändeten Mädchens Isabella, von der überdies kaum zu erwarten ist, -daß sie ihre Entehrung kundgeben wird, die Rache des gepeinigten und -um solchen Preis freigegebenen Bruders wäre; er muß den Weg der bösen -Tat bis zu Ende gehen und verfügt die schleunige Hinrichtung Claudios. -Die geschieht, für Angelo und alle Welt; auch Isabella wird nicht in -das Geheimnis eingeweiht; Claudio wird in verborgener Haft gehalten; -ohne sich ganz zu offenbaren, bringt der Mönch den guten Kerkermeister -dazu,<span class="pagenum"><a name="Seite_40" id="Seite_40">[S. 40]</a></span> Angelo anzuführen und seinen Befehl zu mißachten: der Wackere -weiß, der wahre Fürst wird nun zurückkommen. Wie die Verwirrung am -größten ist, sagt der Herzog zu diesem Wächter der Gefangenen ein -Wort, das in all seiner Leichtigkeit, mit der es uns nahe an traumhaft -spielerische Märchenstimmung trägt, tief erhellend für das Ineinander -äußerer und innerer Wirrnis in diesem tragischen Lustspiel ist:</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>Staunt und grübelt nicht darüber, wie dies alles zugeht. Alle -schweren Dinge sind ganz leicht, wenn sie nur erst erkannt sind.</p></div> - -<p>Sie zur Erkenntnis zu bringen, in ihrer innern Beschaffenheit und -ihrem Zusammenhang, ist die Bestimmung des fünften Akts. Innerlich -ist für uns schon beruhigte Entspannung da; wir sehen in dieser einen -Szene, in der Shakespeare, wie öfter, nach den verwandlungsreichen -früheren Akten alle Verwirrungen zur vollen Höhe häuft, ehe er sie -löst, guten Muts zu, wie die Personen des Stücks, zumal Angelo und -Isabella, vom Herzog noch gehörig auf die Folter gespannt und dann mit -Enthüllungen überrascht werden, mit denen allen wir vom weisen Dichter -dieses Lustspiels schon lange bekannt gemacht worden sind. Angelo und -Isabella! In ganz anderm Sinn, als der junge Wüterich meint, bilden -auch sie denn doch ein Paar. In beiden ist die Tugendstrenge seltsam -nach Art und Grad verschiedene Irrwege gegangen; die Nonne, die es bis -zum wildesten Ausbruch der Unbarmherzigkeit bringt, ist eine adlige -Seele trotzdem; der vom Herzog zur Probe zum Fürsten erhöhte, dadurch -zum Tyrannen gewordene, zwischen Idealismus, Abstraktionshärte und -ichsüchtiger Schnödigkeit hin und her irrende unfertige junge Mann -ist, wir sollen’s nun erleben, nicht minder in seinem besten Wesen ein -adliger Mensch.</p> - -<p>Der Herzog hat, ehe er in Wien wieder einzog, verkünden lassen, wer -irgend sich über erlittene Unbill zu beschweren habe, solle es sofort -bei seinem Einzug tun; unverzüglich,<span class="pagenum"><a name="Seite_41" id="Seite_41">[S. 41]</a></span> wenn der echte Herr das Regiment -wieder antritt, soll reiner Tisch gemacht werden. Kaum hat er denn den -Statthalter mit Worten höchster Achtung über seine gerechte Verwaltung -des obersten Amtes beglückt, so tritt die trauernde Isabella auf und -fordert, immer das eine Wort wiederholend, mit lauter Stimme, was in -diesem Staat durch Angelo so streng durchgeführt worden sein sollte:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Recht, ja Recht, Recht, Recht!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Mariana, hat der Mönch ihr geraten, soll außer Spiel bleiben; so -beschuldigt Isabella Herrn Angelo genau dessen, was er selbst glaubt, -an ihr begangen zu haben. Was tut er, der hochgeehrt neben dem Herzog -sitzt, auf diese entsetzliche, gegen einen Mann wie ihn jedoch höchst -unglaubwürdige Anklage hin? Was wir alle täten, wenn wir erst Schritt -für Schritt uns so mit dem Bösen eingelassen hätten: er leugnet alles, -mit frecher Stirn, und erklärt, Isabellas Verstand habe seit dem -Prozeß gegen ihren Bruder gelitten. Merken wir hier nur darauf: vor -dem Buchstaben des Rechts hat Angelo kein andres Verbrechen begangen -als das gegen Isabella, und das hat er, wir wissen es, nicht begangen; -Claudio war dem Gesetz verfallen, und er hat’s dabei gelassen; es ist -kein Recht gebeugt worden. Und da kommt nun eine und schreit hinaus, -um ihren Bruder, wie es der Statthalter selbst bedungen hätte, zu -retten, hätte sie dem ihre Ehre preisgegeben; aber der Bruder ist ja -hingerichtet worden; wer wird solches wirre Zeug glauben? So scheint -es ganz in Ordnung, daß der Herzog die Anklägerin bis zur weitern -Prüfung der Sache ins Gefängnis abführen läßt; um wahnsinnig zu sein, -redet sie wieder zu klar; es scheint eine Verschwörung gegen Herrn -Angelo vorzuliegen, der von dem heillosen Schmutz, wie er da gegen -ihn geworfen wird, so wenig berührt werden kann, daß der Herzog ihn -auffordert, in dieser seiner eigenen Sache selbst Richter zu sein.</p> - -<p>Was für eine Verwirrung tritt aber nun ein, als von einem Vertrauten -des Herzogs, dem Mönch Peter, geleitet, eine<span class="pagenum"><a name="Seite_42" id="Seite_42">[S. 42]</a></span> Zeugin auftritt, die -Herrn Angelos Alibi auf die seltsamste Art beweisen soll: da stellt -sich eine hin, die sich für weder verehlicht noch Mädchen noch Witwe -und dann gar für des Statthalters Gattin erklärt und bezeugt: just zu -der Stunde, wo Herr Angelo Isabella fleischlich beigewohnt haben solle, -sei er in ihren Armen gelegen. Gegen diese Behauptung, gegen diese -Anklage, die als Verteidigung auftritt, kann sich Angelo nun mit bestem -Gewissen verwahren; und das hilft ihm, viel freier als zuvor, fast mit -Lächeln über so viel Tollheit, alles zu leugnen, auf die Vermutung -des Herzogs einzugehn und dies schamlose Auftreten zweier Weiber -gegen ihn, der jetzt eben das Land von der Unzucht gereinigt, auf ein -niederträchtiges Komplott zurückzuführen. Er ist auch klug genug, den -Vorschlag des Herzogs, Richter in eigner Sache zu sein, in diesem -Augenblick, wo die Sache für ihn so günstig steht, anzunehmen. So kann -der Herzog, um seinem bisherigen Statthalter sein ganz besonderes -Vertrauen zu bezeigen, sich von der Gerichtsstelle, zu der dieser freie -Platz vor dem Tor geworden ist, entfernen, ohne daß es jemand auffällig -finden darf. Welch köstliche Motivierungskunst in einer auch für den -Dichter fast unmöglich scheinenden Situation; was für eine leichte, -spielende Hand; wie ist das, womit motiviert wird, das Auskunftsmittel -des Dichters, daß der Statthalter seinen Fall selbst zu richten -bekommt, für den Gang der Handlung entscheidend wichtiger, als was zu -motivieren notwendig ist: daß der Herzog fortgeht, damit er in Gestalt -des geheimnisvollen Mönchs wieder erscheinen kann.</p> - -<p>Der Mönch erscheint und braucht stärkste Worte, erst gegen den Herzog -— sich selbst —, der einen Schurken in eigner Sache richten läßt, -dann gegen diesen Elenden nicht nur, der immer noch als oberster -Richter auf dem Thron sitzen darf, sondern im allgemeinen gegen die -Widersprüche zwischen dem Moral- und Gesetzsystem, das im Reich -herrscht, und den wirklichen Zuständen. Er mußte sehen,</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_43" id="Seite_43">[S. 43]</a></span></p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft2">wie hier Entartung kocht und brodelt,</div> - <div class="verse">Ja überschäumt; für jeden Fehl Gesetze,</div> - <div class="verse">Doch Frevel so beschützt, daß die Verbote,</div> - <div class="verse">Wie Sittensprüche in den Baderstuben,</div> - <div class="verse">Indem sie Schmach verpönen, sich verhöhnen.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Das starke Auftreten dieses Mönchs gegen die Sitten der Wiener goldenen -Jugend bringt den Vertreter dieser Gesellschaft, Herrn Lucio, der mit -seiner dreist anmaßenden Geschwätzigkeit auch schon vorher dem Herzog -lästig gefallen war, zum kecken Eingreifen: er will das Gesicht dieses -Sittenpredigers sehen und reißt dem Mönch die Kapuze herunter: alle -erkennen den Herzog. Sofort, noch ehe irgend ein Weiteres enthüllt ist, -gesteht Angelo seine Schuld: er ist, sowie er vor Augen sieht, daß der -Herzog schon lange mit dieser furchtbaren Sache zu tun hat und sein -Tun beobachtet, wie von einem Strahl göttlicher Rache vernichtet: auf -geheimnisvollste Weise, die er nicht begreift, ist einem Zusammenhang, -den er selbst und dazu noch Vorfälle, die ihm rätselhaft sind, aufs -verwirrteste versträhnt haben, die schlichte Klarheit, der wirkliche -Kausalzusammenhang wiedergegeben. Wie eine Erleichterung überkommt es -ihn, daß der Bau des Bösen und der Lüge, den er hat türmen müssen, weil -in seinem Bau der starren Moral der Grundstein ins Rutschen gekommen -war, auf einen Schlag eingestürzt ist: höchst würdig legt er sein -Bekenntnis ab und erbittet sofortiges Gericht, sofortigen Tod.</p> - -<p>Gewiß hat der Herzog, der den Mann von allem Anfange an gekannt hat, -nichts andres erwartet. „Alle schweren Dinge sind ganz leicht, wenn sie -nur erst erkannt sind.“ Der Spruch bewährt sich bei der unglaublichen -Verwirrung aller äußern Geschehnisse; er bewährt sich auch für Angelo. -Eine schwere Last ist von ihm genommen, ein Druck, der seit langem sein -Leben auf schiefe Bahn geschoben hat; mit der Reue, die überraschend -wie der Blitzstrahl über ihn gekommen ist, ist ihm so ganz leicht -geworden. Der Herzog aber<span class="pagenum"><a name="Seite_44" id="Seite_44">[S. 44]</a></span> macht keine Miene, ihn zu richten; erst tut -andres not. Kurz stellt er fest, daß Angelo und Mariana rechtmäßig -verlobt waren; stracks schickt er beide weg zu schleuniger Vermählung. -Aus diesem Verfahren und dem entsprechenden, das er dann gegen den -heillosen Liederjahn und Verleumder Lucio einschlägt, ergibt sich, daß -in seiner Methode zur Verbesserung der Sitten die Ehe ungefähr die -Rolle spielt, die in Herrn Angelos System Auspeitschung, Einkerkerung -und Hinrichtung eingenommen haben.</p> - -<p>Dann erst, wie dies erste und vielleicht innerlich häßlichste Vergehen -Angelos gut gemacht ist, soll zwischen ihm und Isabella gerichtet -werden. Nun soll Angelo lernen, wie es mit seinem Grundsatz des -starren, strengen, vorbeugenden Rechts bestellt ist: Gleiches mit -Gleichem, Maß für Maß: mit welcherlei Maß ihr messet, so soll euch -wieder gemessen werden! Gut denn; er hat sich das Urteil schon lange -selbst gesprochen: sein Verbrechen ist das Claudios; was er noch -viel Schlimmeres als dieser getan, kann ganz außer Betracht bleiben: -wie Claudio hingerichtet wurde, so soll auch er dem Henker verfallen -sein. Was für ein wahrhaft wonnevoller Gegensatz zwischen dem, was die -Menschen auf der Bühne in diesem Augenblick empfinden und erleben, und -dem, was wir beglückt, heiter, frei wissen: Claudio lebt, Angelo wird -leben!</p> - -<p>So kommt es noch zu einem letzten Gipfel; Isabella, die Tugendstrenge, -die nur mit äußerster Selbstüberwindung für ihren Bruder, dessen Fall -so ganz milde zu betrachten war, eingetreten war, die ihn zum Tod -verurteilte, als Lebensdurst und Todesangst ihn zum winselnden Tier -erniedrigt hatten, Isabella, die diesen Bruder tot glauben muß, tot -durch Schuld dieses Angelo, der ihn als Meineidiger in dem Augenblick -wie ein unsträflicher, erhabener Richter dem Gesetz geopfert und auf -den Richtblock geschickt hat, wo er selbst auf dem selben Gebiet nach -seinem Willen weit Schlimmeres verbrochen hat, Isabella bittet um das -Leben dieses Mannes,<span class="pagenum"><a name="Seite_45" id="Seite_45">[S. 45]</a></span> der Notzucht abscheulichster Art, Notzucht auf -dem indirekten Weg des Seelenzwangs hat gegen sie begehen wollen; sie -wirft sich vor dem Herzog auf die Knie und spricht:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Huldreichster Fürst,</div> - <div class="verse">Betrachtet, fleh’ ich, diesen schuld’gen Mann,</div> - <div class="verse">Als lebte noch mein Bruder. Fast ist mir,</div> - <div class="verse">Als habe Ehrlichkeit sein Tun gelenkt,</div> - <div class="verse">Bis er sein Aug’ auf mich warf. Ist dem so,</div> - <div class="verse">Laßt ihn nicht sterben. Claudio starb nach Recht,</div> - <div class="verse">Sofern er wirklich tat, wofür er starb.</div> - <div class="verse">Doch Angelo — —</div> - <div class="verse">Sein Tun kam nach ja nicht der bösen Absicht</div> - <div class="verse">Und soll begraben sein als bloße Absicht,</div> - <div class="verse">Die nicht ans Ziel gelangt. Denken ist frei,</div> - <div class="verse">Und Absicht bloßes Denken.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Wie sieht man da voller Lust, Lust des Herzens wie auch des unbeschwert -spielenden, rasch sich bewegenden, Ernstes bedenkenden Geistes: auch -die Milde hat ihren scharfen Juristenverstand, — und wer weiß, ob -diese Porzia-ähnliche Gestalt, diese Isabella, die vor unsern Augen -so gewachsen und gereift und aus klösterlicher Enge zu Menschenweite -und freiem Sinn sich erhoben hat, ob sie, die der reifsten Stufe des -Dichters zugehört, nicht auch Shylock, dessen Untat ja auch beim -Versuch geblieben ist, Gnade, volle erlösende Gnade erwiesen hätte?</p> - -<p>Angelo aber, der jetzt zum ersten Mal ganz und fest in seinem Adel -steht — wie vielfältig ist der Mensch! und wie groß der Dichter, -der uns die wahrhaft wundervolle Geräumigkeit im Schacht des -Menscheninnern, die Wirklichkeit der Niedertracht wie der Seelengröße -in diesem nämlichen Menschen erleben läßt — Angelo will den Tod -erdulden:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Mich schmerzt’s, daß solche Schmerzen ich bereitet,</div> - <div class="verse">Und Scham durchdringt so tief mein reuig Herz,</div> - <div class="verse">Daß Tod mir lieber als die Gnade ist.</div> - <div class="verse">Verdient so hab’ ich’s, laßt’s dabei bewenden.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_46" id="Seite_46">[S. 46]</a></span></p> - -<p>In diesem Augenblick kommt des Herzogs Ebenbild und Gehilfe aus dem -einfachen Volk, der Kerkermeister, und bringt den vielfachen Mörder -Bernardin und eine verhüllte Gestalt.</p> - -<p>Dem Mörder, der seit neun Jahren in unverwüstlicher Lebenslust im -Gefängnis sitzt, wird von diesem Herzog, der immer noch in der Tracht -des Mönchs seines Amtes waltet, Leben und Freiheit geschenkt, weil er -keine Todesangst und keine Höllenangst kennt:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">He, Kerl, man sagt, du trägst ein störrisch Herz,</div> - <div class="verse">Das Furcht vor nichts hat jenseits dieser Welt,</div> - <div class="verse">Und lebest demgemäß. Du bist verurteilt,</div> - <div class="verse">Doch deine Schuld auf Erden sei verziehn.</div> - <div class="verse">Wend’ aber so die Gnad’ an, daß du denkst</div> - <div class="verse">Auf bessre Zukunft.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><em>For better times to come</em>: der Fürst, der Harun al Raschid, -der Geheimnis und Vermummung liebt, der Dichter, der sich in seinen -Gestalten und in der schwebenden Rede hold vielsagender, duftig auf -alles weisender Allgemeinheit verbirgt, sie überlassen es jedem, was -er dabei empfinden und denken will: ein besseres Leben, das dieser der -Freiheit wiedergegebene Mordskerl jetzt beginnen soll; bessere Zustände -und Einrichtungen zwischen den Menschen; das dunkle Reich jenseits des -Todes.</p> - -<p>Da steht noch ein Vermummter; er darf nun in die Klarheit treten: -Claudio lebt! Und er, der genießende Phantasiemensch, der alle -Gräßlichkeiten des Nichtmehrseins und des Jenseits voraus gekostet -hat, hat wahrlich genug ausgestanden, um ferner Leben und Gesellschaft -ernster zu nehmen als vordem: er bedarf keiner Strafe mehr.</p> - -<p>Was für ein Recht übt dieser Herzog, der vom Thron gestiegen war, damit -der Statthalter Angelo die Gesetze wieder wirksam machen sollte! Ein -Mörder wird völlig begnadigt; ein zu Unrecht dem Henker Gestohlener in -die Freiheit geschickt! Und doch atmen wir alle, seit in diesem Reich -er wieder die Lenkung hat, frei und beruhigt die Luft der Rein<span class="pagenum"><a name="Seite_47" id="Seite_47">[S. 47]</a></span>heit und -spüren die Zucht und eine Ordnung, die nicht vom auferlegten Zwang, die -von innen kommt und ein Band um geprüfte Menschen schlingt.</p> - -<p>Angelo ist nun mit dieser Erscheinung das milde Urteil gesprochen: -da er kein Mann der Gnade ist und auch gegen sich selbst schließlich -keine Gnade noch Barmherzigkeit geübt hat, da er hart und streng auch -gegen sich gewesen ist, soll ihm sein Recht, nichts als sein Recht -werden: Gleiches mit Gleichem, Maß für Maß: Claudios Schicksal, so -war der Rechtsspruch ergangen, solle sein eigenes werden. So darf er -leben und mit dem leidenschaftlichen Weib, das beglückt an ihm hängt, -so glücklich sein, wie er nach dieser Prüfung, nach diesem Fall, nach -dieser Erziehung vermag. Ein Wilder war er in dieser Welt, und seine -angeborene Vornehmheit hatte die Verwilderung mit Starrheit und Strenge -bändigen wollen; die Wildheit brach eruptiv durch und riß alle Dämme -ein; wie wird er nun werden? wie leben? wie wirken? was wird aus -seinem System? aus dem Wortgebäude, das er über der dunklen Schlucht -des Triebs errichtet hatte? Er spricht von dem Augenblick an, wo in -Claudios Gestalt die Gnade erschienen ist, kein Wort mehr. Der alte -Angelo ist vernichtet; die Hoffnung meint zu schauen, er stehe in -seiner Wiedergeburt.</p> - -<p>Und noch ein Menschenkind schweigt: Isabella. Ein wunderbar zarter Zug, -von dem man nur ehrfürchtig reden kann, wie Shakespeare Angelo bei der -Rettung und Isabella bei dem Anblick des wiedergeschenkten Bruders und -bei der Werbung des Herzogs in wortloser Stille verharren läßt. Der -Herzog selbst deutet in verehrender Scheu vor ihrer Menschennatur wie -dem Schicksal, das er selber gelenkt, nur leise an, daß er sie bittet, -die Seine zu werden; wir haben schon lange gefunden, daß die beiden, -der Mehralsmönch und die zum Leben des Menschlichen herangereifte -Nonne, ein edles Paar bilden und in ihrer Zusammengehörigkeit und -Ergänzung, in Klugheit, Innigkeit, Entsagung und Ironie zu Herrschern -in einem Reich milder Weltfrömmigkeit berufen sind.</p> - -<div class="footnotes"> - -<div class="footnote"> - -<p><a name="Fussnote_1_1" id="Fussnote_1_1"></a><a href="#FNAnker_1_1"><span class="label">[1]</span></a> Auf noch eine Verbindung dieses Stückes mit Bacon -hinzuweisen will ich nicht unterlassen. Das juridische Grundmotiv -sowohl unsres Dramas wie Einzelzüge erinnern in der Tat — man darf -sagen, auffallend — an eine Ausführung in Bacons vorzüglichem Essay -„Über Rechtsprechung“: „Wenn Strafgesetze lange in Schlaf gelegen -haben oder wenn sie für die Gegenwart nicht mehr passen, sollten sie -von klugen Richtern in der Anwendung eingeschränkt werden: <em>Judicis -officium est, ut res, ita tempora rerum</em> usw. [Des Richters Amt -erstreckt sich auf Dinge wie Zeiten der Dinge.] In Fällen, wo es um -Leben und Tod geht, sollten die Richter in der Rechtspflege der Gnade -gedenken und ein strenges Auge auf das Beispiel werfen, ein gnädiges -aber auf die Person.“ Das sind in der Tat Gesichtspunkte, denen wir -genau so beim Herzog und bei Isabella begegnen. — Ich für mein Teil -erlaube mir daraus gar nichts zu folgern, — so wenig wie aus der -Tatsache, daß der Staatsbeamte Lord Bacon von Verulam, Viscount von -St. Albans in seiner Person (<em>persona</em> heißt Maske) etliche -Ähnlichkeit mit Lord Angelo aufweist. Solche Indizien sind mir noch -kein Beweis dafür, daß der gelehrte Whetstone Bacons Schriften verfaßt -hat.</p></div> - -</div> - -<hr class="chap" /> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_48" id="Seite_48">[S. 48]</a></span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Macbeth">Macbeth</h2> - -</div> - -<p class="initial">Der Macbeth ist erst aus dem Nachlaß im Jahr 1623 in der Folioausgabe -veröffentlicht worden; verfaßt wird er wohl in der Zeit zwischen 1606 -und 1608 sein; sicher ist, daß <em>Dr.</em> Forman ihn 1610 im Globetheater hat -aufführen sehen.</p> - -<p>Den Stoff fand Shakespeare wie den des Hamlet, des Lear und manchen -andern in Holinsheds Chronik. In diesem Geschichtswerk findet sich auch -die Begegnung Macbeths mit den drei Zauberfrauen, die man, wie es an -einer Stelle heißt, im Volk für die drei Göttinnen des Schicksals oder -doch für Nymphen oder Feen hielt. Die Begegnung schildert Holinshed so, -daß man schon einen großen, schaurigen Eindruck von der Szene gewinnen -kann: „Macbeth und Banquo ritten zusammen ohne weitere Begleitung nach -Fores, wo der König damals sein Lager hielt, und kamen durch Wälder und -Felder, als ihnen plötzlich in der Mitte einer großen Heide drei Weiber -von fremdem und seltsamem Aussehen begegneten, die Geschöpfen einer -früheren Welt glichen.“ Im übrigen ist uns an dem Bericht der Chronik -besonders das interessant, was Shakespeare nicht brauchen konnte oder -irgendwie verwandeln mußte. Denn der Macbeth der Sagengeschichte, -der siebzehn Jahre lang, von 1040 bis 1057 regierte und Banquo erst -im zehnten Jahr seiner Regierung ermorden ließ, war trotz der Untat, -durch die er auf den Thron kam, bis zu Banquos Ermordung ein guter -Fürst: „Macbeth suchte nach der Abreise der beiden Prinzen sich die -Gunst der schottischen Edlen und Ritter durch große Freigebigkeit zu -gewinnen, und als er sich im friedlichen Besitze des Thrones sah, -begann er die Gesetze zu reformieren und alle Unregelmäßigkeiten und -Mißstände, die sich unter dem schwachen und trägen König Duncan in -die Verwaltung eingeschlichen hatten, auszurotten. Er befreite das -Land auf viele Jahre von allen Räubern und verfuhr hierbei so ohne -Ansehen der Person, daß er selbst viele<span class="pagenum"><a name="Seite_49" id="Seite_49">[S. 49]</a></span> Thane, wie die von Cathnes, -Sutherland, Stranaverne und Ros, und den Beherrscher von Galloway -hinrichten ließ. Dagegen beschützte er die Kirche und die Geistlichen -auf das sorgsamste und wurde, um kurz zu sein, wie der Verteidiger und -Schild jedes Unschuldigen angesehn.“ Freilich, fügt Holinshed naiv -genug hinzu, war das alles nur erheuchelt. Nach Banquos Ermordung trat -dann seine Grausamkeit und Tyrannei klar zu Tage. Shakespeare, der -auch hier verfährt wie immer und die Regierungszeit König Macbeths -nicht nach irgend einer astronomischen Zeit, sondern nach dem inneren -Verlauf seines Schicksals, nach dem Tempo seiner Lebenskraft und -Intensität bemißt, und der nicht die Wirklichkeit, die Relativität und -Gemischtheit der politischen Gesellschaft, sondern die Wahrheit der -Grundtriebe im Individuum <em>sub specie aeternitatis</em> darstellt, -kann diese lange Zwischenzeit zwischen Duncans und Banquos Ermordung -und diese ganze zehnjährige Heuchelei oder Normalität nicht brauchen. -Dagegen bleibt Banquo bei Holinshed ruhig in seinem Grabe; die -Erscheinung des Toten ist Shakespeares Erfindung, und ebenso auch -der Anteil der Lady an Macbeths Schicksal und Taten; bei Holinshed -wird ihr Einfluß nur nebenbei einmal erwähnt. Sonst hat Shakespeare -manche Einzelzüge und Szenen in treuem Anschluß übernommen; die drei -Begrüßungen und die späteren drei Prophezeiungen der Hexen sind da, -wenn auch freilich nicht in ihrem großartigen Zusammenhang; die -Ermordung der Frau und der Kinder Macduffs und vor allem die Szene -seiner Prüfung durch Prinz Malcolm, der sich verstellt, sind dieser -Quelle entnommen.</p> - -<p>Soviel zur Herkunft der äußern Handlung. Welcher Quelle die innere -entstammte, soll uns ein junger Dichtersmann sagen, Grillparzer, der im -Jahr 1817 die folgende merkenswerte Niederschrift machte:</p> - -<p>„Vielleicht ist Macbeth das größte Werk Shakespeares, das wahrste -ist es jedenfalls... Ich glaube, daß das Genie<span class="pagenum"><a name="Seite_50" id="Seite_50">[S. 50]</a></span> nichts geben kann, -als was es in sich selbst gefunden, und daß es nie eine Leidenschaft -oder Gesinnung schildern wird, als die es selbst als Mensch in seinem -eigenen Busen trägt. Daher kommen die richtigen Blicke, die oft ein -junger Mensch in das menschliche Herz tut, indes ein in der Welt -Abgearbeiteter, selbst mit scharfem Beobachtungsgeist Ausgerüsteter -nichts als hundertmal gesagte Dinge zusammenstoppelt. Also sollte -Shakespeare ein Mörder, Dieb, Lügner, Verräter, Undankbarer, -Wahnsinniger gewesen sein, weil er sie so meisterlich geschildert? -Ja! Das heißt, er mußte zu dem allem Anlage in sich haben, obschon -die vorherrschende Vernunft, das moralische Gefühl nichts davon zum -Ausbruch kommen ließ. Nur ein Mensch mit ungeheuren Leidenschaften kann -meiner Meinung nach dramatischer Dichter sein, ob sie gleich unter dem -Zügel der Vernunft stehen müssen und daher im gemeinen Leben nicht zum -Vorschein kommen.“ Von dieser Einsicht, die uns wichtig nicht nur für -die Psychologie des Genies, sondern vor allem auch für die Beurteilung -des Dramatikers Grillparzer sein muß und die überdies, wir erfahren -es noch, in Shakespeares Selbstbekenntnissen, in seinen Sonetten -ihre Bestätigung findet, war der junge Mann, der sie aufschrieb, so -ergriffen, daß er den Ausruf hinzufügte: „Ich wollte, irgend ein -Dichter läse das!“</p> - -<p>Darin jedenfalls haben inzwischen viele Grillparzer zugestimmt, daß -auch sie den Macbeth für Shakespeares größtes Werk erklärt haben. -Und darin sind fast alle Beurteiler einhellig, daß Macbeth seine -klassischste, seine formvollendetste, seine der Antike geistig am -nächsten kommende Tragödie ist. Und in der Tat, kann man vor den und -jenen andern Werken Shakespeares wenigstens verstehen, wie der ganz -falsche Eindruck, der so lange gespukt hat, entstehen konnte, als -wäre er so eine Art Naturdichter, ein Volksdichter, der nachlässig -und unbekümmert wie ein trunkener Wilder seine Einfälle vor uns -ausschüttete, ein unbewußtes Genie, das sich um Überlegung, Berechnung, -Komposition nicht viel kümmerte,<span class="pagenum"><a name="Seite_51" id="Seite_51">[S. 51]</a></span> so kann bei Macbeth keinem, der -irgendwie aufzumerken imstande ist, im geringsten zweifelhaft sein, -daß hier alles geplant, gebaut, gewußt, gewollt ist, alles, Aufbau, -Szenenfolge, jede Rede und jedes Wort, was getan und gesagt und ebenso, -was geschwiegen wird. Mit dieser straffen Komposition, die an nichts so -sehr erinnert wie an die gespannten Muskeln in Macbeths Gesicht, wenn -er von Dunsinans Turm Ausschau hält nach dem Schicksal, das ihm nichts -anhaben soll; mit dieser festen Geschlossenheit, die ihres gleichen nur -hat in Macbeths finsterer Entschlossenheit, sich zu behaupten, damit -steht auch in Zusammenhang, daß das Stück die kürzeste aller Tragödien -Shakespeares ist, wie Hamlet die längste; Hamlet hat 4000 und Macbeth -nur 2100 Verse.</p> - -<p>Dämonische, sagen wir getrost teuflische Triebe im Innern des Menschen -und reale, äußere dämonische Mächte, Abgesandte der Hölle begegnen -einander: daß dieses Hereinragen der Geistersphäre diese Tragödie von -andern abhebt, sehen wir sofort. Auch haben wir eben gehört, daß es -so überliefert ist. Es liegt uns aber trotzdem die Frage ob: Wie ist -das? Wie steht es hier um das Verhältnis von Glauben, Aberglauben und -Wissen? Wie zumal ist das Verhältnis zu unsrer naturwissenschaftlichen -Weltanschauung?</p> - -<p>Vor allem ist da zu beachten: Shakespeare der Weite und Vielfältige -ist darum aus Notwendigkeit ein Dramatiker, weil er sein Geheimnis -zu wahren hat, weil er die Einheit der Person, die eine <em class="gesperrt">Frage</em> -ans Schicksal und ein Ringen mehr ist als eine Sicherheit, hinter -der gespaltenen Vielheit der Gestalten versteckt. So entsprechen -bei ihm Weltanschauung und geistige Stimmung, die in einem Stück -walten, durchaus der Gesinnung und Charakterhaltung der Hauptperson -oder den Tönungen und Bedingungen der Handlung, und es ist nicht -zu viel gesagt, wenn geradeswegs ausgesprochen wird, daß bei einem -Dichter wie Shakespeare die Weltanschauung viel mehr, als gewöhnlich -beachtet wird, ein je nach Bedarf wechselndes formales Element ist. -Was daher<span class="pagenum"><a name="Seite_52" id="Seite_52">[S. 52]</a></span> für ein besonderes Stück gilt, darf nie auf den ganzen -Dichter und seine Gesamthaltung übertragen werden: so passen sich -auch die Elementargeister, die Erscheinungen, die Gespenster immer -der Stimmung der Dichtung, der Innerlichkeit der Träger der Handlung -an: im Sommernachtstraum weht eine Renaissanceluft hell, neckisch, -spöttisch wie bei Ariost, eine Romantik also, die der Ausdruck mehr -des Rationalismus als irgendwie dumpfer Mystik ist; die Erscheinung -von Julius Cäsars Genius hinwiederum in ihrer klaren, würdevollen -Sprache steht ganz im Einklang mit der stoisch-republikanischen -Selbstbestimmung edel-gebildeter römischer Bürger. Man denke sich die -Hexen der schottischen Heide in dem Römerdrama, oder einen Kobold wie -Puck, einen Geisterfürsten wie Oberon im Macbeth, — und man wird -sofort merken, daß man mit einem souveränen Dichter zu tun hat und -daß die Frage nach seiner Befangenheit in Glauben und Aberglauben von -Seiten seiner Dramen kaum eine bündige Antwort finden wird.</p> - -<p>Für das Zeitalter Shakespeares und die Anschauungen, in denen die -besten Geister dieser Zeit standen, ist zu sagen, daß das, was wir -geneigt sind Aberglauben zu nennen, viel weniger Rückstände alter Zeit, -als gerade Anfänge natürlicher Betrachtung sind. Die Wissenschaft hat -sich nicht allmählich aus geringem und bescheidenem Keime zu uns herauf -entwickelt; wenn sich etwas auf diesem Gebiete aus kleinsten Anfängen -zu achtbarer Größe hinaufgesteigert hat, so ist es vielmehr gerade die -Bescheidenheit und Resignation. Im Anfang, im Zeitalter Fausts, hat das -Wissen im Glauben der Menschen die Gabe, Riesenkräfte zur theoretischen -wie praktischen Bezwingung der Natur zu verleihen; und diese Natur wird -nicht für harmlos und lediglich sachlichen Prinzipien oder gar nur -mathematischen Formeln unterworfen angesehen, sondern als strotzender -Kraftspeicher betrachtet. Man sieht die Natur ungeheuerlich, wozu eben -auch gehört, daß es in ihr nicht geheuer ist; alles Ungeheuerliche aber -wird<span class="pagenum"><a name="Seite_53" id="Seite_53">[S. 53]</a></span> als durchaus natürlich und unsrer bezwingenden Menschenkraft -erkennbar und zugänglich aufgefaßt.</p> - -<p>In alledem, was wir heute überwunden haben und dem Aberglauben -zuzuweisen geneigt sind, in der Alchemie und Astrologie, in dem -Glauben an Vorbedeutungen und Offenbarungen durch Naturgeschehnisse, -wie Erdbeben, Meteore, Finsternisse und dergleichen, steckt die -wissenschaftliche Frage an die von den Banden des Dogmatismus befreite, -seltsam, trächtig, gärend, chaotisch gewordene Welt: Ist hier nicht, -ist nicht zwischen innen und außen, zwischen Menschenschicksal -und Weltbewegung ein kausaler Zusammenhang? Die Frage gehört der -Wissenschaft an, so betrüblich paradox im eigentlichen Wortsinn es -auch klingen mag, eine Frage ein Wissen zu nennen, die Antwort aber, -die jene Zeit fand, entstammt starker, gestaltender dichterischer -Phantasie; wohl uns, wenn nach wiederum etlichen Jahrhunderten von -unsern Antworten das Selbe gesagt werden kann!</p> - -<p>So steht’s nun auch um den Hexenglauben, der in dem Glaubenssystem der -christlichen Zeit nie recht Platz fand, erst vom 14. Jahrhundert an ins -Kraut schoß und im Zeitalter der sprossenden Wissenschaft sich sein -System ausbildete, — woran sich Shakespeares gelehrter König Jakob in -eifrig pedantischer Arbeit redlich beteiligte.</p> - -<p>Überall begegnen wir der Tendenz, der auch dieser Glaube angehört, -nicht, das Geheimnis, das Grauen, den dunklen Zusammenhang zwischen -Materie und Seele ins Mechanische aufzulösen und die Welt, die man als -dämonisch erlebte, durch die Wissenschaft nüchtern zu machen, sondern -umgekehrt das Materielle als beseelt, als vom Geiste durchdrungen -und durchglüht zu erfassen. Das Göttliche und Teuflische war in die -Natur aufgenommen; dem Verständnis und der gebietenden Gewalt, der -Magie des Menschen sollte kein Gebiet mehr unerreichbar, mehr jenseits -verbleiben. Männer wie Giordano Bruno und Jakob Böhme, Shakespeares -Zeitgenossen, mit deren erstem er als junger<span class="pagenum"><a name="Seite_54" id="Seite_54">[S. 54]</a></span> Mensch sogar persönlich -in London Verkehr gepflogen haben könnte, machten den Versuch, die -symbolischen Heilswahrheiten der Religion naturwissenschaftlich zu -deuten, eine Physik und Chemie des Christentums zu begründen. Und immer -soll die Naturanschauung, soll die Einheit der Natur Geist und Materie -umfassen. Zu der Bescheidung, um der Kausalität willen auf die Frage -nach dem Zweck und dem Sinn, um der Wissenschaft willen auf das Suchen -der Wahrheit zu verzichten, war man noch nicht gekommen.</p> - -<p>In dieses Gebiet also, auf diese Stufe der schöpferischen Kraft und -Vehemenz des forschenden und ringenden Geistes gehört der Glaube von -Shakespeares Zeitalter an den Verkehr zwischen Menschen und dämonischen -Elementarwesen, die in die Stoffe und Kräfte der Natur gebannt sein -sollten, gleichviel hier, wie weit Shakespeare diesen Glauben teilte, -wie weit er als Dichter sich spielend, versuchend, versucherisch, -tragisch, dämonisch in ihm erging.</p> - -<p>Das Gewaltige und Einzige in der Darstellung des Dichters, die uns -hier beschäftigt, ist nun, daß Macbeth den Dämonen verfallen ist, -ohne — wie Faust zum Beispiel im Volksbuch und bei Marlowe — ein -ausdrückliches Bündnis mit ihnen einzugehen. Es ist ein Verhältnis wie -Sympathie oder Fernwirkung: er ruft die höllischen Mächte nur dadurch, -und sie, die uns allezeit unsichtbar umschweben, nehmen nur darum für -ihn Sichtbarkeit an, weil seine Gedanken, seine Triebe, seine dunkeln -Wünsche und undeutlichen Pläne ihnen verwandt sind. Welch eine Welt! -Welch eine prästabilierte Harmonie der Hölle! Was in unserm tiefsten, -finstersten Untergrund sich keimend regt und noch farblose, blasse -Würzelchen unsicher tastend nach außen schickt, das sind zugleich -Lockungen, die von draußen, vom Drunten nicht unsres Innern, sondern -der allverbreiteten Unterwelt her uns suchend, Einlaß begehrend, -unruhig schwirrend umkreisen und zu uns hinein wollen. Das ist hier -auf Erden nicht nur eine Welt des Stoffwechsels, wo der Leib des<span class="pagenum"><a name="Seite_55" id="Seite_55">[S. 55]</a></span> -Individuums in unausgesetztem Austauschverkehr mit der stofflichen Welt -steht, sondern eine Welt, wo die Kräfte, die Seelchen, die Dämonen des -Innern und Äußern im Wechselverhältnis stehen.</p> - -<p>Wir Laien, wir Normalen, wir Braven sagen so leichthin: Wo ein Wille -ist, ist ein Weg. Man überlegt aber nicht, was für eine Wechselwirkung, -was für eine geheimnisvolle Gemeinschaft damit zum Ausdruck gebracht -ist. Schon wenn dieses Geistige in uns, das wir Willen nennen, nur den -Finger rühren will und siehe da! es geschieht, schon da ist es so, wie -wenn dem Gedanken Mächte, die im Elementaren der Materie auf unsern -Befehl, auf unsre Bereitschaft warten, gehorchen und entgegenkommen. -Das Kindchen will an der Mutterbrust saugen; will aber die Brust nicht -auch geleert und befreit sein? Und wissen wir nicht, wenn nicht in der -Naturwissenschaft, so doch gewiß in der Welt, die wir die moralische -nennen, und das ist die, die den Dichter angeht, daß die Materie, die -uns dient, die wir brauchen und begehren und einheimsen und formen, daß -sie Herr über uns werden, daß sie uns mit Haut und Haaren verschlingen -kann?</p> - -<p>Nichts an höllischer Einwirkung kommt zu Macbeth bloß von außen, ohne -daß es von seiner innern Bereitschaft gerufen wäre; aber auch umgekehrt -freilich, und das macht seine besondere Welt aus, das stellt diese -der Sphäre der christlich-renaissancehaften Naturmagie zugehörige -Tragödie neben die antike: nichts, was sich in seinem Innern gebiert, -bleibt ohne dämonische Unterstützung, Weiterführung und Irreführung. -Gott, mein Gott, was würde aus uns allen, wenn die Dämonen uns und -unsern geheimen Regungen auch nur so hülfen, wie sie Macbeth zur Seite -treten: mit Verkündungen, Verheißungen, feierlichen Begrüßungen! Und -wenn nun gar wie hier diese Hilfe ein Beinstellen, die Verkündung -eine Zweideutigkeit, die Verheißung eine Fopperei, die Begrüßung ein -feindlicher Hohn wäre! Damit, daß wir<span class="pagenum"><a name="Seite_56" id="Seite_56">[S. 56]</a></span> das bedenken, haben wir, wie es -für die innige Aufnahme der Tragödie not tut, aus Macbeth, was immer -Entsetzliches er tue, den Bruder unsres Herzens gemacht, einen solchen -aber, der in leibhafter Wirklichkeit auf gehobener Ebene verkörpert -und erlebt, was uns in den Eingeweiden stecken bleibt. Nicht eine -zufällig-äußerliche Wirklichkeit fabelhafter Ferne, sondern unsre -nächste Gefahr, den Nachbarn all unsrer Emotionen und Begierden, -die Wahrheit unsres Innern stellt Macbeth uns vor Augen. Er ist ein -tragisch, ein dämonisch Auserwählter, ein übers menschliche Maß -hinaus Gesteigerter und über Menschenkraft Gequälter wie unser Vater -Prometheus, der zum Tisch der Götter zugelassen wurde, wie unser Bruder -Ödipus, über den die Götter in dem Spiel, das sie da droben üben, schon -vor der Geburt das Los warfen.</p> - -<p>Nun sollten wir bereitet sein, zu hören, was er ist, was er tut, was er -leidet, was ihm geschieht.</p> - -<p>Er ist einer der Großen Schottlands, der Vetter des Königs Duncan. -Solange Malcolm, der älteste Sohn des Königs, nicht für volljährig und -thronberechtigt erklärt ist, darf Macbeth sich für den rechtmäßigen -Thronerben halten. Auch in Schottland geht es so zu, wie damals fast -überall: eine richtige Thronfolgeordnung besteht nicht zu Recht; es -ist eine Mischung aus Wahlrecht der Stände und Erbkönigtum; keineswegs -folgt immer der älteste Sohn, oft ein andres, nah oder fern verwandtes -Glied des Königshauses, das sich durch Kraft oder Erfolg hervortut.</p> - -<p>Macbeth jedenfalls ist seit langem von keinem andern Gedanken erfüllt -als diesem: König zu werden. Daran, wie lange das schon in ihm bohrt, -erinnert ihn seine Frau in entscheidender Stunde. Und nun ist der -Moment zugleich da und vorbei: in schwerem Kampf, wo er Wunder der -Tapferkeit und Feldherrnkunst vollbracht hat, während der weiche König -zugesehen hat, hat er mit Banquo zusammen den Aufruhr und den äußern -Feind, den Norweger, nieder<span class="pagenum"><a name="Seite_57" id="Seite_57">[S. 57]</a></span>geschlagen. Der Thron hat gewankt, nun ist -er befestigt: Macbeth wird reich belohnt, in Rang und Macht erhöht; -aber unmittelbar nach der Schlacht, in Anwesenheit Macbeths und der -andern vertrautesten Stützen des Throns, wird Malcolm vom König zum -Erben des Reichs ernannt. Soll es dabei bleiben? Soll der Retter des -Reichs, der so lange den Gedanken genährt, dereinst König zu sein, von -Stund ab, von der Stunde seiner größten Leistung und Herrlichkeit an -vom Thron ausgeschlossen sein?</p> - -<p>Jetzt ausgeschlossen, wo seine Berufung, sein geheimer Wunsch gerade -eben, im Anschluß an die Schlacht, von den Dämonen bestätigt worden -ist? Wir sind dabei gewesen, wie zum ersten Mal in seinem Leben die -Welt des Geheimnisses nicht von innen, sondern real von außen zu ihm -gesprochen hat; und daß diese drei Schicksalsschwestern, die ihm im -Gewitter auf der öden Heide sichtbar wurden, nicht Einbildungen seiner -erregten Phantasie, sondern Vertreter der Geisterwelt waren, dafür -ist Feldherr Banquo der Zeuge, der dabei gewesen und auch mit ihnen -gesprochen hat.</p> - -<p>„Heil dir, Macbeth, Than von Glamis! Heil dir, Macbeth, Than von -Cawdor! Heil dir Macbeth, König demnächst!“ So begrüßen ihn die -schrecklichen Weiber. Das erste ist er, aber noch nicht lange; das -zweite scheint unmöglich, der Than von Cawdor lebt, und doch erfüllt es -sich sofort aufs erstaunlichste; und das dritte? König demnächst? Die -Hexen haben einmal gewußt, was noch kein Mensch wissen konnte; und nun? -Wie weiter? O, es scheint schnell kommen zu sollen, dieses künftige -Große; es scheint auf seine eigne Seele gelegt: der König will die -Nacht in Inverneß, auf Macbeths Burg verbringen!</p> - -<p>Und nun, da unsre innere Bühne noch einen weiteren Schauplatz umfaßt -als die Shakespeares, müssen wir, während der Abend sinkt, die -Kavalkade über Hügel, Täler und Heiden reiten sehen, dahinsprengen -hören. Der König und sein Gefolge in schnellem, fröhlichem Ritt, -Macbeth aber weit<span class="pagenum"><a name="Seite_58" id="Seite_58">[S. 58]</a></span> voraus, um Quartier zu machen! Das muß Schickung -sein; muß mit den Geistermächten zusammenhängen; welch eine -Gelegenheit, die so nie wiederkehrt! Auf einmal der anerkannte Held des -Landes geworden, geehrt und gefürchtet von allen, — und der König heut -zur Nacht in Inverneß! Es muß alles vorbereitet werden; jetzt, jetzt -muß es geschehen, muß ins Werk gesetzt werden, was kommen soll, was -verkündigt ist — — der Gedanke läßt ihn keinen Augenblick.</p> - -<p>Und zu Hause sitzt ihm eine, die all sein Planen in ergebenster, -mitreißender, befeuernder Gattenliebe teilt: sie muß vorbereitet -werden, sie muß vorbereiten: und noch schneller als er sprengt ein Bote -voraus, der die Nachricht bringt: der König kommt, kommt heute zur -Nacht, trifft sofort ein!</p> - -<p>Fast zu Tod erschöpft steigt der Bote vom Pferd, außer Atem; er selbst -kann in dem Zustand nicht vor die Herrin treten; ein Diener bringt ihr -die Meldung. Das ist „große Zeitung“.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Selbst der Rab’ ist heiser,</div> - <div class="verse">Der krächzt den Schicksalseintritt König Duncans</div> - <div class="verse">In meine Mauern.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Wie wunderbar schnell das alles sich fügt! Jetzt eben erst — die -beiden halten sich in steter Verbindung mit einander — hat sie -den Brief gelesen, den ein früherer Bote gebracht hat, der ihr die -Nachricht von Macbeths Sieg, von der Begegnung mit den Hexen und -ihrer übermenschlichen Kunde und der sofortigen Erfüllung der ersten -Prophezeiung gebracht hat. Schon war die Stimmung in ihr: es muß -geschehen, es muß getan werden. Und nun, wo ihr die Gelegenheit ins -Haus rennen soll, ist sie ganz gerüstet, ganz reif.</p> - -<p>Hier werfen wir erstmals einen Blick auf die seltsame Gleichheit und -Ungleichheit dieses liebenden Ehepaars.</p> - -<p>Ihn belauschen wir in seinen innersten Gedanken, seinen dialektischen, -die Vorfälle hin und her werfenden Erwägungen. Eine überirdische, eine -metaphysische Verkündung und Lockung ist zu ihm gekommen; schlimm -kann sie nicht sein, denn, sagt er sich, ein Pfand des Erfolgs ist -ihm sofort in<span class="pagenum"><a name="Seite_59" id="Seite_59">[S. 59]</a></span> die Hand gegeben worden. Schlimm wäre also für ihn das -Wesenlose, das Unwirkliche, das Lügenhafte. Aber gut? Gut kann diese -Prophezeiung auch nicht sein; denn er vermag es nicht, ruhig, geduldig, -vertrauend abzuwarten, bis sie eintrifft; Mord liegt ihm im Sinne; er -bekennt sich’s sofort. Dann aber ruft ihm wieder eine Stimme zu, es -müsse alles gut und in Ordnung sein; er solle sich doch nur beruhigen -und still halten; diese Geister sagten ja die Wahrheit:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Will Glück mich König, möge Glück mich krönen</div> - <div class="verse">Ohne mein Zutun.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Das aber ändert sich, sowie er vor den König getreten ist; da -wird schon klar, wie’s gemeint war; da bietet sich die dringende -Aufforderung: Prinz Malcolm ist nun zum Thronfolger ausersehen; ihm -soll genommen werden, was ihm zukommt, was er will, was er braucht; -aber es bietet sich auch die Gelegenheit: der König wird sein Gast. So -also ist’s gemeint; auf ihn ist die Tat gelegt; hält er sich still, -wird er nie König, er soll’s aber demnächst werden, er soll also -mithelfen, jetzt oder nie ist die Gelegenheit. So deutet er sich den -Zusammenhang aller innern und äußern Momente.</p> - -<p>Und doch schwankt er noch und will gerne schwanken; er ahnt: die -Entscheidung findet sich, zu Hause, bei der Frau. Darum der Eilbote; -darum sprengt er selber dem König voraus; er muß ihren Rat, ihre Stimme -vorher hören.</p> - -<p>Sie ist die teuerste Gefährtin seiner Größe, wie er sie nennt; die -Liebe dieses Paares, dem die Kinder weggestorben sind, ist ganz auf -den großen Plan, auf das Kind seines Ehrgeizes gesammelt. Er denkt, -noch schwankend, unbestimmt; was er aber brütend sinnt, das hält sie, -nachdem er ihr’s gesagt hat, mit eifernder Hingebung fest. Sie ist -weder ein Mannweib noch eine Furie, auch in der äußern Erscheinung ganz -weiblich; wir wissen, wie klein ihre Hand ist, wie ihr Mann in der -Mannigfaltigkeit kosender Anreden, die er im Brauche hat, „zarte Frau“, -wohl auch einmal „liebes Täubchen“ zu ihr sagt.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_60" id="Seite_60">[S. 60]</a></span></p> - -<p>Der Unterschied zwischen den beiden ist der: der Abstand zwischen -Unterbewußtsein und Oberbewußtsein funktioniert in ihnen verschieden; -es sind in ihnen andre Pendelschwingungen zwischen Vorsatz, -Vorstellung, Phantasie und Gefühl. Der Plan, die Idee: ich muß König -werden, stammt sicher von ihm; es wird uns ausdrücklich gesagt. Sie -nimmt ihn auf, folgt und geht dann voraus, da sich, was sie erst -einmal eingesehen hat, hemmungslos mit ihrem Willen verbindet und da -es Hindernisse für sie nicht geben darf; andre Gedanken können gegen -seinen Königsgedanken nicht aufkommen; und das Gefühl bleibt tief -drunten. „Du willst; also tu’s auch.“ Es gibt nichts Klareres.</p> - -<p>Er aber hat Hemmungen, die in seinem Oberbewußtsein, in seiner -vernünftigen Sphäre, das Wort in umfassendem Sinn genommen, vor sich -gehen; er hat die Moral, das Religiöse, das Bangen und Schwanken in -Verbindung mit der vernünftigen Überlegung. Er hat von Haus aus Weite -in seinem Kopf; sie ist darin ganz eng und darum unheimlich klar, -scharf und bestimmt. Denken, Planen heißt für sie nichts andres als die -Mittel für das Gewollte suchen. Da begreift sie kein Schwanken, kein -Zögern; sie rüttelt an ihm und ist imstande, fast verächtlich von ihm -und zu ihm zu reden.</p> - -<p>Sehr wahr ist etwas, worauf Grillparzer hinweist: „Shakespeare hat hier -nicht bloß Macbeth und seine Gattin, er hat Mann und Weib überhaupt -geschildert.“ Besser wäre zu sagen, daß der Dichter den ganz besonderen -Mann Macbeth in seiner einmalig individuellen Situation nie aus dem -Umkreis der Mannesart, das individuelle Weib, seine Frau, nie aus der -Sphäre des Weiblichen entfernt. Und wenn Grillparzer dann weiter sagt, -in Lady Macbeths Seele sei der Entschluß im ersten Augenblick reif, so -ist das nur wahr, wenn man dazu sagt, daß es der Gedanke ihres Mannes -ist, der in ihr sofort zum Entschluß erwächst und gesteifter Tatwille -wird. Richtig ist jedenfalls, sie bestimmt ihn zu seiner Tat, feuert -ihn an, hält ihn wie mit Klammern darin fest.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_61" id="Seite_61">[S. 61]</a></span></p> - -<p>Aber nun das sehr Richtige und Wichtige, was Grillparzer beobachtet -hat: „Aber jetzt, da gehandelt werden soll, kehrt sich auf einmal -das Verhältnis um. Macbeth schaudert, aber handelt; sein Weib, die -Entmenschte, die Verlockerin, war vor ihm in Duncans Zimmer, sie hatte -die Dolche in der Hand, —</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">‚hätt’ er nicht im Schlaf meinem Vater ähnlich gesehn,</div> - <div class="verse">ich hätt’s getan!‘“</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und Grillparzer, der von Anfang an gewußt hat, wie das Genie nicht -blind hinwirft, sondern sein Handwerk verstehn muß, fügt ganz -begeistert hinzu: „Ich ärgere mich oft über mich selbst, daß ich die -Idee, etwas zu schreiben, nicht aufgebe, wenn ich so was gelesen habe.“</p> - -<p>Sie also kann weder ursprünglich denken, noch letztgiltig handeln; -da stellt sich ihr der Schauder in den Weg; aus dem Gebiet, das sie -oben nicht kennt und nicht duldet, aus dem Gebiet der Erinnerungen, -Assoziationen, Verwandtschaften und Träume, aus dem zu Gefühl -gewordenen Leben der Vergangenheit herauf tritt etwas dazwischen und -lähmt ihre Hand.</p> - -<p>Zunächst aber tritt viel mehr die Einigkeit des Paars als seine -Getrenntheit zu Tage; das ist schauerlich wie das Eingreifen der -Unterirdischen in das Werk der Menschen, wie diese zwei zu schnödestem -Mordplan in ganz inniger Liebe verbunden sind. So stellen wir uns -bewundernd und ohne Schauder einen Löwen und seine Löwin vor; nur -daß wir hier doch von Anfang an wissen und fühlend miterleben: das -Bluthandwerk ist nicht ihr Beruf; es sind trotz allem empfindende, -phantasiebegabte, leidende und mitleidige Menschen!</p> - -<p>Zunächst aber spüren wir nur den frevlen Gegensatz zwischen ihrer Liebe -zu einander und ihrer Unmenschlichkeit, und dazu den Gegensatz zwischen -dem Vertrauen des Königs und ihrem Plan.</p> - -<p>Macbeth ist rasch vom Pferd gesprungen, ahnt die Königskavalkade dicht -hinter sich, es ist nur Zeit für ein paar hastige Worte, aber sie -verstehen sich sofort:</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_62" id="Seite_62">[S. 62]</a></span></p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Geliebtes Weib,</div> - <div class="verse">Der König ist heut’ Nacht bei uns.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>So tritt er in die Tür, und damit ist für sie in beschwörender -Zärtlichkeit alles gesagt. Sie wendet sich sofort, in fest -zusammengenommener, schneidender Kürze zum Praktischen:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und geht?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Eine unwahrhaft zögernde, schwankende und doch vielsagende Antwort -kommt von ihm:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Schon morgen, hat er vor.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Da, so sehr die Minute drängt, läßt sie sich Zeit zum Ausbruch, aber -rasch, heiser, zwischen Flüstern und Schreien:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">O nimmer soll</div> - <div class="verse">Die Sonne dieses Morgen sehn!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Der König kommt und fühlt sich ganz wohl: es ist der Abend nach der -siegreichen Schlacht; ihm scheint eine Stimmung des Friedens und -der Behaglichkeit in der Luft zu schweben. Und Banquo, dem allerlei -Gedanken fürs Nächste und Entfernte durch den Kopf gehen mögen — er -war dabei, wie dem Macbeth die Königskrone verheißen wurde, und hat -ihn dabei gut im Auge gehabt, und ihm, Banquo, ist von den wissenden -Schwestern verkündet worden, seine eigenen Nachkommen sollten einst -Könige sein —, Banquo bestärkt den König in seinem harmlosen Vertrauen.</p> - -<p>So geht man zur Tafel. Macbeth ist noch keineswegs mit sich im reinen. -Er nimmt keine Rücksicht darauf, daß es auffallen muß, wenn der Wirt -seine Gäste allein läßt; er kann nicht still sitzen; er geht hinaus und -erwägt. Es sollte schnell geschehen — aber die Folgen müssen bedacht -werden. Wie wird’s die Welt ansehen? welches Mitleid wird aufsteigen? -die Tat ist unerhört: der Untertan ermordet den König; der Vetter den -Nahverwandten; der Wirt den Gast; bei Nacht den Vertrauenden; blutige -Taten gegen ihn selbst können folgen.</p> - -<p>Die Frau kommt dazu; sie begreift von alledem nichts. Wozu jetzt dies -auffällige Benehmen? Er hat’s doch schon lange<span class="pagenum"><a name="Seite_63" id="Seite_63">[S. 63]</a></span> beschlossen; jetzt ist -die Gelegenheit, das kann er nicht leugnen; wie kann er schwanken? Er -hat sich’s zugeschworen, hat’s ihr geschworen: König zu werden; was -er geschworen hat, muß er tun. Nicht der entfernteste Gedanke kommt -ihr, an welches Heilige und Unverbrüchliche gerade der Schwur des -Menschen gebunden ist; sie versteht nichts andres in ihrem Hirn als -dieses Festhalten am Wort; sie formalisiert ihn und nagelt ihn fest; -eigensinnig, beschränkt wiederholt sie ihm, was er doch immer selbst -gesagt; und um ihm vorzuhalten, was Konsequenz und was Mannhaftigkeit -ist, zeigt sie ihm, und es verbindet sich dabei wahrhaft erhabenes -Gefühl mit ihrer Vorstellung, was es doch heißen wolle, sich Wort zu -halten und seinem Vorsatz treu und fest zu sein, sie zeigt ihm, was sie -als Frau Gräßlichstes, Unnennbares zu tun imstande wäre, wenn sie’s nur -erst sich vorgesetzt und sich und dem Gemahl geschworen hätte; sie sagt -es und sie glaubt es:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Ich hab’ gestillt und weiß,</div> - <div class="verse">Wie süß es ist, ein liebes Kind zu nähren, —</div> - <div class="verse">Ich hätt’ ihm, wie es mir ins Auge lachte,</div> - <div class="verse">Die Brust gerissen aus den weichen Kiefern,</div> - <div class="verse">Sein Hirn zerschmettert, hätt’ ich’s so geschworen,</div> - <div class="verse">Wie du geschworen hast!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Diese ihre Logik, Konsequenz, Entschlossenheit mit dem eiskalten -Pathos des Willensgedankens sticht wie ein blitzender Dolch in das -nächtige Dunkel, das wogend um ihn und in ihm braut. Der Mann täte -die Tat, so glauben wir in dieser Stunde, niemals, wenn nicht diese -dämonischen Mächte, dieses Teuflische wäre, wie es erst von den wüsten -Weibern in feierlicher Begrüßung und jetzt von seiner schönen Frau -mit seinen eignen Gedanken zu ihm spräche, wenn nicht das Ungeheure -ihn wie überirdischer, wie Geist- und Liebeszauber anlockte. So tritt -jetzt das Dämonische sichtbar, greifbar aus seinem Innern heraus; -jetzt wohnen wir seiner ersten Halluzination bei: den Dolch, gerade so -einen paßlichen für diese Tat, sieht er vor sich lockend in den Lüften -schweben und den<span class="pagenum"><a name="Seite_64" id="Seite_64">[S. 64]</a></span> Weg weisen; nun ist er zur Tat entschlossen, wie -einer, der unentrinnbarem Joch den Nacken beugt; er fühlt sich in die -Geisterwelt aufgenommen, und es ist ihm, als wäre sein Mord so etwas -wie das Tun eines Mondsüchtigen oder der Zwang, der einen Sklaven der -Wollust auf seine Wege zieht. Er ist in den Zauberkreis getreten; der -Bund mit den elementaren Mächten ist geschlossen; er tut, was er muß; -ernst, schaudernd, wie ein hoffnungslos Bezeichneter.</p> - -<p>Derweile besorgt die Frau in umsichtiger Ruhe, was vorbereitet werden -muß. Das kann sie gemächlich tun; was sollte sie dabei stören? -Dieses Zubereiten des Schlaftrunks, dieses Berauschtmachen der -Männer, das sind der äußern Erscheinung nach alles Hausfrauen- und -Köchinnenangelegenheiten, und nichts Bildhaftes ist dabei, was aus -ihrer Tiefe Unwillkürliches und Unbewußtes emporschnellen und ihr in -den Weg wälzen könnte.</p> - -<p>So geschieht die Tat. Trunkenheit liegt über den Gästen, betäubender -Schlaf über den Wächtern, die sie erst wie in Ausübung häuslicher -Handwerkskunst mit Blut bemalt, er dann in raschem Entschluß tötet.</p> - -<p>Über Macbeth aber kommt sofort die Reuequal, das inständige Leiden. -Stimmen tönen ihm durch die Nacht:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Schlaft nicht mehr!</div> - <div class="verse">Macbeth mordet den Schlaf!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und er fühlt: von nun an wird er selbst nicht mehr schlafen können.</p> - -<p>Sie aber ist immer noch, noch lange, ganz besonnen; von Stimmen hört -sie nur, was sie auf der Burg von Inverneß zu nächtlicher Stunde -gewohnt ist: die Eule mit ihrem Schrei, das Heimchen mit seinem -Gezirpe; das macht ihr nichts; sie ist in keine andre Welt eingetreten. -Vielmehr redet sie ihm rationalistisch gut zu: über so was darf man -nicht grübeln; man darf seine Tat nicht ansehn; ein bißchen Wasser -wäscht das Blut von der Hand.</p> - -<p>Wie anders werden wir’s noch von ihr hören! Gerade das!</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_65" id="Seite_65">[S. 65]</a></span></p> - -<p>Zunächst aber gelingt alles; das auffällige, das törichte Benehmen -Macbeths sieht wie herausfordernde Verwegenheit des Mächtigen aus. Die -Prinzen fliehn und bringen sich dadurch in Verdacht; so ergibt sich von -selbst, daß Macbeth, der Erbberechtigte, der Mächtigste, König wird. -Die Prophezeiung, die nur er und seine Frau und noch einer kennt, ist -erfüllt; kein Verdacht wagt es, laut zu werden.</p> - -<p>Es schweigt vor allem — Banquo. Da scheint ein seltsam -stillschweigendes Einverständnis zu herrschen; er ist eine Art -Mitwisser und Mitschuldiger; er ist mit bei den Hexen gewesen. Er steht -da wie einer, der seine Zeit abwartet. Und hat er nicht doppelt Grund -dazu? Ist, zwar nicht ihm selbst, aber doch seinem Geschlecht, nicht -die Nachfolge verheißen worden? Für ihn also und seine Erben soll -Macbeth das Gräßliche getan haben? Nein; diesmal will Macbeth den Kampf -mit dem Schicksal, mit der Vorbestimmung selbst aufnehmen; es soll -nicht kommen, wie die Sprecherinnen des Schicksals verkündet haben: -Banquo und dazu noch sein einziger Sohn, beide müssen sie fort aus der -Welt. Er ist es dem Schicksal, seinem Schicksal, schuldig, sich der -Verheißung, die einem andern zu Teil wurde, nicht zu fügen, sondern zu -tun, was geboten ist.</p> - -<p>Das ist das Eigentümliche an diesem Macbeth, der sein Alles an Eines, -an die Macht, gesetzt, der seine Phantasie nur nach diesem Einen hat -fahren und an ihm scheitern lassen, daß er nun seinem Trieb und der -Notwendigkeit seines Schicksals folgt wie einer Pflicht. Das hat Goethe -gesehen: das Wollen wird in Macbeth zum Sollen. Seine Tat an Duncan hat -er geleistet, weil er sie schuldig war, seinem Willen, dem Verhängnis, -seiner pochenden Frau, und nun folgt Schuld auf Schuld: alles aber tut -er finster, hart, in gepreßter Verzweiflung, wie ein Sklave.</p> - -<p>Daß er froh lachen oder lächeln könnte, solche Vorstellung ist uns -unmöglich; ja später, wenn er noch eine Stufe weiter gekommen ist, wird -er höhnisch auflachen können, wenn er<span class="pagenum"><a name="Seite_66" id="Seite_66">[S. 66]</a></span> an seine Unbesiegbarkeit und an -die Hexenoffenbarungen denkt.</p> - -<p>Es wird immer einsamer um den lustlosen Mann. Noch ist er gut und -sanft zur Königin; aber er zieht sie nicht mehr ins Vertrauen; er ist -nicht mehr der Mann, der er früher war, wo er so gern und immer wieder -ihr all sein Inneres eröffnete und seine Träume und Pläne mit ihr -besprach. Er hat genug von den Folgen, die diese Vertraulichkeit gehabt -hat; er zieht sich ins Schweigen zurück; damit schont er sie und sich -selber. Die Ermordung Banquos, durch gedungene Mörder, die auch eigene -Gründe zur Rache haben, entwirft er allein. Die Tat geschieht; ihr -phantastisches Element, das dem verheißenen Schicksal entgegentreten -sollte, mißlingt; Banquos Erbe entkommt; eine neue Bestätigung für -die Wahrheit der Hexensprüche; aber Banquo, die Gefahr für des Königs -Wirklichkeit, ist aus dem Wege geräumt.</p> - -<p>Nun aber tritt das Dämonische ganz gewaltsam aus seinem Innern heraus. -Längst ja zwingt sich der unselige Mann zu Dingen, die über seine -Kraft, über seine Natur gehen; in dem Augenblick, wo er da droben in -der Bewußtseinswelt die Zunge mit seinem Willen zwingt, heuchlerisch zu -reden und die Abwesenheit dessen zu bedauern, den er hat morden lassen, -stellt ihm das Unterbewußtsein die Gestalt des Ermordeten, so blutig -und entstellt, wie seine Phantasie drunten sie sich ausmalt, leibhaft -vor Augen. Nur er sieht die Gestalt, keiner der Gäste beim Bankett, -und ganz gewiß nicht die Lady, die uns hier noch einmal in ihrem -Rationalismus gegenübertritt; sie versteht ganz gut, was geschehen ist; -aber sie versteht nicht, wie man so sein kann; wollen und nicht wollen; -überlegt tun und bereuen; wie seltsam!</p> - -<p>Banquos Erscheinung ist eine Halluzination der Angst und des Grauens; -keiner hat sie gesehen, aber alle haben gehört, die fürchterlich -verräterischen Worte ihres Königs gehört. Das Land weiß nun, daß der -König durch greulichen Mord auf den Thron gekommen ist; seine eigne -Zunge hat’s aus<span class="pagenum"><a name="Seite_67" id="Seite_67">[S. 67]</a></span>schwatzen müssen. Und er wiederum weiß, daß die -andern ihn jetzt kennen: er fängt seine Schreckensherrschaft an; er -muß. „Wir sind noch jung in solchen Taten.“ In furchtbarer Bitterkeit -entschuldigt er sich für seine Empfindsamkeit. Er weiß: er muß -fortfahren, wie er begonnen. Und nun <em class="gesperrt">sucht</em> er die, die einstmals -von selbst, wie von selbst seinen Weg gekreuzt. Er weiß, hat es heute -Abend durch Banquos Erscheinung wieder neu erfahren: mit ihm ist’s -nicht wie mit andern Menschen. Er dient den Dämonen, sie sollen auch -ihm dienen. Er will alles wissen, will sein Geschick ganz kennen; will -alles tun, was das einmal Begonnene erfordert; und gälte es, weiter und -immer weiter durch Blut zu waten. Zurück? Das ist unmöglich. Vorwärts -also!</p> - -<p>Und so geht er streng entschlossen zu den Hexen in ihre Höhle. Aber sie -sind nun, wo er selber kommt, nicht mehr die nämlichen. Die Wendung -ist da; Hekate selbst, die Herrin und Göttin teuflischen Zaubers, hat -eingegriffen; bisher haben die bösen Triebe und Gewalten ihm gedient -und ihn hochgebracht; jetzt, wo er die schlimmste Mordtat begangen, wo -er letztgiltig sein besseres Ich getötet und sich zum Weg des Unholds -entschlossen hat, muß völlige Verblendung über ihn kommen: der Wahn, -ein Cäsar, ein Gott, ein Unverletzlicher, ein Erkorener zu sein.</p> - -<p>So werden ihm in der Hexenküche die drei neuen Verkündigungen -offenbart, die so sonderbar in einander greifen und die für ihn doch -keinerlei Widerspruch enthalten.</p> - -<p>Zuerst wird er vor Macduff gewarnt. Nun, das ist gut und sicher -ehrlich; dem hat er schon von selber nicht getraut; da soll abgeholfen -werden. Und es wird ja auch wohl gelingen, ihn unschädlich zu machen; -denn die zweite Verkündigung lautet, daß keiner, den ein Weib gebar, -kein Mensch in der Welt also, ihm etwas anhaben kann; und die dritte, -daß er unbesiegt bleibt, solange nicht der Wald von Birnam gegen seine -Bergfestung Dunsinan anrückt! Ja ja, so schwungvoll<span class="pagenum"><a name="Seite_68" id="Seite_68">[S. 68]</a></span> in Bildersprache -drücken sich diese phantastischen Geister aus, das kennt er schon; -er aber, der jetzt genug hat von der Phantasie und nüchtern geworden -ist, übersetzt es sich in unsre gemeine Menschensprache. Immer also, -immer, sein Leben lang soll er unbesiegt bleiben! Kein Menschenkind -soll ihn überwinden können! Jetzt hat er, was ihm einzig noch das Leben -erträglich macht, was ihn auf einmal befreit von allen Ängsten; denn -bei all seinen Anfällen war es ja immer die trügerische Ungewißheit, -was ihn erschreckt hat, waren es ja vor allem die Folgen, die er -gefürchtet hat. Aber jetzt hat er, was er braucht, was ihn festigt und -feit, was ihn über alle andern Menschen weit erhebt: die Sicherheit! -Eben die Sicherheit, die ihm Hekate als Höllenangebinde zugedacht hat.</p> - -<p>Er hat die Sicherheit, aber er ist nicht der Mann, sich in ihr zu -wiegen; er hat nicht vergessen, womit es angehoben hat: daß die Geister -den Spruch verkünden, und daß er selber das Amt hat, ihn auszuführen. -Kaum einen Augenblick überläßt er sich dem Gefühl der Befriedigung; -dann will er noch mehr wissen; sein Wille möchte übers Grab hinaus -wirken; wird Banquos Nachkommenschaft je über Schottland herrschen? -Und er sieht die ruhmreichen Könige vor Augen, die nicht seine, die -Banquos Erben sein sollen. (Das empfanden Shakespeares Zeitgenossen -nebenbei als eine Huldigung für König Jakob, der seinen Stammbaum auf -Banquo zurückführte; uns geht das nichts an.) Macbeth hat genug von -dem Hexenwesen; die Wut bäumt sich auf und weiß doch, daß sie gegen -das Schicksal ohnmächtig ist; aber in Ausführung des Schicksals gilt -es nun, grimmig im Lande zu wüten, zumal er sofort beim Verlassen der -Höhle die bedenkliche Botschaft empfängt, daß Macduff nach England -geflohen ist. Jetzt soll ein neues Regiment beginnen; hätte er gegen -Macduff sofort so gehandelt, wie es sein Argwohn ihm eingab, so wäre -das nicht geschehen. Nun ist er so weit, wie die Frau ihn hatte haben -wollen: keine Lücke darf es<span class="pagenum"><a name="Seite_69" id="Seite_69">[S. 69]</a></span> geben zwischen Gedanken und Tat; ohne -Besinnung, ohne Pause soll fürder ausgeführt werden, was er will, was -er soll. Das ist von je sein Feind gewesen, das Grübeln, die Besinnung, -die Betrachtung der Tat vor ihr und nach ihr. Jetzt hört das auf; -er hat Sicherheit; Sicherheit vor allem über seine Aufgabe: wie ein -Würgengel um seinen Thron zu mähen, auf daß er ungefährdet, unnahbar -und erhaben in der Leere stünde. Macduff ist weg, der einzige, den er -noch fürchten soll; da will er helfen, er braucht keine Geister dazu, -will nie mehr mit ihnen zu tun haben, die ihm ein höllisches Leben -bestimmen, aber keine Kinder und keine genießenden und entsühnenden -Erben gewähren. Sofort soll Macduffs Burg überfallen, soll alles -zerstört, sollen Weib und Kinder getötet werden.</p> - -<p>Und immer einsamer wird es um Macbeth. Auch von seinem Weib trennen ihn -jetzt Schranken wie Tore der Hölle; da er nun geworden ist, wie sie ihn -wollte, braucht er sie nicht mehr. Er braucht kein Gespräch mehr und -keine Vertraute; er braucht sich nicht zu äußern und kann sich nicht -äußern; die Tat ist seine Äußerung; er hat keine Gemeinschaft, hat -keine Liebe, hat kein Geschlecht mehr. Er ist der Tyrann: lebendig an -ihm sind nur seine Taten.</p> - -<p>So tritt er denn im Drama fürs erste in den Hintergrund, wie schon -vorher die Lady; wir sehen seine Wirkungen. Persönlich tritt nun -Macduff hervor, der Than von Fife, der Mann aus einer andern Welt, -deren wir uns nun aufatmend versichern: er will nur den als König -anerkennen, der auch die Tugenden des Herrschers hat; wundervoll ist -diese Szene, wie Malcolm, der junge Prinz, zu dem er nach England -kommt, ihn prüft, ob er kein Verräter, kein mörderischer Abgesandter -Macbeths ist; wie der Prinz sich selber alle Laster zuschreibt; wie -Macduff auf die Frage, ob so ein habgieriger, grausamer Lüstling zu -herrschen verdiene, ausbricht:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Zu herrschen wert?</div> - <div class="verse">Nein, nicht zu leben! — Unglücksel’ges Volk!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_70" id="Seite_70">[S. 70]</a></span></p> - -<p>Und gleich darauf trifft den edeln Macduff die Nachricht vom gräßlichen -Untergang seines Hauses: von der Ermordung der Frau und der Kinder.</p> - -<p>Eine der innigsten Szenen Shakespeares ist das, wie der vom größten -Leid Angesprungene kein Wort spricht, das Gesicht im Hut verbirgt und -dann, als Worte kommen, als er im Bilde sieht, wie der Geier auf sein -Nest losgestürzt ist, immer wieder fragt: Alle? Alle?</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">All meine lieben Küchlein? samt der Henne?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und wie er sich dann mannhaft faßt, den Schmerz um all seine Lieben -zum Schmerz ums Vaterland, um das von einem Tyrannen gequälte Volk -werden läßt, da kommt es in aller Ergriffenheit wie Glück über uns: wir -haben einen Mann und Menschen gesehn, in dem Liebe, Innigkeit, Güte, -Klarheit, Beherrschtheit in Harmonie stehen.</p> - -<p>Und unmittelbar — zum Beginn des Schlußakts — folgt dann die große -Szene der Unharmonischen. Nun dürfen wir in Grauen miterleben, was -alles in Lady Macbeth gelebt und empfunden hat, ohne daß sie’s hat -hochkommen lassen, ohne daß sie’s gewußt hat.</p> - -<p>Bei dieser Szene, wo ein enger, aber gewaltig starker Verstand endlich, -endlich überwältigt wird von der lange niedergedrückten Innerlichkeit, -darf uns das entscheidende Wort in den Sinn kommen, das im Kaufmann von -Venedig die Lösung gebracht hat, das Wort von dem Menschen,</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">der nicht Musik hat in ihm selbst, —</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>denn die Musik, die Harmonie war in diesem ärmsten Menschen, diesem -bösen Weiblein gestört, und die Seelenkrankheit der Nachtwandlerin -rührt uns nun zu Tränen beglückend wie die Auflösung einer Dissonanz. -(Kein Wunder drum, daß diese Nachtwandelszene ganze Opern geboren hat.) -Nun wäscht sie ohne Unterlaß und immer ohne Erfolg und ohne Ruhe die -Flecken ab, von denen ihr Rationalismus so kühl gemeint hatte, ein -Händewaschen genüge; nun stören Banquo und Lady Macduff ihren Schlaf, -an deren beider Tod sie<span class="pagenum"><a name="Seite_71" id="Seite_71">[S. 71]</a></span> selbst keine unmittelbare Schuld trägt; nun -seufzt und klagt sie aus dem Schlafe und zerstört sich von innen -heraus. Was tief drunten in ihr verschüttet lag, hat alles, alles -in sich gesammelt, was sie nicht des Aufmerkens für wert hielt; es -war immer noch eine andre in ihr als die, die vor sich und der Welt -die Rolle der Lady Macbeth spielte, — und nun ist sie gekommen, die -Unterdrückte, und ringt gewaltig mit der bösen, falschen Tyrannin ihrer -selbst. Man sagt später, „durch Gewalttat ihrer eignen Hände“ solle -sie sich das Leben genommen haben — und das ist sicher wahr, für ihr -Ende und für all die Jahre vorher, gleichviel, wie ihr äußeres Ende -schließlich war.</p> - -<p>Diese Szene geht auf derselben festen Burg Dunsinan vor sich, in der -der Tyrann haust, — aber haben wir nicht dabei immer das Gefühl, -die beiden, die einst so nah und zärtlich beisammen waren wie ein -Sittichpärchen, seien jetzt längst meilenweit getrennt? So wundert’s -uns nicht, daß Macbeth, wie er mitten im letzten Verzweiflungskampf die -Nachricht von ihrem Tod erhält, aus seiner versteinerten Öde heraus das -Ding erst wie einen unwillkommenen Botenbericht von sich schieben will:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft2">Sie hätte später sterben sollen;</div> - <div class="verse">Es wär’ wohl Zeit für solch ein Wort gekommen.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Dann aber kommt es doch, nicht wie Trauer um sein geliebtes Weib, -um diesen besonderen Menschen, sondern wie eine Besinnung über die -Sinnlosigkeit des ganzen Lebens über ihn. In diesem Augenblick, wo der -Verblendete, der eiserne Mann der Sicherheit, sich zu besinnen anfängt, -will auch in ihm wieder der alte Macbeth erwachen; auch für ihn ist -diese Auferstehung die Ankündigung des Endes. Wie der Zugefrorene sich -aber jetzt in der wüsten Welt, in seinem verwüsteten Leben umzusehen -beginnt, was gewahrt er? Das Leben ist Kerzenlicht, das Narren ins -modrige Grab leuchtet! Das Leben ist nichts als bewegter Schatten! Das -Leben ist</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_72" id="Seite_72">[S. 72]</a></span></p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">ein armer Komödiant,</div> - <div class="verse">Der auf der Bühn’ ein Stündlein lärmt und tobt</div> - <div class="verse">Und dann nicht mehr gehört wird; ’s ist ein Märchen,</div> - <div class="verse">Erzählt vom Irrsinn, voller Lärm und Wut,</div> - <div class="verse">Dessen Bedeutung: nichts.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Nichts! — Der Systematiker des Nihilismus konnte es nicht deutlicher, -nicht grimmiger sagen, — nichts bedeutet ihm mehr das Leben. Auch -ist er gar nicht mehr ein Lebendiger, gar nicht mehr er selbst: nur -noch der klapperdürre Träger eines Staatsgewandes, nur noch eine hohle -Rolle, nur noch der Mann, der spielen muß, was die Dämonen aus ihm -gemacht haben. Er selbst der Schauspieler, der den Tyrannen mimt, — -aber er will, er muß ihn weiter spielen, den königlichen Herrn, der -unbesiegbar ist. Er hat den erhabnen Wahn, den Cäsarenwahn, hat fast -ein Gefühl, als könne er nicht sterben, — wo doch etwas irgendwo in -ihm sich so längst nach Erlösung sehnt! Nach Erlösung aus dem Tode, den -er als Leben führt.</p> - -<p>Jetzt aber kommt, woran er nicht glaubt, wogegen er sich versteinert, -das Ende, die Nemesis, die Überwindung.</p> - -<p>Das Unmögliche richtet sich in seiner Welt der Tatsachenwirklichkeit -auf — der Wald rückt gegen seine Burg heran!</p> - -<p>Das ist uns, auch wenn wir nichts von ähnlichen Sagen wüßten, wie -ein Mythos: das grünende Leben empört sich gegen den Steinturm des -Tyrannen, dem das Herz auch von Marmelstein ist.</p> - -<p>Wir kennen aber, aus einer deutschen Überlieferung, die Sage von dem -König auf seiner festen Burg, gegen den am Maientag der König Grünewald -angerückt kam, alle Krieger mit grünen Maien geschmückt; da rief die -Königstochter:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Vater, gebt Euch gefangen,</div> - <div class="verse">Der Grünewald kommt gegangen!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>So wird in der Sage der Winter vom Frühling besiegt. So wird auch der -längst vereiste Macbeth von dem glühend reinen Prinzen Malcolm, von dem -warmherzigen Macduff,<span class="pagenum"><a name="Seite_73" id="Seite_73">[S. 73]</a></span> von dem ehrenfesten alten Siward, dem weisen und -beherrschten, überwunden.</p> - -<p>Die Orakel erfüllen sich und enthüllen sich in ihrer Zweideutigkeit; -und wie um die tragische Ironie zu verdoppeln und den harten -Tatsachenmenschen, den die Dämonie erzeugt hat, mit seinen eigenen -Waffen zu schlagen, löst sich alles Dämonische und Zauberhafte ins -Natürliche auf, und die Unmöglichkeit ist lange nicht so unmöglich, -wie die gefeite Sicherheit und Majestät von Hexen Gnaden, die der -besessene König für Wirklichkeit genommen hatte: der Wald kann freilich -nie gegangen kommen, — aber Soldaten der Revolutionsarmee können -Zweige tragen, um ihre große, überlegene Zahl dahinter zu bergen; -kein vom Weibe Geborener sollte Macbeth je überwinden können, nun -denn, Kleingläubiger, Ungläubiger, Wortgläubiger, Macduff hat aus dem -Mutterleib geschnitten werden müssen.</p> - -<p>Und die Führer des Ständeheers, das den Sieg erlangt — der Jüngling, -der Mann, der Greis — alle drei sind geprüfte Menschen der Harmonie; -Trieb und Geist sind ausgeglichen in ihnen; ihr Fühlen, ihr Wollen, ihr -Denken streben zur Einheit, ihr Unteres und ihr Oberes halten einander -die Wage.</p> - -<p>Faust — der Faust jener Zeit — hat ein Bündnis mit dem Teufel -geschlossen und wird am Ende vom Teufel geholt.</p> - -<p>In Macbeth haben sich die Teufel in der eignen Brust zusammengefunden -mit den teuflischen Mächten der Welt; er war ein Besessener, der hoch -kam und dem es glückte und der gebietend in der Macht stand wie mancher -besessene Unhold; der kein Glück und keine Freude seitdem kannte; der -wußte, daß er ein Fluch der Menschen war, und der, ohne zu wissen, -wofür, ein Sklave der Pflicht, ein ganz hart und trocken gewordener -Pflichtmensch, nur freilich dem Bösen verpflichtet, tapfer bis zum -Schluß sein Dasein verteidigt, sein Nichts!</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich fechte, bis das Fleisch mir von den Knochen</div> - <div class="verse">Gehackt ist.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_74" id="Seite_74">[S. 74]</a></span></p> - -<p>Daß er einst Gewissensbisse, Reue, Grauen, Angst vor Zusammenhängen und -Folgen, Furcht vor den Menschen gekannt hat, ist ihm längst nur noch -wie ein Märchen:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Vergessen hab’ ich fast der Furcht Geschmack.</div> - <div class="verse">Einst war die Zeit, wo meine Sinn’ erstarrten</div> - <div class="verse">Beim nächtlichen Geschrei, wo sich mein Haar</div> - <div class="verse">Bei einem Unglückswort erhob und sträubte,</div> - <div class="verse">Als lebte es; ich aß mich satt an Grausen;</div> - <div class="verse">Entsetzen, meinem blut’gen Sinn verwandt,</div> - <div class="verse">Erstaunt mich nicht mehr.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>So wenig wie er mehr begreift, wozu man lebt, versteht er, wie man -freiwillig dem Leben ein Ende machen, wie man dem Schicksal durch -den Freitod entrinnen wollen kann. Nichts faßt er, was mit Freiheit -zusammenhängt; es gibt kein vollendeteres Gegenbild des Brutus als -diesen Zinspflichtigen des cäsarischen Dämons; wie in der letzten -Schlacht die Not schon ans Äußerste geht, ruft er voller Hohn über so -eine unmögliche Vorstellung:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Soll spielen ich den römischen Narren und</div> - <div class="verse">Ins eigne Schwert mich stürzen?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>So ist dieser Tyrann, der dämonischer Ehrsucht gefröhnt hat, der Narr -und leibeigene Knecht des Lebenstriebs, eines Lebens aber, das keinen -andern Inhalt hat als Macht über andre, leere, ziellose Macht, die sich -nur behaupten kann durch unausgesetzte Gewalttat und die einen Sinn, -auch nur für ihren Träger selbst, so wenig hat wie einen Erben. Und -— er hat es in einer Stunde, wo ihm mit dem einstmals Liebsten alles -hinsinken und schwinden wollte, durchschaut — solch ein öder Wille zum -Dasein und zur Macht ist Wille zum Nichts. Solange er Angst und Reue -und Qual hatte, war er noch irgendwie im Reich der Lebenden gewesen; -sowie ihm die Hölle ihre unbewegte Ruhe und Sicherheit gegeben hatte, -gehörte er dem Reich der Leere, dem Nichts an und war nur noch ein -bewegter Schatten, ein Bühnen<span class="pagenum"><a name="Seite_75" id="Seite_75">[S. 75]</a></span>held mit allerlei Lärm und Wut, der seine -Rolle gut zu Ende führte und tapfer wie ein Held den Schlachtentod fand.</p> - -<p class="mtop2">Soviel ich weiß, können dem Dichter des Macbeth nur zwei spätere an die -Seite gestellt werden. Den einen hat Otto Ludwig genannt: Goethe, den -Dichter des Tasso. Für den andern halte ich Dostojewskij, den Dichter -des Raskolnikoff und des Iwan Karamasoff.</p> - -<p>Wenn ich hier bei genialen Menschen, die zeitlich weit auseinander -sind, von An-die-Seite-stellen rede, so kann ich damit nur meinen, daß -ein Gleiches da ist und ein Trennendes, nenne man’s Fortschritt oder -wie man wolle, es wird der Änderung im Geist der Zeit, aus dem oder -gegen den der Künstler sich erheben muß, entsprechen.</p> - -<p>So auch, wenn wir von Shakespeare aus rückwärts gehn und in der -Vergangenheit einen suchen, der seinesgleichen, der wie er also -und anders war. Wir werden keinen eher nennen als Sophokles und -werden erkennen: das Verhältnis des Menschen zu seinem Schicksal, -das Verhältnis innerer und äußerer Dämonie ist in aller Gleichheit -des Wesentlichen bei den beiden Dichtern ein anderes; die Macht der -Vernunftsphäre, die Freiheit, in der der Mensch gegen das Verhängnis -steht, die Macht des Individuums, sich zu wandeln und zu entwickeln, -ist in Shakespeare größer geworden. Selbst an dem finstern, strengen -und streng behandelten, aus der Bahn der Gewöhnlichkeit von den Mächten -ins Reich metaphysischer Lockung und Verfolgung gehobenen Macbeth und -in andrer Art an seiner Gefährtin erkennen wir die Möglichkeit des -μετανοεῖν, der Buße, der Umkehr und Heimkehr ins wahre Wesen, das -keinem Lebendigen in seinem Innern ganz und gar fehlen kann.</p> - -<p>Und dasselbe Verhältnis sehen wir fortschreitend zwischen Shakespeare -und den beiden Dichtern, die nach ihm kamen. Das Gleiche in den -Werken der drei Dichter, die ich nannte — Shakespeare, Goethe und -Dostojewskij —, ist, daß in<span class="pagenum"><a name="Seite_76" id="Seite_76">[S. 76]</a></span> vollendeter Art der Charakter sich selber -sein Schicksal baut, daß nicht hier die Tat ist und dort, nachher, von -außen die Vergeltung kommt, sondern daß Tat und Leiden ein einziger -Zusammenhang sind: in der Tat, im ursprünglichen Wesen, das die Tat aus -sich entlassen hat, liegt das Leiden, die Strafe.</p> - -<p>Ödipus straft sich selbst für das, was die Götter dadurch taten, daß -sie ihm sein Schicksal gaben.</p> - -<p>Diese Männer neuerer Zeit indessen sind vom Weltengeist gestraft, nicht -mit äußerem Schicksal zunächst, sondern mit ihrem inneren Wesen. Und -was von außen als Strafe über sie hereinbricht, ist in Wahrheit der -Anfang der Erlösung: auch für Macbeth, der längst kein Lebendiger mehr -ist, wenn der Tod ihn von seinem Posten abruft.</p> - -<p>Hier aber fängt gerade der Unterschied an zwischen den Dichtern unserer -näheren Zeit und Shakespeare: Strafe, Sühne, tragischer Ausgang fällt -für die modernen Tragiker nicht mehr so unbedingt mit dem Lebensausgang -zusammen. Den Knalleffekt des gewaltsam aus dem Leben gerissenen und -dann als Leiche daliegenden Menschen braucht unser Empfinden und unser -Geist — denn die hohe Dichtung wendet sich keineswegs bloß an die -Empfindung — nicht mehr. Tasso wie Macbeth, beide leben ihre Tragödie, -solange sie leben; aber für Macbeth und seine Welt ist es so notwendig, -daß er als einer, der gewaltsam gelebt hat, gewaltsam von hinnen geht, -wie für Tasso, daß das Äußere, Plötzliche, Einmalige des Ausgangs ohne -Bedeutung ist. Bei dieser Gestalt kommt alles nur darauf an, daß ihr -Wesen und Leben nicht in die Umgebung, nicht in die Welt paßt.</p> - -<p>Und wieder einer andern Tönung des mit der Zeit und dem Volksschlag -veränderlichen Teiles der Ausdrucksgestalt des Geistes gehören -Dostojewskijs Gestalten an. Raskolnikoff und gewiß auch — das Werk ist -unvollendet geblieben — Iwan Karamasoff, beides Mörder gleich Macbeth, -Iwan ein indirekter, der durch Psychologie die Mordtat zustande<span class="pagenum"><a name="Seite_77" id="Seite_77">[S. 77]</a></span> -bringt, sie beide überleben ihre Tragik, leben über sie hinaus, -überwinden ihr So-tun-müssen, So-wollen-müssen, das ihre Qual bedingt -hat.</p> - -<p>Ihre Tragik, ihr Aufruhr, ihr Nicht-in-die-Welt-passen und Zerfall mit -sich selbst, mit Gott und der Welt, ist ein Krampf und Übergangszustand -der Jugend.</p> - -<p>Da ist ein Neues, und Goethe der junge Dichter hat nicht gewußt, nicht -gestaltet, was Goethe der Mensch langen Lebens würdevoll bewährt hat: -daß Werther nämlich sich in Wahrheit nicht hat töten, sondern nur den -Krampf der Jugend bei furchtbarem Zusammenprall mit der schnöden Welt -hat überwinden müssen.</p> - -<p>Das aber gibt es bei diesen Gestalten Dostojewskijs: sie haben einen -so starken Grad der Erkenntnis in die Zusammenhänge des Innen und -Außen, ihres Wesens und der geschichtlich gewordenen Umgebung, daß -ihre Leidenschaft, ihr Napoleons- und Mordtrieb und ihr Leiden nur ein -Entwicklungsstadium in ihrem Leben bilden, daß sie durch Resignation -und Hoffnung, Hoffnung nicht so sehr für sich wie für die Menschheit, -gerettet werden.</p> - -<p>Etwas von dieser Entwicklung fängt gerade mit Shakespeare an: in -seinen beiden modernsten Tragödiengestalten Troilus und Hamlet und in -der Entwicklung des trotz allem nichttragischen Schauspiels Maß für -Maß. Troilus der Jüngling wächst und reift während der Handlung; als -Lebender sieht er am Ende des Dramas gefaßt und groß dem Untergang -seines Volkes entgegen. Und Hamlet? Wie er leben mußte, in dieser Welt, -das ist für uns seine Tragödie; daß er am Schluß gewaltsam stirbt, -und die Art, wie dieser Tod herbeigeführt wird, das hat etwas fast -Nebensächliches, ja sogar Ungemäßes und Konventionelles an sich.</p> - -<p>Und vielleicht darf ich hier sogar mit einer persönlichen Erinnerung -kommen. Als ich ein junger Student war und mich viel mit Hamlet -beschäftigte, konnte ich nicht anders: ich erklärte mir das ganze -seltsame Wesen des Dänenprinzen,<span class="pagenum"><a name="Seite_78" id="Seite_78">[S. 78]</a></span> seine Nähe am Wahnsinn, sein -furchtbares Leiden an sich und den Menschen — wovon allem wir an -seinem Ort ausführlich gesprochen haben —, ich erklärte mir das alles -mit der Pubertät, mit Jugend und Übergangszustand also.</p> - -<p>Kein Zweifel ist, daß auch in Hamlet potentiell eine Macht der Vernunft -vorhanden ist, deren höchste und reinste Gestalt, die Harmonie zwischen -Fühlen und Denken und Handeln, auch die höchste Tragik überwinden kann, -weil kein Äußeres, auch der Himmel und sein Verhängnis nicht, mächtiger -ist als der Mensch, der überwunden hat.</p> - -<p>Was da mit der Gesamthaltung des Sinnspiels Der Kaufmann von Venedig, -mit dem Schicksal und der Läuterung des Angelo und Troilus beginnt, -was im Vernunftwesen Hamlets angelegt ist, das wird auf Shakespeares -letztem Gipfel zu weihevoller Höhe gehoben im Wintermärchen und zumal -im Sturm, der, wie wir sehen wollen, von nichts anderm handelt als von -dem Sieg des Geistes über den Trieb.</p> - -<p>Tragik aber bleibt immer das Teil derer, deren Wesen nicht nur im -Triebhaften wurzelt — so sind wir alle beschaffen —, sondern aus -denen der Trieb wie Blattwerk und Blüte und Flamme zehrend, zündend -und verderbend nach oben schlägt. Auch sie haben Erkenntnis, manchmal -hohe und starke; aber nur eine solche, die ihr Licht auf den Trieb -wirft und dies Nächtige sichtbar macht, auch für sie selbst; nicht aber -die Erkenntnis, die Macht über den Trieb ist und beherrschend mit ihm -fertig wird.</p> - -<p>Ein solcher Triebmensch, ein Getriebener also, ein Bewirkter, Passiver, -von Dämonen Gepackter, so sehr er sich zumal später, nach seiner -Krise, einbildet, eine aktive Natur zu sein, ist Macbeth der König, -ganz anders denn doch von seiner innern Bestimmtheit seinem Schicksal -zugetrieben als König Ödipus, bei dem die Hybris und der Herrscherwahn -nur eine Begleiterscheinung, eine Folge und Widerspiegelung des -unbegreiflichen Beschlusses der Götter ist. Und als<span class="pagenum"><a name="Seite_79" id="Seite_79">[S. 79]</a></span> ein Triebmensch, -diesmal aber einer, der zum Lernen, zur Entwicklung der Vernunft wie -der Innigkeit noch im höchsten Greisenalter nicht zu alt ist, der vom -Schicksal in die Schule genommen wird und bei der Natur, beim Volk, bei -Narren und nicht zuletzt beim Unglück in die Lehre geht, wird sich uns -auch ein ganz anderer König enthüllen — jeder Zoll ein König! — das -nächste Mal —, König Lear.</p> - -<hr class="chap" /> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_80" id="Seite_80">[S. 80]</a></span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Koenig_Lear">König Lear</h2> - -</div> - -<p class="initial">Im Jahre 1603 erschien ein Buch eines gewissen Harsnet „Entdeckung und -Erklärung hervorragender papistischer Betrügereien“; darin findet sich -ein großer Teil der seltsamen Teufelsnamen, die Edgar Gloster in seinem -vorgegebenen Wahnsinn im Munde führt. Es ist also wahrscheinlich, daß -Shakespeare das Werk für diese Einzelheit benutzt hat, woraus sich -ergibt, daß der König Lear, wofür auch gar nichts spräche, nicht vor -1603 verfaßt sein wird. Im Jahre 1605 erschien ein Schauspiel, „Die -echte Chronikenhistorie von König Leir und seinen drei Töchtern“. -Dieses Stück hat, vom Rohen der Handlung abgesehen, so gut wie keine -Ähnlichkeit mit Shakespeares Stück und weist von seinem Geist so wenig -wie von seiner Komposition und Sprache etwas auf. Da nichts sicherer -ist, als daß dieses Stück nichts mit Shakespeare zu tun hat — außer -Tieck, der bei all seinem beinahe tiefen Verstand eine wahre Sucht -nach dem Verkehrten hatte, hat es, glaube ich, nur Simrock für möglich -gehalten, der vom Volkstümlichen im allgemeinen wie von Shakespeares -Volksart im besondern einen falschen Begriff hatte —, so kann man -annehmen, daß hier ein älteres Stück rasch gedruckt und als das echte -bezeichnet wurde, weil damals gerade Shakespeares Stück neu, noch nicht -gedruckt, aber begehrt war. Sicher wissen wir, daß Shakespeares König -Lear 1607 mit der Bemerkung ins Buchhändlerregister eingetragen wurde, -das Stück sei Weihnachten 1606 aufgeführt worden; diese Aufführung, -die vor dem König in Whitehall stattfand, braucht aber nicht die erste -gewesen zu sein. 1608 erschienen dann tatsächlich zwei von einander -abweichende Quartausgaben des Stückes. Der Text, den die Gesamtausgabe -von 1623 bringt, ist in vielem einzelnen bedeutend besser; dafür -fehlen ihm aber wichtigste Szenen, so vor allem die, wo Lear in -Wahnsinnswut seine Töchter aus<span class="pagenum"><a name="Seite_81" id="Seite_81">[S. 81]</a></span> der Luft zusammenballt und vor die -Richter stellt. Da diese Nachlaßausgabe trotz allem redlichen Willen -der Herausgeber Liederlichkeiten genug begeht, da ihr Text nicht im -entferntesten kanonische Geltung hat, da er so wenig von Shakespeare -endgültig festgesetzt worden ist wie der, den die bei seinen Lebzeiten -erschienenen Raubausgaben bringen, da man auf alle möglichen Gründe zur -Erklärung der Auslassung raten kann, haben wir dem Schicksal lediglich -dankbar zu sein, daß wir diese prachtvolle Hauptszene haben; sie aus -dem Text wegzulassen und in den kritischen Apparat zu verbannen, blieb -dem Tieck <em>redivivus</em> unserer Tage Gundolf vorbehalten.</p> - -<p>Die Geschichte vom König Lear war offenbar sehr bekannt und beliebt; -ich nenne hier, ohne auf einzelnes einzugehen, die Quellen, die -Shakespeare sicher bekannt waren: Mitte des 12. Jahrhunderts verfaßte -der Bischof Galfried von Monmouth nach Überlieferungen in seiner -Heimat Wales die „Geschichte der britischen Könige“, die 1508 in Paris -lateinisch gedruckt erschien; darin berichtet er auch von Lear und -seinen drei Töchtern. In allem Wesentlichen stützte sich Shakespeare -aber wieder auf Holinsheds Chronik, deren zweite Ausgabe aus dem Jahr -1587 stammt. Dichterische Bearbeitungen fand er in dem Lehrgedicht -„Spiegel der Obrigkeiten“ von 1575 und in Spensers „Feenkönigin“ von -1590. Das erwähnte Chronikendrama wird er doch wohl gekannt haben; eine -der hölzernen Gestalten, die sich in Shakespeare zu seinem wundervollen -Kent verwandelt haben kann, der in der sonstigen Überlieferung kein -Vorbild hat, unterstützt die allgemeinen Erwägungen, die dafür -sprechen. In allem übrigen aber hat er das biedere Ding, das so -ungefähr auf dem Niveau von Hans Sachs steht, so gar nicht benutzt, daß -keinerlei wirklicher Beweis dafür da ist, daß er es gekannt hat.</p> - -<p>Nun ist aber in der ganzen Überlieferung von den Vorfällen im Haus -Gloster mit keinem Wort die Rede.<span class="pagenum"><a name="Seite_82" id="Seite_82">[S. 82]</a></span> Shakespeare flocht diese Tragödie -kunstvoll in die Lear-Tragödie ein, indem er eine ganz andere Fabel, -die Geschichte vom paphlagonischen König, die er in Sidneys „Arcadia“ -vom Jahr 1590 fand, benutzte.</p> - -<p>All diese Texte, die Shakespeare vorlagen, sind im Original -und in guter deutscher Übersetzung in einem sehr hübschen und -lehrreichen Büchlein zu finden, dem ersten Band einer Sammlung von -„Shakespeares Quellen“, die Alois Brandl im Auftrag der Deutschen -Shakespeare-Gesellschaft herausgibt.</p> - -<p>Seien nun zunächst die Grundelemente der überlieferten äußern Handlung -und Shakespeares Abweichungen von den groben Zügen dieser Fabel -zusammengestellt.</p> - -<p>Die Regierung des Britenkönigs Lear, der in noch älterer Gestalt -der Sage ein keltischer Gott gewesen zu sein scheint, wird in eine -fabelhafte Vorzeit verlegt; wir haben die Wahl, ob wir das Jahr 600 -oder gar 800 vor Christus nennen wollen. Immer ist er bei Beginn der -merkwürdigen Geschehnisse sehr alt. Er hat drei Töchter, deren jüngste -sich durch Schönheit und Klugheit auszeichnet und von ihm besonders -geliebt wird; die beiden andern sind, wie wir im Märchen so häufig -hören, böse und neidisch. Nun will er das Reich teilen und zugleich die -Töchter verheiraten. Damit in Verbindung stellt er ihnen die Frage, -welche von ihnen ihn am liebsten habe. Die bösen Töchter antworten -schwülstig schmeichlerisch; Cordelia — die Überlieferung ist in der -Deutung dieses schwierigen Charakters nicht ganz einig — spricht sich -bald trocken, bald trotzig, bald keusch zurückhaltend aus; immer aber -für ihn sehr unbefriedigend und überraschend. Sie wird enterbt; aber -der König von Frankreich nimmt sie auch so, als armes Mädchen, zur -Frau. Lear wird dann durch Goneril und Regan schlecht behandelt, sein -Rittergefolge, das er sich ausbedungen hatte, immer mehr verkleinert. -Zuletzt geht es ihm bei diesen vorgezogenen<span class="pagenum"><a name="Seite_83" id="Seite_83">[S. 83]</a></span> Töchtern so schlecht, -daß er nach Frankreich flieht. Dort findet er am Hof die liebevollste -Aufnahme. Es kommt zum Krieg; Frankreich siegt; Lear wird wieder -König und lebt noch ein paar Jahre. Nach seinem Tod besteigt Cordelia -den Thron. Etliche Jahre später aber erheben sich die Söhne ihrer -Schwestern gegen die Herrschaft der Tante und erlangen den Sieg; sie -wird gefangen gesetzt und erhängt sich im Gefängnis.</p> - -<p>Hier nun können wir Shakespeare sehr schön bei der Arbeit beobachten; -wir sehen, wie er aus kompositorischen und inneren Gründen -zusammengezogen und geändert hat, wie er aber dabei von den Elementen -der Tradition in irgend einer Umgestaltung noch nimmt, was er irgend -brauchen kann. Frankreich und Cordelia siegen in der Überlieferung; -Lear wird wieder König; etliche Jahre später wird Cordelia in einem -neuen Krieg besiegt. Diese Dehnung am Schluß konnte der Dichter nicht -brauchen; ein Sieg Frankreichs über die Briten paßte also nicht zu -seinem Schluß; er wird auch sonst keine Lust gehabt haben, ihn ohne Not -auf die Bühne zu bringen. Aber daß Lear wieder König wird, entsteht, -wenngleich nicht für Jahre, so doch für Augenblicke irgendwie vor -unsrer Vorstellung: er wird wieder groß, königlich, gebieterisch, ehe -er stirbt. Cordelia in der Überlieferung erhängt sich im Gefängnis nach -ihrer Niederlage; bei Shakespeare wird sie gleich das erste Mal besiegt -und von Edmund verräterisch ermordet; aber die Tat geschieht ebenfalls -im Gefängnis und durch den Strick.</p> - -<p>Aber was hat Shakespeare sonst noch der dürren Fabel gegeben! Seine -wichtigste Zutat ist Lears Wahnsinn, von dem die Überlieferung nichts -weiß, und alles, was damit zusammenhängt; die Nachtszenen im Gewitter -auf der Heide, in der Hütte, auf dem Pachtgut. Kents Widerspruch bei -Lears Verstoßung Cordelias, seine Verbannung und Treue sind neu; -wie gesagt, eine Spur davon bot das ältere Drama. Wie Cordelia zum -König von Frankreich kommt, ist völlig<span class="pagenum"><a name="Seite_84" id="Seite_84">[S. 84]</a></span> verändert; da hat Shakespeare -vor allem viel Liebesromantik, die ihm in dieses Stück nicht paßte, -weggelassen; dafür hat er die Doppelwerbung Burgunds und Frankreichs -erfunden, um Frankreichs edle Gesinnung in Kürze zu zeichnen. -Wiederum Shakespeares Erfindung ist, daß die beiden Ehemänner der -bösen Schwestern sich wesentlich unterscheiden; bei ihm ist Gonerils -Gemahl Albanien ein edler, rechtschaffener Mann; das brauchte er im -Zusammenhang der Glosterhandlung, brauchte es wohl auch zum Ersatz des -Königs von Frankreich, der ganz in den Hintergrund trat. Der Narr ist -völlig Shakespeares Erfindung. Und dann die ganze Glosterhandlung: -Glosters Erlebnisse mit den beiden Söhnen, mit Regan und Cornwall; des -Bastards Edmund Beziehungen zu Goneril und Regan; Edgars verstellter -Wahnsinn und Zusammenhang mit Lear; Glosters Blendung und Erlebnisse -mit dem Sohn und Lear; Edmunds entscheidendes Eingreifen in den Krieg -und gegen Cordelia: all diese aufs engste verflochtenen Beziehungen der -drei Gloster zu Lear und seinen Töchtern stammen ganz von Shakespeare, -können natürlich auch in der Geschichte des paphlagonischen Königs -nicht vorgebildet sein.</p> - -<p>Zwei sinnvoll nebeneinander laufende und aufs natürlichste ineinander -verflochtene Handlungen, reichlich Stoff für ein großes Drama hätte -Shakespeare in der ursprünglichen Überlieferung gehabt: Lears -Erlebnisse mit den Töchtern; Cordelias und des Königs von Frankreich -Liebesabenteuer. Das hätte ein Stück werden können, mit seinem -Ineinander des triebhaft Wilden, Willkürlichen in der alten Generation -und des freien Liebesspiels in der jungen, ganz anders als das hölzerne -Chronikenspiel es machte, ganz shakespearisch, so wie Shakespeare eine -ähnliche Doppelfabel in der Tat später im Wintermärchen behandelt -hat. Aber daß es ihm diesmal auf ganz anderes ankam, zeigt eben die -Tatsache, daß er das Liebesspiel unschuldiger Jugend in Wald und -freier Natur, dem er sich sonst so oft zugewandt hat,<span class="pagenum"><a name="Seite_85" id="Seite_85">[S. 85]</a></span> radikal aus dem -überlieferten Stoff austilgte und statt dessen mit der Glosterhandlung -Ereignisse einfügte, die gegen Lears Geschichte sich nicht abheben, -sondern das nämliche Thema verstärkt variieren und die Lears Erlebnis, -das er selbst so überraschend in seinen Reden manchmal ins Sexuelle -hinüberspielt, auch in der Handlung, die wir vor Augen haben, in -den Vorgängen zwischen dem Bastard Edmund und Lears Töchtern, in -Verbindung bringen nicht mit unschuldiger Liebe, sondern mit arger und -frevelhafter Verkuppelung von Geschlechtstrieb und Machtgier.</p> - -<p>König Lear, wir sehen es mit seinem ersten Auftreten und blicken immer -tiefer in seinen innern Zustand hinein, ist ein Mann des Triebs, der -Willkür, gutartig dabei, aber jäh, ungezügelt. Ungeheuer stark prägt -sich sein Königsbewußtsein aus; er ist eigensüchtig und eigensinnig, -ist es von je gewesen und in seinem hohen Alter noch viel mehr -geworden. Aber eine ganz besondere Spielart in Shakespeares Sammlung -gebietender Triebmenschen stellt er vor. Ohne Frage hat Lear mit -Macbeth, mit König Claudius, mit Richard III. Züge genug, entscheidende -Züge gemeinsam; am ehesten aber wirkt er, wie ein in langer -Regierungszeit von keiner Rebellion gestörter, alt gewordener Richard -II.; eine unverwüstlich gute Anlage ist in ihm, und sein Schöpfer, -so scharf er ihn ansieht, entzieht ihm niemals seine Sympathie. Auch -insofern darf er mit König Leontes aus dem Wintermärchen verglichen -werden. Der wird von der Raserei seines eingewurzelten Triebs, seiner -Willkür und Tyrannei im Gang der Handlung, vor allem durch das -Eingreifen einer resoluten Frau, die ihn in die Kur nimmt, geheilt. -Die Gattin, der Gegenstand seiner Wut, wird ihm weggenommen; er -glaubt, durch sein Gericht in den Tod; in Wahrheit durch Intrige vor -ihm verborgen. So ist das Wintermärchen, obwohl es in einem Punkt -bis ins Allerletzte der Seelenergründung geht, doch keine Tragödie -und kein Lebensdrama geworden, sondern ein Spiel; darum<span class="pagenum"><a name="Seite_86" id="Seite_86">[S. 86]</a></span> auch hat in -ihm die heitere Liebesepisode und so manche andre Erholung Platz, -und die Heilung und Befreiung des Königs ist der Zeit anvertraut, -die übersprungen wird. Wie anders im Lear! Da sind wir dabei, wie -allmählich, Stufe um Stufe, auf seltsamstem Weg die neuen Umstände, -die furchtbarsten Erfahrungen eine Wandlung und Läuterung von innen -hervorbringen.</p> - -<p>Lear der König, der alte Mann, der Vater legt großen Wert auf -die Liebe; aber — Strindberg hat gut darauf hingewiesen — der -Eigenwillige, Heftige, Launische versteht unter Liebe vor allem: sich -lieben lassen. Mildernd ist da allerdings zu sagen: er ist alt, fühlt -sich hinfällig, hat, ohne daß er’s in seinem starken Verlangen nach -majestätischem Auftreten zeigen will, das Bedürfnis, sich anzulehnen; -sein starkes Reden, Pochen und Kopf-in-den-Nacken-werfen täuscht nicht -darüber, er ist schon ein wenig weinerlich geworden; er blickt sich, -nur soll man’s nicht merken, nach Liebe und Pflege um.</p> - -<p>Wie mag er früher gewesen sein, als er noch rüstig war, in der -Manneszeit, in der Jugend? Auch da hat Strindberg etwas Interessantes, -auch für ihn selbst Bezeichnendes gefragt: was hat König Lear -eigentlich für eine Frau gehabt? Jetzt ist sie tot. Wie hat er mit -ihr gelebt? Die Kinder dieser Ehe sind jedenfalls sehr ungleich -ausgefallen, und ungleich werden wohl auch ihrer beider Naturen, -untereinander und jede in sich, gewesen sein; ungleich etwa auch Art -und Grad ihres Zusammenlebens. Erwähnt wird die Frau nur einmal. Wie -Regan den Vater, der sich unzeitig bei ihr einquartieren will, mit kaum -unterdrücktem Zorn begrüßt:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich freu’ mich, Euer Majestät zu sehn,</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>da erwidert er mißtrauisch:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Regan, ich denk’, du tust’s, und weiß den Grund,</div> - <div class="verse">Warum ich’s denke: wärst du nicht erfreut,</div> - <div class="verse">Ich schiede mich von deiner Mutter Grab,</div> - <div class="verse">Weil’s eine Ehebrecherin verschlösse.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_87" id="Seite_87">[S. 87]</a></span></p> - -<p>Schließlich heißt das nur in einer etwas blühenden Gleichnissprache: Du -bist mein echtes Kind nicht, wenn du dich nicht freust, deinen Vater -zu sehen! Aber dies Stück stammt aus der Periode, wo Shakespeare schon -lange nicht mehr die üppige Sprache mit sich, sondern höchstens mit -den Personen davonlaufen läßt, für deren Charakter und Erleben sie -kennzeichnend ist; und überdies dürfen wir glauben, daß dem reifen -Dichter, als er Lear gerade so und nicht anders reden ließ, die Frage -nach Lears Weib schon auch selber einfiel, und vor allem: wir werden -noch hören, wie Lear später, wo mit der Tollheit die Erinnerungen -farbig und brennend heraufgekommen sind, sich über den Zusammenhang von -Machtwillkür und Weibsgemeinheit äußern wird. Ein gewisser Einblick -in das frühere Leben und die Beschaffenheit der Ehe eröffnet sich da -schon, und mehr als diese allgemeine Stimmung brauchen wir nicht; mehr -hat auch der Dichter selbst nicht gewußt.</p> - -<p>Was die beiden ältesten Töchter über ihren Vater äußern, soll wohl -vor allem ihre Lieblosigkeit kennzeichnen; der böse Blick aber sieht -scharf, und was sie von den Schwächen, den Altersschwächen ihres -Vaters sagen, finden wir im Sachlichen selbst bestätigt und glauben -den Töchtern gern, daß das im Alter sich nur verstärkt hat, aber -schon immer seine Manier war. Und wenn nun Goneril, das junge Weib, -klagt, „die besten rüstigsten Jahre seines Lebens“ seien auch schon -voll Übereilung gewesen, so finden wir das recht glaubhaft; sie wird -sich aus ihrer Kinderzeit, etwa auch aus Erzählungen, an genug solche -Auftritte erinnern. Er ist ein Mann, von dem ungestüme Launen, jähe -Machtsprüche zu erwarten sind. Vielleicht ist aber doch die Szene, -mit der die Handlung einsetzt, das tollste Stück, das er je geleistet -hat. Die beiden ältesten Töchter sind schon verheiratet; um Cordelia, -die jüngste, bewerben sich zwei hochansehnliche Freier. Das wurmt ihn -innerlich schon, ohne daß er sich’s eingesteht, daß das jüngste und -liebste Kind<span class="pagenum"><a name="Seite_88" id="Seite_88">[S. 88]</a></span> ihn nun auch noch verlassen, einem andern in Liebe folgen -soll:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sie war mein liebstes Kind; des Alters Trost</div> - <div class="verse">Hofft’ ich von ihrer Pflege.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Sie hätte ganz bei ihm bleiben sollen; er ist nicht der Mann zu -begreifen, wie man einen andern lieb haben kann; und nun soll sie -gar so weit weg; zwei Ausländer, man könnte fast Schlimmeres sagen, -Landesfeinde bewerben sich um sie; die beiden älteren Töchter haben -wenigstens Herzöge Britanniens zu Männern genommen. Nun wird sie wohl -gar, wenn er ihr schon ein Drittel des Landes gibt, die meiste Zeit -fort, drüben in Frankreich oder Burgund sein. Auf jeden Fall will er -sich’s jetzt bequem machen, will die Last der Regierung auf seine alten -Tage los sein, aber ein reiches, üppiges, königlich gebieterisches -Leben mit Jagden und Festen und Ritterfahrten weiter führen. Diesen -seinen Entschluß betrachtet er als einen edelmütig liebevollen -Verzicht, als Großmut; er hält es für selbstverständlich, daß die -Töchter und der Hof ihn so nehmen müssen; und da ist es, meint er, -das wenigste, daß sie ihm dafür jetzt, in feierlicher Staatssitzung -versichern, wie lieb sie ihn haben, das heißt, wie gut er ist.</p> - -<p>Und gerade das kann Cordelia nicht! Ihre beiden Schwestern nehmen die -Sache politisch; wenn Paris eine Messe wert ist, sind sie ja wohl keine -Teufelinnen aus der Hölle, sondern bloß Fürstinnen durchschnittlicher -Art, wenn sie für ein Drittel Britanniens ihrem despotischen Vater mit -schönen Redensarten um den Bart gehen. Wie man Shakespearephilologie -von seiner übrigen Gesinnung trennen kann, verstehe ich nicht, -aufrichtig gesagt; ich habe in der Tat gar nichts dagegen und sehr -viel dafür, wenn man sich auf den wunderschönen Standpunkt Cordelias -stellt; aber damit, daß man ihre Haltung bewundert und die der -andern Schwestern als etwas abgründlich Schlechtes, als schnöde -Heuchelei verdammt, ist es nicht getan. Unser ganzes öffentliches, -gesell<span class="pagenum"><a name="Seite_89" id="Seite_89">[S. 89]</a></span>schaftliches und Familienleben wird radikal umgestaltet, wenn -man auf Cordelias Boden tritt. Goneril und Regan benehmen sich höchst -abscheulich und ganz nach der Regel. In Cordelia, die bisher ein Kind -war und nun vielleicht zum ersten Mal berufen ist, vorzutreten und ihr -Inneres zu offenbaren, tritt diesem herrischen, eigensüchtigen, an -Liebedienerei gewöhnten König zum ersten Mal ein Ausnahmemensch, zum -ersten Mal jemand entgegen, dem das Gebot des Herzens wichtiger ist als -alles andre in der Welt. Und das ist sein eignes, sein liebstes Kind! -Keine Frage, er weiß es bloß nicht, darum liebt er sie vor allen, weil -ihre Innigkeit, ihre Menschlichkeit, ihre Echtheit ihm wohltut; weil -sich die Übereinstimmung von Fühlen und Handeln, die ihr notwendig -ist, in ihren Bewegungen, ihrem Antlitz, dem Blick ihrer Augen und -hundert täglichen Kleinigkeiten äußert. Keineswegs kann man sagen, daß -sie eine Fanatikerin der Wahrheit wäre; dann müßte das Denken in ihr -besonders entwickelt sein, und sie könnte dann ihrer echten Liebe zum -Vater wahrscheinlich einen recht starken Ausdruck geben. Sie ist aber -in keiner Weise unter wahrhaften Menschen eine Ausnahmeerscheinung; -sie ist es nur in der knechtisch-lügnerischen Umgebung, wie man sie -allenthalben, ganz besonders aber am Hofe trifft. Ein sprödes Mädchen -ist sie; sie kann ihr Herz nicht auf dem Präsentierteller herumreichen, -kann nicht in einer Staatssitzung, kann vor allem nicht zu einem Zwecke -von ihren Gefühlen sprechen. Von den Gefühlen zu sprechen geht gegen -das Gefühl; Gefühle äußern sich im stillen, fortwährenden Tun und in -plötzlichen Erhebungen und Aufwallungen. Der König zwar erwartet, wenn -er verkündet, er wolle zurücktreten und das Reich seinen Töchtern -und Tochtermännern schenken, müsse eine solche Aufwallung, die ihm -echt und von innen aufschießend vielleicht noch nie im Leben, gemacht -aber gewiß immerzu begegnet ist, sich sofort einstellen; und die -gezierten Äußerungen der beiden andern Töchter, derengleichen er für<span class="pagenum"><a name="Seite_90" id="Seite_90">[S. 90]</a></span> -ungewöhnliche Dankbarkeit, zu der er so oft Veranlassung gegeben hat, -gewohnt ist, nimmt er für solche Ausbrüche. Cordelia aber horcht in -sich hinein und findet in diesem Augenblick nur Leere. Den Äußerungen -ihrer Schwestern hört sie die Berechnung an, und so wird aus ihrem -Unvermögen, sich jetzt zu äußern, Verstocktheit. Es kommt aber noch -etwas dazu. Der Kindheit entwachsen, eine Jungfrau geworden ist sie -durch die ersten Regungen der Liebe, einer Liebe so ganz andrer Art -als die Kindesliebe. Wir dürfen annehmen, daß ihr Herz sich Frankreich -zuneigt; aber selbst, wenn sie davon gar nichts wüßte, wäre doch -Liebigkeit, diese Bereitschaft in ihr, bald ein eheliches Weib zu -werden, die ja auch von außen gefördert wird. Höheres gibt es für -dieses Mädchen nichts in der Welt als diese Erwartung, sich liebend -hinzugeben und hemmungslos, wie es das Gebot der Liebe ist, einem Manne -zu gehören. Und in diesem Augenblick — die Freier stehn vor der Tür, -werden eben geholt, die Stunde grenzenlosen Aufgebens, wonnig bangen -Umfassens ist da — verlangt der alte Mann für sich, was bis aufs -letzte Tröpfchen gesammelt in ihr eines andern wartet. Und sie muß -mitanhören, wie ihren Schwestern glatt wie Öl etwas von der Zunge geht, -was ihr nur wie Verrat an der Gattenliebe klingen kann. So vermag sie -ihrem Vater nicht nur das Gehäufte nicht zu geben, worauf er Anspruch -macht; sie kann ihm jetzt gar nichts geben; und was sie schließlich -äußert, kommt gezwungen und hart heraus. König Lears Seelenkenntnis -können wir uns aber nicht verwahrlost, verbogen und verkehrt, man nennt -das naiv, genug vorstellen. Er hat verlangt, mit Recht verlangt, das -war doch das wenigste, daß man ihm bei diesem feierlichen Akt seines -ungemeinen Edelmuts ein paar schöne Worte sagt; ist das denn zu viel? -Nun, die älteren Töchter tun’s; und schon ist er zufrieden und gibt -ihnen ihr überreichlich Teil. Jetzt ist an seinem liebsten, seinem -Schmerzenskind die Reihe; und wie? hört er recht? hart, fast böse -ant<span class="pagenum"><a name="Seite_91" id="Seite_91">[S. 91]</a></span>wortet sie, sagt wohl so etwas von pflichtschuldiger Liebe; aber -merkt man nicht, wie sie sich dazu selbst zwingen muß? Für ihn ist sie -in diesem Moment nicht bloß verstockt und lieblos; sie ist eine arge -Heuchlerin; sie preßt sich Äußerungen ab, die ihr nicht von Herzen -kommen. Was steckt da dahinter? Es muß doch einen Grund haben! Was -offenbart sich da? Wie sieht es in ihrem Herzen aus? In dem Augenblick, -wo sie ihrem Vater, der den Kindern sein ganzes Reich gibt, wie die -Schwestern, überströmend dankbar sein sollte, zeigt sie sich so und -redet mehr von ihrem künftigen Mann als von ihrem guten Vater? Alles -dreht sich um ihn, innen kocht’s auf, und der Ausbruch ist da.</p> - -<p>Vergebens ruft der Graf von Kent, ein Mann, der schon lange an diesem -Hof gelebt und zu Lear voller Verehrung wie zu einem Vater aufgeblickt -hat, dessen kerniger Biedersinn Cordelias verwandte Frauenseele -erkennt, dem König zu, er sei ja toll:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Was tust du, alter Mann?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>In dieser Verfassung läßt Lear sich von keinem Menschen hemmen: -Kent wird verbannt, Cordelia verstoßen, enterbt, ohne Mitgift dem -überlassen, der sie nimmt. Burgund tritt zurück; Frankreich liebt -Cordelia um ihrer selbst willen; sie wird seine Frau. Cordelias -knospenhaftem Wesen, das überlegener Klugheit fern ist, können wir -nicht zutrauen, daß sie daran gedacht hat; aber ein besseres Mittel, -ihre Freier zu prüfen, als auf jede Würde und Mitgift zu verzichten und -nur noch sie selbst zu sein, konnte es nicht geben.</p> - -<p>Hundert Ritter, mit ihrem stattlichen Gefolge von Edelknappen, Knechten -aller Art, hat der alte Mann sich vorbehalten; mit diesem Hofstaat -will er abwechselnd bei den Töchtern hausen; und hochbeglückt und -erfreut sollen sie sein, wenn ihr Vater kommt. Goneril hat in der Sache -keineswegs unrecht, wenn sie meint, er habe seine Macht verschenkt, -wolle aber nichts davon entbehren. Er tritt herrisch, brutal auf; -die Ritter ahmen das Beispiel nach;<span class="pagenum"><a name="Seite_92" id="Seite_92">[S. 92]</a></span> was er um seiner Machtfülle, -seines Selbstbewußtseins willen tut, setzen sie in Willkür, Roheit -und Liederlichkeit fort; es ist ein zügelloses Treiben; sein erstes -Wort, das wir bei Goneril von ihm hören, wie er mit seinem wilden -Gefolge von der Jagd kommt, ist: „Laßt mich keinen Augenblick auf das -Essen warten!“ Und noch mehr Proben eines Auftretens erhalten wir, -das übermütig zu nennen wäre, wenn er nicht ein überalter Mann wäre, -der in einem langen, langen Leben niemals vom Leben in die Schule -genommen worden ist. Er ist derart ungezügelt wie kleine Kinder, die -man ungezogen nennt; die Sinneseindrücke scheinen fast ohne jede -geistige Vermittlung Handlungen bei ihm auszulösen; er verstößt, -verbannt, schimpft und schlägt so unmittelbar, nachdem man sich seiner -Willkür entgegengestellt hat, wie das kleine Kind nach dem glänzenden -Gegenstand greift, den es sieht. Hat man das Kindchen ein paarmal aufs -Händchen geschlagen, so wird sich, wenn es die Bewegung noch macht, -schon so etwas wie Zögern, wie böses Gewissen darin äußern; Lear -aber scheint nie im Leben etwas entgegengetreten zu sein, was er als -ernsthaften Widerstand achtete; er hat das beste Gewissen von der Welt; -er meint es wirklich gut zu meinen; er hält sich für gut. Er hat doch -seine Macht abgegeben; bloß auf die Eitelkeiten dieser Welt will er -nicht verzichten; das ist für ihn fast nichts, was er behalten hat; daß -er damit andern sehr lästig fallen kann, daß das — gleichviel, wie -die Töchter sind — ein ganz unleidliches Verhältnis ist, — wer soll -es ihm sagen? So daß er es erkennt? Wer will den alten Mann jetzt noch -erziehen?</p> - -<p>Kein einzelner Mensch könnte das mehr unternehmen wollen; man kann -ihn nur dulden und liebevoll klug, unmerklich lenken. Die Töchter -aber haben von ihrem Vater die Herrschsucht ohne die Würde, ohne die -Liebenswürdigkeit, ohne den Charme geerbt; dafür handeln sie nicht -bloß in Hitze, sondern planmäßig, kalt. Lears Bedürfnis, geliebt zu<span class="pagenum"><a name="Seite_93" id="Seite_93">[S. 93]</a></span> -werden, ist immer noch ein Grad der Liebe; die Töchter sind in ihrem -Verhältnis zu ihm ganz lieblos und kennen auch die Hemmung nicht, die -man Pietät nennt. Er hat seine Macht weggeschenkt; sie haben, was sie -von ihm wollten; nun soll er ihnen abwechselnd täglich und stündlich -mit anspruchsvollen Narrheiten lästig fallen? Erziehen wollen sie ihn -gewiß nicht, aber los werden und rücksichtslos seines Spielzeugs, -seiner Machtfülle, seines Scheins berauben. Für ihn ist das gerade -so, als wollten sie ihn zum Gerümpel werfen, obwohl die Rumpelkammer, -die sie ihm anweisen würden, wenn alles ginge, wie sie in kalter Ruhe -planen, wahrscheinlich ein ganz stattliches Haus wäre. Davon, daß sie -ihn hungern lassen, in Nacht und Elend, in Obdachlosigkeit hinausstoßen -wollten, ist gar keine Rede: die Vereinfachung der Märchenpsychologie -ist Shakespeares Sache nicht. Für Lears Subsistenz wollen die Töchter -schon sorgen; ihre Lieblosigkeit übersieht nur, daß die Substanz, von -der das Gemüt des alten Mannes sich nährt, eben die Akzidenzien sind, -die sie ihm wegnehmen wollen.</p> - -<p>Um ihn steht es nun so: er war in der Macht, und man war vor ihm -gekrochen, und was sich dabei ergab, hatte er für die wirkliche Welt -genommen. War ihm einmal im Ernst Widerspruch entgegengetreten, so -hatte er ihn unter dem Beifall seiner Umgebung sofort zermalmt. -Niemals war äußerer Widerstand begleitet gewesen von einer inneren -Unruhe in ihm selbst; seine Umgebung hatte immer den Glauben in ihm -befestigt, daß er es um seiner angeborenen Majestät willen verdiene, -zu befehlen. Diesmal ist es anders. An ihm nagt etwas, immerzu, etwas -Doppeltes, etwas Dreifaches: daß er seine Macht weggegeben hat, daß -er sie diesen Töchtern gegeben hat, daß er Cordelia verstoßen hat. -Falschheit kann täuschend wie Wahrheit aussehen, aber die Wahrheit -hat etwas ganz Untrügliches in sich. Hat man einen Menschen, den man -gut kennt, im Vorübergehen zu sehen geglaubt, so kann man sicher -sein, daß er es nicht war; wäre<span class="pagenum"><a name="Seite_94" id="Seite_94">[S. 94]</a></span> er es gewesen, so wüßte man es. So -ähnlich geht es diesem kurzsichtigen Vater: er glaubt, daß Cordelia -ein liebloses Geschöpf, daß Goneril und Regan liebende Töchter sind; -aber etwas in ihm weiß, daß es nicht so, daß es umgekehrt ist. Der -Klang der Stimme Kents, der so tapfer zu Cordelia stand, liegt ihm noch -im Ohr; und da ist nun noch einer, der auf seine Art ausspricht, was -Lear selber nicht hochkommen läßt, der ein Privileg hat, den er nicht -so ohne weiteres des Landes verweisen kann: das ist sein Narr, sein -scharfer, sein bitterer, sein armer, sein liebender Narr. Der hängt -treu und liebevoll an ihm, ganz gleich, wie er vom Herrn behandelt -wird, der kennt die Liebe so, wie Goneril und Regan sie nicht kennen -und wie auch Lear sie keineswegs kennt und übt, und in immer neuen -Gleichnissen, Verdrehungen und Liedchen gibt der ihm nun zu verstehen, -was für ein Narr er gewesen, das gute Kind zu verstoßen und sich und -sein Reich den harten, scharfen, lieblosen Töchtern anzuvertrauen. Er -kann sich’s nicht verhehlen, denn er merkt’s durch bittre Erfahrung: -an den mitleidig verdammenden Sprüchen des Narren, die immer schärfer -ausfallen, ist etwas, ist viel dran. Und doch glaubte er, so klug und, -da er sich so recht mollig lieben und hegen lassen wollte, ein so guter -Vater zu sein! Das erkennen wir nun aber auch deutlicher, als wir’s zu -Beginn wußten: er kann tun, was er will, selbst Brutales: Böses ist -doch nicht in ihm. In seinem Verkehr mit dem Narren gewahren wir gleich -echte Liebenswürdigkeit und eine Neigung zu Kameradschaft, in der sich -seltsam eine Kindlichkeit angeborener, zurückgedrängter Natur mit -Kindischwerden vor Alter mengt.</p> - -<p>Die Welt sieht doch nun, wo er der Macht entkleidet ist, so ganz anders -aus, als er gemeint hatte! Was sich der Haushofmeister seiner Tochter -gegen ihn herausnimmt, wie scharf und ausfallend die Tochter selbst zu -ihm spricht, wie es der Narr mit seinen Sprüchen kommentiert, — aber -der arme alte Mann! In dem Augenblick, wo allererst die Erkenntnis<span class="pagenum"><a name="Seite_95" id="Seite_95">[S. 95]</a></span> -der Wirklichkeit kommen, wo der Wahn sinken will, bricht in dem -schwachen Gefäß, das Druck von außen nie gekannt hat, der Wahnsinn aus. -Sein erstes Zeichen bemerken wir sofort nach der ersten unerbittlich -scharfen Rede Gonerils, wie Lear die Hand über die Augen hält, die -Tochter prüfend, als sehe er nicht gut, ansieht und fragt: Ist das -meine Tochter?</p> - -<p>Sowie wir diese erste Spur merken, können wir nun zurückgreifen, -können uns der Worte Kents erinnern, der es gewagt hatte, seinen -König verrückt zu nennen und dabei an sein Alter zu erinnern, können -dazu nehmen, daß jetzt eben der Narr seinen Herrn den wahren Narren -gescholten hat, und können fragen: war denn nicht wahrscheinlich sein -Benehmen bei der Teilung des Reichs und bei Cordelias Verstoßung auch -schon Geisteskrankheit?</p> - -<p>Fragen können wir so; ich antworte: Nein. Und vergesse dabei -keinen Augenblick die Regel, die Gestalten des Dichters nicht als -Naturgeschöpfe zu nehmen, sondern als Geistgeburten Shakespeares. Ich -untersuche nicht einen Britenkönig Lear, sondern was Shakespeare uns -gegeben hat. Dabei kommen irgendwelche medizinische Ausdrucksweisen, -die der Dichter gehabt hat oder nicht gehabt hat, nicht in Betracht, -sondern lediglich die Züge, die er seinen Gestalten gegeben hat. Die -haben wir, ganz in unsrer eigenen Sprache, zu deuten. Das Problem, -was Krankheit und was gar geistige Krankheit sei, will ich bei -dieser Gelegenheit nicht aufrollen; sicher ist, daß es Namen für -Veränderungen sind, deren wahres Wesen uns unbekannt ist, und daß -diese Namen nur gewisse Komplexe von Symptomen einordnen. Sicher -ist aber auch, daß Begriffe dieser Art haarscharf begrenzt sind, -und daß unsre Menschenwelt untergehen und das Chaos beginnen würde, -wenn diese Grenzen verwischt würden. Wie König Lear bei der Teilung -des Reichs gehandelt hat, war, wie Kent in derber Volkssprache sagt -— nicht umsonst kann der herzhafte, getreue Landedelmann<span class="pagenum"><a name="Seite_96" id="Seite_96">[S. 96]</a></span> nachher -so gut den Knecht spielen —, verrückt, war verrückt, was das Volk -so verrückt nennt. Der König hat so tun müssen, sonst hätte er’s ja -nicht getan, aber die Notwendigkeit, die ihn zu seinem Verhalten -brachte, war ein sozialer Komplex, bestehend aus den Beziehungen seiner -Erziehung, Stellung, Umgebung; man kann sich darum auch denken, daß -diese Notwendigkeit durch eine gleichfalls soziale Einwirkung, z. B. -das ruhige und vernünftige Auftreten mehrerer im Staatsrat oder einen -plötzlichen Überschwang kindlicher Verzweiflung in Cordelia aufgehoben -worden wäre. Was aber jetzt in Lear allererst sich ankündigt, ist ein -individueller, organischer Zwang unsäglich viel stärkerer und anderer -Art in ihm; irgend etwas funktioniert jetzt anders in ihm; und wenn -Heilung kommen soll — wie sie denn in der Tat kommt, das Stück, in -dessem erstem Akt wir noch stehen, handelt von ihr —, wird sie ganz -andere Wege gehen müssen, als gutes Zureden oder soziale Einwirkung der -üblichen Art.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Seid Ihr Unsre Tochter?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Mit dieser Frage sind wir genau an der Grenze zwischen Vernunft und -Wahnsinn. Man kann völlig vernünftig sein und sein schmerzliches -Staunen über das eigene Kind so ausdrücken, daß man fragt, ob man so -einen Menschen, wie er da vor einem steht, wirklich selbst gezeugt -und aufgezogen habe. Es kann auch tatsächliche Gründe geben, warum -man bei einer starken Enttäuschung, die eine völlige Unähnlichkeit -zwischen Vater und Kind an den Tag stellt, sich ernsthaft fragt, -ob nicht Ehebruch im Spiel sei. Auch ist der Mensch, jeder, da er -gottlob einen Dichter in sich hat, durchaus befugt, in irgend einer -ekstatischen Stimmung mit dem Wahnsinn zu spielen. So hebt es denn -auch bei Lear an: er schwankt zwischen ganz leise einsetzendem echtem -Wahnsinn und dem Spiel damit. Noch spielt er, daß er nicht er selbst -sei, daß er die Dame, die vor ihm steht, nicht kenne, aber schon ist -es einen verschwindenden Moment lang<span class="pagenum"><a name="Seite_97" id="Seite_97">[S. 97]</a></span> innerer, organisch-funktioneller -Zwang, so zu spielen, der dann aber sofort wieder abgelöst wird von dem -gewaltig ausbrechenden, schmerzlichsten, wütendsten Zorn des in seiner -Königswürde, in seiner Vaterschaft, in seiner Menschheit gekränkten -Mannes.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Seid Ihr Unsre Tochter?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Hier an der Grenze haben wir schon die Form, in der sein Wahnsinn -sich äußern wird. Eines hat er sein Leben lang nicht gekannt, ein -Allerwichtigstes freilich: denken. Es hat für ihn keine Wirklichkeit -gegeben, sondern nur Schein und Trug, von Schmeichelei und botmäßigem -Eifer erzeugt; und so war in ihm kein Denken, sondern Trieb, Raschheit, -Laune; und auf diese Weise entstand eine Welt, eine Beziehung von innen -und außen, wo alles glatt funktionierte: seine Umgebung und er paßten -ihre Lücken und Auswüchse an einander an, und was er befahl, geschah. -In diese Welt der Täuschung, und andre kannte er keine, war er nun in -langen Jahrzehnten, bis in sein höchstes Greisenalter, ganz eingelebt. -Nun aber ist er allererst nicht oben in seiner, sondern irgendwo unten -in der wirklichen Welt, und da sieht alles so ganz, so schmerzlich -anders aus. Er sollte also umlernen, nachdenken, sich einordnen, sich -zurechtfinden, und das kann er nicht mehr; er ist zu alt dazu. Zu alt -wenigstens, um noch in der üblichen Art zu lernen, zu wachsen. Denn er -lernt, der arme, alte Mann, lernt sogar erstaunlich, wie in Glut und -Fieber; aber er begreift nicht in Begriffen; in seiner Altersschwäche, -wo ihn immer hilfloses Weinen ankommt, nimmt ihn das Leben in die -Schule, und sein Lernen sieht so aus: Gegen meine Töchter bin ich -immer gut gewesen — sie müssen also auch gut gegen mich sein — diese -Damen sind ja so hart gegen mich — — <em>ergo</em> sind es nicht -meine Töchter. Die neue Wirklichkeit, die sich ihm jetzt objiziert, -lernt er nur in der Weise kennen, daß er das Neue, das er nun von der -innern Beschaffenheit und Wahrheit der Menschen entdeckt, als äußere -Halluzinationen,<span class="pagenum"><a name="Seite_98" id="Seite_98">[S. 98]</a></span> als Zwangsvorstellungen schaut und hört; der Sinn -geht ihm auf in Gestalt von Sinnestäuschungen. Und so wie er daran -ist, die Töchter nicht mehr als seine Töchter zu erkennen, so verliert -er den Glauben, das Wissen, das Selbstbewußtsein, daß er Lear ist; er -verliert sich selbst.</p> - -<p>Aber er versinkt nicht völlig in diesen Wahnsinn; er ergeht sich nur -gefährlich am Rande der Tollheit; ganz wahnsinnig, bloß wahnsinnig -sehen wir ihn nie; wir erleben an ihm einen entstehenden und auch -wieder vergehenden Wahnsinn; wir sind dabei, wie in und mit dem -Wahnsinn sich ihm der Sinn öffnet für den Wahn seines bisherigen -Lebens; wie er jetzt allererst einen Blick ins Leben tut; wie er mit -dem Schmerz, der ihm von außen angetan wird, wütenden Schmerz über -sich selbst, Reue, von daher Einsicht und mit der Einsicht Liebe, -echte Liebe, Liebe zu andern lernt. Der Schein, der Machtkitzel, der -Dünkel, die Hohlheit, die Ichsucht, all das schmilzt weg; indem er ins -Elend hinuntersinkt, vermag er nun auch, die Welt und das Leben vom -Standpunkt des Elends aus zu erblicken.</p> - -<p>Daß er das aber noch vermag, daß er auf diesem einzigen furchtbaren -Weg, den seine Altersschwäche ihm läßt, auf dem schwindelnden Grate -zwischen Verzweiflung und Aberwitz noch lernt, noch wächst, Erneuerung -und Wiedergeburt findet, das zeigt uns, was wir in dem Vater Cordelias, -in dem Freund des Narren, in dem von Kent verehrten König, in der -Gewalt seiner Leidenschaft und der Hoheit seines Auftretens schon -geahnt hatten: daß eine große Natur in ihm von sozialen Narrheiten und -Wüstheiten überklebt war; daß seine brutale Willkür sowohl wie seine -ungeheuerliche Dummheit nur Manier war und nicht Wesen, daß ein guter, -ein allerbester Kern in ihm ist, der nun, wo die gräßliche Not ihn -zeitigt, sich zugleich als Geist und als Güte offenbart.</p> - -<p>Jetzt sehen wir: die Welt seines pompösen Scheins war ihm notwendig -gewesen, weil seine echte Natur eine Welt der<span class="pagenum"><a name="Seite_99" id="Seite_99">[S. 99]</a></span> Niedrigkeit -nicht ertrug, weil er Größe, Adel, Übereinstimmung braucht. Die -Lebensmöglichkeit entsinkt ihm, sowie er gewahrt, wie es wirklich in -der Welt zugeht. Dieses sein Lernen, seine neue, seine erste Erkenntnis -kommt ganz allmählich, und er kann nur dazu gelangen durch furchtbarste -Not und Schrecknisse. Zum weit überwiegenden Teil aber tut er sich all -dieses Fürchterliche selber an; sein Adel, sein Mißverhältnis zur Welt -äußert sich in dem, was die Welt seine unerhört übertriebene Natur -nennen müßte; durch Erschütterung allerschrecklichster Art, durch Wut -und Leidenschaft, elementar wie eine Naturkatastrophe, arbeitet er sich -aus der Verschüttung zum schmerzlichen Licht empor, ein überalter Mann, -der nach dieser letzten gewaltigen Anstrengung gerade noch Zeit hat, -still und milde für einen Augenblick sein wahres Wesen zu sein, sein -Leben zu führen, wie es ihm zukommt, und dann zu sterben.</p> - -<p>Noch genauer müssen wir zusehen, was ihn zuerst in diese Verfassung -bringt; nur dadurch lernen wir seine wahre Natur und seine Stellung -in der Welt kennen. Gonerils Hausverwalter behandelt ihn nicht mehr -als König, sondern als Myladys Vater: der von Lear selbst geschaffenen -Tatsache entspricht es, aber es ist schonungslos. Dann beklagt sich -Goneril über seinen zügellosen Troß, den er nicht in Zucht hält; -diese hundert Ritter mit ihrem wüsten Treiben machen ihr Schloß zur -Kneipe, zum Bordell gar; sie ersucht kategorisch — widrigenfalls -will sie selbst einschreiten —, sein Gefolge etwas zu verringern; -er solle nur gesetzte, ältere Männer in seinem Dienst behalten. In -der Sache hätte sie ganz einfach recht; weder ihre Darstellung noch -ihre Forderungen könnten als unmäßig bezeichnet werden. Aber der Ton, -in dem sie redet, ist von schneidender Schärfe, von einer unheimlich -unpersönlichen Sachlichkeit; sie spricht als Regentin zum abgedankten -König; sie denkt nicht daran, sie fühlt nicht, daß alles, worin sie -nun in einem einzigen Punkt empfindlich gestört wird, ihr freiwillig -von ihrem lebenden<span class="pagenum"><a name="Seite_100" id="Seite_100">[S. 100]</a></span> Vater geschenkt worden ist, ohne daß es einen -andern Grund zu seinem Verzicht gab, als seinen Willen, der für sie ein -guter Wille war; sie offenbart völlige Gefühllosigkeit, Lieblosigkeit, -Undankbarkeit. Er wird nun an der Welt und an sich organisch irre, -irgend etwas in ihm bekommt einen Riß; nur einen Augenblick lang -erliegt er dieser Pathologie; sowie er wieder zu sich kommt, sowie -seine erste gräßliche Wut über diese Undankbarkeit herausgeströmt ist -und fast automatisch der Entschluß da ist, sofort zur zweiten Tochter, -zu Regan zu reisen, sowie er merkt: ja, so spricht, so handelt wahr und -wirklich seine Tochter, kommt sofort, offen eingestanden, die Reue über -sein Verfahren gegen Cordelia. Die, so argumentiert er noch verderbt, -dumm und lieblos genug, hätte ein Recht zu solcher Lieblosigkeit gegen -ihn. So klammert er sich denn blind, vertrauensvoll, im geheimsten aber -schon angstvoll an die einzige Tochter, die noch übrig ist, an Regan; -gegen Goneril aber bricht er in den grauenvollsten, leidenschaftlichen -Fluch aus. Welche Ansprüche stellt dieses Menschenkind, dieser -wahrhaft königliche Tor an die Weltordnung! Ein undankbares Kind muß -mit Unfruchtbarkeit geschlagen werden; ganz einfach, ganz logisch, -ganz unbedingt ist für ihn der Zusammenhang zwischen Menschenlos und -göttlicher Gerechtigkeit: er ist König, ist Vater; die Götter, die -Göttin Natur voran, müssen die undankbare Tochter strafen. Er ist ganz -überzeugt, daß dieser Fluch in Erfüllung gehen muß; darum auch kann er -ihn mit dieser ungeheuren Gewalt ihr zuschleudern. Es wird von einer -jung verheirateten Schauspielerin berichtet, daß sie nie mehr als -Goneril auftreten wollte, nachdem der große Schröder ihr diesen Fluch -ins Gesicht und ins Innerste hinein gedonnert hatte.</p> - -<p>Auf dem Weg zur andern Tochter, zu der letzten, die ihm geblieben, sagt -ihm der Narr das Stichwort seiner Rolle:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Du hättest nicht alt werden sollen, ehe du zu Verstand kamst!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_101" id="Seite_101">[S. 101]</a></span></p> - -<p>Was für eine Reise! Der Narr spricht immer nur aus in seinen -Gleichnissen und Rätselfragen, was in ihm selber auch bohrt. Ist Regan -denn wirklich, wie er hoffen muß, so ganz anders als ihre Schwester, -die jetzt ihr wahres Gesicht gezeigt hat? Und der Gedanke, daß er -Cordelia Unrecht getan hat, die Furcht, um den Verstand zu kommen, -verläßt ihn keinen Augenblick. Und erst sind wir am Schluß des ersten -Akts — was werden wir noch erleben, was wird der ärmste Abcschütze im -weißen Haar, der, indem er seine äußere Würde freiwillig und großmütig -aufgegeben hat, nun in seiner natürlichen Hoheit angetastet wird, noch -durchmachen!</p> - -<p>Der alte Mann muß eine weite Reise machen. Einen Boten mit einem -Schreiben, in dem er der Tochter Mitteilung von dem Geschehenen macht, -schickt er voraus. Das ist sein neuer Knecht Cajus, in Wahrheit der -treue Kent, der vorhergesehen hat, was kommen muß, und den Herrn, der -ihn verbannt hat, nicht verlassen will. Wie Lear dann ankommt, ist -das Haus leer: Cornwall und seine Frau sind weg. Auch die Schwester -hat sofort Botschaft geschickt; und in dieser Sache sind sie einig, -so weit sonst die Gegensätze zwischen Albanien und Cornwall schon -gediehen sind. Lear muß ihnen nach dem Schlosse des Grafen Gloster -nachreisen; und wie er nun zu später Stunde ankommt, sieht es ganz böse -aus: sein Diener Cajus ist schimpflich mißhandelt worden; Regan und ihr -Mann scheinen ihn gar nicht empfangen zu wollen; sie lassen sich erst -verleugnen; und ihr Wirt, der alte Gloster, muß seinen Einfluß, der zur -Zeit groß ist, aufbieten, damit Tochter und Tochtermann herbeikommen. -Aus Lear will inzwischen die mühsam zurückgestaute Wut losbrechen; -der Zweifel an der Wirklichkeit, die Krankheit zeigt sich wieder -an; aber — wir erleben’s zum ersten Mal — er nimmt sich zusammen, -versucht, was er nie gekonnt, sich zu beherrschen, will Vernunft und -Gründe annehmen; und, wenn er nun endlich vor der<span class="pagenum"><a name="Seite_102" id="Seite_102">[S. 102]</a></span> Tochter steht, -ist es rührend, wie er ihr kindlich sein Leid über ihre schlechte -Schwester klagen will. Die Tränen steigen ihm auf, er kann nicht weiter -reden. Sie weiß ja auch, er hat ja geschrieben; und jetzt eben hat er -erfahren, daß Goneril auch einen Brief geschickt hat. Regan erwidert -zunächst mit kalter Zurückhaltung: höflich, trocken, fast mild, wie -etwa eine kalte, geübte Pflegeschwester einem Kindischen zureden würde, -sagt sie ihm, sie, die Töchter, wüßten besser als er, was ihm not täte; -er möchte zur ältesten Tochter zurückkehren und zugestehen, daß er -unrecht gehabt. Er war nun schon auf so etwas gefaßt, so entsetzlich -es ist; es hatte sich vorbereitet; noch bleibt er dem Grad nach -mäßig; aber was sie da sagt, ist ihm sofort wieder eine suggestive -Anschaulichkeit; er probiert’s gleich, wie sich’s ausnimmt, wenn er, -der König, der Vater, hinkniet und seine Tochter um Verzeihung, um -Schutz und Obdach bittet. Das ahnt er noch nicht, wie seine Entwicklung -bald so vollendet sein wird, daß er das, was ihn jetzt die äußerste, -die tollste Zumutung dünkt, gerade in der Form, die niemand von -ihm verlangt hat, die nur seine im Stolz getroffene Phantasie sich -ausgemalt hat, aus innigem Ernst tun wird, er der König, der Gebieter, -der Vater: in Reue und Demut vor einem Kind, das der Vater gekränkt, -hinknien und um Vergebung flehn.</p> - -<p>So wird er am Ende sein. Jetzt klammert er sich noch an Einbildungen, -die er gewaltsam festhalten will, klammert sich an Regan, sein einziges -Kind. In vernünftiger Auseinandersetzung will er ihr dartun, daß ihr -Vorschlag unmöglich sei, will ihr beweisen, sie sei so milde, wie -Goneril grausam. Aber es ist, als sprächen nur seine Lippen, während -unten in ihm ganz anderes arbeitete; und mit einem Mal, gerade während -der Mund ihr vorhält, daß er ihr das halbe Reich geschenkt, wirft -er den Kopf zurück und fragt zornig, wer es gewagt, seinen Diener -in den Block zu setzen? Er nimmt das ganz, wie wenn an fremdem Hof -sein Bot<span class="pagenum"><a name="Seite_103" id="Seite_103">[S. 103]</a></span>schafter verletzt worden wäre; es ist eine Antastung seiner -Majestät. Aber Trompetengeschmetter reißt ihm die Worte vom Mund: -Goneril trifft zur eiligen Beratung mit der Schwester ein und findet -den Vater. So muß denn die Entscheidung sofort erfolgen; ganz großartig -hat der Dichter alles so aufgebaut, daß nach der Gonerilszene, die in -dem gewaltigen Fluch gipfelte, nun diese ungeheure Steigerung sich noch -ergab. Die beiden Schwestern hatten politisch beraten und dann ihre -Entschlüsse bekannt geben wollen, und nun muß es gegen ihren Willen -doch wieder zu einer dramatischen Szene kommen, wie ihr Vater sie zu -brauchen scheint.</p> - -<p>Sie fassen sich schnell und sind durchaus nicht aus der kühlen Ruhe -gebracht. Regan wiederholt, er solle zur Schwester zurück, fügt aber -nun hinzu, wenn er dann zu dem vereinbarten Zeitpunkt zu ihr komme, -solle er vorher sein halbes Gefolge entlassen. Immer noch hält Lear an -sich; als einen Vorschlag nimmt er das, der ganz falsch ist, und gegen -den er nun, freilich wieder in erregter Bildersprache, Gründe ins Feld -führt. Ja, noch mehr: Goneril läßt vier kalt abweisende Worte fallen, -ohne ihn weiter zu beachten, und er redet nun noch einmal zu ihr, der -er den Fluch entgegengeschleudert hat: mit sanfter, fast brechender -Stimme, wirr, aber der Sinn ist, daß er ihr gütig, bittend zureden -will, in sich zu gehn; schelten und fluchen will er nicht mehr; Gott -soll ihr Richter sein, er will sie nicht verklagen. Er redet ihr zu, -sich zu bessern, er spricht als Vater; er will nichts von ihr. In -höchster Not tut er so, als habe er nichts Entscheidendes gehört; er -bleibt an Regan, die letzte Hoffnung, angeklammert:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich kann geduldig sein,</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>sagt er und fühlt vielleicht, daß ihm die Tugend bisher vor allem -gefehlt hat; im Zusammenhang heißt es, Goneril solle sich bessern, auch -wenn sie lange dazu brauche, er wolle es abwarten und einstweilen</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_104" id="Seite_104">[S. 104]</a></span></p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">bei Regan bleiben</div> - <div class="verse">Mit meinen hundert Rittern.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Aber die Töchter sind von dieser rührenden Wandlung nicht im mindesten -ergriffen; Regan beharrt darauf, ihn jetzt nicht zu sich zu nehmen; im -übrigen erklärt sie nun fünfundzwanzig Ritter für genug. Er winselt -beinahe, er flüstert:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich gab euch alles,</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>und wie nun Regan auf ihrer Entscheidung beharrt, tut der alte Mann, -dem mit seinen Rittern sein Selbstbewußtsein genommen werden soll, -das ganz überraschende: um dies äußere Zeichen seiner Würde behalten -zu dürfen, gibt er in kindischer Gesunkenheit die innere preis und -erklärt, er wolle nun zu Goneril gehen; die läßt ihm doch fünfzig! -Aber nun haben die Töchter genug: sie werden schon für seine Bedienung -sorgen, er braucht keine zehn, keine fünf, keinen einzigen!</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wozu ist einer not?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Not? Dabei stutzt er. In der Tat, in Not ist er nicht und braucht es -auch künftig nicht zu sein. Aber seine Würde, seinen Luxus, seine -Hoheit wollen sie ihm nehmen, demütigen wollen sie ihn. Eindringlich, -aber immer noch still hebt er an:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Beklügelt nicht die Not! Der ärmste Bettler</div> - <div class="verse">Hat bei der größten Not noch Überfluß...</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und nun wechselt es in ihm zwischen Bitten und Zorn; zwischen -Nichtweinenwollen, Weinen, Seufzen und Drohen; die Hitze steigt auf, -es zerbricht etwas; er erträgt’s nicht; er will vor diesen Töchtern -hier nicht mehr, nicht noch einmal ausbrechen; er stürzt hinaus; eben -zieht das Unwetter am Himmel auf. Noch einen Blick hat er in die Runde -geworfen, wie auf der Suche nach einem Menschen, nach einer Stütze, -nach einem Freund; er fand ihn auch: den Narren.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">O Narr, ich werde wahnsinnig!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Das war in diesem Kreis sein letztes Wort. Die bleiben doch etwas -bestürzt zurück; und vielleicht würde gar der<span class="pagenum"><a name="Seite_105" id="Seite_105">[S. 105]</a></span> harte Eigensinn der -Töchter erweicht; aber nun tritt eine noch größere Brutalität hervor: -Regans Mann Cornwall. Er befiehlt, während der Sturm zu brausen -anfängt, die Tore zu schließen. Kleinlaut versichern die Schwestern -einander, für den alten Mann wäre hier schon Platz gewesen, aber nicht -für sein Gefolge; an Cornwalls Haltung indessen werden sie wieder -energisch; der Alte soll nur für seinen Unverstand büßen; schafft er -sich selber Kränkungen und Beschwerden, so sollen die seine Schullehrer -sein! Die Tore müssen jedenfalls geschlossen werden; wer weiß, wessen -man sich sonst von seinem wilden Gefolge, das nun so gut wie entlassen -und verzweifelt ist, zu versehen hätte? Um die aber kümmert sich der -kranke, tobende Mann nun gar nicht mehr, und sie, mit Ausnahme eines -einzigen Getreuen, um ihn auch nicht; sie werden schleunig weiter -geritten sein und eine Herberge gefunden haben.</p> - -<p>Lear, seinen Narren und den Knecht, der Kent ist, treffen wir im -tosenden Wettersturm wieder nachts auf der Heide. Er ist, nachdem er -sich so lange gewaltsam unterdrückt hat, in einer Leidenschaft, die -sich wollüstig mit dem Orkan mißt. Ah! sich auslassen zu dürfen! Welch -königliches Herrengefühl, Grund zum Toben zu haben! Recht, recht so, -ihr Stürme und Wetterschläge, Undankbarkeit ist auf diesem Erdenball -eingesät; zertrümmert ihn! Das ist noch bacchantische Raserei der -Leidenschaft; aber zwischendurch zuckt die Logik des Wahnwitzes -auf. Auch ihn, den alten, preisgegebenen Mann, dürfen die Elemente -treffen, sie haben die Erlaubnis, dürfen ihn zausen und schlagen nach -Herzenslust: sie sind ja nicht seine Töchter! Und so apostrophiert er -den Regen, den Donner, den Blitz:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich gab euch nie ein Reich, nannt’ euch nicht Kinder!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und dann besinnt er sich, die Logik ist willfährig, man kann die -Sache auch von der andern Seite ansehn: es ist doch unrecht von den -Elementen; sie benehmen sich wie die „knechtischen Helfershelfer der -verruchten Töchter“, und nun<span class="pagenum"><a name="Seite_106" id="Seite_106">[S. 106]</a></span> geht ihm eine ganz neue Gedankenreihe -auf. Es denkt in ihm: wenn’s nach der Gerechtigkeit zuginge in der -Natur, wer dürfte getroffen werden? Er nicht; er gewiß nicht; ganz -andern müssen die Götter so begegnen: den verborgenen Verbrechern, den -Meineidigen, den Mordlustigen. Und wir gedenken dabei der Greuel, die -im Hause Gloster im Gange sind. Er aber, Lear?</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft2">Ich bin ein Mensch, an dem man mehr</div> - <div class="verse">Gesündigt, als er sündigte.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und er fängt an, sich noch tiefer zu besinnen, wie’s in der Welt -zugeht; er wird liebevoller als je zuvor gegen den armen Narren, der -gleich ihm selber, aber nur aus Liebe zu ihm, friert:</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>Mein armer Narr, mir blieb vom Herzen nur Ein Stück, -das ist betrübt um dich.</p></div> - -<p>„Obdachlose Armut!“ Das bohrt nun immer in ihm weiter, daß es so etwas -in der Welt gibt, nicht bloß ein Verzicht auf Eitelkeiten, nein, ganz -wirkliche Not, völlige Entbehrung, ein Leben wie das, dem er sich in -der Raserei dieser Nacht ausgesetzt hat. In keinem Augenblick denkt -er praktisch, was nun von jetzt an aus ihm werden soll; ganz andre -Dinge hat er auszumachen; wir sehen, wie sich hinter seiner eiteln, -äußerlichen Hoheit letzte Vornehmheit verborgen hat; er muß mit dem -Allgemeinen, mit den Zuständen dieser Erde, mit der Weltordnung fertig -werden; das ist nun in ihm aufgekeimt, was vorher der eigenwillige -Triebmensch ganz beiseite liegen ließ.</p> - -<p>Sie nähern sich einer armseligen Hütte, die Kent ausfindig gemacht -hat; aber vergebens zunächst fordert dieser treue Knecht den Herrn -auf, sich darin zu bergen. Solche Sorge dünkt ihn gemein; was tut ihm -alles Unwetter da draußen im Vergleich mit dem Sturm in seiner Seele? -Doch ist er nicht mehr zu festen Entschlüssen imstande; und sowie er -sich hoch aufrichten will und auf die Bestrafung der ruchlosen Töchter -sinnt, bricht einer in ihm zusammen, und die<span class="pagenum"><a name="Seite_107" id="Seite_107">[S. 107]</a></span> Tränen stürzen vor. Ja, -er wird schon hineingehn; er wird zu schlafen versuchen; der gute Narr, -der nicht von ihm gewichen ist, soll nur vorausgehn; er will erst unter -freiem Himmel, für sich allein, sein Gebet verrichten.</p> - -<p>Was der König aber jetzt betet, ist eben diese Erinnerung an die, zu -deren Schicksalsgenossen er sich in dieser Nacht gemacht hat:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ihr armen nackten Elenden, wo ihr seid,</div> - <div class="verse">Die ihr dies mitleidlose Wetter duldet,</div> - <div class="verse">Wie soll eu’r bloßes Haupt, eu’r magrer Leib,</div> - <div class="verse">Durchlöcherte Zerlumptheit euch beschützen</div> - <div class="verse">Vor solchem Sturm wie der? — O, nicht genug</div> - <div class="verse">Bedacht’ ich das! — Nimm dir’s zur Lehre, Pomp,</div> - <div class="verse">Nur einmal fühle, was der Arme fühlt,</div> - <div class="verse">Daß deinen Überfluß auf ihn du schüttest</div> - <div class="verse">Und zeigst: es gibt Gerechtigkeit im Himmel!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Was für eine große neue Erkenntnis diesem König da an der Grenze des -Wahnsinns kommt! Das ist die Gerechtigkeit im Himmel, die man selber -auf Erden übt! Damit, daß man hier auf Erden reichlich seinen Überfluß -auf die Armen schüttet, zeigt man, daß im Himmel gerechte Mächte -walten. Weit ist er jetzt davon entfernt, die Extragötter anzurufen, -die ihm persönlich helfen sollen; und doch hätte er’s nie nötiger -gehabt. Aber er hat schon viel gelernt; hat zu denken gelernt und damit -zu fühlen und gut zu sein.</p> - -<p>Und in diesem Augenblick, wo er von seinem Elend absieht auf die vom -Schicksal Verstoßenen auf dem weiten Erdenrund, tritt aus der Hütte, -die sie leer geglaubt hatten, das nackte Elend leibhaftig: ein nackter -Bettler, toll, besessen, von allen Teufeln verfolgt, wahnsinnig. Wir -wissen: es ist Edgar Gloster, der sich vor seinem Vater und seinem -Bruder bergen muß, der von Cornwall geächtet ist; das Elend ist echt, -der Wahnwitz ist angenommen, wie umgekehrt Lear ganz dicht am Wahnsinn -steht, im Elend nur, weil er’s zur Stunde nicht anders will und -erträgt.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_108" id="Seite_108">[S. 108]</a></span></p> - -<p>Bei diesem Anblick schließt der Wahnsinn, das tolle Zwangsspiel mit dem -Wahnsinn: den müssen undankbare Töchter so weit gebracht haben; was -sollte einen sonst um den Verstand bringen? Die beginnende Erkenntnis -aber, die im Fieber des Deliriums arbeitet, bohrt weiter. Sie führt ihn -über die Wahrnehmung der Entblößtheit aus sozialen Gründen noch tiefer -ins Echte hinein, ins Erfassen des Wesens: aller Pomp ist Schein; das, -was da vor ihm steht in der Entblößtheit nicht bloß von Mitteln des -Unterhalts, in der Entblößtheit des Leibes, das ist der wahre Mensch in -seiner Nacktheit!</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>Ist der Mensch nicht mehr als das? Betracht’ ihn wohl! — Ha, drei -von uns sind verfälscht! Du bist das Ding an sich. Der unverzierte -Mensch ist nicht mehr als so ein armes, nacktes, gabelförmiges Tier -wie du bist!</p></div> - -<p>Zum ersten Mal achtet der Mann, der sich bisher abends hat aus den -Königsgewändern und in sein Nachtgewand helfen, morgens anziehen -lassen, in dieser Sturmnacht beim flackernden Schein eines Kienspans -auf den nackten natürlichen Menschen und seine Gestalt. Wieder ein -Stück Anschauungsunterricht, aus dem er sofort die Lehre zieht:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Fort, fort, erborgter Plunder!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Zur Echtheit will er vordringen; er reißt sich die Königsgewänder ab -— und sieht sich dabei in alter Gewohnheit nach den Dienern um, die -ihm helfen sollen, sich zu entkleiden! Welch eine Szene! Wo ein Greis -im nächtlichen Wettersturm anfängt, Wirklichkeit und Güte zu lernen, -aber sein Hirn ist nun so geworden, daß er nur noch in Gestaltensehen -und leidenschaftlicher symbolischer Aktion lernen kann. Und der Sturm -heult, der Donner tobt, der Regen prasselt, Edgars Vater, der alte -Gloster, voller Erbarmen gegen den König, zu mildtätiger Hilfe bereit, -die ihm übel bekommen soll, tritt dazu, und Edgar, um sich vor dem -Vater, der ihm ein grausamer Verfolger ist, zu verbergen, bricht -in tollere Reden aus. Zugleich nimmt Lears immer weiter bohrende -Erkenntnis wieder Wahnsinnsform an. Der ihn<span class="pagenum"><a name="Seite_109" id="Seite_109">[S. 109]</a></span> das gelehrt hat, die Sache -zu erkennen, wie sie wirklich ist, bis zur Echtheit des Wesens, bis -zur nackten Natur vorzudringen, der ist, nackt und zähneklappernd und -irre redend, wie er vor ihm steht, ein edler Philosoph, ein weiser -Thebaner, ein hoher Gelehrter. Und kaum sind sie durch Gloster auf -einem seiner Pachthöfe unter Dach und Fach gebracht worden, so weiß -er genau, wozu ihm dieser Weise, der die Wahrheit mit seinem Leibe -kündet und der überdies zwischen Tiefsinn und Unsinn ein Kauderwelsch -von sich gibt, aus dem der kranke Sinn des Königs manche Erleuchtung -empfängt, zugeführt worden ist: die Töchter sollen vor Gericht gestellt -werden! Der nackte Bettler ist ihm, eben weil er nackt ist und keine -Falschheit und Verhüllung anhat, „der Mann im Rechtstalar“; der Narr -ist der eine Beisitzer, der treue Knecht der zweite. Vors Gericht des -Volks und der Wahrheit werden die Königinnen gestellt: der tolle nackte -Bettler, der arme Narr, der gute Knecht sind die Richter: alle drei in -Wahrheit tief Verkleidete, hinter deren Masken Güte und Ehre wohnt. -Und sie, selbst so an die Grenze gerückt, daß das Spiel mit grotesker -Phantasie ihnen nahe genug liegt, gehen aus Güte, um ihn zu beruhigen, -und aus Tollheit, von der sie sich gern anstecken lassen, darauf ein. -Die Töchter sollen vortreten, ein Schemel stellt Goneril vor; wie Lear -Regan holt, entwischt sie ihm, seine Gedanken, seine Bilder irren -in andre Richtung. Jetzt sieht er eine Hundemeute vor sich, die ihn -kläffend verfolgt, die dann wieder die Töchter zu Tode beißt, bis er -in Erschöpfung niedersinkt. Und wie der treue Kent ihn bettet, ist er -wieder für einen Augenblick der alte König, und nichts von aller Würde -und Behaglichkeit ist ihm genommen worden: „Macht keinen Lärm, zieht -die Vorhänge zu.“ Er schläft ein.</p> - -<p>So läßt ihn Gloster auf einer Sänfte fortbringen; er soll nach Dover, -zu Cordelia, zu dem Heer der Franzosen, das dort schon gelandet ist.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_110" id="Seite_110">[S. 110]</a></span></p> - -<p>In den Wirren des Reichs, die sofort nach König Lears Abdankung -eingetreten sind, in den heimlichen Machenschaften zwischen Cornwall -und Albanien und beider Feindseligkeit gegen den alten König, hat sich -eine Partei zu Frankreich, zu Cordelia geschlagen, deren Rechte in dem -Augenblick erwachen, wo die andern Töchter die Vereinbarungen mit ihrem -Vater brechen. Kent und Gloster gehören zu dieser Partei. Gloster ist -schon in Verbindung mit dem französischen Heer; für Cornwall ist das -ärgste Gefahr, und er hat das Recht, es für Hochverrat zu erklären. Was -da vorgeht, erfährt er durch Glosters eignen Sohn, den Bastard Edmund, -der erst den echten Sohn verjagt hat und nun Graf an seines Vaters -Stelle werden will: grauenhaft ist die Rache, die Cornwall nimmt: die -Augen werden Gloster aus den Höhlen getreten, gerissen; in der Ekstase -des Zorns hatte der alte Mann gerufen, er werde noch sehen, wie die -Strafe des Himmels über die grausamen Kinder komme; das war das Wort, -das die Art seiner eignen Bestrafung über ihn brachte.</p> - -<p>Ein geblendeter Vater war er schon zuvor, wie Lear sein Herr. Und wie -Lear im Wahnsinn das Denken lernt, so gehen Gloster nach der Blendung -die Augen auf. Bei Dover begegnen die beiden einander wieder: Lear -auf der Flucht vor der Tochter, an der er gesündigt hat und deren -Anwesenheit er in lichten Momenten ahnt; der andre, Gloster, durch den -Tod hindurchgegangen und im äußersten Elend wie zu Ruhe und Frieden -auferstanden und wiedergeboren: von der hohen Klippe über Dover hat er -sich hinabzustürzen vermeint; aber der echte Sohn Edgar in allerlei -fremden Gestalten und mit allerlei Täuschungen hat den blinden Vater -gerettet, und wie ein Fluidum der Sanftmut und heilenden Liebe ist es -vom verstoßenen Sohn und vom Tod her über den alten Mann gekommen.</p> - -<p>Und wir empfinden, wie der Elende, der von hoher Herrlichkeit so -hinuntergestürzt ist, als blinder Bettler ergeben<span class="pagenum"><a name="Seite_111" id="Seite_111">[S. 111]</a></span> am Wege sitzt, sein -noch unerkannter Sohn bei ihm, von diesem Vater verstoßen und auch -im selbstgewählten nackten Bettlerdasein, wir empfinden in tiefster -Seele die alte Weisheit: Es ist alles eitel; alles, was zur innersten -Verborgenheit des Wesens als Aufputz und Zierat dazu kommt. Und in -diesem Augenblick tritt Lear der König auf; wieder ganz herrisch für -diesen Augenblick; und da dem Abgerissenen, der durch Wälder und -Felder gerannt ist, der Königsornat fehlt, hat er sich mit Blumen -ausgeschmückt. Der Wahnsinn hängt nun dicht und schwer über ihm; aber -auch in dieser lastenden Wolke verfolgt er sein seltsames Lernen -weiter. Zum König hat er sich jetzt wieder gemacht, um lebendig in -seinen einstigen Zustand zurückgreifen zu können und mit besserer -Einsicht sein Königserlebnis mit den Menschen zu wiederholen. Wie -hatten sie ihm die Welt mit Schmeicheleien verhüllt; „Ja“ und „Nein“ -zugleich zu allem gesagt, was er vorbrachte!</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>Ja und Nein dazu, das war keine gute Religion! Als der Regen kam, -mich zu durchnässen, und der Wind, mich schaudern zu machen; als -der Donner nicht einhalten wollte auf meinen Befehl, da fand ich -sie, da witterte ich sie aus.</p></div> - -<p>Die unerbittlich wahre Natur, die außer der Sprache ihrer Taten nicht -noch eine der Bemäntelung und Lüge hat, hat diesen Fürsten, der -von Lüge erstickt war, in die Schule genommen. Und nun ist er, der -Selbstherrscher, der König von Götter Gnaden, in Not und Wahnwitz zur -selben Erkenntnis gekommen wie Richard II. in dem Augenblick, wo -man ihn der Macht entkleidete:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sie sagten mir, ich wäre jedes Ding; ’s ist erlogen;</div> - <div class="verse">das Fieber ist stärker als ich.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Nun merkt er die Schranken, die Gleichheit alles dessen, was von -Menschenhaut umspannt ist; seine Hand „riecht nach Sterblichkeit“. So -hatte es Richard gesehen:</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_112" id="Seite_112">[S. 112]</a></span></p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ihr irrtet euch die ganze Zeit in mir:</div> - <div class="verse">Wie ihr leb’ ich von Brot, ich fühle Mangel,</div> - <div class="verse">Ich schmecke Kummer und bedarf der Freunde.</div> - <div class="verse">So unterworfen, — kann ich König sein?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und jetzt, wo Lear weiß, was der nackte Mensch ist, jetzt weiß er -auch, wie in dieser Welt der Kostüme, der Lüge, der Politik von -Würdenträgern, Beamten, Richtern Unrecht geübt wird. Hör’ zu, blinder -Mensch im Staub, der du dich freiwillig von der höchsten Klippe -hinunterwerfen mußtest, um zu dir selbst zu kommen, hör’ zu, wie dein -König auf Elends- und Wahnsinnswegen aus dem Lager seiner politischen -Töchter hinweg endgültig zu Cordelia, zur Menschheit, zur Echtheit -heimgefunden hat! Was hat er denn selber in seinem Königsornat geübt? -Willkür! Laune! Und seine Beamten? Ach, du Blinder, das kannst du -merken, ohne zu sehen. Hör’ nur hin, wie der Richter sich über den -armseligen Dieb erhebt!</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>Wechsle die Plätze, dreh die Hand um, horch hin: wer ist der -Richter, wer der Dieb?</p></div> - -<p>Er gewahrt alles in bewegten Bildern, er erlebt die Wahrheit in -lebendiger Aktion:</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>Hast du wohl einmal gesehn, wie ein Pächterhund einen Bettler -angebellt hat? — Ja? — Und der Tropf lief vor dem Hund davon? -— Da hast du das große Bild der Autorität: einem <em class="gesperrt">Hund</em> im -<em class="gesperrt">Amt</em> gehorcht man.</p></div> - -<p>Alles, was er je gesehen, was in seinem Namen geschah, wird in ihm -aufgerührt; und zugleich melden sich die Triebe, die ihm sagen: wir -Herren, wir Gebieter, wir strafenden Richter und Henker, wir spielen -eine Rolle; wir stellen uns an, als wären wir wie unser unbefleckter -Mantel, als wären wir unser Amt; und was sind wir in unsrer -Wirklichkeit, in unserm Leib? Die scharfe Erkenntnis, die sich im Ton -der zugleich unerbittlich logischen und bildkräftigen Prosa geäußert -hat, schwingt sich — wie so oft in diesen Szenen Lears — wie zu -dichterisch gesteigerter Proklamation auf:</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_113" id="Seite_113">[S. 113]</a></span></p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Du Schuft von Büttel, weg die blut’ge Hand!</div> - <div class="verse">Was schlägst du diese Dirne? Peitsch’ dich selbst!</div> - <div class="verse">Heiß glühst du, das mit ihr zu tun, wofür</div> - <div class="verse">Du sie zerschlägst.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Da haben wir in Lears Erkenntnis das Motiv, das sich in Maß für Maß zum -Drama ausgestaltet hat.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Der Wuchrer hängt den Gauner.</div> - <div class="verse">Durch lump’ge Kleider scheint der kleinste Fehl;</div> - <div class="verse">Ein reich Gewand deckt alles.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Die Klarheit, wie’s in der Welt zugeht und was die innere Wahrheit der -Dinge ist, kommt jetzt; aber es ist ja zu spät; sein alter Leib hält’s -ja nicht mehr aus; sein Geist ist ja dieser fieberhaften Anstrengung -nicht mehr gewachsen. Es geht alles wirr und wüst durcheinander; -er kann ja schon nicht mehr leben, wo es jetzt in ihm anfängt zu -tagen. Manchmal ist er in hoher Erkenntnis und einmal in höchster; -da eint sich sein alter Königsstolz mit der erhabnen Einsicht eines -Augenblicks; der Ekel hatte ihn übermannen wollen über diese feile, -gemeine, verbrecherische Welt der Lüge; aber wenn man erst so nah der -Enthüllung ist, braucht’s nur noch einen Schritt; er tut ihn: Der -Reiche entgeht dem Speer des Gesetzes; der Arme wird vom Strohhalm -eines Zwergs gefällt; schon will er sagen, daß alle, alle Sünder sind; -aber königlich hoheitsvoll kommt jetzt die Demut über ihn; wie viel -weiter ist er nun in diesem Moment als in der Wetternacht, wo er in der -Hütte des armen Toms die Töchter vors Gericht schleppte:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Es sündigt keiner; keiner, sag’ ich, keiner.</div> - <div class="verse">Ich schütze sie; glaub’, Freund, ich habe Macht,</div> - <div class="verse">Des Klägers Mund zu stopfen.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Was für eine Macht ist das, die da mit all seiner Königshoheit -auftritt? Seine Erfahrung im Unglück und in der Herrlichkeit; sein -Leben in beiden Reichen: er versteht sich jetzt auf das Leben der -Enterbten und auf die Innerlichkeit der Obrigkeiten; er ist ein Mensch -geworden, der das<span class="pagenum"><a name="Seite_114" id="Seite_114">[S. 114]</a></span> Bewußtsein seiner selbst und das Bewußtsein seines -Gegenübers zugleich hat; aber o Jammer! nur wie Fetzen blauen Himmels, -die die Wolkenschicht mal öffnet, mal schließt, sind diese höchsten -Momente; schon im nächsten Augenblick tollt ihn die Verrücktheit wieder -in seinen alten Königswahn hinein, und der Monarch ruft ungeduldig, -herrisch die Diener herbei, die nicht da sind, ihm schnell die Stiefel -auszuziehn! So ist er in dem Augenblick, wo die Abgesandten Cordelias -ihn auffinden, in völliger Raserei. Dann aber kommt er in Pflege, in -die behutsame, liebevolle Pflege Cordelias und ihres guten Arztes. Der -heilt ihn mit Ruhe, mit Schlaf und weckt ihn schließlich mit sanfter -Musik. Und nun möchte ich Adalbert Stifter das Wort geben, dessen -Schilderung einer Lear-Aufführung am Burgtheater mit Anschütz, die er -in seinen „Nachsommer“ verflochten hat, das Schönste ist, was je über -diese Tragödie geschrieben wurde:</p> - -<p>„Der König erwacht endlich, blickt die Frau an, hat nicht den Mut, die -vor ihm stehende Cordelia als solche zu erkennen, und sagt im Mißtrauen -auf seinen Geist mit Verschämtheit, er halte diese fremde Frau für sein -Kind Cordelia. Da man ihn sanft von der Wahrheit seiner Vorstellung -überzeugt, gleitet er ohne Worte von dem Bette herab und bittet kniend -und händefaltend sein eigenes Kind stumm um Vergebung.“</p> - -<p>Der Unterricht des alten Mannes ist vollendet: er — jeder Zoll ein -König! — hat Demut und Selbstüberwindung gelernt. Wie er die Demut, -als er noch in Wahnsinnsform den Wahn seiner Königswut durchbrach, -verkündet hatte, so kann er sie jetzt in letzter Klarheit und Würde -vor dieser reinen, kindguten, herb wahren Frauengestalt üben, die er -geliebt hatte, ohne sie zu kennen, sie, die an seinem Hof die Echtheit, -die Natur, die Seelenschönheit repräsentiert hatte.</p> - -<p>Und wie hatte er, gerade noch in seiner letzten Raserei, wo alles -Verhohlene in ihm aufgewühlt wurde und er zu den<span class="pagenum"><a name="Seite_115" id="Seite_115">[S. 115]</a></span> letzten Gründen des -tierisch Allzumenschlichen vordrang, in wüsten sexuellen Bildern gegen -die Weiber gewütet! Die beiden andern Töchter traf’s — wir haben ja -ihr aus Herrschaftsgier, aus wonnigem Verlangen nach der Gemeinheit -und aus edlerer Sehnsucht gemischtes ehebrecherisches Treiben mit dem -Bastard miterlebt, das nun noch weitergeht:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Vom Gürtel niederwärts sind sie Kentauren,</div> - <div class="verse">Wenn oben gleich ganz Weib.</div> - <div class="verse">Nur bis zum Gürtel sind sie Götterwohnung,</div> - <div class="verse">Doch drunter ganz des Teufels...</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Es ist eine tiefe Erkenntnis Shakespeares — fast haben wir ihn doch -über dem Erleben dieser Gestalten vergessen, die alle seines Geistes, -seiner Natur, seiner Kunst Geschöpfe sind —, daß er den Machtkitzel -zu allerletzt auf einen Wahn zurückführt, der mit anderm Namen Wollust -heißt. So weit die ichsüchtige Lüsternheit sich von ewiger Liebe -entfernt, so weit irrt die Herrschgier von der geordneten Eintracht -zwischen den Menschen ab; und beides ist dasselbe, derselbe Fehl unsrer -schwachen, gemengten Menschennatur: daß wir erraffen und haben müssen, -um unsres Ich und der Nächsten sicher zu sein, daß wir haben müssen, um -zu sein.</p> - -<p>Was in ihm Wutmanier, Herrensinnlichkeit und gebieterisch besitzende, -besessene Wollust der Wirklichkeit war, das haben Goneril und Regan, -die politischen Schwestern, als Erbe bekommen; Cordelia, ein völlig -weiblicher Mensch, hat vom Vater die ursprüngliche gute Anlage, die, -da sie aus ihm herauskommen konnte, in ihm von je da war, und die wir -an einem Zug gemerkt haben, der dem Vater und seinem Kind gemein ist, -von dem wir aber an den Schwestern nicht die kleinste Spur finden: -Kindlichkeit. Mit der Kindlichkeit steht alle Reinheit unsrer sexuellen -Natur in tiefem Zusammenhang; das mädchenhaft Holde dieser Tochter, -die ihrem Vater nicht von ihren Gefühlen zu reden vermochte, ihre -Seelenkeuschheit entstammt dieser Unschuld, daß sie als<span class="pagenum"><a name="Seite_116" id="Seite_116">[S. 116]</a></span> reifer Mensch -und liebende Frau geblieben ist, wie sie als Kind war. Und mit diesem -seinem Kinde zusammen wird der Mann, der vordem so oft ein kindischer -Wüterich gewesen und dessen unerzogene und verzogene Willkür trotz dem -Grundguten seiner Natur der Schlechtigkeit so nah gekommen war, nun, -wo’s zum Ende geht, sanft und kindlich. Nicht aber bloß so, wie man im -gemeinen Leben von einem sanften und kindlichen Menschen spricht; wir -haben schon, als die Wut tobte und die Krankheit verzerrte, gemerkt, -daß da ein ungemeiner Mann sich herausarbeiten will; jetzt ist er -das Urbild dessen, der überwunden hat, und hat ganz den Geist seiner -Haltung. Wie die Schlacht für Cordelia und ihr Heer unglücklich ausgeht -und Lear samt seiner Tochter in Gefangenschaft gerät, macht er sich -aus diesem Schicksalswechsel gar nichts, nicht einmal für sein Kind; -er ist, was er nie hat sein können, fröhlich: in gleichmäßiger Ruhe -heiter, gelassen über die Wechselfälle der Ereignisse hinweg:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Wir wollen ins Gefängnis</div> - <div class="verse">Und wie zwei Vögel in dem Käfig singen.</div> - <div class="verse mleft7">... So woll’n wir leben:</div> - <div class="verse">Man betet, singt, sagt alte Märchen, lacht</div> - <div class="verse">Der goldnen Falter, hört wohl armer Leute</div> - <div class="verse">Gered’ vom Hof und schwatzt wohl selber mit...</div> - <div class="verse">Wir tun so wichtig mit geheimen Dingen,</div> - <div class="verse">Als sei’n wir Gottes Späher; überleben</div> - <div class="verse">Im Kerker Sekten und der Großen Streit,</div> - <div class="verse">Was ebbt und flutet mit dem Mond...</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Man sieht, aus der Welt jeglicher Gier und Macht ist er völlig -ausgeschieden; er, dem nichts galt als die Größe, die Herrlichkeit, -das Befehlshabertum und der Pomp, ist ein kleiner Mann geworden, einer -von den Stillen im Lande, deren Erhabenheit in Lächeln, in Frieden, -in Überwindung besteht; ein Armer in jeglichem Sinn, auch in dem der -christlichen Mystik: ein freiwillig Armer, ein Abgeschiedener,<span class="pagenum"><a name="Seite_117" id="Seite_117">[S. 117]</a></span> der -nichts hat und nichts will. Aber dieses stille Versickern seines -schwachen Lebensrestes in genügsamer Beschaulichkeit ist ihm nicht -beschieden; zu tief hat sein früheres Treiben, zumal sein Handel mit -den drei Töchtern ihn und die gute Cordelia mit ihm ins Böse, ins -Politische, in Krieg und Mord verstrickt. Die sanfte, unpolitische -Cordelia hat um seiner und um Britanniens Rettung willen zur Politik -und den Waffen greifen müssen, die politischen Schwestern haben, um -die Ziele ihrer privaten und öffentlichen Gier durchzusetzen, den -Mann immer weiter nach oben gebracht, in dem das böse Prinzip sich -verkörpert, den Glosterbastard Edmund, und nun ist es so weit gekommen, -daß der Teufel und der Engel in Menschengestalt, Edmund und Cordelia, -einander gegenübertreten; der Teufel bekommt, so weit ist’s in diesem -Reich des Wahns gediehen, den Engel in die Hand, steht siegreich über -ihm und darf ihn umbringen.</p> - -<p>Und nun sehen wir noch einmal den rasenden, den brüllenden, den -wütenden König Lear; jetzt darf er toben; diesmal geht’s nicht um -Eitelkeiten, nicht um ihn selber; sein Jammer tönt um den liebsten -Menschen, nicht weil er sie nun nicht mehr haben soll, nein, weil man -ihr das Leben, weil man sie der Welt genommen hat.</p> - -<p>In dem ganzen Stück scheint sich der Kampf des Guten, -Menschenfreundlichen, Verträglichen mit dem Bösen, Gierigen, -Ränkevollen und grausam Wütenden zu verkörpern, und so wie in Lear -selbst eine tragische Bühne aufgeschlagen ist, auf der dieser -Widerstreit der Mächte ausgefochten wird, so scheint er der König -eines Reichs jenseits Britanniens, jenseits aller Reiche der Erde -zu sein, wo dieser metaphysische Kampf der zwei Mächte um das -Weltregiment gestritten wird. Auf der einen Seite Goneril und Regan, -die wie Zwillingstöchter des Herrschteufels erscheinen; auf der andern -Cordelia; hie Edgar, hie Edmund. Und auch der Verlauf der Geschehnisse -ist so, daß Bös und Gut sich immerzu messen und abwechselnd siegen; und -immer erscheint Bös<span class="pagenum"><a name="Seite_118" id="Seite_118">[S. 118]</a></span> als Reich dieser Welt, Reichtum, Unersättlichkeit; -Gut als Stille, Friedfertigkeit, Armut. Der gute alte Gloster wird von -Cornwall geblendet; sofort empört sich ein alter Knecht, einer von -den kleinen Leuten der Menge, wir haben vorher nichts von ihm gesehen -noch gehört, gegen den Herrn und verwundet ihn zu Tode; und Schlag auf -Schlag; unmittelbar darauf ist das Böse wieder Meister: Regan bringt -den Knecht um. — Der Haushofmeister Gonerils,</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">ein dienstergebner Bube,</div> - <div class="verse">So treu den Lastern der Gebieterin,</div> - <div class="verse">Als Schlechtigkeit nur wünscht,</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>will den Hochverräter Gloster, blind wie er ist, töten; Edgar der -Sohn, in Gestalt eines Bauernlümmels, nimmt dem Herrenknecht vorher -das Leben. Edmund der Bastard tötet Cordelia; ihn aber erschlägt -in ritterlichem Kampf sein wundervoller Bruder Edgar, der Armut -und Tapferkeit, Milde und Heldentum in sich vereint. Und zugleich -stirbt das Schwesternpaar, das nach dem Bastard lechzt: Regan von -Goneril vergiftet, Goneril von eigner Hand, am meisten aber von der -schneidenden Verachtung ihres „milden Gemahls“, wie sie ihn genannt -hatte, getötet. Der, Albanien, hatte sich in ruhiger Verachtung, in -einer Haltung stiller Größe von ihr geschieden, die ihr bitterer sein -mußte als irgendein Wutausbruch eines Brutalen; zu seiner Schwägerin -gewandt hatte er in dem Augenblick, wie er den Bastard in Haft nahm, -die Worte gesprochen:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und Euren Anspruch auf ihn, schöne Schwester,</div> - <div class="verse">Muß ich bestreiten namens meiner Frau.</div> - <div class="verse">Sie ist mit diesem Herrn geheim verlobt,</div> - <div class="verse">Ich als Gemahl tu’ Einspruch Eurer Ehe.</div> - <div class="verse">Sucht Ihr ’nen Mann, schenkt Eure Liebe mir;</div> - <div class="verse">Mein Weib ist schon versagt.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Man hat es gewagt, Balzac einen Shakespeare zu nennen; das war weitaus -zu viel gesagt; Gonerils und Regans im Kostüm seiner Zeit sind ihm -trefflich gelungen; viel höher<span class="pagenum"><a name="Seite_119" id="Seite_119">[S. 119]</a></span> ist es nicht gegangen; aber an solcher -Stelle Shakespeares wie dieser merkt man, woher der Irrtum gekommen -sein mag: in Shakespeare dem Unerschöpflichen steckt auch, diese -Worte Albaniens zeigen’s, der ganze Balzac, dazu aber noch, auch in -schneidender Verachtung, eine Vornehmheit, die Balzac ewig unerreichbar -blieb.</p> - -<p>Sehen wir nun, daß uns die letzten blutigen Entscheidungen, in denen -es um Leben und Tod geht, über das Verhältnis von Gut und Böse in -dieser Welt keine Sicherheit geben, daß der Kampf unruhig hin und her -wogt, so tun wir vielleicht gut, von den Taten, die keine Klarheit -bringen, überzugehen zu den Worten, die sie begleiten. Wie steht es -mit dem Zusammenhang von Menschenschicksal und Weltordnung? Welche -Weltanschauung des Dichters hat im König Lear Gestalt angenommen? -Sehen wir zu; leicht möglich, daß wir hier endgültige Aufklärung über -Shakespeares Weltanschauung erhalten.</p> - -<p>Lear hat sein Reich geteilt; Gloster hat von seinem Bastardsohn Edmund -— dessen Bastardsohn Franz Moor heißt — mit Hilfe eines gefälschten -Briefes erfahren, daß sein Sohn Edgar ein Ruchloser ist, der nach des -Vaters Besitz und Herrschaft und Leben trachtet. In dieser innern -Verfassung des Jammers über sein mißratenes Kind und über die Lösung -aller Bande in der Familie des Königs spricht er die Anschauung aus:</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>Diese neulichen Verfinsterungen der Sonne und des Mondes bedeuten -uns nichts Gutes. Mag sie die Naturweisheit so oder so deuten, -immer findet sich die Natur selbst durch die darauf folgenden -Wirkungen gepeinigt: Liebe erkaltet, Freundschaft fällt ab, Brüder -entzweien sich: in Städten Aufruhr, auf dem Lande Zwietracht, in -Palästen Verrat; und das Band zwischen Sohn und Vater zerrissen. -Dieser mein Bube bestätigt die Wahrsagung: da ist Sohn gegen Vater; -der König tritt aus dem Geleise der Natur: da ist Vater gegen Kind. -— Wir haben gesehen, wie weit unsre Zeit es bringen kann:<span class="pagenum"><a name="Seite_120" id="Seite_120">[S. 120]</a></span> Ränke, -Gleißnerei, Verrat, und alle verderblichen Zerrüttungen folgen uns -quälend bis ans Grab!... Und der edle, biederherzige Kent verbannt -— sein Verbrechen: Ehrlichkeit! — ’s ist seltsam!</p></div> - -<p>Eine Beschreibung der Sphäre dieses Stückes, in der all die -verschiedenen Handlungsteile darin sind, haben wir sicher mit diesen -Worten; wenn aber darüber hinaus nicht nur Gloster in seiner bestimmten -Situation, sondern der Dichter sich hier im allgemeinen über den -Zusammenhang der Menschengreuel und der Zeichen der Natur äußern -soll, so muß es uns stutzig machen, daß sich diese Weltanschauung -des Dichters auf einer falschen Voraussetzung, die er eine seiner -Gestalten machen läßt, aufbaut: Glosters echtes Kind Edgar, „dieser -Bube“ bestätigt ja die Wahrsagung in der Tat nicht. So erstaunt es uns -schon weniger, wenn der Bastard sofort darauf das Wort erhält und mit -herzhafter Kraft die entgegengesetzte Auffassung äußert:</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>Das ist die ausbündige Narrheit dieser Welt, daß, wenn unser -Glück bei schlechtem Befinden ist — oft, weil wir selber uns -übernommen haben —, wir die Schuld für alles Unheil, das uns -trifft, auf Sonne, Mond und Sterne schieben; als ob wir Schurken -aus Notwendigkeit, Narren durch himmlische Fügung wären; Schelme, -Diebe, Verräter durch Machtspruch der Sphären, Trunkenbolde, Lügner -und Ehebrecher durch Abhängigkeit vom Einfluß der Planeten, und -alles, worin wir übel daran sind, durch göttliches Verhängnis: eine -prächtige Ausrede für den Hurenjäger von Menschen, seine Bocksnatur -den Sternen zur Last zu legen!... Pah, ich wäre geworden, was ich -bin, hätte auch der jungfräulichste Stern am Firmament meiner -Bastardierung zugeblinzt!</p></div> - -<p>So spricht der Empörer, der Morallose, der Frevler, der natürliche -Sohn, der sich ganz als Kind der Natur betrachtet und nur nach seiner -Kraft, nicht nach Gesetz und Sitte und Rücksicht auf andre fragt; „ich -wachse, ich gedeihe“; das ist<span class="pagenum"><a name="Seite_121" id="Seite_121">[S. 121]</a></span> seine einzige Losung. Daß er also diese -Worte spricht, die jedes Band zwischen Himmel und Erde zerreißen, -entspricht seinem Charakter, seiner Situation genau so kraftvoll, wie -das bedenkliche Wiegen des Kopfes, das Grübeln, das Suchen nach einem -Zusammenhang, das Erschauern vor einer Ahnung, die Ergebung in die -Ratschlüsse des Himmels zu seinem Vater paßt. Aber der Dichter? Was -sagt er? Vielleicht — nichts? Wo ist er? Verschwindet er vielleicht -hinter seinen Gestalten, in seinen Gestalten, aber nicht in einer -einzigen oder einer Gruppe, sondern in allen? Ist er vielleicht darum -mit Notwendigkeit der Dramatiker, weil er einer einzigen Anschauung -nicht verschrieben sein kann?</p> - -<p>Nach seiner Blendung weiß Gloster von dem Verhältnis des Himmels zu -unsern irdischen Losen ganz anderes zu sagen als vorher; da hören wir -die unerbittliche, unerforschliche Grausamkeit des Schicksals also -gedeutet:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Was Fliegen losen Buben sind wir Göttern:</div> - <div class="verse">Sie töten uns zum Spaß.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Aber er ist sich seiner Sache jetzt nicht mehr sicher; auch er ist, wie -Lear, erschüttert und zum Lernen gekommen: am Ende tragen die Menschen -und ihre Einrichtungen größere Schuld als die Götter; vielleicht ist -gerade das Unglück eine Art ausgleichende Gerechtigkeit? Wie er zum -Freitod entschlossen oben auf der Klippe über Dover in hoher Luft zu -stehen vermeint und einem armen, tollen Bettler — seinem Sohn! — -schenkt, was er bei sich hat, Geld und Schmuck, da meint er:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">... Mein Elend</div> - <div class="verse">Bringt dir Glück. Ganz recht so, ihr Himmelsmächte!</div> - <div class="verse">Laßt überfluß- und wollusttrunknen Mann,</div> - <div class="verse">Der eurer Satzung trotzt, der nicht will sehen,</div> - <div class="verse">Weil er nicht fühlt, schnell fühlen eure Macht:</div> - <div class="verse">Verteilung tilgte so das Übermaß,</div> - <div class="verse">Und jeder hätt’ genug.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Da ist es nun ganz deutlich, wie der blinde Gloster im Augenblick, wo -er vor dem Tod steht, mit hellen Geistes<span class="pagenum"><a name="Seite_122" id="Seite_122">[S. 122]</a></span> Augen zu derselben Erkenntnis -kommt wie noch in der nämlichen Stunde der wahnsinnige Lear. Für beide -wird in dem Unterricht, den ihnen der Sturz von der Höhe erteilt, -die metaphysische Weltanschauung, der sie beide wohl in der Zeit der -Herrlichkeit angehangen haben, ergänzt und zu großem Teil ersetzt -durch die soziale Betrachtung, die ja in Wirklichkeit die Erkenntnis -birgt: Schiebt nicht den Göttern zu, was euer Menschenwerk ist, was ihr -schlecht gemacht habt und gut machen könnt.</p> - -<p>Und doch kann-will es der Mensch nicht lassen, in den hohen -Augenblicken des Menschenschicksals manchmal sichtbar und greifbar die -geheime Führung, die Vorsehung, die ewige Gerechtigkeit, den Sinn zu -erblicken. Wie der gute Albanien hört, daß nach Glosters scheußlicher -Blendung der Täter, sein Schwager Cornwall, sofort vom eignen Knecht, -der ihm Jahre gedient und zu Gloster keine Beziehung hatte, aus Aufruhr -der Seele heraus erschlagen worden ist, ruft er, tief erschüttert ob -dieser Vergeltung:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft2">Dies zeigt, ihr waltet droben,</div> - <div class="verse">Ihr Richter, die der Menschen Übeltat</div> - <div class="verse">So schleunig rächen!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Hier erleben wir aber eine wundervolle Steigerung. Edgar hat seinen -Bruder, den Bastard, der über ihn und seinen Vater das Elend gebracht -hat, im Zweikampf feierlich-ritterlicher Art, im Gottesgericht besiegt; -in dem Augenblick, wo er dann sich, mild verzeihend, dem Sterbenden -enthüllt, findet er Worte des Verstehens auch für dies Entsetzliche -selbst, für die Blendung seines Vaters; wie Albanien in der Tat, die -dieses Gräßliche gerächt hat, so findet der eigene Sohn himmlischen -Sinn in dem Gräßlichen selbst:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Die Götter sind gerecht, aus unsern Sünden</div> - <div class="verse">Erschaffen sie das Werkzeug unsrer Strafe.</div> - <div class="verse">Der dunkle, schnöde Platz, wo er dich zeugte,</div> - <div class="verse">Raubt ihm das Augenlicht.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_123" id="Seite_123">[S. 123]</a></span></p> - -<p>Geben wir’s nur zu: wir wären keine Menschen, wenn wir in den Momenten -der innigsten Erschütterung, die uns so hinnimmt, daß wir nicht wissen, -drückt sie uns nieder oder erhebt sie uns, mit dem Ewigen nicht spielen -müßten, wie hier Edgar spielt, wie die Guten alle in dieser furchtbaren -Welt des Zorns, der Bosheit, der Brunst und Gier, wenn Erkenntnis sie -anrührt, spielen, in einem Spiele spielen, das dem Glauben so verwandt -ist, wie ihre Art, die Wahrheit zu schauen, dem Wahn. Was Edgar da -sagt, heißt ja doch: Du, den der Vater in Sünden, in Wollust, in -Unehren, fern von Familie und aller gesellschaftlichen Anerkennung, -wie in einem dunklen Loch in die Welt gesetzt hat, du, der als Bastard -zum Aufrührer geboren war, du Bruder, in dem Neid und Rachsucht von -Geburts und Erziehungs wegen entstehen mußte, du warst von Gottes -und Rechts wegen der berufene Rächer seiner Sünde; und daß er durch -dich der Finsternis anheimfiel, darin kann man tiefen Sinn und Fügung -des Himmels erkennen. Ein solcher Ausruf, eine solche Bewunderung, -ein solches Sichbeugen ist ja nicht die Setzung einer Theorie, es -ist ein Stück heiligen Willens: so sei die Welt! ist ein Entschluß, -ist die Umschaffung der natürlichen Welt in eine Menschenwelt und -zugleich die Anerkennung des unverbrüchlichen Zusammenhangs der -Notwendigkeitsordnung, die wir Ursache und Wirkung nennen: Denn alle -Schuld rächt sich auf Erden.</p> - -<p>Während dies sich zwischen den Brüdern ereignet, wo der milde Held den -bösen Kraftkerl tötet und ihm Verzeihung in sein Sterben ruft, stirbt -der alte Vater still und lebenssatt. Er ist noch mitten in den Krieg -geraten, hat miterlebt, wie die gute Sache, der er gedient hatte, für -die er alles gegeben, unterlag, wie Lear und Cordelia gefangen wurden; -der blinde Greis hockt unter einem Baum, will nicht mehr weiter, will -sich nicht retten:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nicht weiter, Freund, ein Mensch verwest auch hier.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_124" id="Seite_124">[S. 124]</a></span></p> - -<p>Da ermuntert ihn der immer noch unerkannte Sohn Edgar, mit Worten, in -denen zugleich Resignation und Tatkraft liegt: über nichts verzweifeln, -alles tragen, nicht aber es stumpf über sich ergehen lassen:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Dulden muß der Mensch</div> - <div class="verse">Sein Scheiden wie sein Kommen in die Welt.</div> - <div class="verse">Reif sein ist alles.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>In alledem haben wir je nach Charakter, Stimmung, Situation wechselnde -Gefühle, Gedanken, Bereitschaften angesichts großen Unglücks; und -immer versucht der Mensch, Himmel und Erde in Verbindung zu bringen -oder ohne das auszukommen. Aber auch, wenn große, innige Seligkeit zu -einem kommt oder wenn gar die Gleichzeitigkeit und das Ineinander des -Bösen und des Guten gewahrt wird, ist der Mensch geneigt, den Himmel -zur Erde hinabzuziehen und das Wunderbare als geheimen Zusammenhang zu -erfassen. Wie Kent die Güte seines Lieblings Cordelia und die Bosheit -ihrer Schwestern betrachtet, ist es ihm, als reichten irdische Gründe -zur Erklärung des Warum all der Rätsel hier auf Erden nicht aus. Es muß -eine überirdische Lenkung da sein; ein uns unbegreifliches Verhängnis, -das in den Sternen geschrieben steht:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft12">Die Sterne,</div> - <div class="verse">Die Sterne droben leiten unser Schicksal.</div> - <div class="verse">Wie könnte sonst ein Paar wohl Kinder zeugen,</div> - <div class="verse">So ganz verschieden?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Die Szene am Schluß aber, wie Lear, selbst ein Sterbender, schwach, -taumelnd, die Leiche der grauenhaft ermordeten Cordelia auf den Armen -herein trägt, wie nun sein letztes Leben als Leidenschaft aufschreit, -diese Szene hat wahrhaft Weltuntergangsstimmung:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Heult, heult, heult, heult! — O, ihr seid all von Stein!</div> - <div class="verse">Hätt’ eure Zung’ und Augen ich, des Himmels</div> - <div class="verse">Gewölbe machte ich zusammenstürzen!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_125" id="Seite_125">[S. 125]</a></span></p> - -<p>Und Kent, Edgar, Albanien, die Guten, die im Untergang einer Welt, wo -die Guten mit den Schlechten in unlöslicher Umklammerung hinabgerissen -werden, allein noch übrig sind, bilden den Chorus:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ist dies das verheißne Ende?</div> - <div class="verse">Ist’s jenes Grauens Bild?</div> - <div class="verse">Sink und vergeh!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und wie Lear sterben will, flüstert Kent der Vielgetreue, der seinem -Herrn gleich nachsterben wird — der zehnte und letzte Tote in diesem -Stück —, ängstlich, bange, daß Lear doch ja nicht in dieses Leben hier -noch einmal zurückkehre:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Quält seinen Geist nicht, laßt ihn ziehn! Der haßt ihn,</div> - <div class="verse">Der auf die Folter dieser zähen Welt</div> - <div class="verse">Ihn länger spannen will.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Man sagt, dieses Stück entstamme Shakespeares bitterster, -pessimistischer Periode; der Untergang des Guten mit dem Bösen, durch -das Böse werde darin gezeigt. Das ist wahr und nicht wahr; gezeigt -wird, wie die böse Lust sich der Menschen bemächtigt, ihr angeboren -Gutes unterdrückt und überwächst; wie dieses Schlechte Zustände und -einen Nährboden schafft, wo auch das Gute nicht mehr gedeihen kann; -und wie der Versuch der Umkehr, der Rettung, der Heilung zu spät -kommen mag. Nirgends mehr als hier führt der Dichter das, was die -Menschen einander antun, mit dem, was er zeigt, und mit dem, was er -die Gestalten aussprechen läßt, nicht auf den dunklen Ratschluß der -Götter, sondern auf die Verkehrtheit der Menschen, das Mythologische -auf das Soziale, das Soziale auf die Seele zurück; die Äußerungen der -Deutung gerade für die Beziehung zwischen Charakter und Schicksal -sind mannigfach abgestuft und untereinander entgegengesetzt; nie -äußert sich der Dichter, immer die bestimmte Gestalt nach Maßgabe -ihres Charakters und der wechselnden Situation und Stimmung. Jeder, -möchte man fast sagen, hat jedesmal recht. Shakespeare geht hier so -wenig wie je von einer Idee aus; es ist nicht eine Fabel<span class="pagenum"><a name="Seite_126" id="Seite_126">[S. 126]</a></span> um der -Darstellung eines Gedankens willen erfunden oder umgestaltet, es sind -auch nicht die zwei Fabeln um einer Abstraktion willen zusammengefügt -worden. Er erfüllt die rohe Skizze der überlieferten äußeren Tatsachen -mit Leben, mit Seele, mit innerster Wahrheit. Ein Geschehnis wird -berichtet; seht her, ruft der Dichter, ich zeige euch, wie’s dabei -im Innern der Menschen zuging; warum sie tun mußten, was sie taten. -Wie’s Herder gesagt hat, ein Stück unsäglich reiche, breite, innige -Menschenwelt ist „zu einem Vater- und Kinder-, Königs- und Narren- und -Bettler- und Elend-Ganzen zusammen geordnet“, eben um dieses Ganzen, -um der gegenseitigen Beleuchtung der einzelnen Teile und Vorgänge und -Gestalten willen. Shakespeare hat kein Stück geschrieben, wo wir so -extensiv und intensiv in der Fülle leben wie im König Lear; Zymbelin -freilich geht noch mehr ins Breite und Bunte, aber nicht annähernd -so ins Tiefste, und wie mager wird selbst die Fabel des Hamlet gegen -dieses Ineinander des Mannigfaltigen: Lears Verhältnis zu den Töchtern -— Cordelia zwischen den zwei Freiern — Lear und Kent — Lear und -sein Narr, den der Dichter, so innig lieb er ihn hat, im dritten Akt -verschwinden läßt, weil nun Edgar an seine Stelle tritt — Gloster und -seine Söhne — Edgars mannigfaltigste Schicksale und Begegnungen — -das in seiner Körperlichkeit strahlend schöne, morallose, kraftvolle -Naturkind Edmund und seine Beziehungen zu Lears Töchtern — Gloster -und Cornwall — Cornwall und der Knecht — Albanien und seine Frau — -Edgars und Edmunds Kampf — und all das und mehr in breiter Entladung -und nie als dekorativer Auftritt, immer als Gestalt und Handlung -gewordenes Innere; und welche Kühnheit und Sicherheit, die beiden -Greise, Lear und Gloster mit ihren wesensgleichen und doch äußerlich -so verschiedenen Erlebnissen neben- und miteinander agieren zu lassen! -In eine solche Fülle des äußeren und inneren Lebens, der Qual und der<span class="pagenum"><a name="Seite_127" id="Seite_127">[S. 127]</a></span> -inständigen Not und des über Elend und Wahnwitz und tiefsten Hinabsturz -sieghaft empordringenden Geistes, in einen so mannigfach variierten -und gesteigerten Gegensatz von Affektwut und friedfertig ergebener -Demutsabgeschiedenheit, von sklavischem Herrentum und freier Armut, von -Reichtum und Entblößtheit kommen wir hinein, daß wir, wenn mit einem -Mal das Wort „Shakespeare“ an unser Ohr schlägt, erstaunt uns besinnen, -daß all diese ausgedehnte Welt Werk eines einzelnen Menschen, eines der -vielen Stücke dieses Dichters ist.</p> - -<p>Shakespeares Gestalten sind nicht bloß feurig aus produktiver -Kraft geflossen; sie haben von ihrem Schöpfer solche Zeugungskraft -aufgenommen, als wären sie lebendige Wesen. Kaum ein besseres Beispiel -wüßte ich dafür, wie Shakespeares Gestalten sich in der Erinnerung -nachträglich lebendig verwandeln können, als die Gestalt Lears. -Das Sentenziöse, Sprichwörtliche, das mit dem Bilde dieses alten -Mannes sich verbunden und zu neuen Dichtungen geführt hat, ist aus -Shakespeares Stück, mehr durch Weglassung als durch Hinzufügung, -erwachsen, bezeichnet aber nicht eigentlich seinen Inhalt und Sinn; am -schönsten hat Goethe es in seinem Spruchgedicht geformt:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ein alter Mann ist stets ein König Lear! —</div> - <div class="verse">Was Hand in Hand mitwirkte, stritt,</div> - <div class="verse">Ist längst vorbeigegangen;</div> - <div class="verse">Was mit und an dir liebte, litt,</div> - <div class="verse">Hat sich wo anders angehangen.</div> - <div class="verse">Die Jugend ist um ihretwillen hier,</div> - <div class="verse">Es wäre törig, zu verlangen:</div> - <div class="verse">Komm, ältele du mit mir!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Die weise, gefaßte Heiterkeit dieser Schlußwendung ist ganz goethisch, -ein Trieb, der Shakespeares Dichtung erst in Weimar zugewachsen ist. -Zwar zeigt uns Shakespeare gleich zu Beginn in Cordelias Verhältnis -zu dem alten Vater und zu ihrer jungen Liebe mehr als in Lears -Verhältnis<span class="pagenum"><a name="Seite_128" id="Seite_128">[S. 128]</a></span> zu den andern Töchtern, daß, wer alt wird, sich gar nicht -erst zurückzuziehen braucht: mitten unter denen, für die er Sorge -trägt, ist er einsam. Aber Lear hat ganz andere, schwerere Dinge zu -lernen als dieses, und wenn er es schließlich bis zu der Demut bringt, -vor der eignen Tochter hinzuknien, so tut es wahrhaftig nicht der -alte Mann, der der Jugend huldigt, sondern der König und Vater, der -im Alter hat lernen müssen, was er sein Leben lang versäumt hat. Und -so ist zum Ganzen dieser Identifikation Lears mit dem Alter zu sagen: -Nachträglich, wenn die Gesamtstimmung Lear sich mit unserm eignen -Gemüts- und Erfahrungsleben verbindet, beim Rückblick auf diesen -Mann, dem sich die Kinder, alle drei, entziehen, gegen den sich der -nicht mehr junge, aber jüngere Freund, der Graf Kent auflehnt, dessen -Altersgenosse Gloster nur für ihn eintritt, um gräßliche Strafe zu -finden, der fühlt, daß ihn niemand mehr braucht, daß er allen im Wege -ist und irgendwohin in die Ecke gefegt werden soll, der schließlich -vor den Menschen nicht als seinen Verfolgern, sondern als lieblos -Abgewandten und Belästigten in Wettersturm und Wahnsinn flieht, so -in der auslassenden und zusammenrückenden Erinnerung empfinden wir -wohl, daß Lear das Bild der Altersvereinsamung ist. Aber in dem Stück -selbst weist nicht der kleinste Einzelzug und keine einzige Äußerung -darauf hin, daß der Dichter auf dieses Typische sein Licht und seine -Wärme sammeln will. Die Dichtung sträubt sich nicht dagegen, daß wir -diese Stimmung mitbringen oder mitfortnehmen oder später um Lears -Bild ranken; was Shakespeare aber darstellt, ist ein sehr besonderer -Fall nicht dieses Allgemeingültigen, das vom Alter handelt, sondern -eines ganz andern. Shakespeare hat solche Allgemeinheiten und darum -Mannigfaltigkeiten wie Alter, Freundschaft, Liebe, Weib nicht auf -die Linie einer Regel gebracht, und für ihn ist ein alter Mann so -wenig ohne weiteres ein König Lear, wie er ein Shylock oder Siward<span class="pagenum"><a name="Seite_129" id="Seite_129">[S. 129]</a></span> -oder Lafeu oder Bruder Lorenzo ist, oder wie das Weib eine Cleopatra -oder Cressida ist. Und viel mehr als mit den alten Männern, die man -sonst noch bei Shakespeare findet, gehört König Lear mit dem jungen -Richard II. zusammen. Denn wollen wir schließlich doch ein Wort -haben, um das Individuum dieses Stückes einer Gattung einzureihen, -so sagen wir: auch hier geht es um das Problem der Macht. Macht in -ihrer Verbindung mit Willkür, Gier, Affektwut und Brunst bildet für -Shakespeare in der Tat eine Kategorie der Zusammengehörigkeit. Wir -halten schon lange bei diesem Problem der Macht: wir hatten es in -Maß für Maß zwischen Lachen und Weinen; in düster dämonischer Art -in Macbeth; in innigster Gestalt hier im König Lear. In großartig -geschichtlichem Rahmen, wo denn die Verbindung zwischen Machtgier und -Brunst, die wir in Maß für Maß wie im Lear hatten, sich uns noch einmal -als ein Prinzip, das eine Welt beherrscht, weit und stark darstellen -wird, werden wir’s, in unmittelbarem Anschluß der Handlung an Julius -Cäsar, das nächste Mal in Antonius und Cleopatra haben.</p> - -<hr class="chap" /> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_130" id="Seite_130">[S. 130]</a></span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Antonius_und_Cleopatra">Antonius und Cleopatra</h2> - -</div> - -<p class="initial">Antonius und Cleopatra aufzuführen ist immer wieder in unsrer Zeit -unternommen worden; es muß aber, wie bei mehreren der bedeutendsten -Stücke Shakespeares, am rechten Geist der Aufführung, vielleicht auch -an der rechten Beschaffenheit des Publikums gefehlt haben; denn wir -wissen, Shakespeare gebührt ausnehmend viel Freiheit des Geistes und -Ernst der Gesinnung. Wie auch immer, wir stehen hier vor einem Stück, -dessen Gestalten noch nicht einmal der äußern Erscheinung nach durch -Aufführungstradition feststehen; durch Bühnenanweisungen hilft uns -Shakespeare gar nicht und durch Bemerkungen zu direkter Charakteristik -selten; mit der Handlung erst und ihren Geschehnissen, mit den Taten -der Menschen und der Art, wie sie dulden, bauen sich diese Gestalten im -Lauf der Vorgänge für uns Leser auf.</p> - -<p>Es geht um schwer zu deutende, verworrene, gemischte Naturen; wir -werden erst den Grund legen müssen, auf dem wir uns bewegen. Betrachten -wir erst den äußeren Aufbau der Tragödie. Sie ist von allen Stücken -Shakespeares das szenenreichste: es sind 42 Szenen, von denen viele -ganz besonders kurz sind; ein paar Worte werden gewechselt, und schon -verwandelt sich der Schauplatz wieder.</p> - -<p>Die fünf Akte sind so aufgebaut, daß der erste 5, der zweite 7, der -dritte 13, der vierte 15, der fünfte aber nur 2 Szenen umfaßt: es ist -eine fortwährende Erweiterung in die Breite der Welt, bis — nach -dem Tod des Antonius — in dem Epilog, den der fünfte Akt bildet — -alles Extensive sich am Intensiven, alle Unruhe der äußern Bewegung an -Cleopatras Seelenfülle bricht, die am Ende hervorkommt. <em>Bravest at -the last</em> — die Kühnste, die Beste am Ende, sagt Octavius von ihr -in der unnachahmlich vielsagenden Kürze dieser Sprache und hat recht; -und was da nur für Cleopatra gesagt ist, gilt auch fürs Stück.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_131" id="Seite_131">[S. 131]</a></span></p> - -<p>Lassen wir alle Erfahrungen der Unzulänglichkeit, die es auf -englischen und deutschen Bühnen bisher gemacht hat, beiseite, so -ist zu sagen: dieses seinem besonderen Wesen der Breite und Tiefe -entsprechend besonders gebaute Drama bietet der Bühne eine ungeheure, -eine prachtvoll lockende Aufgabe; aber es verlangt seinen besonderen -Stil; es braucht ein Tempo des Verlaufs, das in gleicher Weise der -breiten Mannigfaltigkeit der Schauplätze wie der Fieberhaftigkeit der -Seelenstimmung entspricht; keinerlei Dekorationskünste dürfen uns -aufhalten; aber auch die Drehbühne mit ihrer Unruhe, Würdelosigkeit und -Verengung wäre kein Rat. Helfen kann hier, meine ich, am leichtesten -und schönsten das Prinzip der echten, alten Shakespearebühne, dem -moderne technische Mittel zu Hilfe kommen: eine bleibende, für alle -Szenen würdig gestaltete Bühne also, über der nur ganz selten der -Vorhang fallen muß, damit ein paar Requisiten je nach dem Erfordernis -der Szenen gewechselt werden; der Schauplatz aber, die Stelle in der -Welt, in der wir uns jeweils für ein paar Minuten oder auch nur den -Bruchteil einer Minute befinden, ist mit Hilfe des Skioptikons durch -Lichtbild auf die Fläche des Hintergrunds zu projizieren; ist die -Vorstellung nur sonst vom rechten Ernst erfüllt und vermeidet man -jeden Versuch einer parodistischen Erinnerung an Bühnenkindlichkeiten -früherer Zeiten, so darf die geographische Lage des Stückes Natur, das -dieser Hintergrund unsern Augen zeigt, ruhig in Buchstaben, die sich -dem Bilde des Hintergrunds einfügen, mitgeteilt werden; Konzessionen -machen darf das Theater dem Kino keine, aber lernen darf es von ihm. -So können und sollen die Szenen, die alle an ihrer Stelle stehen und -nicht in einander gemengt werden dürfen, gleichviel, ob sie lang oder -kurz sind, so auf einander folgen, daß die Verbindung von Ruhe und -Bewegtheit, von Seeleneröffnung und großem geschichtlichen Hintergrund -entsteht, die das Stück verlangt. —</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_132" id="Seite_132">[S. 132]</a></span></p> - -<p>Antonius und Cleopatra liegt uns in keinem früheren Druck vor als in -der Gesamtausgabe aus dem Nachlaß, der Folio von 1623; auch versichern -die Herausgeber, das Stück sei bis dahin noch nicht gedruckt worden. -Gegen die allgemeine Annahme, die sich auf Verstechnik und geistige -Haltung stützt, wonach die Tragödie um 1607 oder 1608 verfaßt sei, ist -nichts einzuwenden.</p> - -<p>Shakespeares Quelle bildet Plutarchs Antoniusbiographie, die er schon -bei Julius Cäsar mitbenutzt hatte; sein Verhältnis zu dieser Quelle -ist auch diesmal, wie wir es damals gesehen haben; viele Einzelzüge -übernimmt er treu; geschichtliche Vorgänge, die in seinen Rahmen nicht -passen, läßt er weg oder läßt sie berichten oder tut sie mit einem Wort -ab; und zu dem Eigentlichen, worauf es Shakespeare dem Brennenden, -Shakespeare dem Ergründer ankam, hat der gute, sacht-pädagogisch mit -dem Pendelfinger warnende Plutarch keinerlei Beziehung.</p> - -<p>Der Schauplatz und mehr, ein Gegenstand des Dramas: das römische Reich, -nichts Geringeres: Rom, Misenum am Golf von Neapel, Messina, Athen, -Actium an der Westküste Griechenlands, Syrien, Alexandria in Ägypten; -und einmal werden wir an Bord eines Schiffes geführt. Und immer die -Breite und die Bewegtheit und der Zusammenhang, immer gehen Boten hin -und her und verbinden die Teile des Reichs, wenn auch zu Streit, so -doch noch zu Einheit.</p> - -<p>Die politische Situation: das Triumvirat, wie es nach Cäsars Ermordung -sich zusammengetan hatte und nach dem Sieg über die Verschworenen -geblieben war, das Regiment von Octavius Cäsar, Julius Cäsars Neffen, -Adoptivsohn und Erben; Marcus Antonius; Lepidus. Alles drängt der -Spitze, dem Kaisertum zu; Lepidus steht als gutmütig-gemeiner -Vermittler — der sich selbst nicht zu kurz kommen läßt, aber nur -den Geiz, nicht den Ehrgeiz kennt — zwischen den beiden adligeren -Prätendenten, die ihn ihrer<span class="pagenum"><a name="Seite_133" id="Seite_133">[S. 133]</a></span>seits nur halten, weil ihr Streit zum -Ausbruch noch nicht reif ist.</p> - -<p>Bei einer Reise in die östlichen Gebiete, die ein Kriegszug war, ist -Antonius bei Cleopatra hängen geblieben.</p> - -<p>Stellen wir hier, wo es erst nur um die äußere Situation geht, gleich -das Alter der beiden fest. Historisch verhält es sich damit so, daß -sie, als Antonius ihr zuerst begegnete, 24 Jahre alt war; bei ihrer -beider Tod hatte sie das neununddreißigste erreicht. Bei Shakespeare -bleibt nun, wie fast immer, der zeitliche Verlauf im Unbestimmten, -Idealen; wesentlich ist, daß die Königin, wenn wir sie kennen lernen, -in dem Gefühl steht, ihre Jugend hinter sich zu haben, daß sie voller -Angst vor dem Alter ist; aber es walten die orientalischen Verhältnisse -der frühen Reife und des schnellen Welkens; wir brauchen das Alter, -das sie erreicht, nicht höher zu schätzen, als eben Ende der dreißiger -Jahre.</p> - -<p>Antonius ist in Wirklichkeit 53 Jahre alt geworden, und als einen -Fünfziger haben wir uns die Gestalt Shakespeares in diesem Stück auch -vorzustellen.</p> - -<p>Octavius Cäsar ist viel jünger, und seine Konstitution ist der Art, -daß er auf Männer von Antonius’ Schlag wie ein Knabe wirkt und immer -wieder leicht wie ein Knabe von ihnen behandelt wird. Das hindert -nicht, daß er kühl, ruhig, berechnend ist; das Männliche wird von -leidenschaftlichen Naturen gerade darum an ihm vermißt, weil er den -Trieben nicht unterworfen, dem Rausch nie preisgegeben ist; er ist -gemäßigt, nicht als einer, der seine Renner im Zügel hat, sondern als -einer, in dem es kalt und gesetzt hergeht, ohne Genialität, ohne Natur; -aber dabei ist er weit ausschauend, kann warten und lauern, hat in -kühler Cäsarenart einen vom Verstand geleiteten zähen Willen und hat -ohne Traum und ohne Wut Machtbegehr und Majestät. Als einer, der ohne -eigene Familie und auch sonst in jedem Betracht nur für sich dasteht, -hat er zwischen sich und der Welt, in<span class="pagenum"><a name="Seite_134" id="Seite_134">[S. 134]</a></span> die seine Hand herrschend -eingreifen will, eine kalt isolierende Schicht der Leere.</p> - -<p>Antonius ist mit Fulvia, einer geprüften Witwe, die schon allerlei -hinter sich gebracht hat, verheiratet.</p> - -<p>Cleopatra ist die Witwe des Ptolemäus; sie hat aus dieser Ehe wie aus -ihrem Bund mit Antonius Söhne.</p> - -<p>Den Stand des römischen Reiches lernen wir aus den Erwähnungen des -Stückes folgendermaßen kennen (wie immer, so auch hier brauchen wir -bei Shakespeare nur Aufmerksamkeit, keinerlei sonstige Wissenschaft; -darum ist er in all seiner erlesenen Reife stets volkstümlich, eine -ganze Nation vom Höchsten des Geistes her im Gemüt ergreifend): In -Italien wütet Krieg, erst zwischen dem Bruder und der Frau des Antonius -gegen einander; dann haben sich beide zusammengetan und gegen Octavius -gewandt, was diesem argen Verdacht gegen Antonius erregt, der in -Ägypten liegt und sich nicht von der Stelle rührt.</p> - -<p>In Süditalien, Griechenland, vor allem auf dem Meer durch Seeräuberei -macht sich ein außenstehender Prätendent, Sextus Pompejus, der Sohn des -großen Nebenbuhlers Julius Cäsars, immer gefährlicher.</p> - -<p>In Asien ist der Aufruhrkrieg der Parther unter Anführung des -rebellierenden Römergenerals Labienus im Gange. —</p> - -<p>Und nun, wobei wir aber immer noch im Äußern nur uns bewegen wollen, -zur Handlung und zum Aufbau des Stückes.</p> - -<p>Tolles üppiges Leben in Alexandria am Hof der Cleopatra: Feste, Gelage, -Trinken, Schlemmen, Lieben.</p> - -<p>Derweile ist das Reich also von vielen Seiten in Gefahr; Antonius -leistet Octavius keine Hilfe; der Aufruhr seiner Angehörigen muß -irgendwie, ohne daß Klarheit über die Zusammenhänge zu schaffen ist, -auf ihn zurückgeführt werden; die Boten, die Octavius sendet, hört er -nicht an, läßt sie kaum vor.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_135" id="Seite_135">[S. 135]</a></span></p> - -<p>Trotzdem wird Fulvia besiegt, muß fliehen und stirbt eines unversehenen -Todes. Und in dem Augenblick, wo er dieses sein Weib tot weiß, erwacht -Rom in Antonius: in letzter Stunde, wo arg Versäumtes gerade noch -eingeholt werden kann, rafft er sich auf zur Reise nach Italien.</p> - -<p>Da kommt es in der Tat noch zur Versöhnung der Triumvirn: die Ehe des -jung verwitweten, der Cleopatra entflohenen Marc Anton mit Octavia, -auch einer Witwe, der Halbschwester des Octavius, wird gestiftet, und -er zaudert nicht, darauf einzugehen.</p> - -<p>Auch mit Pompejus wird ein Ausgleich zustande gebracht: der erhält -Sizilien und Sardinien.</p> - -<p>Und Antonius steht groß da, wie sein Feldherr drüben in Asien gegen die -Parther siegt.</p> - -<p>Aber kaum ist er in seiner besonderen Provinz, in Griechenland, da -bricht der Streit mit Octavius neu und nun erst recht aus: der geht -nun aufs Ganze; als echter Politiker betrachtet er Friedensverträge -lediglich als unerläßliche Stadien des Krieges: der Krieg gegen -Pompejus ist im geeigneten Augenblick wieder losgebrochen; Pompejus -wird darin ermordet; auch der Mitherrscher Lepidus ist jetzt reif; er -wird ins Gefängnis geworfen.</p> - -<p>So rüstet denn Antonius zum Krieg gegen Octavius; wie schon alles auf -des Messers Schneide steht, erlaubt er seiner Frau, nach Rom zu reisen: -es bleibt alles im Unbestimmten, wie sich’s für eine so politische -Ehe gebührt: halb reist sie zu einem fast aussichtslosen Versuch der -Vermittlung, halb weil ihr, wenn’s denn zum Krieg kommen soll, der -Bruder näher steht als der Gemahl, der sie nur so für eine Zwischenzeit -genommen hat, wie der Vertrag mit Pompejus ad interim geschlossen -worden war; in Antonius’ unterirdischen Bezirken wühlen aber, auch sie -freilich noch gemischt aus Politik und Brunst, noch ganz andre Motive: -kaum ist sie weg, bricht auch er auf — nach Ägypten.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_136" id="Seite_136">[S. 136]</a></span></p> - -<p>Man blickt bei Shakespeare völlig schon in das wahre geschichtliche -Verhältnis hinein; was ein paar Jahrhunderte später kommen mußte, der -Zusammenbruch des großen Reiches, die Trennung in Ostrom und Westrom, -in die byzantinisch-morgenländischen und die lateinisch-abendländischen -Gebiete, das spielt hier vor. Antonius stützt sich ganz, in der äußern -Politik wie in der seiner eignen Natur gemäßen seelischen Haltung, -auf die östlichen Königreiche: Griechenland, Zypern, Lydien, Medien, -das Partherreich, Armenien, Syrien, Kilikien, Phönikien, Libyen, -Kappadokien, Judäa usw., die alle in Shakespeares Stück an ihrem Orte -mit Namen hervortreten. Das orientalische Leben, dessen Repräsentantin -Cleopatra ist, steht ihm an, weil er sich nach Natur wie nach Plan als -Herrscher dieses ungeheuren Reiches im Orient fühlt und von da aus, -auf dieses sein eignes Gebiet gestützt, den Kampf gegen Octavius ums -Weltreich führen will. Wäre durchgedrungen, was sich da regte, so wäre -Alexandria so die Hauptstadt der Welt geworden, wie später Byzanz; -Rom aber wehrt sich und behauptet sich. Wir sehen, wie Tüchtigkeit, -Nüchternheit, kriegerisch-geordnetes Wesen, zweckvoll logisches, -planvolles Staatsregiment sich im Westen unter Führung des Octavius, -des berufenen Erben Julius Cäsars und der Republik, aufbaut, während -eine im Orient wurzelnde Welt, repräsentiert durch den Griechenrömer -Antonius und die Ägypterin Cleopatra, den Luxus und Lebensgenuß, die -Ruhe, die lässige Beschaulichkeit, das Ästhetische, die triebhafte -Willkür und Laune wählt und zum Siege führen will. Wir sehen schon -hier, schon im voraus: es ist viel, was mit diesem Paar Antonius und -Cleopatra zugrunde geht, und diesmal bildet die Geschichte nicht, -wie wohl in solchen Stücken wie Othello oder Romeo und Julia, bloß -eine Art Hintergrund der Landschaft und Temperatur, sondern das -Besondere der Seelenzustände und Leidenschaften dieser Menschen und -aber das Allgemeine der<span class="pagenum"><a name="Seite_137" id="Seite_137">[S. 137]</a></span> geschichtlichen Verhältnisse sind hier so -innig in einander gehörig, wie für dieses durch Liebe wie Politik -zusammengeschmiedete Paar Seelenliebe, Sinnlichkeit, Glanz, Üppigkeit -und Macht nicht von einander zu scheiden sind.</p> - -<p>Der Entscheidungskampf ist denn nicht mehr hintanzuhalten: große -Landheere und Flotten stehen einander bei Actium gegenüber. Cleopatra -mit ihrer Seemacht nimmt an der Schlacht teil — und flieht; Antonius -mit seiner gesamten Flotte hinter ihr her — und die Schlacht ist -zu Cäsars, zu Roms Gunsten entschieden. Octavius, mit einer ganz -unerwarteten, kühnen Geschwindigkeit, deren sich zumal Antonius von -ihm nicht versehen hatte, verfolgt sofort. Geht auch ein Treffen auf -dem Lande bei Alexandria für Antonius zunächst, dank seiner und seiner -Generale und Soldaten persönlicher Tapferkeit, günstig aus, so ist -doch nichts mehr zu hoffen: es ist nur der groß-verzweifelte Kampf ums -ruhmvolle Ende; und wie er — fälschlich — hört, Cleopatra sei tot, -bringt er sich um; und Cleopatra stirbt ihm nach.</p> - -<p>Der Westen hat gesiegt; die Einheit des Reiches ist, mühsam genug, -vorerst bewahrt; Octavius Cäsar Augustus ist als alleiniger Imperator -übriggeblieben; ein Kaisertum hebt an, in dem vorerst das Erbe -republikanisch politischer Rechnung mächtiger ist als das orientalisch -üppige Machthabertum, das Antonius gebracht hätte.</p> - -<p>Das ist der bewegte, der wahrhaft lebendig bewegte Hintergrund der -Tragödie: ein Film größter, riesenhafter Art.</p> - -<p>Wenigstens, so wie wir’s bisher skizziert haben, bildet dieses bewegte -Gemälde der Historie nur den Hintergrund des Stückes. In Wahrheit ist -all dieses Geschichtliche, all dieser Machtstreit unlöslich eingeknüpft -in das eigentliche Drama, in die Tragödie, die Antonius und Cleopatra -in dieser weltgeschichtlichen Landschaft an einander erleben und von -der jetzt erst zu reden ist.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_138" id="Seite_138">[S. 138]</a></span></p> - -<p>Vorher aber noch ein Wort von der Stimmung und dem Sinn des Ganzen.</p> - -<p>Wir haben drei Dramen Shakespeares, die wie schon der Titel sagt, ein -Paar in die Mitte stellen: Romeo und Julia, Troilus und Cressida, -Antonius und Cleopatra. Nun sagt man wohl, das erste Mal sei die -hohe Liebe, die beiden andern Male aber die niedre, die Sinnenliebe, -die Wollust dargestellt. Es ist aber nicht eigentlich so. So viel -Shakespeare von Anfang an und immer mehr gegen den Teil der Liebe, -der Wollust heißt, auf dem Herzen hat, so sehr er sich, wo er zur -Liebe klagend und anklagend steht, auf kritische Analyse einläßt, -so sehr kennt er, wo er Menschen und ihre Schicksale gestaltet, nur -<em class="gesperrt">eine</em> Liebe: die ganze. Er weiß, daß der Trieb selbst in rohester -und tierischster Gestalt bei allen Lebendigen, die nicht Caliban sind, -noch irgendwie von Traum und Phantasieschöpfung verklärt ist und daß -<em>fancy</em> ein Element ist, in dem Lust mit Laune, Leidenschaft mit -Seele, Zwangsgewalt mit Freiheit und Geist mit göttlich-leichtem Spiel -vereint wohnen. Er kennt nur die eine Liebe, die ganze; aber er kennt -unsäglich verschiedene Menschen, die von ihr ergriffen werden und sich -anders in ihr verhalten; er kennt unsäglich viele verschiedene Grade -und Stufen der Liebe und ihres Mischungsverhältnisses. Die hohe Liebe -des holden Jugendpaares Romeo und Julia ist sehr beseelt, sehr sinnlich -und wenig geistig; bei Troilus und Cressida haben wir als bezeichnend -gesehen, wie bei diesem Paar der Jüngling so viel mehr Seele und -Geist in das Gefäß der Sinnenliebe gießt als das Mädchen; und so ist -auch die Liebe von Antonius und Cleopatra, dieser nicht mehr Jungen, -Vielerfahrenen, des reifen, überreifen Mannes, des reifen, überreifen -Weibes Liebe nicht im entferntesten bloß Sinnenliebe; Shakespeare -bleibt hier so wenig wie je im Typischen, Formelhaften, Abstrakten -stecken; Einmaliges, das sich so nie in der Welt wiederfindet, wird -gezeigt; es ist die leidenschaftliche, unentrinnbare, Seele und<span class="pagenum"><a name="Seite_139" id="Seite_139">[S. 139]</a></span> Leib -und Geist trotz aller Abwehr und allen Fluchtversuchen und allen -Einsichten und Verleumdungen hinnehmende Liebe des Staatsmanns und -Kriegsmanns, des Römers und Griechen Antonius und dieser einzigen Frau, -der Schlange vom Nil, wie er sie nennt, der Königin-Buhlerin Cleopatra.</p> - -<p>Antonius: wir kennen ihn schon aus Julius Cäsar, und er ist der -selbe. Ein herkulischer Mann, der Familiensage nach auch wirklich -aus Herkules’ Stamm entsprossen; Sportsmann, Ringer, Athlet. Tapfer, -aushaltend, nicht umzubringen, von einer ehernen Konstitution, die -man, im ursprünglich bildhaften Sinn, wahrhaft kolossal nennen darf. -Dazu feurig, flammend, rasch einnehmend; er repräsentiert die seltene, -berückende Vereinigung der stärksten Kraft mit der feinsten Eleganz, -der unerschütterten Ruhe, wie sie sonst nur ein Vierschrötiger hat, -mit der leichtesten und witzigsten Beweglichkeit. Sein Denken ist -schnell, schnellend; und so ist auch seine Entscheidung ohne Bedenken -und Skrupel. Solange er sich in der Gewalt hat, ist er imstande, all -seine reichen Gaben in den Dienst eines Zwecks zu stellen, und ist -dann ganz sieghaft. Denn er ist eine reiche Natur, voller Gefühl und -Unmittelbarkeit, und wenn er diese Gaben vermöge seiner angeborenen -und durch viel Übung bezwingend gewordenen Schauspielerkunst seinem -Willen dienstbar macht, so siegt er durch sich selbst und durch die -Popularität, die mit ihm geht.</p> - -<p>Er ist einer, der durch Ausschweifungen so wenig wie durch härteste -Entbehrungen umgebracht wird. Für sein Ausmaß gilt nicht das -Entweder-Oder kleiner oder mittlerer Normalmenschen: entweder -liederlich etwa oder kriegstüchtig; entweder leidenschaftlich oder -besonnen; er ist das eine wie das andre. Nie ist er, in fassungslos -wilder Unbeherrschtheit nicht einmal, in äußerster Anspannung; immer, -ehe es mit ihm zu Ende geht, ist in ihm und um ihn noch etwas von der -Ruhe einer gewissen mittleren Haltung, einer holden Lässigkeit.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_140" id="Seite_140">[S. 140]</a></span></p> - -<p>Da sind wir aber bei seiner Gefahr, zumal in dieser dürr gewordenen -Welt der Politik: er kann nicht nur, er muß manchmal den Zweck -ausschalten; er kann nicht alleweile hell, klar, scharf sein, die -Gegner belauern und ein Ziel verfolgen; er braucht Selbstvergessenheit, -Hingebung, Versinken, Trägheit, Lust: Genuß und Rausch.</p> - -<p>Und dazu kommt nun: er steht jetzt an der Grenze, wo die Jugend ihn -bald verlassen würde, wenn er sie nicht mit leidenschaftlicher Gewalt -festhielte.</p> - -<p>Was ihm, ganz abgesehen von allen politischen, allen -Rivalitätsgegensätzen, an Octavius menschlich so widerwärtig ist, -das ist, daß dieser junge Mensch gar keine Gegenwart und also Wonne -so wenig wie Laster zu haben scheint: der lebt nur in der Zukunft, -in der Spannung, im politischen Ziel, im Abstrakten. Über Antonius -aber scheint das Gebot zu walten, das der Dichter des augusteischen -Zeitalters, Horaz, in die zwei Worte faßt: <em>carpe diem</em>, genieße -den Tag, pflücke die Stunde. Lust ist das Element, in das er immer mal -wieder tauchen muß, Lust bis zur Liederlichkeit; nur daß sie tragisch -umwittert ist, in Verbindung wie sie steht mit der Gefahr der Zeit in -jeglichem Sinne: daß die Zeit dahinschwindet, daß die Jugend vergeht; -und dazu noch die Untergangsstimmung dieser besonderen Zeit: es mischen -sich die Kulturen von Ost und West; die republikanische Tugend ist -versunken; wie lange ist’s schon her, daß er selber Brutus erst in den -Untergang gehetzt und ihm dann den erschütterten Nachruf gesprochen -hat! Nun herrschen Frivolität und Skepsis; die Welt hat keinen Halt und -keinen Glauben mehr; und in den großen Kämpfen geht es nicht mehr um -Prinzipien, sondern um persönliche Macht.</p> - -<p>Es ist fast wie ein landschaftliches, ein Natursymbol dieser wogenden -Stimmung — wie’s uns anders, aber doch verwandt dann wieder im -Sturm begegnet —, daß wir in diesem weiten Drama immer wieder auf -die Wasserfluten, des<span class="pagenum"><a name="Seite_141" id="Seite_141">[S. 141]</a></span> Meeres und des Stromes, geführt werden: es -ist in diesem Stück etwas Weiches, Wogendes, Nebeldunstiges, feucht -Dahinrinnendes; es fehlt nicht an Sonne, aber es ist die Sonne, die -Maden ausbrütet; wir schwimmen auf einem Flusse wohliger Lust, und wo -wir dem Feuchten entsteigen, kommen wir doch nicht aufs feste, sichere, -trockene Land, sondern in die fruchtbar-schwüle Sumpfniederung des Nils.</p> - -<p>Auf einem Flusse ist Cleopatra allererst dem Antonius entgegengefahren; -drüben in Kleinasien war’s; auf dem Kydnus in Kilikien. Das üppige -prächtige Bild dieser Begegnung stammt ursprünglich von Plutarch; wir -haben es nun, wie eine zauberhafte Wirklichkeit, die aus Geschichte -zur Sage geworden ist, in den Farben, in denen es Shakespeare für -alle Sinne gemalt hat und die noch frisch und strahlend sein werden, -wenn das Bild, das Makart aus der Szene gemacht hat, längst chemisch -zersetzt sein wird:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Die Barke, drin sie saß, brannt’ auf dem Wasser</div> - <div class="verse">Hellstrahlend wie ein Thron; getriebnes Gold</div> - <div class="verse">Des Schiffes Spiegel; purpurrot die Segel</div> - <div class="verse">Und so durchduftet, daß die Winde sich</div> - <div class="verse">In Liebesweh verfingen. Silberruder</div> - <div class="verse">Regten im Takt sich nach dem Ton der Flöten,</div> - <div class="verse">Und wie in Sehnsucht folgten die Gewässer.</div> - <div class="verse">Und nun sie selbst! Der Schildrer wird zum Bettler!</div> - <div class="verse">In ihrem Zelt von Goldbrokat lag sie,</div> - <div class="verse">Das Venusbild, in dem die Kunst der Laune</div> - <div class="verse">Noch die Natur bemeistert: ihr zu seiten</div> - <div class="verse">Wie lächelnde Amoretten standen Knaben</div> - <div class="verse">Mit holden Wangengrübchen, bunte Fächer</div> - <div class="verse">Wehten statt Kühlung Glut dem zarten Antlitz...</div> - <div class="verse">Um sie die Dienerinnen, allesamt</div> - <div class="verse">Meermädchen, Nereiden gleich...</div> - <div class="verse">Ein Meerweib sitzt am Steuer; seidnes Tauwerk</div> - <div class="verse">Schwillt an im Druck der blumenweichen Hände...</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_142" id="Seite_142">[S. 142]</a></span> - <div class="verse mleft3">Und von der Barke trifft</div> - <div class="verse">Ein seltsam unsichtbarer Duft die Sinne</div> - <div class="verse">Der nahen Ufer...</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Da haben wir sie allererst, Cleopatra die Nilschlange! Der Hörer des -Stückes freilich vernimmt diese begeisterte Erzählung des sonst so -ruhig-klugen Feldherrn Enobarbus erst, nachdem er die Königin schon in -schönen und häßlichen Launen leibhaft kennen gelernt hat. Seltsam und -ganz in der Art großer Dichter, so indirekt fast, wie Homer die Helena -in ihrer Wirkung auf die trojanischen Greise geschildert hat, ist es, -wie wir in diesem Bericht über die Jugend der Schönen, die wir vor -Augen haben, mehr von ihrem Milieu, ihrem Dunst und Duft hören als von -ihr selbst, mehr von ihrer Wirkung als von ihrer Erscheinung, und mehr -von Kunst als von Natur!</p> - -<p>Ihrer äußern Erscheinung aber werden wir Leser besser durch die Szene -habhaft werden, wo sie sich ihre Nebenbuhlerin Octavia schildern läßt; -eine echte Cleopatra-, auch eine echte Shakespeare-Szene das; aus ihren -Ablehnungen der Eigenschaften Octavias erfahren wir, für welche eignen -sie sich selber zulächelt: demnach ist Cleopatra eine hohe, schlanke -Erscheinung, voll graziöser Bewegung; das Gesicht ist oval, der Teint -dunkel — eine Zigeunerin wird sie genannt; die Stimme aber ist hell -und zart. Sie wirkt königlich und weiblich; bezwingend, verführend vor -allem durch Hinfälligkeit.</p> - -<p>Dies ist nun ein wesentlicher Zug an diesem Geschöpf, der, glaube -ich, bisher nie richtig gedeutet worden ist. Um ihn zu gewahren, -haben wir zunächst darauf zu achten, daß die Menschen sich in ein -paar Jahrhunderten oder auch Jahrtausenden nicht eigentlich, nicht im -Grunde ändern; gewisse Ausdrucksformen, Kleider, Moden und vor allem -Bezeichnungen und Deutungen ändern sich, aber nicht Wesenszüge, weder -normaler noch abnormer Art; und es macht kaum einen Unterschied, -ob wir, darauf<span class="pagenum"><a name="Seite_143" id="Seite_143">[S. 143]</a></span> nun aufmerkend, den Blick in Shakespeares oder in -Cleopatras Zeiten richten. Frauennaturen, wie sie uns heute begegnen, -wie wir sie heute kennen — was man so kennen heißt —, hat es -auch damals gegeben. Ich glaube nun zu gewahren, ja, ich bin mir -sicher, daß Shakespeare, wohl der größte Menschen- und vor allem -Frauendurchschauer, den wir haben, in Cleopatra eine Frau dargestellt -hat, die wir besser verstehen, wenn wir sie in den Kreis der -Frauengestalten aufnehmen, wie sie in der uns vertrauten Sprache und in -direkter Schilderung zuerst Stendhal und dann vor allen Dostojewskij -geschildert haben.</p> - -<p>Ja, Shakespeares Cleopatra gehört zum Geschlecht der Aglaja Epantschin -und der Nastasja Filipowna aus dem Idioten und vor allem der Gruschenka -und der Katharina aus den Brüdern Karamasoff. Nur daß sie zu all -der Hoheit, die bei ihr wie auch bei diesen Frauen aus mannigfachem -Erliegen und sklavischem Hingeben, aus arger Erniedrigung sich immer -wieder aufbäumt, noch die Stellung einer echten Königin hat, mit Macht, -Üppigkeit, fabelhaftem Reichtum umgeben, und daß ihr Geliebter der -Imperator ist.</p> - -<p>Sprechen wir das Wort nur aus: eine sinnlich, seelisch, geistig reich -begabte Hysterische ist diese Zigeunerin und Königin aus dem Lande -Ägypten, eine Hysterische von der strahlend reichen, schimmernden -Gattung, die Männer verschwenderisch verbraucht und Männer zauberhaft -anlockt; der Gattung, der gegenüber Worte wie Wahrheit und Lüge, ja -sogar, Natur und Kunst unzulängliche Ausdrücke werden.</p> - -<p>Das entscheidende Wort, von dem aus die Gestalt aufzubauen ist, fällt -im vertrauten Gespräch zwischen Antonius und seinem ersten Feldherrn -und nächsten Freund Enobarbus. Antonius ist entschlossen, Cleopatra -zu verlassen; es ist höchste Not, in Italien nach dem Rechten zu -sehen; die Nachricht von Fulvias Tod hat ihn aufgestört, hat positiv -und negativ ihre Wirkung getan; denn einer der<span class="pagenum"><a name="Seite_144" id="Seite_144">[S. 144]</a></span> Gründe, warum er -ganz in diesem ägyptischen Weibe wie in einem Versteck und einer -Vergessenheit untergetaucht war, besteht nun nicht mehr: seine Ehefrau, -dies kriegerische Mannweib, vor dem er Respekt in jeder Hinsicht, -wahrhaft Angst nämlich gehabt hat, ist nun tot. Wie Antonius ihm diesen -Entschluß eröffnet, meint Enobarbus bedenklich: O weh! Da stirbt -Cleopatra, sowie sie’s hört, auf der Stelle! Und ihre Frauen, ja, die -leben ja in so einer Art bei weiblicher Freundschaft bekannter Mimikry -mit der Existenz ihrer Herrin, die werden ihr eilends nachsterben! -Damit will der Kauz, der zynische Sprache als Panzer gegen die Welt -sich angelegt hat, sagen: Was wird es diesmal für eine Szene geben! Wie -wird sie in Ohnmacht fallen!</p> - -<p>„Ich habe sie zwanzigmal sterben sehen bei weit armseligerm Anlaß. Es -muß, denk’ ich, ein feuriger Stoff im Tod liegen, der irgendwie einen -Liebesakt auf sie überträgt, sie hat so eine Schnelligkeit im Sterben!“</p> - -<p>Auf diese Bemerkung, die schon seltsam genug ist, erwidert -Antonius, dem nicht wohl zumut ist, mürrisch: „Sie ist schlau über -alle Begriffe.“ Er deutet also — in diesem Augenblick — ihre -Hinfälligkeit, ihre Anfälle, ihre Ohnmachten, im Zusammenhang -mit ihren Launen und ihrer Buhlerei aller Grade, ganz wie der -Durchschnittsbeurteiler, als Falschheit, Schlauheit, List. Wir aber -wollen, noch ehe wir weiter gehen, daran denken, daß unser Wort Laune -von <em>la lune</em>, dem Monde, kommt, der nur bei uns Deutschen nicht -weiblichen Geschlechts ist, und daß Monat und Mond das nämliche Wort -ist. Enobarbus aber, ein feiner Beurteiler, einer, der trotz rauher -Rede fein empfindet, erspart uns vorerst weitere Deutlichkeit, indem -er dies seltsame Wesen noch eindringlicher analysiert, mit sehr -merkwürdigen Worten einer höchst modernen Seelenchemie:</p> - -<p>„Ach nein, Herr,“ so weist er des Antonius brummige Plumpheit zurück, -„ihre Triebe — <em>passions</em> — bestehen<span class="pagenum"><a name="Seite_145" id="Seite_145">[S. 145]</a></span> aus gar nichts anderm als -dem allerfeinsten Teil reiner Liebe; ihre Stürme und Fluten dürfen wir -gar nicht Seufzer und Tränen benennen; es sind Orkane und Gewitter -einer heftigeren Art, als sie im Kalender stehen: das kann bei ihr -keine Schlauheit sein; wenn das wäre, könnte sie einen Regenschauer -machen so gut wie Jupiter.“</p> - -<p>Moderne Verkünder der Periodizitätslehre würden sich weniger -anschaulich und formelhafter ausdrücken; aber auch sie würden -Cleopatras Wallungen mit Wind und Wetter, mit Ebbe und Flut und mit dem -Kalender in Beziehung bringen.</p> - -<p>Damit ist also gesagt: ihre Launen, ihre Tränen, ihre Ohnmachten, ihre -Wutanfälle, womit all ihr verführerischer, sinnlicher Zauber und auch -ihr Spielen mit der Liebe, ihre Katzennatur zusammenhängt, all das ist -im Grunde eine überempfindliche Hingebung an Liebe und Leidenschaft. -Die Liebe ist bei ihr etwas Zentrales, und gerade darum ist sie nicht -bloß inwendig, in Seelenkeuschheit Liebe; ihre Liebe ist immerwährend -anwesend und allüberallher in ihrem Leibe verbreitet; bis in die Haut -und jede Regung hinein ist sie lauter Liebe und Trieb; wenn sie alle in -irgend einem Grad in ihre Netze zieht, so nur darum, weil sie selbst -mit Haut und Haar im Netz, im Bann, im Dienst der Liebe steht. Ihre -Unberechenbarkeit ist Schwäche; und diese Schwäche ist ihre Stärke über -die Männer; sie ist eine tödlich Liebende, weil Liebe, das mörderische, -schlangenhaft aussaugende, bebend rastlose Prinzip, ihr in Leib und -Seele sitzt. Ergreifend schöner und dazu unbemäntelt wahrer kann man’s -nicht ausdrücken, als es der Römer Enobarbus getan hat: ein Leben, das -dem Tod entstammt und in jedem kleinsten Zeitteil vom Tode besetzt ist, -führt sie; und dieser Tod ihrer Herkunft und ihres immer zitternd regen -Daseins verwandelt sich ihr in geheimnisvollen Schauern und feurigen -Wallungen wie zu Liebesakten. Fassen wir sie so, wie Enobarbus uns den<span class="pagenum"><a name="Seite_146" id="Seite_146">[S. 146]</a></span> -Weg zu ihr weist, welche Achtung überkommt uns vor den Gegengewichten, -die diese reiche Arme trotz all ihrer elementaren Natur in sich haben -muß, vor ihrem Geist und ihrer Beherrschtheit, vor ihrer mit allem -Hohen der Welt in Verbindung stehenden, königlichen Liebe zu den Großen -der Erde, ja, sagen wir’s geradeheraus, so paradox es klingt, vor ihrer -Treue in der Liebe! Wie hat sie die pochende, zuckende Ruhelosigkeit -ihrer Natur in sanft und geräuschlos bewegte Grazie, wie hat sie ihre -Schlangenhaftigkeit denn doch in die Wellenlinie berückender Anmut -verwandelt, so oft nicht ihre lettene Ursprünglichkeit die Dämme der -Sitte sprengt und in brutal-abscheulicher Gemeinheit loslegt!</p> - -<p>So wenig ich sonst geneigt bin, aus Shakespeares Dramen in sein -Leben auszubrechen und aus diesen Gebilden Schlüsse auf des -Dichters persönliche Existenz zu ziehen, so sehr bin ich hier davon -durchdrungen, daß er diese wundervoll verführerische, gefährlich schöne -Weibnatur im Leben kennen und als Mann verfluchen gelernt hat.</p> - -<p>Ich denke, wie es auch andern gegangen ist, wie es unausweichlich ist, -an die schwarze Schönheit, die uns in mehreren Teilen, besonders am -Schlusse seiner Sonettendichtung begegnet, an das Weib, in dem sich -ihm zu unerhörter, unheimlicher Klage die Sinnenliebe, das Geschlecht, -die Wollust verkörperte. Davon hören wir später im Zusammenhang, aber -damit die Tragödie von Antonius und Cleopatra uns in unserer, uns in -Shakespearischer Tiefe aufsucht, wird es uns gut tun, jetzt gleich -das 129. Sonett zu hören; und da uns die Gedanken, das Gefühl und -die Stimmung dieses Gedichts in all ihrer Schärfe treffen sollen, -verbleibe der nie ganz mögliche Versuch einer dichterischen Wiedergabe -der späteren Darstellung der Sonettendichtung in ihrem Zusammenhang; -hier folge dieses Sonett in der unverwischten Klarheit, die es im -Original in der rhythmisch gebannten Sprache mit der Schlagkraft der -Reim<span class="pagenum"><a name="Seite_147" id="Seite_147">[S. 147]</a></span>verschränkung und der Hammerschläge des Schlusses, für uns aber -nur in Prosa hat:</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>Schändliche Vergeudung des Geistes ist Wollust in Ausübung; und -bis dahin, vorher ist Wollust meineidig; mörderisch, blutig, -schmachvoll, wild, unsäglich, roh, grausam, ohne Verlaß;</p> - -<p>Sobald genossen, stracks verachtet; sinnlos gejagt, und, sobald -erlangt, sinnlos gehaßt; wie ein verschluckter Köder, der ausgelegt -wurde, um den, der ihn zu sich nimmt, toll zu machen: toll in der -Sucht und toll auch im Besitz; unsäglich, wenn man’s gehabt hat, -hat und zu haben begehrt;</p> - -<p>Ein Segen, den man sucht; wahre Qual, die man gefunden; vorher: -erhoffte Freude; nachher: ein Traum.</p> - -<p>Das weiß die Welt alles gar wohl; und doch weiß keiner den Himmel -zu fliehen, der die Menschen in diese Hölle führt.</p></div> - -<p>So spricht, so klagt, so klagt an Shakespeare der Mann, der auch in -dieser direkten Aussprache, wir hören’s noch, oft genug so tief und -schön in der verstehenden, gestaltenden, umgestaltenden Phantasie des -Dichters einkehrt, die Liebe, auch Liebe, himmlische Liebe heißt, daß -er auch da die liebenswürdige Milde neben die grausame Aufdeckung -der Wahrheit zu setzen vermag. Das aber ist die vollendetste Höhe -des Dramatikers, daß er zugleich so erschreckend grausam und so -anbetungswürdig milde und liebend in seiner Wahrheit ist. Keiner, kein -einziger vor und neben und nach ihm hat ein solches Volumen der Seele -wie er.</p> - -<p>Sehen wir nun von Anbeginn, wie’s die beiden, in deren Seelen der -Zauberer diesmal hineingeschlüpft ist, mit einander treiben, wie es sie -treibt.</p> - -<p>Sie noch mehr als er steht immer zitternd in Angst vor dem Alter; -Cleopatra lebt in Reminiszenzen, in den großen Erinnerungen, wie -hintereinander Julius Cäsar und Pompejus in ihren Banden waren.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_148" id="Seite_148">[S. 148]</a></span></p> - -<p>Und nun ist ihnen Antonius gefolgt, der Herr des dritten Teils der -Welt, der ein so herrlicher Mann ist, daß er Kaiser der Welt sein -sollte.</p> - -<p>Um es aber zu sein, müßte er fort von ihr, in Krieg und Gefahr, das -wäre das wenigste, wiewohl sie, das Weibchen, so feige wie verwegen -ist; aber sie braucht ihn bei sich; ihre Liebe, die immerwährendes -allgemeines Verlangen ist, kann der Gegenwart des Geliebten nicht -entraten; und überdies, ginge er zu seiner Aufgabe, so käme er zu ihrer -größten Gefahr: zu Fulvia. Daß er ein Ehemann ist, auch innerlich, in -einer edlen Region seines Wesens, an eine andre Frau, an eine kühlere -Welt, an Italien gebunden, ist ewig ihr Stachel; sie plagt ihn mit -Bosheit und Hohn, mit „Schelten, Lachen und Weinen“. Ist er traurig, so -will sie tanzen; ist er vergnügt, so will sie, daß er sie krank glaubt. -Will er reden, so läßt sie ihn nicht zu Wort kommen.</p> - -<p>Und wie er nun, gefaßt ruhig, zwischen ernstem Bedauern und großer -Erleichterung, ihr mitteilt, Fulvia sei tot, da ist es für die Unselige -wieder ein stechender Schmerz; denkt sie doch über alles andre hinweg -vor allem an sich, ihr Geschick und ihre Liebe: so also geht es uns -Frauen, wenn wir tot sind; so wird er einst sich über <em class="gesperrt">ihren</em> Tod -mit einer andern trösten!</p> - -<p>Kaum aber ist er weg, so hat sie keinen andern Gedanken als ihn.</p> - -<p>So wie der Politiker Octavius täglich Boten allüberallhin entsendet, um -mit allen Teilen des Reiches in Verbindung zu sein, so gehen täglich -ihre Liebesboten zu Antonius und wieder zu ihr zurück.</p> - -<p>Seine rasche neue Ehe mit Octavia ist pure Politik: Mißtrauen und -Kriegsbereitschaft sind bei Octavius aufs höchste gestiegen; der -Stern Antons will sinken; es gibt für ihn nur dies eine Mittel, die -Entscheidung hinauszuziehn.</p> - -<p>Sie aber gerät bei dieser Nachricht in fassungslose Wut. Da hat ihr -Dichter wahrlich nichts schmeichlerisch bemäntelt;<span class="pagenum"><a name="Seite_149" id="Seite_149">[S. 149]</a></span> wie wir aber in -einem Gemälde oder einer Skulptur die ganze Tiefe der Enthüllung mit -einem Blick umfassen, so erfordert das Kunstwerk, das, wie Dichtung, -Drama und Musik, in der Zeit verläuft, die Aufhebung der Zeit und das -Erfassen von Anfang, Mitte und Ende in Einem durch das einzige Mittel, -das sich bietet: durch unsre innige Vertrautheit mit dem Werk. Ich -pflege, wenn ein junges Menschenkind zum ersten Mal die Bekanntschaft -mit einer der Symphonien Beethovens gemacht hat, in ernsthaftem Scherz -zu sagen: man dürfte sie gar nicht zum ersten Mal hören; und in der -Tat ist das der Unterschied echter Zeitkunst von der Wirklichkeit: -die Wirklichkeit bietet uns nie die Totalität, immer nur den linearen -Verlauf in Hoffnung und Bangen; im Kunstwerk vermögen wir, immer noch -in Harren und Furcht, geheimnisreich das runde Wissen ums Ganze zu -haben und damit in aller Erdennot und Greuel himmlischen Trost. So -dürfen, so sollen wir Cleopatras Liebreiz, ihre samtene Zartheit, ihr -erhaben-liebliches Ende im Liebestod im Sinne haben, wenn wir dabei -sind, wie sie besinnungslos den Boten schlägt und an den Haaren zerrt, -der diese Nachricht bringt: Antonius wieder vermählt!</p> - -<p>Shakespeares gewaltige Kunst und Menschlichkeit, seine Menschen -in all ihrer Mischung zu zeigen, tritt nirgends imponierender und -rücksichtsloser, selbstgewisser heraus als in diesem Drama; das sind -Gestalten, die jeder abstrakten Formel, jeder Typisierung spotten; sie -sind nicht gut und nicht böse; und wollten wir diese Bezeichnungen auf -sie anwenden, so müßten wir sagen, sie seien abwechselnd beides und -manchmal sogar beides zugleich.</p> - -<p>Sein Antonius, wie er erst wieder römischen Boden unter den Füßen hat, -ist guten Willens, Cleopatra zu vergessen; aber immerzu unterhält sie -mit ihren Boten ihr frisches Gedächtnis, sie bringen ihm ihren Duft; -und sein Verhältnis zu Octavius bleibt nicht gut, trotz der Schwester, -die er<span class="pagenum"><a name="Seite_150" id="Seite_150">[S. 150]</a></span> geehelicht hat, und wird schlimmer; und wie er erst wieder -griechische Luft atmet, weiß er, glaubt er: sein Heil ist — politisch -und menschlich — im Osten.</p> - -<p>So flieht er zu Cleopatra und organisiert die Reiche des Ostens zum -Krieg. Die Kunde wird Cäsar Octavius sofort übermittelt, und der -Entscheidungskrieg ist da.</p> - -<p>Antonius, der Heraklide, ist, wo’s vor allem auf persönliche -Tapferkeit ankommt, im Landkrieg, der erste Held seiner Zeit und fast -unüberwindlich. Cleopatra aber mit ihrer schimmernden Flotte, mit ihrer -verwegenen, verführerisch hemmungslosen Lust zum Gefährlichen und -Verderblichen, lockt ihn auf ihr Element, das Wasser. Im Seekrieg aber -entscheidet nicht die körperliche Tapferkeit, sondern die berechnende -Klugheit und kühle Ruhe, deren Meister Octavius ist.</p> - -<p>So fängt’s bei Actium gleich unglücklich an und ist schnell zu Ende: -Cleopatra, die aus Laune in den Krieg gegangen ist, das ängstlichste -Menschenkind, flieht sofort, nachdem Octavius mit scharfem Ernst -losgelegt hat, und alle Ägypterschiffe hinter ihrem Admiralschiff her; -Antonius aber verliert den Kopf und folgt ihr mit seiner gesamten -Flotte.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Das größre Stück der Welt verloren!</div> - <div class="verse">... Länder und Reiche</div> - <div class="verse">Sind weggeküßt.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>„Wie ein brünstiger Enterich“ ist Antonius hinter ihr her gesegelt: -derlei Äußerungen fallen im Kreis der entsetzten, der wie mit kaltem -Wasser begossenen Generale; sie sehen: ein Dämon waltet über Antonius, -sein Schicksal erfüllt sich; einer nach dem andern rüsten sie sich, von -ihm abzufallen.</p> - -<p>In Alexandria im Palast erst findet er sich wieder und schäumt vor -Scham und Wut. Sie sieht und hört er erst gar nicht; dann fährt er -ganz unbeherrscht, tobend gegen sie los. Sie aber ist rührend in ihrer -weiblichen Schwachheit. In diesem Augenblick ganz ohne Sinn für Krieg -und Politik,<span class="pagenum"><a name="Seite_151" id="Seite_151">[S. 151]</a></span> nicht einmal bewußt weiblicher Politik folgend und gerade -dadurch ihn treffend, unköniglich, wie ein Zigeunermädchen beugt sie -sich tief:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">O mein Herr,</div> - <div class="verse">Mein Herr, vergib nur meinen zagen Segeln!</div> - <div class="verse">Ich dacht’ nicht, daß du folgtest.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Zart und geknickt kann sie nur immer um Verzeihung bitten, und wie die -Tränen kommen, ist er besiegt. Es ist zu Ende, er weiß es; aber wer -wird dran denken? Wein her, zum Mahl! zum Kuß! zur Liebe! zur Betäubung!</p> - -<p>Sie aber, der Lieben Leben und Leben Lieben ist, die feig wie eine -Sklavin an Dasein und Wohlsein, an Lust und Üppigkeit hängt, der -hintereinander die Beherrscher der Welt, Pompejus, Julius Cäsar, -Antonius Geliebte waren, kommt jetzt in die größte Versuchung ihres -Lebens.</p> - -<p>Schon liegt Octavius mit seinem Heer vor Alexandrien und sendet -Botschaft: Antonius soll ausgeliefert werden; dann soll Cleopatra Gnade -und Gunst finden.</p> - -<p>Seine Feldherrn haben Antonius fast alle verlassen; selbst der Treue, -der ihn trotz allem Zynismus seines Gehabens fast anbetet, Enobarbus -entschließt sich, von ihm zu gehen (um dann bald in Reue — eine -wundervolle Szene — sich selbst zu töten): wo die Römer von ihrem -Herrn und Meister abfallen, wo er verloren ist, was soll sie, die -Ägypterin, sie, die Zigeunerin, Tod und Untergang vor Augen, tun?</p> - -<p>Wir wissen nur, daß sie den Boten des Octavius huldreich empfängt — -ob sie weiter gegangen wäre? Wer weiß es? Der Dichter weiß nur, was er -wissen will; die Unbestimmtheit und Frage ist sein Kunstmittel so gut -wie die Sicherheit, je nach den Menschen und Lagen, die er behandelt; -hier verrät er uns wieder einmal nichts; soviel er tut, seiner -Cleopatra die schillernde Haut und das Innere zu beleuchten, sie ist -ein Rätsel, soll es sein, und hier läßt er sie unaufgelöst.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_152" id="Seite_152">[S. 152]</a></span></p> - -<p>Antonius fährt dazwischen. Schon kommt wieder in der gefährlich labilen -Seelenverfassung dieses Mannes an der Wende, der außen sich noch ans -Leben klammert, während innen in ihm fortwährend etwas weiß, daß alles -aus ist, schon kommt die grenzenlose Wut über ihn. Den Gesandten, der -Cleopatras Hand hat küssen dürfen, läßt er peitschen.</p> - -<p>Nicht etwa, daß keiner sie berühren dürfte; kaum ein paar Stunden -später, wo mit einem schönen Sieg Anmut und Würde wieder in ihm oben -sind, verschafft er selbst seinem tapfern Feldherrn Scarus, der noch -bei ihm ausharrt, diese höchste Gunst als Lohn: Cleopatra die Hand -küssen zu dürfen. Aber hier ist es anders; er kommt von Octavius, -der Hund! Und was brodelt da alles an Unausgesprochenem in dem -Todbedrohten, der beerbt werden soll! In Haß und Härte bricht er nun -gegen sie los. Kein Moderner hat unbarmherziger den Haß offenbart, in -den die Wollust umschlagen kann; mit der blitzschnellen Raffiniertheit -der Wut schreit er ihr das Schlimmste entgegen, was sich der Ärmsten -sagen läßt:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ihr wart halb welk, als ich Euch kennen lernte!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und weiter:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Als kaltgewordnen Bissen</div> - <div class="verse">Fand ich Euch auf des toten Cäsars Teller;</div> - <div class="verse">Ein Brocken ja von des Pompejus Tisch;</div> - <div class="verse">Dazu noch was an schwülen Stunden, nur</div> - <div class="verse">Vom Leumund unverzeichnet, Eure Wollust</div> - <div class="verse">Sich auflas; denn gewiß, könnt Ihr auch ahnen,</div> - <div class="verse">Was Keuschheit sollte sein, Ihr wißt nicht, was</div> - <div class="verse">Sie ist.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Kann wohl sein, daß sie, die von Moment zu Moment lebt, in jedem -Augenblicke aber ganz, daß sie erst jetzt, wo seine zürnende Liebe -so schamlos ausbricht und ihr solche Gewalt antut, daß sie, die -Gepeitschte und Übergossene, erst durch diese Gewalttätigkeit wieder -ins Gefühl ihrer unabänderlichen Schicksalsliebe zu ihm kommt. -Jedenfalls<span class="pagenum"><a name="Seite_153" id="Seite_153">[S. 153]</a></span> beschwört sie nun ihre Liebe zu ihm mit so leidenschaftlich -überzeugenden Worten, daß er wieder umschlägt: auf also in die -Liebesnacht vor der letzten Schlacht!</p> - -<p>Das ist die nämliche Nacht, in der die Soldaten, die auf Posten stehn, -eine seltsame unterirdische Musik vernehmen:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">’s ist Herkules, der Gott, den er geliebt,</div> - <div class="verse">Der jetzt Anton verläßt.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Ein Mann war er, die verkörperte Männlichkeit, und zu Manneswerk -bestimmt; und als Weiberknecht geht er zugrunde. Im unterirdischen -Trauermarsch verläßt ihn sein guter Geist, der Gott der Männlichkeit.</p> - -<p>Wohl stammt dieser Zug, den Shakespeare hier für die Untergangsstimmung -bringt, wie so manche Einzelzüge, von Plutarch: hier aber erst gewinnen -sie Leben und Sinn und werden mehr als Anekdotenkram, wo sie eingefügt -sind in dieses Gemälde der west-östlichen Leidenschaft im Rahmen großer -geschichtlicher Katastrophe.</p> - -<p>An dem Morgen also, der dieser Nacht folgt, darf Antonius, der kämpft -wie ein Löwe, noch einmal sich Sieger nennen; aber das Treffen ist von -keiner Entscheidung und kann nichts mehr abwenden. Sein Stern sinkt; -der Glaube an ihn verliert sich aus der Welt; am Tag darauf entspinnt -sich wieder eine Schlacht zur See, und seine ganze Flotte übergibt sich -dem Feind.</p> - -<p>Wer ist schuld? Auch hier will es der Dichter nicht wissen; es ist, wie -wenn ein Elementares sich dem Antonius entzöge. Wir wissen nur, daß -Antonius sofort wieder Cleopatra des Verrats bezichtigt.</p> - -<p>An Treue der Liebenden glaubt er nicht und kann nicht dran glauben; -so ist die Welt nicht mehr, so sind seine Erfahrungen nicht, und so -ist vor allem seine Natur und die Lebensart nicht, die er wählte. Zeit -seines Lebens war er, wenn es die Selbstbehauptung gegen die Welt -und die Verfolgung seiner Ziele galt, ein Komödiant; sein schnell -teilnehmendes Gefühl, seine menschliche Wärme, seine<span class="pagenum"><a name="Seite_154" id="Seite_154">[S. 154]</a></span> kindliche -Hingabe, die alle als echte Gabe natürlich in ihm lebten, hat er in den -Dienst politischer Zwecke gestellt; aus seiner Stärke wie aus seinen -Schwächen hat er Mittel gemacht; wie Enobarbus, der ihn am besten -kennt, einmal daran erinnert wird, wie Antonius bei Cäsars und auch -wieder bei Brutus’ Tod Tränen vergossen habe, da meint der trocken:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Jawohl, in jenem Jahr plagt’ ihn der Schnupfen;</div> - <div class="verse">Was willig er zerstören half, darüber</div> - <div class="verse">Vergoß er Tränen.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und vor allem, wie könnte er, der seinen Frauen hintereinander die -Treue gebrochen hat, an treue Liebe zu ihm glauben?</p> - -<p>An Treue zu glauben war er gewohnt; an seinen Kriegskameraden, an -seinen Soldaten hat er sie gekannt; an Freundschaft und bewundernde -Ergebenheit hat er geglaubt; aber selbst die verlassen ihn jetzt eben.</p> - -<p>An Liebe glaubt er und hat sie genossen, hat sich leidenschaftlich in -sie hineingewühlt und sich in sie begraben und um ihretwillen Welt -und Treue und Ehre vergessen und verraten. So ist ihm Cleopatra jetzt -wieder die Schlange, das falsche ägyptische Herz, das Zigeunerweib, — -jetzt hat sie ihm den Rest gegeben, hat ihn dem „jungen Römerknaben“ -verkauft, die Hexe!</p> - -<p>Vor seiner Wut flüchtet sie in ihr Grabmonument wie in eine Festung und -läßt ihm, in Angst und damit seine Stimmung umschlage — sie kennt ihn -wie sich selbst —, sagen, sie sei gestorben.</p> - -<p>Das aber ist sein Ende. Seine politische Rolle ist ausgespielt; es ist -nichts mehr zu hoffen, der kühle Knabe hat gesiegt. Und nun ist ihm, -wähnt er, Cleopatra im Tod vorangegangen, ist um seinetwillen, ist um -ihn gestorben! Er hat genug; die römische Tradition lebt noch in ihm: -ein Freigelassener soll ihm zum Sterben verhelfen. Er selbst glaubt’s -nicht zu vermögen. Der aber — Eros heißt er<span class="pagenum"><a name="Seite_155" id="Seite_155">[S. 155]</a></span> schon bei Plutarch — -treu bis zum Tod, stürzt sich lieber selber ins Schwert.</p> - -<p>Da nimmt sich Anton ein Beispiel; aber er ist doch kein ganzer Römer -mehr, es gelingt ihm nur, sich schwer zu verwunden; und da erfährt -er, daß es eine falsche Botschaft gewesen, was ihn in die letzte -Verzweiflung brachte; daß Cleopatra noch lebt! So läßt er sich zu ihr -tragen.</p> - -<p>Sie aber inzwischen: in welcher Not der Reue und Angst ist sie! Oh, was -hat sie getan! Schon ehe er gebracht wird, weiß sie: diesmal hat sie in -ihrer Angst die Saite zu stark gespannt. Er hält sie für tot! für so, -um seinet-, um seines Zorns willen den Liebestod gestorben; das wird -er, sowieso schon zum Äußersten gebracht, nicht überleben!</p> - -<p>Rührend ist ihr Abschied; er stirbt im Kuß, wahrlich, kein Romeo! aber -ein Mensch, ein Mann, ein Liebender trotz allem, ein Einziger — Marcus -Antonius!</p> - -<p>Sie aber fühlt sich neben diesem Leichnam, wie sie aus der Ohnmacht -erwacht, die sie sofort umfangen hat, wie Asche: es rieselt wie Alter -an ihr herab; der Königintraum, der Kaisertraum ist ausgeträumt; sie -ist nichts Besseres als ein armes, schwaches Weib, eine Magd, die -zurückgelassen ist: ihr Herr ist tot. Das Öl ist ausgebrannt.</p> - -<p>Eine bessere Erkenntnis, als sie je gehabt, steigt jetzt in ihr auf, -eine ganz nächtige, die Erkenntnis all derer, die der Macht und dem -Genuß nachgetrachtet haben, deren innere Unbefriedigung, Ungenügsamkeit -und Sucht an der Welt und an sich selber gefrevelt hat, die Erkenntnis, -zu der auch jener so ganz andere, darin aber zum Kreis der Holden -gehörige, der unholde Mann Macbeth gekommen ist: der Nihilismus; das -Leben, <em class="gesperrt">das</em> Leben ist — nichts.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Aus meinem öden Leid beginnt zu sprießen</div> - <div class="verse">Ein beßres Leben. Cäsar sein, wie nichtig!</div> - <div class="verse">Fortuna ist er nicht, nur Sklav’ Fortunens,</div> - <div class="verse">Ein Diener ihres Willens; aber groß ist’s,</div> - <div class="verse"><em class="gesperrt">Die</em> Tat zu tun, die alles Tun beschließt,</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_156" id="Seite_156">[S. 156]</a></span> - <div class="verse">Den Zufall bändigt und den Wechsel sperrt,</div> - <div class="verse">Sich schlafen legt und nie den Kot mehr kostet,</div> - <div class="verse">Der Bettler nährt und Cäsar.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und doch — wahrlich, sie ist keine Julia! und auch nicht Portia, die -Römerin — die Wetterwendische, das Kind des Augenblicks, das von ihrem -Zentralen her schillernde Oberfläche ist, wie der Opal, dessen äußerer -Schlangenhautglanz seine Tiefe ist, — wer weiß, ob sie nicht doch -noch weiterleben könnte? Aber sie vernimmt, daß der kalte Octavius — -der erste Imperator und Cäsar, über den sie keine Macht hat — nichts -andres sinnt, als sie gefangen im Triumph nach Rom zu führen — und oh, -das wäre das Schrecklichste für sie!</p> - -<p>Die alberne, eiskalte Octavia, die angetraute Gattin ihres geliebten -Toten, ihres Gemahls, soll höhnend auf sie blicken? Der jauchzende -Pöbel in Rom soll ihr entgegenschreien? Auf der Vorstadtbühne soll -irgend ein junger Schauspielerlaffe sie als Hure vom Nil darstellen? -Nein. Nun ist’s aus; sie ist entschlossen. Unzählige Male hat sie -ihrer Lebtag mit dem freigewählten Tod gespielt; das hat zu ihrem -hingegebenen, krampfhaften Leben gehört. Jetzt wird’s Ernst. Längst -kennt sie die sanfteste Todesart: in ihr schönstes Kleid läßt sie -sich schmücken; sie gedenkt des Tages, wo sie Marc Anton auf dem Fluß -strahlend als junge Liebesgöttin entgegenfuhr, — und dann, nun, wo -sie tapfer frei in den Tod geht, ist sie nicht mehr die feige Sklavin, -die in scheu geduckter Liebe zu ihrem Herrn, dem Gatten einer andern, -emporsieht —</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Ich komm’, <em class="gesperrt">Gemahl</em>:</div> - <div class="verse">Jetzt gibt mein Mut mir Recht zu diesem Namen!</div> - <div class="verse">Ich bin ganz Feuer und Luft; was sonst in mir,</div> - <div class="verse">Geb’ ich dem niedern Leben.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>„Was sonst in mir“, im Original aber: <em>my other elements</em>: das -Element des Wassers, dem die tränenreiche Nixe vom Nil angehört hatte, -das Element des Erdenkots, dem sie<span class="pagenum"><a name="Seite_157" id="Seite_157">[S. 157]</a></span> bis dahin nie hatte entrinnen -können, die sollen nun mit ihrem Leichnam, der zurückbleibt, zu den -Stoffen gehn, deren Teil sie von je gewesen waren; Cleopatra steigt in -ihrem edlen leichten Teil, als Feuer und Luft, in ihre Ewigkeit.</p> - -<p>Noch einmal haben wir hier der Sonettendichtung zu gedenken, wo der -Dichter klagt, daß wir Menschenkinder nicht ganz und gar Geist sind, -daß wir in die „dumpfe Substanz des Fleisches“ gestopft sind. Da wird -auch von dem bittern Naß des Wassers und von der Erde gesprochen, von -diesem Elementaren, das uns an die Natur klebt; unser Leib und unsre -Tränen, das sind Erde und Wasser in uns. Die beiden andern Elemente -aber, die Luft ist Geist in uns, und das Feuer ist <em>desire</em>, ist der -Wille des Excelsior und himmlische Sehnsucht.</p> - -<p>So darf Shakespeares Cleopatra sich zu ihrer Apotheose rüsten. Von -einer Schlange, die ein Bäuerlein bringt, läßt sie sich töten.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Stille, still!</div> - <div class="verse">Siehst du mein Kindlein nicht an meiner Brust</div> - <div class="verse">In Schlaf die Amme saugen?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Sanft und süß, unmerklich sacht holt die Schlange der Schlange -das Leben aus der Brust und träufelt den Tod hinein; im reinsten -aller Geschlechtsgefühle des Weibes, in unwirklich-phantastischer -Mütterlichkeit verscheidet die liebliche Buhlerin.</p> - -<p>Aber noch im Sterben bäumt sich die alte Isis in ihr auf, die alte Eva: -sie freut sich noch, durch ihren Tod den klugen dummen Cäsar, der sie -hatte fangen wollen, um seine Beute zu prellen!</p> - -<p>Treue findet auch sie bis in den Tod: ihre Frauen, die ihr Leben -geteilt haben und ihr ganz ähnlich geworden sind, sterben mit ihr: -die eine setzt sich die Schlange an wie die Herrin; die andre war ihr -einen Augenblick im Tod vorangegangen. Enobarbus’ scherzhaftes Wort vom -schnellen Tod dieser Kammerfrauen ist Ernst geworden: ohne daß man<span class="pagenum"><a name="Seite_158" id="Seite_158">[S. 158]</a></span> -eine Ursache erkannte, fiel sie tot hin, als Cleopatra, die Schlange -schon am Busen, sie zum Abschied küßte, auch sie ein Weib, für das Tod -und Liebesakt in seltsamem Rapport stehen.</p> - -<p>So endet dieses Drama, eine Liebestragödie wie Romeo und Julia, -eine Römertragödie wie Julius Cäsar, ein Pamphlet auch gegen die -Geschlechtsliebe wie Troilus und Cressida. Dies alles ist es und ist -es nicht; daß es aber — und ähnliches war für das sehr ernste Spiel -von den Helden des Trojanischen Kriegs zu sagen — nicht eine Komödie, -wozu sein scharfes Auge den Dichter bei diesem Stoff so leicht hätte -verführen können, sondern trotz allem eine innig liebevolle Tragödie -wurde, das ist das beste. Es ist die besondere Tragödie dieses -besonderen reifen, überreifen, zeitlebens unreifen, zwischen Jugend und -Alter stehenden Menschenpaares Antonius und Cleopatra in dem großen -geschichtlichen Moment, wo die Antike reif, überreif, unreif zwischen -Jugend und Alter, vor dem Ende steht.</p> - -<p>Liebe und Politik gehören in diesem Drama so zusammen, wie in der -wahren Geschichte der Völker privates und öffentliches Leben nicht zu -trennen sind. Die prachtvollen politischen Szenen des Stückes stehen -darum mit seinem Sinn in so naher Berührung wie die Liebesszenen: das -Staatsgespräch, wie Antonius und Octavius sich zuerst wieder begegnen, -das in seiner kühlen Überlegtheit seinesgleichen nur in den politischen -Szenen des Egmont hat; die Bankettszene auf dem Schiff des Pompejus, wo -mitten in römisch-traditionelle, aber nicht mehr durchweg festgehaltene -Würde süditalienische Seeräubertücke und griechisch-orientalischer -Tanztaumel kommt, wo Antonius und Octavius einander scharf -gegenüberstehen, der eine mit seinem lässig-nachgebenden Trinkspruch</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Schickt euch in die Zeit!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>der andre mit dem kühl gebietenden</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sei Herr der Zeit!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_159" id="Seite_159">[S. 159]</a></span></p> - -<p>Da haben wir ein Drama, das fast unergründlich in die Tiefe der Seelen, -fast unermeßlich und farbenschimmernd in die Breite des geschichtlichen -Raums, in die Weite der Zeiten geht; ein Drama nur für reife Menschen -— das gilt für den ganzen Shakespeare, aber für dies Stück besonders -—, das man lieber gewinnt und mehr bestaunt, je öfter man es liest, -das aber noch niemand in seiner umwerfenden und aufrichtenden, -schüttelnden und streckenden Größe ganz kennt, weil es die Gestalt, -nach der es verlangt, die Gestalt auf der Bühne noch nicht gefunden hat.</p> - -<p>Diese Tragödie braucht für wichtige Szenen nach Shakespeares Anordnung, -ich meine, auch zur Einleitung und mancher Überleitung, Musik feiner -und starker Art, wie sie der Egmont gefunden hat, und braucht eine -Stimmung und ein Tempo, eine Zugleichheit von schneller Folge, saftiger -Breite und streng seelenvoller Tiefe, wie wenn ein Rubens und Rembrandt -als einziger Meister ans Werk ginge.</p> - -<hr class="chap" /> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_160" id="Seite_160">[S. 160]</a></span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Timon">Timon</h2> - -</div> - -<p class="initial">Der Punkt ist erreicht, wo es kaum mehr möglich ist, von Shakespeares -Schaffen zu reden, ohne auf sein Leben zurückzugreifen. Nicht zwar -auf das Leben, von dem uns Gewährsmänner oder Dokumente berichten; -kurz gesagt, auf den Menschen vielmehr, wie ich genötigt bin, ihn mir -vorzustellen. Denen, die meiner Auffassung widerstreben, räume ich gern -das Recht ein, mir einzuwenden, ich stütze eine Hypothese mit einer -Hypothese. Ich, indem ich zugebe, daß hier die Phantasie am Werke ist, -ohne die ich nicht auskomme, drücke es lieber so aus, daß ich sage: -den Menschen Shakespeare und das Werk seiner letzten Zeit sehe ich -in einem Zusammenhang, in dem allein ich dieses Werk verstehen kann -und gegen den mir weder psychologische Erwägungen noch tatsächliche -Überlieferungen sprechen, von welch letztern im Gegenteil einige meine -Deutung unterstützen.</p> - -<p>Ich brauche einen Rückblick. Das scheint das Besondere der ganz -großen Dramen Shakespeares zu sein: Menschen und Handlung werden so -mit einander zur Entwicklung gebracht, daß die Menschen von innen her -sichtbar werden, daß sie einander gegenseitig erhellen, wobei zu ihrer -äußern Gegensätzlichkeit und Hilfeleistung noch innerer Kontrast und -Verwandtschaft treten, und daß sich uns so das innerste Leben, die -tiefste Wahrheit, das verborgenste Geheimnis dieser Naturen offenbart.</p> - -<p>Ob diese Dramen mit ihren äußeren Geschehnissen im Altertum, in -sagenhafter Zeit, in geschichtlich christlichen Jahrhunderten spielen, -wird für diesen ihren seelischen Gehalt von minderer Bedeutung; die -Gestalten scheinen den Bann von Zeiten und Räumen, die strengen -Grenzen des Vorgangs, in den sie eingesperrt sind, zu sprengen und -untereinander einen Zyklus, einen Reigen und Verein ohnegleichen zu -bilden; nicht nur Shylock und Porzia,<span class="pagenum"><a name="Seite_161" id="Seite_161">[S. 161]</a></span> Prinz Heinz und Percy, auch -Richard III. und Jago, der Bastard Faulconbridge und der -Bastard Edmund, Julia und Desdemona, Brutus und Hektor, Hamlet und -Falstaff stehen in geheimem Gespräch, in Dialektik zu einander. Es -geht um Menschen und ihre Schicksale; es geht um den Menschen in -gröbsten Gegensätzen und feinsten Tönungen; es geht um Kraft, die als -Hoheit und als Gemeinheit erscheint; um große Leidenschaft, Wildheit, -Tapferkeit, Kühnheit; um Bekenntnis zu sich und um Hader mit sich; um -geniales oder dämonisches Denken und Wollen; um holde Innigkeit, um -heroische Hingabe an Freiheit oder Gerechtigkeit oder Liebe; und um -wie viele Erscheinungsformen für diese Allgemeinheiten! um wie viel -Zwischenstufen und Entgegensetzungen!</p> - -<p>Es sind keine Charaktermasken, keine Typen; besondere Vertreter -eines Typus, eines Schicksals sind sie; es ist Unnennbarkeit, ist -Abgrund, ist Unendlichkeit in ihnen wie im Leben; Shakespeares -Kraft des Gestaltens ist seiner Kraft des Schauens nichts schuldig -geblieben; dem Bild gegenüber, das aus ihren Reden und Handlungen in -uns entsteht, haben diese Reden selbst, die der Dichter geformt, und -diese Handlungen, die der Dramatiker ins Werk gesetzt hat, fast nur -die Bedeutung technischer Behelfe, die uns zum Ungesprochenen und -Unsichtbaren leiten.</p> - -<p>Wie also steht es mit dem, was wir den Charakter dieser Gestalten -nennen? Ist es so, daß sie in ihrem Wesen unverändert die bleiben, die -sie sind, oder wachsen sie, verändern sie sich mit ihrem Schicksal? -Beides; sie stehen unentrinnbar, wie im Ewigen, in ihrem Wesen; dieses -ihr Sein aber offenbart sich uns in Bewegung; im Werden, im Wachstum, -in der Entfaltung. Was wir an ihnen Charakter, Natur, Wesen nennen, -kommt aus den tiefsten Gründen ihrer innern Notwendigkeit, ihrer -Möglichkeit, ihrer Anlage herauf, so aber, wie es gerufen wird von<span class="pagenum"><a name="Seite_162" id="Seite_162">[S. 162]</a></span> -ihren Begegnungen mit dem Schicksal. Was da also in die Erscheinung -tritt, ist nicht das Wesen im Abgrund, nicht die unsägliche, nur im -Unendlichen, im Grenzenlosen völlig für die Erscheinung ausgeschöpfte -Ewigkeitstotalität, wie sie der Dichter in der ungeformten Konzeption, -in Stille oder Aufruhr, im Moment oder im zuckenden Ringen geschaut -hat; es sind die Teile, die Strahlungen des Wesens, die von außen, von -Erlebnissen gerufen, der Umgebung und dem Träger dieses Wesens selbst -abgerissen bekannt werden.</p> - -<p>So ein Mensch ist immer er selbst, und ist eben um dieses Selbst -willen, eben darum, weil so ein Selbst für die Erfahrung der andern -wie für das eigene Bewußtsein seines Trägers unergründlich bleibt, -nicht immer derselbe. Lear, als er herrisch und launisch zum ersten Mal -vor uns trat, war er selbst, so wie er sich auf Grund der Bedingungen -seines bisherigen Lebens den andern und sich geben konnte; und am Ende -ist er dieser nämliche Mensch, wie er sich in furchtbaren Erlebnissen, -die wir mitgelitten haben, tiefer heraufgeholt, reiner offenbart hat: -nicht bloß für uns Zuschauer, auch für seine Nächsten und vor allem -für sich selber hat er sich durch seine ungemeinen Schicksale noch in -seinen hohen Jahren entwickelt; Dinge sind durch diese gewaltsamen -Erschütterungen und Eingriffe herausgekommen, von denen niemand geahnt -hatte, daß sie in ihm sind. Es ist also wahr und Shakespeare bestätigt -es, daß man einen Charakter nicht lernen und erwerben, daß man seine -Natur nicht verändern kann; es ist aber ebenso wahr und ebenso von -Shakespeare gezeigt, daß der Quell, der als unser Leben zu Tage tritt, -im Unterirdischen unerschöpflich ist und daß dieses Leben seine Grenze -nur findet in Zahl und Art der Schicksale, die uns begegnen, und in der -Zahl unserer Jahre.</p> - -<p>Was also aus Lear, aus Herrn Angelo und so manchem andern, was -pathologisch aus Ophelia im Schluß hervorbricht, das war alles von -Anfang an da, aber verborgen,<span class="pagenum"><a name="Seite_163" id="Seite_163">[S. 163]</a></span> latent, potentiell, als Möglichkeit, -als Bereitschaft, als Spannung, und war der Erfahrung der andern wie -dem eignen Selbstbewußtsein unzugänglich, bis es allmählich oder -überraschend gerufen wurde.</p> - -<p>So ist der Mensch, wie ihn Shakespeare in diesen Meisterwerken -darstellt, nie eine starre Charaktermaske, aber immer fest von den -Schranken seiner besonderen Bedingungen umgrenzt; seine Beharrung wie -seine Wandlungen sind glaubhaft; immer haben wir in diesen Stücken das -Gefühl der Sicherheit von dem Eindruck her, daß Charakter und Schicksal -einander gegenseitig bedingen, daß der Mensch nicht um der dramatischen -Zwecke des Dichters willen plötzlich aus seinem Wesen gerückt wird.</p> - -<p>Diese Enthüllung und Offenbarung des Innern für uns Zuschauer, -diese Entwicklung und Herausgestaltung für die Personen selbst und -ihre Umgebung ist uns an Shakespeares großen Dramen dieser Art der -wesentliche Zug. Daß diese Dichtungen Dramen, Fortgang, Handlung, -Gegenspiel, gegenseitige Bedingnis sind, liegt tief schon in dem -Widerstreit begründet, in dem Schicksal und Charakter einander vorwärts -bringen und die Wage halten: die Handlung ergibt sich aus den Naturen -und aus ihrem Gegensatz nicht nur zu einander, sondern auch zu den -Aufgaben, vor die jede einzelne von jedem Stadium ihres Geschicks sich -gestellt sieht; und die Naturen werden von den Vorgängen zu ihren -Äußerungen und Wandlungen gereizt. Dieses Wachstum, diese Variabilität -der Naturen im Zusammenhang mit der äußern Handlung ist es, was -Shakespeares Drama nebst dem, daß es uns ein wundervolles Abenteuer -zeigt, daß es ein entzückendes oder ergreifendes Spiel ist, zu noch -mehr macht: zu einer Sichtbarmachung des innersten, des wahrsten Lebens -bis in den Schlund hinein, wo im Ungrund das Nichtmehrsichtbare wogt. -Wie Stifters Jüngling nach der Aufführung des König Lear empfindet:</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_164" id="Seite_164">[S. 164]</a></span></p> - -<div class="blockquot"> - -<p>Das hatte ich nicht geahnt, von einem Schauspiel war schon längst -keine Rede mehr, das war die wirklichste Wirklichkeit vor mir,</p></div> - -<p>so ist das, was diese Erschütterung erzeugte, ein wesentliches Element -in all diesen großen Menschenenthüllungen Shakespeares. In der äußern -Wirklichkeit mancher dieser Dramen ist manches uns fremd geworden, -fast so fremd manchmal wie in den Tragödien und Komödien der Antike; -aber die Offenbarung des inneren Menschentums bleibt ein immer frisch -ergreifendes, durchschüttelndes, reinigendes und vorwärts, aufwärts -drängendes Wunder der Lebendigkeit und trotzt der Zeit. <em>Tua res -agitur</em>, deine Sache wird da verhandelt, das ist die Grund- und -Zielempfindung, von der aus diese Dichtungen zu unserm Denken und -Wollen gehn und imstande sind, unser Leben zu wandeln.</p> - -<p>Dieses aber nun, was Shakespeares Neues, Gewaltiges, Eigenes, Größtes -war, womit er nicht nur die Genialischen unter seinen Zeitgenossen, -sondern alles dramatische Genie, das vor ihm und nach ihm war, -übertraf, diese Verbindung von Charakter und Schicksal, von Gestalt -und Handlung, diese Offenbarung des geheimsten Lebens, diese Beziehung -zur Wirklichkeit des Menschenlebens, der Natur, der Weltordnung, all -das, was ihn zu mehr macht als einem bloßen Dichter, was ihn zur -Philosophie, zur Religion, zur Kritik und Umgestaltung, zu Erneuerung -und Wiedergeburt in Beziehung setzt, — dieses sein Größtes ist -offenbar auch sein Schwerstes gewesen.</p> - -<p>Die Produktivität geht immer irgendwie über die Kraft; sie ist immer -mit Angst, mit Abwehr, mit der Unlust, die auch mit der Wollust gepaart -ist, mit Müssen und Sträuben verbunden; je größer der Genius, um so -mehr fürchtet sein Leibliches, der Komplex seiner normalen Funktionen, -von dieser dämonischen Übergewalt zerbrochen zu werden. Kein Genie, -das über die Jugendjahre hinaus in die Meisterschaft gerät, das sich -nicht, damit der Normale in ihm das<span class="pagenum"><a name="Seite_165" id="Seite_165">[S. 165]</a></span> Zusammenhausen mit dem Abnormen -erträgt, irgend eine besondere Lebensdiät zulegen müßte; was gibt es -da für mannigfache Stufen! Man sollte einmal den Versuch machen, die -Geschichte der Kunst nicht in zeitliche Perioden, sondern nach dieser -Modalität, nach diesem Lebensstil einzuteilen. Welch ein Unterschied -zum Beispiel zwischen einem Rückert, der Anlage nach einem der größten -Geister, der seinen Geist nur so ertrug, daß er das Genie zum Talent -hinabebnete und das Leben der Produktion in den stillen Bahnen des -privaten Lebens weise verlaufen ließ, und einem Beethoven, der das -Privatleben aller Würde entsinken ließ, nur um dem Schaffen keine -Fesseln anzulegen. Nur von hier aus wird das Rätsel der Deutschen, -Goethe, der Mensch nicht nur und der Geheimerat, sondern der Dichter -einmal seine Lösung finden: seine Schöpfungen und das Verhältnis -seiner Mannes- und Altersproduktion zu den Jugendverheißungen versteht -man, wenn man das Kompromiß versteht, das der Genius und der Normale -in Krisen und in dem unaufhörlichen Ausgleich, der Leben heißt, mit -einander schließen müssen, um es mit einander auszuhalten. Zweie sind -in dem produktiven Menschen stets beisammen, die sich einander bequemen -müssen; es ist ein immerwährendes Ringen, Ausweichen, Pausieren; und -nicht geringeren Grades ist diese Dualität, als wir sie in dem Bilde -des Langschläfers und Morgenfaulen haben, der nie aufstehen würde, wenn -der andre, der mit ihm unter einer Decke und einer Haut liegt, ihm -nicht jeden Morgen die Bettdecke wegzöge.</p> - -<p>Jedes Genie nun, wir können es uns nicht dringend genug vorstellen, -ist ein Kind seiner Zeit; alles Schöpferische geht in dieser Welt aus -dem Geschaffenen hervor. Immer wieder muß sich der Produktive dem -Üblichen, dem er entstammt, das auch von ihm erwartet und verlangt -wird, entringen; er will immer wieder zurücksinken, wie Goethe in den -Großkophta, den Bürgergeneral, die Singspiele<span class="pagenum"><a name="Seite_166" id="Seite_166">[S. 166]</a></span> und so vieles der Art -sank; er steht in einem Kampf, der oft entsetzlich, dämonisch, der -manchmal ermattend und manchmal beflügelnd ist.</p> - -<p>Jeder Besondere kennt den Wunsch und die Notwendigkeit, zwischenhinein -gewöhnlich zu sein, gleichviel, wie viele seiner Gaben er in -die Gewöhnlichkeit mitnimmt; und so verstehe ich es als völlige -Notwendigkeit, daß auch Shakespeare hie und da und in besonderen Krisen -der Umgebung und sich selbst hat nachgeben müssen.</p> - -<p>Wir haben sein Neues, Besonderes, Großes gesehen; auch läßt sich -zeigen, wie es aus der Art und Mode seiner Zeit und gegen sie entstand. -Die Art der Zeit war Leidenschaftlichkeit, Üppigkeit, Bilder- und -Witzesfülle der Rede und Charakteristik großen Zuges im Sinne einer -rationalen, allgemeine Typen setzenden Psychologie; prachtvolle Muster -dieser Dichtung seiner Zeit sind die beiden glänzenden Gedichte seiner -Jugend, Venus und Adonis und Der Raub der Lucrezia, um derentwillen -er sofort ein gefeierter Dichter wurde. Glänzendes Talent, in der Art -der größten Dramatiker seiner Zeit zu dichten, zeigt sich im Titus -Andronikus; und wie wundersam und abgestuft die Sprach- und Metapher- -und Witzkunst, die Sprache der Empfindung und des Geistes in der -Verlornen Liebesmüh! Wie er dann aber mit seinem Eigenen, Wesentlichen -einsetzt, in der Gestalt des Proteus in den Zwei Edelleuten von Verona, -da ist er ein Anfänger, der den Übergang von der starren Charaktermaske -zur Beweglichkeit des lebendigen Menschen noch nicht zu finden weiß und -aus dem Ernst ins Spiel zurückbiegt, um nur einen Abschluß anzuflicken.</p> - -<p>Zu solchen Vor- und Entwicklungsstufen ist Shakespeare aber während -seiner ganzen Produktion hie und da zurückgekehrt, wenn ihn Bedürfnis -oder Lust überkam, sich’s zwischenhinein leichter zu machen. Da hat -er derbe, rasch gezimmerte Possen geliefert wie Der Widerspenstigen -Zähmung und dergleichen; oder leichte Spiele; in einer<span class="pagenum"><a name="Seite_167" id="Seite_167">[S. 167]</a></span> ernsteren -Komposition hat er wohl die Charaktere entweder nicht zur Entwicklung -gebracht oder hat sie umgekehrt plötzlich, gegen alle Glaubhaftigkeit, -umfallen lassen; oder er hat nicht seine letzte Kraft aufgeboten und -hat Großes in der skizzenhaften Anlage stehen lassen. Ganz besonders -lag ihm schon immer nahe, sein Größtes und Schwerstes, das, womit -er maßlos fremd in seiner Zeit stand, die Entwicklung menschlicher -Seelen, wie er sie in immer tieferen Abgrund hinein verfolgte, fallen -zu lassen und dafür zweierlei zu bringen: einmal in dramatisierten -Novellen, Romanen, Märchen das buntbewegte romantische Abenteuer, nach -dem die Zeit in allen Völkern und in allen Schichten der Bevölkerung -viel hungriger begierig war als nach der Offenbarung des menschlichen -Innern; und dann die leidenschaftliche, grimmige, weise, satirische -oder polemische Rede. Sonst, wenn er in seiner ganzen Gewalt stand -und das Äußerste von seiner Produktion verlangte, ließ er diese Rede -sublim aus dem tief Menschlichen heraufquellen; war er aber genötigt -oder gewillt, es sich leichter zu machen, so gelang es einem solchen -Virtuosen auch, sie unmittelbar, unterhaltend und geißelnd, zum -Mitgefühl wie zum Nachdenken stimmend, aus den äußern Vorgängen allein -abzuleiten.</p> - -<p>In seiner letzten Arbeitszeit nun tritt sein Eigenstes, die Verbindung -von Handlung und Seelenenthüllung, ganz besonders zurück; keineswegs -verschwindet es ganz und gar; aber irgendwie — so deute ich dieses -sehr Schwere und will jetzt nicht mehr davon sagen; wie ich es -möglicherweise meine, werde ich erst in den letzten dieser Vorträge -anzudeuten wagen — irgendwie setzt die höchste und gefährlichste, die -verzehrendste Kraft seiner Produktivität aus. Denken wir einstweilen -nur an das, was hier von dem Dualismus und der Diät und den Krisen der -produktiven Menschen gesagt worden ist; denken wir daran, wie Goethe -eine gewisse zauberhafte, kraftvolle, über Schönheit,<span class="pagenum"><a name="Seite_168" id="Seite_168">[S. 168]</a></span> Weisheit und -Literatur hinausbrechende zeugungsmächtige Energie der Gestaltung, -wie sie seine Jugendproduktion hatte, früh verloren und nie wieder -erhalten, wie er dafür freilich anderes bekommen und erarbeitet hat, -so werden wir uns nicht wundern, daß Shakespeare zum Ende hin, wiewohl -er an Jahren nicht alt wurde, seine Stimmung und Weisheit, das Höchste -seines Ergebnisses im Drama bringen und leuchten lassen wollte, ohne -es erst so tief in Menschenseelen hineinzustecken, daß es den langen -schweren Weg der Charaktertragödie gehn mußte, um in Fülle des Lebens -wieder herauszubrechen.</p> - -<p>Von den Stücken, die wir noch vor uns haben, unternimmt Shakespeare nur -noch in einem die Fahrt in den tiefen Schacht der Seelen hinein: in -Coriolan; in den andern geht er in dem besondern Stil seiner letzten -Periode, nicht zwar auf einem, sondern auf verschiedenen Pfaden, -immer den Weg der Verbindung von romantischem Spiel und Weisheit, den -er vollendet erstmals im Sommernachtstraum gegangen war. In dieser -letzten Periode aber ist er auf der Suche nach einem neuen Stil; und -über Zymbelin und Wintermärchen hinweg kommt er zu einer wunderschönen -einsamen Höhe im Sturm.</p> - -<p>Ehe er indessen so weit war, in dieser Gattung, die die drei Elemente -seines Dramas: Handlung, Seelenenthüllung und Sprache, in neuem -Mischungsverhältnis brachte, ganz oben zu sein, erlaubte er sich, -tastend oder schnell hinwerfend, zwei leichter gezimmerte Stücke, die -sich sehr merkwürdig von all seinen andern unterscheiden: Perikles, -Fürst von Tyrus und Timon von Athen. Auf ein drittes Gebilde ebenso -und, meine ich, im selben Zusammenhang problematischer Art, König -Heinrich VIII., sei hier nur hingewiesen.</p> - -<p>Perikles soll uns dazu dienen, das Rätsel Timon, soweit es möglich ist, -zu erhellen; die Bedenklichkeit, ich muß beinahe selbst sagen, die -Komik meines Versuchs liegt nur<span class="pagenum"><a name="Seite_169" id="Seite_169">[S. 169]</a></span> darin, daß die Entstehungsgeschichte -des Perikles auch nicht gerade feststeht. Ziemlich einhellig zwar -sind die Gelehrten jetzt darin, daß sie Shakespeare die Autorschaft -nicht abstreiten; und auch darüber ist man im großen Ganzen einig, daß -das Stück nicht seiner Frühzeit, sondern dieser recht späten Periode -zugerechnet wird. Ich wüßte auch gar nicht, mit welchem Recht man es -der Jugenddichtung zurechnen könnte; es sei denn, daß der Grundsatz -gelte, was einem nicht behagt, sei entweder nicht von Shakespeare oder -stamme aus seiner Jugend.</p> - -<p>Perikles, Fürst von Tyrus ist 1609 in einer Quartausgabe erschienen: -„Das jüngste, viel bewunderte Schauspiel von William Shakespeare“. Ein -Zeichen, daß das Stück beim Publikum großen Erfolg hatte, ist denn -auch, daß rasch hintereinander vier solche Quartausgaben erschienen. -Die große Nachlaßausgabe, die erste Folio aber brachte das Stück nicht; -die zweite von 1632 auch nicht, aber die war auch nur ein Nachdruck -der ersten; die dritte von 1664 nahm das Stück auf, zugleich mit einer -Reihe anderer Stücke, die noch strittig sind, zu einem gewichtigen -Teil aber auch heute mit gutem Grund Shakespeare zugeschrieben -werden. An äußeren Zeugnissen kommen also nur in Betracht erstens -die Quartausgaben, die für Shakespeares Verfasserschaft sprechen; -das ist aber kein ganz durchschlagender Beweis; die Titel dieser -Quartos vermeldeten auch manchmal Irrtümer oder Lügen; und zweitens -die Weglassung des Stückes in der von Shakespeares Freunden besorgten -ersten Folio. Daraus vermag ich aber auch nichts Sicheres gegen -Shakespeares Autorschaft zu holen, so ernst es auch zu nehmen ist; -diese negative Tatsache ist keine Antwort, sondern eine Frage. Haben -die Herausgeber ihre oft bewährte Liederlichkeit und Willkür walten -lassen? Wußten sie aus persönlichen Äußerungen, daß Shakespeare das -Stück verwarf, nicht, weil er es nicht verfaßt hatte, sondern weil er -sich seiner schämte?</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_170" id="Seite_170">[S. 170]</a></span></p> - -<p>Durchschlagende Zeugnisse sind also keine da; weder für noch gegen -Shakespeares Autorschaft. Ich entschließe mich — mit den meisten -Forschern — Shakespeare für den Verfasser zu erklären, weil alles -Sprachliche, wozu ich auch die Gedanken, die Satire, die Polemik, -die Weisheit und die lyrische Betrachtung der Ereignisse rechne, -völlig reifer Shakespeare ist; wir kennen niemanden sonst, der in -Situationen der Höhe und der Gemeinheit seine Menschen so sprechen -ließ. Kunsthistoriker helfen sich in solchen Fällen, wo ein Werk alle -Kennzeichen des Pinsels eines Meisters trägt, ihnen aber seiner doch -nicht ganz würdig scheint, damit, daß sie es seiner Schule zuschreiben. -So ähnlich hat man auch für dieses Stück den Versuch gemacht, von einer -bloßen Bearbeitung oder Mitarbeit Shakespeares zu reden. Dazu nun sehe -ich gar keine Möglichkeit. Das Stück ist ganz einheitlich und aus -einem Guß; es gehört nur eben einer völlig andern Gattung zu, als wir -sie sonst von Shakespeare kennen. Das gilt auch für Goethe und seinen -Großkophta zum Beispiel; Schlüsse, das Stück sei nicht von ihm, oder es -stamme aus seiner Jugend, oder ein andrer habe es verfaßt und Goethe -habe es nur überarbeitet, wären, wir wissen es zufällig, allzumal -falsch. Daß Shakespeare hier, wie es öfter anzunehmen ist, ein eigenes -Jugendwerk oder einen aus der Frühzeit stammenden Entwurf bearbeitet -hat, ist wohl möglich; eine Bemerkung in einem Prolog Drydens, dem noch -persönliche Erinnerungen, die auf Shakespeares Freunde zurückgingen, -zugänglich waren, spricht dafür, ohne irgend Sicherheit zu geben.</p> - -<p>In diesem Perikles nämlich gehen die Handlung, das romantische -Abenteuer, das Spinnen und Abreißen der Fäden in dem einmal erwählten -Stil überaus sicher vor sich; nur ist freilich dieser Stil kindlich, -holzschnittmäßig, fast nach Art der alten Moralitäten; die Leutchen -bringen alle ihren fertigen Charakter mit in das Stück; von einer -Entwicklung oder tiefern Erleuchtung ist gar keine Rede.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_171" id="Seite_171">[S. 171]</a></span></p> - -<p>Das Drama geht nicht auf Menschenforschung aus, sondern auf ein -phantastisches Abenteuer, das gefühlvoll, musikalisch, lyrisch umwunden -wird und vor allem Gelegenheit zu Weisheit, zu der Weisheit aber von -Shakespeares unverkennbar besonderer Art gibt.</p> - -<p>In der Quellenüberlieferung heißt der Held dieser romantischen Sage -sonst nicht Perikles, sondern von einem beliebten spätgriechischen -Roman her Apollonius von Tyrus. In England hatte im 14. Jahrhundert -John Gower die Geschichte behandelt; und so ist in unserm Drama -Gower der Prolog, der von Akt zu Akt dazwischen liegende Teile des -abenteuerlichen Seereiseromans erzählt. In den dramatisierten Vorgängen -selbst bleibt alles marionettenhaftes Spiel; nun ist das Puppenhafte -und Spielerische ein Element, von dem das Drama ausgeht und zu dem es -immer wieder zurückkehrt; das gilt nicht bloß für die Geschichte des -Dramas, sondern für die Entwicklung jedes einzelnen Dramatikers; jeder -Künstler besinnt sich manchmal darauf, daß sein Amt nicht unmittelbare -Arbeit an lebendigen Menschen, sondern Schnörkel, Arabeske und Spiel -ist; und dieses Drama sieht so aus, wie wenn Dostojewskij, als er -sich erholen wollte und der Psychologie müde war oder irgendwie das -Tiefste nicht mehr oder zwischenhinein nicht konnte, so etwas wie den -Grafen von Monte Christo geschrieben hätte, ihn aber mit reichlichen -Blitzen seines Geistes und seiner Gesellschaftskritik durchzuckt hätte. -Gerade das hat Dostojewskij ja nicht getan; aber wie er sich oft in -andrer Art erholte, wie er seine genial verzerrende, das Übliche zur -innern Wahrheit verzerrende Psychologie, mit der er als Fremder gegen -seine Zeit stand, ließ und inzwischen Geschichten der kleinen Groteske -hinwarf, wissen wir.</p> - -<p>Im Anschluß an den Roman läßt das Stück Perikles, den Fürsten von -Tyrus, ein paar Jahrzehnte lang zwischen Antiochia, Tarsus, Pentapolis -und Ephesus hin und<span class="pagenum"><a name="Seite_172" id="Seite_172">[S. 172]</a></span> her reisen; er verläßt die Prinzessin von -Antiochien, weil sie in Blutschande mit ihrem Vater lebt; durch -ritterlichen Kampf gewinnt er Thaisa, die Tochter des Königs von -Pentapolis; auf der Meerfahrt in fürchterlichem Sturm kommt sie nieder, -scheint tot, wird in einer Kiste ins Meer geworfen; sie hat ein -Töchterchen geboren, das er später verliert; die Ärmste soll ermordet -werden, wird geschont, aber von Räubern in ein Bordell verkauft; darin -bleibt sie rein und gut. Später findet Perikles die Tochter wieder, -und mit Hilfe der keuschen Diana wird ihm sogar auch die Frau wieder -geschenkt, die von einem weisen, wundertätigen Arzt als Ertrunkene -wieder ins Leben gerufen und Hohepriesterin in Ephesus geworden war. -Das alles wird farbig und im äußern Vorgang lebendig dargestellt und -könnte auch heute noch interessieren und leicht, spielerisch rühren.</p> - -<p>Tiefere Bedeutung erlangt das Stück immer wieder durch zündende -Worte. Zur Kritik der Fürstengewalt, zur Weisheit der Staatslenkung, -zur Kennzeichnung der Niedertracht wie der schlicht volksmäßigen -Redlichkeit hat Shakespeare da ganz Treffliches gesagt. Und -unübertroffen gut ist die Sphäre des Bordells, des Liebesgeschäfts -dargestellt.</p> - -<p>Ich führe ein Beispiel an, wie der Dichter in seiner Kritik den -absoluten Monarchen, den Tyrannen, und den rechten König, den Vater der -Seinen, einander gegenüberstellt. Die Tyrannen trifft es, wenn gesagt -wird:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Die Könige</div> - <div class="verse">Sind Erdengötter und im Laster schaffen</div> - <div class="verse">Sie ein Gesetz aus ihrem Willen. Zeus</div> - <div class="verse">Kann keiner strafen, wenn Zeus selber sündigt.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Dagegen erhebt sich das Bild des rechten Königs in Perikles. Wie um -seiner persönlichen Angelegenheiten willen Krieg mit Antiochien droht, -ist er besorgt, seine armen Untertanen, die mit all den Wirren nichts -zu tun hatten, könnten ganz unschuldig Gräßliches erleiden müssen:</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_173" id="Seite_173">[S. 173]</a></span></p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Ich sorg’ um sie,</div> - <div class="verse">Denn mich bedaur’ ich nicht; ich bin nicht mehr</div> - <div class="verse">Als wie die Wipfel, die der Bäume Wurzeln,</div> - <div class="verse">Durch die sie wachsen, schützen.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>So wird die Handlung, außerdem, daß sie fesselndes und rührendes Spiel -ist, immer wieder, bei jeder Gelegenheit, zu Sentenzen benutzt; nur -freilich geht diese Weisheit nicht aus der innersten Not weder der -Person noch der Situation hervor, und so bleibt unsere Stimmung wohlig, -angenehm unterhalten, aber nichts berührt uns in der Tiefe.</p> - -<p>Ich sage nun, daß Timon von Athen, wiewohl dieses Drama in dem, was ich -die Sprache oder die Rede nenne, zu weit bedeutenderer Höhe ansteigt, -ein Stück ähnlicher Art ist: auch hier treten die Charaktere ganz -fertig und schablonenhaft auf, sie sind keine Individuen, sondern in -bestimmte Kostüme gekleidete Repräsentanten von Typen nach Art der -klassischen und romanischen Komödie, der Komödie von Shakespeares -Freund und gelehrtem Gegner Ben Jonson. Die Handlung ist diesmal nur -ein übernommener, weitmaschig motivierter, Skizze gelassener Vorwand, -ein Stramin, um Reden, Betrachtungen, leidenschaftliche Ausbrüche -gegen Erbärmlichkeit und Verrat der Menschen hineinzusticken. Denken -wir dagegen etwa an Hamlet! Gewiß wird auch da die Handlung immerzu zu -Ausfällen und Betrachtungen benutzt; da erwachsen sie aber, wie mit -innerem Zwang, aus dem Zusammentreffen von gereizter Menschenseele und -Situation; sie gehören zu einem unsäglich reichen, quellenden Leben, -zu einem Stück tragischer Wirklichkeit. Von den Kommentatoren wird -nun allerdings meist behauptet, für einige Szenen des Timon gelte das -ebenfalls, und sie seien nicht geringer an Rang als die Szenen höchster -tragischer Gewalt, die wir von Shakespeare haben; Timons Ausbrüche des -Menschenhasses werden den Wahnsinns- und Verzweiflungsszenen Lears an -die Seite gestellt. Und dagegen findet man dann eine Reihe<span class="pagenum"><a name="Seite_174" id="Seite_174">[S. 174]</a></span> anderer -Szenen so elend, so stümperhaft hingehudelt, so des Dichters unwürdig, -daß man sagt: sie können nicht von Shakespeare sein.</p> - -<p>Man hat noch viel zu geringe Ehrfurcht und Ergriffenheit vor dem -großen Tragiker Shakespeare, wenn man die prachtvollen Sprachkatarakte -Timons nicht tief unterscheidet von dem Einblick ins Innerste der -Menschenseelen, wie ihn uns die großen Tragödien des Dichters gewähren. -Was er im Timon als höchstes zuwege gebracht hat, tragische Redegewalt, -das hat er auch, aus unmöglichen Situationen heraus, im Titus -Andronikus, das haben auch Marlowe und andere Zeitgenossen vermocht. -Auch ich finde den Abstand gewisser Szenengruppen im Timon von einander -außerordentlich groß; aber er ist nicht unüberbrückbar und nicht so -sehr viel größer als im Perikles zwischen der Art, wie die Handlung -geführt wird, und wie die Weisheit und Satire sich äußert.</p> - -<p>Das nämlich dünkt mich der springende Punkt: wo es im Timon um Polemik, -Satire, Erfahrung, Weisheit geht, um die groß pathetische Rede, da -ist die Sprache prachtvoll, stark und wenn nicht gewaltig, so doch -gewalttätig groß. Aber innerste Glut, Hervorbrechen des schlechthin -Notwendigen, so daß man mit hingenommener Seele bei einer Eröffnung -des Lebens ist, ist auch sie nicht, nie in diesem Stück, nicht einmal -in den höchsten Momenten: immer prasselt da eine gewisse kalte, -virtuosenhafte Pracht auf uns hernieder; immer ist dieses Feuerwerk -Sprache und also Rhetorik, tief empfundene Rede Shakespeares, die -aber den Gestalten und Situationen der Handlung nur so aufgebunden -ist, wie der Redner sich der Bildersprache bedient; immer hat man -den Eindruck wie einer Wiederholung von etwas, was einstens ganz -echt und ursprünglich und dramatisch war, weil der Dichter sich in -seinen Gestalten verlor, während er es jetzt, blendend, bezaubernd und -subjektiv, wie er sich äußert, fast nicht der Mühe wert zu finden<span class="pagenum"><a name="Seite_175" id="Seite_175">[S. 175]</a></span> -scheint, seinen letzten Ernst auf das zu verwenden, was ihm nur noch -Einkleidung ist.</p> - -<p>Eine Notwendigkeit, die verbreitete Annahme zu teilen, daß etliche -Szenen, in denen die äußere Handlung vom Flecke gebracht wird und -die in der Tat auf einem sehr niedrigen Niveau stehen, nicht von -Shakespeare stammen, sehe ich also nicht; was für Teilhaberschaften -kämen dabei heraus, wenn man jedesmal eine Szene, die einem -minderwertig erscheint, dem großen Dichter absprechen wollte! Man hat -die bedeutenden Szenen Timons überschätzt und zu sehr gerühmt; auch -sie stammen zwar von Shakespeare, aber auch sie nicht von dem ganz -echten, sondern von einem schlaffen, schwankenden, müden, vor allem der -Gestaltung und Seelenergründung müden, von einem Geiste, der wieder -einmal zugleich ruhend und suchend geworden war.</p> - -<p>Es findet sich aber freilich in der Schlußszene des Stückes eine -Stelle, wo man wirklich meint, sagen zu müssen: das ist so unsäglich -jammervoll, nein das kann nicht von Shakespeare stammen! Und müßte -man auch nur das kleinste Stückchen des Textes einem andern abtreten, -so wäre ein Mitarbeiter, ein Überarbeiter oder Überarbeiteter da, -und weitergehende Vermutungen hätten sichern Grund. Diese Stelle ist -die Inschrift, die Timon auf seinen Grabstein gemeißelt hat; sie ist -nach Ton wie Inhalt im Original genau so elend wie in der folgenden -Übersetzung:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hier ruht ein müder Leib, die müde Seel’ entschwebt:</div> - <div class="verse">Forscht nach dem Namen nicht; die Pest euch Schurken, die ihr lebt!</div> - <div class="verse">Hier lieg’ ich, Timon, der im Leben Lebendes gehaßt;</div> - <div class="verse">Fluch’, Wandrer, wie du willst, nur halt’ hier keine Rast!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>„Forscht nach dem Namen nicht!“ und „Hier lieg ich, Timon,“ — das -erinnert doch gar zu sehr an die Legende von dem hilfreichen Mann, der -sich von der armen Frau mit den Worten verabschiedete: „Meinen Namen -werdet Ihr nie erfahren; ich bin der Kaiser Josef“, als daß wir eine so -überhomerische<span class="pagenum"><a name="Seite_176" id="Seite_176">[S. 176]</a></span> Schläfrigkeit Shakespeare zutrauen dürften. Indessen -ist die Textgestaltung, die wir haben, uns nicht von Shakespeare selbst -vorgelegt; je zwei von diesen vier Versen bilden eine in sich fertige -Grabschrift, die beide Male nichts vorher und nichts nachher erfordern; -es besteht also die Wahrscheinlichkeit, daß zwei Fassungen überliefert -waren, die von den Herausgebern der Folio törichterweise beide -gedruckt wurden. Allerdings brauchte man sich mit dieser Abweisung -noch nicht zufrieden zu geben, könnte vielmehr sagen, auch wenn man -die Grabschrift halbiere, bleibe doch jede, die zur Auswahl stehe, -ein gleichermaßen elend versifiziertes Sprüchlein, das in seltsam -kindlichem Widerspruch stehe zu der sprühenden Geist- und Sprachgewalt -Timons. Ist ein so kümmerliches Gemächte Shakespeare als Krönung eines -Stückes, in dem in den Hauptszenen eine so prachtvoll starke Sprache -geredet wird, zuzutrauen? Darauf aber kann ich nicht ohne weiteres -glatt Nein sagen; ein sehr seltsamer Umstand macht mich betroffen. -Wir haben eine andere Grabschrift, von der eine gut beglaubigte und -nicht leicht zu verachtende Tradition behauptet, Shakespeare habe sie -gedichtet oder zum wenigsten bestimmt: Shakespeares eigene nämlich, wie -sie sich auf seinem Grab in der Pfarrkirche zu Stratford befindet. Die -ist nicht nur gerade so kläglich, sondern auch in der nämlichen Art -elend: in weinerlichem Bänkelsängerton gehalten, der, wenn er nicht -Persiflage ist, gewiß mehr an Jahrmärkte erinnert als an die hohe freie -Würde und Ausdrucksgewalt Shakespeares. Und dabei können wir uns daran -erinnern, daß dieser volkstümliche und kindlich einfältige Leierton, -wie er auch von Gower in den Prologen zu Perikles gesprochen wird, -auch sonst manchmal von Shakespeare zur Zusammenfassung an solchen -Stellen gewählt wird, wo das Ernste und Furchtbare aus der Form des -Spielerischen nicht hinausfallen soll, zum Beispiel in Verschen, die in -Maß für Maß der Herzog zu sprechen hat.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_177" id="Seite_177">[S. 177]</a></span></p> - -<p>Ich bleibe also dabei: man kann das Rätsel Timon teils lösen, -teils, weil es sich mit anderm Rätselhaften in Shakespeares letzten -Lebensjahren eng berührt, Rätsel lassen, ohne einen zweiten Verfasser -zu bemühen.</p> - -<p>Um die äußern Daten der Textüberlieferung steht es sehr einfach: wie -viele andre Stücke ist Timon für uns erstmals in der ersten Folio von -1623, und zwar als vierte der Tragödien gedruckt worden. Wann das Stück -zuerst auf der Bühne erschien, ob es bei Shakespeares Lebzeiten auch -schon erschien, wissen wir nicht. Ein andres Stück Timon in der Art -gelehrter Schulkomödien, das aus dem Jahr 1600 stammt, ist bekannt; es -hat gar keinen Berührungspunkt mit unserm Drama.</p> - -<p>Von Timon muß Shakespeare eine Erwähnung in Plutarchs -Antoniusbiographie gelesen haben; da findet sich auch der Name des -Zynikers Apemantus. Dann ist der Stoff von William Paynter, den -Shakespeare auch sonst benutzt hat, als Erzählung behandelt worden. -Einige Züge stammen — gleichviel, wie sie auf Shakespeare kamen — aus -den Dialogen Lucians.</p> - -<p>Das Stück zerfällt in zwei parallele Teile, deren erster den -reichen und mächtigen, der zweite den durch seine verschwenderische -Freigebigkeit verarmten Timon zeigt. Die Erfahrungen, die Timon -macht, sowie er arm wird, stürzen ihn nun ganz plötzlich, ohne -jede Vorbereitung oder Überleitung, in grimmigsten, schimpfenden -Menschenhaß, er geht in die Einöde, in Wald und Höhle, und hat auch -für die, die ihm treu geblieben sind oder nichts zu Leide getan haben, -keine rechte, keine schöpferische Liebe mehr.</p> - -<p>Man erhält gar sehr den Eindruck, daß das übrige Stück nur rasch -und leicht hingeworfen ist um der maßlos ausschweifenden Haß- und -Schimpfreden Timons gegen das Menschengeschlecht willen. Daneben -geht noch eine locker und schlecht mit der Haupthandlung vernestelte -Kontrasthandlung: die Athener zeigen sich auch gegen ihren<span class="pagenum"><a name="Seite_178" id="Seite_178">[S. 178]</a></span> Feldherrn -Alkibiades undankbar; der aber flieht sie nicht, sondern führt Krieg -gegen sie und besiegt sie.</p> - -<p>Alle ziehen sie aus dem reichen Timon, der nur so drauf los schenkt und -übrigens auch geistig einer aus der Zunft von der „schenkenden Tugend“ -ist, da er sich durch weisen Rat ums Vaterland verdient macht, ihren -Vorteil: Staatslenker, Hausfreunde, Wucherer, Tellerlecker, Juweliere, -Maler, Dichter; alle umschmeicheln ihn und er merkt keine Falschheit, -lebt vielmehr in Freude und Harmonie, weil er Gutes tun und beglücken -kann:</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>Wozu wären uns Freunde nötig, wenn wir sie niemals in der Tat nötig -hätten?... Ja, ich habe mich oft ärmer gewünscht, um euch näher zu -kommen. Wir sind geboren, Gutes zu tun, und was nennen wir wohl -besser und eigentlicher das unsrige als die Reichtümer unsrer -Freunde?</p></div> - -<p>Diese Freunde beschenken ihn denn auch in der Tat sehr reichlich; er -merkt bloß nicht, daß sie es lediglich tun, weil sie sicher sind, noch -mehr von ihm zurückzuerhalten.</p> - -<p>Er ist ein Mann, der Vertrauen zu vielen, fast zu einer ganzen Stadt -hat; er glaubt an Gemeinschaft und Gegenseitigkeit. So kennt er nichts -Köstlicheres als Geselligkeit. Drum will er auch von dem Zyniker -Apemantus nichts wissen, der mit berufsmäßiger Galle in alle Häuser -geht und alles höhere Leben, alle Lebensfreude schmäht, ohne daß er je -böse Erfahrungen mit den Menschen gemacht hätte. Man ahnt hier einen -fein angelegten Gegensatz zwischen dem Gewohnheitspessimisten, der in -seinem Handwerk, besser gesagt, Mundwerk des Schlechtmachens eigentlich -immer guter Dinge ist, und unserm Timon, den das Leben, ein gehäuftes -Bündel furchtbarer Erfahrungen erst zur echten Verzweiflung und dann -zum Tode bringt. Im zweiten Teil kommt denn auch dieser Gegensatz -ausführlich zur Sprache; aber so recht lebendig, wie der große -Shakespeare gerade den Kontrast äußerlich ähnlicher Naturen sichtbar zu -machen imstande war, tritt er nicht hervor.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_179" id="Seite_179">[S. 179]</a></span></p> - -<p>Dann also stellt sich heraus: Timon ist in jedem Betracht ein -Verschwender gewesen. Nun ist er am Bettelstab und verschuldet. Erst -verzweifelt er darüber gar nicht; er erwartet sich jetzt die Freude, -die er sich schon immer gewünscht hatte; der Augenblick ist gekommen, -wo die Freunde sich erproben werden. Zu seinem treu teilnehmenden -Haushofmeister meint er dann:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">Du sollst sehen, wie du</div> - <div class="verse">Mein Glück verkennst; reich bin ich, reich in Freunden.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>In ein paar typischen Komödienbeispielen sehen wir dann aber, wie diese -Freunde ihrerseits nur reich an Ausreden sind. Und über Timon kommt, -besinnungraubend, umwerfend und umwälzend, die Wut. Noch einmal ladet -er zu einer großen Gesellschaft ein. Schon glauben die Stammgäste -seines Hauses, er hätte sie bloß prüfen wollen, und sein Reichtum sei -gar nicht verschwunden; aber in den Schüsseln kommt bloß warmes Wasser -auf den Tisch,</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Deckt auf, ihr Hunde, und leckt!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Nichts mehr als Grimm und Bosheit ist in ihm:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">Dampf und lauwarm Wasser</div> - <div class="verse">Ist ganz euer Ebenbild.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Leidenschaftlich schmähend wirft er die Schüsseln nach ihnen und eilt -verzweifelt hinaus.</p> - -<p>Es folgt nun der vierte Akt, um deswillen allein fast das -Stück geschrieben scheint: eine barocke Ausschweifung wilder, -leidenschaftlicher Sprache der Verachtung fast ohne gleichen. Der -Akt bringt vier große Monologe Timons des Einsamen und vier große -Gespräche: mit Alkibiades und seinen Hetären; mit dem Zyniker -Apemantus; mit den Dieben und mit dem treuen Hausverwalter Flavius. -Aber er bringt mit alledem keine Entwicklung, keine Steigerung; und -selbst das famose Motiv, daß Timon draußen, fern von den Menschen, in -der wilden Natur einen Goldschatz findet und wieder reich sein könnte, -wenn er nur wollte, wird nur äußerlich aufgesetzt und führt nicht zu -einer<span class="pagenum"><a name="Seite_180" id="Seite_180">[S. 180]</a></span> inneren Krönung, findet Anwendung nicht auf ein Menschenleben -und dient nicht wahrhafter Seelenerschütterung, sondern nur einer -allerdings grandiosen Rhetorik, die im üppig wallenden Mantel der -Leidenschaft auftritt.</p> - -<p>Shakespeare kommt es hier nur auf das eine Thema an, das er virtuos -variiert: die Gemeinheit der Menschen in ihrer Beziehung zum Geld, -wie sie jetzt von Timon erkannt und mit seinem Fluch auf das -Menschengeschlecht und alle Stände bezahlt wird. Durch diese ihre eigne -Gemeinheit sollen die einzelnen Berufsklassen diesen Fluch an einander -zur Erfüllung bringen, soll jeder den andern verletzen, bestehlen, -betrügen, verwunden, umbringen. Die Leibeigenen sollen nur dreist -stehlen, ihre „strengen Herrn“ sind ja selbst „langarmige Räuber“;</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">Magd, in des Herren Bett!</div> - <div class="verse">Die Frau ist im Bordell!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Im Wald, mit dem Wild zusammen will er leben, das nicht so wild ist wie -die Menschenbrut. Dabei ist er aber doch nicht in der Rousseauschen -Stimmung, der Mensch sei böse geworden, die Natur sei gut. Für ihn, wie -er jetzt in die Welt blickt, gibt es gar keinen Trost; denn den Urgrund -für die Niedrigkeit der Menschen findet er in der Fehlerhaftigkeit -der Weltordnung. Es ist in der Natur so eingerichtet, daß es Leben -nur gibt durch Raub des Lebens; was da lebt, muß andre lebendige -Wesen vernichten, um leben zu können. Und gar eine Erhöhung, eine -Bereicherung kann es in der Welt nur geben durch Beraubung eines -andern. Aber er sieht tief und schnell; ja nicht soll man nun nach dem -Äußern urteilen und den Entbehrenden und Beraubten für den bessern -Menschen halten. Der Bettler darf sich nicht besser dünken als der -reiche Senator: mögen sie nur die Plätze tauschen, gleich benimmt sich -der Bettler wie der Reiche.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Schief ist alles;</div> - <div class="verse">Nichts grad’ in unserm fluchbeladnen Wesen, —</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_181" id="Seite_181">[S. 181]</a></span> - <div class="verse">Als zielbewußte Schurkerei. Ein Abscheu</div> - <div class="verse">Sind alle Feste, Volksgewühl, Gesellschaft!</div> - <div class="verse">Timon haßt seinesgleichen; ja, sich selbst.</div> - <div class="verse">Vernichtung wetz’ die Hauer auf die Menschheit!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Die Menschen sind denn doch in der ganzen übeln Natur die schlimmsten. -Wie so mancher Menschenfeind wendet Shakespeares Timon die -Liebesmöglichkeit, die noch in ihm ist, dem Hunde zu, nicht in der Tat -freilich, nur wieder im Sprachbild, wenn er zu Alkibiades sagt:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich bin Misanthropos und hass’ die Menschheit.</div> - <div class="verse">Doch du, ich wollt’, du wärst ein Hund, daß ich</div> - <div class="verse">Ein wenig dich noch lieben könnt’.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Was ist er denn jetzt, als Mensch, dieser Feldherr? Ein Kriegsmann, ein -Menschenschlächter.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Fort, der Trommel nach!</div> - <div class="verse">Bemal’ mit Menschenblut den Grund rot, rot!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Aber auch der Krieg ist noch entschuldigt; ist denn nicht alles, -was Menschen tun, Zerstörung? Den Krieg nimmt er in seiner grimmig -anschaulichen Art personifiziert, als ein Vorhandenes, Lebendiges, das -sein Wesen erfüllen und sein Daseinsrecht ausüben muß; und da fragt er:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Grausam sind göttlich Recht und Menschensatzung;</div> - <div class="verse">Was soll denn Krieg sein? Deine Hure da</div> - <div class="verse">Hegt in sich mehr Zerstörung als dein Schwert,</div> - <div class="verse">Trotz ihrem Engelblick.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Sie nämlich, die feile Dirne, hat diese Kraft der Verderbnis in -Verbindung mit dem Zerstörungsmittel, das in der menschlichen -Gesellschaft aufgekommen ist und das von allen das schlimmste ist: das -ist das Geld!</p> - -<p>Daß er, der sich von allem abgewandt hat und nichts mehr will, beim -Wurzelgraben einen Schatz findet, ist ihm nur ein Hohn. Immer neue -Ausdrücke wirft er dem Geld entgegen: gelben Sklaven nennt er es, -verdammte Erde,</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_182" id="Seite_182">[S. 182]</a></span></p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Der Menschheit allgemeine Hure, die du</div> - <div class="verse">Unter der Rotte der Nationen Krieg</div> - <div class="verse">Und Zwietracht stiftest;</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>einen starken Dieb schilt er es, der davonläuft, wenn sein Herr schwach -auf den Beinen wird und nicht mehr aufrecht bleiben kann.</p> - -<p>Und nun — was alles mehr in der Art der allegorischen Gedichte -ist, deren Meister Spenser war und denen Leidenschaft und Wucht -des Ausdrucks und Bildes keineswegs fehlte, als in der Art der -Wirklichkeits- und Herzenstragödie Shakespeares — nun wandelt sich -mittels des Schatzfundes Timons Klage und Schimpf in aktive Verfolgung. -Er behält in seinem Haß so viel von dem Schatz, der für die Fristung -seines Lebens, wie er sich’s jetzt eingerichtet hat, ganz wertlos -geworden ist, daß er damit die Menschen, zumal die Athener, verderben -kann. Dem Alkibiades gibt er Geld, damit er Krieg führe gegen diese -Athener, die ihm das Urbild lasterhaft zivilisierter Menschheit sind. -Das ist ein Anlaß nicht zu einem Fortgang der Handlung, sondern zu -einer neuen Variation der Rede. Ein fürchterlicher Ausbruch des -Menschenhasses knüpft sich daran; grauenhaft wird das Bild des -Vernichtungskriegs entworfen, und bei all diesen Schreckensbildern -findet Timon in wütigem Grimm, daß die Menschen alle, bis auf den -Säugling herunter, mit Recht auszutilgen sind:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sei wie Planetenpest, wenn Zeus sein Gift</div> - <div class="verse">In kranker Luft auf städtischen Lasterpfuhl</div> - <div class="verse">Herab läßt tauen; keinen schon’ dein Schwert!...</div> - <div class="verse mleft10">Fluch allen Wesen!</div> - <div class="verse">Säe Vernichtung; hast du ausgetobt,</div> - <div class="verse">So treffe dich Vernichtung!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Den Dirnen gibt er Gold, um sie recht verführerisch geschmückt auf die -Männer loszulassen.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Auszehrung säet</div> - <div class="verse">Ins hohle Mannsgebein!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_183" id="Seite_183">[S. 183]</a></span></p> - -<p>Und wie malt er sich’s nun aus! Und wie hätte ein andrer Shakespeare -dieses hämisch, schmatzend vorwegnehmende Genießen der Rache zu -Timons Charakteristik, zur Fortführung der Seelenentwicklung und -äußern Handlung benutzt; hier aber bleibt alles grandiose Strafrede, -ein dramatisch eingekleidetes Gedicht, das aus dem Abgrund einer -leidenschaftlichen Weltempfindung herausschlagende Wetter gegen Gott -und die Welt losplatzen läßt. Der Anwalt soll durch den Umgang mit -diesen Weibern die Stimme verlieren; dem Priester, der lügnerisch gegen -die Schwäche des Fleisches zetert und doch zu diesen Weibern geht, soll -der Aussatz die Nase aus dem Gesicht fressen; der Kriegsbramarbas, der -keine Wunden hat, soll durch sie kennen lernen, was Schmerzen sind.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Verpestet alles, daß</div> - <div class="verse">Die Quelle aller Zeugung durch euer Wirken</div> - <div class="verse">Ausdörre und ersticke.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Das Furchtbare an dieser Haß- und Fluchgewalt der Rede ist -denn doch ihre Wahrheit, die in der Beziehung zur Wirklichkeit -liegt: die ausschweifendste, gierigst suchende Phantasie des -Würgengelvernichtungswillens kann keine Plagen ausmalen und wünschen, -die mehr wären als Vervollständigung und eine Art systematische Ordnung -der Schrecknisse, die in Natur und Menschenwelt da sind.</p> - -<p>Die Allegorie nimmt wieder eine neue Wendung. Nun, wo es sich -herumgesprochen hat, daß zu Timon wieder Geld gerollt ist, bekommt er -einen Besuch nach dem andern. Und so suchen ihn auch die Diebe auf. Die -aber behandelt er mit Auszeichnung und erklärt sie im Gegensatz zu den -andern, den sonst geachteten Klassen der Gesellschaft, für ehrliche -Diebe; sie treiben ja das Stehlen als ihr erklärtes Handwerk:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Ich weiß euch Dank,</div> - <div class="verse">Daß ihr als Diebe euch bekennt, euer Treiben</div> - <div class="verse">In frommen Schein nicht hüllt; Diebe sind alle,</div> - <div class="verse">Zu welchem Stand sich jeder auch bekennt.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_184" id="Seite_184">[S. 184]</a></span></p> - -<p>Es ist ja, in der ganzen Natur, alles Dieberei: Sonne, Mond, Wasser und -Erde, — eins bestiehlt das andre. Aber — wir kennen das Schema schon -— wie viel ärger ist’s gar unter den Menschen!</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft12">Dieb ist alles:</div> - <div class="verse">Selbst das Gesetz, das euch in Zaum und Fron legt,</div> - <div class="verse">Übt straflos und in roher Willkür Diebstahl.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Wir kennen das Schema schon: in der Tat, legt man den formalen Maßstab -an, fragt man, ob das ein Drama sei, ob da Menschen, ob seelische -Gewalten einander gegenübergestellt werden, so kommt man immer wieder -darauf, daß hier nicht die Sprache dem Ereignis und das Ereignis dem -Geheimnis des Innersten dient, sondern daß die Vorgänge ein Zubehör der -Sprache sind; die dramatische Begleitung der Rede ist wie die <em>Biblia -pauperum</em> Bildersprache. Sehen wir aber davon ab und wenden uns der -geistigen Bedeutung der Erkenntnisse zu, die Shakespeare mit solchen -Mitteln zum Ausdruck bringt, so ist zu sagen, daß Shakespeare hier -mit klaren Worten und Begriffen die radikale Kritik unsrer auf dem -Eigentum beruhenden Rechtsordnung, unsrer vom Rechtswesen gesicherten -Eigentumsordnung, die sozialistische Kritik Proudhons und seinen -zusammenfassenden Satz: Eigentum ist Diebstahl vorweggenommen hat. -Und was so in Worten erklärt wurde, wird dann auch mit der Handlung -illustriert, so daß wir als in einem Notwendigkeitszusammenhang die -beiden sehr verschiedenen und doch, solange Menschen Menschen sind, -zusammengehörigen Seiten der Anarchie beisammen haben: Timon beschenkt -die Diebe reichlich und schickt sie, die nunmehr besser für ihr -Handwerk ausgerüstet sind, nach Athen:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Brecht Läden auf; ihr könnt nichts stehlen, was</div> - <div class="verse">Ein Dieb nicht vorher stahl.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Köstlich ist nun aber, und das beste Stückchen der Handlung, obwohl -auch das nicht wahrhaft ins Menschliche verfolgt<span class="pagenum"><a name="Seite_185" id="Seite_185">[S. 185]</a></span> ist, sondern nur den -Entwurf eines Menschentums anlegt, wie es hinter aller Berufsteilung -des Lebens und Typenteilung der Komödie steckt, köstlich trotzdem und -ein herrlicher Gipfel in der sozialen Erkenntnis, die hier stufenweise -zu Wort kommt, wie Timons Reden und Geschenke auf die Diebe wirken: -sie, die Ausgestoßenen, verstehen die Herkunft seines Menschenhasses, -erkennen hinter all dem geifernden Grimm den reinen, edeln Idealismus, -sie schämen sich und wollen ehrlich werden!</p> - -<p>Nun aber kommt der Mann zu Timon in die Einöde zu Gast, der von Anfang -an treu und redlich gegen ihn war: Flavius, sein Hausverwalter. Der ist -so traurig, daß er selber ganz nah am Menschenhaß ist:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wie herrlich das auf unsre Zeiten paßt,</div> - <div class="verse">Wenn uns gelehrt wird: Liebt den, der euch haßt!</div> - <div class="verse">Fürwahr, eh lieb ich meinen offnen Feind</div> - <div class="verse">Als den, der feindlich ist und freundlich scheint.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Da bekommen wir eine ganz überraschende, kecke Umdeutung des -Christuswortes: Liebet eure Feinde; die neue, bissige Version lautet: -Liebet jedenfalls eher die Feinde als die sogenannten Freunde! Die -Keckheit beruht darin, daß formal das erhabene Gebot beibehalten ist: -Liebt den, der euch haßt! daß aber doch fast eine Umkehrung daraus -wird: Liebe ist Lüge; im Haß ist Wahrheit!</p> - -<p>Diesem Getreuen gegenüber wird Timon weich; ihn beschenkt er, weil er -es verdient; nicht, um ihn mit dem Gold oder die Menschen mit seiner -Hilfe zu verderben; aber er knüpft eine arge Bedingung an das Geschenk, -das ohne sie auch widerspruchsvoll wäre:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Bau’ von Menschen fern;</div> - <div class="verse">Hass’ alle, fluche allen, tröste keinen!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Flavius, der untergeordnete Angestellte, wird hier — trotz der -Erkenntnis, die Timon zu Wort gebracht hat, daß auch der Arme -nichts taugt — den unabhängigen Reichen so als besserer Mensch -gegenübergestellt, wie die Diebe den<span class="pagenum"><a name="Seite_186" id="Seite_186">[S. 186]</a></span> Besitzern. Aber schon vorher -konnten wir in der Dienerszene sehen, wie diese armen Domestiken -alle treu und liebevoll zu Timon und zu einander hielten; wie sie -fortwährend die liebreiche Anrede <em>fellow</em>, Kamerad, untereinander -austauschten; und Flavius, der sein Letztes unter ihnen geteilt hat, -gründet unter ihnen eine Art Timon-Orden:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wo wir uns wiedersehn, laßt Timons halber</div> - <div class="verse">Uns Kameraden sein.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Auch das greift indessen nicht weiter in die Handlung ein: innerlich -ist diesem Stück keine Entwicklung vergönnt. Äußerlich freilich, -rhetorisch wieder, ist es ein famoser, glänzender Komödien-, noch -besser gesagt, Anekdotenschluß, wie nun in der Reihe der Gäste -die Senatoren kommen, um schamlos oder patriotisch in der Not des -Vaterlandes den, der voll Ekel vor ihnen geflohen ist, gegen Alkibiades -und sein Heer zu Hilfe zu rufen, wie er sie in langer Ironie täuscht -und hinhält und ihnen ein Mittel, ein unfehlbares, verspricht, durch -das sie aller Gefahr entrinnen können:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Es wächst ein Baum in meinem Waldbezirk,</div> - <div class="verse">Den nächstens ich zu eigenem Gebrauch</div> - <div class="verse">Umhauen muß. Sagt’s meinen Freunden an,</div> - <div class="verse">Sagt’s in Athen, in jeder Abstufung</div> - <div class="verse">Vom ersten bis zum letzten: Wer da wünscht,</div> - <div class="verse">Sein Leid zu enden, solcher komme spornstreichs</div> - <div class="verse">Hierher, eh noch mein Baum die Axt gespürt,</div> - <div class="verse">Und häng’ sich auf. — Bestellt recht schönen Gruß.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Wir wissen, das ist mehr als böser, plagender Spaß. Weltschmerz, -ja, Weltwut äußert sich so, die keine andre Erlösung weiß, als dem -Leben ein Ende zu machen. So ist es einer der stärksten dichterischen -Züge dieses Stückes, daß Timon in diesen Worten, mit denen er -den verachteten Athenern, die seinen Rat begehren, den Rat gibt, -sich aufzuhängen — so wie Shakespeares Coriolan sich den Römern -gegenüber die Redensart angewöhnt hat: Hängt sie! —, daß Timon -da ein paar Wörtchen einfließen läßt, in denen er seinen<span class="pagenum"><a name="Seite_187" id="Seite_187">[S. 187]</a></span> eignen -Freitod ankündigt. Nächstens, sagt er, werde er den Baum, an dem er -am liebsten die Athener gehängt sähe, zu eigenem Gebrauch umhauen -müssen. Wir erfahren es bald, zu welchem Zweck: um sein Grab zu -bauen. In seinen ungeheuren Gewaltreden hat er sich ganz ausgegeben; -es gibt für ihn so wenig wie für die Tragödie, die von ihm handelt, -einen innern Fortgang; er hat nichts mehr auf der Erde, nichts auf -der Bühne zu suchen: er verkriecht sich und stirbt, ohne daß wir -dabei sind, ohne daß der Dichter darauf ausgeht, uns mit diesem -Sterben in der Verlassenheit menschlich zu erschüttern. Goethe hat -schon recht: Molière, der große Komödiendichter, hat aus seinem -Menschenfeind den Helden einer Tragödie, Shakespeare, der größte aller -tragischen Dichter, hat aus Timon eine Molièrekomödie, allerdings mit -Shakespearischer Sprachgewalt, gemacht, und Timons Tod sogar ist eine -Art epigrammatisches Auftrumpfen, ein Komödienschluß.</p> - -<p>Von diesem Helden einer fast allegorisch zu nennenden, dramatisch nur -eingekleideten vehementen Predigt, in der die Übergangsszenen der -Handlung lässig und unlustig hingeworfen sind, von diesem Menschenfeind -und Feind seines Volkes und von seiner Ergänzung Alkibiades, der -den Krieg seinem eignen Volk ins Land trägt, gehen wir nun in der -nächsten Betrachtung zu jenem andern Adelsmann über, der eben schon -genannt wurde, zu dem Verbannten, Volksfeind und Kämpfer gegen sein -Vaterland Coriolan. Wie anders wird der zuinnerst und in der Art, wie -er steht und geht, lebendig werden als Timon; wie wird Coriolan ein -Mann und ein Mensch sein, wo Timon ein Exempel ist; was werden ihn in -mannigfaltiger Abstufung für Römer und Römerinnen umgeben gegen die -Puppen von Athenern, die wir hier finden! Einmal noch, zum letzten -Mal also, werden wir da den Shakespeare zu uns sprechen lassen, der -uns mit der Geschichte der Seele die Seele der Geschichte gibt. Dann, -nachher, wollen wir sehen,<span class="pagenum"><a name="Seite_188" id="Seite_188">[S. 188]</a></span> wie der Shakespeare, der die Moralität von -den wunderbaren Reisen des Perikles und die Satire von Glanz und Wut -Timons des Menschenfeindes gedichtet hat, auch in diesem Stil noch -wieder aufwärts steigt zu reiner Höhe der Milde, der Heiterkeit, der -Weisheit, in dem Drama von Imogen, im Wintermärchen, im Sturm. Die -Märchen- und Meeres- und Sphärenmusik des Sturm klingt schon in den -Reisen des Perikles an, wie auch Miranda in manchem an Marina, die -Tochter des Perikles, erinnert; aber der letzte Aufwärtsweg, den wir -mit Shakespeare machen, ist noch weit, so weit wie von der gequälten -Wut Timons des Menschenfeindes zu der Überlegenheit Prosperos, der das -innerste Grauen der Welt kennt und den unrettbar verworfenen Caliban im -Urgrund der Welt und des Menschengeschlechts finden muß und dennoch, -heiter in Düsterkeit, Ruhe und Liebe nicht aufgibt.</p> - -<hr class="chap" /> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_189" id="Seite_189">[S. 189]</a></span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Coriolan">Coriolan</h2> - -</div> - -<p class="initial">Coriolan ist das dritte und letzte Stück, das Shakespeare nach Plutarch -aus der römischen Geschichte behandelt hat. Über die Zeit der Abfassung -oder der ersten Aufführung liegt uns kein Bericht vor; auch sonst -fehlen äußere Merkmale, aus denen etwas zu schließen wäre. Ich folge -denen, die auf Grund der Sprache und der Verstechnik die Jahre zwischen -1608 und 1610 als Zeit der Abfassung annehmen: ich möchte glauben, daß -Antonius und Cleopatra und auch Timon von Athen vorher gedichtet sind. -Man könnte aber nicht leicht drei Stücke eines Verfassers nennen, die -sich nach Aufbau, Stimmung, seelischer und poetischer Technik radikaler -von einander unterschieden als diese; Shakespeare war gerade in seiner -letzten Periode zu mehreren, sehr verschiedenen Darstellungsarten -geneigt und war vielleicht jetzt mehr ein Suchender als je.</p> - -<p>Zu Plutarch steht Shakespeare bei diesem Stück eher noch freier -als die beiden andern Male: wohl dankt er ihm viele Einzelzüge, -folgt ihm auch im Aufbau der einen oder andern Rede; aber er nimmt -Abweichungen wichtiger Art auch in der äußern Handlung, vor allem -Zusammenziehungen vor. Die Vorgänge, die den Stoff der beiden Tragödien -aus dem Beginn der Kaiserzeit lieferten, waren und sind ein Stück der -eignen Geschichte auch unsrer Völker; es geht um Entscheidungen, die -Shakespeares Zeitgenossen angingen, wie sie auch für uns noch bedeutend -sind; der Krieg zwischen Römern und Volskern und alles, was damit -zusammenhing, hat als äußerer Verlauf keine solche Aktualität; es kommt -alles nur auf das geschichtliche Beispiel für immerdar wirksame Kräfte, -Tendenzen und Gegensätze und auf das innere Leben der Gestalten an. -Die spontane Lebendigkeit aber der inneren Antriebe, das Feuer, von -dem diese Menschen erfüllt sind, das ist ebenso völlig auch diesmal -Shakespeares Eigentum wie die geschichtliche Weite, zu der sich das -Ereignis ausdehnt.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_190" id="Seite_190">[S. 190]</a></span></p> - -<p>Coriolan gehört zu den Stücken Shakespeares, die besonders sorgsam -komponiert, straff gebaut, rund vollendet sind; keines übertrifft es -in diesem Betracht; wenige, wie Macbeth und Othello, können ihm darin -gleichkommen.</p> - -<p>Welch ein Abstand aber in jeder Hinsicht, wenn man von Timon kommt! -Nicht einmal die Hauptperson ist da wahrhaft individualisiert und -im Innersten ergriffen; die Nebengestalten aber sind allesamt -schablonenhaft; der Timon zielt ganz auf das Wort, auf die Rede -ab; große, herrliche Reden bringt wahrlich auch der Coriolan, aber -alle stehen sie im Zusammenhang der ergreifenden, lebendigen Aktion -und dienen der Erhellung der Seelen; und jede Gestalt bis zur -kleinsten Nebenperson herunter ist individuell behandelt, und nun -gar die Hauptgestalten! Neben Coriolan Menenius Agrippa, die beiden -Volkstribunen, Tullus Aufidius der Volskerheld, Coriolans Mutter, seine -Frau und das Volk.</p> - -<p>Eine sehr bezeichnende Abweichung Shakespeares von Plutarch bringt -eine Bestätigung für etwas, was schon früher gesagt wurde, und deutet -zugleich das Bereich, in das uns der Coriolan führt. Es hat wahrlich -seinen tiefen Grund, warum die Natur einen zum Dichter und nicht zum -Philosophen oder Forscher geschaffen hat. Ein Dichter, ein Dramatiker -wie Shakespeare <em class="gesperrt">kann</em> sich nicht nur in die verschiedensten -Naturen, Temperamente und Weltanschauungen einfühlen; er muß es, weil -seine Natur ihre herrliche, stramme Sicherheit und Eindeutigkeit -nicht in <em class="gesperrt">einem</em> System, sondern in einer Vielheit von Bildern -findet; immer macht der Künstler aus der Not eine Tugend; und eben aus -dieser Entbehrung an eng begrenzter Festigkeit macht der Dramatiker -den Reichtum seiner Gestalten, Sphären und innern Verfassungen. Der -Dichter lebt in Einem Himmel, der durch alle Reiche waltet; er kniet -nicht vor Einem Gott. Diese Proteusnatur des Dichters bringt es mit -sich, daß er mit einer Kraft und Eindringlichkeit,<span class="pagenum"><a name="Seite_191" id="Seite_191">[S. 191]</a></span> die nur von -eigener Übereinstimmung zu kommen scheint, in das Denken und Fühlen -eines Menschen eingeht, daß er ihn von innen gestaltet, als wäre er es -selbst, daß er ganz mit ihm und in ihm ist, daß er dann aber wieder -hinausschlüpft und ebenso untrennbar sich mit einem wesentlich andern -zu decken scheint.</p> - -<p>Damit dünkt mich nun zusammenzuhängen, daß die Sphäre eines jeden -der Stücke, gleichviel ob sie weit oder eng ist, in jedem Fall ihre -begrenzte Bestimmtheit hat und in Abhängigkeit von dem Trieb oder der -Weltanschauung der Person oder des Kreises von Personen steht, um die -als Mitte das Stück sich bewegt. So finden wir in solchen Stücken, -in deren Mitte die Macht steht, die als Gier zu herrschen und auch -sonst als Lebensgier erscheint, als Sphäre eine wilde, ungezügelte -Natur, Aufruhr und Gärung der Elemente, dämonisches Eingreifen der -Schicksalsmächte, Zeichen und Wunder. So geht es im Macbeth zu, so -auch im Lear und ebenso auch in den beiden Römerdramen, in denen der -Republikanismus abgelöst wird von der Herrschgier, im Julius Cäsar -und in Antonius und Cleopatra. Überaus bezeichnend aber, daß es in -der besonderen Welt des Brutus nicht nur die Zeichen und Wunder des -Cäsarismus nicht gibt, sondern daß auch der fürchterliche Wettersturm -da nicht zu toben scheint; wir sind bei ihm in der furchtbaren Nacht -in seinem Garten; aber wovon er auf Grund seiner Natur und seiner -Situation nichts merkt, das umgibt auch uns nicht; und ein pedantisch -aufmerksamer Regisseur könnte nichts Verkehrteres tun, als uns in -dieser Fortsetzung der Nacht von dem Aufruhr aller Elemente, in dem wir -eben bei Cassius auf der Straße waren und von dem nachher gleich Cäsar -wieder ins Wanken gebracht wird, im Garten des Brutus das kleinste -Donnerchen rollen zu lassen. Wovon ich hier spreche, geht aber positiv -und negativ durch Shakespeares ganzes Werk: es ist völlig unmöglich, -sich in solchen Stücken, in deren Mitte ein<span class="pagenum"><a name="Seite_192" id="Seite_192">[S. 192]</a></span> gemäßigter, gezügelter -oder gar harmonischer Mann steht, wie zum Beispiel Heinrich IV. -oder Heinrich V., um diesen Helden eine wilde Natur oder ein -Eingreifen von Geistermächten zu denken. Welch ein Unterschied herrscht -vielmehr im gesamten Ton, in der Stimmung, der Atmosphäre, wenn man -die beiden Heinrichsdramen und ihre behaglichen, niederländischen -Einlagen besonders der Falstaffszenen mit Richard III. und -seinen schweren Träumen und Geistererscheinungen vergleicht. Ich -übersehe nicht, daß Richard III. noch der Jugendperiode und der -Abhängigkeit von Marlowe und ähnlichen Gewalttätigen angehört; aber ich -will ja nur zeigen, warum solche begleitende Elementarstimmung in den -Heinrichsdramen nicht sein kann. Warum aber im Lear das Wetter tobt, -im Hamlet das Gespenst erscheint, im Julius Cäsar Zeichen und Wunder -geschehen und in Antonius und Cleopatra Herkules der Gott unterirdische -Musik machen darf, all dieses Elementare und Dämonische steht in -Zusammenhang mit den Elementartrieben und dämonischen Leidenschaften, -um die das Stück sich dreht; Hamlet, in dessen Weltanschauung und -Neigung, das Leben zu führen, die Wiederkunft und das handelnde -Eingreifen eines Gestorbenen ursprünglich so wenig paßt wie in die -Horatios, hätte das Gespenst nie mit Augen gesehen, wenn er nicht der -Erbe eines Geschlechts der Wut wäre, wenn er nicht im Dunstkreis seines -Oheims stünde.</p> - -<p>Wenn dem aber so ist, können wir, was im Verlauf dieser Vorträge zu -Shakespeares Weltanschauung gesagt worden ist, noch um eine Stufe -fortzuführen versuchen. Es ist gesagt worden, es gehe nicht leicht an, -aus den Dramen Schlüsse auf Shakespeares Religion, Philosophie und -Naturbetrachtung zu ziehen, weil nicht nur die Äußerungen der Personen, -so sentenziös und überzeugt sie auch herauskommen mögen, von ihrem -Charakter und ihrer Aufgabe im Stück, sondern sogar die Naturelemente, -die Kräfte, die Geister, die der Dichter selbst leibhaft vorführt, -von der<span class="pagenum"><a name="Seite_193" id="Seite_193">[S. 193]</a></span> innern Beschaffenheit der jeweils in dem Stück zentralen -Personen, also wiederum nicht von den Gedanken des Dichters abhängen. -Es ist dann weiter versucht worden zu sagen, der Dichter mit seiner -Künstlernatur sei Weltanschauungen gegenüber sehr labil, er könne -darum seine Menschen so fest, so innig an einem Glauben oder einer -Auffassung hängen lassen, weil für ihn, dem alles zum Gleichnis und -Bilde wird, an jeder lebendig ergriffenen Deutung der Welt etwas Wahres -sei. Wenn es indessen so ist, daß Hexen, Naturdämonen, Gespenster, -Zeichen und Wunder von Shakespeare immer nur als gemäßer Ausdruck in -solche Stücke aufgenommen werden, in deren Mitte Menschen der Gier, -des wilden Triebs, der Genuß- und Machtaffekte stehen, daß er dagegen -Menschen, die er mit besonderer Liebe behandelte und denen er als die -Triebe beherrschende hohe Kraft Vernunft, Gemeinsinn, Gerechtigkeit, -Maß, Harmonie mitgab, in einer unsrer Naturanschauung entsprechenden -heitern, stillen und wunderlosen Welt leben ließ, so ist das am Ende, -besonders wenn wir dazu nehmen, daß in seinen subjektiven Äußerungen -in den Sonetten nur offenbares Spiel mit mythologischen Vorstellungen, -aber keinerlei Befangenheit in Dämonen- und Vorbedeutungsglauben -vorkommt, ein Kriterium dafür, daß die Vernunftüberlegung Shakespeares -so rationalistisch war wie die Anschauungen etwa Horatios und Bruder -Lorenzos.</p> - -<p>Man wird einwenden wollen, ob so ein Motiv der Naturdämonie verwendet -werde oder nicht, sei in erster Linie von dem in den Quellen -überlieferten Stoff abhängig. Aber gerade darauf will ich ja hinaus. -Diesmal nämlich ist es nicht so. Der gesprächige und etwas wohlweise -Plutarch berichtet in der Biographie Coriolans genau so wie in der -Cäsars und Antonius’ von Zeichen und Wundern; aber dieser ganzen -Überlieferung von schreckhaften Vorbedeutungen, Wahrträumen und -Wahrsagern schenkt<span class="pagenum"><a name="Seite_194" id="Seite_194">[S. 194]</a></span> Shakespeare diesmal keine Beachtung. Nichts von -dieser Atmosphäre kann er für dieses Rom und für diesen Römer brauchen.</p> - -<p>Wir sind nicht in der gärenden Zersetzung der Republik, sondern in -ihrer Frühzeit; und die Seele Coriolans ist von nichts weniger erfüllt -als von Machtgier.</p> - -<p>Das klingt nun vielleicht erstaunlich; man wird sagen wollen: er sei -aber doch der Typus des Aristokraten, des Adligen, des Herrschenden; -er sei doch der Führer in dem Kampf des Adels gegen das Volk, der -Patrizier gegen die Plebejer; und bei all diesem Streit zwischen -Kleinen und Großen, Volkstribunen und Senatoren drehe sich alles um die -Macht. Man darf sich aber von Worten, die für sehr verschiedene Sachen -gleich lauten, nicht verführen lassen. Das Spezifische, das ich hier -Macht nenne, ist eine Selbstherrlichkeit, die alles von sich abzuleiten -und auf sich zu beziehen geneigt ist, ist ein Absolutismus, der mit -dem Gefühl der Majestät, der Gottähnlichkeit, des Übermenschentums -oder aber mit dem wild dämonischen, verzehrend teuflischen Drang der -Niedrigkeit, Herr zu sein, verbunden ist, und das gibt es nur in der -Form der Tyrannei, der unumschränkten Königsgewalt.</p> - -<p>Hier bei Coriolan aber sind wir in einer ganz andern Welt, eben in -der, deren Idee Brutus noch rein in sich fand und für die Umwelt -wiederherstellen wollte: in der ständisch gegliederten, ritterlichen -Republik.</p> - -<p>In dieser römischen Stadtrepublik, die nur erst einen kleinen Teil des -benachbarten Landes in ihr Bereich eingezogen hat, herrscht in noch -engerem Bezirk dieselbe Staatsverfassung, dasselbe Staatsideal, wie es -Shakespeares Ulysses für die frühe griechische Welt aufgestellt hatte, -und wie es ganz ähnlich in der Welt des ritterlichen Königs, zu dem -Prinz Heinz geworden ist, Heinrichs V. gilt:</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_195" id="Seite_195">[S. 195]</a></span></p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Denn wie kann ein Verein,</div> - <div class="verse">Der Schulen Stufen, Brüderschaft in Städten,</div> - <div class="verse">Ein friedlicher Verkehr entfernter Küsten,</div> - <div class="verse">Das Erstgeburts<em class="gesperrt">recht</em>, <em class="gesperrt">Pflichten</em> der Geburt,</div> - <div class="verse">Vorrecht des Alters, Thrones, Zepters, Lorbeers</div> - <div class="verse">An ihrer rechten Stelle anders stehen</div> - <div class="verse">Als durch die <em class="gesperrt">Gliederung</em>?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>So hatten wir’s von Ulysses für kleine Königreiche gehört, in denen -Rangordnung, Gliederung, ständische Verfassung herrscht und sie so der -Republik nicht minder annähert, wie andrerseits die aristokratische -Republik im frühen Rom die Ordnung und Sicherheit gewährte, die man -gern als Vorzug der Monarchie bezeichnet.</p> - -<p>Und von Ulysses hören wir in derselben großen Rede zweierlei über die -Auflösung von ständischer Gliederung und Ordnung. Einmal gerade das -nämliche, was wir jetzt eben über den Zusammenhang von Naturdämonie und -Machtwillkür bei Shakespeare wahrgenommen haben:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Irren</div> - <div class="verse">In unheilvoller Kreuzung die Planeten,</div> - <div class="verse">Welch Schreckenszeichen dann, welch Seuchen, Gärung,</div> - <div class="verse">Welch Erderschütterungen, Meerestoben,</div> - <div class="verse">Aufruhr der Luft, Umsturz, Entsetzen, Graus</div> - <div class="verse">Zerteilt, zerreißt, erschüttert und entwurzelt</div> - <div class="verse">Jedweden Zustand eheruhigen Friedens</div> - <div class="verse">Bis auf den Grund! Wenn Stufenordnung wankte,</div> - <div class="verse">Zu jedem hohen Ziel die einzige Leiter,</div> - <div class="verse">Dann krankt die Unternehmung!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>In warnender Rede also, die ihren prophetisch eindringlichen Ton gewiß -nicht bloß von der Lage der Griechen vor Troja nimmt, stellt Ulysses -die Auflösung des organisch Gegliederten ins wüst Elementare zusammen -mit unheilvollen Naturkatastrophen derselben Herkunft. Dann aber fährt -er unmittelbar fort und stellt den Zusammenhang her zwischen der -Auflösung der festgegliederten, sich gegenseitig aus<span class="pagenum"><a name="Seite_196" id="Seite_196">[S. 196]</a></span>pendelnden Ordnung -und der Willkürgewalt der Despotennatur:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nimm Gliedrung weg, mach’ diese Saite stumm,</div> - <div class="verse">Und ach, welch Mißton folgt! Die Dinge stoßen</div> - <div class="verse">In ew’gem Streite sich: es schwillt der Busen</div> - <div class="verse">Der eingedämmten Flut, des Strandes spottend,</div> - <div class="verse">Bis sie dies feste Rund auflöst in Schlamm;</div> - <div class="verse">Zum Herrn der Schwäche wirft sich auf die Kraft;</div> - <div class="verse">Der rohe Sohn schlägt seinen Vater tot;</div> - <div class="verse">Gewalt wird Recht, nein, vielmehr: Recht und Unrecht</div> - <div class="verse">— Die ew’gen Feinde, von Gerechtigkeit</div> - <div class="verse">Beherrscht — verlieren samt der Herrscherin</div> - <div class="verse">Dann ihren Namen. Alles wird Gewalt,</div> - <div class="verse">Gewalt wird Willkür, Willkür zur Begier,</div> - <div class="verse">Und die Begier, ein allgemeiner Wolf</div> - <div class="verse">Mit ihrem Dienerpaar Gewalt und Willkür,</div> - <div class="verse">Nährt sich vom allgemeinen Raub und frißt</div> - <div class="verse">Zuletzt sich selbst auf.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Es war nötig und gut, daß wir diese entscheidende Stelle, in der -Ulysses das politische Gewalthabertum auf die Seelenverfassung des -gierigen Einzelmenschen und diese wiederum auf die Auflösung einer -festgegliederten Ordnung der Gegenseitigkeit zurückführt und so die -Gemeinschaft oder Wechselwirkung feststellt, in der sich öffentliche -Zustände und inneres Leben der Individuen immerzu einander bedingend -und steigernd bewegen, hier noch einmal vernahmen. Denn die Warnung, -sofern sie nicht vor Troja, sondern vor den europäischen Völkern zu -Beginn des 17. Jahrhunderts ausgesprochen wurde, hat nichts verhütet, -hat nur vorausgekündet; der Prophet hat in den Wind gesprochen, dessen -Wehen er schon spürte, und der Wind ist zum Sturm geworden. Und wir -heutigen Tags sind an den so vorausgesagten Zustand der Auflösung, -in dem wir seit langem darin sind, derart gewöhnt, daß wir uns erst -historisch zurückversetzen müssen in eine Zeit, wo<span class="pagenum"><a name="Seite_197" id="Seite_197">[S. 197]</a></span> das, was heute -spukender, zerfetzter Rest und dabei Willkürgewalt ist, in seiner -Gesundheit, seinem Rechte und seinem Amte stand, in eine Zeit, wo Adel -und Rittertum ihre Aufgabe der Landesverteidigung und des Regiments -mit gutem Gewissen als Recht und als Pflicht betrachteten. Nichts ist -uns heute selbstverständlicher als die Forderung oder demokratische -Tatsache, daß der Bauer, der Handwerker, der Arbeitsmann seine Arbeit -und private Muße abbricht, um sich über Gesetzgebung, Verordnungen, -Verhandlungen aller Art erst zu unterrichten und dann zu beraten und -schlüssig zu machen; wir denken gar nicht daran, daß dieser Zustand, -in dem die Angelegenheiten des Gemeinwesens nicht besonders Berufenen, -Geschulten, Geübten anvertraut bleiben, sondern dem allgemeinen -Dilettantismus überlassen sind, daher kommen könnte, daß die Erben der -einst Berufenen des Vertrauens unwürdige Usurpatoren und dazu noch -Pfuscher geworden sind. Shakespeare aber lebt, äußerlich schon am -Rande, seiner Gesinnung nach noch inmitten dieser Welt der ständischen -Ordnung, so wie selbst Goethe zwar an und sogar hinter ihrem Ende, aber -für sein Wollen und Denken noch und schon wieder in ihr gelebt hat.</p> - -<p>Und in dieser Welt der ständischen Ordnung, eines Vorrechts, das nicht -ein Privileg mit dem Stempel des Unrechts, sondern ein Rang mit der -Aufgabe der Lenkung und Führung war, lebt Coriolan, im Kampf gegen die -Tendenzen der Auflösung.</p> - -<p>Sehen wir uns seine politische Ethik, seine Anschauung vom Verhältnis -der Individuen zur Gemeinschaft, von der Aufgabe des Adels zunächst an. -Und zugleich damit seine und seiner Freunde Stellung zum niedern Volk, -zu den Massen der einzelnen.</p> - -<p>Denn dies vor allem: es geht um ein Ganzes, das ist die Polis, die -Politeia, die Stadt, der Staat; die Massen aber sind einzelne, die wild -durcheinander wimmeln und<span class="pagenum"><a name="Seite_198" id="Seite_198">[S. 198]</a></span> toben und einander auffressen würden, wenn -nicht das Regiment wäre, das sie zusammenhält und einem Ziele zulenkt. -In dieser Zeit, wo das patrizische Regiment von der Auflösung bedroht -ist und sich zur Wehr setzen muß, besteht ihm die Menge aus lauter -Vertretern des Typus,</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">der nicht herrschen <em class="gesperrt">kann</em></div> - <div class="verse">Und nicht gehorchen <em class="gesperrt">will</em>.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Man kann es etwa auch so ausdrücken: die Machtgierigen, die Tyrannen -und Usurpatoren, zu denen Coriolanus keineswegs gehört, betrachten sich -als Gottähnliche, als Übermenschen; Coriolan sieht sich und die echten -Adligen als eigentliche, rechte Menschen an; die Massen, die weder -Klarheit der Einsicht noch Bestimmtheit des Willens haben, sind für ihn -Menschen wohl in ihrem Haus und Handwerk — da achtet er sie durchaus -—, aber nicht im Staat; von dem verstehen sie nichts und sollen sich -also auch nicht drum kümmern, weil sonst die Auflösung, mit ihr die -Gier und die Tyrannei der Willkür kommt. In dieser Rolle der Führenden, -Regierenden, Befehlenden, der Vormünder für Unmündige — unmündig -nur in Sachen des Gemeinwesens, das in hoher Sonderung für sich -verwaltet sein muß, nicht in die private Ökonomie und den Werkeltag -biederer Handwerker vermantscht werden darf — hat dieser Adel ein -gutes Gewissen, soll es haben, so beschwört sie Coriolan. Ordnung und -Unterordnung muß sein:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Seid ihr gelehrt,</div> - <div class="verse">Tut nicht wie blöde Toren; seid ihr’s nicht,</div> - <div class="verse">Setzt <em class="gesperrt">sie</em> [die Plebejer] auf Polstern euch zur Seit’!</div> - <div class="verse mleft12"><em class="gesperrt">Ihr</em> seid Plebejer,</div> - <div class="verse">Wenn Senatoren sie...</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Der Staat muß einheitlich sein; er muß die Macht haben, das Gute und -Rechte zu tun. Jetzt aber, wo die Patrizier den Plebejern Rechte -eingeräumt haben, sie am Staatsleben teilnehmen lassen, sieht er -Schlimmes voraus; es besteht eine</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_199" id="Seite_199">[S. 199]</a></span></p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Doppelherrschaft,</div> - <div class="verse">Wo stolz ein Teil mit Grund, frech ohne Recht</div> - <div class="verse">Der andere; wo Klugheit, Rang, Geburt</div> - <div class="verse">Nichts machen kann, als nach dem Ja und Nein</div> - <div class="verse">Des unverständ’gen Schwarms...</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Demgegenüber verfechten die Volkstribunen die modern demokratischen -Ideen; für sie ist das Ganze nichts andres als die Summe der einzelnen, -und das Staatswohl identisch mit dem Wohl der Massen.</p> - -<p>Dagegen aber empört sich gerade die Staatsgesinnung; und in der Tat, -wäre Rom — die Stadt — wäre sie Rom geworden, das gewaltige römische -Reich, das heute noch lebt in all unsern Staaten, in allen, gleichviel -wie sie heißen, wenn es zu irgend einer Zeit nur oder hauptsächlich auf -das Wohl der gerade lebenden einzelnen in den Massen angekommen wäre? -Auf diese Demokratenfrage</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Was ist die Stadt sonst als das Volk?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>erwidert darum auch der Konsul Cominius, Coriolans Freund und -Parteigenosse:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Das ist der Weg, zu schleifen unsre Stadt,</div> - <div class="verse">Das Dach herabzubringen an den Grund</div> - <div class="verse">Und alles, was noch Rang hat, zu begraben</div> - <div class="verse">In aufgehäuften Trümmern.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Nein, so empfinden sie alle, diese Ritter, Adligen, Vornehmen, nein, -das ist nicht der Zweck des Lebens, nicht die Bestimmung ihrer heiligen -Stadt, lediglich die Masse, das „Tier mit vielen Häuptern“, zu ernähren -und zu befriedigen. Sie, die Adligen, sie haben ihre besondere -Bildung, Ausbildung, Lebensart, sie haben Muße; sie bleiben für Ehe -und Nachkommenschaft streng innerhalb ihres Standes; auf den Wegen der -Natur und der Gesellschaft sind sie Auslese geworden: darum sind sie -die von Geburt Vornehmen, Ausgenommenen, privilegiert nicht zum Genuß, -sondern, wohl auch vom Genuß des Lebens her, privilegiert zu ihrer -Aufgabe.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_200" id="Seite_200">[S. 200]</a></span></p> - -<p>Was Nietzsche, von Jakob Burckhardt geleitet, in der Renaissance -— Shakespeares Zeitalter noch — gefunden hat und was er darum -und sowieso in der Form der Vermischung von Adelsordnung und -ausbrechender Willkürtyrannei brachte, das hätte er nirgends -in so reiner, vollendeter Gestalt finden können wie in diesem -aristokratisch-republikanischen Drama Shakespeares.</p> - -<p>Wohl aber zu beachten: das ist Coriolan, ist der vollendete Typus des -Adelsideals, es ist nicht, nicht ganz und gar Shakespeare. Wir haben -in dem schimmernden Ritterkönig Heinrich V. eine nach Gesinnung -und Stellung ähnliche Gestalt gesehen, der Shakespeares Bewunderung und -Wunsch freilich wohl auch am nächsten stand; aber aus Sehnsucht — für -sich und die Menschheit — baut der Dichter die Gestalten, an denen -sein Herz hängt und die uns zu Mahnern aus großer Zeit, zu Führern oder -zum Ziele auf unserm Wege zu werden vermögen; er baut damit auch an -seinem Leben, seiner Wandlung, seinem Sichfinden; was alles jedoch in -der Unendlichkeit der Vorwelt und Umwelt hat schon früher entscheidend -an ihm, dem Menschen, der so dichtet, gebaut? So lebt in Shakespeare -auch schon das Neue, die Gärung, die Zersetzung; sonst hätte er nie -einen Hamlet schreiben können, die Tragödie dieses Prinzen, der die -gesunkene und in Stücke gebrochene Ordnungswelt weder einzurenken noch -zu lenken vermag, sie aber, gleich uns andern Plebejern, drunten oder -abseits scharf und erschütternd kritisieren muß und darf.</p> - -<p>Shakespeares Kunst — o nein, das ist nicht bloß Kunst, die -unvergleichliche Größe seiner Persönlichkeit ist, daß er jedesmal in -jedem Drama um seinen Helden herum eine solche Sphäre der Sicherheit, -eine so weltweite Atmosphäre, die von seinem, dieses Helden Wesen ganz -gesättigt ist, legt, daß wir lange keinen andern Atem schöpfen als die -Luft dieses Wesens. In der Welt Coriolans vergessen wir alles, was -heutigen Tags auch noch solche Namen<span class="pagenum"><a name="Seite_201" id="Seite_201">[S. 201]</a></span> führt wie Adel, Herrenkaste, -Kriegertum, Staat; wir vergessen, daß inzwischen die Auflösung, die -Coriolan bekämpft hat, so Herr geworden ist, daß sie Besitz von allen, -auch von unsern Hirnen ergriffen hat; wir vergessen, daß heutigen Tags -die Losungen, die einstmals bindende und im Keil vorwärts führende -Wahrheit gewesen sind, wir vergessen, daß dieser herrliche Wahn -inzwischen zu Gewaltdruck, Gierverkleidung und Lüge geworden ist; -wir vergessen die Durchgangszeit, welche die unsre ist; vergessen, -daß wir so auseinandergefallen, so in Rückfall geraten sind, daß -unsre Verneinungen das einzig Positive sind, das wir haben, und daß -darum kein Staat uns mehr einen Geist, dem wir uns fügen, vorstellt, -der irgend ein Ziel gegen das Wohl der einzelnen verfolgt; wir -vergessen die Zeit und den Tag; all das Trompetengeschmetter, all der -soldatisch-kriegerische Adel jener Welt ist uns nicht eine Erinnerung -an Äußerliches, das heute in der Welt just noch ein bißchen herrschen -will und bei seinem gewaltigen Todesgetöse sich mit den heiligen -Worten und Geschmeiden längst vergangener wahrer Geltung ziert: diese -aggressive Lust ist uns ein Sinnbild alles Großen, Gebietenden, -Tapfern, Edeln in unsern Seelen, das sich inzwischen in ganz andern -Gebieten angesiedelt hat, so daß es geschehen mag, daß unser Herz bei -Coriolans Kriegsrufen jauchzt, weil dabei die Saiten mitschwingen, -auf denen wir bereit sind, tapfer in starken Tönen das Lied von der -Friedensordnung der Menschheit und der endgültigen Vernichtung aller -feudalen Reste zu spielen.</p> - -<p>So bannt uns Shakespeare in den Geist hinein, der sein Drama vom -Helden aus erfüllt, und wenn wir ganz drin sind, kann es kommen, kommt -es auch bei diesem Stück, daß irgendwo drunten eine ganz andre, eine -entgegengesetzte Gesinnung und Menschenart so erschütternd für einen -Augenblick ihre Lage und ihre Seele ausspricht, daß über all unsrer -ruhig-gesicherten Festigkeit wieder wogend die<span class="pagenum"><a name="Seite_202" id="Seite_202">[S. 202]</a></span> Allseitigkeit, die -Beidseitigkeit, der Übergang und die Auflösung zusammenschlägt. Und -sehen wir uns dann, wenn auf einen stolzen Gipfel, den der Dichter -gebaut hat, ein Gipfelchen fast mitleidig und verachtend herabblickt, -das auch dieser Dichter gebaut hat und das er auch gelten lassen -will, sehen wir uns nach diesem Dichter dann nochmals um und wollen -versuchen, den Dramatiker, der so erstaunlich gerecht zu sein vermag, -zu verstehen, so wissen wir nicht, ob wir diese Gabe harte Stärke oder -weiche Schmiegsamkeit nennen sollen; es wird eine weiche, wandelbare, -allem leicht hingegebene und von allem gefärbte Seele sein, der die -Ausdrucksgewalt eines starken Geistes dient.</p> - -<p>Einer aus dem Herrengeschlecht und der Kriegerkaste also ist der Mann, -der Coriolan heißen wird; er hat die Eigenschaften, um derentwillen er -sich und seinesgleichen als Geschlecht der Regierenden berufen fühlt, -die typischen Eigenschaften, die ihn zum Führenden bestimmen; dazu aber -noch die besonderen, die ihn zum tragischen Sturze bringen.</p> - -<p>Die Bürger und Volkstribunen, die von ihm reden, haben die -Allgemeinempfindung, daß er ihnen unerträglich zur Last sei; „er hat -der Fehler mehr als zuviel“, ruft einer, als man ihn auffordert, sie -zu nennen; er weiß ihrer keinen als immer den einen: Stolz. Das merkt -jeder gleich: stolz über die Maßen ist dieser Mann. Ja, das ist er; -aber er hat auch die nötige Ergänzung: einen Stolz, der kein Lob hören -kann, der bescheiden ist; denn den Stolz und seinen Grund hält Coriolan -für Eigenschaften jedes echten Menschen; eine Sprödigkeit hat er, die -mädchenhaft ist wie die Cordelias, der Adelstochter.</p> - -<p>Und ein andrer Bürger, der ihm wohlgesinnt ist, erwidert ein -nachdenkliches Wort:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Was ihm nun einmal so im Blut liegt, daraus macht - ihr ihm ein Laster.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_203" id="Seite_203">[S. 203]</a></span></p> - -<p><em>What he cannot help in his nature</em>...: er ist nichts -Nachträgliches, nichts Aufgeklebtes, dieser Stolz, ist kein -Zierat: er kann’s nicht ändern, es ist so seine Natur: seine -Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit. Er ist, wie er öfter von -Freunden und Bewunderern angeredet wird, „ein edles Blut“.</p> - -<p>Im Krieg, der in der Zeit des Rittertums, in der wir hier stehen, -ein anderes Ding war, als was sich heute in der Zeit der Technik so -nennt, zeigt sich sein Adel besonders. Er kann befehlen und Menschen in -Mengen in Kampf und Tod treiben, er kann die Plebejer als feige Memmen -verachten, weil er selbst jeden Augenblick, von nichts getrieben als -von seiner Tapferkeit, die ihm Natur ist, bereit ist, das Leben fürs -Vaterland zu wagen.</p> - -<p>Allein, ohne daß die Truppen ihm folgen, und ohne daß er fragt, ob sie -ihm folgen, dringt er den Feinden nach in die Festung Corioli; das Tor -wird hinter ihm geschlossen, aber er, allein unter Feinden, schlägt -sich durch und hält sich, bis die andern nachkommen. Und er ist kein -homerischer Held, an dessen Seite unsichtbar oder sichtbar in der -größten Gefahr die Götter kämpfen; kein Siegfried, der von Drachenblut -eine unverwundbare Hornhaut hat; es geht alles ganz menschlich zu: -er ist ein Held von Natur, der die Kultur und die Gesinnung seiner -Natur hat. Wenn er nicht von Zorn und Heftigkeit, die seine Erbfehler -sind, übermannt ist, hat er etwas sehr angenehm Urbanes an sich; sein -Heldentum hat gar nichts ländlich Ungeschlachtes, Raufboldiges, sein -Kämpfen steht immer mit seiner Gesinnung in Verbindung; immer lebt die -Urbs, die Stadt Rom in ihm.</p> - -<p>Wie er dann seine Soldaten in kurzer, feuriger Ansprache auffordert, -ihm in den Kampf zu folgen, da faßt er wohlgesetzt zusammen, was sein -ritterliches Wesen ausmacht. Der soll ihm folgen,</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">der glaubt,</div> - <div class="verse">Ein edler Tod wieg’ auf ein ruhmlos Leben</div> - <div class="verse">Und höher hält sein Vaterland als sich.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_204" id="Seite_204">[S. 204]</a></span></p> - -<p>Man fürchtet wohl manchmal, solche Gesinnung der Todbereitschaft, -der völligen Unterordnung der Person unter ein überindividuelles -Gebilde, unter eine Zusammenraffung, einen schimmernden Namen wie die -Nation, raube dem Menschen die Individualität und mache ihn zu einem -bloßen Teilchen. Mag sein, daß die Zeiten sich geändert haben: noch -wahrscheinlicher, daß es Ausnahmemenschen und Dutzendmenschen allezeit -gegeben hat und daß man gar wohl zwischen dem inneren Zwang, der -Freiheit ist, Freiheit nicht nur der eigenen Entscheidung, sondern auch -des Denkens, und jener kläglichen Unterordnung unter eine von Jugend -auf eingetrichterte Losung unterscheiden muß, die mit Unfähigkeit -zu eigenem Denken und eigener Entscheidung und mit Unkenntnis der -Tatsachen, mit abergläubischer Geducktheit und dem Schlendrian des -unabänderlichen Heute wie immer in genauer Verbindung steht. Coriolan -jedenfalls zieht seine tapfere Todesverachtung im Gegenteil aus -seinem stolzen, eifersüchtigen Individualismus. Ganz wirft er, wenn’s -sein soll, das Leben hin, gerade weil er, solange er lebt, auf seine -Selbständigkeit und Eigenheit bedacht ist, so sehr, daß er einen Zug -seines Wesens bezeichnet, wenn er einmal ausruft:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich wäre lieber Knecht nach meiner Art</div> - <div class="verse">Als Herr mit ihnen nach der ihren.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Aufgerufen sein, frei über sein Leben zu verfügen, kann nur der Freie. -Aber das ist ein sehr kompliziertes Verhältnis, diese Beziehung des -Individuums zur Gemeinschaft, wo man dem Ganzen nur richtig dient, -wenn man ganz ein eigenes Selbst, wenn man ein Ganzer ist; und wo man -wiederum ein Eigener nur ist, wenn man ganz in der Sache aufgeht, -unverbrüchlich sachlich ist; und sachlich heißt: hingegeben bis zur -Vernichtung.</p> - -<p>Coriolan weiß das, weiß, daß durch ihn hindurch die Sache wirkt; daß -sie aber den Weg durch ihn nur recht nimmt,<span class="pagenum"><a name="Seite_205" id="Seite_205">[S. 205]</a></span> wenn er zusammengerafft, -abgesondert, stolz er selbst ist; ist aber dann die Tat, die die Sache -gewollt und durch ihn getan hat, vorbei, will der Gedanke, das Wort, -die Lobrede sie an ihn, der das erkorene Werkzeug war, ankleben, dann -empfindet er das, als nehme man ihn nicht für voll, als halte man es -doch für eine Art Zufall, was er getan und was er am Ende auch hätte -lassen können; als rühre man seine tiefe Verbundenheit mit der Sache -auseinander; er wird rot, er läuft weg:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Eh’r lass’ ich mir den Kopf kraun an der Sonne,</div> - <div class="verse">Wenn man zum Angriff bläst, als müßig hören,</div> - <div class="verse">Wie man mein Nichts zum Wunder schwellt.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Lohn oder besondern Anteil an der Beute schlägt er aus; nichts der Art -freut ihn; das aber erquickt ihn, daß seine Tat ihm einen Namen gemacht -hat und daß er jetzt zugleich nach sich und der Sache heißt, Cajus -Marcius nicht mehr allein, sondern Cajus Marcius Coriolanus.</p> - -<p>Seine Verachtung gegen die Plebejer hängt auch zusammen mit der -Abneigung seiner Natur gegen jeden Schachersinn, jede Kleinlichkeit -und Erwerbsgier. Zumal, wenn dieser niedrige Erwerbssinn sich auf -dem Gebiet der Ritterlichkeit, im Kriege zeigt, wenn die römischen -Plebejer, als Soldaten nur wie maskiert, den Kampf unterbrechen, um -gierig Beute zu machen, bricht sein Zorn los.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Die Beute stieß er weg</div> - <div class="verse">Und sah auf Kleinodien, als wären sie</div> - <div class="verse">Verworfner Unrat. Weniger begehrt er,</div> - <div class="verse">Als Geiz selbst gäbe; Lohn genug der Tat</div> - <div class="verse">Hat er am Tun...</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Die Senatoren, der Konsul Cominius, der kluge Menenius Agrippa, sie -alle da oben sind ganz seiner Gesinnung; aber sie haben nicht seine -unnachgiebige Natur; sie sehen, wie die Zeiten sich gewandelt haben, -sehen wohl gar ein gewisses Recht auch auf der andern Seite, so sind -sie politisch, bedächtig, manchmal fast — so dünkt es ihn — feige.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_206" id="Seite_206">[S. 206]</a></span></p> - -<p>Er aber — seine Mutter sagt es, die ihn am besten kennt, weil sie ihm -am meisten gleicht —, er will und muß die soldatisch kriegerischen -Tugenden auch auf die Dinge des Friedens, der Politik übertragen; er -ist immer geradeheraus, offen, rücksichtslos:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Sein Wesen ist zu edel für die Welt,</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>meint der alte Menenius,</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Sein Herz ist auch sein Mund,</div> - <div class="verse">Was seine Brust denkt, sagt die Zung’ heraus,</div> - <div class="verse">Und aufgebracht vergißt er, daß er je</div> - <div class="verse">Den Namen Tod gehört.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Im Kampf ist er sofort der Führer, weil er eben der Vorderste ist; er -ist von Natur der Fürst, wie eins die erste Zahl ist, aus der sich -alle andern kumulieren; und wie der First das Oberste vom Haus ist, -weil er nicht drunten sein kann, so ist er der Oberst, wenn’s auf -tapfre Tat ankommt; er denkt gar nicht daran, ob man ihn auch formell -zum Feldherrn ernannt hat. So hat er im Krieg gegen die Volsker seine -Vorgesetzten und ehrt sie; wo’s aber das Einsetzen der Person gilt, -da ist er der erste, gleichviel, welchen Titel er führt und wo er zu -Anfang stand.</p> - -<p>Daß das aber so ist, daß die andern, die zu ihm gehören und -seinesgleichen sein sollten, es nicht sind, das weiß er wohl; er kann -es nicht übersehen; sachlich ist er bescheiden, unsachlich wüßte er -nicht, warum, und zeigt den ungescheutesten Stolz und Anspruch. Er -weiß, daß er der Edelste in Rom ist; er ist der echte Vertreter des -jetzt bedrohten Adels, er ist der berufene Führer der Gemeinschaft. -Gar keinen unedeln, persönlichen Trieb hat er, wenn er in großartiger -Haltung und Selbstverständlichkeit sich seiner Aufgabe nicht entziehen -und also Consul der Republik werden will.</p> - -<p>Und da fängt er an, sich selbst untreu zu werden, sich gegen seine -Natur zu vergehen. Die Situation ist so, daß seine Natur die Stellung, -die sie zu ihrem Wirken in der Welt<span class="pagenum"><a name="Seite_207" id="Seite_207">[S. 207]</a></span> braucht, nur erlangen kann, -wenn sie nicht ist, was sie ist. Für ihn, der keine Anpassung, keine -Klugheit und Berechnung kennt, gibt es den Grundsatz nicht: Der Zweck -heiligt die Mittel. Womit gesagt ist: er ist kein Politiker, wie es -sein alter Freund Menenius Agrippa, wie es auch seine starkgeistige -Mutter Volumnia ist, die es in einer andern Mischung der Gaben vermag, -hoheitsvoll und doch klug zu sein.</p> - -<p>Der Consul muß gewählt werden, und der Kandidat hat ein gewisses -Zeremoniell zu erfüllen. Unter äußerster Selbstüberwindung fügt er -sich dem Brauch, die Bürger um ihre Stimmen zu bitten, ihnen gar -seine Narben zu zeigen; denn nur der kann Consul werden in diesem -Kriegerstaat, der dem Vaterland im Krieg mit persönlicher Tapferkeit -gedient hat; und wer’s werden will, muß sich persönlich zu dem Volk -bemühen, das auch einmal etwas vom Herrentum schmecken will. Sein -Werben aber, seine Wahlreden klingen mehr wie knirschender Hohn als wie -ein demütiges Bitten.</p> - -<p>Zwei stehen ihm immerzu gegenüber, deren persönliche Berufung so -wenig wie ihre Amtsbefugnis er anzuerkennen vermag; die beiden -Volkstribunen, die der Individualisierungskünstler Shakespeare genau -so ununterscheidbar paarweise auftreten läßt, wie Rosenkranz und -Güldenstern, die Höflinge mit den deutschen Namen, im Hamlet; und beide -Male zeigt dieses Verhältnis des Einzigen zum Paarigen die Stellung -des Genies gegenüber der Herde: denn Coriolan ist ein Genie der Tat, -wie Hamlet eines der grübelnd bohrenden Phantasie; alle beide sind -Repräsentanten der Vornehmheit, der adligen Seele, die in dieser Welt -vereinsamt ist.</p> - -<p>Wie aber Hamlet bei all der Vornehmheit seiner Natur mit Polemik, -Bosheit, derbem oder stechendem Witz, hie und da sogar mit Zoten gegen -die Welt reagieren muß, so kocht es in Coriolans adliger Seele immer -über, und wenn er nach<span class="pagenum"><a name="Seite_208" id="Seite_208">[S. 208]</a></span> Rom auf die Straßen muß, läuft er mit rotem -Kopf und Zorn herum. Er ist grob und er schimpft über die Maßen. Wie -die andern Patrizier sich nur so anpassen können, begreift er nicht. Da -fehlt es in Rom an Korn, die Plebejer treten in Aufruhr und geben den -Patriziern die Schuld. Menenius Agrippa ist erfolgreich daran, sie mit -einer sinnreichen Parabel zu beruhigen; er redet dabei recht vorsichtig -und in liebevollem Ton mit ihnen, nennt sie Landsleute, Bürger, -Nachbarn, liebe Freunde; daß er freilich innerlich nicht anders über -sie denkt wie Marcius, merkt man in dem Augenblick, wo er den Schritt -des Kühnen auf dem Pflaster hört; da fängt er auf einmal an, mit Wicht -und Lumpenhund um sich zu werfen. Nicht zu leugnen, daß das der Ton -ist, auf den Cajus Marcius seit langem seinen Umgang mit den Leuten -gestimmt hat. Er fühlt sich gehaßt, und er macht es nicht wie jener -General, der nach der Besichtigung und Kritik sich von den stumm sich -verbeugenden Offizieren mit den Worten verabschiedet: „Mich auch“ — er -redet deutlicher. „Hängt sie!“ hat er sich so als Redensart angewöhnt, -wie andre „Na ja“ sagen; und im übrigen nennt er sie Hunde. Fast das -Herz will es ihm brechen, wie man, um ihren Aufruhr zu unterdrücken, -ihnen eine ihrer Hauptforderungen zugesteht und ihnen die Volkstribunen -bewilligt, die sie als Vertreter ihrer Interessen selbst wählen dürfen. -Fünf sind sie an Zahl; der kluge Dichter läßt immer nur das Paar -auftreten.</p> - -<p>Mit dieser neuen Einrichtung ist ihm das Vaterland und die alte -Verfassung entscheidend von innen bedroht. Aber wie er so herumläuft -und wütet, bekommen wir den Eindruck: gäb’s keine triftigen Gründe -für seinen Zorn, er müßte sie sich schaffen, solange sich seiner -Angriffslust kein Ziel bietet; er braucht die große Tat; der Krieg um -Corioli war darum wie eine Erlösung für ihn. Wie er nun das Vaterland -gerettet hat und als Coriolanus, mit dem<span class="pagenum"><a name="Seite_209" id="Seite_209">[S. 209]</a></span> Eichenkranz gekrönt, -zurückkehrt, da merkt auch das römische Volk, da merken selbst seine -ärgsten Feinde, daß das nicht der eigentliche Marcius war, der Mann, -der wie ein ärgerlicher Wüterich, wie ein nach Taten hungriger Wolf mit -starken Schritten zornig über ihre Straßen gegangen war. Jetzt tritt er -auf, wie einer der Volkstribunen zugestehn muß,</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Als hätt’ der Gott, sein Lenker, wer’s auch sei,</div> - <div class="verse">Sich leis’ in seine Menschheit eingeschlichen</div> - <div class="verse">Und gäb’ ihm edle Hoheit.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und wie nun das römische Volk, das von furchtbaren Ängsten befreit -ist, in ihm nicht mehr den Feind, sondern den Retter und berufenen -Führer erblickt, wie sie ihn als ihren populärsten Mann beim Einzug -umjubeln, davon, da solche Szene in ihrem innern Wert auf der Bühne -nicht sichtbar zu machen ist und da Shakespeare aus äußerlichem Theater -sich nichts macht, erhalten wir eine Beschreibung aus dem Munde des -neidischen Ärgers. Der Volkstribun berichtet:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">... Die geschwätz’ge Amme</div> - <div class="verse">In Seelentzückung läßt den Säugling schrein</div> - <div class="verse">Und schnakt von ihm; die Küchenschlampe steckt</div> - <div class="verse">Den besten Fetzen um den rußigen Hals</div> - <div class="verse">Und klettert auf den Wall, ihn zu begucken;</div> - <div class="verse">Gestopft sind Buden, Erker, Fenster; Giebel</div> - <div class="verse">Und Dach von allerlei Gestalt beritten...</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und in diesem über alles günstigen Augenblick soll Coriolan Consul -werden; der Feind draußen ist besiegt, Rom ist gesichert; nun soll, -wenn’s nach seinem Willen geht, der alte Zustand wiederhergestellt -werden, sollen die Patrizier ungeschmälert das Amt ausüben, zu dem -sie berufen sind. Der Senat versammelt sich in feierlicher Sitzung; -den Bericht über seine Taten, den der alte Consul zu erstatten hat -und der — Coriolan weiß es — eine Lobrede werden muß, kann er nicht -anhören und läuft weg; wie er dann aber wiederkommt und der Senat ihm -die einzige Ehre erweist,<span class="pagenum"><a name="Seite_210" id="Seite_210">[S. 210]</a></span> die für ihn eine ist, und ihn zum Consul -ernennt, nimmt er hochgemut an. Hier steht er vor seinesgleichen, ein -stolzer Mann, der so fröhlich sein könnte, wenn die Zeiten danach -wären; und warum soll der Senat in diesem Augenblick nicht das Rechte -tun, damit alles gut wird? Da bittet er herzhaft: ihr habt mich nun zum -Consul gemacht; die Bettelei beim Volk ist ein schnöder Brauch ohne -Bedeutung; erspart mir’s! Das, einen Brauch aufzugeben, hätte auch -in andern Zeiten schwer gehalten; jetzt aber sind die Volksvertreter -da, die ihre neue Macht zeigen wollen; der Brauch soll mit einem -Mal verhaßte Bedeutung gewinnen; der Consul soll nunmehr vom Senat -vorgeschlagen, vom Volk aber in vollem Ernst gewählt werden. So muß er -sich nicht nur dem Brauch fügen, der Brauch soll parteimäßig ausgenutzt -werden; schon organisieren und bearbeiten die Tribunen ihre Truppen und -lauern auf die Gelegenheit, ihn zu Fall zu bringen.</p> - -<p>So muß er sich, da er sein Ziel erreichen will, zu einer Komödie -bequemen, die ganz gegen seine Natur geht und für ihn Erniedrigung -ist. Er könnte es nie auch nur versuchen, wenn’s die neue Einrichtung -wäre; aber zunächst sind’s die Formen des alten Brauchs. Trüppchenweise -stehn die Bürger beisammen; jedem soll er sein Verdienst nennen -und seine Wunden weisen. Er versucht’s; es wird die sonderbarste -Bewerbung, die Rom je gesehen hat; in ihm kämpfen Wut, Lachen und -stolzes Aufbäumen. Was ihn hergebracht habe? fragt da so einer. Mein -eignes Verdienst! gibt er zur Antwort und fügt hinzu: Soll ich denn -etwa arme Leute anbetteln? Seine Wunden verspricht er zu zeigen, -wenn er mit dem einen oder andern einmal allein ist. Und dann geht -er weiter und knirscht etwas von Almosen zwischen den Zähnen. Die -Bürgersleute sind so bestürzt und stehn zugleich noch so unter dem -Eindruck seiner Rettertat, daß sie ihm — es ist ja keine Wahl -zwischen mehreren, ist ja ein Zeremoniell — die Stimmen<span class="pagenum"><a name="Seite_211" id="Seite_211">[S. 211]</a></span> eben geben; -schon darf er sich für den Consul halten; da kommen die Tribunen -dazwischen. Nichtwählen, einen andern wählen, das war nicht möglich; -diese Einrichtung, solches Volksrecht besteht nicht; aber jetzt, wo -die Bürger mit ihren Klagen kommen, wie sie behandelt wurden, läßt -sich alles noch wenden: das Staunen und die beleidigten Gefühle werden -demagogisch zur Wut zusammengeballt, werden von den alten Glatzköpfen, -den politischen Volkstribunen gegängelt; tumultuarisch protestiert -das Volk gegen die Wahl, nimmt sie zurück; und es kommt zunächst zu -dem großen Zusammenstoß zwischen Coriolan und den Tribunen. Die ganze -Aufruhrstimmung, die durch die Einsetzung der Volksvertreter und dann -durch den Krieg gedämpft worden war, lebt wieder auf, Coriolan spricht -rückhaltlos, leidenschaftlich seine Meinung, seine Absichten aus, und -keiner der klug bedenkenden Adligen tritt ihm zur Seite. Für ihn aber -geht’s nun gar nicht mehr um den neuen Konflikt; er will gründlich -Wandel schaffen, er wühlt das Alte wieder auf, die neue Einrichtung -besteht ihm nicht zu Recht, das echte Rom ist ihm in seinem edeln -Kern bedroht. Im Aufruhr sind die Tribunen eingesetzt worden; jetzt -ist bessre Zeit, ruft er auf dem Marktplatz aus, jetzt muß ihre -Macht wieder zertrümmert werden. Die Situation ist die, daß in dem -Augenblick, wo es gälte, eine sehr demagogische und in ihrem Recht -zweifelhafte, wiewohl von Coriolan herausfordernd ermöglichte Anwendung -der neuen Macht der Tribunen abzuwenden, Coriolan Öl ins Feuer gießt -und, was die Revolution errungen und der Senat bestätigt hatte, nach -siegreichem Krieg durch eine Gegenrevolution wieder abzuschaffen -vorschlägt. So sieht es aus; er aber platzt damit ganz als einzelner, -in der schwierigsten Lage, in der er schon sowieso ist, ohne Verbindung -mit seinen Standes- und Parteigenossen heraus. Er steht ganz allein; -und nun soll er auf Befehl der Volkstribunen, da er sie in ihrem Amt<span class="pagenum"><a name="Seite_212" id="Seite_212">[S. 212]</a></span> -angetastet und zum Staatsstreich aufgerufen hat, verhaftet werden, -er soll, nach dem alten Recht, als Hochverräter behandelt werden. -Freilich ist die Situation gänzlich neu, anständigerweise könnte das -alte Recht hier nicht angewandt werden; aber die Volkstribunen haben -ja die Szene mit demagogischen Künsten vorbereitet; sie haben ja -Coriolans Zorn und Heftigkeit im voraus in ihre Rechnung gestellt, -sie haben gehetzt und geschürt, und es ist noch viel besser für sie -gekommen, als sie erwarten konnten; nun wollen sie den Moment eiligst -ausnutzen: Coriolan, eben noch der Held und Retter, soll als Feind des -Vaterlands, als Volksfeind vom Tarpejischen Felsen gestürzt werden. Es -sind welche unter den Patriziern, die ganz wie er denken, die ihn im -stillen bewundern; aber keiner will jetzt den Kampf, zu dem Coriolan -mit gezogenem Schwert herausfordert; das Höchste, was sie für ihn tun -können, ist, daß sie ihm zur Flucht in sein Haus verhelfen und nun -allseitig zu begütigen, zu vermitteln versuchen.</p> - -<p>Und nun kommt es, auf einer viel höheren Stufe, in einer weit -gefährlicheren Lage, zu demselben Versuch Coriolans noch einmal, seine -Natur zu vergewaltigen. Die Mutter, die im Innern ganz zu ihm steht, -ihn bewundert und seine Gesinnung völlig teilt, eine Frau, tapfer wie -ein Mann und klug wie eine Römerin, die den Taten der Männer und ihrem -Treiben lange zugesehen hat, überredet ihn, sich zu verstellen und -gute Worte zu geben. Um der Sache willen soll er es tun. Die Szene, -in der ihr dem Festen, Geraden, Tapfern, Zornerfüllten gegenüber -diese unglaubliche und äußerste Umstimmung für den Augenblick des -Entschlusses gelingt, ist so groß, daß auch wir überzeugt werden: ja, -er darf es tun, er vergibt sich nichts.</p> - -<p>Wie baut sie sich auf, diese Szene! Coriolan hat schon mit der -Mutter geredet und ist zu seinem Staunen bei ihr auf Kummer und -Unzufriedenheit gestoßen. Jetzt kommt sie wiederum zu ihm; kaum im -Glauben, daß noch zu helfen<span class="pagenum"><a name="Seite_213" id="Seite_213">[S. 213]</a></span> sei, aber mit Entschluß gewappnet, ihr -Ganzes aufzubieten. Das ist ihr Kummer: was er toll in die Welt gerufen -hat, hätte er tun sollen, und dazu hätte er die Macht gebraucht, und -darum hätte er jetzt schweigen sollen!</p> - -<p>Und eminent reif ist, was sie dem Wilden sagt:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ihr konntet ganz der Mann sein, der Ihr seid,</div> - <div class="verse">Bei mindrem Eifer, es zu sein.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Wie es überaus klug und doch schon leicht greisenhaft drollig ist, wenn -der gute Menenius, der dazukommt, meint:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nun, nun, Ihr wart zu rauh, etwas zu rauh;</div> - <div class="verse">Kehrt um und macht es gut.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Daß die Sache besser nicht geschehen wäre, sieht Coriolan allenfalls -ein, aber es ist eben so gekommen, und er weiß nichts andres, als -sich dreinzufinden; hängt sie! Nun, wenn der Mann nur erst einsieht, -daß etwas besser hätte gemacht werden können; den Weg, es wieder -gutzumachen, wird die Frau schon finden. So geht sie einen kühnen -Schritt weiter in der Klugheit und erinnert ihn daran, wie er selbst -auf dem Gebiet seiner Meisterschaft immer gesagt habe, die Kriegslist -sei erlaubt. Warum nicht auch die List im Frieden? Und nun nimmt sie -ihn ganz als ihr Kind, das sie zu unterrichten hat, und gibt ihm genaue -Unterweisung, bis auf Gebärden und Mienen, wie er um Verzeihung zu -bitten habe. Menenius ist ganz entzückt; er kostet gern voraus, der -Psycholog und Feinschmecker; er kennt doch seine Römer; nichts macht -sie glücklicher, als wenn man bittender Weise zu ihnen spricht; und nun -gar, wenn Coriolan, der ihr Kriegsheld und ihr Schimpfheld ist, sich -vor ihnen demütigt! Coriolan steht schweigend da und kämpft den letzten -Kampf mit sich; sein Verstand ist überzeugt. Und wie dann Cominius dazu -kommt und die Gefahr schildert, und wie die andern zu dem reden, als -sei Coriolan schon gefügig, und wie Cominius zeigt, daß er an diese -Möglichkeit nie geglaubt, nie gedacht hätte, da gibt Coriolan gerade -nach; er sieht ein, er ist hier der<span class="pagenum"><a name="Seite_214" id="Seite_214">[S. 214]</a></span> Vertreter der guten Sache; damit -er tun kann, was er geredet hat, muß er seine Rede zurücknehmen.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Wohl, ich tu’s.</div> - <div class="verse">Wär’ nur dies Stück Mensch hier bedroht, der Kloß,</div> - <div class="verse">Der Marcius heißt, sie möchten mich zerreiben</div> - <div class="verse">Und in die Winde streu’n.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Aber die Sache will’s, und so preßt er sich zusammen und will das -Unmögliche vollbringen.</p> - -<p>Aber es graut uns, wenn wir mit ansehen, was es ihn kostet, wie er sich -quält und sich krümmt und sich beschimpft und im ehrlichen Versuch, das -Allerschwerste einzustudieren, fast groteske Gesichter schneidet; wie -er schließlich nur noch als folgsames Kind zur Mutter redet:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Sei ruhig, Mutter.</div> - <div class="verse">Ich geh’ schon auf den Markt; schilt nicht mehr, Mutter.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und nun, in schneidendster Kürze die furchtbare Wendung. Wie hat sie -bitten, beschwören, begründen können, wie hat sie die ganze Autorität -einer römischen Mutter geltend gemacht, solange er ungebärdig vor ihr -stand, als einer, der die große Sache seines Lebens verdorben hatte, -so daß sie nichts mehr vor sich sah als dies eine Mittel. Schimpfliche -Verstellung und Demütigung für einen Augenblick; nun sei’s drum! Der -Verstand ist so gern bereit, zum Letzten hinzustreben und aus einem -Berg, der dazwischen trotzt, eine Stufe zu machen. Aber jetzt, wo er -ganz nachgibt und gar nicht mehr widerstrebt, empfindet sie ein solches -Leid in ihm, daß sie innerlich zusammenbricht und an alles nicht mehr -glaubt, was sie gesagt hat. Sie kennt doch ihren Sohn! Weiß, wie es -ist, wie es wird, wenn er sich Gewalt antut. Sie kann nichts mehr -sagen: „Tu, was du willst“, bringt sie noch heraus und geht.</p> - -<p>Sie sieht in der Einsamkeit, in die sie sich zurückzieht, gewiß voraus, -was nun auf dem Marktplatz der Männer vor sich geht. Inzwischen haben -die Volkstribunen nicht geruht, haben die Zünfte organisiert, um -ihren nun<span class="pagenum"><a name="Seite_215" id="Seite_215">[S. 215]</a></span> bevorstehenden endgültigen Richterspruch zu einmütiger -Annahme und sofortiger Vollstreckung zu bringen. Es soll Coriolan, -dem Volksverächter, den Hals kosten, und das Mittel, jede freundliche -Wendung zu verhindern, kennen die Gewitzten: ihr Feind hat dafür -gesorgt, daß seine schwache Stelle nicht unbekannt blieb:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Reizt ihn sogleich zum Zorn...</div> - <div class="verse mleft5">... Braust er erst auf,</div> - <div class="verse">So bringt ihn nichts zur Mäßigung.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Coriolan kommt, von den Getreuen geleitet; sehr unruhig redet Menenius -immer auf ihn ein, vor allem ruhig zu sein. Er kommt denn auch ganz -in der beschlossenen Haltung sanfter Nachgiebigkeit. Wenn nur der -wohlmeinende alte Menenius, um’s vollends gutzumachen, nicht anfinge, -von seinen Heldentaten und Wunden zu den Bürgern zu reden! Da kommt -doch sofort der Zorn wieder über ihn; vor denen da, jetzt, davon -Rühmens machen! Wenn nur überhaupt Augen und Ohren nicht wären! Aber -was nützt aller Vorsatz des Verstandes, wenn diese Volkstribunen auf -seine Sinne wirken, wenn er sie nicht riechen kann? Und schon richtet -er sich auf und stellt sie zur Rede: Was? ihn erst zum Consul wählen -und ihm dann das Amt nehmen? Das ist aber nur ein Augenblick des -Vergessens; sowie ihm bedeutet wird, er habe jetzt Rede zu stehen, fügt -er sich wieder in die vorgesetzte Rolle. Und so beginnt die Anklage -gegen ihn; und er hört das Wort Verräter. Da geht es ihm genau wie -Sir Launcelot in Malorys englischem Artusroman; wie hat der seinen -König schonen und sogar feig scheinen können, der Held; aber sowie -er das Wort Verräter hört, muß er sich wappnen und kämpfen. Coriolan -wollte mild, versöhnlich, bittender Weise reden; aber nun ist’s aus. -Er hat sich ja nicht vorgestellt, wie es sein wird. Sagen hätte er -schließlich alles gekonnt, sich selber zwingen; aber mit anhören, sich -gefallen lassen? Ein Edler geht, ohne Fesseln, freiwillig, in Ruhe und -Fügsamkeit zum Schaffot; aber<span class="pagenum"><a name="Seite_216" id="Seite_216">[S. 216]</a></span> wenn ihm der Henker die Hand auf die -Schulter legt, zuckt er. Jetzt schreit Coriolan alles, alles hinaus; -und die Erinnerung an das Versprechen, das er der Mutter gegeben hat, -hilft nun nichts mehr. Das Wort Verräter in den Ohren zu haben, diese -Gesellen als Richter vor sich zu haben, reißt alle Dämme ein; er bricht -aufs furchtbarste los:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Ich will nichts weiter wissen.</div> - <div class="verse">Ihr Urteil sei Tod vom Tarpejischen Felsen,</div> - <div class="verse">Landflüchtig Elend, Schinden, Qual im Kerker,</div> - <div class="verse">Bei einem Korn des Tags, — nicht wollt’ ich mir</div> - <div class="verse">Erkaufen ihre Gnade um ein gut Wort</div> - <div class="verse">Noch hemmen meinen Trotz um all ihr Gut,</div> - <div class="verse">Kriegt ich’s um einen Gruß zum guten Morgen.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Nein, er ist nicht der Mann dazu, jetzt ist nicht die Zeit dazu, -planvoll zu leben; es gilt nur der Augenblick. Wer ein Ganzer ist, kann -nicht an der einen Stelle einen Lenker, einen Vergewaltiger haben, -der den andern in ihm mit Prinzipien und Vorsätzen beim Kragen nimmt -und vorwärts schiebt. Das Vaterland ist zerrissen; nicht mehr ein -einiger Stand herrscht, sondern Parteien mit ihrem Geschwätz ringen -mit einander. Er allein ist noch ein Ganzer; er ist allein: ihn, den -man Verräter zu nennen wagt, hat man verraten, als man dem Aufruhr -nachgegeben hat.</p> - -<p>So wird ihm denn das Urteil gesprochen, diesmal nicht tobend gebrüllt, -sondern in politischer Erwägung vorbereitet: Verbannung. Er aber -steht, fortgerissen vom Zorn, von einem Zorn aber, der in nichts aus -den Gierwünschen einer Person, der nur aus einer Gesinnung hervorgeht, -fortgerissen und unerschüttert da. Bei diesem Anblick, empfinde ich, -geht es uns gar nicht mehr um den großen geschichtlichen Moment, um -den entscheidenden politischen Gegensatz, noch weniger um politische -Analogien zwischen damals und heute, die falsch wären; es geht um den -ewigen Streit der vereinzelten tapfern Hoheit gegen die massenhafte -Niedrigkeit, der so alt ist wie die Welt steht. Unser<span class="pagenum"><a name="Seite_217" id="Seite_217">[S. 217]</a></span> Herz jauchzt -bei seiner herrlich kühnen Antwort, wir begreifen wie zum ersten Mal, -daß für gewisse Augenblicke der liebe Gott unsrer Zunge die Fülle -der Schimpfworte, die zugleich zorniger Angriff und humoristisches -Spiel, Ausgleichung der Tat und Gleichnis des Geistes sind, zur -Entladung gegeben hat, wir sind dankbar, daß Shakespeares Sprache diese -Barocküppigkeit der alles überschwemmenden Flut zur Verfügung hat; denn -dieser Katarakt Coriolans kommt doch aus einer tieferen Seelenfülle als -das Wasserleitungsplatzen des Badearztes Stockmann, des Volksfeindes -Ibsens; sie haben den Bann über ihn ausgesprochen und nun biegt er sich -langgereckt zu ihnen vor und spricht:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ihr bellend Hundepack! des Hauch ich hasse</div> - <div class="verse">Wie fauler Moore Stank,...</div> - <div class="verse mleft8">ich verbann’ euch!</div> - <div class="verse"><em class="gesperrt">Hier bleibt</em> mit eurem zagen Hin und Her!</div> - <div class="verse">Beim leisesten Gerücht beb’ euer Herz!...</div> - <div class="verse mleft6">Bleib euch nur stets die Macht,</div> - <div class="verse">Den, der euch schirmt, zu bannen, bis zuletzt</div> - <div class="verse">Euer stumpfer Sinn, der nicht glaubt, bis er fühlt,</div> - <div class="verse">Nicht einen übrig läßt als nur euch selbst,</div> - <div class="verse">Die eure eignen Feinde!...</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Rom, dieses Rom, ist in sich selbst gebannt; Coriolan hat das Gefühl, -nur das, was ist, ausgesprochen zu haben; und er, der einzige, der -zum echten Rom steht, um das zu leben es sich lohnt, wandert nun in -die Fremde. Er geht, und sie jauchzen hinter ihm her: Der Volksfeind -ist fort, ist fort! Verbannt haben wir unsern Feind, er ist fort! Die -Mützen fliegen in die Höhe; daß sie vor kurzem ihm als dem Befreier aus -höchster Not zugejubelt haben, wissen sie nicht mehr.</p> - -<p>Shakespeare wäre aber nicht Shakespeare, wenn wir das Verhältnis der -Patrizier zu den Plebejern nur von dieser einen Seite kennen lernten, -nur so, wie der Repräsentant<span class="pagenum"><a name="Seite_218" id="Seite_218">[S. 218]</a></span> des Patriziats, der Patrizier, wie sie -sein sollten, es auffaßt. Wohl steht der Held auch für die innere -Handlung in der Mitte; von ihm aus sind die Vorgänge gesehen, die -Geschehnisse und die Gestalten gruppiert, von ihm aus die Stimmung und -Sympathie gewoben; dann aber zuckt unten aus dem Dunkel der namenlosen -Menge einmal ein Licht auf, und wir sehen in andrer Beleuchtung die -Dinge, die Coriolan nicht sieht, und hören die uralte Klage der Armen. -Unter den Aufrührern will einer eine Rede halten und hebt zu den -Plebejern an: „Ein Wort, gute Bürger“, da ruft einer aus der Menge -grell dazwischen: „Wir gelten für arme Bürger, die Patrizier für gute!“ -Reichtum macht gut! Und die da droben wissen es auch gar wohl: unsere -Armut brauchen sie nicht bloß, weil sie Überfluß brauchen; sie brauchen -sie als Gegenstück, um ihres Selbstbewußtseins willen; sie haben die -Distanz nötig. Wären sie grade so reich, wie sie jetzt sind, gäbe es -aber dabei uns Arme nicht, was hätten sie dann von ihrem Reichtum?</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>„Die Magerkeit, die uns drückt, das Bild unsres Elends ist für sie -ein Inventarium aller einzelnen Stücke ihres Überflusses; unser -Leiden ist ein Gewinn für sie.“</p></div> - -<p>Was das Opfer leidet, das ist der Gewinn und die Wonne der andern — -haben wir so etwas nicht schon einmal, in ganz anderm Zusammenhang -gehört? Ist das nicht der gerade in der Barockdichtung, wo das feste -Dogma seelenhaft spielerisch von der Empfindung umrankt und umjauchzt -wird, immer wiederkehrende Ausdruck für die Heilswahrheit des -Christentums? Sind nicht die Armen dieses Opferlamm und ihr Blut und -Wunden ein Hochgewinn für die Reichen?</p> - -<p>Aber auch abgesehen von so abgründlich feiner Psychologie, die mit -einem raschen Griff das letzte Geheimnis des Privilegs entblößt, kommen -die rein sozialen Klagen der Unterdrückten so stark heraus, daß wir -wieder einmal merken: so ein Dramatiker sieht und empfindet zweiseitig; -würde<span class="pagenum"><a name="Seite_219" id="Seite_219">[S. 219]</a></span> er von allem Anfang an und immer Licht und Schatten gerecht -verteilen, so wäre es nicht im entferntesten so berückend als wie -er’s macht: mit ganzer Inbrunst, wie ein tief Befangener, der einen -Seite verschrieben, und dann, mit einem Mal, und nur immer für einen -Augenblick, drüben, drunten, bei den andern.</p> - -<p>Als Menenius Agrippa die Plebejer besänftigt und ihnen sagt, wie -wohlwollend die Patrizier Sorge für sie tragen, da erwidert einer -aus dem Volk in Worten, — nun, der Zensor behütet uns heute davor, -entsprechende zu lesen oder zu vernehmen:</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>„Für uns Sorge tragen! — Ja, fürwahr! — Sie haben noch niemals -für uns gesorgt: sie leiden es, daß wir verhungern, wenn ihre -Speicher vollgepfropft sind von Getreide; geben Gesetze wegen des -Wuchers, mit denen sie den Wucherern auf die Sprünge helfen; heben -täglich eine heilsame Einrichtung gegen die Reichen auf und setzen -täglich mehr lästige Verordnungen fest, um die Armen zu fesseln und -zu hemmen. Wenn uns der Krieg nicht aufzehrt, so werden sie’s tun. -— Und das ist die ganze Liebe, die sie für uns haben.“</p></div> - -<p>Ich weiß, was ich tue, wenn ich immer wieder den Blick von der Sache -selbst auf ihren Urheber, wenn ich ihn hier von der Tragödie Coriolans -auf ihren Dichter ablenke; denn ich möchte dieses mein Staunen auf -alle, die mich hören, übertragen: woher hat der Unergründliche das -alles gewußt? Über Rom wie über unsre Zustände verrät er uns Dinge, -enthüllt er uns verborgene Zusammenhänge, die wir erst seit, erst im -Gefolge der französischen Revolution zu wissen anfangen. Und wenn -zum Beispiel Mommsen imstande war, uns ein Bild der Kämpfe zwischen -Patriziern und Plebejern zu geben, das eine gewisse Farbigkeit, -Lebendigkeit und Glaubhaftigkeit hat, so haben ihn eben die Kämpfe -der modernen Demokratie dazu in Stand gesetzt; für diesen Anblick hat -er aber ein gehöriges<span class="pagenum"><a name="Seite_220" id="Seite_220">[S. 220]</a></span> Lösegeld zahlen müssen: für das Wesentliche, -eben für das, was Shakespeare als Tragödie dargestellt hat, hat er -keinen Blick gehabt: er hat nicht gewußt, daß der Kriegs- und Adels- -und Herrschergeist einmal ein Amt, eine Aufgabe, eine Würde und eine -Hoheit gehabt hat; er hat die hohe Sendung, den seelischen Rang und das -gute Gewissen dieser ritterlichen Zeiten nicht gekannt; und so hat er -gräßlich banal von dem Kampf Coriolans in seiner Vaterstadt und gegen -sie liberalisierend gemeint, diese Geschichte öffne den Einblick „in -die tiefe sittliche und politische Schändlichkeit dieser ständischen -Kämpfe“. Das ist, wie wenn man das Rittertum nach den Raubrittern, -den Raubritter Götz nach dem Schinderhannes und den Schinderhannes -nach irgend einem Dutzendmenschen aus unsrer großstädtischen -Verbrecherklasse beurteilen wollte. Jakob Burckhardt und Nietzsche -haben kommen müssen, um den Zusammenhang zwischen der politischen und -sozialen und der Geistesgeschichte erst wieder herzustellen. Was sie -aber aus der Betrachtung der Renaissance, indem sie Kunst, Geist, -privates und öffentliches Leben zusammen nahmen, gelernt haben, das hat -Shakespeare der Renaissancemensch lebendig gewußt: daß, was heutigen -Tags — auch für ihn schon genugsam heutigen Tags — in Verfall und -Entwürdigung Rest, Gespenst und Schmach ist, einst groß, würdig, -geweiht und notwendig war.</p> - -<p>In der ganzen modernen Geschichte weiß ich keinen, der Shakespeares -Coriolan in dem tiefen Grunde, wo das Wesen sich aus dem Elementaren -aufbaut, so nah käme wie ein Mann, der einer der größten Revolutionäre -aller Zeiten war, der Vertreter der Plebejer, obwohl ein Mann des Adels -in jeder Hinsicht, der Graf Mirabeau, der tolle leidenschaftliche -Feuerkopf, der doch zugleich — wie Coriolan der größte Soldat — so -er der größte Politiker seines Volkes ist. Von äußerlichen Analogien -stimmt nichts; die Zeiten und die Lagerung der sozialen und der -psychischen Schichten<span class="pagenum"><a name="Seite_221" id="Seite_221">[S. 221]</a></span> zu einander haben sich geändert; die Ähnlichkeit -liegt im elementar Wesentlichen: eine Leidenschaft so starker Art, wie -sie sonst den Menschen verzerrt und verzettelt; hier aber der Ausdruck -nur der unabänderlichen Festigkeit eines Kernes; ein Temperament, wie -es sonst die persönlich Gierigen haben, hier aber Sprache und Gewand -der Gesinnung und Sachlichkeit. Die entgegengesetzte Stellung, die die -beiden zu haben scheinen, darf uns gar nicht täuschen: schon dieses -Coriolan nächster Bruder, Shakespeares Cassius, hat sich in einen -Revolutionär und zugleich Politiker gewandelt. Alle drei, Coriolan, -Cassius und Mirabeau sind innerlich und in der explosiven Art ihrer -Äußerung geeint: sie gehören, wie Mirabeau es einmal ausdrückt, -zu den „starken Seelen, welche die Freiheit im Naturzustand wild -und im zivilisierten stolz macht“, und immer wieder kommt es zu -solchen Gegensätzen ihrer stolzen Natur zur Umgebung, daß sie in den -Naturzustand zurückfallen und wild werden. Und die beiden, die hier -zusammengestellt werden, Coriolan und Mirabeau, gehen doch auch in -ihren äußeren Schicksalen einen guten Schritt zusammen; nicht bloß -die großen Menschen, auch die Zeiten und die politischen und sozialen -Zustände ändern zwar die Gewänder und Masken, bleiben sich im Kern aber -gleich. Auch Mirabeau, abgesehen davon, daß er als tief Unsittlicher -gilt — die Heuchelei und Verbannung auf <em class="gesperrt">diesem</em> Gebiet ist -eine moderne Neuerung —, und daß von seiner Nötigung, die unbändige -Kraft der Seele und des Leibes in Geschlecht und Erotik zu üben und -zu verschwenden, Coriolan, der Sohn einer keuschen und harten Welt, -keinen Zug hat, auch Mirabeau ist bis auf den heutigen Tag, gerade bei -denen, deren politischer Führer er heute noch sein müßte, als Landes- -und Volksverräter, als Verräter seiner Sache in Acht und Bann getan wie -Coriolan.</p> - -<p>Nun aber geht die Parallele nicht weiter, denn Coriolan erlebte seine -Verbannung und sollte weiter leben. Er war<span class="pagenum"><a name="Seite_222" id="Seite_222">[S. 222]</a></span> ein politischer Feind der -Zustände, die die Plebejer durch Aufruhr ertrotzt und die Patrizier -in Nachgiebigkeit zugestanden hatten; er stand allein zwischen den -Parteien, niemand wagte es, in diesem Augenblick ihm zur Seite zu -treten und den Kampf aufzunehmen; und so benutzten seine Todfeinde, die -Volkstribunen, ihre Macht und verwiesen ihn als Verräter des Landes. -Nun aber, nach seiner Verbannung, macht er sich äußerlich ohne Zweifel -wirklich zum Verräter, zum Feind seines Landes. Wie zeigt ihn uns -Shakespeare in dieser Situation? Warum geht er zu den Volskern und -zieht mit ihnen kriegerisch vor die Tore Roms?</p> - -<p>Wenn dieser Mann Coriolan sein Leben überblickt, dann war es seit -langen Jahren immer so, daß er zwei Feinde hatte, mit deren einem er in -einer Gemeinschaft des Zorns und Ekels zusammen wohnen mußte, während -er den andern ritterlich auf Tod und Leben bekämpfte. Für die Idee -Roms hat er dies beides getan: mit den zufälligen, in mannigfacher -Abstufung erbärmlichen Menschenexemplaren, die sich Römer nannten, -nicht bloß zusammengehaust, sondern sie immer wieder geführt und fast -gewalttätig mit seinem kriegerischen Feuer erfüllt und in den Kampf -getrieben, in den Kampf eben gegen Tullus Aufidius und seine Mannen. -Den aber, Tullus Aufidius, den Feldherrn der Volsker, darf er achten, -indem er mit ihm ficht, er sieht ihn als einen Ebenbürtigen, als -den Ebenbürtigen an, als seinen Zweiten in der Welt; sie gehören zu -feindlichen Völkern und stehn im Wettstreit um den Heldenruhm: ihrer -Natur nach Zusammengehörige, die von den Verhältnissen zur Feindschaft -bestimmt sind; Coriolan und die Bewohner Roms sind ihrer Natur nach -tief Getrennte, die von den Verhältnissen zum Zusammenhalten bestimmt -sind. Nun sind diese Bande zerrissen worden, von den Römern selbst; und -ihre Verbindung mit der Idee Roms, die nur durch Coriolan geschlossen -wurde, in dem sie verkörpert ist, haben sie auch gesprengt.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_223" id="Seite_223">[S. 223]</a></span></p> - -<p>Tief drunten, in Coriolans innerster Notwendigkeit also ruht der -Seelenzwang, um der Idee Roms willen Krieg zu führen gegen die Römer. -Aber Menschen von Coriolans Art, die sich so stolz auf sich selber -verlassen und so aus dem Grunde leben, in denen alles Geistige zur -Natur und wie zum Trieb geworden ist, leben ihr Leben, sie leben -nicht ihre Motive. Sie handeln nicht nach Prinzipien, mit Plänen, zu -Zielen; sie stehen im Augenblick. Daß er für Rom kämpft, wo er auch -kämpft, ob er auch gegen die Römer kämpft, das weiß der Zornige jetzt -nicht. Er weiß nur, daß Rom ihn ausgestoßen hat, daß Rom sein Feind -ist, gegen den er äußersten Krieg zu führen hat, und daß einer, den -er achtet, einer seinesgleichen gerade schon wieder angefangen hat, -den kaum erloschenen Krieg gegen Rom aufzunehmen. Die Römer haben -ihren Feldherrn vertrieben, obwohl der große Feldherr Tullus Aufidius -ihnen droht; nun sollen sie sehen, diese führerlose Herde, wie sie -allein fertig werden, wenn zwei Helden gegen sie anrücken. Coriolan -ist mit den Wurzeln aus seinem Boden gerissen worden; da er voller -Kraft und Zorn und Leben ist, bleibt nur übrig, zu sterben oder diesem -Leben einen neuen Sinn zu schaffen. Seine Stadt hat mit ihm Ehre und -Ruhm verstoßen und hat das Regiment den Krämern, den Pfuschern und -Neidlingen ausgeliefert; er geht zu Roms Feind, zu Tullus Aufidius. -Rache muß geübt werden; die, die ihn strafen und vernichten wollten, -müssen gestraft und unschädlich gemacht werden; daran hängt jetzt sein -Leben, daß er über die triumphiert, die ihn wie einen räudigen Hund -fortgejagt haben — die Hunde! hängt sie! —, daß er als Sieger Rom zu -seinen Füßen sieht.</p> - -<p>Es gibt eine schöne Erzählung von Aaron Bernstein, die von dem -Schicksal eines starken, heldischen Jünglings in der jüdischen Enge -eines Landstädtchens berichtet. Da kommt ein wohlweiser Schwätzer vor, -der gern zu allem seine talmudisch zugespitzten Sprüchlein macht; und -in<span class="pagenum"><a name="Seite_224" id="Seite_224">[S. 224]</a></span> einer bestimmten Situation gibt er seinem Publikum das Rätsel -auf: Warum ist Mendel Gibbor, der starke Mendel, so traurig? Aber -siehe da, wie der Starke sich wieder sehen läßt, ist er wider Erwarten -gar nicht traurig: es ist fast so etwas wie Lustigkeit in ihm; diese -starken Naturen sind unberechenbar. So ähnlich könnte es uns gehn, -wenn wir jetzt Coriolan nach allem, was wir gesehen und über seine -Verfassung und Lage gesagt haben, nach der Ausstoßung beim Abschied -von der Mutter, der Frau, den Freunden sehen. Er ist gar nicht zornig, -der Zornige! Irgendwo in ihm ruht der Zorn und nährt sich; was in die -Erscheinung tritt, ist gefaßte Gemächlichkeit und liebevoller Trost -an die Teilnehmenden! Er hat sich ausgetobt und ist ruhig, mit einem -liebenswürdigen Anflug von Humor; und vor allem: wie kann er zornig -sein, da es nun seine Mutter an seiner Statt ist und da er überdies -den Schmerz seines zarten, zagen Weibes sieht! Mutter Volumnia weiß -gar nichts mehr davon, daß sie je mit ihrem Sohn unzufrieden war; es -ist alles so gekommen, wie es ihre Klugheit widerraten, wie es eine -tiefere Stimme in ihr aber unabweisbar vorhergesagt hat. Ihr ganzer -Zorn gilt denen, die ihren edeln Sohn, auf den sie nie so stolz war, -wie in diesem Augenblick, vertreiben. Coriolan hat nichts zu tun, als -sie zu beruhigen. Für sich braucht er nichts mehr, keinen Zuspruch, -keine Hilfe, kein Wüten und vor allem keine Begleitung. Er ist ganz -gefaßt; etwas in ihm hat schon den Entschluß gefaßt. Daß er frische, -ungebrochene Kraft in sich spürt, spricht er aus; und im übrigen:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Solang ich atm’ in dieser Welt, sollt ihr</div> - <div class="verse">Stets von mir hören, und nie andrer Art,</div> - <div class="verse">Als je mir eigen war.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Wie er aber nun weg ist, wie die beiden Frauen durch die Straßen -Roms zurückgehen, und die beiden Tribunen ihnen, sehr gegen ihren -Willen, in die Arme laufen, da wird auch Virginia, Coriolans stilles, -ängstlich-schüchternes<span class="pagenum"><a name="Seite_225" id="Seite_225">[S. 225]</a></span> Weib, tapfer; den armen zurückgelassenen Frauen -bleibt nichts als die Zunge; aber mit ihren leidenschaftlichen Worten -und Wünschen sagen sie triumphierend voraus, was dann geschieht: daß -Coriolan mit dem Schwert in der Hand seine römischen Feinde zu strafen -kommt. Wie anders wird diesen Frauen die Wirklichkeit aussehen als ihr -Wunsch! Sie können nur ohnmächtig und ohne Vorstellungskraft wünschen, -Coriolans Feinde möchten gestraft werden; er aber wird’s tun, auf dem -Wege, den die Wirklichkeit bietet, auf keinem andern; und mehr und -mehr wird auch der Zorn, der jetzt noch schlummert, in ihm gegen die -erwachen und wachsen, die hätten mannhaft zu ihm stehen sollen und ihn -allein gelassen haben.</p> - -<p>Als armer Mann verkleidet tritt er in Antium in das Haus seines -Todfeindes Aufidius. Jeder Einwohner dieser Stadt hat Grund, ihn -niederzuschlagen. Aber er fürchtet nichts; alle Gefühle hat er tief -drunten geborgen, oben in ihm lebt nur die Verwunderung über diese -seltsame Welt und ihre Wandlungen:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Ich hasse meine Wiege, liebe nun</div> - <div class="verse">Die Feindesstadt!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Für ihn gibt’s nun nichts zu tun; es ist fast, als ob bloß sein Körper -da wäre; nachdem er seinen Entschluß, es zu wagen, gefaßt hat, ist -alles Tullus Aufidius anheimgegeben; er selber ist in der Sache nichts -weiter wert. Schlägt der ihn gleich nieder, so hat er recht; kann er im -Vaterlandsfeind aber den Ebenbürtigen erkennen, ist da in Antium eine -solche Stätte des Adels und des verstehenden Edelmuts, daß Platz für -zwei solche Gleiche ist, dann ist er, wo er jetzt hingehört: dann dient -er entschlossen den Volskern gegen Rom.</p> - -<p>Einen Gentleman, einen Adelsmann nennt er sich, wie der Diener den -Zerlumpten fragt, wer er sei; und es ist so, wie der Diener höhnisch -hinzufügt: „aber ein armer“! Auch in Lumpen ein Adliger, auch als -Landesverräter ein Ritter, das ist Coriolan.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_226" id="Seite_226">[S. 226]</a></span></p> - -<p>Und dann steht er dem Feind gegenüber und offenbart sich ihm kühn. -In diesem Augenblick kommt, für uns wie für ihn, zum ersten Mal klar -heraus, was ihn über diese Schwelle gebracht hat: er spielt <em>Va -banque</em>. Irgendwie weiterleben und warten, bis die etwa da drinnen -in Rom sich anders besinnen und ihn gnädig zurückberufen, das kann er -nicht. Entweder — oder. Entweder ist Tullus Aufidius zu dem Großen, -Herrlichen imstande, dessen er sich von ihm versieht; dann auf zur -Rache! Oder er, der Heimatlose, ist allein und waffenlos in die Stadt, -in das Lager, in das Haus des Todfeinds gegangen: dann hat er den Tod -gefunden, den er sucht.</p> - -<p>Der Römer bietet sich dem Feinde seines Vaterlands als Bundesgenossen -an: Coriolan übt Verrat! Die Worte klingen, als bezeichneten sie -eine ärgste, eine viel schlimmere Vergewaltigung des Edlen gegen -sich selbst, als er sie früher zweimal versucht hat; zuerst, als er -Consul werden wollte, das war fast harmlos gegen das Zweite, das sich -daraus ergab, den furchtbar gescheiterten Versuch, den reuigen Sünder -vorzustellen und Verachteten Achtung vorzumachen. Das hat ihn in die -Verbannung getrieben; ist er jetzt bei der dritten, der äußersten -Gewalttat gegen sich selbst? Sicher ist, damals litt er gräßlich -darunter, daß er sich anders geben sollte, als er ist; jetzt ist er -seinem eignen Gefühl von sich selbst nach in höchster Lust mit sich -eins. Das offenbart sich uns in der Ruhe, der Größe, der Freiheit -seiner Rede. Wer so dasteht, wie der Mann in diesem Moment, und sich -Aug in Auge dem Tode stellt, wer Tage und Nächte einsam gewandert -ist, mit keinem andern Gedanken als diesem Ziele zu, vor dem er jetzt -steht, dem ist Rom, Vaterland und alles, was Namen führt, wie Kleid und -Schuppen abgefallen, er steht nackt da in der Natur seines Heldentums -und seiner ungebrochenen Kampflust, als einer, der voller Leben ist und -zu sterben bereit ist. Ja, in diesem Augenblick lebt kein Rom in ihm, -hat<span class="pagenum"><a name="Seite_227" id="Seite_227">[S. 227]</a></span> keine Mutter ihn geboren; er hat kein Vaterland, ist losgelöst von -allem, wovon der Mensch sich nur freimachen kann, ohne aufzuhören, er -selbst zu sein; und wüßten wir das nur, daß alles andre als eines, dem -wir uns ergeben, in jedem Augenblick frei von uns gewählt und ergriffen -wird, wie viel inniger, wie viel mehr wir selbst würden wir unsrer -Sache uns hingeben! Er hat nur noch dies eine: seine heldische Natur; -ein Schwert hat er und weiß einen Feind. So steht er vor dem Mann, der -ihm zum Tod oder zu seiner allein noch gebliebenen Bestimmung helfen -soll, und spricht:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">Nicht in der Hoffnung,</div> - <div class="verse">— Verkenn mich nicht — mein Leben zu erhalten;</div> - <div class="verse">Scheut’ ich den Tod, wohl keinen in der Welt</div> - <div class="verse">Hätt’ ich geflohn wie dich; nein, bloß aus Trotz,</div> - <div class="verse">Um völlig quitt zu sein mit den Verbannern,</div> - <div class="verse">Steh’ ich vor dir nun da...</div> - <div class="verse mleft8">Denn — ich kämpfe gegen</div> - <div class="verse">Mein krankes Vaterland mit der Erbittrung</div> - <div class="verse">Von allen Höllengeistern. Doch wofern</div> - <div class="verse">Du es nicht wagst und, mehr das Glück zu proben,</div> - <div class="verse">Satt bist, so hör’s mit einem Wort: auch ich</div> - <div class="verse">Bin fortzuleben herzlich müd und biete</div> - <div class="verse">Die Kehle dir und deinem alten Grimm...</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Man braucht gar noch nicht in Betracht zu ziehen, daß Aufidius und sein -Volk ein hohes Interesse daran haben, ihren furchtbaren Feind in ihren -Dienst zu ziehen, Roms Helden und den Führer der gekränkten und auf -ihre Stunde harrenden Adelspartei als Feldherrn im Kampf gegen Rom zu -gewinnen; all solche Erwägungen kommen später entscheidend zur Geltung; -für jetzt ist Aufidius von diesem tragischen Geschick und dieser -tragischen Größe menschlich erschüttert:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">Mein Marcius —</div> - <div class="verse mleft11">bricht er aus —</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_228" id="Seite_228">[S. 228]</a></span> - <div class="verse">Und hätten wir nichts gegen Rom, als daß</div> - <div class="verse">Es dich verbannt, wir wollten alle mustern</div> - <div class="verse">Vom zwölften Jahr zum siebzigsten und wütend</div> - <div class="verse">Ins tiefste Mark des undankbaren Roms</div> - <div class="verse">Wie kühne Flut einbrechen.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Wie wäre es gegangen, wenn nicht die hohe Erschütterung, wenn die -niedrigen Elemente die Entscheidung hätten treffen sollen und wider -einander gestritten hätten: kluge Politik und eingefressener Haß? -Keine leichte Wahl; und so sind denn auch diesmal die Interesse- und -Haßpolitiker in Rom, die beiden Volkstribunen beim ersten Eintreffen -der Nachricht nicht gleich einig. Der eine meint: sehr wahrscheinlich; -das leuchtet ihm erschrecklich ein; der andre aber glaubt’s nicht; er -glaubt nicht daran, daß die Klugheit über den Haß gesiegt habe:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Er und Aufidius sind nicht mehr versöhnbar,</div> - <div class="verse">Als wie der ungeheu’rste Widerspruch.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Was da in Antium zwischen den beiden Helden vorging, war nicht das -Wahrscheinliche, wie die Niedrigkeit nachrechnete, und war nicht das -Unmögliche, das die andere Niedrigkeit aus dem eigenen Hasse erschloß; -es war das Überwältigende.</p> - -<p>Und schon kommt Coriolan wie ein Wetterstrahl schnell und zündend -bis vor die Tore Roms, ganz in Rache eingehüllt, er weiß von nichts -anderm mehr, hat keinen Gedanken, kein Ziel, keine Vorstellung des -Nachher; „eine Art von Nichts“ nennt er sich, und damit wissen wir -schon, wie er sich bei den Volskern vereinsamt, unter Feinden und ganz -fehl am Ort vorkommen würde, wenn er zur Besinnung käme. Nicht einmal -einen Namen hat er mehr; Cajus Marcius? er darf nicht daran denken, -zu welchem Geschlecht er gehört, wo er gegen die Stadt seiner Väter, -seiner Mutter, seiner Frau und seines Sohnes zieht; Coriolan? das ist -der Name, der Schimpf und Hohn für seine, ach ja, für seine Freunde in -sich birgt. So fühlt<span class="pagenum"><a name="Seite_229" id="Seite_229">[S. 229]</a></span> er sich als einen aus der Menschheit Gestoßenen, -Namenlosen,</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Bis er sich selbst geschmiedet einen Namen</div> - <div class="verse">Im Brande Roms.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Rom, die Stadt der Plebejer und der feigen Patrizier, die zugesehen -haben, wie sein Held und Retter ausgetrieben wurde, soll brennen.</p> - -<p>Wie haben da inzwischen die Stimmungen gewechselt; wie sieht’s da jetzt -aus! Wie die Boten die furchtbaren Nachrichten immer bedrohlicher -bringen, ist die erste Wirkung eine innerpolitische: wie erheben die -Patrizier, die sich ehrlich für Coriolans Freunde halten, deren Sache -er geführt hat, die ihn aus Politik allein gelassen hatten, wie erheben -sie das Haupt; was für eine kühne Sprache findet nun der bedächtige -Menenius Agrippa! Ihr habt’s schön gemacht! Ihr seid schuld! Derlei -bekommen nun die Tribunen mit derbem Schimpf und Spott zu hören. Und -die Volkstribunen lassen die Ohren hängen und werden immer kleinlauter; -und das Volk kommt in Angst; dem ist jetzt, als ob es gleich sehr -ungern in Coriolans Verbannung gewilligt hätte. Coriolans Fluch, der -den innern Zustand des Volks und seiner politischen Führer beschrieben -hatte, will äußerlich in Erfüllung gehen. Aber dann, wie die Gefahr -immer entsetzlicher wird, klingt aus den bösen, aufgebrachten Reden -der Patrizier doch auch schon die Angst durch, und es kommt dahin, -daß angesichts der Gefahr der Parteistreit zurücktritt: die Stadt -muß gerettet werden. Aber wie? Zu verteidigen ist da nichts, wenn -Coriolan vor den Toren steht, statt als Schützer auf den Wällen. Er -muß zurückgerufen werden; er muß gebeten werden, abzuziehen; er muß um -Schonung angefleht werden.</p> - -<p>Der Konsul Cominius versucht’s; umsonst. Coriolan weiß nichts andres -als: Rom muß brennen. Hängt sie! hatte er, wie gewohnt, einmal unwillig -vor sich hingebrummt;<span class="pagenum"><a name="Seite_230" id="Seite_230">[S. 230]</a></span> und die Mutter, um ihn freundschaftlich mahnend -zur Besinnung zu bringen, hatte ironisch fortgesetzt: Und brennt sie! -Nun soll Ernst daraus werden; Coriolan hat den roten Blick und sieht -nichts mehr vor sich als Flammen. Cominius erinnert ihn wohl an seine -nächsten Freunde und Angehörigen; er aber ist in der Verfassung des -Würgengels, der keine Schonung, keine Unterscheidung mehr kennt:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft12">Torheit</div> - <div class="verse">Wär’s, kränkenden Gestank nicht zu verbrennen</div> - <div class="verse">Um ein, zwei Körner willen.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und der alte Menenius ächzt, wie er das hört: Eins von den Körnern bin -ich; und seine Mutter, sein Weib, sein Kind! Für diese Volkstribunen -sollen wir mitverbrannt werden!</p> - -<p>Er will’s aber, auch weil diese alten Männer, die Volksvertreter, -jetzt so verschüchtert und manierlich bitten können, versuchen, ob ihm -nicht glückt, was der Feldherr Cominius nicht über Coriolan vermocht -hat. Er ist ein Pfiffiger, der alte Mann, und eitel dazu, und mit so -einer Art physiologischer Psychologie redet er sich ein, man müsse nur -den rechten Augenblick wählen, vielleicht habe Coriolan nüchtern vor -dem Frühstück abgelehnt, was er ihm nach dem Mittagessen gutgelaunt -bewilligen würde.</p> - -<p>Aber da urteilt die kleine feine Klugheit — oder die Angst, die sich -etwas einreden möchte, woran sie selbst nicht glaubt; die vehemente -Glut des ungestümen Mannes Coriolan zwingt noch mehr unter sich als die -Funktionen des Leibs. Er hat ein für allemal den Befehl gegeben, keinen -aus Rom mehr vorzulassen; die da drin — alle! — sind schuld, daß er -nun nicht mehr kann, wie er will, selbst wenn er umkehren wollte. Jetzt -geht’s nicht mehr bloß um die Rache; die Ehre verlangt’s, daß er denen -Treue hält, in deren Dienst er getreten ist. So schickt er auch den -Menenius heim, der trotz aller Abweisung nicht weichen wollte und dem -er in den Weg gelaufen ist:</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_231" id="Seite_231">[S. 231]</a></span></p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Weib, Mutter, Kind, sind fremd mir. Meine Pflicht</div> - <div class="verse">Ist andern dienstbar. Hab’ ich schon zur Rache</div> - <div class="verse">Besondres Recht, liegt die Vergebung doch</div> - <div class="verse">Im Volskerherzen.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Da ist der Zwiespalt; darum kann er nicht denken, sich nicht zureden -lassen; das ist jetzt seine Härte. Er ist nie ein Mann des Triebs und -der Laune gewesen; so sehr ihn die Leidenschaft verdüstern, umdunkeln -kann, sie ist nie ohne Gesinnung in ihm; aber haben sie ihn nicht -vaterlandslos und zum Landsknecht, zu fremden Landes Knecht gemacht? Er -kann nicht mehr wie er — gar nicht will — — sie sollen’s büßen.</p> - -<p>Eine so hohe Stimmung, die aus der erhabenen Öde gänzlicher -Beziehungslosigkeit kam, wie Coriolan, als er zuerst vor Aufidius -stand, sie hatte, kann nicht dauern, wenn der Mann erst, sei’s auch -um dieser Stimmung willen, in die mannigfachen Bindungen des Lebens -wieder eingegangen ist. Jetzt zerfällt Coriolan schon lange wieder in -die obern und untern Bezirke, in das, was er denkt und sagt, um bei dem -zu verharren, was er als den neuen Coriolan in die Welt getrotzt hat, -und in jenes andre, was von innen erwacht, von außen alt und neu ihn -mit vertrauten Stimmen ruft und was er, solange es irgend geht, nicht -hochkommen läßt.</p> - -<p>Daß das kein Zustand ist, in dem der Edle bleiben kann, daß seine -Verhärtung wegschmelzen muß, sowie gegen die künstliche Macht der -Soldatentreue eine natürliche und ideale Macht ausrückt und unsäglich -seelenvoll zu ihm spricht, das fühlen wir voraus.</p> - -<p>Und so sind wir bereitet zu einer der strahlendsten, innigsten, -höchsten Szenen der gesamten dramatischen Literatur. Die Frauen -kommen: seine Mutter; sein zartes, unkriegerisches Weib, sein „holdes -Schweigen“, Virgilia die Sanfte, die neben ihm, dem Rauhen steht, wie -Desdemona neben Othello; und den Knaben bringen sie mit, der sein<span class="pagenum"><a name="Seite_232" id="Seite_232">[S. 232]</a></span> -Ebenbild ist. Und dazu bringen sie ihm, was mit Cominius dem Feldherrn -und dem klugen Staatsmann Menenius Agrippa nicht mitgekommen war: das -Vaterland.</p> - -<p>Sie kommen in Trauergewändern. Sie beugen sich, sie blicken zum -Erbarmen auf ihn; sie knien hin; sie kommen näher. Sonst wohl, wenn -einer aufs tiefste erschüttert ist, braucht bloß das Wort, das das -Erlebnis ausdrückt, noch dazuzukommen, und schon fließen unhemmbar die -Tränen. Der starke Coriolan macht’s umgekehrt; er klammert sich an -Aufidius, der bei ihm im Zelt ist, und wiederholt dem und sich selbst -alles in Worten, was seine Sinne gewahren, was auf sein Herz eindringen -will; die Worte der Beschreibung sollen sich verbinden mit Worten des -Gelöbnisses — vor sich selbst und dem Oberfeldherrn der Volsker —, -sollen ihn binden: nein, er wird nicht nachgeben. Und schnell, die -Sprache ist dazu da, verwandelt er alles, was wie Trotz, Eigensinn, -Gebundenheit aussehen könnte, in Gesinnung, in Freiheit, in das Prinzip -der völlig ungebundenen, individualistischen Selbstherrlichkeit; -gewaltsam, mit Worten, will er sich an den Ursprung des neuen Coriolan, -des Namenlosen, an die Stimmung der weltverneinenden Öde anbinden; was -geht ihn noch das Vaterland an? muß er, ein Mann, ein Ausgetriebener, -ein vom Schicksal Adoptierter, noch Weib und Mutter kennen?</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft8">Laß die Volsker</div> - <div class="verse">Rom pflügen und Italien eggen, nie</div> - <div class="verse">Folg’ ich wie’n Gänslein dem Instinkt; ich stehe,</div> - <div class="verse">Als wär’ der Mensch Urheber seiner selbst</div> - <div class="verse">Und keinem sonst verwandt.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Aber dann klingt die Stimme seines Weibs: Mein Herr und Gatte! und -die Mutter blickt ihn stumm an; da will er zwar im Öffentlichen ganz -unnachgiebig bleiben; aber dies holde, lang entbehrte Weib wird er -doch küssen dürfen; der Mutter den Gruß der Ehrerbietung zollen? Das<span class="pagenum"><a name="Seite_233" id="Seite_233">[S. 233]</a></span> -erlaubt die Sache; und Aufidius geht’s ja wohl nichts an. Er preßt -Virgilia ans Herz; er beugt das Knie vor der Mutter.</p> - -<p>Da heißt sie ihn aufstehn. Und dann beugt sie die stolzen, steifen -Knie, und kniet vor ihm hin auf dem harten Stein, und spricht dabei -bitter, scharf, mit einer Stimme, die noch härter als Stein ist, von -der „Huldigung neuer Art“,</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">die bisher ganz falsch verteilt</div> - <div class="verse">War zwischen Kind und Eltern.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Die Welt ist ja verkehrt worden; man muß sich danach richten und -muß auf seine alten Tage umlernen: der Römer kämpft jetzt gegen die -eigne Stadt, die Weib, Kind und Mutter birgt; so ist ja wohl auch das -Grundprinzip der Republik, die Familie und die Oberherrschaft der -Eltern aufgehoben: die Mutter, die den frühverstorbenen Vater vertritt, -bittet das Kind!</p> - -<p>Wie ist diese große Frau immer dieselbe, und wie wechseln die -Situationen und damit ihre äußere Stellung zum Sohn! Das erste Mal die -herbe Unzufriedenheit, mit Angst gepaart, und die klug unbedenklichen -Ratschläge, an deren Befolgung sie im geheimsten nicht zu glauben -vermag; dann, wie er in der Tat gegen all ihren Rat und Unterricht -und gegen seinen Vorsatz dem Willen seiner Seele gefolgt ist und -schrankenlos seine Wahrheit herausgerufen hat, der Stolz, die Liebe, -der Haß gegen seine Feinde in Rom, der Wunsch, er möchte sie ausrotten; -und jetzt der letzte Versuch, die Stadt vor seinem tauben Grimm zu -retten. Und immer um Roms, immer zugleich um seinetwillen, in dem Rom -sich verkörpern soll!</p> - -<p>Und sie hebt zu bitten an; dem Inhalt nicht nur, auch der Disposition -nach getreu nach dem Bericht Plutarchs; wer aber Shakespeares Seelen- -und Sprachgewalt an einem ganz großen, wunderbaren Beispiel kennen -lernen will, der soll diese Rede Volumnias in Plutarchs und in -Shakespeares Fassung neben einander halten.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_234" id="Seite_234">[S. 234]</a></span></p> - -<p>Sie hält ihm, auf ihre Trauerkleider weisend, die Situation vor, die -er kennt; das ist ihre stärkste Waffe, daß sie ihm nichts sagt, was er -sich nicht selbst sagt. Vorhin hat er sich noch stark machen können, -indem er, was seine gerührten Blicke sahen, in Worte versteckte; -jetzt wickeln ihm die Worte einer Stärkeren, Redegewaltigeren nicht -bloß seine Eindrücke wieder aus der Umhüllung aus, sie drehen ihm das -Herz in der Brust herum. Was wird das Los dieser Frauen sein, wie die -mörderische Schlacht auch ausgehe? Wenn er besiegt als Gefangener nach -Rom kommt? Wenn er Rom in Trümmer gelegt hat? Und Frau, Kind und Mutter -in den Tod getrieben? Ja, in den Tod!</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Denn ich, ich, Sohn, denk’ nicht zu warten, bis</div> - <div class="verse">Der Krieg entschieden — —</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>über den Leib seiner Mutter hinweg wird er zum Angriff auf Rom -schreiten müssen.</p> - -<p>Und Virgilia, die schon früher gezeigt hat, wie ihr im Augenblick der -Entscheidung Sprache und Tapferkeit kommt, fällt ein und erklärt für -sich, schnell, kurz, eh’ die Tränen quellen, dasselbe; und der kleine -Bursch, sein Sohn, redet drein:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Mich soll er nicht treten;</div> - <div class="verse">Ich lauf’ fort, bis ich größer bin, dann fecht’ ich!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Das soll ein Mensch mit anhören, von Mutter, Frau und Kind? Er -steht auf und will gehn. Die alte Römerin aber hält ihn fest. Die -Mutter hat gesprochen und hat nichts mehr zu sagen. Sie hat ihm die -Naturnotwendigkeit der Umkehr gemeldet; jetzt spricht die Politikerin -und zeigt ihm die Möglichkeit, den Ausweg. Römer und Volsker sollen -einen dauernden Frieden schließen; das soll sein großer Ruhm sein: die -beiden Völker zu versöhnen. — Und das Höchste und Letzte, was auf -einen edeln Mann wirkt, fügt sie hinzu:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Hältst du es ehrenhaft für einen Edlen,</div> - <div class="verse">Der Kränkung stets zu denken?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_235" id="Seite_235">[S. 235]</a></span></p> - -<p>Er schweigt, schweigt immer noch, er kehrt sich ab, er kämpft furchtbar.</p> - -<p>Und wiederum knien die Frauen. Und nun umtönt ihn nur noch ein Wort, in -immer neuen Wendungen: Rom!</p> - -<p>Und endlich hat die Mutter, hat die Sprecherin des Vaterlands, das mehr -und andres ist als die zufällig gerade lebenden und sich vergehenden -Einwohner, als alle Gemeinheit einer beliebigen Summe, sie hat gesiegt.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">O Mutter, Mutter!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Mit diesem Wehruf gibt er nach. Was dann fieberhaft aus ihm redet, zu -Aufidius, daß der’s doch einsehen müsse, daß es nun zu einem günstigen -Frieden kommen werde, und alle Ausrufe der Erregung und Entzückung, das -ist nicht er selbst. Einer in ihm kennt sein Geschick, ahnt gar den Weg -schon, auf dem es kommen kann.</p> - -<p>Es kommt durch Aufidius. Einmal, als der Mann sich dem Manne gestellt, -zu Tod oder Blutbrüderschaft, war über den die große Überwältigung -gekommen. Zu mehr, zu einer Wiederholung und Umkehrung ist er nicht -imstande. Zudem war das Verhältnis nicht so geworden, wie er sich’s -gedacht: neben dieser überragenden Natur, neben Cajus Marcius -Coriolanus ist er für seine eignen Landsleute immer nur der Zweite -gewesen, und die Eifersucht hat schon an ihm genagt. Was da gekommen -ist, was diesen „Coriolan“, der nun alles wieder vergessen und Römer -werden will, so ergreift, was geht’s ihn an? Zu ihm hat Rom nicht -gesprochen; seine Mutter ist Volumnia nicht. Verschärft ist da, was in -Jahren des Krieges zwischen ihnen war: Feindschaft auf Leben und Tod. -Es ist kein Krieg; aber der Feind ist in seiner Gewalt.</p> - -<p>Es fällt ihm leicht, gegen den „zwiefachen Verräter“ eine Verschwörung -zustandezubringen. In dem aber, den sie so nennen, ist kein Funke böses -Gewissen und kein Hader mit sich selbst. Seltsame Stille ist in ihm -eingezogen. Nicht die unheimlich auf einen Punkt gespannte Gefaßtheit<span class="pagenum"><a name="Seite_236" id="Seite_236">[S. 236]</a></span> -von ehedem; eine fast wohlige Entspannung scheint es zu sein. Wie -süß ist es, zumal für diesen adligen Mann, in dem Unbändigkeit und -Sachlichkeit so persönlich beisammen sind, sich überwinden zu lassen, -sich gefangen zu geben; wie verwunderlich wieder, daß sich noch einmal -alles umgekehrt hat und daß er, der Kriegsmann, jetzt die beiden -Völker, denen er nun beiden angehört, zu einer dauernden, zu einer -neuen Art Frieden bringen soll. Wie traumbefangen, wie einer, der -leise auftritt, um das Schicksal und sich selbst nicht zu wecken, -tut er alles, was die neue Pflicht ihm auferlegt. Die Zeit des Zorns -scheint ganz für ihn vorbei; er geht vor, als könne noch alles sehr -gut werden. Er verläßt die Volsker nicht; er denkt nicht daran, -sich in Rom vor ihnen zu bergen; keineswegs verrät er sie im groben -Sinne; er verhandelt mit den Römern als der Mann, der zur Vermittlung -berufen ist, aber er geht davon aus, daß Rom wehrlos und daß er der -Volskergeneral ist: was er den Volskern bringt, ist eine Demütigung -Roms, freilich nicht die Vernichtung; es ist ein Vergleich, der Frieden -für immer stiften soll. Er ist nicht mehr ein Kind seiner Zeit; er -geht vor, als sehe er Möglichkeiten, an die sonst keiner glaubt; aber -es sind nicht seine Gesichte, es ist ihm von sanftem, festem Zwang -auferlegt worden wie in tiefe Schlafbetäubung hinein; er bewegt sich -wie in seliger Zeitlosigkeit oder wie in ferner Zukunft wiedergeboren -oder wie einer, der schon im Schatten des Todes steht. Es geht zu Ende -mit ihm: sein Schicksal war entschieden, als er sich Roms Feinden -verbündet und, ohne daß er’s wußte, sein Herz in Rom gelassen hatte. -Damals hatte er sich Tullus Aufidius zum Tode gestellt; Aufidius und -der Tod sind jetzt da.</p> - -<p>Volumnia konnte als Retterin und Erlöserin Roms, als Mutter Coriolans, -von Jubelrufen umbraust, in Rom einziehen; bald darauf wird Coriolan -bei den Volskern, denen er den Friedensvertrag gebracht hat, von der -Schar<span class="pagenum"><a name="Seite_237" id="Seite_237">[S. 237]</a></span> der Verschworenen, die Tullus Aufidius führt, ermordet. Er -war ihnen zu gefährlich, war auch ihnen zu groß, stand unter ihnen -erst recht als ein Fremder da. Er war aus Rom und damit aus der Welt -gebannt; als einer, den die Welt gebraucht hätte, den die Welt nicht -dulden konnte, liegt er nun tot zu Boden. Sowie er nicht mehr auf den -Füßen steht, sowie sein Schritt ihnen nicht mehr in den Ohren weh tut -und seine stolze Sprache, sowie sie in dem Leichnam, der da liegt, -nur das Bildnis des Helden vor sich haben, dieses adligen, stolzen, -wunderschönen Mannes, da erkennen sie, daß ein Großer gefallen, der -Kleinheit dieser Welt zum Opfer gefallen ist. Unter den Klängen -eines strahlenden Totenmarsches wird sein Leichnam aufgehoben und -fortgetragen.</p> - -<p>Diese Totenmusik, das Heldenleben, wie es Shakespeare gestaltet -hat, ist wirklich zu Rhythmen und Melodien geworden in der -Coriolan-Ouvertüre Beethovens, die freilich durch äußern Zufall zu -irgend einem andern Drama Coriolan komponiert wurde, in Wahrheit aber -ganz Geist vom Geiste Shakespeares ist, der in diesem Römerdrama — ich -wiederhole die Worte — in die Seele der Geschichte hineingeleuchtet -hat, indem er die Geschichte einer Seele gab.</p> - -<hr class="chap" /> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_238" id="Seite_238">[S. 238]</a></span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Koenig_Zymbelin_und_Das_Wintermaerchen">König -Zymbelin und Das Wintermärchen</h2> - -</div> - -<p class="initial">Gewiß würde jedes der beiden Stücke, die ich hier zusammenstelle, eine -besondere und eingehende Behandlung verdienen, das reichverzweigte und -an seltsamen Schönheiten reiche Drama, dem König Zymbelin den Namen -gegeben hat, und erst recht das tiefe und entzückende Wintermärchen; -aber sie sollen gemeinsam behandelt werden, weil mir daran liegt, die -Betrachtung fortzusetzen, die ich im Anschluß an Perikles und Timon -begonnen habe. Zu einer solchen Zusammen- und Gegenüberstellung der -beiden Stücke laden schon die Herausgeber der ersten Folioausgabe ein: -sie haben Zymbelin an den Schluß der Tragödien und das Wintermärchen -an den Schluß der Komödien gestellt; zu was für Betrachtungen kann -dieses Verfahren schon an der Schwelle Veranlassung bieten! Denn die -Stücke sind alle beide nicht einzuordnen; die Herausgeber betätigten -aber in ihrer Reihenfolge auch diesmal einen feinen Sinn; Zymbelin ist -eher eine Tragödie, das Wintermärchen eher eine Komödie zu nennen. -Zymbelin aber ist aus zwei Stoffen zusammengesetzt, die der weniger -seltsame frühere Shakespeare alle beide in der Komödie behandelt hätte: -die Gegenüberstellung des verderbten Hoftreibens und des romantisch -natürlichen Hausens in Wald und Höhle, wie sie so ähnlich in Wie es -euch gefällt behandelt wurde; und andrerseits die Charakterkomödie -von dem Ehemann, der mit der Wette über die Treue seiner Frau in -mannigfachem Sinn sich selbst betrügt. Dagegen mutet die Haupthandlung -des Wintermärchens ganz wie die Vorlage zu der großen Tragödie der -Eifersucht an; und doch ist es wahr, daß der Dichter aus diesem -düsteren, schneidenden Stoff das gemacht hat, was schon der Titel -uns an Stimmung vermittelt: ein Wintermärchen, ein Spiel, das schwer -lastende Umstände mit Heiterkeit überwindet.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_239" id="Seite_239">[S. 239]</a></span></p> - -<p>Zymbelin steht nach Sprache, Ernst der Durcharbeitung und Anlage der -Charaktere, nach der Menge auch der rund gesehenen Gestalten weit -über Timon (von Perikles gar nicht zu reden); aber dennoch ist es mir -das bedeutendste und dazu seltsamste der Stücke, in denen Shakespeare -eine Ergründung des inneren Lebens, der geheimen Menschlichkeit, des -Seelenwesens der Gestalten höchstens begonnen, angelegt, skizziert, -aber nicht vollendet hat.</p> - -<p>Ferner gehört dieses Drama wie Perikles und Timon in die Reihe der -späten Stücke, in denen die Handlung besonders stark als Gelegenheit -zur Weisheit benutzt wird: hier dient sie fortwährend zu herrlich -tiefen und scharfen Reden und Aussprüchen über das Verhältnis von Natur -und Hof als dem Gipfel von Unwahrheit, Künstlichkeit und Entartung, -zu Satire und Polemik, wie zum Lob der Einfachheit, des Land- und -Hirtenlebens.</p> - -<p>Wie Perikles (nicht wie Timon) hat überdies Zymbelin eine reiche, -romantische und romanhafte, dramatisch kaum zu bewältigende, epische, -märchenhafte, bunte Handlung; an die Stelle der Intensität der -Seelenergründung ist die Extensität des geradezu fabelhaften Reichtums -der Motive, die angeschlagen werden, getreten.</p> - -<p>Diese Art Stücke, und keines so wie Zymbelin, geben überdies -dem Schauspieler gerade dadurch, daß das innere Wesen angelegt, -aber nicht ausgeführt ist, Gelegenheit, durch eigene Erfüllung -die Skizze des Dichters zum vollen Menschenbild zu ergänzen. Die -Gedächtnisschwierigkeiten, die dieses Stück dem Leser und seiner -unsinnlich arbeitenden Phantasie bietet, sind auf der Bühne, wenn der -Regisseur mit scharf herausgearbeiteten Masken, Redeweisen, Kostümen, -Schauplätzen seine Schuldigkeit tut, gar nicht vorhanden; und so -könnte und müßte das Stück, wenn nur unsre Bühnen nicht mit Feigheit, -Trägheit, Schlendrian und neuerdings sogar Glauben an den Philologen -behaftet wären, eine ganz ungeheure Theaterwirkung tun und<span class="pagenum"><a name="Seite_240" id="Seite_240">[S. 240]</a></span> überdies -Seeleninnigkeit wie Leidenschaftsgewalt wie stark eindringlichen -Gegensatz der Sphären und Naturen in einer tollen Folge von Szenen, für -die der Stil zu finden wäre, wundervoll zur Geltung bringen.</p> - -<p>Das Wintermärchen dagegen ist — wenn wir vom Sturm als etwas einzigem -absehen — das Stück, das mit dem späten Stil Shakespeares, mit -der seltsamen Verbindung von Sinnenschmaus und Sinnspiel, mit der -Verwandlung der Tragödie in Spiel und romantische Ironie und mit -der Weisheit und Polemik des Elements, das ich Sprache nenne, eine -in Knappheit und Sicherheit unerhörte, ganz genialische Kunst der -tiefen Charakteristik verbindet. In einem Teil der Handlung werden -dabei aber die letzten Konsequenzen dieser Seelenenthüllung nicht so -gezogen, wie es sonst Shakespeares Art ist: für einen früheren Stil -Shakespeares hätte die Art, wie der Charakter des Königs Leontes -angelegt ist, unweigerlich den äußern Untergang als Ausdruck der -innern Unmöglichkeit, das Leben weiterzuführen, bedungen. In diesem -tiefsinnigen Märchenspiel aber sehen wir den neuen Ausdruck der -Tragik, von dem wir schon gesprochen haben und zu dem Shakespeare -überleitet, in einer vollendeten Gestalt ausgebildet. König Leontes -stirbt in der Tat, stirbt, wie seine Frau Hermione von ihm unschuldig -in den Tod geschickt wurde, und ist tot, solange sie ihm und der Welt -tot ist; er ist der Welt abgestorben; aber dieser Tod ist ein Tod -im Leben, ist Erneuerung, ist Buße, ist Wachstum und Umkehr. Hier -ist für Shakespeare der Weg vollendet, auf dem er die Gattung seiner -eigenen großen Tragödie überwand und durch die starre, schon aus der -Antike überlieferte Schablone eine Bresche schlug und Freiheit für -die Dichter unsrer und der künftigen Zeiten schuf. Mit Ende gut, -alles gut, mit Maß für Maß, mit Perikles, ja schon mit dem Kaufmann -von Venedig und auch mit Troilus und Cressida hatte er diesen Weg -beschritten: die Tragik ihren Gipfel und ihre Über<span class="pagenum"><a name="Seite_241" id="Seite_241">[S. 241]</a></span>windung nicht in -dem von der Antike überlieferten gewaltsamen Tod, sondern in der -Erneuerung und Steigerung des Lebens finden zu lassen. Der Sturm ist -diesem neuen Shakespearedrama, ist dem ganzen Werk Shakespeares die -Krönung und Verklärung. Aber nicht nur einen Wesenszug der alten -Tragödie, eine Gattung der Dichtung und Kunst erschüttert und wandelt -Shakespeare mit diesen Werken; mit ihnen hebt er eine Reformation an, -die größer ist als sein Werk und größer auch als das Werk Luthers, das -wir die Reformation nennen. Er beginnt das Werk, das unsre deutschen -Frühromantiker mit allzu schwachen Kräften als Shakespeareepigonen -aufnehmen wollten: auf den Wegen der Kunst und des Spiels, mit dem, was -romantische Ironie heißt, die Stellung des Menschen zum individuellen -Leben umzugestalten. Das war es, was einen der Kunst und dem Spiel so -fernen, so abgründlich ernsten Mann wie Fichte in engste Beziehung und -Bundesgenossenschaft zur Romantik brachte: die Leugnung des Ich als -einer ans Leben gebundenen, vom Tod zerstörbaren Substanz. Auf dem Weg -zu einer neuen Religion, einer neuen Praktik, einer neuen Gestaltung -des Lebens, der einzelnen wie der Gesellschaften, eines neuen Lebens -der Menschheit, für deren Empfinden der Tod von Individuen eine -nebensächliche Angelegenheit geworden ist, bedeutet dieser Romantiker -Shakespeare eine wichtige Etappe.</p> - -<p>Eine vollendete Gestalt für den neuen Ausdruck oder die Überwindung -der Tragik habe ich das Wintermärchen genannt, werde ich den Sturm -nennen können. Das war Shakespeares Vollendung auf diesem Weg; die -Kunst aber kennt allewege mehr als einen Gipfel der Vollkommenheit. Die -Reihe Stücke, die ich genannt habe und die Shakespeare über mancherlei -schwache Stellen und Irrpfade so hoch und rein hinauf geführt haben, -sind, so viel Herrlichkeiten sie bergen, doch nur Anfänge und -Verheißungen. Sie geben uns die Gewähr, daß — gleichviel wann, in ein<span class="pagenum"><a name="Seite_242" id="Seite_242">[S. 242]</a></span> -paar hundert oder ein paar tausend Jahren — noch einmal ein Dramatiker -kommen kann, der so Shakespeare hinter sich läßt, wie der bis jetzt -der größte aller Dramatiker ist, die der griechischen Antike nicht -ausgenommen. Fragen wir im lebendigen Gefühl, was Shakespeare ist, -welche Kraft der Seele ihn zu dem gemacht hat, was er wurde, dann muß -uns schwindlig werden, wenn wir an die Freiheit und Ausdrucksgewalt, -an die Kühnheit des Mannes denken, der einst Shakespeare zum Zweiten -machen soll.</p> - -<p>Shakespeare ist der Genius der Freiheit. Messen wir nicht an den -verklärten Freien, die überwunden haben und die uns mehr Gestalten -als Menschen sind, an Jesus oder Buddha, gedenken wir der Freiheit, -die ringend und körperhaft dem Leben angehört und ihm entsteigt, -so weiß ich keinen auf keinem Gebiet, nicht einmal Michelangelo, -der so repräsentativ der Gestalter der Freiheit zu nennen wäre wie -Shakespeare. Und mit seinem letzten Werk, auf dem Weg, dem Zymbelin und -Wintermärchen Stufen sind, hat er, indem er noch einmal ein Beginnender -wurde und das Werk der Tragik verließ, das er so glänzend abschloß, -schon seinen Nachfolger und Überwinder vorbereitet, der höher steigen, -tiefer wühlen, kühner befreien wird als er.</p> - -<p class="mtop2">Von Zymbelin kennen wir zwar keinen früheren Druck als den der Folio -von 1623, aber aus einer Notiz im Tagebuch eines Zeitgenossen erfahren -wir, daß das Stück 1610 oder 1611 aufgeführt wurde; um diese Zeit herum -ist es gewiß auch entstanden.</p> - -<p>Das Datum des Wintermärchens können wir auf Grund äußerer Tatsachen -mit Sicherheit zwischen zwei Grenzen festsetzen: das Stück kann nicht -vor Herbst 1610 und nicht nach Mai 1611 entstanden sein. Beide Stücke -gehören also, wie es auch aus inneren Gründen wahrscheinlich ist, der -nämlichen Zeit an.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_243" id="Seite_243">[S. 243]</a></span></p> - -<p>Der Britenkönig Zymbelin und seine Söhne sind historische Gestalten, -die in der Tat zur Zeit der Kaiser Augustus und Claudius gelebt und -wegen der Tributzahlung Konflikte mit Rom gehabt haben. Wir wissen das -aus Erwähnungen bei römischen Historikern und Dichtern, die Shakespeare -kaum gekannt haben kann; seine Quelle für diese Teile kann Holinsheds -Chronik gewesen sein.</p> - -<p>Der Teil der Handlung, der bei Shakespeare zwischen Posthumus Leonatus, -Imogen und Jachimo spielt, stammt aus einem altfranzösischen Roman, -von dem es eine Reihe Bearbeitungen gibt, die auch zu einer Novelle -Boccaccios Veranlassung gegeben haben. Die Namen aber, die Shakespeare -diesen Gestalten gibt, finden sich in keiner dieser Bearbeitungen, -und ebensowenig die geringste Verbindung dieser Abenteuer mit der -Geschichte des Königs Zymbelin.</p> - -<p>Ein Seitensproß dieses Handlungsteils, das Verhältnis Imogens zu -ihrer Stiefmutter und deren Gift, ihr Scheintod bei seltsam von -der Menschheit abgeschiedenen Höhlenbewohnern im Wald, kann an -Schneewittchen und ähnliche Märchen gemahnen.</p> - -<p>Der alte Edelmann Belarius und sein Prinzenraub stellen einen ferneren -Teil der Handlung dar, der an eine andere Novelle des Boccaccio -erinnert.</p> - -<p>All solche Erinnerungen, zumal bei märchenhaften Novellenmotiven, -die durch alle Völker und Zeiten wandern, beweisen aber gar nichts -dafür, daß wir mit diesen Überlieferungen Shakespeares wirkliche -Vorlagen haben. Die Annahme vielmehr, Shakespeare selbst habe diese -ganz verschiedenen Geschichten zu einer fabelhaft bunten, gestopft -vollen Handlungsgemeinschaft aufs kunstvollste verbunden, ist mir -sehr zweifelhaft. Vielmehr erinnert das Ganze, wie es beisammen ist, -so auffallend an die Geschichten von Geschichten mit immer neu sich -hebenden Schleiern und immer neuen unerwarteten Wendungen,<span class="pagenum"><a name="Seite_244" id="Seite_244">[S. 244]</a></span> wie wir -sie aus den orientalischen Märchen etwa von Tausendundeine Nacht, -aus altfranzösischen, altitalienischen, spanischen Erzählungen und -den deutschen Volksbüchern kennen, daß es mich sehr wahrscheinlich -dünkt, daß diese Verknüpfung schon vorher in einer jetzt nicht mehr -vorhandenen Erzählung dagewesen ist. Wesentliche Änderungen in der -Motivierung, eine Menge Einzelzüge und vor allem das ganz fabelhafte -Unternehmen, diese buntgedrängte Fülle der Gesichte in der Form -des leibhaft für alle Sinne dargestellten Dramas, die fabulierte -Unwirklichkeit, die Märchenhaftigkeit in Gestalt lebendig bewegter -Wirklichkeit vorzuführen, dieses vorher wie nachher Unerhörte schreibe -ich Shakespeare zu. Diese Märchen, Volksbücher und Abenteuerromane, -die alle richtige Lese- und Schmökerbücher sind, haben es an sich, daß -in ihnen nicht Bestimmtheit, Festigkeit, unverwischbare Einprägsamkeit -ist, sondern in aller nüchtern sachlichen, nur Tatsachen referierenden -Erzählung eine Art traumhaft musikalisches, wiegendes Weitergleiten, -wo man ganz süchtig dem Erzähler hingegeben ist und es einem das -wichtigste ist, daß immer neue Bilder, Überraschungen, Erregungen, -Spannungen und Stimmungen auftauchen. Man will nicht eine Sache -erfahren und diese dann stehen lassen, wie sie ist; sondern will -sich der bunt wechselnden Dingwelt bedienen, um gerührt, betroffen, -gestreichelt, gekitzelt zu werden; eine sehr objektive, chronikalische -Darstellung ist das Mittel zu völliger Subjektivität schmachtender, -lechzender Gefühle. Diese Art Roman ist bei uns aus doppelter Auflösung -entstanden: aus der Auflösung der christlich ritterlichen Erotik ins -Bürgerliche und aus der Auflösung der festen, rhythmisch gebannten -epischen und episch-lyrischen Form in Prosa. Es ist beides dasselbe: -Sehnsucht, die mit Dogma, Sitte und Form beschränkt und bemeistert war, -ist in Schrankenlosigkeit zerflossen. Mit alledem hängt es zusammen, -daß man diese Geschichten<span class="pagenum"><a name="Seite_245" id="Seite_245">[S. 245]</a></span> nur vernehmen und schlürfen, nicht behalten -will; sie tragen Vergessenheit in sich: immer wieder Vergessen des -Stofflichen wie Selbstvergessen des Hörers oder Lesers; man hat das -Bedürfnis, diese Geschichten wie Musikstücke, die mehr als faßliche -Melodie, die außen strömende und wallende Harmonie sind, immer wieder -zu genießen.</p> - -<p>Das ganz Eigentümliche an Shakespeares romantischem Bühnenspiel ist -nun, daß er solch ein völlig romanhaftes Gebilde zum Drama gemacht -hat, daß das Unfeste, Schwimmende, Schimmernde der buntbewegten -Abenteuerfolge zugleich mit der Bestimmtheit von Gestalten, die vor -unsern Sinnen stehen, auf uns eindringt.</p> - -<p>Weder kann ich nun die lebendige Kenntnis der Handlung voraussetzen — -sie ist ebenso bunt und vielfältig und abenteuerlich und im Romanhaften -zerronnen, daß man sie immer wieder vergißt — noch kann es meine -Aufgabe sein, sie hier ausführlich zu erzählen. Ich will nur an die -Hauptpunkte erinnern, vorher aber noch einmal darauf hinweisen, daß, -was fürs Gedächtnis des Lesers schwer zu behalten ist, dem Zuschauer -ohne weiteres sinnenmäßig eingeht: das ist Shakespeares eigene Größe, -daß seine Dramen zugleich im Bühnenmäßigen und im Sprachlichen gipfeln, -daß sie lebendigste Natur und höchster Geist, daß sie Sinn und -Sinnlichkeit sind.</p> - -<p>Das Stück heißt König Zymbelin, wie es Shakespeare immer liebt, -getreu dem Prinzip der Gliederung oder Rangordnung — <em>ab Jove -principium</em> — seine Darstellung eines großen Zusammenhangs nach dem -Herrschenden zu benennen. Die Gestalt aber, die von innen her in dem -Stücke herrscht, die die Einheit herstellt, um die sich alles dreht -und die die verschiedenen Kreise mit einander in Berührung bringt, ist -dieses Königs Tochter Imogen.</p> - -<p>Die Kompliziertheit der Handlung ergibt sich schon aus der ersten -Personalangabe: König Zymbelin ist in zweiter Ehe mit einer Witwe -verheiratet. Seine Söhne erster<span class="pagenum"><a name="Seite_246" id="Seite_246">[S. 246]</a></span> Ehe sind vor langer Zeit rätselhaft -verloren gegangen; seine Tochter erster Ehe hat zu seinem Zorn einen -Edelmann unter ihrem Stande geheiratet; die Ehe soll aufgelöst -werden, sie soll den Sohn, den die zweite Frau aus einer früheren Ehe -mitgebracht hat, Cloten, heiraten. Der Mann, Posthumus Leonatus, wird -verbannt; er fährt nach Italien. In einer internationalen Gesellschaft -wird er mit dem Italiener Jachimo bekannt und geht mit ihm eine -gefährliche Wette ein: seine Frau, die Königstochter Imogen, sei rein -und treu; jede Verführung müsse an ihr zuschanden werden. Hier sei -gleich darauf hingewiesen, wie Shakespeare in Märchenstücken dieser -Art mit voller Absicht und auch mit vollem Recht die Kulturelemente -mischt: der Kaiser Augustus des Volksbuchs ist ein ganz anderer als der -des Plutarch; und der Verfasser von Antonius und Cleopatra wußte, was -er tat, als er diesmal zur Zeit des sogenannten Cäsar Augustus moderne -Franzosen und Italiener einführte.</p> - -<p>Jachimo reist nach England; sein kecker Versuch, Posthumus zu -verleumden, Imogen zu verführen, mißlingt. Nun verleitet ihn -Gewinngier, Eigensinn, Ehrgeiz dazu, die Wette durch Betrug zu -gewinnen: in einer Kiste, die er von innen öffnen kann, läßt er -sich in Imogens Schlafzimmer tragen; er prägt sich die Einrichtung -dieses Gemachs und intime Merkmale an Imogens Körper ein. Mit dieser -Wissenschaft reist er nach Italien zurück; so überzeugt er schließlich -Leonatus; die Wette war eigentlich darum gegangen, ob es Ehre und -Treue beim Weibe überhaupt gebe; Posthumus war in der galanten -Männergesellschaft mit seinem Glauben allein gestanden, der ihm jetzt -zusammenbricht; Imogen ist ein Weib. Sein Vertrauter Pisanio soll sie -ermorden; der rettet sie; als Knabe verkleidet kommt sie in Wales in -eine Waldhöhle zu einem alten Mann und seinen zwei Söhnen; sofort -entsteht seltsame Sympathie der drei jungen Menschenkinder zu einander; -es sind ihre Brüder,<span class="pagenum"><a name="Seite_247" id="Seite_247">[S. 247]</a></span> die der Alte in ihrer Kindheit aus Rache und zum -Pfand gestohlen hatte; Cloten in den Kleidern des Leonatus — sie hatte -einmal gesagt, ein Rock ihres Mannes wäre ihr lieber als der ganze -Dümmling Cloten — kommt sie zu suchen und gewaltsam an sich zu reißen; -der eine Bruder gerät in Streit mit ihm, tötet ihn und schlägt ihm den -Kopf ab. Derweile ist Imogen von all ihrem Leid krank geworden; sie -trinkt eine Arznei, die sie von ihrer Stiefmutter erhalten hat; die -Königin hält den Trank für Gift; der Arzt, der es gut meint, hat ihr -aber nur ein Betäubungsmittel gemischt. Die Brüder halten den geliebten -Jüngling Fidele — ihre Schwester Imogen — für tot, den Rumpf Clotens -wollen sie fromm neben Fidele bestatten; die Leichenfeier halten sie -ab; sie entfernen sich. Imogen erwacht; neben sich erblickt sie den -Toten ohne Kopf in den Kleidern ihres Manns; sie ist verzweifelt; der -Feldherr der Römer, der gerade im Kampf mit Zymbelin des Wegs zieht, -nimmt Imogen-Fidele als Pagen mit.</p> - -<p>Derweile ist Leonatus in tiefer Reue über das, was er — vermeintlich -— getan hat. Als römischer Offizier kommt er nach Britannien, -hilft aber, als Bauer verkleidet, die Schlacht zugunsten seines -Vaterlands entscheiden. In diesen Entscheidungskampf zur Rettung der -Unabhängigkeit Britanniens greifen ebenso der Alte — der verbannte -Edelmann Belarius — und die Söhne Zymbelins unerkannt ein.</p> - -<p>Mit dem Feldherrn der Römer kommt Imogen gefangen an des Vaters Hof, -und so löst sich alles: Leonatus und seine Frau finden sich wieder, -die beide einander als tot beweint hatten; Zymbelin erhält seine Söhne -zurück; der reuige Betrüger Jachimo wird begnadigt.</p> - -<p>Hat man sich so den Gang der Handlung im groben vergegenwärtigt, wobei -noch viele Episoden unerwähnt geblieben sind, so muß man wahrlich noch -einmal ausrufen: Welch erstaunliches Drama! Wie begreift man jetzt, -daß<span class="pagenum"><a name="Seite_248" id="Seite_248">[S. 248]</a></span> Shakespeare auch der Verfasser des dramatisierten Reiseromans -Perikles ist, der nur eine leichte Vorarbeit zu diesem dramatisierten -Volksbuch zu sein scheint. Gar nicht zu leugnen, daß dieses Stück -nicht minder wie etwa Kleists Käthchen von Heilbronn in gewissen -Teilen zum Gebiet der Schauerromantik gehört und daß die schnelle -Aufeinanderfolge der immer auf Irrtümern und Verwechslungen beruhenden -Verzweiflungsausbrüche das Kino vorwegnimmt. Es sieht aus, als habe -es Shakespeare gereizt, eben das Fürchterlichste und Schaurigste -immer noch ins Spiel der Romantik und des bloßen Scheins abzubiegen, -die Tragik immer wieder auf die Schwelle treten zu lassen und ihr -jedesmal den Eintritt zu verweigern. Überdies aber bot der Stoff eine -Fülle von Gelegenheiten, in der Handlung und in dem aus ihr fließenden -gesprochenen Wort die Zusammenhänge und Gegensätzlichkeiten zu -behandeln, die dem Dichter besonders am Herzen lagen.</p> - -<p>Eines dieser Themen ist das allgemeine Mißtrauen der Geschlechter -gegen einander, zumal des Manns, der sich als Herrn betrachtet, -gegen die Frau. Entsprechend der Mode der Zeit, wie sie in der -internationalen Novellenliteratur zum Ausdruck kommt, wird in den -Kreisen, in die Leonatus in Italien kommt, als Regel vorausgesetzt, -daß die Frau den abwesenden Ehemann betrügt. Und Hahnrei sein ist -nicht bloß und nicht einmal in erster Linie ein privater Schmerz, -sondern, wenn es bekannt und nicht gerächt wird, eine gesellschaftliche -Schande: die List der Frau erweist sich dann stärker als die -Herrengewalt des Mannes. Bei solchen Ehebrüchen trifft die Entehrung -nur den Ehemann; der überwiesene Einbrecher verliert nichts an -seiner gesellschaftlichen Geltung. Aus solcher Modegesellschaft und -Konvention der Leichtfertigkeit heben sich nun Leonatus und Imogen als -Ausnahmemenschen der Reinheit und des Adels; sie sind in Vertrauen -und hohem Geist geeint. In der Entfernung aber, wie der Betrug ihm<span class="pagenum"><a name="Seite_249" id="Seite_249">[S. 249]</a></span> -handgreifliche Beweise liefert, verzweifelt er und glaubt, Imogen sei, -wie die Weiber alle sind; da kommt es zu einem ungeheuren Ausbruch der -Verachtung gegen das weibliche Geschlecht. Die Situation, in der sich -Leonatus da findet, ist in der örtlichen Entfernung von seinem Weibe -genau dieselbe wie die Othellos, der mit Desdemona zusammen und doch -so vielfach von ihr geschieden ist: Leonatus lebt nicht mehr in der -Sicherheit des Wissens vom Innern dieses fremden Menschen, der dem -andern, dem ewig unbekannten Geschlecht angehört; und die Verstrickung -durch die Lüge ist so, daß Imogen überführt ist; denn wie kann -Leonatus annehmen, daß ein geachteter Mann, gegen den nichts vorliegt -und der keinen Grund hat, ihn zu hassen, um einer Wette willen ihn -so raffiniert umgarnt! Es ist wieder die Wahl, ob der Ehemann einem -ehrlichen Mann oder der Frau, die er nur durch seine Liebe kennt, -glauben soll; und wieder fällt die Entscheidung gegen die Frau aus. -Eine sonderbare Vorstellung von dem Dichter Shakespeare würde man sich -nun machen, wenn man nicht annähme, er habe bei diesen Teilen der -Handlung und bei den entsprechenden im Wintermärchen ebenso an seinen -Othello gedacht, wie wir es tun. Beide Male entscheidet der Mann wie -Othello: das Weib muß sterben; und beide Male glaubt der Mann, die Tat -der Rache auszuführen. Beide Male aber geschieht diese Ausführung im -Wahn; der Mann überlebt seine Tat, bereut sie, wünscht sie sehnlichst -ungeschehen; und zum Schluß zeigt sich: es war alles nur wie verzerrter -Traum und Fieber; die Tat ist in der Ausführung ins Reich des Spieles -gefallen; die Umkehr des Ehemanns und sogar des Betrügers steht nicht -im normalen Kausalzusammenhang mit der Rettung der verleumdeten -Unschuld: das Schicksal hat auf abenteuerlichen, wunderbaren Wegen -eingegriffen, und Natur und Gottheit haben wieder gutgemacht, was die -schnelle Rachetat schon vollendet glauben mußte und was die Reue nicht -mehr wenden konnte.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_250" id="Seite_250">[S. 250]</a></span></p> - -<p>Das üppige Gedränge der Geschehnisse läßt dem Dichter gar nicht -den Raum, das Innere seiner Gestalten so zu eröffnen und sie so in -schaudernder Wirklichkeit aus Seelengrund heraus leben zu lassen, wie -in seinen Tragödien des früheren Stils; Leonatus lebt uns nicht wie -Othello, und Jachimo nicht wie Jago; und auch Imogen, obwohl ihr des -Dichters besondere Liebe gilt, ist uns keine Desdemona: die Charaktere -sind nicht ausgeführt, und wir brauchen die Erinnerung an jene andern -Stücke Shakespeares, wenn wir die Lücken in der Seelenenthüllung, die -skizzenhaft bleibt, ausfüllen wollen. Auch Cloten, der Dümmlingsprinz, -steht nicht fest in seinem Charakter; je nachdem die Handlung eine -Gelegenheit zu Weisheit und Polemik bietet, läßt der Dichter ihn -manchmal erstaunlich kluge Sätze der Erfahrung sprechen. Es ist aber -offenbar Shakespeare bewußt, daß er es diesmal anders macht; wenn -uns seine Offenbarungen aus dem Reich der Affekte unendlich wertvoll -sind, so ist doch deutlich zu erkennen, daß er in diesen Stücken -gerade dieses Gebietes überdrüssig war: er hatte genug von Haß, Rache, -Mordwut, Umdunkelung und Gier; in seinem Timon ließ er einen Menschen -in Haß und Grimm losbrüllen; was er aber haßte, war die Gemeinheit -der ichsüchtigen Menschen; für sich wollte er nichts; Rache übte er -im Namen der verratenen Menschheit an eben dieser verräterischen -Menschheit; und seine Rache kam so grotesk übertrieben heraus, daß sie -ganz unwirklich und nur Bildersprache eines Phantasiemenschen wurde; -und was der Dichter so überwunden hatte und wessen Überwindung durch -eine nicht den Dämonen unterworfene, sondern geisterfüllte, göttliche -Natur und Vorsehung er gerade zeigen wollte, das wollte oder konnte er -auch nicht mehr mit intensiver, erbarmungsloser Kraft darstellen. Nicht -zu leugnen, daß diese Teile im Zymbelin, zum Beispiel des Leonatus -Posthumus Monolog, in dem die Wut gegen das ganze weibliche Geschlecht<span class="pagenum"><a name="Seite_251" id="Seite_251">[S. 251]</a></span> -ihn übermannt, von dem virtuosen Dichter aus Erinnerungen an früher aus -dem Tiefsten geschöpfte Ausbrüche gespeist werden. Um so wunderbarer, -wie er im Wintermärchen in einigen Szenen noch einmal mit voller -Kraft zur Tragödie zurückkehrt, um dann die Szenen des Spiels, der -Heiterkeit, der Überwindung sich ganz rein und leicht dagegen abheben -zu lassen. Im Zymbelin ist eines ins andre gemischt, und Shakespeare -rettet sich da vor der Tragik, die ihm Unlust und Qual zu bereiten -scheint, vor allem in die äußerliche Romantik der sich überstürzenden -und aller Wirklichkeit spottenden Abenteuer- und Wunderhandlung, die -freilich das Element des Spiels und vor allem der in starken Gegensatz -zur Zivilisationsverderbnis gestellten reinen und unschuldigen Natur -schon in sich birgt.</p> - -<p>Ganz entzückend sind die Szenen im Walde, wie Imogen, die sich schon -immer vom Hofe weg in ein Leben der Einfachheit und Natur gewünscht -hatte, auf der Flucht in Knabentracht zu ihren jungen Brüdern und dem -alten Mann kommt, der die Knaben dem Hof geraubt und in der rauhen, -gesunden Wildnis hat aufwachsen lassen. Dreierlei kommt da teils zur -Sprache, teils zur Gestaltung: der Gegensatz zwischen der Einfachheit -und Redlichkeit der Natur und der höfischen Lüge; der angeborene Adel -und heldenhafte Sinn, das Königsblut, das sich in den beiden Prinzen -meldet, obwohl sie nichts von ihrer Herkunft wissen; und schließlich -die Stimme des Bluts, das die Geschwister in sofortiger, zwingender -Liebe zu einander zieht, wiewohl sie sich nicht kennen.</p> - -<p>In diese Szenen hat der Dichter eine Fülle der Kraft, der Polemik, -der Weisheit und der Zartheit gestreut. In all den Stücken dieser -Art bekommt man den Eindruck, Shakespeare habe seine Werke vor allem -für die jungen Herren vom Adel aufgeführt und es habe ihm Freude -gemacht, ihnen immer wieder anschauliche Lehren zu erteilen. Sofort -zu Beginn dieses Teils, mit dem eine ganz neue<span class="pagenum"><a name="Seite_252" id="Seite_252">[S. 252]</a></span> Handlung einsetzt, -wird das niedrige Tor der Höhle mit den hohen prächtigen Türen in -Königsschlössern verglichen:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Bückt euch, ihr Knaben:</div> - <div class="verse">Das Tor lehrt euch den Himmel ehren, gebeugt</div> - <div class="verse">Zu frommem Frühdienst. Königstore sind</div> - <div class="verse">So hoch gewölbt, daß Riesen durchstolzierten</div> - <div class="verse">Samt ihrem frechen Turban, ohne Gruß</div> - <div class="verse">Der Morgensonne. — Heil dir, schöner Himmel!</div> - <div class="verse">Wir hausen hier im Fels, doch wir begegnen</div> - <div class="verse">Dir nicht so hart, als die in Schlössern wohnen.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und wie dann der Alte die Knaben auf die Jagd den Berg hinauf schickt, -gibt er ihnen sofort wieder eine Lehre:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich bleib’ im Tal. Seht ihr von oben mich</div> - <div class="verse">Wie eine Krähe, denkt, der Platz nur macht</div> - <div class="verse">Uns klein und groß; bedenkt, was ich erzählt</div> - <div class="verse">Von Höfen, Fürsten und von Kriegeslist.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Die Jungen aber wollen in die Welt; sie wollen sich nicht mit -Erzählungen belehrend moralischer Art und Warnungen abspeisen lassen; -sie wollen selber ihre Erfahrungen machen, um auch einmal so ein weiser -Alter zu werden. Da bietet sich dann gleich wieder Gelegenheit zu -einer Beschreibung der argen Welt: Wucher in den Städten; künstliches, -geschmeidiges Treiben am Hof; Bevorzugung des Schlechten und Unechten -auch im Kriegswesen.</p> - -<p>Wie nun Imogen als Knabe Fidele dazu kommt, verbindet sich mit dieser -Reinheit des Naturlebens, die auch sie sofort als Gegensatz zum Hof -empfindet, der Zug der Liebessympathie: die drei jungen Menschen nennen -sich, ohne zu ahnen, wie wahr es ist, unter einander Bruder, und Imogen -erweitert diese Liebe zum Wunsch allgemeiner Menschenverbrüderung:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">„Sind wir nicht Brüder?“</div> - <div class="verse mleft4">Mensch und Mensch sollt’s sein!</div> - <div class="verse">Doch sieht der Lehm in Würden stolz auf Lehm</div> - <div class="verse">Herab und ist doch all ein Staub!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_253" id="Seite_253">[S. 253]</a></span></p> - -<p>Wunderschön, groß und rein ist dann, wie nach dem vermeintlichen Tod -Fideles da tief im Waldesinnern das Natur-Requiem angestimmt wird; -und auch hier wieder wählt Shakespeare den seltsamen Weg, Tragik in -Spiel zu wandeln, daß er uns vorher wissen läßt, die Trauer sei echt -und rein, doch Grund zu ihr sei nicht da: was da als tot beklagt wird, -lebt noch! Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit verkündet dieses -Natur-Requiem als Lehre der idyllischen Natur und des nivellierenden -Todes, eines Todes, der nur Schein und Maske tötet, aber nicht das -Wesen: der Tod macht frei; der Tod macht alles gleich; vor dem Tod sind -wir Brüder:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Scheu nicht mehr das Machtgebot;</div> - <div class="verse">Fern von des Tyrannen Streich,</div> - <div class="verse">Sorg nicht mehr um Kleid und Brot,</div> - <div class="verse">Dir ist Schilf und Eiche gleich.</div> - <div class="verse">Zepter, Weisheit, Heilkunst werden</div> - <div class="verse">All auf einem Weg zu Erden.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Vieles im Wintermärchen erinnert an Zymbelin: auch da in der Mitte -eine adlige, seelenvolle Frauengestalt; unbegründete, jäh ausbrechende -Eifersucht des Mannes gegen sie; das allgemeine Milieu wieder die -Hahnrei-Mode und Frauenverachtung, Frauendienstbarkeit; der Gegensatz -von Hirtenleben und Hof; die märchenhafte, romantisch abenteuerliche -Sphäre der Handlung. Aber es darf nicht geleugnet oder verschwiegen -werden, daß das Wintermärchen das Werk eines Meisters, König Zymbelin -aber trotz wunderbar schönen und tiefen Einzelzügen das Werk eines -wirren oder müden Suchenden und in elenden und gänzlich mißratenen -Einzelzügen das Werk eines Pfuschers ist. Der Unterschied zwischen den -beiden zeitlich und stofflich so benachbarten Werken ist viel größer -als der zwischen Clavigo und Götz; er ist so groß wie zwischen dem -Großkophta und dem Egmont oder zwischen Claudine von Villabella und -Iphigenie. Damit aber, daß ich an<span class="pagenum"><a name="Seite_254" id="Seite_254">[S. 254]</a></span> diese ungeheuere Verschiedenheit -im Werk Goethes erinnere, verfolge ich noch einen Nebenzweck. Goethes -Leben ist historisch, ist von Tag zu Tag bekannt; Shakespeares Leben -ist mythisch; von ihm als Menschen wissen wir eigentlich, wenn unter -Wissen völlige Sicherheit zu verstehen ist, nichts. So wenig aber, -wie eine Möglichkeit vorliegt, Goethe ein Werk darum abzusprechen, -weil es seines Idealbildes nicht würdig ist, weil es tief unter seinem -Besten zurückbleibt, so wenig dürften wir Shakespeare für unfähig -halten, sich hie und da recht von Herzen oder herzlos gehen zu lassen -oder in die Irre zu gehen oder auch etwas zu schreiben, was durch -geheimnisvolle vergängliche Beziehungen, die wir nicht mehr nachfühlen -können, seiner Zeit viel bedeutete, uns aber zu großem Teil nichts -als abstrus ist. Daß Zymbelin von Shakespeare stammt, ist freilich -noch nie bezweifelt worden; aber auch bei diesem Werk hat man, obwohl -nichts dafür und alles dagegen spricht, von einer Bearbeitung einer -Jugenddichtung reden wollen und hat auch da wieder den Versuch gehabt, -solche Teile, die einem besonders mißfielen, flugs für Einfügungen -von andern zu erklären, obwohl in Wahrheit die Handlungsteile und -selbst die Intermezzi so alle mit einander verzahnt sind, daß sich gar -nichts herausnehmen läßt. Daß doch die Leute immer einen Normaltypus -brauchen! Da sie Shakespeare zum Durchschnittsmenschen nicht machen -können, muß er der unentwegt Große und Fehlerlose sein. Er war aber -weder der betrunkene Wilde, als den ihn die französischen Kunstrichter -sahen, noch wird je die Sorte Klassiker aus ihm werden, zu dem ihn die -Klassenlehrer machen wollen. Ich glaube das Große, Neue zu ahnen, zu -dem Shakespeare mit König Zymbelin unterwegs war, und habe versucht, es -auszusprechen; wie der Schluß, den wir heute von Goethes Faust haben, -auf dem Wege der Resignation entstand, weil der Dichter ungeheuer viel -Größeres, von dem wir Proben in den Paralipomenen<span class="pagenum"><a name="Seite_255" id="Seite_255">[S. 255]</a></span> haben, nicht hat -bewältigen können, so ist das Wintermärchen im Vergleich zum Zymbelin -darum wieder meisterlich, weil Shakespeare sich da in seinem Suchen -nach dem neuen Ausdruck einer neuen Lebensstimmung beschränkt hat: er -hat im einen Teil die alten bewährten Methoden seiner großen Tragödie, -und im andern Teil die gleichfalls bewährten Methoden des romantischen -Lust- und Schäferspiels angewandt und hat das Schwerste des Schweren, -die Verbindung dieses Zweierlei zu einem neuen Stil, wozu er im -Zymbelin und im Timon und im Perikles lauter verschiedene und im großen -Ganzen nicht gelungene Anläufe genommen hatte, aufgegeben. Auf dem Wege -über die Zweiteilung des Wintermärchens ist ihm dann zwar nicht das -Ungeheure, unaussprechlich Neue, nach dem er gerungen hat, aber doch -eine edle, reife Einheit gelungen in seinem Schwanengesang, dem Sturm.</p> - -<p><em>The Winter’s Tale</em> heißt in der Tat das Wintermärchen; die -Übersetzung ist ganz richtig. Die Erklärung findet sich in der -entzückend lieblichen Szene, wo der junge Prinz, Leontes’ und Hermiones -Sohn, in der traulichen Frauenstube von den Hofdamen verhätschelt wird -und nun anfängt, seiner Mutter und den jungen Damen ein Märchen zu -erzählen. Traurig soll es sein, meint er:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Ein traurig Märchen</div> - <div class="verse">Paßt besser für den Winter.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Das Schöne ist nun, daß wir hier in diesem traurig ernsten Drama ganz -im Märchen und dabei ganz im Menschlichen sind; das Märchenhafte wird -nicht mit den üblichen Mitteln und Requisiten hergestellt. Der Prinz -wollte ein Märchen von Gespenstern und Kobolden erzählen; in dem Stück -aber greift, wenn man von dem nebensächlichen Orakel von Delphos (die -Insel Delos ist gemeint) absieht, gar keine Geistermacht ein. Das -Märchenhafte liegt ganz in der Stimmung des Ganzen, in dem, was die -Romantiker im feinsten, duftigsten Sinne Ironie genannt haben:<span class="pagenum"><a name="Seite_256" id="Seite_256">[S. 256]</a></span> in -aller menschlichen Ergriffenheit verlieren wir nie das Gefühl: es ist -ein Spiel. Und gelenkt wird das Spiel von einer Frau, die zugleich die -böse und die gute Fee ist, von Paulina, der Freundin Hermiones: sie -rächt die Frau am Zorneswahn des eifersüchtigen Mannes.</p> - -<p>Das Wintermärchen ist nächst dem Porzia-Stück, das Der Kaufmann von -Venedig heißt, das frauenhafteste Drama Shakespeares: Hermione, Paulina -und Perdita sind in ihren verschiedenen Tönungen die Vertreterinnen -lieblich ernster, natürlicher, fein gebildeter, denkender Unschuld. Und -Paulina ist so herzhaft, tapfer, konsequent bis zur Unerbittlichkeit, -so stark und scharf in ihren Reden, man fühlt so lebhaft, wie sie — -so sagt man ja wohl — „ihren Mann steht“, daß man — es ist ja doch -ein Spiel, ein Spiel mit dem bösen Popanz von Mann, und ein anmutig -tiefsinniges Spiel mit uns Zuschauern — daß man den Bericht von -Hermiones Leben in Verborgenheit und den sechzehn Jahren, die sie so -zur Strafe für den Wüterich fern war und für tot galt, gern hinnimmt: -daß diese Flucht aus der Ehe und aus dem Leben psychologisch so -trefflich aus der tiefgekränkten Seele der Frau heraus motiviert ist, -ist uns wichtiger als die Frage nach der äußern Wahrscheinlichkeit; -ja wir sind sogar lächelnd bereit zu helfen und sagen — es ist ein -Märchen, sechzehn Jahre sind’s, damit Perdita inzwischen heranwächst; -im übrigen mag’s wohl kürzer dauern.</p> - -<p>Was sonst die Anachronismen und geographischen Freiheiten angeht, -so ist das Nötige darüber schon vorhin bei Gelegenheit von Zymbelin -gesagt worden: der Dichter braucht diese Aufhebung der von Zeiten, -geographischen Wirklichkeiten und Kulturen gesteckten Grenzen für -die Märchenstimmung. Und überdies haben die rechtes Unglück, die -aus so einem Fabelland wie dem am Meer gelegenen Königreich Böhmen -Shakespeares Unbildung beziehen wollen: diese und ähnliche Angaben -übernahm<span class="pagenum"><a name="Seite_257" id="Seite_257">[S. 257]</a></span> Shakespeare aus seiner Quelle, einer Novelle von Greene, der -ein akademisch graduiertes gelehrtes Haus war.</p> - -<p>Die zwei Teile des Märchens werden von der Zeit, die dazwischen als -Chorus auftritt, getrennt; der erste Teil besteht aus drei Akten, -die aber zusammen kürzer sind als die beiden letzten, und die ersten -zwei sind besonders kurz; durch ein überhitztes Fiebertempo müssen -sie noch zu besonders raschem Verlauf gebracht werden, während -die beiden letzten mit den Schäfer-, Spitzbuben-, Liebes- und -Erwartungssehnsuchtsszenen breit, behaglich und dann wieder schmachtend -ausladen müssen. Dieser zweite Teil mutet an wie eine Verbindung von -niederländischer Malerei und Romantik; wie wenn auf einer Kirmeß von -Teniers eine sehnsuchtsvolle Musik, die nicht enden will, gespielt -würde.</p> - -<p>So falsch es ist, in Othello den Vertreter der Eifersucht zu sehen, -so wahr ist, daß König Leontes an typischer Eifersucht, an Eifersucht -als Gewohnheit und Wesenszug erkrankt ist. Wie er im Grunde ist, wenn -diese Wahnsinnswut ihn nicht umklammert, sehen wir ihn erst spät; -beim ersten Auftreten, beim ersten Wort ist verzehrende Eifersucht -in ihm. Der Grund ist einmal, was wir vorhin bei Zymbelin sahen, die -allgemeine Mißachtung der Frau, die gesellschaftliche Bereitschaft, -ihr nicht zu trauen. Der Kampf der Geschlechter wird nicht aufhören, -solange die Welt steht; kennt kein Mensch mit ganzer Sicherheit den -andern Menschen, so noch weniger je ein Mann eine Frau und die Frau -den Mann; die Ehe also ist ein Bund besonderer Vertrautheit auf dem -Grunde besonderer Fremdheit. Kommt dazu das männisch-befehlshaberische -Regiment im Formalen des Hauses und Staates und die Lockerung der -Zügel im tatsächlichen Leben der Zivilisation, so daß Frauenanmut und -Frauenwitz öffentlich hervortreten, so bilden sich die Zustände in -der Gesellschaft aus, die diesen Stücken die Voraussetzung liefern. -Überdies aber kennt der König etwas nicht, was in solcher<span class="pagenum"><a name="Seite_258" id="Seite_258">[S. 258]</a></span> Zivilisation -der Renaissance sich frei an die Öffentlichkeit traut und was Hermione -in wundervoller Unbefangenheit kennt und übt: Freundschaft zwischen -Mann und Frau. Sie gesteht, unvorsichtig genug, frei und groß, daß -sie den Jugendfreund ihres Mannes, den König Polirenes von Böhmen, -liebe, wie es ihr Recht und ihre Pflicht sei. Ausdrücklich läßt -Shakespeare sie diese Freundschaft Liebe, <em>love</em> nennen, obwohl nicht -die leiseste Spur Begier oder Sexualität darin ist; Shakespeare weiß -aus ernstem und tiefem Freundschaftsleben, aus seiner ganzen starken -innigen Menschlichkeit, daß der Eros, aber darum noch lange nicht die -Geschlechtlichkeit, überall ist, wo Menschen sich in Sympathie zu -einander neigen und finden.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich liebt’ ihn, wie sein Wert es forderte,</div> - <div class="verse">Mit solcher Art von Lieb’, als einer Frau</div> - <div class="verse">Wie mir geziemte.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Auch Desdemona, wiewohl sie noch ganz ein Mädchen und von Natur und -Liebe aus viel mehr zur Unterwürfigkeit geneigt ist als die reife, -selbstbewußte Hermione, die ihren Gatten nicht mehr ehrt als sich -selbst, hatte ihren Trotz und ihre Unschuld darein gesetzt, Cassio -freundschaftlich zugetan zu sein und es ihrem Mann und aller Welt zu -zeigen; Hermione geht weiter und macht geradezu zur Bedingung ihrer -Ehe und ihres Lebens, daß sie in der Freiheit und freien Äußerung -ihres Gefühls nicht beschränkt werde. Er aber, der eifersüchtige -Narr, beobachtet unter Qualen jedes Lächeln und gar den Händedruck, -das Streicheln und dann den Erfolg ihrer liebreichen Bitten, zu denen -er selbst sie veranlaßt hat, der Freund möge noch bleiben. Es ist -wahr, daß Hermione sehr weit, bis an die äußerste Grenze geht und die -Mißdeutung nicht scheut; es ist wahr, daß ihr Verhalten eine Probe und -eine Prüfung für den Gemahl ist.</p> - -<p>Daß ihre Reinheit ihr dazu aber das Recht gibt, das sehen wir daran, -daß der König — wie ganz anders als in dem<span class="pagenum"><a name="Seite_259" id="Seite_259">[S. 259]</a></span> Stück von Othello und -Jago! — keinen einzigen Menschen findet, der seinen Wahnsinn teilt -oder begünstigt: alle ehren sie die wundervolle Frau; Camillo, -sein treuer Minister, tritt dem Herrn scharf entgegen und verrät -ihn schließlich lieber, als daß er im Dienst seiner Narrheit dem -unschuldigen König von Böhmen ans Leben geht. Nur Leontes — vielleicht -im Gefühl, daß er sie nicht verdient — hat kein Vertrauen mehr; es -bohrt und wühlt in ihm, bis die volle Wut ausbricht; nun war sie von -allem Anbeginn an niedrig und treulos: sein Sohn ist nicht von ihm, und -das im Gefängnis neugeborene Mädchen gewiß nicht: die Zeichen treffen -ein, neun Monate gerade ist der König von Böhmen in Sizilien zu Gast.</p> - -<p>Wie er dann anfängt zu toben — wir haben es kommen sehen, es hat sich -lange genug vorbereitet, hat sich so lange in ihm eingedrückt und ihn -wie eine Feder zusammengepreßt, daß er mit einem Mal losbrechen muß -—, wieder der Frau, der Hochschwangeren den schlimmsten Schimpf ins -Gesicht sagt, da ist es himmlisch, wie sie, aufs tiefste verletzt, fest -und mild erwidert. Kaum versteht sie, was er Fürchterliches meint, so -denkt sie schon an ihn:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">Wie wird Euch dieses schmerzen,</div> - <div class="verse">Wenn Ihr zu hell’rer Einsicht kommt, daß Ihr</div> - <div class="verse">Mich also habt beschimpft! — Liebster Gemahl,</div> - <div class="verse">Ihr könnt mir kaum genug tun, sagt Ihr dann,</div> - <div class="verse">Daß Ihr Euch irrtet.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Sehr zu beachten ist aber, daß sie, die beschimpft und tödlich -beleidigt ist, die das Vertrauen ihres Gemahls verloren hat, die ins -Gefängnis abgeführt wird und gerichtet werden soll, nicht da getroffen -wird, wo Seele und Körper an einander grenzen: sie ist nicht gebrochen -oder außer sich; es kommen ihr, und sie weist selbst darauf hin, keine -Tränen; so himmlisch mild ist sie nicht von der Sphäre des Naturtriebs -und des Körpergefühls her; in ihr lebt der göttliche Funke des Geistes; -ihre Milde kommt daher, daß sie das<span class="pagenum"><a name="Seite_260" id="Seite_260">[S. 260]</a></span> Wesen des gepeinigten Mannes mit -einem weiten Blick übersieht; der Überblick über den Zusammenhang -macht es ihr möglich, den schweren Fehler dessen, über den dieser -Zusammenhang bis zur Verblendung und Betäubung zusammenschlägt, -übersehen, nachsehen zu können; nur für solche geistige Naturen ist im -Verstehen das Verzeihen inbegriffen.</p> - -<p>Zum Verzeihen ist sie im voraus geneigt für den Zeitpunkt, wo er wieder -zu sich, wo er zur Erkenntnis kommt; mit dem, der er jetzt ist, zu -leben ist ihrer Würde unmöglich. Bis dahin übernimmt die Führung ihre -kluge, resolute Freundin Paulina, die Verstand, Mutterwitz in hohem -Maße, aber nicht diesen schon fast nicht mehr menschlichen Geist der -verzeihenden Milde besitzt. Sie läuft vor allen Dingen zum König; ihm -muß die Meinung gesagt, muß der Kopf zurechtgesetzt werden. Solch ein -Narr! Solch ein Wüterich! In all ihrer Herzhaftigkeit hat sie etwas -entschieden Humoristisches, den Durchschnittsmenschen gegenüber lustig -Überlegenes an sich. Diese Höflinge! Was für Mannesseelen! Wie sie -sich den Mund selber verbinden, wie sie brav schlucken können, diese -armen Schlucker! Muß erst eine Frau kommen und tapfer die Wahrheit -heraussagen? Wir finden Antigonus, ihren Mann, und die andern Herren -vom Hof verhältnismäßig tapfer, im Verhältnis nämlich zu dem wütenden -Tyrannen, zu dem die Eifersucht diesen König macht. Paulina aber, in -zärtlicher Bewunderung für die herrliche Frau und innigem Mitgefühl, -hat nur Sinn für das Verhältnis zur Reinheit und Hoheit Hermiones. -Wie es dann zu der abscheulichen Gerichtsfarce kommt, noch mehr, wie -das Kindlein ausgesetzt wird und ihr eigener schwacher Mann sich dazu -hergibt, dies Entsetzliche zu besorgen, wie die Königin in tiefer -Ohnmacht totengleich daliegt, da ist Paulina entschlossen: mit diesem -Mann, für diese Untat muß die Männerwelt bestraft werden, die eine -Hermione nicht verdient.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_261" id="Seite_261">[S. 261]</a></span></p> - -<p>In ihr leben kann auch Hermione nicht mehr; für ihre Ehre ist sie -in großer Haltung, tapfer auf Freiheit und Menschenrecht bestehend -eingetreten, solange es not tat; nun die Ehre durch den Orakelspruch -des Gottes gerettet ist, muß sie tun, was ihre Seele schon immer -begehrte: sich zurückziehen aus dieser Welt. Ihr Sohn, der Erbe -ihres Geistes, dieses phantasievolle Kind, ist, weil er sich die -Kränkung seiner Mutter und den Riß, der seine Eltern trennte, zu -lebhaft vorstellte, gestorben; ihr neugeborenes Mädchen ist in der -Wildnis ausgesetzt worden; sie hat keine Wirklichkeit mehr, nur noch -die Hoffnung auf das Wunder, daß dieses Kind irgendwo lebt und ihr -wiederkehrt; das ist das einzige, was sie im Leben hält.</p> - -<p>So der Abgeschiedenheit geweiht ist aber von nun an auch Leontes, -ihr Gemahl. Jetzt, wo er sich in einer nicht wütigen, in einer ganz -stillen Reue verzehrt, wo er die Frau für tot, an ihm gestorben halten -muß, erkennen wir ihn erst in seinem wahren Wesen. Aber wir ahnen das -beinahe nur; das tragische Schattenspiel verschwindet; die alte Welt -dämmert in ihrem Todleben dahin; wir leben mit der neuen Generation.</p> - -<p>Der Übergang ist, wie es dem Sinnspiel taugt, märchenhaft: Antigonus, -der das Kind in einer Wüste aussetzen sollte, wird mit dem Schiff -an Böhmens Küste verschlagen, im Traum naht sich ihm die Gestalt -Hermiones, die er, da er wohl von Gespenstererscheinungen, aber nichts -davon weiß, daß der Geist einer Mutter aus ihrem Körper steigen und -in Angst und Sorge dem Kinde nachgehn kann, für tot halten muß; die -Frau, die, als ihr Gemahl sie bitter kränkte, ob diesem Einsturz des -gesellschaftlichen Gefüges, der Ehe nicht hat weinen können, vergießt -jetzt, wie sie um die Frucht ihres Leibes sich härmt, strömende Tränen; -sie fordert, daß Antigonus das Kind in Böhmen lasse, und gibt dieser -Tochter den Namen Perdita. Dann verschwindet die Erscheinung; bleibe -es ganz dahingestellt,<span class="pagenum"><a name="Seite_262" id="Seite_262">[S. 262]</a></span> ob Shakespeare hier ein Märchen gedichtet -oder mit vielen Denkenden unter unsern Zeitgenossen an eine solche -Fernkraft und Reisegabe der Seele geglaubt hat. Das Schiff, das das -Kind hergebracht hat, scheitert und geht unter; Antigonus wird von -einem Bären zerrissen; Perdita von einem Schäfer in Pflege genommen. -Nun räumt die Zeit die sechzehn Jahre weg: wenn der Vorhang sich wieder -öffnet, ist in der neuen Generation aus der edeln Freundschaftsliebe -zwischen Sizilien und Böhmen die echte innige Liebe zwischen Mann und -Weib geworden, wo Naturtrieb, Seeleninnigkeit und geistige Achtung in -einem beisammen sind: Perdita, die Schäferin, und Florizel, der Sohn -des Königs von Böhmen, haben sich in Liebe gefunden.</p> - -<p>Nun entsteht aufs feinste und natürlichste, so daß es nicht eigentlich -in die Aufmerksamkeit unsres Verstandes, nur in unsre Ahnung und unsre -Lust eingeht, in allem, was in Böhmen geschieht, ein Gegenstück zu dem, -was vordem auf Sizilien vor sich ging.</p> - -<p>Hier in Böhmen sind wir in der freien Natur, im ländlichen Leben, in -Spiel und Tanz; wieder, wie einst am Königshof, kommt die Wut und -stört die Liebe; die Wut des Königs von Böhmen ist es diesmal gegen -den Prinzen Florizel, seinen Sohn, der eine Schäferstochter liebt und -heimlich heiraten will; wie aber im ersten Teil Konvention, Pathos und -Tragik walten, so hier durchaus Freiheit, Heiterkeit und Komik. Wir -wissen von Anfang an, daß diesmal Natur und Adel vereint sind, daß -Perdita die vermeintliche Schäferstochter ihrem Geliebten ebenbürtig -ist; wir wissen, daß die Wut diesmal nicht zu tragischem Konflikt -führen kann.</p> - -<p>Es ist diesen Stücken eigentümlich, daß Maske und Verkleidung gewählt -wird, um gewagten Ernst aussprechen zu lassen. Im Zymbelin wird das -gesunde Bauerntum den verderbten Höflingen gegenübergestellt, und -die<span class="pagenum"><a name="Seite_263" id="Seite_263">[S. 263]</a></span> Bauern sind es, die das Vaterland retten; schließlich aber waren -es doch nur verkleidete Bauern, waren es Ebenbürtige, war alles nur -warnendes Spiel. Hier im Wintermärchen wird jede Gelegenheit benutzt, -um von dem alten Schäfer und seinem Sohn in treuherzigem Ernst, von -dem lustigen Spitzbuben Autolykus in überlegenem Spott, von Perdita in -natürlichem Selbstgefühl am Hof und seiner Überhebung Kritik üben zu -lassen. Stolz und freimütig ist dieses Naturkind Perdita; kaum kann sie -sich enthalten, dem König ins Gesicht zu sagen,</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Die selbe Sonn’, die seinen Hof bestrahlt,</div> - <div class="verse">Verberg’ ihr Antlitz unsrer Hütte nicht,</div> - <div class="verse">Nein, schau’ auf beide;</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>aber sie ist damit das echte Kind ihrer Mutter; es kommt nicht zum -wahren Gegensatz und zur wahren Ebenbürtigkeit der Bäuerin und des -Fürsten; darf in diesen Dramen nur in Maske und Spiel Rousseausche -Naturstimmung nicht zu Ereignis, bloß zu Wort kommen? Zu starkem, -innigem und leidenschaftlichem Wort freilich; auch die Handlung -läßt sich so an, als ob die Natur über die Standesunterschiede -hinwegschritte, bis dann die letzte Wendung kommt. Der Prinz ist -bereit, um seiner Liebe willen auf alle Vorrechte zu verzichten, es -genügt ihm, sein Liebesgefühl zu erben und weiter nichts; der Minister -Camillo ist gewillt, ihm zur Ehe mit dem Schäferkind zu verhelfen.</p> - -<p>In der Tat ist für Shakespeare der Adel, der Geblüt heißt, und der -Vorrang, der diesem Geblüt zukommt, nicht bloß eine gesellschaftliche, -sondern eine Naturtatsache. Dieser Adel, diese natürliche Auszeichnung -vererbt und kumuliert sich, kann also nicht ohne weiteres für -nichts, für bloße Konvention erachtet werden. Die ganze Schärfe -von Shakespeares Kritik richtet sich gegen die Vertreter des Adels -und Fürstentums, die nicht erwerben wollen oder können, was sie -als Vätererbe besitzen; in den Waldszenen Zymbelins und verwandter -Stücke, in den<span class="pagenum"><a name="Seite_264" id="Seite_264">[S. 264]</a></span> Dorfszenen des Wintermärchens kritisiert er nicht den -Adel als Vererbung, sondern den Adel als Milieu, zeigt er, wie Leben -und Erziehung in Natur und ländlicher Einfachheit so unsäglich viel -gedeihlicher ist als in der Verderbtheit des Hofes. Manche seiner -Gestalten gehen weiter und sind zu der Anschauung bereit, daß diese -Verderbnis schon erblich, schon Verfall geworden ist, daß also der -angeborene Adel Ausgenommener, Vornehmer nicht mehr in der Natur -existiert; der Dichter selbst tut diesen Schritt noch nicht; vielleicht -mußte er auch nur von späteren Generationen getan werden, weil das -Leben des Adels, gegen das der Dichter seine Polemik richtete, in der -Folgezeit nicht besser, nur schlimmer wurde und den natürlichen Vorzug -der Privilegierten, der einmal Wirklichkeit war, allmählich in diesen -Jahrhunderten vernichtete.</p> - -<p>Da der Geburtsadel in Shakespeares Zeit noch etwas anderes war als -in unserer, da die Rückwirkung des Lebens auf den Keim noch nicht -so verderbend gewirkt hatte, bot dieses Stück Natur ihm auch noch -Probleme, die wir nicht ganz mehr so lebendig erfassen wie seine -Zeit. Da ist vor allem das Problem der Auffrischung des Adels durch -Volksblut, das Problem der Bastards, das Shakespeare immer wieder -gereizt hat. Hier im Wintermärchen ist es wunderfeine Ironie, wie -der, der bald zum Wüterich gegen seinen Sohn werden soll, König -Polixenes, dem Landmädchen, das, ohne es zu wissen, eine Fürstin ist, -von dem er aber demnächst vermeinen muß, sie verführe seinen Sohn den -Prinzen zu einer unadligen Vermischung, Unterricht über den Wert der -Bastardierung erteilt. In Perdita wie in den Söhnen Zymbelins bricht -das fürstliche Blut immer durch; sie weiß nur nicht, was es ist, und -nimmt es für Natur schlechtweg. Ihr vermeintlicher Vater, der alte -Schäfer, schilt sie aus über ihre vornehmen Manieren; und wie sie sich -dann entschließt, bei dem Fest und der Bedienung der Gäste mitzuhelfen, -wählt sie die adlige Weise: sie<span class="pagenum"><a name="Seite_265" id="Seite_265">[S. 265]</a></span> begrüßt die Gäste mit Blumen. Da kommt -nun die Rede auf eine Blume, die sie in ihrem Garten nicht duldet: der -gestreifte Sommerveiel, den manche, sagt sie, auch den Bastard der -Natur nennen:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft12">Ich hörte,</div> - <div class="verse">Nicht bloß die große schaffende Natur,</div> - <div class="verse">Auch Kunst hab’ Teil an ihrer Buntheit.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Da belehrt er sie:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft11">Immer bleibt</div> - <div class="verse">Die Kunst, von der Ihr sagt, sie woll’ Natur</div> - <div class="verse">Verbessern, von Natur geschaffne Kunst.</div> - <div class="verse">Ihr seht, holdselig Mädchen, wir vermählen</div> - <div class="verse">Ein mild’res Pfropfreis mit dem wilden Stamm,</div> - <div class="verse">Befruchten eine Rinde schlechter Art</div> - <div class="verse">Durch edle Knospen. Dies ist eine Kunst,</div> - <div class="verse">Die die Natur verbessert, nein, verändert;</div> - <div class="verse">Doch diese Kunst ist selbst Natur.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Solche Blumen, solche Züchtungen, ermahnt er, solle sie nicht Bastarde -nennen. Vielleicht müssen wir uns selbst mit unserer Phantasie einer -vergangenen Zeit aufpfropfen, um den ganzen holden Liebreiz dieser -Szene zu empfinden, wo derselbe Mann die Bastardierung rühmt, der dann, -wo’s ihm und seinem Geschlecht ans Blut geht, wütend aufbegehrt, und wo -wir doch als Eingeweihte im voraus wissen, daß die, die er mit Auge und -Herz erst so hold und dann mit Konvention und Verstand so verächtlich -findet, in jedem Betracht eine adlige Natur ist: dem Geblüt nach adlig -und nicht vom verderbten Adelsleben, sondern von der Natur erzogen. -Vielleicht aber wird es uns auf unserm Weg zur Zukunft hin gut tun, -wenn wir uns lebendig auf diesen Standpunkt Shakespeares versetzen? -Vielleicht ist unsre Zeit, die nichts von Züchtung und Erlesenheit -weiß, nur ein Übergang und eine Zwischenstufe?</p> - -<p>Will die Aufführung mit der Wiedergabe dieses zweiten Teils dem -Sinn der Dichtung gerecht werden, so ist es nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_266" id="Seite_266">[S. 266]</a></span> genug, in diesem -vierten Akt, in den Szenen der weltunerfahrenen Bauern, des gerissenen -Spitzbuben, des holden Liebespaars Anmut, Derbheit und Lustigkeit -zu vereinigen und darüber dann die Wolke der Königswut streichen zu -lassen. Es muß vielmehr, wie es fortwährend in Worten geschieht, -so auch in der Stimmung dieser Szenen der Gegensatz zwischen der -natürlichen Freiheit, die hier waltet, zu der gepreßten Hofluft des -ersten Teils enthalten sein. Wir müssen nachträglich spüren, daß -zwischen der konventionellen Hahnrei- und Despotenwut des Königs -Leontes und den konventionellen Lastern des Hofes ein Zusammenhang -besteht. Wir müssen begreifen, warum es Prinz Florizel auch am -Hof seines Vaters nicht aushält und zu den Schäfern gegangen ist, -warum Autolykus, der einst eine gute Stellung am Hofe und seine -wohlgekleidete und -genährte Sicherheit hatte, lieber durchs Land -streicht und sich mit Gaunereien durchhilft, als seine Freiheit und -Heiterkeit wieder einzubüßen. Die Teile dürfen nicht von einander -getrennt sein; der Dichter hat zwischen allen einen Zusammenhang -hergestellt; es hat seinen guten Grund, warum Autolykus der freie -Vagabund den Prinzen, der dem Hof entflieht und den Menschenadel in der -reinen Natur sucht, lieb hat und seine Schelmenstreiche nur für ihn, -nicht gegen ihn anlegt.</p> - -<p>Kommen wir von dem Gebiet der Freiheit, in dem Perditia und Florizel -sich fanden, zum Hof des Königs Leontes zurück, so mutet uns die -Wandlung, die dort, die vor allem in der Seele dieses Königs -vorgegangen ist, an, als ob sie dieser Natur und Heiterkeit, von der -wir herkommen, verwandt wäre. Indem wir, nach der argen Pressung in -der wütigen Gewalttätigkeit, jetzt bei Tanz und Lied und Spiel und -derber Schelmerei und Ironie waren, erlebten wir in der erleichterten -Behaglichkeit, die in uns einzog, etwas, was der Befreiung des -Konventions- und Affektsklaven entspricht, die in all der Zwischenzeit -in<span class="pagenum"><a name="Seite_267" id="Seite_267">[S. 267]</a></span> unsrer Abwesenheit geschah. Wir glauben an sie, weil wir selbst in -derselben Richtung entspannt wurden; weil die Freiheit der Natur das -äußere Bild und die Vertretung der moralischen Freiheit ist. So löst -sich nun alles: der Minister Camillo, einer der seltenen Ehrenmänner, -die am Hofe aufrecht und selbständig bleiben, und Autolykus, der das -Intrigieren, das er am Hofe gelernt hat, gern in Freiheit besorgt, -bringen die Handlung in Gang: das Liebespaar flieht nach Sizilien, der -König folgt ihm nach, und dort wird Perdita an den Gegenständen, die -ihr Pflegevater bewahrt hat, und vor allem an der Ähnlichkeit mit der -Mutter erkannt. So ist denn das Wunder geschehen, um dessentwillen -Hermione in Abgeschiedenheit, ohne an einem Leben teilzunehmen, am -Leben geblieben war: das Kind ist da, eine neue Zeit ist gekommen, eine -neue Generation, eine neue Art Fürst, der den Adel in der natürlichen -Freiheit aufgerichtet hat, und von innen, von Reue und Liebe und -Vernunft her, ist Erneuerung und Befreiung auch über den König, -ihren Gemahl gekommen. Der hat gelernt: der Jugendfreund, dem seine -Eifersuchtswut galt, ist ihm jetzt der Bruder; und wie nun Hermione, -von den liebenden Blicken dieses Freundes zuerst als lebendig erkannt, -sich aus der Starrheit der Statue löst, da ruft Leontes, selbst wie ein -aus langem, bösem Zauber Erlöster, den beiden, seiner Frau und seinem -Freunde, zu:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">O vergebt,</div> - <div class="verse">Daß zwischen eure heil’gen Blicke je</div> - <div class="verse">Ich schnöden Argwohn warf.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Hermione aber scheint Blicke und Sprache nur noch für eines zu haben: -für ihr Kind, auf das sie geharrt hat, das ihr aus der Freiheit -geschenkt wird und in der Freiheit den Geliebten fand. Was immer auch -dieser Verlorenen, dieser Perdita das Leben bringen wird: sie wird -ein Weib sein, das, in sich den ererbten Keim des Adels tragend, in -Freiheit aufgewachsen, von der Natur erzogen,<span class="pagenum"><a name="Seite_268" id="Seite_268">[S. 268]</a></span> ebenbürtig neben ihrem -Gemahl stehen wird; in dieser Generation gibt es beim Mann nicht die -Knechtschaft unter rohe Triebgewalt und Konvention, beim Weibe nicht -die Versklavung unter den Mann; Mann und Weib, ein Paar in Natur, -Freiheit, Adel.</p> - -<p>Das Märchen, das uns diese Dinge anschaulich und in Stimmung und in -manchem Wort der Weisheit und Polemik zeigt, ohne je der Abstraktion -oder Allegorie zu verfallen, das Wintermärchen ist zu Ende; mit kaltem -Grauen hat es begonnen, mit Frühlingshoffnungen, durch die noch ernste -Trauer webt, schließt es: das Märchen von Männerwut, Frauenheiligkeit, -Frauengeist, Frauenklugheit und Frauengericht; das Märchen von den -Sklaven der Affekte und Satzungen und von den Freien der Natur und des -Adels. Es ist uns nicht im entferntesten so ausgelassen zumut wie dem -frech gemeinen Klassenlosen und Enterbten Autolykus; aber das spüren -wir doch, wie er’s beim ersten Auftreten fast im Jubel gesungen hat: es -sprießt wieder unterm Schnee, die Liebe und die süße Zeit wollen wieder -ins Land kommen, und das rote Blut herrscht allmächtig in der Blässe -des Winters.</p> - -<hr class="chap" /> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_269" id="Seite_269">[S. 269]</a></span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Der_Sturm">Der Sturm</h2> - -</div> - -<p class="initial">Mehr als einmal in diesen Betrachtungen habe ich Grund gehabt, -Übersetzungen Schlegels als ungenügend oder falsch zu bezeichnen; oft -habe ich auch stillschweigend bei ihm wie bei andern den Text von -Stellen, die anzuführen waren, selbständig oder durch Aushilfe bei -andern Übersetzern verbessert. All die Ungenauigkeiten, Irrtümer, -Lässigkeiten und Abschwächungen, die man bei Schlegel gefunden hat -und noch findet, ändern aber nichts daran, daß er der größte, daß -er der wundervolle Übersetzer Shakespeares in die deutsche Sprache -ist. Es bleibt ein noch immer unersetzter Verlust, daß er nicht alle -Stücke Shakespeares übersetzt hat; lange schon haben wir ihn vermißt; -in der Folge von Stücken, die hier behandelt werden, war Hamlet das -letzte, dessen deutsche Fassung von ihm stammt. Der Sturm aber ist -wieder von Schlegel übersetzt, und in den entscheidenden Höhepunkten -wenigstens ist diese Nachdichtung ganz so trefflich wie seine andern -Übersetzungen; in den lyrischen Partien freilich fehlt dem deutschen -Ausdruck manchmal die Sicherheit und Notwendigkeit, der feste Sitz des -Bildes und der Stimmung im Rhythmus. Aber selbst wenn diese oder sonst -eine deutsche Fassung so gut wäre, wie sie irgend sein kann, sollte -jeder, der dazu imstande ist, mit oder ohne daneben gelegte Übersetzung -den Sturm im Original lesen: diese Mischung von Zartheit und Derbheit, -Roheit und Lieblichkeit, Feinheit und Gemeinheit, Naturgewalt und -Geistesschärfe, inniger Lyrik, plumper Prosa und schließlich noch -dämonisch elementarer Schlechtigkeit im hohen Ton der Verssprache ist -ganz unnachahmlich.</p> - -<p>Die Tradition sagt, der Sturm sei Shakespeares letztes Stück; es -spricht nichts dagegen, unser Wunsch spricht dafür, beweisen läßt es -sich nicht; der Zymbelin, das Wintermärchen, auch Heinrich VIII. -stammen aus derselben<span class="pagenum"><a name="Seite_270" id="Seite_270">[S. 270]</a></span> Zeit, den Jahren zwischen 1610 und 1612. Die -Herausgeber der Gesamtausgabe von 1623 haben den Sturm als erste in -der Reihe der Komödien gebracht und damit an die Spitze der ganzen -Ausgabe gestellt; auch diesen Umstand können wir, da das Gedicht in der -Fassung, in der es uns einzig vorliegt, ein ganz spätes Stück sein muß, -so deuten, als hätten Shakespeares Freunde diese erste Gesamtausgabe -mit seinem letzten Drama als seinem Vermächtnis und einem weihevollen -und tief persönlichen Dokument beginnen wollen.</p> - -<p>Was unser Wissen auf Grund von äußeren Tatsachen angeht, so steht -eigentlich nur fest, daß der Sturm im Jahre 1613 schon vorgelegen -ist: da wird er von Ben Jonson polemisch erwähnt. Daß Shakespeare -wahrscheinlich eine Stelle in Montaignes Essays benutzt hat, -deren englische Übersetzung 1603 erschienen ist, sagt uns für die -Abfassungszeit so gut wie nichts; und daß er den Bericht Silvester -Jourdans über eine Entdeckung der Bermudas, sonst die Teufelsinseln -genannt, vorher gekannt habe und nicht vor 1610, wo er im Druck -erschien, gekannt haben könne, ist eben auch nur wahrscheinlich. Und -gewisse Dokumente, die Nachrichten über Aufführungen bei Hof 1611 und -— zur Hochzeit des Winterkönigs — 1613 bringen, stehn im Verdacht der -Fälschung.</p> - -<p>Wir wissen gar nichts davon, wo Shakespeare den Stoff her hat. Aber -es besteht eine Ähnlichkeit, die nicht zufällig sein kann, zwischen -Handlungsteilen des Sturm und der „Komödia von der schönen Sidea“ des -im Jahre 1605 schon gestorbenen deutschen Dramatikers Jakob Ayrer. Was -uns von der Handlung dieser Komödie angeht, ist folgendes: Der Fürst -in Littau, Sideas Vater, ist vom Fürsten in der Wiltau seines Reichs -beraubt und in die Wildnis getrieben worden. Mit einem Zauberstab bannt -er den Teufel Runcifall, der ihm prophezeit, er werde dadurch wieder -zur Macht gelangen, daß er den Sohn seines Feindes<span class="pagenum"><a name="Seite_271" id="Seite_271">[S. 271]</a></span> gefangennehme. -Dies geschieht denn auch mit Hilfe des Zauberstabs; der gefangene -Sohn des Feindes wird streng gehalten, muß Klötze schleppen und Holz -hacken; Sidea ist seine Wärterin, die bald Mitleid mit ihm empfindet -und sich von ihm entführen läßt. Nach allerlei Abenteuern, die mit -Shakespeares Stück keine Berührung haben, werden sie vermählt; es -kommt zur Versöhnung und zur Wiedereinsetzung von Sideas Vater in sein -Reich. Das Stück enthält sonst noch eine Menge meist komische Dinge, -die nichts mit dem Sturm zu tun haben. Daß Shakespeare nun dieses -Stück gekannt und daraus den Stoff zu seinem Gedicht bezogen habe, -ist sehr unwahrscheinlich; der Weg eines Dramas, und gar eines noch -ungedruckten — erst 1618 erschienen Ayrers Theaterstücke im Druck -— von Deutschland nach England war bedeutend weiter als von England -nach Deutschland. Überdies gibt es eine Novelle in einer Sammlung des -Spaniers Antonio de Eslava, die ähnliche wunderbare und zauberhafte -Vorfälle an den Streit eines Königs von Bulgarien und eines Kaisers von -Konstantinopel anknüpft; diese Erzählung wurde 1609 oder 1610 gedruckt, -und insofern spräche nichts dagegen, daß Shakespeare, Ayrer und dieser -Spanier aus einer gemeinsamen Quelle, einer uns unbekannten Novelle -geschöpft haben. Den Schauplatz und den Namen der Fürstenhäuser bei -einer solchen Benutzung einer Vorlage jedesmal zu verändern, war in der -Zeit bei Dichtern und Handwerkern allgemein üblich.</p> - -<p>Nun spricht mir aber einiges dafür, daß der Zusammenhang noch -komplizierter ist. Ich möchte mich einer Vermutung anschließen, die -Tieck geäußert hat: daß der Nürnberger Ratsschreiber Jakob Ayrer -von einem aus England stammenden Stück angeregt wurde, das er von -den sogenannten englischen Komödianten in deutscher Sprache gehört -haben kann. Der Teufel, der bei Ayrer in den Dienst des Zauberfürsten -gezwungen wird, heißt Runcifall, und dieser Name<span class="pagenum"><a name="Seite_272" id="Seite_272">[S. 272]</a></span> weist auf englische -Herkunft hin: Runcival, von Ronceval aus der Rolandsage stammend, -heißt im Englischen Riese; und Ayrers Teufel hat nichts Geistiges oder -Ätherisches an sich wie Ariel, sondern ist ein ungeschlachter Kerl mit -Riesenkräften.</p> - -<p>Sind wir aber von Ayrers Stück her erst auf die Vermutung geführt -worden, daß es vor unserm Sturm ein englisches Stück gab, das die -nämliche Hauptfabel behandelte, so können wir der Annahme nicht wohl -ausweichen, daß nicht bloß der Deutsche Ayrer, sondern vor allem der -englische Schauspieler und Theaterdichter Shakespeare mit diesem -früheren Zauberstück etwas zu tun hatte. Wir reden da freilich nur -von Möglichkeiten, und mit jeder weiteren Vermutung, die wir auf -eine Vermutung bauen, wird unser Weg luftiger. Nachdem ich das -aber gesagt habe, darf ich den Mut haben, noch weiter zu muten: -für ganz ausgeschlossen kann ich’s nicht halten, daß das Stück, -dessen Bearbeitung Ayrer vielleicht kennen gelernt hat, ein verloren -gegangenes Stück des jungen Shakespeare war, daß also unser Sturm die -reife Bearbeitung eines Jugendwerks wäre. Was mich dazu bringt, mit -dieser Möglichkeit zu spielen, ist einmal das Stück, das Meres 1598 in -seiner „Palladis Tamia“ neben zwölf andern, darunter der Verlorenen -Liebesmüh’ als eine von Shakespeares Komödien rühmt: <em>Love’s labour’s -won</em>, Gewonnene Liebesmüh’. Dieser Titel würde für eine jugendliche -Behandlung des Zaubermärchens ausgezeichnet passen; und die Versuche -der meisten Ausleger, ihn einem der vorhandenen Lustspiele Shakespeares -zuzuschreiben, das der Dichter später anders benannt hätte, wollen mir -nicht recht einleuchten; Titel wie Wie es euch gefällt oder Ende gut, -alles gut oder Viel Lärm um nichts deuten darauf hin, daß Shakespeare -sich für Stücke dieser Art gern mit einem Namen begnügte, auch wenn -er nicht viel besagte; wenn zum Beispiel, wie meist angenommen wird, -Ende gut, alles gut früher Gewonnene<span class="pagenum"><a name="Seite_273" id="Seite_273">[S. 273]</a></span> Liebesmüh’ geheißen hätte, -würde ich nicht recht einsehen, was Shakespeare dazu gebracht haben -könnte, diesen ausgezeichneten Titel, unter dem sein Stück schon so -früh Berühmtheit gefunden hätte, wieder aufzugeben. Dagegen wäre mit -meiner Annahme durchaus erklärt, warum das schon 1598 berühmte Stück -Gewonnene Liebesmüh’ von dem Herausgeber der Gesamtausgabe nicht -aufgenommen wurde: weil es nur eine unvollkommene erste Fassung eines -so vollendeten Stückes wie Der Sturm wäre. Überdies aber finde ich -in unserm Sturm eine Stelle, über die ich nur mit Hilfe der Annahme -hinwegkomme, daß sie ein Rest aus einer früheren Fassung ist.</p> - -<p>Es ist sehr wahrscheinlich, daß in der Vorlage, nach der Ayrer -arbeitete, die beiden Fürsten, deren einer den andern entthronte, keine -Brüder waren; der biedere Mann hätte gewiß eine solche Steigerung -des Konfliktes, wenn er sie vorgefunden hätte, nicht getilgt; sowohl -bei ihm wie bei dem spanischen Erzähler handelt es sich um einfache, -nicht durch Verwandtschaft und besondere Ruchlosigkeit komplizierte -Feindschaft. Die Stelle, die ich meine, deutet mir nun darauf hin, -daß erst der reife Shakespeare diese Änderung der äußern Handlung -vorgenommen hat und sich so die Gelegenheit verschafft hat, nochmals -auf das Rachethema seines Hamlet zurückzukommen, und daß in seinem -eigenen Stück die Feinde anfangs keine Brüder waren. Jetzt ist es so, -daß an der ruchlosen Entthronung und Aussetzung Prosperos, des Herzogs -von Mailand, zwei Fürsten beteiligt sind: sein Bruder Antonio und -Alonso, der König von Neapel. Dieser Alonso hat einen Sohn Ferdinand, -und dieser bringt mit seiner von Prospero geförderten Liebe zu -Miranda die Feindschaft zur Aufhebung und Versöhnung und brüderliche -Menschenliebe zum Sieg. Sowie Shakespeare die Feinde zu Brüdern machte, -konnte der Jüngling, der beim ersten Blick in Liebe zu Miranda fiel, -nicht mehr der Sohn des<span class="pagenum"><a name="Seite_274" id="Seite_274">[S. 274]</a></span> Usurpators von Mailand sein, weil er sonst der -blutsverwandte Vetter seiner Geliebten gewesen wäre, und das ging nicht -an; der Sohn des Feindes wiederum mußte er aber sein, und so mußte ein -zweiter Feind in Gestalt des Königs von Neapel erfunden werden, unter -dessen Lehnsoberhoheit der Usurpator Mailand verräterisch gebracht -hatte. Diese Entwicklung der Fabel folgere ich aus der Tatsache, -daß nur bei Shakespeare von Bruderfeinden die Rede ist, und aus der -einzigen Stelle, die ich jetzt zu nennen habe. Wie Ferdinand zum -ersten Mal vor Prospero erscheint, erwähnt er in dem Bericht von dem -Schiffbruch, den er erstattet, einen Sohn des Herzogs von Mailand, der -auch mit untergegangen wäre:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Der Herzog Mailands und sein guter Sohn</div> - <div class="verse">Auch unter dieser Zahl, —</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>worauf Prospero, der nur sich als echten Herzog von Mailand anerkennt, -beiseite bemerkt:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft5">Der Herzog Mailands</div> - <div class="verse">Und seine beßre Tochter könnten leicht</div> - <div class="verse">Dich widerlegen — —</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Wir wissen aber, daß in Wahrheit niemand untergegangen ist; feierlich -versichert Prospero seinem Kind von vornherein,</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Daß keine Seele, nein, kein Haar gekrümmt</div> - <div class="verse">Ist irgend einer Kreatur im Schiff —.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Wo ist aber dann dieser Sohn des Usurpators von Mailand, dieser Neffe -Prosperos hingekommen? Nur dies einzige Mal wird er erwähnt; wir -finden ihn nicht bei den Gestrandeten, er existiert gar nicht, die -Stelle ist nur aus Versehen stehen geblieben. Sie zeigt mir aber, daß -Shakespeares Fabel zuerst so aussah wie die Ayrers: zwei Feinde, nicht -verwandt, der eine hat einen Sohn, der andre eine Tochter, die zwei -werden mit Hilfe mächtigen Zaubers ein Liebespaar. Als dann die Feinde -Brüder wurden, mußte ein neuer Sohn und zu ihm, da er durchaus der Sohn -eines Feindes sein mußte, ein neuer Feind als Vater<span class="pagenum"><a name="Seite_275" id="Seite_275">[S. 275]</a></span> erfunden werden; -der ursprüngliche Sohn blieb zuerst auch noch im Stück; späterhin -aber — vielleicht, als aus wichtigem inneren Grund noch ein neuer -Bruder, der Bruder des Königs von Neapel, Sebastian eingeführt wurde -— konnte Shakespeare mit dem ersten Sohn nichts mehr anfangen, und so -existiert er nur noch in dieser einen Erwähnung, die merkwürdigerweise -aus dem Munde des andern Sohnes kommt, der ihn verdrängt hat. Ist -aber diese meine Erklärung der rätselhaften Stelle richtig, wie mich -wahrscheinlich dünkt, weil sie die Veränderung, die Shakespeare mit der -überlieferten Fabel vornahm, auf Gründe innerer Handlung zurückführt, -so muß man annehmen, daß Shakespeares Stück auf einer früheren Stufe -eine Handlung hatte, die der von Ayrer behandelten einfacheren Fabel -entsprach, und so findet die Annahme, Ayrers Vorlage könnte ein Stück -des jüngeren Shakespeare gewesen sein, eine Stütze.</p> - -<p>Ich wiederhole: von alledem wissen wir nichts. Es kann so sein, und -es ist sogar einer der ausphantasierten Zusammenhänge, in die ich ein -wenig verliebt bin; aber würden irgendwelche bestimmte Daten entdeckt, -so wäre die plausible Phantasie vielleicht widerlegt. Denkt man aber -daran, wie allgemein üblich es in der Shakespearephilologie ist, auf -eine nicht ganz sichere Vermutung oder nicht ganz eindeutige Tatsache -ganze Häuser zu bauen, so möge man meine mit geziemender Vorsicht -vorgebrachte Hypothese, wenn man nicht an sie glaubt, wenigstens zur -Erschütterung anderer Hypothesen benutzen, die nicht besser begründet -sind.</p> - -<p>Daß der Geist dieses Stückes nur von Shakespeare, und nur vom -reifen Shakespeare stammt, ist sicher, und so gut wie sicher, daß -viele Einzelzüge der äußern Handlung, die zur Motivierung und zur -Gegenüberstellung der drei Reiche dienen, wie die Gestalten Calibans -und Ariels, die Repräsentanten der niedern Sphäre Trinkulo und<span class="pagenum"><a name="Seite_276" id="Seite_276">[S. 276]</a></span> -Stefano, der Rat Gonzalo, der neue Brudermordversuch, von ihm gedichtet -sind.</p> - -<p>Immer hat man in dieser Komödie etwas besonders Weihevolles und -eine tiefere Bedeutung gefunden; hat man schon Hamlet mit Goethes -Faust verglichen, so hat man, wozu sehr viel Grund besteht, den -Sturm wiederum mit Hamlet und auch mit Faust in Parallele gesetzt; -Strindberg, dem der Sturm mit seinem Geist der Vergebung und Versöhnung -in seiner letzten Zeit besonders nah gehen mußte, hat sogar daran -erinnert, daß der Name Prospero eine ähnliche Bedeutung hat wie -Faustus: der Begünstigte, der Götterliebling, der Gedeihliche.</p> - -<p>Immer hat man bei diesem Geistesfürsten auch an eine besondere -Beziehung zu Shakespeare dem Dichter und zu seinem Abschied von der -Produktion gedacht; und auch dazu besteht Grund genug. In der Tat darf -man sich bei dem Drama von Prospero, dem Fürsten der Geister, der sein -letztes und höchstes Werk, das Werk der Versöhnung anstatt der Rache -tut, an Shakespeare und die Werke seiner letzten Periode gemahnen -lassen, an die alles verzeihende Milde am Schluß des Zymbelin, an das -Wintermärchen, an die Gestalt Katharinas in Heinrich VIII.; an -Shakespeare bei dem Geisterkönig, der nun den Zauberstab in die Erde -versenken und sich zur letzten Ruhe bereiten will. Und man darf noch -weitergehn, man darf im allgemeinen bei dem Stück im Sinne haben, daß -dieser Dichter in seinem Denken, Wollen, Phantasieren, im Gefühl seines -Könnens und seiner Berufung immer mit den Dingen des Regiments, der -Ordnung, der Gesellschaft, des Staats zu tun hatte und daß ihm doch -so gut wie jede tatsächliche Einwirkung, jede Stellung gebieterischer -Art genommen war. Dichten ist immer Resignation, das Phantasieland -immer ein Exil, Form immer Beschränkung, Metrum der Verse und Maß -der Gesinnung beim genialen Menschen immer nur der Maßlosigkeit -abgerungen, und Shakespeare,<span class="pagenum"><a name="Seite_277" id="Seite_277">[S. 277]</a></span> wie jeder überragend große Mann des -Geistes, fühlte sich von seinen Zeitgenossen, von den Gewalthabern -der Öffentlichkeit in die Einsamkeit verbannt und wie auf eine Insel -gestoßen. Von dieser seiner von Wildheit umbrandeten Insel des Geistes -aus hat er dann, wie mit Zaubermitteln, die aus der Entfernung wirken, -alle Elemente der Natur und alle Geistermacht in Bewegung gesetzt und -dann doch noch, tief in die Seelen hinein gewirkt; ohne irgend welche -physische, tödliche Macht, nur durch die Gewalt des Worts, durch -eine geistige Magie ohnegleichen hat er gezwickt, geplagt, geneckt, -bloßgestellt, entlarvt, vergolten und gestraft: und nun, ganz reif, -ruhig, friedfertig, müde geworden hat er nur noch Werke der Liebe, -der Versöhnung, des zauberischen Spiels getan, um schließlich den -Zauberstab niederzulegen, sich von allem zurückzuziehen und zum Sterben -zu gehen.</p> - -<p>All das darf und soll uns das Stück in seinen Höhepunkten immer wieder -umschweben, darf die seltsamen Vorgänge mit Weiterem, Tieferem, dessen -Zeichen und Ausdruck sie sind, in Verbindung bringen; doch mehr auch -nicht. Abgesehen von einer kleinen festlich-lyrisch-mythologischen -Einlage, in der sich Shakespeare dem Zeitgeschmack anbequemt, ist -er auch in diesem mit Bedeutung geladenen Drama keineswegs ein -Allegoriker; die Vorgänge enthalten die Bedeutung in sich; sie weisen -nicht auf Bedeutungen hin, die irgendwo draußen wären. Keineswegs -dürfen wir meinen, es seien Rätsel oder Chiffern zu raten, und Ariel, -Miranda, der Liebesbund, Caliban usw. bedeuteten das und das. Diese -Gestalten und Vorgänge bedeuten sich selbst; die gesamte Handlung, -die äußere wie die innere, erleben wir in aller Märchenhaftigkeit als -Wirklichkeit und gewahren so mit allen Sinnen, im Gemüt und im Denken -ein sinnvolles Spiel von der Überwindung und Rache für Gewalttat nicht -durch Blut und Mord, sondern durch Geistesmacht, der die Natur mit all -ihrem Bösen und Guten dienstbar ist.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_278" id="Seite_278">[S. 278]</a></span></p> - -<p>Und so viel wir uns durch eine allegorische Deutung nehmen, -beeinträchtigen, fälschen würden, so verkehrt wäre auch der Versuch -einer rationalistischen Erklärung. Zu solcher natürlichen Erklärung der -Wunder dieses Schauspiels gäbe sich mancherlei her: verhärtete Leute, -die schlimme Dinge auf dem Gewissen haben, sind, könnte man sagen, -an einer Fieberinsel gestrandet; in der Krankheit kommen allerlei -Wahnvorstellungen und Besessenheiten über sie, die alten Sünden -erwachen und nehmen die Form von Halluzinationen an. Auch hier ist es -so, daß wir all dessen gedenken, daß uns solche Begleitvorstellungen -auftauchen dürfen; die Welt der Seele ist in allen Formen und -Verkleidungen, seien sie Musik oder Begriffssprache oder Märchen oder -Krankengeschichten, dieselbe; aber Shakespeares Ganzes und Echtes haben -wir nur, wenn wir ins Land seiner Dichtung gehen und diese Zauberwelt -drei Stunden lang als Wirklichkeit nehmen.</p> - -<p>Auch darnach brauchen wir, hier so wenig wie anderswo bei Shakespeare, -viel zu fragen, wie weit er an solche Geister und Dämonen geglaubt -hat. Daß er in Glaubensvorstellungen irgendwelcher bestimmten -Einkleidung nicht befangen, daß er nicht ihr Sklave war, daß sein die -Religion als Kunst war, die unsre Romantiker als Ironie begründen -wollten, geht daraus hervor, daß Vorstellungen abergläubischer Art -sich ihm niemals da einschlichen, wo sie nicht hingehörten. So war es -für seine Ausdrucksgewalt, für den Reichtum seiner Motive, für die -Selbstverständlichkeit, mit der er sich in den Mythologien der Antike, -der Christenheit, der Naturvölker und niederen Stände bewegte, ein -bedeutender Vorteil, daß solche Vorstellungen zu seiner Zeit im Volk -wie in der gelehrten Literatur völlig lebendig waren; der Zeitgeist -im allgemeinen glaubte an Hexen, Teufel, Geister, Elfen, magische -Bücher und Beschwörungsformeln und an die ausnahmsweise Möglichkeit -des Verkehrs zwischen Menschen und dämonischen<span class="pagenum"><a name="Seite_279" id="Seite_279">[S. 279]</a></span> Mächten. Ich habe -schon früher gezeigt, wie dieser Glaube mit der Naturwissenschaft, -mit dem Versuch, das neue Wissen zu einem ungeheuern Können zu -steigern, die Religion durch die Wissenschaft zu erneuern und zur -übergewaltigen Macht des Geistes zu erheben, in engster Beziehung -stand; es darf hinzugefügt werden, daß unsre strenge, kahle, logische -Scheidung zwischen einer berichteten Tatsache, an die man glaubt, und -der tieferen Bedeutung, dem Sinn, den ein solcher Bericht, etwa ein -heiliges Dogma ausdrückt und der diese geglaubten Tatsachen von den -Gefühlen unendlichen Hinüberlangens, Ausgreifens und Aufschwebens -begleiten läßt, so daß ein Jauchzen und eine Gewißheit, die selige -Schau der Wahrheit in uns ist, — daß diese Scheidung und dieses -Unvermögen zum Mythos dem Zeitalter des Glaubens, dem die Renaissance -gerade noch angehört, so fremd waren, wie uns in Wahrheit dieser echte -Glaube fremd geworden ist: wir kennen nicht mehr die Erschütterung -und Durchdrungenheit durch das Epische, durch die Erzählung von -Geschehnissen, in der sich der Sinn und die Hinweisung auf ewige, über -die Sinnenwelt hinausführende Bedeutung birgt. Shakespeare steht dieser -Welt des Mythus, des Dogmas, des Kultus als ein Bewältiger gegenüber, -der gerade noch fähig ist, sich überwältigen zu lassen; als ein Heller, -der, wie im Licht, so noch in der Flamme steht; als ein Freier, der -die Ehrfurcht noch nicht verlernt hat; als ein Weiser schließlich, -der noch ein Kind sein kann. Er steht der Zeit noch nahe, in der in -Deutschland jener Georgius Sabellicus durchs Land zog, der sich den -jüngeren Faustus nannte; und sein Zeitgenosse war Giordano Bruno, — -mit dem er in jungen Jahren sogar persönlich verkehrt haben könnte. -Wie in der Luther- und Faust- und Hamletstadt Wittenberg, so auch in -London hat der italienische Genius des Lichts und der Flamme längere -Zeit gelebt; der junge Shakespeare war damals schon in London, und es -spricht gar<span class="pagenum"><a name="Seite_280" id="Seite_280">[S. 280]</a></span> nichts dagegen, daß Bruno, der dem Philipp Sidney ein Buch -gewidmet hat, den jungen Dichtersmann persönlich kennen gelernt haben -könnte. In ihm wäre Shakespeare dem genialsten Vertreter des Typus, der -zugleich Ketzer und Magier, Gläubiger und Naturforscher, Philosoph und -Mystiker war und dem das Element des Geistes mit Spiel und Neckerei -und satirischer Plage der Bösen und Dummen in engster Beziehung stand, -nahe getreten; dem Vertreter des Typus, der mit Faust und Prospero zur -dichterischen Mythusgestalt erhoben worden ist.</p> - -<p>Eines aber bringt Shakespeares Sturm und die Stellung seines Prospero -in Gegensatz wie zu der Rolle der Geister und Elementardämonen in -Macbeth und Sommernachtstraum so zur Faustsage noch in ihrer letzten, -höchsten Gestalt bei Goethe.</p> - -<p>Im Macbeth und im Sommernachtstraum kommt es zu keinem Bunde der -Geisterwelt mit den Menschen, zu keiner Dienstbarkeit: was innen in -den Menschen schon dämonisch, lockend, verführerisch, irreführend da -ist, scheint draußen in der Natur noch einmal, parallel, wie eine -Spiegelung, zu leben; das Reich der Geister ist dem Seelenleben des -Menschen wie eine Verstärkung oder wie das Quellgebiet, aus dem all -seine wilden Triebe zu fließen scheinen. Im Sommernachtstraum halten -sich die Geister in kühler Ferne; sie greifen wohl ein, necken, hetzen, -plagen oder begünstigen; aber der Mensch hat keinen Einfluß auf sie -und keine unmittelbare Kenntnis von ihnen; sie sind, was bei ihrem -schwebenden, flitzenden Wesen ganz gut zusammengeht, so scheu, wie -sie zudringlich sind. Daß Macbeth hinwiederum sich mit ihnen einläßt, -ist ein Sinken, hinab in das höllische Reich, das auch drunten in ihm -wohnt. Die Hexen und ihre Meisterin führen ihr Werk durch; der Mensch, -der ihnen verfallen ist, erfährt nicht mehr von ihnen, als sie wollen; -er hat keine Macht über sie.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_281" id="Seite_281">[S. 281]</a></span></p> - -<p>Faust und Prospero haben Macht über die Geister; die sind ihre -Diener. Faust aber ist nur dadurch Herr über dämonische Gewalten -und ihre einzelnen Leistungen, die sie ihm für bestimmte Frist -gewähren, daß er der Teufelsmacht von einem bestimmten Punkt ab ein -für allemal verfallen ist; er darf ihr eine Weile gebieten, weil er -ihr ewig untertan sein soll. So wäre es für Fausts Bewußtsein selbst -noch bei Goethe, wenn man es so genau nähme, wie man es für diese -Gesamtdichtung freilich nicht darf; man muß sie läßlich nehmen, wenn -man nicht Unbestimmtheiten und Schwankungen finden will statt der -Einheit, die Goethe meinte, als er sich entschloß, ein Werk doch noch -zu vollenden, dessen erster Teil ihm fremd geworden war; daß der -Böse, der dem Menschen dient, damit wieder Gottes Plänen mit dieser -Menschen-Entelechie hilft und sie zur Gnade und in ihre Steigerung -hinein reizt, geht in Fausts eigenes Gefühl von seinem Verhältnis zu -Mephisto nicht eigentlich ein.</p> - -<p>Prospero allein hat seine volle Menschenfreiheit bewahrt und durch -seinen Zwang über die Geister gesteigert; er hat sich zu nichts -verpflichtet, ist in nichts untertan oder angetastet; es ist keine -Rede von Höllendienst oder schwarzer Magie; was uns alle in Lüften -umspielt und doch in seiner ungebundenen Freiheit, von uns unbehelligt -und ungewahrt bleibt, hat er erkannt und eingefangen, so wie der Müller -den Wassergeist fängt und seine Mühle treiben läßt oder wie wir sonst -Naturkräfte zähmen; ihm, dem Mann des überlegenen Denkens, dient die -Natur mit ihren schöpferischen, ihren bösen und guten Kräften nach -seiner Bestimmung, so wie wir den Blitz eingefangen haben und zu -stillem Leuchten und rastloser Arbeit bringen; er lenkt die Geister, -wohin er will; er zwingt sie, beherrscht sie, ist Fürst über sie. Er -hat gelernt, sich der Mittel zu bedienen, diese Kräfte zu rufen; er -tut es, solange und wie er will, als einer, der es darf, weil er dazu -berufen ist; und<span class="pagenum"><a name="Seite_282" id="Seite_282">[S. 282]</a></span> er läßt es dann wieder, ganz freiwillig; niemandem -verantwortlich als sich allein. Freilich ist er in dieser gesteigerten -Sphäre genau so irgendwie beschränkt, wie der Mensch immer; bis zu -einer bestimmten Grenze reicht seine Macht, nicht weiter; bestimmte -Geister dienen ihm, andre existieren nicht für ihn, er kann sie nicht -rufen. Und er muß die Dämonen in ihrer eigenen Sphäre und Begrenzung -lassen und sich ihrer Natur anpassen, wenn er sie nutzen will; muß -leicht und wie fliegend und lieblich schmeichlerisch kosend mit Ariel -umgehen und hat ein tragisches Erlebnis mit Caliban, weil er sich -unterfängt, ihn erziehen und heben zu wollen; aber die Strafe, die -ihn darnach trifft, ist eben die natürliche Folge dessen, was er tut: -Enttäuschung und Rückschlag; in dieser Übernatur geht alles natürlich -zu, und dieser Übermensch steigt oder fällt nie aus dem Menschlichen. -Er muß geduldig sich in die Bedingungen seiner Existenz fügen, muß -auch die Gelegenheit zu seiner Vergeltung in Ruhe abwarten: er ist ein -erhöhter Mensch, aber in keinem Punkte ein Unbedingter.</p> - -<p>Hier also sind die Elementardämonen, der luftig neckische, feenhafte -Geist wie das Wüsteste und Böseste in den untern Bezirken der Natur, -in den Dienst des überlegenen, freien Menschengeistes gezwungen. -Die Menschenkraft, die Kraft des Geistes, Kraft der Vernunft wie -des Gemüts, ist sieghaft oben; keinerlei Sünde oder Frevel, keine -Verschuldung, kein Zugeständnis an feindliche Mächte ist für den -Magier mit seinem Tun verbunden; es ist alles hell, heiter; der -Sproß eines Teufels und einer Hexe wird ohne Gnade in den Dienst -gezwungen und, soweit es nur irgend geht, unschädlich gemacht und -vom Menschlichen überwunden; Sprengstoff wird immer zerstörerisch -bleiben, und vergeblich wäre ein erzieherisches Bemühen, ihn etwa in -Pflanzensamen zu verwandeln; aber der Mensch kann die zerstörende Kraft -zu den Zwecken seines Bauens verwenden. So übt Prospero die Macht des -Menschlichen über die von<span class="pagenum"><a name="Seite_283" id="Seite_283">[S. 283]</a></span> Geist und Kraft durchflutete Natur; nicht -zu Werken der Technik oder irgend eines Genusses; die Gleichnisse aus -diesen Bereichen waren Gleichnisse, nichts weiter; er lebt auf seiner -verlorenen Insel mit seinem Kinde das Dasein einfacher Menschen; er -läßt sich keinen Palast bauen und keine Schätze herbeischleppen, -sondern Brennholz in seine Hütte, damit sie nicht frieren; all sein -Sinnen und herrschendes Walten gilt nur der Seelentat, sich und -seinem Kinde durch Geisteskraft das Leben zu wahren, das er nach -menschlichem Alltagsermessen verwirkt hatte, und die rohe Gewalt der -Menschenniedertracht, die ihn überwältigt und wie ermordet hatte, -durch den Geist und, wenn’s zum Letzten kommt, durch die Liebe zu -besiegen; durchaus verdient Prospero den Namen, den Goethe in seinen -„Geheimnissen“ einem so höchst wunderbaren Mann des Geistes geben -wollte, den Namen Humanus. In seinem Faust hat Goethe das herrliche -Wunderwerk vollbracht, in dem himmlischen Zusammenhang, der vom -Prolog bis zum Epilog im Himmel geht, die Gottesmacht zu entteufeln, -zu entmenschen, zu entchristen; Shakespeare in seinem Prospero hat -den Menschen entchristet und hat einen Mann geformt, der ein Freier, -in Reinheit, in Adel, in Schönheit, mit gutem Gewissen, weil in Güte -herrlich den Elementen gebietet. Was für eine unsägliche, was für eine -das Menschenleben von Generationen und Generationen für Jahrtausende -vorwegnehmende Tragik liegt aber darin, daß dieser Reinste und Größte -und Höchste und Mächtigste der Sterblichen, nachdem er seiner Seele -Genugtuung geschaffen und an die Stelle des Hasses die Liebe gesetzt -hat, am Leben, an der Natur, am Geiste für seine Person genug hat, zur -Seite geht und sich zum Verstummen und Verscheiden rüstet. Das ist für -mich der Gipfel der Renaissance und damit der bisher erreichte Gipfel -unsrer neueren Menschheit: der vollendet zur Herrlichkeit gediehene -Personalismus, der in seiner Glorie resigniert;<span class="pagenum"><a name="Seite_284" id="Seite_284">[S. 284]</a></span> ganz und gar das -Gegenbild zu dem Christus, der vom Marterholz zum Himmel emporsteigt. -Prosperos gebietende Gestalt und Apotheose im Abscheiden steht mir da -wie ein Werk von einem bildenden Künstler, der bisher nicht gekommen -ist, wie von einem, der Michelangelo und Rembrandt ins Raffaelische -vereinigte; oder — das nämliche in anderm Bilde gesagt: wie eines der -ganz hohen Werke Beethovens, wie das Quartett mit dem Dankgebet eines -Genesenden. Weiß man, wer dieser Genesende ist? Es ist Sokrates, der -dem Asklepios für die Genesung dankt, indem er der Welt den Rücken -kehrt; es ist Prospero, der die Natur und den Haß bezwingt und die -Liebe gründet und aus all seiner Herrlichkeit tritt und zur Seite geht -und sich zum Tode bereitet; es ist Shakespeare, der uns noch den Sturm -gibt und dann das Schweigen wählt und dahinstirbt.</p> - -<p>Wir bemerken oft, zumal bei leidenschaftlichen Dichtern, wie das, was -auf ihrer Höhe herausbricht, schon früh da ist oder sich wenigstens -vorbereitet und in starken Spuren zeigt, wie sie selbst aber von einem -gewissen Zeitpunkt der Krise an von dieser ganzen Vergangenheit nichts -mehr wissen wollen und sich als völlig Erneuerte fühlen. So ist es in -unserer Zeit Tolstoi und Strindberg gegangen. Auch Shakespeare scheint -mir zu bestimmter Zeit bei einer Wende angelangt zu sein, wo er die -Form, in der er früher die Triebe und Leidenschaften der Menschen mit -einer Wahrheit ohnegleichen darstellte, wie ein eigenes Versinken -in diesem Pfuhl der Affekte nicht mehr ertrug. So hat er nach neuen -Formen gesucht, und fast jedes einzelne der Stücke aus dieser letzten -Zeit ist ein neuer Weg, in dramatischer Aktion zur Überlegenheit, -zum Spielerischen, zur Polemik und Weisheit, zur Ironie zu kommen. -Im Zymbelin und im Wintermärchen und im Timon und im Perikles hatte -Shakespeare es jedesmal mit einer neuen dramatischen Form versucht, -die er jedesmal wieder aufgab. Der Sturm<span class="pagenum"><a name="Seite_285" id="Seite_285">[S. 285]</a></span> nun ist wiederum in einer -für Shakespeare ganz neuen Art gebaut und ist für dieses Suchen nach -dem neuen Stil der Gipfel und die Krönung. Die Form aber, der sich -Shakespeare diesmal und, wenn wir recht vermuten, zu guter Letzt -zuwendet, ist nicht etwa eine neu ausgeheckte, sondern die für seine -Zeitgenossen zugleich ehrwürdigste und modernste, und seine gelehrten -Kritiker hatten sie ihm schon immer tadelnd als Muster vorgehalten. Die -gelehrten klassizistischen Dramatiker, die neben Shakespeare standen -und die nicht von der Überlieferung des Volksdramas herkamen, sondern -in der Tragödie Seneca, in der Komödie Plautus nachstrebten, legten -viel Wert auf die Einheit des Orts und vor allem der Zeit. Schon früher -manchmal hat Shakespeare gezeigt, daß er das auch konnte, wenn es dem, -was er an Inhalt und Stimmung geben wollte, entsprach; nie hat er sich -pedantisch nach einer Schulregel gerichtet, aber der Sommernachtstraum -verläuft in aller Tollheit in einer Nacht und einem Walde; im Othello, -der auch sonst dem bürgerlichen Trauerspiel am nächsten kommt, geht, -abgesehen von dem Prolog des ersten Aktes, alles auf der Insel Zypern -in einer fast ununterbrochenen zeitlichen Folge weniger Tage vor sich. -Hier aber im Sturm ist er dem klassischen Muster am nächsten: nicht nur -dem geistigen Gehalt nach, sondern auch formal ist die Dichtung ein -Epilog. Eine lange, bewegte, leidenschaftliche Handlung wird in einem -bei Shakespeare ganz ungewohnten erzählten Bericht in die Vorgeschichte -verlegt; das Stück selbst bringt, in der Art wie bei Sophokles zum -Beispiel im Ödipus, nur die Auflösung des Konflikts; hatte das -Wintermärchen uns eine Handlung von sechzehn Jahren und in ihr zwei -Generationen auf die Bühne gebracht, so geht es auch im Sturm um zwölf -Jahre und wieder um die scharfe Gegenüberstellung von zwei Generationen -und um ein Paar, das durch die Liebe dem Haß der Väter Versöhnung -schafft: aber die Handlung, in der wir all das<span class="pagenum"><a name="Seite_286" id="Seite_286">[S. 286]</a></span> erfahren und erleben, -läuft hintereinander in drei Stunden ab, von etwa zwei Uhr bis fünf -Uhr an einem Nachmittag, so daß das klassizistische Ideal erfüllt ist: -die Handlung, die in dem Stück verläuft, erfordert ungefähr dieselbe -Zeitdauer wie das Stück selbst, und innerhalb dieser Handlung erfahren -wir von den Vorbedingungen und Geschehnissen früherer Zeiten durch -Berichte und Gespräche.</p> - -<p>Keineswegs dürfen wir annehmen, Shakespeare habe sich diesmal der -Modeform anbequemt, um Gegnern oder Freunden wie Ben Jonson zu zeigen, -daß er das auch konnte. Der Grund ist vielmehr offenbar der, daß -Shakespeare gemerkt hat: das Wesentliche, worauf er in dieser letzten -Schaffensperiode ausging, konnte er mit dieser Technik erreichen. -Dieses Wesentliche ist, das, was in seinen großen Tragödien Mitte -und Hebel war, die elementare Kraft der Triebe und Leidenschaften, -das menschlich Wilde, Gewalttätige, den Schrei des Zorns und der -Rache, die Gewaltgier und Brunft, was alles ihm seit langem steigend -widerwärtig und schließlich unerträglich geworden war, zurücktreten -zu lassen und dafür das Element des Spiels, der Abgeklärtheit, des -romantischen Zaubers und der tieferen Bedeutung, der Versöhnung -oder Polemik, in jedem Fall der Weisheit und Rede sich ausbreiten -zu lassen. Der Dichter, zumal der dramatische, empfindet bei seiner -Arbeit viel stärker als wir Leser oder Hörer sein völliges Darinsein -in den Gestalten, die er mit so seelischer, plastischer, dynamischer -Kraft ins Leben setzt; wir empfinden, wenn Othello rast und die -Unschuld ermordet, die in des Dichters Gestaltung so volles Leben -gewonnen hat, den Dichter selbst viel mehr in Desdemona als in dem -Mohren und entsprechend mehr in Macduff als in Macbeth; der Dichter -aber weiß, wie viel nicht bloß von zehrender Kraft, sondern auch -von eigenen Wesenszügen in all diesen Ausbrüchen der Wut und der -Bestialität enthalten ist. Hätte er, als er den Hamlet dichtete, -schon die Möglichkeit zu Prosperos Über<span class="pagenum"><a name="Seite_287" id="Seite_287">[S. 287]</a></span>windung und Überlegenheit in -sich getragen, so hätte er dem Dänenprinzen nicht in der Art seine -Unbewußtheit, sein Nichtauskennen in den eigenen Motiven auf den Weg -geben können. Indem Shakespeare dem Timon zwar noch die gewaltigsten -Reden der Wut und Verachtung aus dem Mund strömen lassen kann, -aber nicht mehr imstande ist, weil es ihn sonst umgebracht hätte, -diesen Mann dazu noch lebendig als Individuum zu gestalten; indem -er das innere Seelenleben des durch Selbstbetrug betrogenen Gatten -im Zymbelin durch eine gewaltige Maschinerie einer ungeheuerlichen -Handlungsfülle von sich schiebt, im Wintermärchen nur genial skizziert -und dann von frei heiterem Spiel, das zur Tragik der früheren -Generation in Gegensatz steht, ablösen läßt, mit alledem verrät er -etwas, was man auf zweierlei Art ausdrücken kann, weil beides nur -verschiedene Ausdrucksform für ein und dieselbe Wandlung ist. Man -kann sagen, daß er nicht mehr robust genug für die unerbittlich -realistische Darstellung der von der Leidenschaft geschüttelten und -gepeitschten Menschen war; man kann sagen, daß er eine Stufe höher -gestiegen war und diese Darstellung nicht mehr brauchte. In jedem Fall -hatte er in dem Augenblick, wo er für das Neue, das er suchte, die -vollendete Form gefunden hatte, seine Bahn ausgelaufen. Der junge, der -leidenschaftliche, der wilde Shakespeare mußte den Schrei der Wut und -Verzweiflung immer wieder, in den mannigfachsten Verkleidungen, wie -sie Geschichte, Sage und Novelle als Abbild der eigenen Innerlichkeit -boten, ausstoßen; der mild und reif gewordene Shakespeare suchte nach -dem Ausdruck der Resignation und des Verzichtes in Überlegenheit und -Heiterkeit und verstummte, als er ihn gefunden hatte. Er fand ihn aber -in dem Inhalt und der Stimmung und der Form seines Sturm. Diese Form -erlaubte ihm, aus dem, was nun Vorgeschichte war, nicht nur, sondern -auch aus dem, was in den drei Stunden der Handlung geschieht, alles -von den<span class="pagenum"><a name="Seite_288" id="Seite_288">[S. 288]</a></span> sichtbaren Vorgängen auf der Bühne zu verbannen, was in die -Abgründe der inneren Dämonie der Menschen geführt hätte: nicht nur -bleibt die Gewalttat des Bruders gegen den Bruder aus schnödester -Machtgier in der Vorgeschichte; dieser Bruder selbst tritt mit seinem -fessellosen inneren Wesen nie mit voller Entladung heraus; meist steht -er wie ein Angeketteter, dem die Zunge in Bann getan ist, im Schatten. -Über ihn, über Alonso von Neapel, über dessen Bruder Sebastian wird -der Wahnsinn verhängt, der Wahnsinn der Reue und Gewissensqual, der -rasenden Tollheit: nichts davon wird gezeigt; Ariel berichtet kühl -überlegen darüber, ohne auch nur den Versuch zu einer Schilderung.</p> - -<p>Recht gut hat sich Tieck, der in all diesem neuen, letzten Stil das -Urbild seiner romantischen Ironie gefunden hat, darüber, schon 1793, -geäußert: „Im ganzen Stücke hat der Dichter sorgfältig alle hohen -Grade, alle Extreme der Leidenschaften vermieden... Er läßt die -Affekte nie einen sehr hohen Grad erreichen, er will uns in keiner -Situation tief rühren oder erschüttern, keine Person soll unser Mitleid -erregen...“ Was Tieck da sagt, ist ganz richtig, wenn man diese -Rührung und Erschütterung, dieses Mitleid als Affekt, als Qual, als -das betrachtet, was Goethe manchmal das Pathologische genannt hat. An -all diese tiermenschlichen Grundtriebe wendet sich hier Shakespeare -nicht mehr. Unser Mitleiden beim Anblick der von Leidenschaften -fortgerissenen und zerfetzten Menschen ist selbst leidenschaftlicher -Art, wie sich hinwiederum, wir haben es früher gesehen, die wilde, -kochende Hitze der Brunstmenschen mit schneidender Kälte berechnenden -und verderbenden Verstandes gatten kann. Von dieser Sklaverei der -Sinne, in der der Verstand, so hell er auch war, dem modrigen Dunkel -diente, ist Shakespeare, mit Spinoza wieder zu reden, über die Stufen -der Vernunft weg aufgestiegen zur intuitiven, überlegenen Gelassenheit -des Geistes,<span class="pagenum"><a name="Seite_289" id="Seite_289">[S. 289]</a></span> der in der Freiheit wohnt. Und so bringt auf der Höhe -der Sturmdichtung das warme Gefühl, das innige Erbarmen, die schöne -Ergriffenheit, die der Dichter wohl erregt, unser Seelenleben nicht -mehr mit den tierisch elementaren, dämonischen Qualtrieben, sondern mit -Geist, Vernunft und Klarheit in Verbindung. Unser Mitgefühl entstammt -nicht mehr dem Bezirk der Venus, sondern des platonischen Eros, nicht -mehr dem Reich der Furien, sondern des Friedens. Wiewohl ich selbst -zu gewahren glaube, daß diese Steigerung Shakespeares zum Himmlischen -mit einem Zustand seiner Leiblichkeit und Geistigkeit zusammenhing, wo -Nichtmehrkönnen und Nichtmehrwollen fast ununterscheidbar an einander -grenzten, — wie viel kräftiger und seelenvoller ist Shakespeare doch -noch nahe der Entrücktheit und Auflösung als Tieck und Romantiker -seines Schlages in ihrem Beginn, in dem schon das Ende war; wie schnell -verirrten sich diese Nachfahren, die die Lust zur allergrößten Wandlung -und zur neuen Religion nach rasch versprühender Jugend höchstens -noch als eine Art intellektuellen Kitzels in sich spürten, aus dem -Ätherreich beseelten Geistes zu bloßer Spielerei des Witzes und krauser -Arabeske! Seine Verwandtschaft aber zu dem Shakespeare, wie er vom -Sommernachtstraum über Wie es euch gefällt zum Sturm kam, hat Tieck -recht empfunden, und so zeigt er in dieser jugendlichen Äußerung gut, -wie der Dichter des Sturm Gelegenheit zu Verzweiflungsausbrüchen, -Martern aller Art, Hunger- und Entsetzenswahnsinn gehabt hätte, wie -er aber all die Darstellung des wild und triebhaft Ausbrechenden — -vor kurzem, man denke an Lear, noch seine größte Stärke — vermieden -hat. So also erklärt sich mir die dramatische Technik, die Shakespeare -dieses Mal erwählt hat: er zeigt nicht ein von Gewalt und Untaten -erfülltes Leben, sondern als zauber- und musikerfülltes Spiel in -raschem Ablauf nur die Auflösung, die Vollendung, den Gipfel: nicht wie -die Leidenschaft<span class="pagenum"><a name="Seite_290" id="Seite_290">[S. 290]</a></span> zu ihrem Gipfel ansteigt, sondern wie sie von einem, -der in sich nach oben gekommen ist und Selbstbeherrschung gelernt hat, -überwunden und gedemütigt wird. Nach einer gewaltigen, stürmischen -Introduktion, durch die aber auch schon das Mildernde, Kauzige, -beruhigend Spielerische hindurchgeht, kommen wir immer mehr in die ganz -eigene Mischung von Abgeklärtheit, Humor, Neckerei, Sanftmut, innig -Friedlichem, koboldig Polterndem, ungefährlich Bellendem und Heulendem -bis zur Verklärung. Versucht man, diese Stimmung, dieses Tempo, diese -Variationen und Auflösungen des Dramas sich als musikalisches Gebilde -vorzustellen — und man ist dazu eingeladen, da das ganze Werk wie -in Musik getaucht ist und die Musik Ariels und seiner Geister in den -Lüften keine Begleitung und Zutat, sondern ein Stück der Handlung ist -—, so versteht man, meine ich, ausnehmend gut die Antwort Beethovens -auf die Frage nach der Bedeutung seiner Gespenstersonate: „Lesen Sie -nur Shakespeares Sturm.“</p> - -<p>Die dümmste Versündigung, die aber vom Ende des 17. Jahrhunderts bis -auf den heutigen Tag nicht auszurotten scheint, an diesem leichten, -luftigen, zarten Traumspiel, in dem die Hoffnung und das Gelöbnis -eines Dichters unserer Zeit, Georg Kaisers, erfüllt ist, daß das -Schauspiel zum Denkspiel aufsteige, und das die Erdenschwere nur als -derb burleskes Scherzo und schon himmlische Schwermut kennt, begeht die -Bühne, wenn man es als Ausstattungs- und Spektakelstück gibt.</p> - -<p>Ich habe schon angedeutet: auch die schreckliche Erhabenheit zu -Beginn, der Sturm, der zum Schiffbruch und zum Schein rettungslosen -Untergangs führt, wird noch in dieser ersten Szene selbst durch -komischen Gegensatz und durch die Verschiebung der Perspektive -gemildert: nicht die Personen erster Geltung, von deren Wesen, -Vergangenheit und Reisezweck wir vorerst nicht das Mindeste erfahren, -sondern eine Nebengestalt, der Bootsmann,<span class="pagenum"><a name="Seite_291" id="Seite_291">[S. 291]</a></span> ein prachtvoll geschauter -Zyniker, steht im Vordergrund des Interesses. Das ist ein Galgenvogel -nach Art des frevelhaft und lustig überlegenen Mörders Bernardin in -Maß für Maß; im Angesicht des Todes flucht und wettert er ohne jede -Angst und verrichtet mit einem derben und hohnvollen Vergnügen seine -Schuldigkeit inmitten der äußersten Not und Bangnis als ein sachliches, -roh vertrautes Geschäft. Für die Todesangst der andern ist er ganz -gefühllos; er wird schon alles besorgen, was not tut; er will sich ja -selber auch retten. Brauchst du mir erst zu sagen, daß der König an -Bord ist? Hab ich ihn denn lieber als mich? Und</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Fragt der Sturm nach dem Namen König?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Oder er wendet sich etwa zu dem edeln, alten, aber in Wohlredenheit und -Klugheit leicht komischen Rat Gonzalo: Na, du bist ja Rat, übe du doch -dein Amt wie ich meins, vielleicht hilft’s: gib doch den Elementen den -Rat, sich zu besänftigen! Er hat nur ein paar Worte durch den Orkan -zu brüllen, der Mann, aber die ganze Wut und Verachtung gegen die -brutale Natur, mit der er zeitlebens brutal sein mußte, und gegen die -brutale Gesellschaftsordnung wettert aus seiner heisern Kehle; und daß -er größte Nichtachtung und unbewegte Gleichgültigkeit auch den Großen -gegenüber hat, die seinem Schiff anvertraut sind, bleibt uns nicht -verborgen.</p> - -<p>Dann stehen sie alle — in der ersten Szene dieser Komödie — vor dem -sichern Tod; die Matrosen, der König und sein Sohn beten; der Usurpator -von Mailand und der Bruder des Königs, in dem auch Usurpatorträume -schlummern, fluchen; Gonzalo behält sanften Humor und überlegene, -stille Ruhe; der Bootsmann lacht:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Was? müssen wir ins kalte Bad?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>So haben wir, ohne noch das geringste vom Zusammenhang zu ahnen, nicht -die Stimmung des gewalttätigen Untergangs, den wir vor Augen sehen, -nicht Furcht und<span class="pagenum"><a name="Seite_292" id="Seite_292">[S. 292]</a></span> Mitleid für die, die sich fürchten und leiden, -sondern eine Art Staunen im Denken, wie im tobenden Aufruhr der Natur -und im Angesicht des Todes die Menschen so verschieden, im Adel und -Vorrecht klein oder mäßig, in Gemeinheit groß sein können.</p> - -<p>Und ganz schnell verwandelt sich die Szene: das Schiff scheint unter -die Wellen zu tauchen, das Meer tobt, der Sturm heult, dickes, -ziehendes, tief herab hängendes Gewölk droht und wird hin und her -gefetzt; da steigt vor unsern Blicken eine kleine Insel auf, die -aus den brandenden Wassern emportaucht, auf ihr, wie in der Mitte -des kleinen Rundes, in gebietender Haltung der Ruhe der Zauberer in -dem langen Mantel des Magiers und mit dem Zauberstab; bei ihm ein -liebliches, fünfzehnjähriges Mädchen, das nun mit einem Mal, so daß -wir aus all dem Graus zu seligem Lächeln verklärt werden, die wild -natürliche Situation in eine Geistersphäre rückt mit den Worten, mit -denen diese zweite Szene anhob:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wenn <em class="gesperrt">Eure</em> Kunst, mein liebster Vater, so</div> - <div class="verse">Die wilden Wasser toben hieß, so stillt sie.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Es ist eine sehr ernste Beschämung, nicht nur für unsre Bühnen, für -den Zusammenhang vielmehr zwischen unsrer Geistesverfassung und unsern -Zuständen, daß die liebliche Größe, die hebende, erlösende Wonne dieses -Übergangs und dieser Szenengemeinschaft unserm Erleben noch immer nicht -vertraute Wirklichkeit geworden ist. Wie das Kind beim starken Gewitter -meint, der liebe Gott sei zornig, so erleben wir hier sinnenkräftig, -als lebendiges Bild, daß es so ist, wie das Mädchenkind Miranda mit -ihren ersten Worten uns bedeutet: Er, Prospero, hat den tollen Aufruhr -der Lüfte und Gewässer mit Hilfe seines Ariel erregt: der Tag der -Vergeltung, der Entscheidung, wir merken bald, der Versöhnung und -Heimkehr ist da.</p> - -<p>Ein zartes, reines, liebliches Kind, eben zum Fraulichen erknospend -ist diese Miranda, die Wunderbare; ganz des<span class="pagenum"><a name="Seite_293" id="Seite_293">[S. 293]</a></span> Vaters Geschöpf; seit -ihrem dritten Lebensjahr ist sie auf dieser Insel und hat außer ihrem -Vater nie einen Menschen gesehen; nur das Ungetüm Caliban und Prosperos -Geister. Er muß sie nur beruhigen, sie ist außer sich, daß ihr Vater -so Böses zu tun imstande scheint; so hat sie ihn in all der Zeit nicht -kennen lernen; sie weiß aus seinem Unterricht, daß ein Schiff Menschen -über den Ozean trägt, und Menschen sind, glaubt sie, gute und herrliche -Wesen wie ihr Vater.</p> - -<p>Die Stunde ist gekommen, wo er ihr die Menschenwelt anders zeigen muß; -aber ehe er noch daran geht, sie über ihre Herkunft, über seine düstere -Geschichte, über die Art, wie es draußen bei den Menschen zugeht, -aufzuklären, beruhigt er sie und uns: keinem soll ein Leid geschehen; -kein Haar soll gekrümmt werden; durch die Macht des Geistes, nicht -durch Gewalt soll Wiedergutmachung erfolgen.</p> - -<p>Und nun erzählt er, erstmals, wer er ist, was ihm und ihr angetan -worden ist, und deutet im voraus an, was jetzt kommen soll, welche -Männer er auf ihrer Fahrt gebieterisch angehalten hat. Der Mann, der -da sein Leiden berichtet, ist uns erst als der zaubermächtige Meister -gezeigt worden; so haben wir bei diesem langen Bericht, der die -Vorgeschichte bringt, nicht das Gefühl des Stillstands, sondern des -bewegten Geschehens. Er erzählt, wie ihn sein eigener Bruder Antonio — -wie Claudius den König Hamlet — vom Thron gestürzt und im Bunde mit -Alonso dem König von Neapel ihn und das noch nicht dreijährige Kind -nach menschlichem Ermessen ermordet hat: kein Mensch zu Hause kann -etwas anderes meinen, als daß sie gewaltsam getötet sind und längst -auf dem Meeresgrund verfault. Aber dieser Ermordete kehrt nicht ins -Reich des Lebens als Geist zurück, um einen Sohn zur Rache zu rufen; -er herrscht über die Geistermächte, wohl auch, um über die Feinde zu -triumphieren, aber durch Beschämung soll es geschehn, dadurch, daß -sie in all ihrer Unwürde machtlos und geschlagen<span class="pagenum"><a name="Seite_294" id="Seite_294">[S. 294]</a></span> dastehn: der Sohn -aber seines mächtigsten Feindes und die eigene Tochter sollen in Liebe -vereint werden.</p> - -<p>Was für ein Bericht ist das! Er steht als Meister und Lehrer vor ihr -und erzählt ihr in stark eindrucksvoller Haltung und Rede, fesselt ihre -ganze Aufmerksamkeit, so daß sie mit großen Augen zu ihm aufblickt -und wie vom Traum umfangen wird, da nun zum ersten Mal das wogende, -gefahrvolle Leben, wie es draußen unter Menschen ist, sich vor ihr -auftut, daß sie in den seltsamen Zustand gerät, sich vor Benommenheit, -Staunen und Entsetzen in plötzlichen Schlaf flüchten zu müssen; wir -leben ganz in dieser Situation zwischen dem Vater und dem Kind auf -der Insel, und zugleich öffnet sich die Vergangenheit vor uns und wir -erleben Prosperos Schicksal und Wesen. Was für ein Mann! Er war der -Herzog von Mailand, hatte aber seinem Bruder das weltlich-politische -Geschäft überlassen, weil er selbst „in geheimes Forschen verzückt und -hingerissen“ war: in Stille versunken lebte er der Erhöhung seiner -Seele und, von Büchern umgeben, in tief geheimem Forschen. Von seiner -Verborgenheit aus wirkte er aber mit seinem Geist und Gemüt tief ins -Volk hinein, das ihn verehrte und liebte. Und nun der Bruder! Nichts -ergreifender, als wie Prospero, der seit so vielen Jahren den Fall -bedacht hat und jetzt die Gelegenheit zu seiner Vergeltung magisch -ergriffen hat, ihm gerecht werden will und ihn, soweit es irgend geht, -entschuldigt. Der Bruder, sagt er, gewöhnte sich in seine Rolle des -Befehlens, das ihm in Stellvertretung anvertraut war, so hinein, daß -er sich als Herzog fühlen lernte und fast nichts anderes wußte, als -daß er es war, zumal er den gelehrten Bruder in der Verachtung des -Ungebildeten und Rohen für ganz ungeeignet zur Regierung hielt. So -riß er ihn, verbündet mit dem König von Neapel, dem er Mailand als -Vasallenstaat überantwortete, vom Thron und setzte den Bruder, da er -ihn, den Allbeliebten, wegräumen mußte, öffentlich umzubringen aber -nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_295" id="Seite_295">[S. 295]</a></span> wagte, mit dem dreijährigen Kind zusammen in einem morschen -Boot, das nicht Segel noch Masten hatte, aufs hohe Meer aus: er -sollte unweigerlich zugrund gehen, ohne daß jemand von der Mordtat -erfuhr, so wie der Usurpator Claudius seinen Bruder eines natürlichen -Todes sterben ließ. Der Rat Gonzalo gab Prospero aber aus Mitgefühl -heimlich Kleider, ein bißchen Hausrat und vor allem Bücher mit auf die -Schreckensfahrt, und so rettete der Ausgestoßene sich und das Kind -auf diese kleine Insel, die wir uns — nach späteren Erwähnungen — -irgendwo zwischen Neapel und Tunis zu denken haben. Ohne sein Wissen -hätte er das nicht vermocht; denn dieses Wissen ist, das ungebildete -Volk ahnt es, sein obenhin polierter, bevorrechteter Bruder freilich -weiß nichts davon — dieses Wissen ist, was jedes Wissen sein sollte, -Macht, nicht zur Unterdrückung von Menschen, sondern ein Schlüssel zu -Kräften der Natur. Oder anders gesagt, in der Sprache der Welt, in der -wir gläubig für drei Stunden sind: er hat Zaubermacht über Geister.</p> - -<p>Mit zwei Geistern oder wenigstens Außermenschen sehr entgegengesetzter -Art bekam er es auf der sonst unbewohnten Insel zu tun: mit Caliban, -einem elementaren Scheusal, dem Kind der Hexe Sykorax und eines -Teufels; und mit Ariel, einem mächtigen und doch zarten Luftgeist, den -die Hexe durch bösen Zauber seines Elements der Freiheit beraubt und in -den Spalt einer Fichte geklemmt hatte und den er befreite.</p> - -<p>Caliban, der Erdkloß, die am Boden kriechende Schildkröte, der -dienende, schnöde Sklave für die grobe Arbeit, repräsentiert die -brutale, hundsgemeine Materie; den durch nichts gemilderten Lebens- das -heißt Freßtrieb des Tiers, eines Tiers, das ein Höllenhund ist und dazu -noch — durch Prosperos Schuld — sprechen und denken gelernt hat. Der -Meister hat sich mit dem wilden Höllenkind gläubig pädagogische Mühe -gegeben; durch Bildung wollte er es zu<span class="pagenum"><a name="Seite_296" id="Seite_296">[S. 296]</a></span> einer Seele bringen und vergaß, -daß man nur ausbilden kann, was da ist, daß aber ins leere Nichts -Hineinbildenwollen eben das ist und das bewirkt, was unsre Sprache -Einbildung nennt: wozu keine Anlage da war, das konnte von außen -nicht eingegossen werden, und etwas wie Mitgefühl selbst mit dieser -Personifikation des Unrats ruft der Dichter hervor, wenn er diesen -Unerlösten und Unerlösbaren ausrufen läßt:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ihr lehrtet Sprache mir, und mein Gewinn</div> - <div class="verse">Ist, daß ich fluchen kann. Die Pest hol’ Euch,</div> - <div class="verse">Daß Ihr mich reden lehrtet!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Eine Satire ingrimmigster Art aber ist es, wie Shakespeare uns -zeigt, welchen Gebrauch dieser Wechselbalg der Hölle von dem Geist -macht, der ihm nicht zukam, und wie er Calibans Sprache mit der -Redeweise niedriger Menschen aus der Sphäre der oberen Scheinbildung -kontrastiert. Es geht um ein fürchterliches Thema: um die Ermordung -eines schlafenden Menschen. Shakespeare hat es mehrfach behandelt, -und nicht ein Mal wie das andre. Der edle Mohr von Venedig weckt -Desdemona, und in aller Wut heißt er sie doch in würdigen Worten sich -auf den Tod vorbereiten. König Claudius tötet seinen schlafenden Bruder -in Einsamkeit, sprachlos; wir haben nicht anzunehmen, daß er sich -vorher mit seiner Buhlin darüber beraten habe. Macbeth braucht solche -Beratung; wir kennen alle das heiße Gespräch des liebenden Mörderpaars -vor der Tat. Die beiden Berufsmörder in Richard III., die -Clarence aus der Welt zu schaffen haben, bringen es nicht zustande, den -Schlafenden zu erstechen; sie disputieren so lange über den Fall, bis -ihr Opfer erwacht, und auch dann müssen sie erst in langem Gespräch ein -Verhältnis zu ihm herstellen, bis ihnen aus bewegter Sprache heraus die -altbewährte Gebärde des Zustechens geschenkt wird. Sie sind nicht das -übliche Paar von Gleichen, sondern gegen einander fein differenziert; -ihre Szene indessen, so liebevoll sie gebaut ist, ist in dem Drama, -dem sie angehört, nur eine Episode.<span class="pagenum"><a name="Seite_297" id="Seite_297">[S. 297]</a></span> Hier im Sturm aber bildet ein -solcher Kontrast ein wichtiges Element der Handlung. Der Dichter stellt -einander die Art gegenüber, wie der Mensch Antonio, der Brudermörder -und Fürst, einen andern zum Meuchelmord an einem Schlafenden überredet, -und wie das sprechende Ungeheuer Caliban das nämliche tut.</p> - -<p>Was ist das bei Antonio, wie er Sebastian dazu verführt, seinen -Bruder Alonso, den König von Neapel, der in tiefer Schlafbetäubung -daliegt, zu ermorden, für ein langes vorsichtiges Ausholen, ein Tasten, -ein Andeuten, wie wird die Sprache, indem sie den Plan der Untat -ausspricht, zugleich dazu benutzt, das Schwarze schön zu färben, das -Widrige zu bemänteln und die Gedanken zu verhüllen. Der Mensch, zumal -in der politischen Sphäre, deren Vertreter der Usurpator von Mailand -ist, hat es gelernt, Rauben Selbstbestimmung und Morden Wohltat zu -nennen; die Sprache zugleich als Mittel und Vorbereitung zur Tat und -zum Weglügen der Tat zu benutzen. Indem Shakespeare uns den Menschen -von dieser Seite vorführt, wählt er, und erhöht damit die Gewalt seiner -entlarvenden Offenbarung, ein Exemplar, das der brutalste, verhärtetste -aller Menschen und einer Regung wie Reue oder Skrupel ganz unzugänglich -ist. Gewissen? Davon weiß er nichts; er liebt Tatsachen, so was wie -Gewissen aber ist für ihn ein Wort ohne Sinn:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ei, Herr, wo sitzt das? Wär’s der Frost im Fuß,</div> - <div class="verse">Müßt’ ich in Schlappen gehn; allein ich fühle</div> - <div class="verse">In meinem Busen so ’ne Gottheit nicht.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Gewissen hat er nicht, aber da er ein sprechender Mensch ist, hat er -Lüge und Heuchelei. Den Sebastian will er dazu bringen, seinen Bruder -zu ermorden, um dann den Brudermörder, dessen Untat er kannte, zu -beherrschen; aber nur in langsamem Ausholen, in wiederholtem Ansetzen, -in Tasten, Drumherumreden, Umschreiben und Andeuten nähert er sich -seinem Ziel.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_298" id="Seite_298">[S. 298]</a></span></p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">’s gibt Leute, die Neapel</div> - <div class="verse">So gut, wie der hier schläft, regierten...</div> - <div class="verse mleft9">Hättet Ihr</div> - <div class="verse">Doch meinen Sinn! Was für ein Schlaf wär’ dies</div> - <div class="verse">Für Eure Standserhöhung. Ihr versteht mich?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Ja, er versteht ihn, sie verstehen sich. Das war sein deutlichstes -Wort; und doch, wie euphemistisch, wie keineswegs roh im Wortlaut, -wie harmlos und gesittet ist ein solcher Satz, mit dem sich die zwei -Sprecher adliger Sprache darüber verständigen, den Schlaf zu ermorden.</p> - -<p>Wie aber ein paar Szenen darauf das bestialische Ungeheuer, das von -Prosperos und des Dichters Gnaden die Gabe empfangen hat, sein Wesen -und Wollen auszusprechen, dasselbe Unnennbare an Prospero tun will, wie -prachtvoll geradlinig, wie wahr, wie unbemäntelt sagt Caliban da, was -er will, ganz ohne Moral, ganz ohne Wohlklang, ganz ohne Heuchelei, -ganz sachlich, kein Wort zu viel:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft4">Ich liefr’ ihn dir im Schlaf,</div> - <div class="verse">Wo du ihm seinen Kopf durchnageln kannst.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Oder wenn seinem Partner, der ja immerhin ein Mensch und also -bedenklich und wählerisch ist, dieses gerade Verfahren nicht paßt, weiß -er noch andre Methoden, die ebenso gut sind, zum Beispiel:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft6">Du kannst ihn würgen, ...</div> - <div class="verse mleft10">mit ’nem Klotz</div> - <div class="verse">Den Schädel ihm zerschlagen, oder ihn</div> - <div class="verse">Mit einem Pfahl ausweiden, oder auch</div> - <div class="verse">Mit deinem Messer ihm die Kehl’ abschneiden.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Man sieht, Gemüt hat ihm die Sprache nicht gegeben, aber — auch -diesem Höllenungetüm! — eine Steigerung des der Freßsucht dienenden -Tierverstandes durch Mitteilung, Werkzeuganwendung, Berechnung.</p> - -<p>Wie zum Mord, genau so steht er zu allem: er arbeitet unweigerlich, -wenn er so lange gezwickt und geplagt wird,<span class="pagenum"><a name="Seite_299" id="Seite_299">[S. 299]</a></span> daß er’s nicht mehr -aushält, sonst zieht dieser Sohn einer Hexe und eines Teufels, nicht -anders als die Masse verderbter Menschenkinder, das Fressen und -Schlafen vor.</p> - -<p>Nur in einem Fall kann das froschkalte Tier hitzig werden: wenn der -Geschlechtstrieb sich regt. Als der zuerst in Caliban erwachte, -stürzte er sich eben auf Miranda das Kind, das der Vater gerade noch -retten konnte, wofür alle Sklaven des Triebs dem jungen Kerl dringende -Entschuldigung gewähren müssen: dies Kind war das einzige weibliche -Wesen auf der Insel. Von Liebe weiß er weiter nichts, als daß so ein -Trieb unweigerlicher Art in uns ist und befriedigt sein will, und daß -ein gesundes schönes Weib „wackere Brut bringt“, — und da weiß er in -Wahrheit ein gut Teil mehr als eine Masse Menschenpöbel im Lande der -Bildung; denn wenn wir calibanisch die Wahrheit sagen wollen: denken -denn die, denen kannibalisch wohl ist „als wie fünfhundert Säuen“, -in ihrer Wollust an die Brut, an die Kinder? Höchstens mit Unbehagen -und mit Angst vor der Plage und den Alimenten! Möge sich doch — ich -glaube hier nicht abzuschweifen, ich glaube, daß Shakespeare uns diesen -Zusammenhang zwischen Caliban und uns vor Augen stellt, den ich hier -mit seinen und meinen Worten ausdrücke — möge sich der alimentäre -Mensch nicht gar zu stolz über das elementare Ungeheuer erheben!</p> - -<p>Im Zusammenhang Calibans mit den zwei köstlich gemeinen Kerlen, die -auf dem Schiff waren, den Trunkenbolden Trinkulo und Stefano, führt -Shakespeare sein Thema noch eine Stufe höher hinauf.</p> - -<p>Vorhin, als ich von den beiden Bewohnern der Insel, die Prospero -zuerst da vorfand, sprechen wollte, war ich in Verlegenheit um -eine Gesamtbezeichnung. Ariel ist ein Geist und steht jenseits der -menschlichen Gesellschaft; aber Caliban? Dieses sprechende Tierwesen -hat alle Bedürfnisse des Menschen, und da er gewillt ist, sich mit -einer Menschin zu paaren, und überdies aus Gründen, die uns<span class="pagenum"><a name="Seite_300" id="Seite_300">[S. 300]</a></span> näher -angehen, dürfen wir diesen Sproß der Hexe und des Teufels, dies unser -Zerrspiegelbild nicht verleugnen: er wird schon so was wie ein Mensch -sein. So dürfen wir sagen, daß Shakespeare uns in diesem Stück die -menschliche Gesellschaft in drei Stufen vorführt und ihrer jede in -drei Vertretern: unten in der unverfälschten Roheit Caliban, Stefano -und Trinkulo; dann in der durch Bildung verfälschten Niedrigkeit der -herrschenden Kaste: Alonso, Antonio und Sebastian; oben im Reich -beseelten Geistes Prospero und das junge Paar, das in der Liebe die -Tierleiblichkeit und den Geist vereinigt und versöhnt: Miranda und -Ferdinand.</p> - -<p>Man sollte meinen, ein widerlicheres, scheußlicheres Ungetüm als -Caliban wäre nicht möglich. Er ist die verkörperte, die wahrhaft -von der innern Niedertracht her Körper und bewegter Organismus -gewordene Häßlichkeit. Und doch hat Caliban etwas an sich, was uns zu -Versöhnung und fast zu Rührung stimmen könnte. Er ist das Zerrbild -des Menschen, ist aber insofern kein Mensch, als er wie ein Tier ist, -dem der göttliche Funke nicht erloschen ist, sondern von Geburts -wegen fehlt. Man kann ihn nicht mehr schuldig nennen als eine Hyäne -oder eine Schlange; er trägt die Urschuld oder Erbsünde der gesamten -Schöpfung, nicht mehr, nicht weniger; er ist ein Unerlöster, wie die -tierischen Kreaturen alle, deren trauernde Augen wie Fenster vor -dunkeln Kerkern sind. Könnte man sich vorstellen, daß mit all dieser -ursprünglichen, völlig unwillkürlichen Niedertracht einer Bestie, -die die Verstandessprache erlernt hat, auch noch die Lumperei eines -von Haus aus mit Gemüt begnadeten und für sich verantwortlichen -Menschen, der von sich in tiefsten Schmutz gefallen ist, leibhaft und -unabtrennbar verbunden wäre, so wäre Calibans Ekelhaftigkeit noch weit -übertroffen. Und gerade so ein zusammengewachsenes Doppelscheusal zeigt -uns Shakespeare auch noch in einer der lustigsten Grotesken, die er -geschrieben hat, wo wir<span class="pagenum"><a name="Seite_301" id="Seite_301">[S. 301]</a></span> in allem zwerchfellerschütternden Lachen, das -uns überfällt, empfinden, Allerbösestes swiftisch vor Augen geführt -zu bekommen. Ich spreche von der zweiten Szene des zweiten Aktes, wo -es der genialste aller Szeniker auf die ungezwungenste Art zuwege -bringt, diese lebendige Maschinerie, den Knäuel nämlich von Caliban -und Trinkulo, vor unsern Augen aufzubauen. Caliban fürchtet sich vor -Trinkulo, den er für einen der Plagegeister Prosperos hält, und wirft -sich platt auf den Boden; Trinkulo, in aller gemeinen Liederlichkeit -ein feiger, schwächlicher Wicht, flüchtet sich vor dem Gewitter unter -den Mantel des Scheusals, ganz dicht an ihn heran gedrückt, denn er -ist gesunken genug, um die Berührung mit dem Widerwärtigsten nicht -so zu fürchten, wie die Drohung des Wetters; Stefano, ein verwegener -Kerl mit einer Art von rohem, beherztem Rationalismus, findet das -Doppelungeheuer mit vier Beinen und zwei Köpfen und denkt vor allem -daran, was für ein Geschäft er machen kann, wenn er diese unerhört -wunderbare Mißgeburt vor den Potentaten Europas produzieren wird. -Und so gießt er, um das redende Monstrum von dem Fieber zu heilen, -von dem es befallen scheint, in die beiden Mäuler Schnaps aus seiner -Flasche, die er aus dem Schiffbruch gerettet hat. Trinkulo läßt sich -herauswickeln und begrüßt seinen Zechbruder; Caliban aber ist zum -ersten Mal in seinem armen Leben in Seligkeit und Verzückung. Denn -die Bestie hat nun eine wundersame Menschenerfindung kennen gelernt, -mit der wir auch sonst die Naturkinder in wilden Ländern, die keine -Calibans waren, beglückt haben: den Alkohol. Prospero hatte den ganz -vergeblichen, verderblichen Versuch gemacht, ihm in seine Leere Geist -einzutrichtern; nun aber ist ihm der wahre Geist aus Stefanos Flasche -eingegossen worden! Wer den Göttertrank spendet, der ihm wie Wonne und -Verwandlung durch alle Glieder rieselt, der muß ein noch mächtigerer -Geisterfürst sein als Prospero, der gegen ihn in<span class="pagenum"><a name="Seite_302" id="Seite_302">[S. 302]</a></span> Wahrheit, wie wir -das Elementare in der Natur nur mit Gewalt in unsern Dienst zwingen, -nichts üben kann als harten Zwang. Sofort betet drum Caliban den Lumpen -Stefano als König an. Gegen Prosperos Herrschaft, der ihm vornehm, -unfaßbar als Wesen andrer Art gegenüberstand, hat er sich, wie es -Naturnotwendigkeit war, gewehrt, hat sie als Unterdrückung empfunden; -jetzt, wo er dem dienen darf, den er als einen zu ihm Gehörigen, der -ihm hilft, der ihn niederträchtig glücklich macht, als Herrn anerkennt, -fühlt er sich frei. Und wiederum, und für diese Stelle der Dichtung -noch nachdrücklicher sage ich: es ist innig ergreifend und zugleich -tiefsinnig und grandios grotesk, wie dieses arme Untier, das von -dem edlen Prospero nur mit Zwicken und Prügeln zur Arbeit gebracht -worden war, jetzt zu den niedrigsten Diensten willfährig ist, wie es -aus Religion, wenn’s auch nur die Religion des Schnapses ist, ein -freiwilliger Sklave wird, wie es „Freiheit! Freiheit!“ und Jubelrufe -brüllt und ihm aus dieser Freiheitsstimmung und Begeisterung die Gabe -des Liedes zuwächst. Aus dieser Situation heraus, in dieser Bedeutung, -die sich aus dem anschaulich gestalteten Sinn des Dramas für unser -erlebendes Gefühl ergibt, kann es kein lyrisches Stück geben, das -zugleich so lustig, so abstoßend, so lehrreich, so gewaltig und so -rührend wäre wie Calibans Lied, das dieses „heulende Monstrum, trunkene -Monstrum“ wild energisch in besoffener Courage und in schrecklichen -Tönen, die so Musik sind, wie Häßlichkeit Schönheit ist, dem Prospero -zusingt, dessen verhaßte Herrengestalt vor seiner Phantasie ersteht:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Will nicht mehr Fischfänger sein,</div> - <div class="verse">Noch Feurung holen,</div> - <div class="verse">Wie’s befohlen;</div> - <div class="verse">Noch die Teller scheuern rein!</div> - <div class="verse">Ban, ban, Cacaliban</div> - <div class="verse">Hat zum Herrn einen andern Mann!</div> - <div class="verse">Schaff einen andern Diener dir an!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_303" id="Seite_303">[S. 303]</a></span></p> - -<p>Auch hier, im Letzten, der ganz große, der Dramatiker, das heißt der -Gerechte Shakespeare: der höchste und der niederste Mensch stehen sich -gegenüber, von einander ewig getrennt wie der römische Plebejer von -Coriolan, wie Thersites von Hektor, und doch jeder in seinem Recht. -Bei uns ist aus Gerechtigkeit Toleranz und Unsicherheit geworden, -und so ist der moderne Dramatiker wacklig und schwankt auch mit -seinen Sympathien hin und her; das Erstaunliche, das Umfängliche -an Shakespeare ist, daß er nicht ins Periphere bebt, sondern einen -ursicheren Mittelpunkt hat, in dem er bei seinem Helden steht. Und -von da aus dann mit einem Mal das Licht auf die tief Beschatteten -im dunkeln Winkel fallen zu lassen, vom entschlossen erwählten und -festgehaltenen Adel aus der Niedertracht ihre eigne Stimme aus -dem Tiefsten hervorzuholen, das ist Shakespeares Gerechtigkeit, -Stufenordnung und dramatische Kunst.</p> - -<p>Nach Freiheit begehrt auch das Naturwesen, das zwischen Erde und Himmel -flattert, Ariel der Luftgeist. Er gehört im beseelten Reich der Natur -zu Blüten, die sich im Winde wiegen, zu Schmetterlingen und Schwalben, -aber nicht zu Menschen. Und nur durch zartesten, schmeichlerischen, -liebevollen Umgang, dadurch, daß er selbst sich frei, neckisch, heiter, -schwingend seinem dienenden Freund anpaßt, kann Prospero in Güte und -Herzensnähe mit dem ätherischen, zarten und doch — im menschlichen -Sinne — seelenlosen Geistwesen leben. Nichts entzückender als dieses -herrenmäßig ergebene immerwährende Kosen von Prospero zu diesem -lebendig bewegten Stück Natur hin, das immer wieder fliehen will wie -der Wind und sich doch immer wieder für eine Weile festhalten läßt; wir -haben immer den Eindruck, daß kein Mensch außer Prospero diesen Freien, -Beweglichen, der sich nie ganz gefangen gibt, an sich bannen könnte. -Und wir haben den Eindruck: hat schon Prospero Caliban nicht erziehen -können, Ariels in aller Naturschrecklichkeit natursanftes Wesen hat -den<span class="pagenum"><a name="Seite_304" id="Seite_304">[S. 304]</a></span> Menschen Prospero, der als Anlage alles in sich trägt, in seinem -Besten bestärkt und gehoben.</p> - -<p>Ariel gibt allem, was in der Dichtung geschieht, den luftigen, -heiteren, dem Geist der Schwere entronnenen Charakter; er ist -die Kraft, die vor unsern Augen und im Hintergrund die Handlung -mit wunderbarsten Mitteln, mit Sturm und Flammen und Liedern und -Trommelschlag vorwärts bringt. Er ganz allein hat Sturm und Meereswut -und Blitz und Brand auf dem Schiff hervorgebracht, und diese seine -bloße Erzählung von dem Sturm und Feuer, wie es als Sinnenschein -aus ihm, der geeinten Naturkraft hervorging, muß in der rechten -Aufführung, die in diesem Stück noch weniger als sonst bei Shakespeare -aufs Dekorative, noch mehr auf die Greifbarkeit des Geistes ausgehen -muß, gewaltiger wirken als das Gewitter der ersten Szene; durch die -Geteiltheit unsrer Sinne hindurch vernehmen und gewahren wir in -Ariels Darstellung eine höhere Region der Naturwelt, Fechners drittes -Reich, wo das, was Platon die Idee genannt hat, der Zusammenhang, das -Schöpferische waltet:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft10">Ich enterte das Schiff</div> - <div class="verse">Des Königs; jetzt am Schnabel, jetzt im Bauch,</div> - <div class="verse">Auf dem Verdeck, in jeglicher Kajüte</div> - <div class="verse">Flammt’ ich Entsetzen; bald zerteilt ich mich</div> - <div class="verse">Und brannt’ an vielen Stellen; auf dem Mast,</div> - <div class="verse">An Stang’ und Bugspriet flammt’ ich abgesondert,</div> - <div class="verse">Floß dann in eins...</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und so hat er den Schein und die volle Wirkung eines fürchterlichen -Schiffsbrands und Untergangs im schrecklichsten Sturm erregt, und -alle Reisenden sprangen im Entsetzen ins Meer, wo sie dann zu ihrem -Staunen unbeschädigt an den ganz nahen Strand gespült wurden. Zu dem -rüden Bootsmann aber und seinem Schiffsvolk können wir, wenn wir gut -aufmerken, nachträglich verstärkte Sympathie fassen: sie alle sind -in Ausübung ihrer Pflicht bis zuletzt<span class="pagenum"><a name="Seite_305" id="Seite_305">[S. 305]</a></span> auf dem Schiff geblieben und -liegen jetzt durch Ariels Zauber im untersten Schiffsraum in tiefem -Schlaf. Die schuldigen Fürsten und ihr Gefolge sind vorerst heil auf -einem entfernteren Teil der Insel; nur der Sohn und Erbe des Königs -von Neapel ist verloren gegangen und wird von dem trauernden Vater und -frohlockenden Schelmen für tot gehalten. Der junge Prinz Ferdinand -aber lebt; es geschieht alles, wie der Meister es bestimmt hat; Ariel -führt ihn Prospero zu, der ihn — zur Prüfung — gefangen nimmt, zu -Knechtschaftsdiensten verdammt und so in Mirandas Gesellschaft bringt.</p> - -<p>Wir sind auf Wundersames vorbereitet, denn wir wissen: es ist außer -ihrem Vater der erste Mann, den das Mädchen erblickt. Entzückend, -wie die Ausschließlichkeit der Liebe auf den ersten Blick, die sonst -den Erwählten aus der Schar aller andern herausgreift, hier die Form -annimmt: er ist der erste und einzige, den ich je gesehen; nun denn, -ich brauche keinen andern! Was die Bestie Caliban nicht kennt, die -wählende, unentrinnbare Liebe, die Paargemeinschaft zwischen dem einen -Mann und dem einen Mädchen, die Verklärung des Geschlechtstriebs durch -seelische Innigkeit, erblüht ihr in dieser Ausnahmelage, daß sie nicht -vergleichen kann:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">So hat in Demut denn</div> - <div class="verse">Mein Herz gewählt; ich hege keinen Ehrgeiz,</div> - <div class="verse">Einen schönern Mann zu sehn.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und dies Kind der Natur und des Geistes kennt die Heuchelei der -Gesellschaft gar nicht, wiewohl die natürliche Keuschheit gar sehr: -sofort bekennt sie sich, dem Vater, dem Geliebten selbst ihre Liebe:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ich bin Eu’r Weib, wenn Ihr mich haben wollt,</div> - <div class="verse">Sonst sterb ich Eure Magd; Ihr könnt mir’s weigern,</div> - <div class="verse">Gefährtin Euch zu sein, doch Dienerin</div> - <div class="verse">Will ich Euch sein, Ihr wollet oder nicht.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Das ist eine Stelle, die Strindberg ganz besonders wohl im Herzen -tut, und er spricht sie gegen den Noramann,<span class="pagenum"><a name="Seite_306" id="Seite_306">[S. 306]</a></span> wie er Ibsen nennt, und -alle Vorkämpfer der Frauenemanzipation aus; aber für einseitige und -willkürliche Tendenzen wird man bei Shakespeare nur Unterstützung -finden, wenn man unachtsam oder gewalttätig ist; dieses Gefühl, dem -die Freiheit der Liebe Hingabe bis zur Dienstbarkeit ist, wird von -Ferdinand dem Jüngling sofort für sich gerade so ausgesprochen, wie -von dem Mädchen. Beide geloben einander die Ehe als gegenseitige -Dienstbarkeit, welche der Liebe, das heißt der Freiheit entstammt. -Es ist nicht zu übersehen, daß dieses Verhältnis zwischen Freiheit -und treuem Dienst eines der Themen ist, die durch die ganze Dichtung -hindurchgehn. Wir haben gesehen, wie Caliban ein geplagter Sklave -ist, weil er in den Dienst des Guten gewaltsam eingespannt wird, und -daß ausgelassener Jubel über ihn kommt, sowie ihm der Schnaps einen -Herrn gebracht hat, den er in Freiheit verehrt. Und das haarfeine, in -jedem Augenblick gewagte, gefährdete und wieder geknüpfte Verhältnis -zwischen Prospero und Ariel haben wir kennen gelernt: Prospero, der -Ariel aus schmählichster und ärgster Gefangenschaft befreit und ihn bei -der Gelegenheit in seinen Dienst gezwungen hat, ist keinen Augenblick -seiner sicher, da mächtiger noch als der Zauberbann und das gegebene -Wort der Freiheitsdrang dem flüchtigen Geiste in der Natur sitzt; aber -etwas, was zwischen dem Menschen und dem Elf gar nicht möglich scheint -und keinem als dem Herrscher im Reich der Phantasie Prospero erreichbar -ist, die Liebe ruft Ariel immer wieder aus der Flucht in den Dienst -zurück, bis Prospero dem Liebling, dem Herzensariel freiwillig die -Freiheit schenkt. All das, was Shakespeare uns da zur Letze gegeben -hat, ist ein heiliges Vermächtnis für das Miteinanderleben der Menschen -in Familie, Bünden und Gesellschaften und liegt als totes Gut unberührt -da; all das ist uns Frevlern der Trägheit nur Literatur, Lektüre und -Schauspiel; wir bleiben unsern Meistern, ob sie Shakespeare oder -Goethe<span class="pagenum"><a name="Seite_307" id="Seite_307">[S. 307]</a></span> oder Beethoven heißen, die Religion schuldig, die sie uns -geliehen haben, damit wir mit ihr wuchern.</p> - -<p>Wir haben Shakespeare gegenüber eine Entschuldigung: er spricht -nicht zu uns, nicht bloß, weil wir nicht hören, sondern, weil er ein -Stummer ist. Nie hat die Erde einen getragen, dem das Schweigen, -das Nichtredenkönnen mehr Gebot war als diesem Menschen. Das klingt -erstaunlichst, denn nie auch hat einer größere Gewalt über die Sprache -besessen und geübt, als er. All diese strömende Fülle aber hat er -immer nur den Leidenschaften und krausen Einfällen, den Ergüssen und -Repliken seiner Gestalten geliehen; den Sinn dessen, was zwischen -diesen Gestalten waltet, den Geist seiner Dichtungen hat er szenisch -gebaut, hat ihn gezeigt, hat ihn sichtbar gemacht und zwischen den -Worten aufleuchten lassen; er hat nie vermocht, einer seiner Gestalten -in den Mund zu legen oder sonst irgend voll und gerade heraus zu sagen, -was das Drama, was auch nur eine Gestalt bedeutet. Darum aber auch, -weil diese Sprachwerke in ihrem Eigentlichen weit über die Sprache -hinausgehn, weil sie nie abstrakte Lösungen, sondern immer Aufgaben -für uns sind, weil sie nie fertig sind, sondern immer auf Empfängliche -und Berufene stoßen müssen, die sie in Empfindung und Verständnis -vollenden, darum sind sie heute noch jung und neu wie am ersten Tag und -sind jedem neuen Geschlecht der Erdenbürger von neuem eine unbekannte -Küste, zu der wir Entdeckungsfahrten machen.</p> - -<p>Auch das Verhältnis Prosperos zu seinem Bruder empfängt von dem -Standpunkt aus, zu dem wir hier gekommen sind, neues Licht. Seine Frau, -Mirandas Mutter, ist früh, bald nach der Geburt gestorben (dies Unglück -trifft auffallend viele von Shakespeares Vätern; so nebenher, wenn er -nicht gerade das Eheverhältnis selbst darzustellen hat, weiß er mit -Ehefrauen selten etwas anzufangen); Prosperos ganze Liebe galt nun dem -Kind und — er sagt<span class="pagenum"><a name="Seite_308" id="Seite_308">[S. 308]</a></span> es ausdrücklich — dem Bruder. Damals und noch -lange hin, er bewährte es später bei dem Versuch, Caliban zu erziehen, -war er noch ein Gläubiger, der die Menschen nach seinem Bilde sah und -ihnen unbegrenztes Vertrauen entgegenbrachte. Nichts schmerzt und -erzürnt ihn bei der Rückerinnerung mehr, als „daß ein Bruder so treulos -sein kann“.</p> - -<p>Treulos aber war dieser gemütlos Gierige nicht bloß gegen den Bruder, -genau so gegen das Volk von Mailand, dem er die Freiheit raubte, das er -unter fremdes Joch brachte, um selbst den Herrscher zu spielen und die -Staatseinkünfte zu genießen. Wir erhalten ein großes Gegensatzbild: wie -Antonio der Usurpator sich eifrig und nach außen tätig im politischen -Betrieb übt, die Bureaukratie und andre Interessenten an sich fesselt -und vor lauter Egoismus so betriebsam ist, daß er kein eigenes Leben -lebt, während Prospero, der sich zu völliger Einsamkeit zurückgezogen -hat, fern von allen Staatsgeschäften nur seiner Seele lebt und eben -damit dem Volke dient und sich als echter Herzog fühlt. Er, den das -Volk über alles liebte, der ein Fürst unter den Menschen war, weil er -ein Fürst im Reich des Geistes war, hat dann, während, vom Verräter -hineingelassen, der Feind in Mailands Tore einzog, ausgesetzt in -morschem Boot hilflos im Meer treiben müssen, und nur das Lächeln -seines Kindes, in dem etwas Ewiges zu ihm sprach und ihm die Zuversicht -gab, man brauche an den Menschen trotz allem nicht zu verzweifeln, -gab ihm die Kraft, noch leben zu wollen. Damals, wie er, den Wellen -und Winden preisgegeben, ein aus der Menschheit Verstoßener, vom -nächsten Menschen Verratener, ziellos mit dem lächelnden Kind übers -Meer hintrieb, mag dem innigen Mann zuerst die Vision erschienen sein, -wie dieses Kind einst über Gier und Haß hinweg im Land seiner Feinde -den Bund der Liebe gründen würde. Und nun ist es durch eine wunderbare -Fügung des Schicksals so weit: jetzt kommen, von Tunis heimgekehrt, wo -die Tochter<span class="pagenum"><a name="Seite_309" id="Seite_309">[S. 309]</a></span> des Königs von Neapel eine verhaßte Heirat schloß, zu der -sie die Staatsraison ihres Vaters zwang, die Feinde in stolzer Fahrt -über dasselbe Meer, das einst Prosperos elenden Kahn wiegte; sie sind -in seiner Hand. Ferdinand, der Jüngling, fast ein Knabe noch, dessen -Reinheit der Geisterfürst ahnt, wird von den andern getrennt; er allein -von allen, die sich ins Wasser stürzten, kämpft kühn mit dem Element; -so kommt er an Prosperos Strand, zu seiner Prüfung und seiner Liebe. -Wir sehen, wie beglückt Prospero, wie dankbar er der Naturmacht Ariel -ist, daß dieser erwünschte Bund nun wunderbar zustande kommen soll. -Die andern aber, die Mörder, die sollen erst durch Wahnwitz hindurch, -sollen wie im Alptraum ihre längst vergessene Schuld an Prospero -empfinden, um in Herzensleid zu büßen und, wenn sie’s vermögen, zu -reinem Leben zu kommen.</p> - -<p>Bei einem, dem mindest Schuldigen, dem König von Neapel gelingt es; -noch ehe Ariel in Gestalt der Harpyie ihnen gemeldet hat, daß sie um -ihres Verbrechens gegen Prospero willen leiden und nur durch Umkehr -von innen heraus sich aus dem Bann befreien können, noch ehe ihnen der -Geist so verkündet, was sie in all der langen Zeit nicht gewußt hatten, -daß der Frevel nämlich eine Wirklichkeit ist nicht nur für den, gegen -den er sich richtet, sondern auch für die Täter, eine Wirklichkeit, -die lebt und zehrt, solange die Buße nicht ihr noch stärkeres Leben -und Reinigen anhebt, schon vorher, gleich nach der Landung auf der -Insel und beim Verlust des Sohns ist tiefe Schwermut und dumpfes Brüten -über ihn gekommen; all die Einfälle, Witzreden und geistreichen oder -gewagten Gespräche seiner Umgebung vermögen ihn nicht aufzuheitern und -dienen von der Technik des Dichters aus nur dazu, uns immerfort das -Schweigen dieses Mannes, der sich immer tiefer verliert und findet, -vernehmlich zu machen. Die andern Schuldigen, Prosperos eigener Bruder -und der Bruder des Königs, die jetzt eben wieder Brudermordpläne<span class="pagenum"><a name="Seite_310" id="Seite_310">[S. 310]</a></span> -schmieden, welche nur von Ariel vereitelt werden, bleiben verstockt -bis zuletzt, und keine Erinnerung, keine Musik, kein Wahnwitz, keine -Mahnung kann ihnen Erneuerung bringen.</p> - -<p>Aber Prospero will die Prüfung und Plage nicht länger hinziehn; er hat -sich genug getan, daß er die Macht des Geistes und der Natur gegen die -aus der Gesellschaft geborene Schlechtigkeit verderbten Menschentriebs -zum Sieg geführt hat; die Natur solcher ererbten, verderbten -Gemütsart kann er doch nicht ändern; die Kruste, die in ihnen das -Gute überwachsen hat, ist so hart geworden, daß der, der es noch bei -ihren Lebzeiten wachrufen will, einem Nichts, einem unerreichbar -Verschütteten gegenübersteht; und gegen das Nichts gibt es nicht Rat -noch Tat; der resignierte Lehrer Calibans weiß es nur zu gut.</p> - -<p>Zur Milde und letztgiltigen Verzeihung stimmt ihn vor allem, in einer -himmlisch schönen, verklärten Szene Ariel. Der spricht — ohne weitere -Schilderung — von dem plötzlichen Wahnsinn, den er über die drei armen -Sünder vom Thron verhängt hat, und von dem Eindruck, den diese grausige -Verwandlung ihrer Fürsten auf die Herren vom Hof, vor allem auf den -guten alten Gonzalo gemacht hat,</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Daß, wenn Ihr jetzt sie sähet, Eu’r Gemüt</div> - <div class="verse">Erweichte sich.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Prospero fragt sinnend oder prüfend:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Glaubst du das wirklich, Geist?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>und Ariel erwidert in tiefem Ernst:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Meins würd’ es, wär’ ich Mensch.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Da ist Prospero entschieden und bricht in inniger Ergriffenheit aus:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Auch meines soll’s.</div> - <div class="verse">Hast du, der Luft nur ist, Gefühl und Regung</div> - <div class="verse">Von ihrer Not? und sollte nicht ich selbst,</div> - <div class="verse">Ein Wesen ihrer Art, gleich scharf empfindend,</div> - <div class="verse">Leidend wie sie, mich milder rühren lassen?...</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_311" id="Seite_311">[S. 311]</a></span> - <div class="verse mleft8">Der Tugend Übung</div> - <div class="verse">Ist höher als der Rache... Geh, befrei’ sie.</div> - <div class="verse">Ich brech’ den Zauber, löse ihre Sinne:</div> - <div class="verse">Sie soll’n sie selbst nun sein.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Ich weiß nichts, was rückwirkend eine bessere Erklärung für Hamlet -wäre, als diese Wendung, wie sie der Sturm bringt. Wir werden nie wagen -dürfen, zu entscheiden, wie weit die Unklarheit Hamlets über seine -Motive und seinen heimlichen Willen eine Unklarheit des Dichters noch -war, die jetzt der Klarheit gewichen ist; zu solchem Rätselraten hat -sich Shakespeare zu tief in seinen Gestalten geborgen. Aber sicher -ist, daß Hamlet, als er, die Hand am Schwert, um es zu ziehen, und -zugleich an seinem Rachetrieb, um ihn nicht loszulassen, unentschieden -dastand und darüber sann, wie er das Schwert schrecklicher zücken -könne, auf der Suche nach dem war, was Prospero gefunden hat. Sehr -seltsam dünkt mich das Verhältnis unsrer Empfindung zu den raschen -Instinktuntaten, wie sie etwa Othello oder auch Hamlet begehen, -und zu den wohlerwogenen, milden, kurzen Plagen, die Prospero über -seine frevlerischen Feinde verhängt. Wir scheinen geneigt, mit jenen -Ausbrüchen der Wut wie mit etwas Natürlichem mitzugehn, uns an den -Strafen Prosperos, ja sogar an seinem rationellen Plageverfahren -gegen den unbezähmbaren Wilden Caliban als etwas sehr Hartem zu -stoßen. Das kommt, meine ich, daher, daß wir selbst die Bereitschaft -zu jeder blutigen Gewalttat in uns locker genug finden, wenn wir in -unsrer Triebnatur stehen, daß wir es aber, sowie wir zur Vernunft, zur -Beherrschtheit, zur Abgeklärtheit übergetreten sind, nicht ertragen, -irgendein lebendes und nun gar menschliches oder menschenähnliches -Wesen als Mittel, ja sogar, ein Stadium seines Daseins als Mittel zu -einem künftigen benutzt zu sehen. Wir haben beides als Möglichkeit -in uns, den Affekt und die Vernunft; wir gehen aber in unbeirrtem -Mitgefühl mit dem Triebmenschen,<span class="pagenum"><a name="Seite_312" id="Seite_312">[S. 312]</a></span> während wir beim Überlegenen jeden, -auch den kleinsten Rest aus der tierisch-sinnlichen Sphäre als -unangenehm empfinden.</p> - -<p>Im Hamlet hat eine Geisterstimme den Sohn, der seiner ganzen Anlage -nach so ein Geistiger, so ein Dichter zu sein berufen ist wie -Prospero, zur Rache aufgerufen; zu blutig mörderischer Tat drängt’s -ihn unterirdisch von außen, unterirdisch in ihm selbst; von seiner -inneren Höhe aber, von seinem besten Wesen ruft es ihn zur Gewalt -der gestaltenden Rede, des strafenden, bannenden Worts, zu dem jetzt -Prospero mit tiefem Atemzug ausholt. Und zu diesem Verzicht auf -jegliche Strafe und Plage ermuntert hat ihn Ariel der Geist, dem Grazie -und spielerische Leichtigkeit und holde Anmut etwas verleihen, was -wie eine natürlich gewachsene Nachbildung des sanftesten Teils unsres -menschlichen Gemüts ist, wo es von der Stille der Vernunft, wo Seele -von Geist, Gefühl von Denken nicht mehr zu trennen ist.</p> - -<p>Wozu auch, sagt sich Prospero, wozu strafen, verletzen, töten, Leben -zerstören? Ist ja doch alles Leben nur ein seltsames Spiel, das mit uns -getrieben wird, und so unwirklich und vergänglich, wie der Geisterspuk -und Hokuspokus, den er selbst schmerzlos entstehen und vergehen läßt. -Schmerzlos! Das ist der Unterschied zwischen dem Leben der Gestalten, -die der Phantast in die Lüfte zaubert, und derer, die das dunkle -Schicksal aus den Elementen ins Dasein bannt. Darum tut Milde und -inniges Mitleid not, auch gegen die Schlechten: das Leben, an dem die -dämonischen, erdenschweren Naturkräfte hämmern und zerren, ist mit -Gefühlen, mit Schmerzen verbunden, gleichviel ob einer gut oder schlimm -geraten ist, während Prosperos luftiger Trug nur Spiel und bunter, -flimmernder schmerzloser Geistertraum ist. Sonst aber freilich, was ist -Leben, was ist Erde, was ist Welt andres als Traum und Spiel?</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_313" id="Seite_313">[S. 313]</a></span></p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Unsre Spieler,</div> - <div class="verse">Wie ich Euch sagte, waren Geister und</div> - <div class="verse">Sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft.</div> - <div class="verse">Wie dieses Scheines lockrer Bau, so werden</div> - <div class="verse">Die wolkenhohen Türme, die Paläste,</div> - <div class="verse">Die hehren Tempel, selbst der große Ball,</div> - <div class="verse">Ja, was daran nur teilhat, untergehn</div> - <div class="verse">Und, wie dies leere Schaugepräng erblaßt,</div> - <div class="verse">Spurlos verschwinden. So ein Stoff sind wir,</div> - <div class="verse">Wie der, aus dem man Träume macht; ein Schlaf</div> - <div class="verse">Hält unser Stückchen Leben rings umgürtet.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Man hat gezeigt, daß diese Worte Ähnlichkeit mit einigen Verszeilen -haben, die sich in einer 1603 erschienenen Tragödie des Lord Stirling -finden. Das ist nicht wichtig. Wichtiger ist mir, daß das ganze -modische Maskenspiel, das Prospero vor Ferdinand und Miranda von -seiner kleinen Geistertruppe in den Lüften aufführen läßt, eben um -dieser Worte willen, die daran anknüpfen, hauptsächlich veranstaltet -scheint. Derart ist Shakespeares Technik in dieser Zeit; wir haben -Ähnliches vorhin bei Gelegenheit der Dialoge gesehen, die Alonsos -Schweigsamkeit umklingen. Ein wenig kann bei der Maske, die aufgeführt -wird, mitbeabsichtigt sein, noch einmal die bräutliche Beherrschung des -Geschlechtstriebs hervorzuheben, die Prospero dem jungen Menschenpaar, -fast noch zwei Kindern, auferlegt hat. Das steht mit dem Sinn des -Dramas, der Überwindung des Triebs durch den Geist, wohl aber auch -in seiner fast etwas schrullenhaften Gestalt mit unauslöschlichen -persönlichen Erfahrungen Shakespeares aus der Jugendzeit in Verbindung.</p> - -<p>Wir hören es aus den Worten von der Vergänglichkeit, die Prospero zu -Ferdinand spricht: die Heiterkeit, zu der der Herrscher im Geistland -schließlich gelangt ist, ruht auf schwerster Melancholie; und seine -Güte zu den Menschen ist mit Lebensmüdigkeit und Menschenverachtung -ver<span class="pagenum"><a name="Seite_314" id="Seite_314">[S. 314]</a></span>bunden; und dieser Stimmung widerspricht nichts in dem Stück; die -Utopie eines goldnen Zeitalters in Kommunismus und südlichem <em>dolce -far niente</em>, die Gonzalo nach Montaigne vorträgt, kommt nur als -Erheiterung für den Trübsinn des Königs, als schönes Bild, als Scherz, -keineswegs gläubig heraus; und wenn Prospero nicht Geisterfüllte, -Seelenvolle, wenn er nicht Ausnahmen und seines Gleichen kennte, wenn -er nicht seine Hoffnung auf das junge liebende Paar und damit auf die -kommenden Geschlechter setzte, wäre ihm Welt und Leben nicht mehr zu -ertragen.</p> - -<p>Schön ist es, daß diese Worte von der Vergänglichkeit aller Dinge der -Welt, von der Traumhaftigkeit und Schlafumgürtung des Menschenlebens -ihren Platz am Sockel von Shakespeares Denkmal in der Westminsterabtei -gefunden haben.</p> - -<p>Wie das Leben von Schlaf und Traum, so ist dieses Vermächtnisdrama -Shakespeares von Musik umringt. Wir hören es gleich noch, wie jetzt für -Prospero-Shakespeare an Stelle der dämonisch leidenschaftlichen Magie -die heilende, lösende Musik der neue, der luftgleiche, verschwebende, -leicht sich wiegende, spielerische, immaterielle Zauber sein soll. -Was es mit dieser Musik, der nämlichen, von der schon Lorenzo im -Kaufmann von Venedig so feierlich sprach, auf sich hat, sagt uns der -Dichter auch mit dem entzückenden Orpheuslied, das er um dieselbe Zeit, -in der er den Sturm dichtete, in seinem Heinrich VIII. der -unglücklichen Königin Katharina vorsingen läßt:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Orpheus beugt der Bäume Wipfel,</div> - <div class="verse">Und der Berge eisige Gipfel</div> - <div class="verse">Seiner Leier süß Getön.</div> - <div class="verse">Blum’ und Pflanze blüht entgegen,</div> - <div class="verse">Gleich als blüht’ in Sonn’ und Regen</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_315" id="Seite_315">[S. 315]</a></span> <div class="verse">Junger Frühling, ewig schön.</div> - <div class="verse">Sanft zum Wellenspiel sich lösen</div> - <div class="verse">Sturmesfluten, alle Wesen</div> - <div class="verse">Lauschen seines Sangs Gebot.</div> - <div class="verse">Solche Macht ward süßen Klängen;</div> - <div class="verse">Sorg und Weh, die uns bedrängen,</div> - <div class="verse">Wiegen sie in sanften Tod.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Durch Geistermusik läßt Prospero die Besessenen von dem auferlegten -Wahnsinn einer kurzen Stunde wieder heilen, läßt sie vor sich treten, -gibt sich ihnen noch in den Taumelschlaf hinein zu erkennen und -spricht, da er die Hauptschuldigen von der Schlechtigkeit, von der sie -besessen sind, nicht erlösen kann, mit der verachtungsvollen Milde, die -jetzt für ihn die äußerste Strenge ist, die der Geist zu üben hat, zu -dem Brudermörder:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Fleisch und Blut,</div> - <div class="verse">Mein Bruder du, der Ehrgeiz hegte, austrieb</div> - <div class="verse">Gewissen und Natur, der mit Sebastian</div> - <div class="verse">— Des inn’re Pein deshalb die stärkste — hier</div> - <div class="verse">Den König wollte morden, — ich verzeih’ dir,</div> - <div class="verse">Bist du schon unnatürlich!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Der Bruder Antonio findet in der ganzen langen Szene erst gegen den -Schluß hin ein einziges Mal, wie ihn sein Kumpan Sebastian direkt -anredet, ein paar Wörtchen; die beiden rohen Bemerkungen, die die -zwei Gesellen austauschen, zeigen genugsam, daß ihre Gemeinheit auch -von diesem Erlebnis, das für König Alonso die zermalmende und neu -aufbauende Erschütterung war, nicht umzubringen ist. Aber im Verhältnis -zu allen andern, die bei dem Vorgang sind, stehen die beiden wie -fortgeschoben und entehrt zur Seite. Der Usurpator ist von nichts, für -ihn nichts, von bloßen Worten überwunden; er ist zu nichts geworden und -hat sein Herzogtum eingebüßt und wird im Leben nicht fassen, daß eine -andere Macht ihn besiegt hat als die, die er versteht und übt: rohe -Gewalt.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_316" id="Seite_316">[S. 316]</a></span></p> - -<p>Der Geisterfürst ist wieder Herzog von Mailand; bald aber wird das -junge Paar an seiner Stelle herrschen; denn Prospero will nur mit nach -Italien segeln, um seine „Herzgeliebten“ zu vermählen und dann nach -Mailand zu ziehen; dort soll „jeder dritte Gedanke dem Grab gelten“.</p> - -<p>Seine Geister aber hat er schon hier, auf der Zauberinsel, auf der -er ihre Kraft an sich gefesselt hat, entlassen; er ist nun am Ziel -und will als ein gewöhnlicher, sterblicher, sterbender Mensch in die -Heimat zurückkehren; die Kraft der Magie, mit der er Feuer aufrührte -und Stürme entfesselte, ist zu Ende, und auch am luftig leichten -Arielspiele will er fürder keine Lust mehr haben. Wir, die wir uns -Shakespeares Werk in feiner Gesamtheit, Einheit und Entwicklung -vergegenwärtigt haben, müßten verhärteten Herzens sein, wenn wir bei -diesen Worten Prosperos nicht im ganzen und im einzelnen in wundersamer -Gemeinschaft den gewaltig erhabenen, fast unbegreiflichen, wonnevollen -Stolz und die leidvollste, die wahrhaft abscheidende Resignation -William Shakespeares vernähmen:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">Ihr Geister alle,</div> - <div class="verse">Mit deren Hilfe ich am Mittage</div> - <div class="verse">Die Sonn’ umhüllt, aufrühr’sche Wind’ entboten,</div> - <div class="verse">Die grüne See mit der azurnen Wölbung</div> - <div class="verse">In lauten Kampf gefetzt, den furchtbarn Donner</div> - <div class="verse">Mit Feuer bewehrt und Jovis Baum gespalten</div> - <div class="verse">Mit seinem eignen Keil, des Vorgebirgs</div> - <div class="verse">Grundfest’ erschüttert, ausgerauft am Knorren</div> - <div class="verse">Die Ficht’ und Zeder; Grüft’, auf mein Geheiß,</div> - <div class="verse">Erweckten ihre Toten, sprangen auf</div> - <div class="verse">Und ließen sie heraus, durch meiner Kunst</div> - <div class="verse">Gewalt’gen Zwang: all dieses grause Zaubern</div> - <div class="verse">Schwör’ ich hier ab; und hab’ ich erst — wie jetzt</div> - <div class="verse">Ich’s tue — himmlische Musik gefordert,</div> - <div class="verse">Zu wandeln ihre Sinne, wie die luft’ge</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_317" id="Seite_317">[S. 317]</a></span> <div class="verse">Magie es soll: so brech’ ich meinen Stab,</div> - <div class="verse">Begrab’ ihn manche Klafter in die Erde,</div> - <div class="verse">Und tiefer, als ein Senkblei je geforscht,</div> - <div class="verse">Will ich mein Buch ertränken.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Dies ist das letzte Drama Shakespeares, das hier zu besprechen war. Es -bleibt noch seine persönliche Lyrik, in der wir schon seinem inständig -schweren Leben, seiner Innerlichkeit und Persönlichkeit ganz nahe -treten. Nach 1612 wissen wir von keinerlei dichterischer Tätigkeit -Shakespeares mehr, von 1613 an ist er in seiner Vaterstadt Stratford, -und 1616 ist er dort gestorben: ein König ohne Land, ein Verbannter -und vom Geist Gezeichneter und wahrhaft Ausgesetzter, ein Zauberer und -Geistesfürst ohnegleichen, ein Herrscher über Natur und Geist, dem -nichts Menschliches fremd war und der darum sein Leben lang ein Fremder -war unter den Menschen.</p> - -<hr class="chap" /> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_318" id="Seite_318">[S. 318]</a></span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Die_Sonette">Die Sonette</h2> - -</div> - -<p class="initial">Ich sage etwas voraus, was nicht gesagt zu werden brauchte, aber ich -sage es: Daß Shakespeares Sonette da sind und zu uns sprechen, daß wir -über sie reden dürfen, ist eine Ehre, die wir durch ganz unbedenkliche -Freiheit und Würde zu verdienen haben. Ich werde also frei sagen, was -die Sache verlangt; der Genius der Freiheit hat diese Gedichte gezeugt. -Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß viele Leute diesen Sonetten -gegenüber verlegen und verschämt werden; und solange das Publikum es -nicht verwehrt, dürfen auch solche sich als Kritiker auftun; aber sowie -sie dann etwas anderes sagen, als daß diese Sonette sie in Verlegenheit -setzen, sowie sie ihren offenbaren Sinn fälschen wollen oder etwa -sagen, diese Gedichte hätten keinen großen Wert, wären langweilig -und dergleichen, so muß man ihnen bedeuten, daß es zu weit geht, -aus der Verlegenheit die Verlogenheit und aus der Verschämtheit die -Unverschämtheit zu machen.</p> - -<p>„Shakespeares Sonette, bisher noch nie gedruckt“, erschienen 1609, um -die Zeit also etwa von Troilus und Cressida, Antonius und Cleopatra -und Coriolan. Als Verleger war T. T. genannt, das ist Thomas Thorpe. -Als Anhang folgt in dieser Ausgabe die Romanze Der Liebenden Klage. -Manche haben dieses Gedicht aus einem triftigen Grund, der oft -vorhalten muß, weil es nämlich manchen nicht gefiel oder nicht paßte, -Shakespeare absprechen wollen; sonst gibt es für diesen Versuch keinen -Grund. Übrigens ist es in der Einkleidung schwach und modisch, in der -Form vollendet, so wie die beiden großen episch-lyrischen Gedichte -Shakespeares, an die es auch sonst erinnert. Ich schließe mich der -Meinung, die öfter geäußert wurde, durchaus an, daß dies Gedicht, das -nach Art und Form nichts mit den Sonetten zu tun hat, beigefügt wurde, -weil es ein Porträt des in den Sonetten besungenen<span class="pagenum"><a name="Seite_319" id="Seite_319">[S. 319]</a></span> Freundes bringt und -also inhaltlich sehr viel mit ihnen zu tun hat.</p> - -<p>Daß die Veröffentlichung dieses Buches mit Shakespeares Wissen und -Zustimmung geschah, ist sehr wahrscheinlich. Daß die überaus kunstvolle -Anordnung vom Dichter selbst stammt, ist so wenig zu bezweifeln, wie -daß Goethe seine Gedichte selbst geordnet hat.</p> - -<p>Daß diese 1609 veröffentlichten Sonette mindestens zu beträchtlichem -Teil einer weitaus früheren Zeit entstammen, ist sicher. Erwähnt hat -sie — für uns — zuerst 1598 in Shakespeares 34. Lebensjahr Francis -Meres in dem Lob Shakespeares, das hier öfter erwähnt wurde; da spricht -er von Shakespeares „zuckersüßen Sonetten unter seinen privaten -Freunden“ und vergleicht diese Gedichte mit Ovid; in dem Ausdruck -zuckersüß darf man nur Lob hören, keinerlei ironische Nebenbedeutung. -Im Jahr darauf, 1599 erschien dann eine Sammlung von Gedichten, die -Shakespeares Namen trug: Der verliebte Pilger; es ist kaum möglich -zu entscheiden, ob diese Gedichte — zwanzig an der Zahl — alle -Shakespeare zugehören, da einige sich auch in Sammlungen anderer -Dichter finden; aber zwei Sonette, die auch in der endgültigen Sammlung -von 1609 stehen, zwei sehr wichtige, um die sich dem Sinne nach andre -gruppieren, sind schon da 1599 veröffentlicht.</p> - -<p>Es gibt Übereinstimmungen gedanklicher und formaler Art, die von dieser -Sonettendichtung zu Shakespeares beiden großen Gedichten aus den Jahren -1593 und 1594 leiten, und ebenso zu den frühen Liebesspielen, besonders -den beiden Veronesern und der Verlornen Liebesmüh.</p> - -<p>Wir haben also anzunehmen, daß die Sonettenproduktion und das zu Grunde -liegende Erlebnis oder, vorsichtig gesagt, ein zu Grunde liegendes -Erlebnis schon in den neunziger Jahren einsetzen.</p> - -<p>Andere von diesen Gedichten aber wieder sind nach Inhalt, Stimmung und -Form so anders, so reif, düster, streng,<span class="pagenum"><a name="Seite_320" id="Seite_320">[S. 320]</a></span> daß eine spätere Zeit der -Abfassung, bis gegen 1605 hin mindestens anzunehmen ist. Ich lasse -mich dabei nicht von der Strenge, Festigkeit und Geschlossenheit, -der Neigung zur Antithese, zum Witz, zum Geist täuschen, die schon -die Form des Shakespearesonetts mit sich bringt; über das, was all -diesen Sonetten gemeinsam ist, hinaus, wachsen einige ins besonders -Herbe, Abgewandte und Furchtbare; sprechen überdies von Erfahrungen, -die der jüngere Shakespeare nicht haben konnte. Über etwa ein Dutzend -Jahre also kann sich sehr wohl die Entstehung dieser Sonettendichtung -erstreckt haben.</p> - -<p>T. T. der Verleger hat dem Buch eine Widmung mitgegeben, der ich so -wörtlich wie möglich hier eine deutsche Fassung zu geben suche:</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>Dem einzigen Erbringer dieser nachfolgenden Sonette Herrn W. H. -alles Glück und jene von unserm immerlebenden Dichter verheißene -Ewigkeit wünscht der wohlwünschende Abenteurer beim Auslaufen. T. T.</p></div> - -<p>Bei der Übertragung der Schlußwendung (<em>the wellwishing adventurer -in setting forth</em>) habe ich mir von dem trefflichen Sprachenmeister -Regis helfen lassen; ich glaube in der Tat, daß der Mann T. T. in -seiner geschraubten Sprache, in der sich Modeton und kleinbürgerliche -Unbeholfenheit treffen, seine Empfindung, daß er als Verleger ein -Wagnis begehe, mit diesem aus der Schiffersprache genommenen Bild hat -ausdrücken wollen. Mit dem gedrechselten Wort Erbringer versuche ich -<em>begetter</em> wiederzugeben. Damit steht es so. Die einen sagen, -es heiße hier, was der gewöhnlichen Bedeutung von <em>to beget</em> -entspricht: Erzeuger. Die andern beziehen sich auf eine seltenere -Bedeutung des Zeitworts und sagen: Nein, es ist Beschaffer gemeint; der -nämlich, der dem Verleger das Manuskript verschafft hat. Nach Prüfung -der beiderseitigen Argumente finde ich, daß alle beide recht haben, -und glaube, daß der Verleger dieses beides mit der einen Bezeichnung -in ver<span class="pagenum"><a name="Seite_321" id="Seite_321">[S. 321]</a></span>schwommener Wortgemeinschaft hat ausdrücken wollen: Du bist -der Mann, an den diese Sonette sich richten, dem der Dichter die -Unsterblichkeit verheißen hat, welche ihm selbst nicht fehlen wird, -und dir verdanke ich die Möglichkeit, daß ich sie herausgeben darf; -ich bescheidener Mann will dir dasselbe wünschen, was dir der Dichter -gelobt hat. Sicher ist, daß der Dichter in diesen Sonetten die Ewigkeit -nur dem Freund verheißen hat, an den sie sich richten; und dem und -keinem andern widmet der Verleger das Buch. Daß er den aber auch in -dem anderen Sinn den <em>begetter</em> der hier folgenden Sonette nennt, -ist sehr wohl möglich. Wir wissen nichts weiter, und es bleibe jedem -überlassen, wie er sich dieses Beschaffen vorstellen will: ob dadurch, -daß er ihm eine Abschrift der Sammlung verschaffte, oder so, daß er -die Erlaubnis oder die Anregung zum Druck gab. Ich denke, bei näherer -Bekanntschaft mit den Tatsachen wird jeder zugeben müssen, daß auch -der waghalsigste Abenteurer nicht ohne Zustimmung des Objekts dieser -Gedichte das Buch veröffentlicht hätte, es sei denn, man nehme an, der -Besungene sei schon tot gewesen, wofür nichts spricht. Ich halte für -wohl möglich, daß der Mann, den T. T. Herrn W. H. nennt, veranlaßt -hat, daß das Dichtwerk erschien; daß für ihn darin höchstes Lob, -Anzweifelung und bitterer Tadel vereint zu finden war, beirrt mich -durchaus nicht; es gibt solche Männer, die für ein solches Verhältnis -zu einem großen Künstler eine Mischung von Geheimnis und Öffentlichkeit -brauchen, und W. H. könnte ein solcher gewesen sein.</p> - -<p>Wer ist dieser Mr. W. H.? An wen richten sich diese Sonette?</p> - -<p>Man hat viel herumgeraten, ist sogar auf William Himself, William -(Shakespeare) in Person und auf die Königin Elisabeth geraten, und -hat sich, wie in fast allen Shakespearefragen, nur ganz selten -zu dem Geständnis bequemt, man wisse es nicht und es gebe keine -Möglichkeit, es aus<span class="pagenum"><a name="Seite_322" id="Seite_322">[S. 322]</a></span> dem Material, das uns vorliegt, herauszubekommen. -In England stehen in der Gegenwart zwei Parteien einander gegenüber, -von denen die zweite im Vordringen ist: die erste entscheidet sich -für Henry Wriothesley Graf von Southampton, die zweite für William -Herbert Earl von Pembroke. In Deutschland nehmen es die meisten für -selbstverständlich, daß die Sonette dem Gönner und Patron Shakespeares -galten, womit Graf Southampton gemeint ist.</p> - -<p>Beide Parteien arbeiten viel mit gewissen Anspielungen auf -Zeitereignisse, die sich in den Sonetten finden und die nach ihrer -Behauptung nur auf den Mann deuten können, auf den sie gewettet haben. -In Wahrheit sind die Stellen, die man anführt, viel zu unbestimmt, -vieldeutig, allgemein, als daß man sie auf etwas Bestimmtes beziehen -könnte.</p> - -<p>Ich habe nun zu sagen, was ich weiß und was ich nicht weiß.</p> - -<p>Die Abkürzung Mr., Master, woraus dann Mister geworden ist, ist -lediglich die Anrede für Bürgersleute. Wenn aber — wie wir noch sehen -werden — etwas mit Sicherheit aus dem Inhalt der Sonette hervorgeht, -so ist es zuvörderst das, daß der Angeredete der höchsten Aristokratie -angehörte. Es liegt also, wie zu erwarten war, in der Widmung eine -Mystifikation, die sich, meine ich, der Herausgeber nicht ohne -Zustimmung des Betroffenen erlauben durfte. Ist das aber so, dann wäre -es nicht unbedingt nötig, daß die Buchstaben Mr. W. H. etwas mit den -Anfangsbuchstaben seines Namens zu tun haben. Die Southamptonisten -sagen: es ist eine Umstellung von Henry Wriothesley, oder auch: es ist -Wriothesley Hampton, oder auch: es ist bloß irgendein unbekannter, -gleichgültiger Beschaffer des Manuskripts; die Herbertisten haben es -leichter: William Herbert.</p> - -<p>Ich kann aber noch einen Schritt weiter gehn und sage: trotz aller -Einschränkung der Verläßlichkeit der beiden<span class="pagenum"><a name="Seite_323" id="Seite_323">[S. 323]</a></span> Buchstaben W. H. durch -das unzutreffende Mr. haben wir doch wieder Grund, sie beide für eine -Namensbezeichnung zu halten, weil das W sicher zutrifft. Gar kein -Zweifel darf für jeden, der die Sprache der Sonette kennt, bestehen, -daß der Vorname des Freundes uns mitgeteilt ist: er heißt William. In -drei Sonetten findet sich das anmutige Spiel mit „Will“ als dem Willen -der launisch tyrannischen Geliebten und dem Namen William für die -Liebenden alle beide: durch dieses dreifache Will wird das seltsame -Verhältnis der drei Menschen zu einander ausgedrückt.</p> - -<p>Das also wissen wir: der Freund war ein Jüngling aus hohem Adel und hat -wie Shakespeare William geheißen.</p> - -<p>Auf Hypothesen baue ich nichts; um Tatsachen komme ich nicht herum. -Solange man nicht auf Grund irgendeiner Tatsache wahrscheinlich macht, -daß der Graf Southampton außer seinem Taufnamen den Rufnamen William -gehabt hätte, kommt er mir für die Sonette nicht mehr in Betracht. Was -sonst für ihn angeführt wird, ist nicht durchgreifend: Shakespeare hat -ihm 1593 devot und im üblichen unausstehlichen Dedikationston Venus -und Adonis gewidmet; er hat ihm im Jahr darauf schon in herzlicher -Vertraulichkeit, wiewohl immer noch in gezierter Modesprache die -Lucretia gewidmet. Das könnte aber nur etwas beweisen, wenn man zeigte, -daß Shakespeare mit keinem andern jungen Adligen vertraut sein konnte, -wozu keinerlei Möglichkeit ist. Statt dessen aber weiß man, daß es -geradezu Mode war, dem Grafen Southampton in Herzlichkeit und Verehrung -Werke zu widmen; wir kennen eine große Zahl solcher Widmungen; -Chapman, der Homerübersetzer, nennt ihn nicht etwa den Gönner des -Einzigen, sondern den „Auserwählten <em class="gesperrt">aller</em> edlen Geister unsres -Vaterlands“, und Nash begrüßt ihn in einer Widmung als einen „teuren -Freund und Begünstiger sowohl der Dichter-Freunde als der Dichter -selbst“. Da kann man sich von seinem vielseitigen Mäcenatentum ein Bild -machen; und ich habe nichts<span class="pagenum"><a name="Seite_324" id="Seite_324">[S. 324]</a></span> dagegen, daß man ihn sich als Begünstiger -des Freundschaftsbundes zwischen William Shakespeare und dem andern -William vorstellt.</p> - -<p>Für William Herbert Earl von Pembroke steht die Sache viel besser; er -hat den großen Vorzug, daß er William, daß er W. H. heißt. Die Widmung -der beiden Gedichtbände an Southampton wird dadurch wettgemacht, daß -Shakespeares Freunde Heminge und Condell die Gesamtausgabe eben diesem -William Herbert und seinem Bruder Philipp gewidmet haben und diesem -„adligsten und unvergleichlichsten Bruderpaar“ nachrühmten, sie hätten -den Stücken Shakespeares und ihm selbst bei seinen Lebzeiten viel Gunst -erwiesen.</p> - -<p>Wäre William Herbert der Freund der Sonette, so könnten die frühesten -dieser Sonette, die zu dem Zyklus vereinigt sind, nicht wohl vor 1598 -geschrieben sein; da kam der junge Adelsmann als Achtzehnjähriger -nach London. Das nehme ich nicht gern an; aber es könnte sein. Meres -könnte, als er 1598 von Sonetten Shakespeares sprach, die unter seinen -privaten Freunden kursierten, gerade einige der ersten kennen gelernt -haben, ganz abgesehen davon, daß, was er kannte und rühmte, auch solche -Sonette gewesen sein können, die gar nicht auf uns gekommen sind. -Und es spricht nicht gegen die Herberttheorie, daß 1599 der Verleger -Jaggard zwei von den Sonetten, die unserem Dichtwerk angehören, in den -Verliebten Pilger aufnehmen konnte.</p> - -<p>Aber was in aller Welt zwingt oder berechtigt uns denn, aus der -Möglichkeit eine Notwendigkeit zu machen? Wäre das Geheimnis so -durchsichtig gewesen, daß wir, die wir eigentlich gar nichts wissen, -die sichere Lösung finden, warum haben dann weder Shakespeares -Zeitgenossen noch die ersten Forscher, die Nachrichten aus seinem Leben -zusammentrugen, etwas davon berichtet? Ja, wenn die Sache so auf der -Hand liegt, so aus den Sonetten selbst herauszulesen ist, wie jede<span class="pagenum"><a name="Seite_325" id="Seite_325">[S. 325]</a></span> -der beiden Parteien behauptet, warum zierte dann der wackere Thorpe -sein Buch nicht einfach mit dem Namen des Freundes? Denn lesen konnten -Shakespeares Zeitgenossen auch; und Anspielungen auf Zeitumstände, die -wir mit ausschließlicher Sicherheit deuten können, mußten für sie gar -ganz handgreiflich sein.</p> - -<p>Mit alledem ist es aber nichts; nichts ist bewiesen, als daß die -Sonette sich an einen Adligen richten, der William hieß. Und es schadet -gar nichts, daß wir weiter nichts wissen. Weder die Southamptonisten -noch die Herbertisten haben zu dem Verhältnis, wie es in den Gedichten -steht, aus anderweitiger Kenntnis das allergeringste dazugebracht. Wir -wissen davon auf jeden Fall, was in den Gedichten steht, und überdies -nichts.</p> - -<p>Das Gedichtwerk besteht im ganzen aus 154 Sonetten. Davon stehen die -letzten beiden, die eigentlich nur eines in zwei Fassungen sind, für -sich; ein Epigramm aus der griechischen Anthologie — von dem es -lateinische Übersetzungen gab — wird nachgebildet und fortgeführt; -und es steht da als sinnvoller, vom Persönlichen ins Allgemeine -verflößender, besänftigender Abschluß des ganzen Zyklus: das Feuer der -Liebe durchdringt alles; nicht einmal Wasser löscht es aus, das Wasser -selbst wird feurig und kocht; und dieses von Liebe durchglühte Wasser -— der heiße Sprudel — kann wohl Krankheiten des Leibes heilen, aber -kein Wasser kann die Liebe kühlen, die Liebeskrankheit heilen. Dieses -letzte Motiv, mit dem die ganze Sonettenfolge schließt, daß der von der -Liebe Geschlagene vergebens im Heilbad Heilung von der Liebeskrankheit -sucht, findet sich in der antiken Vorlage nicht.</p> - -<p>Die übrig bleibenden 152 Sonette bilden einen Zusammenhang, der sich -zunächst wieder in eine große und eine kleine Abteilung spaltet: -1–126 und 127–152. Da ich annehme, daß Shakespeare das Buch, wie es -uns vorliegt, komponiert hat, brauche ich die Teilung in 126 und -dann 26 für<span class="pagenum"><a name="Seite_326" id="Seite_326">[S. 326]</a></span> keinen Zufall zu halten; ein bißchen mit Zahlen spielen -die Dichter alle gern; das ist wie ein spielerisches Ausruhen vom -bannenden Spiel des Rhythmus; und der Dichter hat gewiß das Werk aus -einem größeren Vorrat zusammengestellt und manches weggelassen. Die -kleine, als Anhang folgende Abteilung der 26 Sonette richtet sich an -die schwarzäugige, auch sonst schwarze Geliebte — möge diese Wendung, -die ihr Recht hat, nur keiner nach Art von Wilhelm Jordan verstehen, -der diese Frau in allem Ernst mit abgeschmacktesten Deutungen und -Deutlichkeiten für eine Negerin erklärt hat! Dieser kleine Zyklus -steht in engster Verbindung mit dem vorhergehenden großen, in dem die -nämliche Frau schon ihre Rolle spielt.</p> - -<p>Die Sonette 1–126 richten sich unmittelbar an den Freund. Daß diese -Gedichte der Liebe im ganzen einem Freund und nicht einer Geliebten -gelten, ist längst solchen, die es nicht haben wollten, aus einzelnen -Stellen zwingend bewiesen worden. Das tut heute nicht mehr not; -die Wahrheit ist durchgedrungen. Aber da auch neueste Erklärer den -unwürdigen Versuch machen, wo nur die allgemeingültige Sprache der -Liebe es zuläßt, wieder einzelne Steine aus dem Bau herauszubrechen -und Shakespeare vor dem Verdacht, er habe dem Freund leidenschaftliche -Worte der Anbetung gewidmet, zu retten, ist die seltsam beschämende -Geschichte, die diese Gedichte im Urteil der Kunstrichter erlebt haben, -immer noch nicht veraltet.</p> - -<p>In die Gesamtausgabe haben Shakespeares Freunde 1623 nur die -Bühnenwerke aufgenommen, keins von den Gedichten. Die Sonette wurden -nach der ersten Ausgabe von 1609 erst im Jahre 1640, zusammen mit den -andern Gedichten, wiedergedruckt; der Herausgeber zerstörte — wie -später bei uns Bodenstedt — die wundervolle und notwendige Anordnung -und ließ eine Reihe Sonette fort. Als einheitliches Gedichtwerk -kamen sie erst wieder 1710 heraus, ein Jahrhundert nach ihrem ersten -Erscheinen;<span class="pagenum"><a name="Seite_327" id="Seite_327">[S. 327]</a></span> und der Herausgeber erklärte, sie seien alle miteinander -dem Lobe der Geliebten gewidmet. Damit war eine Losung ausgegeben, bei -der es bis 1780 blieb; da sprachen erst Malone und die andern Forscher, -die ihm beim Kommentieren halfen, die klare Wahrheit aus. Chalmers -versuchte es mit der Theorie des Mannweibs, der Königin Elisabeth -nämlich, konnte aber kein Glück mehr damit haben. Die Gelehrsamkeit -half sich jetzt anders; Drake 1817 und noch später berühmte Forscher -wie Dyce, Charles Knight und Nicolaus Delius erklärten, hinter diesen -Gedichten stünden im allgemeinen gar keine Erlebnisse; es handle sich -um eine warnende Darstellung unerlaubter Liebe, meinte der eine; um ein -bloßes Spiel der Phantasie, sagten so ungefähr die andern.</p> - -<p>Daran nun läßt sich immerhin eine ernsthafte Frage knüpfen. Ist es -denn sicher, darf gefragt werden, ob diese Gedichte alle an einen und -den nämlichen Mann gerichtet sind, und ob die Folge dieser Gedichte -etwa die zeitliche Folge eines einheitlich in sich zusammenhängenden -Erlebnisses darstellt?</p> - -<p>Wir müssen immer unterscheiden zwischen biographischen Tatsachen, auf -die wir aus dem Buche schließen wollen, und dem Dichtwerk, wie es uns -der Dichter gegeben hat, auf daß wir es ganz für sich nehmen sollen. -Was die Tatsachen aus Shakespeares Leben angeht, so wissen wir davon -außerhalb des Buches gar nichts. Es ist aber kein Zweifel, daß die -Ordnung der Gedichte künstlich und künstlerisch ist. Viele, je zwei -und mehrere, haken in einander ein, so daß ein Gedicht aus Gedichten -entsteht; die einzelnen Sonette sind nur wie Strophen; niemand kann -entscheiden, ob jedesmal die Gedichte von vornherein so im Zusammenhang -entstanden, ob manchmal dieses Ineinandergreifen erst vom Ordner -hergestellt wurde. Auch wie sich das Herausströmen des Gefühls aus den -Notwendigkeiten der Unwillkürlichkeit und das gebietende, komponierende -Schaffen zu einander verhalten, kann man nicht sagen.<span class="pagenum"><a name="Seite_328" id="Seite_328">[S. 328]</a></span> Keinem aber, -der aus eigenem Erleben heraus für die Dichtung empfänglich ist, -kann in Zweifel stehen, daß diese Sonette Gelegenheitsgedichte im -Sinne Goethes, daß sie erlebt sind und daß auch ihr Zusammenhang dem -Zusammenhang eines Erlebnisses entspricht. Der so dieses Dichtwerk -empfängt, wird nicht zweifeln, daß die meisten, die zyklischen -dieser Gedichte im Leben des Dichters an eine und die nämliche -Person gerichtet wurden, so wie es gewiß ist, daß nach dem Plan des -zusammenhängenden Dichtwerks der Dichter William von Anfang bis zu -Ende zu einem einzigen jüngeren Freund, dem Adelsjüngling William -spricht. Alles Wesentliche, das gewiß ist, aus dem Wirklichkeitsleben -eines so auserwählten Mannes wie Shakespeare muß uns bedeutend sein; -und der Empfindungen, die hier Gestalt geworden sind, können wir gewiß -sein. Diese Empfindungen aber leben uns in dem Kunstgebilde, und an -diesem haben wir für unser Mitfühlen den einzig sicheren Halt. Die -Wege der Dichterseele sind dunkel; selbst bei Goethe, von dem wir -so viel wissen, können wir nicht sagen, ob das oder jenes Gedicht -Christiane oder Marianne oder sonst einem Weibe galt, oder ein andres -Bettine oder Minna Herzlieb oder beiden zugleich; daß diese Gedichte -aber der Liebe gelten und welche Stelle sie in den gedichteten -Zusammenhängen einnehmen, in die sie der Dichter gestellt hat, wissen -wir. Und so ist in allem Wesentlichen klar, wie der Roman in Sonetten, -den Shakespeare uns gab, für sich zu deuten ist; und dahin, zur -geschaffenen Kunstgestalt, zum Bild der Empfindungen sollen wir immer -wieder von unsern Abweichungen ins Originäre, ins Nebelland der wirren -Entstehung der Empfindungen zurückkehren. Wahres Leben ist gestaltetes, -gemeistertes Leben; wahres Leben Shakespeares finden wir in seinen -Werken.</p> - -<p>Ich will nun, ehe ich von dem Dichtwerk und seinem Gehalt rede, etwas -von der Sprache und Form und dann von den Übersetzungen sagen.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_329" id="Seite_329">[S. 329]</a></span></p> - -<p>Sonette wurden um diese Zeit in England vielfach gedichtet; auch die -besondere Form des Shakespearesonetts haben vor ihm und neben ihm -andere angewandt. Dieses Shakespearesonett besteht aus 14 Zeilen wie -das echte; das echte aber besteht aus zwei Abteilungen, deren erste 2 × -4, deren zweite 2 × 3 Verse hat, und das Band der Reime in ihm ist so, -daß in der ersten Abteilung zwei Reime, in der zweiten drei durchgehen. -Das Shakespearesonett hat dagegen 3 Strophen zu 4 Versen, denen dann -rasch 2 Verse als Abschluß folgen: 3 Quatrains und 1 Couplet. Jedes -Quatrain hat seine zwei besondern, in einander verschränkten Reime, -so daß die Strophen nicht formal in einander geschlungen sind; das -Couplet hat seinen Schlagreim für sich. Im Rhythmischen aber und in -der formalen Behandlung des Inhalts ist der Charakter des Sonetts, -die Geschlossenheit eines Gefüges, dessen Teile gleichermaßen -selbständig und an einander gebunden sind, streng gewahrt; nur daß -das abschließende Couplet zu dieser Strenge und Unnahbarkeit, zu -dieser geschmiedeten Klammer um die Gefühle, daß sie nicht zuchtlos -zerfließen, noch ein anderes Mittel gegen Gärung und unreine -Verworrenheit fügt: Witz, Geist, Leichtigkeit, Spiel, immerwährende -Rückkehr zum Grundthema: Huldigung für den Freund.</p> - -<p>Formvollendet sind auch viele andre Sonette, die wir von Shakespeares -Zeitgenossen haben; aber sie besagen meist wenig, weil sie selten -aus einer Persönlichkeit gekommen sind, weil keine Not vorlag, -Überfließendes zu bändigen; so sind sie inhaltlich meist allegorisch, -mythologisch, schwülstig oder sonstwie rhetorisch oder gekünstelt. -Bei Shakespeares Sonetten steht die Sprache in den vollendetsten, -deren es viele sind, in geradem Gegensatz zu der Geschwollenheit -und pathetisch barocken Gleichnisverstiegenheit, die in seiner Zeit -Mode war und auf die er sich selbst in einigen Dramen und in den -episch-lyrischen Gedichten so bis zum Grotesken grandios verstanden -hatte. In den Sonetten<span class="pagenum"><a name="Seite_330" id="Seite_330">[S. 330]</a></span> aber haben wir, wie es diesen Gebilden -entspricht, eine Annäherung der Sprache in Ausdruck und Syntax an -die Prosa, welche dann durch die Geschlossenheit der Form, das hohe -rhythmische Gleichmaß, die Parallele der Reimpaare zu einer Poesie -erhoben wird, in der das Sprachgebilde nie Rhetorik oder Tirade, immer -aber, zugleich in einem, Plastik und Musik wird. Und Shakespeare, -der von jenem schäumenden Schwulst herkam, der von seiner Natur, der -Art jeder Jugend und einer Mode bedingt war, in der sich Pathos, -Bilderfülle, Wahl des seltenen Ausdrucks und also Gesuchtheit und -Geziertheit, Antithese und Witz seltsam mengten und selten einander -wahrhaft die Wage hielten, konnte keinen bessern Zuchtmeister brauchen -als das Sonett, und das entzückende Spiel Verlorne Liebesmüh ist das -Denkmal, das er dieser Reinigung seines Stils und seines Gefühlslebens -gesetzt hat. Wie er dann zu seiner Reife kam und leidenschaftlichen -Schmerz, unauslöschlichen Gram und wilde Weltwut mit der Strenge des -Sonetts meisterte, nicht, indem er zum Zierlichen und zum Spiel ausbog, -sondern, indem er sein Stärkstes und seine ganze Vehemenz in diese -Form goß, da ist dieser Anblick: Shakespeare im Sonett! mir unsäglich -wunderbar und ergreifend, ein Sinnbild für das, was in seinen eigenen -Worten „Reif sein ist alles“, in Goethes Worten „In der Beschränkung -zeigt sich erst der Meister“ heißt; ein Bild noch höherer, weil -unheimlicherer Art als Goethe, wie er das Erlebnis seines Werther in -die marmorglühende Form des Tasso bannt, nur vergleichbar mit Spinoza, -wie er das, was seine Ethik in Ursprung und Springkraft ist, in die -geometrische Form preßt.</p> - -<p>Die Vollkommenheit und Unnachahmlichkeit dieser leuchtenden klingenden -Gebilde ist zurückzuführen einmal auf die englische Sprache und dann -auf Shakespeare. Es verhält sich mit diesen Sonetten entsprechend wie -mit Dantes Göttlicher Komödie: da die englische Sprache mit weniger<span class="pagenum"><a name="Seite_331" id="Seite_331">[S. 331]</a></span> -Silben dasselbe sagen kann wie die deutsche, da überdies ihr Reichtum -an Reimen, vor allem einsilbigen, männlichen Reimen viel größer ist -als im Deutschen, wäre eine vollkommene Nachbildung im selben Versmaß -nur dann erreichbar, wenn Shakespeare die Möglichkeiten seiner Sprache -nicht vollkommen ausgenutzt hätte. Das hat er aber ganz wunderbar -getan: mit einer zauberischen, oft wie fliegenden, spielerischen -Leichtigkeit, oder mit einem sicher, fest, selbstverständlich -fortschreitenden Ton, wo die Schlagkraft und der Verbindungsring der -Reime wie eine logische, sachliche Notwendigkeit eintritt, hat er diese -Gedichte gebaut. Es ergibt sich daraus, daß bei den allermeisten dieser -Gestaltungen der deutsche Dichter, wenn er sie übersetzt, irgend etwas -fallen lassen oder schwer, dunkel, gedrängt sein muß, wo Shakespeare -sich mit Leichtigkeit und Klarheit und Freiheit bewegt. Bei der -Verssprache der Dramen, in denen Shakespeare die Möglichkeiten seiner -Sprache so bis zum letzten ausmünzt, ist eine Aushilfe möglich, deren -sich die besten Übersetzer in rühmlichem, rührendem, aber der Sache -schädlichem Eigensinn noch zu wenig bedient haben: für den Bau einer -Szene ist es in Wahrheit nebensächlich, ob sie 200 oder 210 Blankverse -hat, und ebenso ändert es am Gehalt und der Komposition einer Replik -oft nichts irgend Wesentliches, wenn sie statt 5 Versen 5½ hat. Bei -diesen Gedichten aber steht die Zahl der Verse, das Metrum und damit -die Zahl der Silben fest; auch ist es keineswegs gleichgültig, wenn -an die Stelle eines männlichen ein weiblicher Reim tritt und damit -Charakter, Stimmung und Zeitdauer des Ausdrucks geändert wird. Der -Übersetzer wird es bald da, bald dort, im Inhaltlichen, im Formalen -— was beides doch wie in der Musik hier gar nicht zu trennen ist — -anders und schlechter machen müssen als Shakespeare; und seine Kunst -wird sich darin zeigen, zu welcher der verschiedenen Möglichkeiten -er sich jedesmal entschließt, wie er jeweils aus der Not eine Tugend -macht.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_332" id="Seite_332">[S. 332]</a></span></p> - -<p>Die meisten Deutschen aber werden trotzdem auf Übertragungen angewiesen -sein; auch wer sonst sehr gut englisch kann, braucht sie. Ein großer -Teil der Ausdrücke und Wendungen gehören in dem Sinn oder den Nuancen, -in denen die Sonette sie gebrauchen, der heute lebendigen englischen -Sprache nicht mehr an, so daß die Verschmelzung zwischen Gedicht und -Empfangendem, die wir mit den gleichermaßen elenden Worten Genuß oder -Verständnis der Dichtung bezeichnen, nicht unmittelbar möglich ist, -sondern erst einer ernsten Vorarbeit bedarf, welche nicht immer gelingt.</p> - -<p>Deutsche Übersetzungen gibt es in großer Zahl; ich kenne die von Regis, -Wilhelm Jordan, Bodenstedt, Gildemeister, Eduard Sänger, Stefan George -und Ludwig Fulda.</p> - -<p>Wilhelm Jordan beherrschte die Sprache mit ungewöhnlicher Leichtigkeit -und war darum zum Übersetzen berufen; wo es auf Respekt vor -dem Original nicht gar zu sehr ankam, wie zum Beispiel bei den -lyrisch-epischen Gedichten Shakespeares, hat er die englischen Strophen -durch treffliche deutsche ersetzt, wenn er auch fast durchweg an die -Stelle der pathetisch starken oder lyrisch weichen Bildersprache und -metaphorischen Ausschweifung, die im Begriff und an der Grenze ist, -in den Witz umzuschlagen, den schon fertigen und platt geschlagenen -Witz gesetzt hat. Für die Sonette aber hat es ihm an Ehrerbietung -gefehlt und an der Fähigkeit, sich in einen Mann, der zugleich -leidenschaftliche Natur und gehaltene Fassung war, zu versetzen. Er -ist zu leichtsinnig und keck ans Werk gegangen, was schon aus seiner -kuriosen Entschuldigung, er habe doch schließlich durchschnittlich -nur vier Sonette auf den Tag zustande gebracht, und aus seinem Rezept -hervorgeht, wie diese Sonette deutsch ebenso gut oder gar besser zu -verfertigen seien wie die Originale: Shakespeare habe für die zehn -oder elf Silben seines Verses bei der Knappheit der englischen Sprache -nicht genug zu sagen gehabt, und so müsse man<span class="pagenum"><a name="Seite_333" id="Seite_333">[S. 333]</a></span> nur die Watte aus den -Gebilden herausnehmen und habe dann auch deutsch Sprachstoff genug für -die Nachbildung! So ist er auch hier zu witzig, zu unlyrisch geworden; -und schließlich ist nur eine oft sehr geschickte Mimikry von Poesie -entstanden, hinter der sich Abgeschmacktheit und Fadheit verbirgt. -Shakespeares Hoheit, Haltung, Tragik und süße Lieblichkeit ist nicht -mehr da.</p> - -<p>Bodenstedt und Gildemeister haben ebenfalls ansprechende deutsche -Gedichte gemacht; aber an die Stelle des Wesentlichen, des Ernstes, des -formalen Schauers Shakespeares, des heroischen und graziösen Tons des -Renaissancedichters haben sie modern oberflächliche Gesprächigkeit oder -Empfindsamkeit gesetzt.</p> - -<p>Fulda gar verbindet eine ganz ungewöhnliche Gelenkigkeit der Sprache -mit einer betrüblich gewöhnlichen Unvornehmheit des Tons und der -Gesinnung. Er spricht Berlin <i>W</i>; auch an Schlegel und Tieck wird -man manchmal erinnert; nur leider nicht an die edeln Übertragungswerke, -die von ihnen herrühren, sondern an die ordinären Quartiere, die -schändlicherweise in Berlin <i>N</i> nach ihnen benannt sind.</p> - -<p>Gottlob Regis hat seine Übersetzung des Sonettenwerks 1836 in seinem -Shakespeare-Almanach veröffentlicht. Er hat Sinn für den echten -Ton Shakespeares und für seine feste, tragisch-heldenhafte Haltung -und steht in dieser wie jeder Hinsicht weit über den Nachfolgern, -die ich bisher behandelt habe. Es gelingt ihm, einem der größten -Übersetzungsmeister, die wir Deutsche haben, im Inhalt sehr getreu zu -sein, und oft ist er wundervoll sprachschöpferisch. Nur kann leider -die genialste Kraft, in bewußter Suche schöpferisch die Sprache zu -meistern, noch keinen Dichter machen; und so vollendet er Rabelais’ -und Swifts Prosa nachbildete, so fehlt ihm doch für diese Sonette -das Lyrische, der Rhythmus, die Musik. Die Härte des Mannes, der sie -weicher Zerflossenheit abgerungen hat, ist etwas ganz anderes, als -die Sprödigkeit des Gelehrten, der sich<span class="pagenum"><a name="Seite_334" id="Seite_334">[S. 334]</a></span> angelegentlich bemüht, seine -Sprache weicher und geschmeidiger zu machen. Aber es sollte ein Dichter -über diese sehr respektable Übersetzung kommen und sie neu bearbeitet -herausgeben. Wir können der Übersetzungen dieser Geschmeide nicht genug -haben.</p> - -<p>Dem Willen und auch der Dichterkraft nach bei weitem am höchsten steht -Stefan George; er hat den Geist und die Musik, hat das Formprinzip -dieser Kunstwerke nicht nur erfaßt, sondern in sich; überdies ringt -er ergreifend und fast tragisch um Treue, selbst wo es sich um das in -diesem Fall Schwerste, um das Vorwiegen des männlichen Reims handelt; -aber nur selten ist ihm ein ganzes Sonett geglückt; um der treuen -Nachbildung der Form willen vergewaltigt er die Möglichkeiten der -deutschen Sprache oft unerträglich; so wird aus der Not die spezifisch -Georgesche Tugend, mit der der adlig-volksmäßige Shakespeare nichts -gemein hat: das Hieratische, Esoterische, das an die Stelle des Volks -und der natürlichen Vornehmheit, die unsrer Zeit alle beide fehlen, den -Klüngel setzt; und zum Verständnis und Genuß seiner Übersetzung — ich -übertreibe nicht — braucht man immer wieder das Original.</p> - -<p>Nach der Zahl der gelungenen oder wenigstens erträglichen Sonette -ist Sänger der beste: aber wie viele Spitzen bricht er ab; wie viel -ebnet er; wie viel Erklärungen, Auffassungen, Deutungen bringt er in -den Text hinein; aus Unbestimmtheiten macht er Bestimmtheiten und aus -Bestimmtheiten Unbestimmtheiten; er trivialisiert das Gehobene und, -was schlimmer ist, er bringt eine gewisse bürgerliche Feierlichkeit -und Selbstbewunderung in Äußerungen hinein, die der Dichter wie eine -unverrückbare Wirklichkeit sich allerschlichtest und natürlich hat -aussprechen lassen.</p> - -<p>In den Zitaten, die ich im folgenden mitzuteilen habe, habe ich alle -Übersetzungen, die mir etwas boten, benutzt, kombiniert und nach -Bedarf und eigenem Vermögen verändert und zur Einheit gebracht. Ich -glaube, daß<span class="pagenum"><a name="Seite_335" id="Seite_335">[S. 335]</a></span> dadurch für diese einzelnen Stücke und Bruchstücke etwas -Rechtes herausgekommen ist, und ersuche berufene Leser um Prüfung; -dies um einer wichtigen Sache willen, denn es ist in all solchen -Fällen, wo kombinierte Kraft und gleichzeitige oder zeitlich getrennte -Gesellschaftsarbeit etwas Rechtes zustande bringen, ein scharfer und -unnachgiebiger Kampf gegen die verruchte Monopolform, die das geistige -Eigentum in unsrer Zeit angenommen hat, zu führen.</p> - -<p>Zu wünschen wäre, unter Beiseitesetzung aller Vornehmtuerei, für -deutsche Leser, die des Englischen mächtig sind, eine Ausgabe -des Originals mit deutscher Prosa-Übersetzung und sachlichen und -sprachlichen Erklärungen. Denn man kann sich dieser Sonette nur in -derselben Art bemächtigen, wie der Göttlichen Komödie und des Don -Quijote, und für die, die keine Erklärungen mehr brauchen, gibt es -Ausgaben würdiger Ausstattung, in denen niemand dem Dichter dreinredet, -genug.</p> - -<p>Was drücken nun diese Sonette insgesamt aus, wenn ich den Versuch -mache, ihren Gehalt, wie sie ihn von Inhalt, Stimmung und Form -bekommen, fast wie in einem einzigen Satz auszudrücken? Und was -bedeuten sie im Gesamtwerk des Dichters?</p> - -<p>Von diesem letzten zuerst zu reden und mit dem Äußerlichsten zu -beginnen: diese Sonette beziehen sich nur fortlaufend auf einander, -auf nichts anderes; der Dichter, der da von sich spricht, ist nur der -Dichter dieser Sonette, man dürfte sagen: ihr gedichteter Dichter. -Wären sie uns erhalten, aber nicht unter Shakespeares Namen, so wäre -ihr Verfasser für uns, so wie der Dichter des herrlichen Dramas Eduard -III., der doch wohl nicht Shakespeare ist und von dem wir -dann gar nichts wissen, ein unsterblicher Dichter der Weltliteratur; -in einem Teil der Sonette würden wir wohl an Spiele wie Die beiden -Veroneser erinnert; in einem andern käme uns eine Gesinnung zum -Ausdruck, die uns überaus stark an die Stimmung von Troilus und -Cressida,<span class="pagenum"><a name="Seite_336" id="Seite_336">[S. 336]</a></span> Hamlet, Timon und Verwandtem erinnerte, aber wenn ich -diesen Dichter, wie ich für möglich halte und hoffe, mit Shakespeare -identifizierte, ist kein Zweifel, daß ich hinzufügen würde: bewiesen -ist es nicht. Er erwähnt seine Dramen nie; auch in keiner allgemeinen -und unbestimmten Wendung weist er irgend auf sie hin; Anspielungen sehr -dunkler Art sind wir geneigt, auf seinen Schauspielerberuf zu beziehen; -ob wir darin recht haben, steht dahin; sicher ist, daß wir keine -Möglichkeit dazu hätten, wenn wir ihn nicht als Verfasser kennten.</p> - -<p>Der Ton dieser Sonette ist: es äußert sich eine überschwängliche, -innige, hingenommene, knieend verehrende Empfindung ganz unrhetorisch, -sachlich, so wie das Wirkliche sich äußert. Es wird nicht begeistert -über die Sache geredet; sondern die Sache selbst spricht sich aus, und -diese Sache ist Innerlichkeit, ist Seelenabgrund und Geisteshöhe.</p> - -<p>Es gibt für den Dichter dieser Sonette nur die Welt, nur die Erde, nur -Menschliches. Mythologie tritt selbst als Schmuck der Rede nur ganz -selten hervor; viel seltener als in fast jedem der Bühnenwerke; und von -Befangenheit in Vorstellungen der Religion, des Dämonenglaubens oder -irgendeines Aberglaubens ist nichts zu finden.</p> - -<p>Keinerlei Interesse an den Dingen der Macht, an Politik oder nationalen -Gegensätzen oder Kriegen oder Zeitfragen irgendeiner Art tritt in -dieser direkten Aussprache des großen Dramatikers zutage. Einige Male -im Gegenteil die Abneigung gegen Politik und Herrentum:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Stünd’ es mir an, den Baldachin zu tragen,</div> - <div class="verse">Dem äußern Schein die äußre Ehr’ zu geben?</div> - <div class="verse">An Türmen bau’n, die in die Zukunft ragen</div> - <div class="verse">Und Umsturz und Verfall nicht überleben?</div> - <div class="verse">... Nein, laß mich nur in deinem Herzen fronen,</div> - <div class="verse">Und nimm du meine Gabe, arm, doch frei,</div> - <div class="verse">Sie kennt kein Arg, du brauchst sie nicht zu lohnen,</div> - <div class="verse">Nur daß die Liebe unser Austausch sei.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_337" id="Seite_337">[S. 337]</a></span></p> - -<p>Der Dichter tritt auf als Hingegebener, als Gefangener, als Anbeter der -Schönheit. Nicht der Schönheit in abstrakter Gestalt oder allegorischer -Einkleidung; er — der Dichter dieser Gesamtdichtung, wie sie uns -komponiert vorliegt — ist Einem Menschen, einem Manne, der jünger -ist als er, rettungslos verfallen: dieser Jüngling repräsentiert ihm -nach Gestalt, Ausdruck, Grazie, Würde den schönen, den adligen, den -seelenvollen, den herrlichen Menschen. Er repräsentiert ihm, was er -anbetet; das heißt, und er drückt es nicht anders aus: diesen Menschen, -diesen Mann liebt er. Wir dürfen nicht weniger, wir dürfen nicht mehr -sagen. Hinzuzufügen haben wir, daß der Sprachgebrauch, das heißt, das -Denken und Empfinden der Zeit, für innige Freundschaft, die die Seelen -erfüllt und nicht von einander läßt, die Worte lieben und Liebender -nicht vermeiden kann und will. Wir haben dafür Beispiele bei andern so -gut wie bei Shakespeare. Wir wissen, wie Hermione sich von ihrem Mann -das Recht nicht nehmen läßt und ihm frei und unschuldig heraussagt, -daß sie seinen Jugendfreund, der auch ihr Freund geworden ist, liebe; -der alte Menenius gebraucht von Coriolan den Ausdruck <em>my lover</em>, -mein Liebster, um damit seine eigne Freundschaft zu ihm zu bezeichnen; -wenn Porzia von Antonio sagt, er sei der <em>bosom lover</em> ihres Herrn -und Gemahls, so findet sie das so recht und in Ordnung, wie wenn wir -vom Busenfreund sprechen. Und weiter haben wir zu sagen, daß in der -Handlung, in der Geschichte dieser Liebe ein Fortschritt ist: immer -mehr tritt die Anbetung der äußern Form, der Schönheit der Gestalt in -unlösliche Verbindung mit der Liebe zum Innern, zur Seele, zum Gut- und -Adligsein; immer mehr wird dann aus dieser Verbindung der Gegensatz: -Leib und Seele; und der Leib ist Tod und Vergehen; die Seele ist -Unvergänglichkeit; Leib und Tod finden den Ausdruck ihrer Lebensgier -und ihres Vernichtungsdranges im Geschlecht; die Seele macht sich frei -in der Freundschaftsliebe zur Verehrung des Ewigen.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_338" id="Seite_338">[S. 338]</a></span></p> - -<p>Ein neues Moment ist also hinzugetreten, ein dramatisches: der Kampf, -den der Dichter in sich, gegen sich mit der Geschlechtsliebe einer -gewissen Art, mit der Wollust zu führen hat.</p> - -<p>Diesen Kampf zwischen Venus und Eros hatte Shakespeare schon einmal -darzustellen unternommen: in seinem Gedicht Venus und Adonis, das -er 1593 herausgab und das ihn sofort zum berühmten Dichter machte. -Es ist fast unbestrittene Gewohnheit geworden, mit der größten -Verachtung über dieses Gedicht und die bald folgende Lucretia, die -zur nämlichen Gattung gehört, rasch wegzugehn, mit einer Verachtung, -die dem Stil wie der sogenannten Unsittlichkeit gilt. Der Stil -ist, daß nicht Menschen und Situationen aus der Wirklichkeit -geschildert werden, sondern allgemeine Kategorien von Trieb- oder -Geisteskomplexen, leidenschafterfüllte Allegorien, und Situationen -nicht real-individueller, sondern gattungsmäßig allgemeiner Art. -So wird die Klage der Lucretia über ihre Schändung benutzt zur -Darstellung der Nacht in sechs, der Gelegenheit in sieben, der Zeit -in elf Strophen, immer aber aus der Glut und Wut der menschlichen -Situation heraus, immer in Metaphern, die sich steigern, überhitzen, -überspitzen und dem Witz so bewußt und gewollt nah getrieben werden -wie bei Ariost. Ich finde, daß wir uns in diesen Stil hineinfinden -können, daß auch in diesem Barockstil sehr viel Starkes und Liebliches -zu finden ist, und daß Shakespeare die Form ganz vollendet gemeistert -hat. Es fällt mir nicht im entferntesten ein zu leugnen, daß gräßliche -Verstiegenheiten, Abgeschmacktheiten, Gesuchtheiten da sind; darüber -sind aber wundervolle Schönheiten und Bilder von prachtvoller Kraft und -Sicherheit wie zarter Feinheit nicht zu übersehen. Ganz und gar leugne -ich aber die Unsittlichkeit. Mit der Kühnheit und Freiheit, die alle -Kunst der Zeit zum Ausdruck des Äußersten trieb und die in Shakespeare -zu einem Gipfel emporstieg, werden<span class="pagenum"><a name="Seite_339" id="Seite_339">[S. 339]</a></span> die äußere Gestalt und die innere -Verfassung der als Menschen personifizierten ungeheuren Trieb- und -Seelengewalten und die leidenschaftlichen Situationen, in die sie mit -einander geraten, geschildert; wenn man aber diesen jugendlichen Werken -Shakespeares etwas auf diesem Gebiet vorwerfen könnte, dann wäre es die -zu direkt sich aussprechende Moral.</p> - -<p>Die Art aber, wie — in beiden Gedichten — die Wollust sich ausspricht -und die Seele ihre Klage über sie anstimmt, ist der Sonettendichtung -schon nah verwandt.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Gen Himmel ist die Liebe längst entwichen,</div> - <div class="verse">Seit stinkend Lust in ihrem Namen steckt;</div> - <div class="verse">Die kommt zur Schönheit, so vermummt, geschlichen,</div> - <div class="verse">Und was sie nicht verzehrt, das ist befleckt.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Oder:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Die Lieb’ ist wahr und mäßig; Wollust praßt</div> - <div class="verse">Und wird erstickt von ihrer Lügen Last.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und wie großer Art ist die Schlußrede der Venus, ihre Klage um Adonis, -der der Welt verloren ging, und ihr Fluch auf die Liebe:</p> - -<p>Weil Eros nicht mehr da ist, soll sich nun, muß sich nun Leid und -Eifersucht, Qual und Gift und Treulosigkeit mit der Liebe verbinden; -Krieg und Feindschaft zwischen Nächstverwandten wird sie hervorrufen, -in allem Bösen sich einnisten, alles Gute untergraben.</p> - -<p>Oder wie groß, wie stark, wie eindringlich ist die Darstellung von -Tarquins Ernüchterung, nachdem die Wollust ihn zur Notzucht getrieben -hat; wie findet das menschlich Wahre im Allegorischen leidenschaftlich -innigen Ausdruck, wenn das Gierverlangen nun wie ein bankrotter Bettler -matt und elend geworden ist, und seine Seele nun klagend zu ihm spricht:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft3">Lebend’ger Tod und ew’ges Leid</div> - <div class="verse">Sind nun mein Los; empörte Knechte haben</div> - <div class="verse">Mein Heiligtum zertrümmert und entweiht;</div> - <div class="verse">Die Sünden meiner Sterblichkeit begraben</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_340" id="Seite_340">[S. 340]</a></span> - <div class="verse">Im Schutt der Schande die Unsterblichkeit;</div> - <div class="verse">Das alles hab’ ich klar vorher gewußt</div> - <div class="verse">Und wurde doch das Opfer dieser Lust!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Der Shakespeare dieser Gedichte darf sich getrost in der Gesellschaft -sehen lassen, in die er mit ihnen gehört und in der er Genosse der -Schar ist, die von Ariost, Edmund Spenser, Victor Hugo und Swinburne -angeführt wird, nicht ihr Erster, aber auch keineswegs ihr Letzter. -Neben dem großen Spenser steht der beginnende Shakespeare nicht anders -da, als etwa Goethe mit seinen ausgezeichneten, wiewohl noch nicht -goethischen Mitschuldigen neben Molière.</p> - -<p>Wie er aber mit seinen dramatischen Werken trotz den Großen, die -neben ihm standen und nach ihm kamen, der Einzige ist, als den ihn -Goethe gepriesen hat, so mit seinem Sonettenwerk, in dem er das Thema -der allegorischen Gedichte in einer so völlig andern, so einzig -vollendeten, so in schlichter Menschlichkeit ungeheuren Gestalt aufnahm.</p> - -<p>Hier verbinden sich nun die beiden Teile innerer Handlung, die der -Dichter schon in jenen epischen Gedichten einander gegenübergestellt -hatte, die Wollust und die geistige Liebe, zu einer seltsam -geschlossenen einheitlichen äußern Handlung: er, der Dichter, der -den Freund liebt, hat, so heftig er widerstrebt, so sehr er ringt, -loszukommen von dieser unwürdigen, verzehrenden Begehrlichkeit, eine -Geliebte, offenbar, deutlich genug ist’s gesagt, eine verheiratete -Frau; und nun schließt sich der Ring: Geschlechtsliebe entsteht auch -zwischen dem Freund, dem andern William, und dieser dunklen Schönheit, -die dem Dichter gehört.</p> - -<p>Da ist nun vor allen Dingen zu sagen, daß ähnliche Motive in der -Literatur der Zeit auch sonst behandelt wurden, besonders in den -berühmten Moderomanen John Lylys.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_341" id="Seite_341">[S. 341]</a></span></p> - -<p>Ich gebe hier in den kurz zusammengedrängten Worten Conrad Henses -den Inhalt des 1579 erschienenen Romans „Euphues, die Anatomie des -Witzes“: „Euphues ist ein junger Athener, der nach Neapel kommt, hier -einen Freund, Philautus, gewinnt, durch seine witzige Beredsamkeit die -Geliebte desselben, Lucilla, zur Untreue verleitet, selbst die Untreue -der Lucilla erfährt, mit dem getäuschten Freunde sich wieder versöhnt, -und zuletzt sich wieder nach Athen zurückzieht.“</p> - -<p>Außerdem ist zu beachten, daß Shakespeare selbst das Motiv in seiner -Komödie Die beiden Veroneser behandelt hat. Die Entstehungszeit -dieses Stückes kennen wir nicht; aber es wirkt sehr jugendlich, und -ich zweifle nicht, daß es vor dem Sommernachtstraum und vor Venus -und Adonis, in die Gegend der Verlornen Liebesmüh, vielleicht noch -etwas früher, etwa um 1590 also zu setzen ist. Daß Shakespeare die -Einkleidung der Handlung irgendwo gefunden hat, daß er also nicht -lediglich ein eigenes Erlebnis maskiert hat, ist gar nicht zu -bezweifeln. Es sind Anklänge an einen spanischen Roman da, und einiges -spricht sogar dafür, daß ein älteres Drama ihm Vorlage war, das wir -nicht haben.</p> - -<p>Der große Reiz, den dieses Spiel hat, ist sein schwebendes Wesen. Die -Personen sind nicht so recht feste Gestalten, weil der Dichter es noch -nicht vermag, einmalige Menschen von innen her kraftvoll zu beleben, -und weil er über dieses Ziel hinüberspringt und sich gar nicht bei ihm -aufhalten will: es soll alles in eine Sphäre der Unwirklichkeit, des -zierlichen Scheins hinüber. Und doch ist es wieder so, als wäre bei -diesem Sprung aus dem Nochnichtmenschlichen ins Nichtmehrmenschliche -gar manches Menschliche, psychologisch Feine und Tiefe an den Gestalten -hängen geblieben. Auch in dem andern als dem psychologischen Sinn -ist das Menschliche dieser Dichtung, wie es, wenn auch nicht so -stark wie in der Verlornen Liebesmüh,<span class="pagenum"><a name="Seite_342" id="Seite_342">[S. 342]</a></span> überall, nicht nur in der -prächtigen Gestalt des Dieners Lanz — der im ganzen und einzelnen -Lessings Vorbild für den Just gewesen sein könnte — hervortritt, sehr -erquickend. Der verräterische Freund, Proteus mit Namen, ist treulos -nicht nur gegen seinen Herzensfreund, dem er seine Geliebte nehmen -will, sondern auch gegen die eigne Geliebte, die er zurückläßt und die, -als Page verkleidet, in die Welt reist, um ihn zu suchen. So sind zwei -liebende Frauen in dem Stück, die alle beide nichts Wetterwendisches -oder von der Wollust Verderbtes an sich haben, sondern im Gegenteil von -einem sehr liebevoll, schwärmerisch das Weibliche verehrenden Dichter -gezeichnet sind. Der Schluß ist, auch wenn man das Stück noch so sehr -fast wie ein Marionettenspiel auffassen möchte, ganz mißraten: kindisch -unvermittelt folgt auf Valentins tiefe Klage:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft9">O Proteus,</div> - <div class="verse">Es schmerzt mich tief, ich darf dir nimmer trauen</div> - <div class="verse">Und bin der Welt entfremdet deinethalb.</div> - <div class="verse">Die Wund’ ist tief, die uns im Innern trifft. O Welt,</div> - <div class="verse">Wo sich als Freund der schlimmste Feind verstellt!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>unvermittelt folgt darauf ein Sätzchen tiefster Reue des Proteus, der -kurz vorher frevlerisch gerufen hat:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse mleft7">Wen, der liebt,</div> - <div class="verse">Kümmert noch Freundschaft?</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>nun aber, eine Minute darauf seine Liebe zu Silvia vergessen hat; die -Freunde versöhnen sich; Proteus liebt wieder Julia, und so ist auch -für die zwei Liebespaare alles in Ordnung. Erst an diesem Schluß aber -wird dieser Proteus ein grotesker Proteus; vorher sollte gerade er -psychologisch vertieft betrachtet werden.</p> - -<p>Was also dieses Spiel vom Freund, der dem Freund die Geliebte nehmen -will, angeht, so sehe ich ihm durchaus nicht an, daß damals, als es -entstand, der Dichter ähnliches erlebt habe; das Gegenteil scheint -mir eher aus der leichtherzigen Unbefangenheit, mit der das Motiv -behandelt<span class="pagenum"><a name="Seite_343" id="Seite_343">[S. 343]</a></span> ist, hervorzugehn. Dagegen könnte es leicht sein, daß -Shakespeare um diese Zeit herum das weibliche Wesen, das in dem -Sonettenwerk so unheilvoll hervortritt, schon gekannt und von ihr -ein Liebesglück empfangen hat, das vielleicht stürmisch und durch -ihre Koketterie beeinträchtigt, aber noch nicht vom Freunde gestört -oder von Shakespeare als tragisch empfunden war. Die Schilderung -Rosalinens in der Verlornen Liebesmüh, dieser geistvollen, -schlagfertigen, unberechenbaren Schönen mit den schwarzen Augen und -der dunkeln Haut, nicht nur diese ihre Leibesbeschaffenheit, sondern -die etwas empfindliche und leidenschaftlich verteidigende Art, wie -sie geschildert wird, klingt mir ganz so, als ob ein Urbild dieser -reizenden Gestalt die nämliche Frau gewesen wäre, aus der, als der -Dichter ein unsäglich höherer Mensch und unsäglich tiefer in ihre Seele -hinabgestiegen war und als er diese Geschlechtsliebe mit seinem ärgsten -Weltschmerz in Verbindung gebracht hatte, Cleopatra die Schlange vom -Nil wurde.</p> - -<p>Ich habe also auf die Frage, um derentwillen ich von Lylys Roman und -von den beiden Veronesern sprach, schon Antwort gegeben. Ja, es ist -wahr, daß das Motiv der Handlung, das in der Mitte des Sonettenwerks -steht, ein beliebtes Thema der damaligen Literatur war und daß -Shakespeare selbst es jugendlich, spielerisch, unbefangen behandelt -hat; aber nein, es ist unmöglich, daß es sich in der Sonettendichtung -auch bloß um Literatur, nicht um tiefstes Erlebnis handle. Es steckt -eine Wahrheit in der These, die Oscar Wilde so ernst wie entzückend -spielerisch behandelt hat, daß die Dichtung dem Leben mit den Motiven -vorhergehe und auf das Leben abfärbe; gar vieles in den Sitten und -Moden ist von den Dichtern geschaffen worden; und mehr, als mancher -glaubt, hängt das außerordentlichste Erleben selbst solcher Menschen, -die nicht in Reih und Glied stehen, mit Sitten und sozialen Moden<span class="pagenum"><a name="Seite_344" id="Seite_344">[S. 344]</a></span> -zusammen. So sehr ich also immer wieder selbst betone, daß das -Sonettenwerk eine Dichtung und daß auch der Mann, der darin Ich sagt, -eine Dichtergestalt ist, so gewiß ist doch, daß die Empfindungen und -Erlebnisse dieser Dichtung echt und gelebt sind. Wo es nur geht, wenn -es sich um äußere Tatsachen handelt, weise ich die Beweisführung aus -innern Gründen ab und sage, auch wenn mir etwas sehr wahrscheinlich -ist: es steht nicht fest. Empfindende Menschen, die das Recht haben, -Poesie aufzunehmen, verstehen sich aber unmittelbar und zweifellos auf -die Sprache der Lyrik, auf Echtheit oder Unechtheit der Empfindungen, -und so sage ich: so gewiß es ist, daß Günthers Leonoren gelebt haben -und Goethes Liebesgedichte keine Erfindungen sind, so gewiß hat -Shakespeare empfunden, was ihm die dunkle Geliebte, was ihm der Freund -angetan hat. Das ändert nichts daran, daß alles, noch viel mehr als -im Westöstlichen Divan, Gestalt geworden ist; der Dramatiker hat sich -auch in diesem lyrischen Werk nicht verleugnet; und dem Umstand, daß -es diesem Menschen, der Unsägliches lebte, von seiner Natur verwehrt -war, sich unmittelbar auszusprechen, daß er auch für die Gestaltung -seiner Gefühle erst in eine Rolle hinein mußte, schreibe ich es zu, -daß wir in diesem Werk mit einer fast fanatischen Ausschließlichkeit -nur den Freund und den Liebenden kennen lernen. Will Shakespeare -sich über den Staat äußern, so muß er Ulyß oder Hektor oder Coriolan -werden; will er Gesellschaftskritik üben, so wird er Falstaff oder -Hamlet oder Thersites; hier ist er der Freund, ist er der Liebende, -und alles von seinem Wesen, was mit diesen wesenhaften Empfindungen -in Verbindung steht, kommt zum Ausdruck; nichts aber, was nur Rolle -in der Gesellschaft, nur Maske und Gewand ist, es sei denn, damit es -fortgewiesen werde.</p> - -<p>An der Spitze des Dichtwerks stehen 17 zusammengehörige Sonette, die -gewiß in der Tat der frühen Zeit des Freund<span class="pagenum"><a name="Seite_345" id="Seite_345">[S. 345]</a></span>schaftsbundes angehören. -Sie gelten alle in mannigfacher Variation einem Thema, das manche, -die von pseudowissenschaftlicher Behandlung der Freundschaftsliebe -herkommen, überraschen könnte; das Thema ist: Freund, deine Schönheit -darf nicht mit dir untergehn; die Natur tötet alles Einmalige, das ihr -gelungen ist, alles Individuelle, Persönliche; sie hat nur einen Weg, -es in neuer Gestalt zu erhalten, zu vererben: Ehe und Kind.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Verschwender du! dein Vater war ein Mann:</div> - <div class="verse">Sorg’, daß dein Sohn das Gleiche sagen kann.</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nichts schirmt dich vor dem Sensenhieb der Zeit</div> - <div class="verse">Als Sprößlinge: durch sie bist du gefeit.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Es sind aber diesem siebzehnmal wiederholten Zuruf zwei Sonette -beigefügt, die etwas andres sagen, etwas, wovon der Dichter auch sonst -immer wieder in hohem Selbstbewußtsein spricht: Unsterblich bist du -Schöner, Guter, Edler in jedem Falle:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Solange Menschen atmen, Augen sehn,</div> - <div class="verse">Lebt mein Gedicht, in ihm wirst du bestehn.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Ganz nüchtern glaube ich, daß das buchstäblich wahr ist: solange -Menschen leben und lesen, werden diese Gedichte geliebt werden und -mit ihnen <em>the love</em>, der geliebte Freund ihres Dichters. Um so schöner -dünkt es mich, daß nichts weiter von ihm lebt; der Unbekannte lebt nur -in dieser Dichtung; nichts wissen wir von seiner Nachkommenschaft; -vielleicht nicht auf dem Weg der Natur, ganz gewiß durch das Mittel des -Geistes ist er unsterblich geworden.</p> - -<p>Diese Vorstellung, er der Dichter werde den bewunderten Freund zur -Unsterblichkeit erheben, tritt auch im weitern Verlauf kräftig -hervor. Vielleicht entspringt diese häufige Betonung aber vor allem -dem Bedürfnis der Selbstbehauptung und also einer Schüchternheit, -die dann in den Stolz umschlägt. Denn zu Beginn des Verhältnisses<span class="pagenum"><a name="Seite_346" id="Seite_346">[S. 346]</a></span> -äußert sich dem adligen Jüngling gegenüber eine Demut, die keineswegs -bloß den inneren Grund der Verehrung hat. Die Ungleichheit der -gesellschaftlichen Stellung tritt scharf heraus; und im Anfang scheint -der Dichter, von seiner Anbetung getrieben, eine selbstquälerische -Lust darin zu finden, diese Unterordnung eifrig zu betonen. Für seine -Hingebung, seine Rolle in dem Verhältnis, seine demütig bettelnde -Liebe wie für den äußern Rangunterschied, den er zu einem freiwillig -erwählten macht — die Schweizer Mundart sagt im Sinne von demütig: -niederträchtig, das ist ursprünglich einer, der sich aus innerem -Bedürfnis niederbeugt — ist es bezeichnend, wie er sich den Sklaven -des Freundes nennt, dem er geduldig aufwartet; der andre mag tun, was -er will, der Dichter wird nicht murren, bis der Souverän Zeit für ihn -hat. Er ist sein Vasall und wird ihm — Gott verhüte es! — seine -lustigen Stunden nicht nachrechnen:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Zum Warten bin ich da, der Höllenglut,</div> - <div class="verse">Und gönn’ dir deine Lust, ob bös ob gut.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>So scheint es auch zunächst kaum möglich zu sein, daß sie unbefangen -einander besuchen und zusammen sind, wie es unter Freunden Brauch ist; -der Dichter freut sich auf besondere Gelegenheiten, auf Feste, wo er -den Freund sehen und im selben Raum mit ihm zusammen sein kann. Das -muß später anders geworden sein, und die Stellung des Dichters zum -Freund muß sich auch in äußerer Hinsicht gehoben haben. Aus andern -Sonettenkreisen geht hervor, daß sie Zeiten hintereinander sich Tag um -Tag trafen und daß ihr Beisammensein nur durch Reisen des einen oder -des andern unterbrochen wurde.</p> - -<p>Vor dieser von äußern Verhältnissen und innerer Ergebenheit befohlenen -Demut flüchtet sich das Selbstgefühl des Dichters in Beobachtungen -über die Zeit, als die Vernichterin alles Materiellen und Natürlichen, -und die Unvergänglichkeit des Geistes. Ringt er nach Bildern und<span class="pagenum"><a name="Seite_347" id="Seite_347">[S. 347]</a></span> -Wendungen, um die Gestalt des Freundes zu formen, so kommt ihm -vielleicht ein altes Buch zu Hilfe, wo ein längst verblichener Dichter -aus der Zeit der Anfänge der Schrift diese nämliche Mannesgestalt -schon dargestellt hat. Jugend und Schönheit gehen dahin, das Wort des -Dichters bleibt:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und dennoch hält mein Lied der Zukunft stand</div> - <div class="verse">Und singt dein Lob trotz ihrer grausen Hand.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Daran befestigt sich sein Stolz immer wieder: er kann dem Freund, der -ihm so viel durch sein Dasein gibt, dieses eine durch seine Kunst -leisten, daß er ihn in die Reihe der Unsterblichen hebt. In späten -Sonetten überwiegt dieses Gefühl manchmal so stark, daß er gegenüber -dieser seiner Dichtertat die Hinfälligkeit alles Äußern betonen kann:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nicht Marmor, nicht das Gold von Fürstenmalen</div> - <div class="verse">Wird überleben mein gewaltig Lied,</div> - <div class="verse">Du wirst in diesen Zeilen heller strahlen</div> - <div class="verse">Als stumpfer Stein, den Moder überzieht.</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Der wüste Krieg wirft Säulen wohl zusammen,</div> - <div class="verse">Der Aufruhr macht des Maurers Kunst zunichte;</div> - <div class="verse">Doch nicht das Schwert des Mars, nicht Krieges Flammen</div> - <div class="verse">Vertilgen deine lebende Geschichte.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Nach dem Gedicht Der Liebenden Klage, das in der Originalausgabe den -Sonetten folgt und ihnen in allen folgen sollte — es geschieht aber -fast nie —, wollen wir uns ein Bild dieses Jünglings machen; es ist -nicht unwichtig, von Shakespeare zu erfahren, wie sein geliebter -Freund, als er ihm zuerst nahe trat, ausgesehen hat und mit welchen -Augen er ihn damals und später betrachtet hat; damit steht uns William -Shakespeare nicht nur dem Freund gegenüber, sondern auch in der -Bedingtheit seiner Zeit und seiner Natur in klaren Linien da.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_348" id="Seite_348">[S. 348]</a></span></p> - -<p>In braunen Locken hingen dem Freund demnach die Haare bis auf die -Schultern. „Wie ungeschorner Samt“ sproßten um sein Kinn die ersten -Spuren des Bartes:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Er läßt gerade noch dem Zweifel Raum,</div> - <div class="verse">Ob voller Bartwuchs oder weiße Glätte</div> - <div class="verse">Die Schönheit dieses Kinns gesteigert hätte.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Schön wie seine Gestalt war das Wesen, das in seinen Äußerungen zur -Geltung kam: sanft wie von einem Mädchen war seine Art zu sprechen -und also frei vom Herzen; aber im Männerstreit konnte dieses weiche, -warme Organ so seltsam anwachsen wie der Föhnwind zum lauen Sturm. -Saß er zu Pferd, so war es ein schöner, lieblicher Anblick: wenn das -Roß sich stolz tummelte und herumschwenkte und in langen Sätzen unter -ihm sprang, wußte man erst nicht, ob dieser Stolz und diese Anmut dem -Reiter von dem Tier oder dem Tier von seinem Reiter kam. Dann aber fand -man schon heraus:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Der Quell der Anmut ist sein innres Leben.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Wie beherrschte er die Menschen mit seiner Dialektik, wie stand ihm die -rasche, sichere Rede zu Gebote; er brachte Weinende zum Lachen, Lacher -zum Weinen, „er hatte die Mundart und feinste Unterscheidungskunst, um -alle Regungen nach seinem Willen hervorzulocken“. So war er Herrscher -über Junge und Alte, Männer und Frauen; alle Herzen flogen ihm zu, wie -von einem Zauberer gebannt, und taten ihm seinen Willen.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Gar viele schafften sich sein Bildnis an,</div> - <div class="verse">Das Auge sah’s, das Herz vergaß es nie —</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>und manches Weib bildete sich ein, er neige sich zu ihr, auch wenn er -nie ihre Hand berührte.</p> - -<p>Obwohl, was nun folgt, zur Handlung des Gedichts gehört, glaube ich -doch, glaube es nach dem, was uns spätere Sonette selbst sagen, daß es -zu William Unbekannts Bildnis dazu gehört, wie es William Shakespeare -wenigstens in Stunden des Schmerzes und Unmuts sah: falsch konnte<span class="pagenum"><a name="Seite_349" id="Seite_349">[S. 349]</a></span> er -sein und all seine organische Sanftheit und Weichheit, seine milde, -tugendreiche Rede zum Fang der Herzen, zum Berücken der Frauen benutzen:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Er ist ein Inbegriff von feinen Stoffen,</div> - <div class="verse">Die sich in jede Form beliebig fügen;</div> - <div class="verse">Bald wild und kühn, bald blaß und wie betroffen,</div> - <div class="verse">Bald schlau versteckt, bald ungestüm und offen,</div> - <div class="verse">Versteht er stets, aufs beste zu betrügen.</div> - <div class="verse">Ihm stehen Schamrot, Ohnmacht, bleicher Schreck</div> - <div class="verse">Sogleich zu Diensten, je nach seinem Zweck.</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und wenn sein Herz der Wollust Glut verzehrt,</div> - <div class="verse">So spricht er von der Keuschheit hohem Wert.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Stimmungen, die dieser bösen genau entsprechen, werden wir aus den -Sonetten noch ertönen hören; zu Beginn der Handlung, der Treulosigkeit, -des Verrats, den der Freund, der Geliebte an der Liebe beging, kommt -noch eine verwandte und doch ganz andere, eine rührend ergebene zu Wort.</p> - -<p>Der Freund — der Geliebte — die Liebe: <em>the love</em>; da haben wir -noch eine Schwierigkeit für die Übersetzung und das Verständnis: <em>the -love</em>, die Liebe, bedeutet in diesen Gedichten fast nie das Gefühl -der Liebe von einem Menschen zu einem andern Menschen hin, sondern -den Gegenstand der Liebe: nicht die Liebe zwischen zwei Menschen, -sondern den Geliebten und manchmal, selten, auch die Geliebte. In einer -gewissen Zahl Gedichte, auf die ich schon deutete und von der jetzt zu -sprechen ist, haben wir nun gar das Wort im Wortspiel einer zugleich -dreifachen Bedeutung: Liebe — Geliebter — Geliebte.</p> - -<p>Es kann nie wahrhaft gelingen, aus dem folgenden 40. Sonett, das für -dieses Thema entscheidend wichtig ist, ein anderes als ein plumpes und -halb unverständliches deutsches Gedicht zu machen; es ist aber gerade -sein Wesen, daß es in seiner ungemeinen Gewagtheit so in der Form glatt -und ohne Anstoß dahinfließt wie die allerüblichste Sache:</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_350" id="Seite_350">[S. 350]</a></span></p> - -<table class="poetry" summary="Übersetzung"> - <tr> - <td class="poet"> - <em>Take all my loves, my love, yea, take them all;</em> - </td> - <td class="poet"> - Nimm all meine Liebsten (Lieben), Liebster, ja, nimm sie alle, - </td> - </tr> - <tr> - <td class="poet"> - <em>What hast thou then more than thou hadst before?</em> - </td> - <td class="poet"> - Was hast du da mehr, als du vorher hattest? - </td> - </tr> - <tr> - <td class="poet"> - <em>No love, my love, that thou mayst true love call;</em> - </td> - <td class="poet"> - Keine Liebe, mein Lieb, die du wahre Liebe nennen kannst; - </td> - </tr> - <tr> - <td class="poet"> - <em>All mine was thine before thou hadst this more.</em> - </td> - <td class="poet"> - Alles Meine war dein, ehe du das noch dazu hattest. - </td> - </tr> - <tr> - <td class="poet"> - <em>Then, if for my love thou my love receivest,</em> - </td> - <td class="poet"> - Wenn du dann statt meiner Liebe (zu dir) meine - Liebe (die Liebste) nimmst, - </td> - </tr> - <tr> - <td class="poet"> - <em>I cannot blame thee, for my love thou usest;</em> - </td> - <td class="poet"> - Kann ich dich nicht tadeln, denn du gebrauchst meine - Liebe (meine Liebste); - </td> - </tr> - <tr> - <td class="poet"> - <em>But yet be blam’d, if thou thyself deceivest</em> - </td> - <td class="poet"> - Und doch sei getadelt, insofern du dich selbst betrügst - </td> - </tr> - <tr> - <td class="poet"> - <em>By wilful taste of what thyself refusest.</em> - </td> - <td class="poet"> - Und launisch kostest, was dir selbst widersteht. - </td> - </tr> - <tr> - <td class="poet"> - <em>I do forgive thy robbery, gentle thief,</em> - </td> - <td class="poet"> - Ich verzeihe dir deinen Raub, adliger Dieb, - </td> - </tr> - <tr> - <td class="poet"> - <em>Although thou steal thee all my poverty;</em> - </td> - <td class="poet"> - Obschon du dir meine ganze Armut stiehlst; - </td> - </tr> - <tr> - <td class="poet"> - <em>And yet, love knows, it is a greater grief</em> - </td> - <td class="poet"> - Und doch, weiß die Liebe! ist’s ein größerer Gram, - </td> - </tr> - <tr> - <td class="poet"> - <em>To bear love’s wrong than hate’s known injury.</em> - </td> - <td class="poet"> - Das Unrecht der Liebe (des Liebsten) zu tragen als - des Hasses vertraute Kränkung. - </td> - </tr> - <tr> - <td class="poet"> - <em>Lascivious grace, in whom all ill well shows,</em> - </td> - <td class="poet"> - Lüsterner feiner Gesell, dem alles Schlechte gut steht, - </td> - </tr> - <tr> - <td class="poet"> - <em>Kill me with spites; yet we must not be foes.</em> - </td> - <td class="poet"> - Töte mich mit Unbill; aber wir dürfen nicht Feinde werden. - </td> - </tr> -</table> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_351" id="Seite_351">[S. 351]</a></span></p> - -<p>Wie ist das nicht bloß im Sprachlichen, auch im Ton fast unnachahmlich; -was für eine Einheit von Wehmut und Schelmerei! Da wird das Kleine -klein und leicht und doch ganz zugleich und im gleichen das -Schmerzliche so schmerzlich genommen. Da ist wirklich in <em>the love</em> alles -Hohe und Niedrige beisammen; und so ist auch dieses Gedicht in allem -Bedenklichen adlig; es wird mehr der Makel im Freund beklagt als der -Verlust der Geliebten, nur daß die Sprache es hergibt, das, was im -Geschehnis geeint ist, auch mit demselben Sprachausdruck zu bezeichnen: -der Makel des Freunds ist die Verführung der Geliebten. Über das, was -den Menschen gemeiniglich das Wirkliche und Wichtige ist, ist dieser -vom Freund und der Geliebten betrogene Dichter erhaben; so sehr wir von -hier aus neu verstehen, welche Rolle Umdunkelung und Vernichtungswut -des Hahnreis in Shakespeares Rachedramen spielen, so sehr dürfen wir -ganz selig und leicht und frei hier erleben, daß es für den Dichter -dieser Gedichte kein Hahnreitum gibt. Die Phantasieliebe wird zum -wahren Leben; des Lebens Notdurft wird zum Spiel. Das empfinden wir -noch mehr, wenn wir die innere Handlung dieses Vorgangs in den beiden -unmittelbar anschließenden Sonetten 41 und 42 noch weiter verfolgen.</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Die art’gen Sünden, die der Leichtsinn tut,</div> - <div class="verse">Wenn manchmal ich von deinem Herzen fern,</div> - <div class="verse">Stehn deiner Schönheit, deinen Jahren gut,</div> - <div class="verse">Denn wo du bist, folgt die Versuchung gern.</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Adlig bist du, und deshalb zu gewinnen,</div> - <div class="verse">Schön bist du, deshalb geht um dich der Krieg,</div> - <div class="verse">Und welches Weibes Sohn, wenn Weiber minnen,</div> - <div class="verse">Verließe mürrisch sie vor ihrem Sieg?</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ach! solltest doch wohl mein Gehege fliehn</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_352" id="Seite_352">[S. 352]</a></span> <div class="verse">Und deiner Schönheit fluchen und der Lust,</div> - <div class="verse">Die dich im Jugendtaumel dahin ziehn,</div> - <div class="verse">Wo du zwiefach die Treue brechen mußt:</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ihre, die deine Schönheit lockt zu dir,</div> - <div class="verse">Deine, weil deine Schönheit falsch an mir.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und nun im nächsten das Höchste in Einem an Scherz, an Schmerz, an -herzlicher Wonne im Weh:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Daß du sie hast, das schmerzt mich nicht so stark,</div> - <div class="verse">Und doch ist’s wahr, ich liebte sie gar herzlich.</div> - <div class="verse">Daß sie dich hat, das frißt mir recht ins Mark,</div> - <div class="verse">Der Liebeskummer trifft mich wahrhaft schmerzlich.</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Doch weiß ich Mildrung euch, ihr Liebessünder:</div> - <div class="verse">Du liebst sie, weil du weißt: ich bin ihr gut,</div> - <div class="verse">Und meinethalb betrügt sie mich nicht minder</div> - <div class="verse">Und duldet, was mein Freund ihr meinthalb tut.</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Verlier’ ich dich, so hat mein Lieb Gewinn,</div> - <div class="verse">Geht sie verloren, macht mein Freund den Fund;</div> - <div class="verse">Zwei finden sich, zwei fahren mir dahin,</div> - <div class="verse">Und beide richten meinthalb mich zu Grund.</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Ach, freu dich! wir sind Eins, mein Freund und ich;</div> - <div class="verse">O holder Wahn! so liebt sie doch nur mich!</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Denken wir von hier aus an solche Stücke wie Die beiden Veroneser, -Wie es euch gefällt, Was ihr wollt, wo immer auf Shakespeares Bühne -der junge Schauspieler, der die jugendliche Liebhaberin zu spielen -hat, sich noch einmal als Mann zurückverkleidet und so, während ein -Weib sich in ihn verliebt, der Freund eines Mannes wird, der sich in -erotischer Sympathie zu ihm hingezogen fühlt: aus dem, was Shakespeares -Lyrik uns über seine Erlebnisse und die Art, wie er sie nahm, enthüllt, -verstehen wir die leichte, neckische und doch innige Grazie jener -Szenen besser. Bei aller Innigkeit und Gewalt der Schmerzen hat er so -viel überlegene Heiterkeit, daß er mit einer<span class="pagenum"><a name="Seite_353" id="Seite_353">[S. 353]</a></span> gewissen mathematischen -Kombinationsfreude, wie sie sich gerade der Form des Sonetts so -wundervoll anschmiegt, die innern und äußern Möglichkeiten des Dreiecks -abwandelt.</p> - -<p>Mit der sehr ernsten Aufgabe, vor die die Art, wie Shakespeare dieses -Erlebnis hier in die freie Luft des Spiels und damit der Reinheit -gehoben hat, uns stellt, sind wir noch lange nicht fertig; und so -ist zu sagen, daß es nichts Moderneres, nichts, was uns mehr angeht, -gibt als diese Sonettenfolge. Die Liebe abwechselnd, wie es die Natur -verlangt, gewaltig ernst, und dann wieder, wie es der Geist rät, ganz -leicht und heiter, immer aber frei nehmen scheint mir in der Tat -eine Aufgabe, die Shakespeare besser verstanden hat als wir. Auch in -diesem zarten Punkt stehen unsre frühen Romantiker, Novalis, Friedrich -Schlegel, Schleiermacher in naher Beziehung zu ihm. Shakespeare aber -hatte es leichter als sie und wir, weil er in andern Sitten oder Moden -stand als wir.</p> - -<p>Lebendig genug im England seiner Zeit war noch die höfische Sitte der -Ritterliebe, wie wir sie aus den Artusromanen und ähnlichen Dichtungen, -aus der Minnepoesie, aus dem Leben Ulrichs von Liechtenstein kennen: -in all den Büchern dieser Art, wie sie in dem Jahrhundert nach -Einführung des Buchdrucks in den Kreisen des Adels, des Bürgertums -und des Volks begehrt waren und verschlungen wurden, gehörte es sich -und war Mode, daß der — übrigens verheiratete — Ritter eine Dame -hatte, der er seine Phantasieliebe widmete. Es gehörte sich, daß in -der Liebesdichtung von allem eher die Rede war als von der Hausfrau, -der Mutter der Kinder. Es gehörte sich, mit einem gesagt, daß der -seelenvolle Sänger und ritterliche Kämpfer, unabhängig von seiner -Häuslichkeit, seine Sehnsucht, seine Romantik hatte, die ihn, wie -die gotischen Münstertürme aus muffigen Bürgergäßchen in die freie, -frische, blaue Luft nach oben wuchsen, aus der Enge in die weite Welt -führte.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_354" id="Seite_354">[S. 354]</a></span></p> - -<p>Zu dieser Verzauberung und Verklärung des Lebens aus dem Mittelalter -kamen nun noch die hohe, heroische Seelenstimmung des erotischen -Freundschaftsbundes in der Renaissance und die Einflüsse aus der -Antike; Plato war der Abgott der Kreise, aus denen Giordano Bruno -herkam, und die Schriften der griechischen und der neuen italienischen -Platoniker, in denen die Liebe des Sokrates ins Erhabene gerückt und -als heitere, die Menschen frei und unverzerrt an einander bindende -Religiosität erfaßt war, wurden durch den Druck verbreitet. Die „Minne“ -fing in diesem Zeitalter des Don Quijote und der Cressida gerade an, -auf die Stufe des holden, flatterhaften, irdischen Liebchens zu sinken; -die Geschlechtsliebe wurde analysiert und also angetastet und von der -verklärenden und steigernden Phantasie abgeschnitten. Shakespeare, -dessen Volumen daher rührt, daß er an der Wende der Zeiten in beiden -Lagern stand, war auch auf diesem Gebiet nach beiden Seiten zum -Höchsten imstande: keiner hat wie er die Liebe zwischen Mann und Weib -von der Phantasie ins Himmlische heben lassen, keiner hat wie er solche -Liebe mit inniger Qual und zäher Energie untersucht und zergliedert. -Die Art Geschlechtlichkeit und Wollust, die den Mann nicht zur Freiheit -steigert, sondern ins Gemeine bannt und unter seine Würde hinabzerrt, -hat er mit dem großen Fluch der Menschheit belegt, und gegen sie hat er -das Ideal der männlichen Gesellschaft, der Männerfreundschaft erhoben -und hat diesem Gegensatz Troilus und Cressida gewidmet.</p> - -<p>Das Heroische und Erhabene, nicht mehr lechzen und verlangen, ins Tier -hineinschlüpfen, der Natur sich unterwerfen, sondern die Kühnheit, -die freie Bahn des sich selbst bestimmenden Geistes kommt in dieser -Liebesfreundschaft zum Ausdruck. Die Augen haben einen andern Blick; -Sehnsucht, Habenwollen, Entbehrung, Leid und Qual und Wonne: all -das ist da, aber alles nicht der Venus,<span class="pagenum"><a name="Seite_355" id="Seite_355">[S. 355]</a></span> dem finstern Leibestrieb -unterworfen, sondern frei als ernstes, strenges Geschick erwählt.</p> - -<p>Noch einmal sei in dieser Vortragsfolge Rembrandt genannt. Den -Gegensatz der Welt des Rubens und des Rembrandt, der Sinnenlust -und der magischen Geistesfreude erkenne ich in Geschlechtstrieb -und Liebesfreundschaft, wie sie Shakespeare in den Sonetten und in -den eng zu ihrem Höhepunkt gehörigen Bühnenwerken, Antonius und -Cleopatra und Troilus und Cressida darstellt. Wie ich das meine, -möge das Sonett zeigen, das gleich auf die Reihe der Sonette von -den drei Menschen folgt, deren jeder jedem Liebesgefühle zuträgt -und deren einer verlassen erleben muß, wie zwei ihm doppelt treulos -sind. Erstaunlicherweise zwar will Brandl in der Abhandlung, die er -Fuldas Übersetzung beigibt, dieses wie so manches andre Gedicht, in -dem die Freundschaftsliebe einen besonders gewaltigen, passionellen -Ausdruck findet, auf die Liebe zu dem Weibe beziehen, — aber überall, -wo es aus inhaltlichen und sprachlichen Gründen sicher ist, daß -der Dichter von ihr spricht, sind ganz andre Töne zu hören, und zu -solcher Umbiegung hat keiner ein Recht. Shakespeare bedarf keiner -Entschuldigung; sein ganzes Herz hängt an seinem Freunde; und warum -etwa nicht? Weil die Freundschaft aus der Mode gekommen ist? Weil die -meisten, wenn sie von ihr hören, den Eros mit dem Sexus verwechseln -und von einer Hingerissenheit nichts wissen, die nur der Seele und dem -Geist entstammt? Weil man nur immer an solche ins Drollige mißratene -Verhältnisse verzweifelt Täppischer und Phantasieloser denkt, die in -ihrem Unterbewußtsein Verwechselungen begehen und irgendein Glied -ihrer Notdurft in einen Bund hineintragen, der schmutzig, lasterhaft -oder komisch ist, wenn er nicht ein Bund der Freiheit ist? Weil man -nur immer faulige oder pervers triebhafte Nebenregungen mit dieser -Freundschaft in Verbindung bringt oder sich gar von<span class="pagenum"><a name="Seite_356" id="Seite_356">[S. 356]</a></span> einer im Dumpfen -ausgebrüteten Pseudowissenschaft sagen läßt, solche Freundschaft müsse -mit einem fruchtlosen Mißbrauch der zur Kindererzeugung bestimmten -Organe des Leibes verbunden sein? Weil die Phantasielosigkeit nirgends -komischere Triumphe feiert als auf dem Gebiet der Liebe jeglicher -Art? und weil die meisten gott- und liebeverlassenen Leute mehr von -einem Wind, der in ihrem Leibe spaziert, zu begehrender Begeisterung -gebracht werden als vom Anblick der Seelenschönheit? Äußerung braucht -die Freundschaft, wenn sie innen in jedem von zwei Menschen da ist -und zwischen zwei Menschen weben will; der Vermittelung bedarf die -Seele der zwei, die eins werden will, der Vermittelung durch den -Leib, weil es andre Wege des Verkehrs für uns unter dem Himmel nicht -gibt; aber auch die Sprache, auch die Musik, auch die Kunst gehört -zu dieser leiblichen Vermittelung, und die Nuance ist auf diesem -Gebiet der unphysiologischen, der Phantasieliebe alles; von dem Talent -und der Übung zum Verkehr der Geister wird es bei den Menschen, die -zusammenstreben, abhängen, ob ihr Umgang grotesk oder schön sein wird. -Sie wird wieder Mode werden, die Freundschaft; ohne gefühlvollste -Untrennbarkeit zueinander gezogener und gebannter Menschen auch -über die Familiengruppe hinaus kommt es zu keiner Erneuerung der -Menschengesellschaft; die Kameradschaft, wie sie Whitman verkündet -hat, wird die Bünde schaffen, die nicht wie die Familien und Nationen -gemeinsamer Notdurft der Natur, sondern der freien Wahl des Geistes -entstammen, und die nicht aus der Wut des Geblüts zu blutigen Kriegen, -sondern zu hell freudigem Wettkampf schöpferischer Kräfte führen. Dann -wird ein Gedicht wie das 43. Sonett Shakespeares, das Rembrandt-Sonett -den Menschen ein Labsal und wie eine weihevolle Inschrift sein, die -ihr öffentliches Leben mit der glühenden Innigkeit ihres intimsten und -geheimen Lebens befeuert:</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_357" id="Seite_357">[S. 357]</a></span></p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Geschloßnes Auge dient am besten mir,</div> - <div class="verse">Da es sich tags an nichtige Dinge wendet,</div> - <div class="verse">Doch wenn im Schlaf ich träume, ist’s nach dir</div> - <div class="verse">Und nächtig hell, hell in die Nacht gesendet.</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Denn du, deß Schatten Schatten leuchten macht,</div> - <div class="verse">Was gäb’ dein leibhaft Bild für holde Schau</div> - <div class="verse">Dem lichten Tag mit deiner lichtren Pracht,</div> - <div class="verse">Deß Schattenbild erstrahlt in Schlummers Grau!</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Wie, sag’ ich, wär’ des Auges Glück erst groß,</div> - <div class="verse">Wenn es dich sähe im lebendigen Tag,</div> - <div class="verse">Da hell in toter Nacht dein Schatten bloß</div> - <div class="verse">Durch schweren Schlaf vor blinde Augen trat.</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nachtgleich die Tage all’, wo du nicht hier,</div> - <div class="verse">Und taghell nachts, führt dich der Traum zu mir.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Ich denke an Rembrandt nicht bloß wegen des <em>darkly bright, bright -in dark</em>, wegen des Helldunkels, sondern weil dieses Licht, das auf -die Nacht flammt, bei beiden dieselbe Magie der düster klaren, des -Geschicks bewußten Freiheit, Haltung und Entschlossenheit des Geistes, -der sich von den Banden des Triebs losmacht und selig gefaßt in der -Phantasie lebt, zum Ausdruck bringt. Dieser entschlossene, zu Tod wie -Leben bereite, rationelle und doch tragische, helle und doch nächtige -Geist, wie ihn dieses Sonett, wie ihn in den Dramen am schönsten -Brutus und Hektor und Macduff und Prospero zum Ausdruck bringen, und -hinwiederum die andre Gestalt des Geistes, die die Tierwildheit durch -Witz, Ironie, Spiel, Heiterkeit überwindet, das sind die beiden Pole, -denen die schönsten Dramen Shakespeares ebenso wie diese Sonette -wechselseitig zustreben. Und wie braucht der Geist die Abwechselung -zwischen diesen Standpunkten und Arten des Verfahrens, wie muß er in -dieser Welt sich so schwer durchs Leben winden, um sich zu behaupten, -da wir, so klagt das nun<span class="pagenum"><a name="Seite_358" id="Seite_358">[S. 358]</a></span> folgende Sonett in derselben Stimmung und mit -ähnlichen Worten wie der junge Prinz Hamlet, nicht ganz und gar Geist, -sondern in die „dumpfe Substanz des Fleisches“ gestopft sind! Wie wäre -der Raum, der die Trennung und den Schmerz schafft, überwunden, wenn -wir ganz Geist wären! Aber „dieser Gedanke ist tödlich, daß ich nicht -Gedanke bin“. Wir sind elementar — und in der Trennung leiht uns der -schwere Stoff unsres Fleisches keinen leichten Flug der Überwindung -aller Schranken des Raums, der Zeit, sondern nur die Mischung aus -luftgleicher Seele und „allzu festem Fleisch“: das Naß der Tränen.</p> - -<p>Da haben wir die elementare Chemie dieses Tragikers, der wir in -Antonius und Cleopatra schon begegnet waren: Zwei Elemente, Erde und -Wasser, unser Leib und unsre Tränen binden uns an die Natur. Mit den -Tränen unsrer Schmerzen aber, mit der Empfindung aber geht die Fahrt -schon aufwärts, da steigt der Leib hinauf in die Seele. Wie gut erst, -daß wir auch der beiden andern Elemente teilhaftig sind, von denen das -unmittelbar anschließende 45. Sonett spricht: die Luft, unser Denken; -das Feuer, unser Wollen und Sehnen: <em>desire</em>. Mit dieser Ausdeutung -der Elemente als Symbole für die Urprinzipien der Welt berührt sich -Shakespeare mit der ältesten griechischen Philosophie, ohne daß wir -sagen können, ob diese Einkleidung seiner Gedanken und Stimmungen aus -philosophischen Gesprächen im Freundeskreis, etwa mit Jüngern der -italienischen Neuplatoniker, oder aus Büchern zu ihm kam. Das Erlebnis -aber mit dem Leib und den Schmerzen, die ihn flutend durchgeistigten, -hatte Shakespeare sehr leibhaft in der Wirklichkeit; er vielleicht -mehr als irgendein anderer Sterblicher. Denn er hatte ein unheimliches -Erlebnis mit seiner Körperlichkeit, das, ich muß es nach langer Prüfung -glauben, irgendwie mit den immer wiederholten Klagen über Makel und -Flecken in seinem<span class="pagenum"><a name="Seite_359" id="Seite_359">[S. 359]</a></span> Leben, über Schmach und Scham zusammenhängen muß, -welche Klagen keineswegs durchgängig mit seinem Schauspielerdasein -erklärt werden können. In den dreißiger Jahren seines Lebens beginnen -die erschütternden Klagen, daß er alt, müde, verbraucht werde, und -werden immer grimmiger und schärfer; im Jahre 1599, aus dem wir die -ersten noch gemäßigten Klagen dieser Art (im Verliebten Pilger) im -Druck haben, war er 35 Jahre alt, und diese Sonette könnten sogar noch -ein paar Jahre älter sein. Wer sich damit helfen kann, zu erklären, -diese Klänge wären Versspielereien ohne Wirklichkeit, dem sei’s -überlassen; ich glaube ein Ohr für Lebensechtheit der Empfindungen zu -haben und vermag es nicht.</p> - -<p>Obwohl Shakespeare alt nicht geworden ist und ganz gewiß kaum vierzig -vorbei war, als die ganz bittern dieser Sonette entstanden, redet er -scharf und bitter von dem Bild, das ihm sein Spiegel zeigt: die Jahre -haben ihn wie mit Lohe gegerbt, rissig gemacht, zerquetscht. Gewiß -haben wir da die Übertreibung in Betracht zu ziehen, eine doppelte -sogar, die eine, die zur melancholischen Gemütsart gehört und die -das, was sie anfangs übertreibt, bald genug selber herstellen hilft -und immer ärger macht; dann auch die andre, künstlerische, die einen -dunklen Hintergrund braucht, von dem sich das strahlende Bild des -Freundes abheben soll. Aber alles zusammengenommen, und erwogen, daß -so übergroße geistige Macht nicht geschenkt wird, daß die Natur, die -in Eines Menschen Leib solch zehrendes Feuer goß, ohne Ausgleich -nicht auskommt, daß jede Genialität sich irgendwie, am Körper, an der -Lebensführung, am schwierigen Umgang mit Menschen rächt und daß nur -noch etwa einer der Zufälle, die draußen als Dämonen immer lauern, dazu -treten muß, um eine Katastrophe herbeizuführen, so müssen wir sagen: -die Äußerungen und fast schon Schreie, zu denen Shakespeare zuletzt in -den Sonetten kommt, entsprechen<span class="pagenum"><a name="Seite_360" id="Seite_360">[S. 360]</a></span> dem Bild, das wir uns auch sonst von -diesem gewaltig Lebenden machen müssen: seine Leibeskräfte, gleichviel, -was von außen antastend und zehrend dazu gekommen war, waren früh -verbraucht; er war alt lange vor der Zeit; die Leiblichkeit hielt dem -innern Sturm auf die Dauer nicht stand. Und in dieser Stimmung nun, die -da über ihn gekommen ist, malt er sich bis in alle Einzelheiten aus, -wie einst die Zeit auch mit dem Freund umgehen wird: auch der wird alt -werden; auch der dahingehn; Türme zerfallen, Erz und Stein sind nicht -für die Ewigkeit; Meer und Land vernichten sich gegenseitig; die Vision -und Bildersprache für dieses Untergangsgefühl ist dieselbe, wie sie, -ein paar Jahre später wohl, aus Prosperos Mund kommen wird; auch die -Schönheit muß welken und in den Kot sinken wie eine Blume. Da gibt es -nur immer den einen Trost — denn der Gedanke an die Unsterblichkeit -durch die Nachkommenschaft, wie er in manchmal noch naiver Form sich im -Beginn der Sonettendichtung ausgesprochen hat und wie ihn der Dichter -schließlich in Gestalt einer Erbfolge des Geistes in dem Verhältnis -Prosperos zu Miranda und Ferdinand fassen wird, taucht an dieser Stelle -der Sonette nicht auf — den einen Trost kennt der Dichter hier nur, -daß die Liebe in den schwarzen Lettern dieser Gedichte erhalten bleibt.</p> - -<p>Daran schließen sich dann Gedichte von einer ungeheuren Bitterkeit -und Weltverachtung und einem Lebensüberdruß ohnegleichen, die auch -in Ton und Form von einer geschmiedeten Wucht sind, allen voran das -66. Sonett, das der nämlichen Stimmung Ausdruck gibt wie der Hamlet, -der Lear, der Timon, der Coriolan: O pfui, o nein, was für eine Welt, -lieber nicht leben! Zehnmal hintereinander fängt von den vierzehn -Zeilen jede mit „Und“ an; der Dichter kann sich nicht genug tun in der -Aufzählung der Häßlichkeiten und Erbärmlichkeiten der Welt:</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_361" id="Seite_361">[S. 361]</a></span></p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse"><em class="gesperrt">Dies</em> alles müd schrei’ ich nach Todesrast:</div> - <div class="verse">Verdienst zu sehn als Bettelmann geboren,</div> - <div class="verse">Und dürftiges Nichts in Herrlichkeit gefaßt,</div> - <div class="verse">Und reinste Treu’ zum Jammer auserkoren,</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und goldne Ehre, die den Falschen krönt,</div> - <div class="verse">Und jungfräuliche Tugend roh geschändet,</div> - <div class="verse">Und echte Hoheit ungerecht verpönt,</div> - <div class="verse">Und Kraft von lahmer Tyrannei entwendet,</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Und Kunst geknebelt von der Obrigkeit,</div> - <div class="verse">Und Geist vorm Doktor Narrheit ohne Recht,</div> - <div class="verse">Und dumm befunden schlichte Redlichkeit,</div> - <div class="verse">Und Sklave Gut im Dienst beim Herren Schlecht:</div> - </div> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Dies alles müd möcht’ ich begraben sein,</div> - <div class="verse">Ließ ich nicht sterbend, Liebster, dich allein.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Seltsam allmählich wendet sich dieser Überdruß an der Welt, wie sie -jetzt ist, gegen den Freund, der bei allem doch, wir hören’s in -dieser furchtbaren Klage, wenn nicht sein Trost, so doch sein Grund -ist, in der Welt bleiben zu wollen. Die Natur scheint wie bankerott -zu erliegen; sie hat kein Blut mehr, das durch lebendige Adern zu -rinnen vermag. Und steht nicht in diesem Untergang der Freund als -einziger Besitz der echten Natur inmitten der Falschheit? Aber schon -klingt es uns, als färbe die unnennbare Bitterkeit dieser Schilderung -auch auf den Freund selbst ab; er wird geschildert als einer, der -inmitten der Verpestung lebt; die Ruchlosigkeit begnadet er mit -seiner Gegenwart, die Sünde darf sich mit seiner Gesellschaft zieren. -Und von geschminkten Wangen und falschen Locken ist viel die Rede, -die man in diesen lügnerischen Zeiten den Gräbern stiehlt, damit -sie auf einem zweiten Kopf ein zweites Leben führen; wir wissen, -wie Shakespeare seinem Ekel vor solcher Fälschung der Attribute der -Schönheit auch sonst, zum Beispiel in Bassanios Rede, Ausdruck<span class="pagenum"><a name="Seite_362" id="Seite_362">[S. 362]</a></span> gegeben -hat; Schönheit war ihm nicht Äußerlichkeit, sondern Ausdruck, und sie -außen aufzukleben und vorzutäuschen keine geringere Heuchelei als die -moralische. Der Freund, an den er sich klammert, ist dem Dichter der -Sonette das letzte Bild der Echtheit in dieser Zeit; er macht nicht -aus andrer Grün einen künstlichen Sommer, er möge der falschen Kunst -zeigen, was einstens allerwege die Schönheit war.</p> - -<p>Und nun spricht er sich im weitern noch deutlicher aus, wenn auch -keineswegs so deutlich, wie es manche Übersetzer gemacht haben. Was -die Welt an dir sehen kann, Freund, dein Äußeres ist ohne Fehl; und -künstliche Mittel wendest du nicht an; Freund und Feind müssen gestehn: -schön bist du. Aber ist diese Schönheit deines Leibes wahrhaft Ausdruck -deines Wesens? Bist du nicht ein Beispiel für das Furchtbare, daß -Schönheit, Liebreiz, adlig gewinnendes Wesen selbst täuschender Schein -sein können? Wenn man tiefer in dich eindringen will, hinter den -entzückenden Schein und Schimmer deiner Erscheinung, woran anders soll -man die Schönheit deiner Seele prüfen als an deinen Taten? Schon öfter -hat der Dichter in diesen Sonetten an den Blumen die schönen Farben -als den holden Schein und aber den Duft als den Ausdruck des Innern -unterschieden; jetzt sagt er von dem Freund, seine Blüte sei schön zu -schauen, aber sie dufte <em>rank</em>, das heißt geil, scharf stinkend. -Und warum, du Blume kommt dein Duft nicht deinem Anblick gleich?</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse"><em>The soil is this, that thou dost common grow.</em></div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Das ist ein wundersames, rein formal genommen, wundervolles Wortspiel, -eine Doppelbedeutung, mit der sehr viel gesagt ist. Es kann heißen:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Der Grund ist der, daß du gemein wirst.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Aber im Zusammenhang mit dem Bild der Pflanze soll eher der Sinn -herauskommen:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Der Grund ist der, daß du in Gesellschaft wächst, wie das Unkraut,</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_363" id="Seite_363">[S. 363]</a></span></p> - -<p>der Grund ist der Umgang, in dem du dir gefällst und dich gemein machst.</p> - -<p>Aber jedenfalls sehen wir: das Verhältnis hat sich geändert, hat sich -beinahe umgekehrt. Früher war es der Dichter, der sich vor der reinen -Erhabenheit des Jünglings, des Adligen fast verkrochen hat. Adel ist -ihm Naturerbe, ist ihm ein Vorzug des Geblüts, echt und berechtigt -wie der Anspruch der Schönheit. Und immerhin möglich ist es und -manche Wendung deutet in der Tat darauf hin, daß er, wie er in dem -Adel und der Schönheit des Freundes, wenn diesen Zeichen das Innere -entspricht, eine Gabe der Natur erblickt, seinen Schauspielerberuf als -etwas ansieht, das sein Wesen tief nach innen und unaustilgbar gefärbt -habe, wie das Färben die Hand des Färbers; daß er diesen Beruf wie ein -schimpfliches öffentliches Gewerbe betrachtet, und von ihm in Wendungen -spricht, wie Schmach und Schuld und Flecken und Makel, die sonst nur -innere Eigenschaften bezeichnen. Fortuna nennt er die „schuldige -Göttin seiner qualvollen Taten“. Ist diese Deutung so richtig, -wie sie allgemein akzeptiert ist, so dürfen wir, auf dieses Leben -zurückblickend, wohl ausrufen: was muß der junge Shakespeare schon für -eine Persönlichkeit gehabt haben, um aus solcher Stellung heraus zu -diesem Verhältnis zu so einem verwöhnten Jüngling aus höchstem Adel zu -kommen! Wie dem auch sei, jetzt redet der Dichter überlegen von oben, -scheu und behutsam immer noch, aber nur aus schonender Liebe, die -glauben will; denn um Verdacht schlimmster Art geht es. Verdacht: das -ist das Thema eines dieser Sonette. Der beweist freilich noch nichts; -Verleumdung tastet grade das Edelste an, und die Krähe fliegt in der -holdesten Himmelsluft; Verdacht ist geradezu die Auszeichnung der -Schönheit:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse"><em>The ornament of beauty is suspect.</em></div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Sollte der Freund, der die Jugend und ihre schlimmen Gefahren hinter -sich hat und entweder gar nicht angegriffen<span class="pagenum"><a name="Seite_364" id="Seite_364">[S. 364]</a></span> wurde oder als Sieger -hervorging, nicht seine Unschuld bewahrt haben, sollte er nicht gut -geblieben sein? Die Frage bleibt zunächst offen:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Verhüllte nicht der Argwohn deinen Ruhm,</div> - <div class="verse">Du hättest aller Herzen Königtum.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>In den Zusammenhang dieser Sonette 67–70 und der später folgenden -Reihe 92–95, die das Motiv verstärkt aufnimmt, stellt sich mir aber -die böse Stelle aus der Klage der Liebenden, von der ich früher gesagt -habe, daß sie mir nicht bloß zur Handlung der Romanze, sondern auch -des Sonettenwerks gehört. Und in diesem Zusammenhang gedenke ich eines -Dichters unsrer Zeit, den man den natürlichen Sohn dieser Sonette -nennen könnte. Ich meine Oskar Wilde, der in diesen Gedichten und -ihrer Vorstellungs- und Empfindungswelt gelebt und geatmet hat. Von -dem amüsanten und doch schließlich betrüblichen Büchlein „Das Porträt -des Herrn W. H.“ will ich weniger reden als von einem andern Bildnis. -In dem Büchlein hat er eine verführerische Theorie über den Mann, an -den die Sonette sich richten, mit welcher er lange kokettiert haben -mag, schließlich in einer Novelle beigesetzt. W. H. sollte nach dieser -Erklärung der junge Schauspieler sein, der in Shakespeares Truppe die -jugendlichen Mädchengestalten spielte. Das läßt sich nicht halten; -daß der Mann, dem die Sonette gelten, ein Aristokrat in vornehmster -Stellung war, geht aus vielem hervor. Aber wichtiger ist es, von -einer der bestkomponierten Romandichtungen unsrer Zeit, vom Bildnis -Dorian Grays in diesem Zusammenhang zu reden. Mir ist, als wäre diese -Dichtung aus Shakespeares Sonetten und besonders aus dem Teil, der uns -jetzt beschäftigt, entstanden; und Die Klage der Liebenden könnte das -Vorbild zur kläglichen letzten Liebe Dorian Grays abgegeben haben. Die -Motive der Sonette 67–70 sind in der Tat die Grundmotive des Romans: -alle, so klingt es uns hier wie dort entgegen, alle werden vom Alter<span class="pagenum"><a name="Seite_365" id="Seite_365">[S. 365]</a></span> -angefressen; du allein strahlst in unvergänglicher Schönheit. Aber — -wie steht’s um deine Seele! Wenn man die sehen könnte —! Gut ist’s -nicht damit bestellt, wenn man nach deinem Rufe, gut auch nicht, wenn -man nach deiner Gesellschaft urteilt. Und dieser Eindruck verstärkt -sich noch in den Sonetten 92–95. Ist es nicht wie ein Motto zu Dorian -Gray, wenn wir da hören:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Doch Gott beschloß an deinem Schöpfungstag:</div> - <div class="verse">Nie soll die Liebe dir vom Antlitz schwinden,</div> - <div class="verse">Was auch dein Geist, dein Herz ersinnen mag,</div> - <div class="verse">Dein Blick soll immer Holdes nur verkünden.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Bei diesem Bilde der zum Staunen unvergänglichen Anmut und -Liebenswürdigkeit wie nun bei der Schilderung, die den Prinzen -Wunderhold mit einem Mal unverhüllt in seiner innern Beschaffenheit -zeigt, haben wir ganz das Porträt, das die verratene Liebste in -der Romanze am Schluß des Sonettenwerks von dem bezaubernden Manne -entwirft; wenn es etwa im 95. Sonett heißt:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">O welch ein Schloß das Laster sich erkor,</div> - <div class="verse">Als es in dir zu wohnen sich entschied!</div> - <div class="verse">Jedweden Makel deckt der Schönheit Flor,</div> - <div class="verse">Und schön wird alles, was das Auge sieht.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>In tiefster Schwermut wendet sich dann der Dichter von den Zweifeln -an dem immer geliebten Freund, dem er ein Mal für alle verfallen ist, -weg zur Betrachtung des Todes, dem er sich immer näher fühlt. Eine -entsetzliche Vorstellung aber ist ihm jeder Gedanke an die Auflösung, -— so grauenhaft wie uns allen, nur daß wir nicht hinblicken, nicht den -Schädel unsres guten Freundes aus der Knabenzeit in der Hand wiegen -und dabei empfinden, es sei unser eignes kahl gefressenes Gebein. Den -Dichter aber lockt es unbezwinglich hinzublicken auf dieses Unfaßbare; -und sich, wie er jetzt ist, empfindet er in tiefstem Schauder als -denselben, der er bald sein wird, ein maßlos Erniedrigter. Dem -Freund ruft er, wie schon mit Grabesstimme zu:<span class="pagenum"><a name="Seite_366" id="Seite_366">[S. 366]</a></span> Nicht länger klage -um mich, als die Totenglocke schallt! Lies meine Verse, aber denke -nicht mehr an den Menschen, der sie geschrieben hat! Nenne meinen -Namen nicht mehr, liebe mich nicht mehr, wenn ich weg bin! In der -Niedrigkeit war ich in dieser Welt, zu allerniedrigsten Würmern geh’ -ich, wenn ich ihr entronnen bin. Und noch stärker wird diese ganz -und gar düstere Stimmung, in die gar kein Licht fällt, ausgedrückt. -Ich werde dieses dunkle Rätsel nicht lösen, aber ich werde es nicht -verhehlen: dieser Dichter, ganz weltlich, ganz ohne jede Beimischung -etwa religiös-asketischer Umkehr, im Gegenteil, indem er die ganze -Welt lichtlos, freudlos, hoffnungslos, sinnlos sieht, nimmt aus dieser -Stimmung auch sich den Lebenden und sein Werk nicht aus. Was er getan, -geleistet hat, mißt er in dieser Verfassung der Krise offenbar an -einem Wollen ganz andrer Art, ganz andren Zieles, das vielleicht auch -ganz andern Gebieten angehört; was da ist, ist nichts und schlimmer -als nichts. Da, in der direkteren Aussprache dieser Lyrik, ist nicht -die in Bitterkeit noch milde Resignation, mit der Prospero seinem Werk -und Leben entsagt; da ist Verzweiflung. Wie er in jüngern Jahren von -Verschuldung und von Flecken gesprochen hat, so nennt er jetzt seine -Leistung Schmach und Schande. Ich habe zugegeben, man kann jene starken -Ausdrücke auf sein Schauspielerdasein beziehen, aber will man für -jetzt, wo er auf der Höhe seiner dramatischen Produktion steht, auch -noch sagen, mit dieser entschlossenen, finstern Verachtung rede er nur -von seiner äußern Stellung als Schauspieler und Dramatiker? Nichts -unglaublicher als das! Nirgends sind wir im ganzen und einzelnen der -Stimmung und dem innersten Wesen von Shakespeares reifsten Dramen so -nah wie in diesem Teil der Sonette; nirgends aber in den Bühnenwerken -spricht sich uns die Abkehr und Verzweiflung an sich selbst so namenlos -schrecklich aus wie hier. Ich habe für diese Äußerungen, für diese in -Entschlossenheit gefaßten<span class="pagenum"><a name="Seite_367" id="Seite_367">[S. 367]</a></span> Ausbrüche keine andre Erklärung als die -einer oft fast völligen Umdüsterung, fast müßte man sagen: Umnachtung.</p> - -<p>Er verfügt in einem Tone wie letztwillig: sein Name solle vom Freunde -da begraben werden, wo sein Leichnam liegen werde, und solle nicht -länger am Leben bleiben und ihn und den Freund in Schmach bringen.</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>Denn ich schäme mich dessen, was ich hervorbringe, und du solltest -dich schämen, Dinge zu lieben, die nichts wert sind.</p></div> - -<p>Doch solange er lebt, soll der Freund ihn lieben! Das bringt -uns vielleicht doch der Lösung des Rätsels noch etwas näher. -Diese Düsterkeit steht in untrennbarer Verbindung mit den -Verfallserscheinungen seiner Körperlichkeit — er ist höchstens ein -früher Vierziger —, mit der Todesnähe, auf die er immer wieder zu -sprechen kommt und die — vergessen wir das doch nicht! — Wirklichkeit -ist. Wir wissen nicht, an welcher Krankheit Shakespeare jung starb, — -aber wir wissen, daß er sich mindestens acht bis zehn Jahre vorher vom -Tode gezeichnet fühlte.</p> - -<p>Da redet er — und es ist sicher dieselbe Zeit, in der über den -Dramatiker vom tiefst Menschlichen her zuerst die Krise gekommen war, -die wir kennen gelernt haben — den Freund an:</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>In mir siehst du den Herbst! Gelbe Blätter, oder keine, oder ein -paar hängen in frierenden Zweigen, und man kann bei diesem Anblick -an einen eingestürzten Chor denken, in dem einst die süßen Vögel -sangen.</p></div> - -<p>Daß sich dieses Bild auf seine Produktion bezieht, daß er diesmal ein -Jetzt, wo ihm alles mißraten scheint, mit einem früheren Reichtum -vergleicht, wie mit einem Strom, während seinem Gefühl nach jetzt -Stocken und Versiegen gekommen ist, hören wir aus dieser Stelle -deutlich:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">In mir siehst du in Zwielicht düstern Tag,</div> - <div class="verse">Der nach Sonnuntergang gen Abend bleicht,</div> - <div class="verse">Den schwarze Nacht gar bald entführen mag,</div> - <div class="verse">Des Todes Schatten, der von hinnen scheucht.</div> - </div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_368" id="Seite_368">[S. 368]</a></span> - <div class="stanza"> - <div class="verse">In mir siehst du das Glimmen einer Glut,</div> - <div class="verse">Die auf der Asche ihrer Jugend endet,</div> - <div class="verse">Als ihrem Todbett, und bald völlig ruht,</div> - <div class="verse">Verzehrt von dem, was Nahrung ihr gespendet.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Wir haben gehört, was das für ein Feuer ist; <em>desire</em> — die -Sehnsucht, das unbändige Wollen, die Leidenschaft; von innerem Feuer -ist dieses Dichterlebens Feuer allzu rasch, allzu glühend verzehrt -worden. Man sagt, die gewaltigsten, verzehrendsten Waldbrände könnten -nur durch Feuer gelöscht werden, das man gegen sie treibt. So will -das Feuer dieses Dichters erlöschen: von Flammen verschlungen; und -er unterscheidet gut genug den guten und den bösen Engel, das reine -Feuer der Seele und der Dichtung und der Schönheitsliebe und aber das -brennende, sündhafte Feuer der Triebe. Und — ich wollte die Feder -verstauchen und nicht mehr zur Hand nehmen, wenn sie nicht alles heraus -ließe, was gesagt werden kann und gesagt sein muß; und ich möchte sie -nicht mehr führen, wenn sie nicht zart vom Unnennbaren reden könnte -— und ich empfinde, wie der Dichter mit diesem bösen Feuer, das sein -reines verzehrt, mit dieser sinnlichen Leidenschaft und Wollust seine -Krankheit, seine steigende Kraftlosigkeit und frühes Alter und die -Todesnähe in Verbindung bringt; und ich empfinde die Verzweiflung und -der Umnachtung nahe Verdüsterung als die nicht bloß seelische, sondern -leibliche Folge und Begleiterscheinung des Leidens, das ihn aufrieb. -Wie Ekel ist ihm sein Leib, als ob schon jetzt der Tod daran fräße; -kein Gedanke soll ihm, diesem Naturding mehr gelten, wenn der Tod -sein Werk getan hat. Die Stimmung des Gequälten schwankt; jetzt ist -dem Dichter dieser Sonette sein Werk wieder der Grund, auf den er die -Unsterblichkeit baut:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Doch sei getrost: wenn jener grimme Spruch</div> - <div class="verse">Ohn’ allen Aufschub mich von hinnen treibt,</div> - <div class="verse">So trägt mein Leben Frucht in diesem Buch,</div> - <div class="verse">Das zum Gedächtnis dann noch bei dir bleibt.</div> - </div> - </div> -</div> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_369" id="Seite_369">[S. 369]</a></span></p> - -<p>Die Erde soll Erde bekommen, der Geist bleibt dein; nur die Hefe, der -Bodensatz des Lebens wird Würmerspeise; der Tod ist ein kläglicher -Wicht, der mit seiner Hippe Wertloses an sich reißt und das Beste nicht -treffen kann.</p> - -<p>Es ist mir, ich möchte beinahe sagen, ein Dogma oder Axiom, daß jeder -Dichter im privaten Leben, wie er es von Natur, Körperlichkeit und -Menschenumwelt wegen führen muß, die eine Seite seines Wesens zeigt -und in seiner Dichtung die andre, und daß man von der einen so wenig -wie von der andern ausschließend sagen kann, sie sei die wahre. Es -ist wahr, wir haben in der Gesamtheit seiner Dichtungen Shakespeares -innerstes Wesen, haben es aber im Höchsten dieser Werke und in den -Gestalten, bei denen die Sympathie des Dichters steht, nicht, wie -er als Mensch unter Menschen sein kann, sondern wie er, ein anderer -Mensch in andrer Umgebung, sein zu können sich sehnt. Ich glaube, die -Gelähmtheit Hamlets, die grausig zum Ausdruck kommende Todesfurcht -des Sklaven der Sinnenliebe Claudio in Maß für Maß und die zwischen -Selbstbewußtsein und schüchterner Demut schwankende, zur Selbstanklage -immer bereite Gemütsverfassung des Sonettendichters deuten auf Züge, -wie sie der lebendige Shakespeare in jäher Unvermitteltheit neben -kühnen und strahlenden von früh auf gehabt haben mag.</p> - -<p class="mtop2">Von alledem, was ich hier und früher über Shakespeares Persönlichkeit -gesagt habe, habe ich nichts gesucht; ob ich mich sträubte oder willig -war, ich habe es alles bei der Begegnung zwischen mir, wie ich bin und -auffasse, und diesen Dichtungen, wie sie unverrückbar sind, gefunden. -Ich war bereit, den Sonettendichter als Helden dieses Gedichtwerks so -von William Shakespeare zu trennen, wie Romeo oder Brutus oder Herr -Angelo von ihm zu trennen ist; aber die Lohe des Persönlichen und -zutiefst Erlebten schlug immer wieder in das gebändigte Maß<span class="pagenum"><a name="Seite_370" id="Seite_370">[S. 370]</a></span> der Form -und die entrückte Gestaltung hinein. Diese Gedichte sind reinste Lyrik, -in demselben Sinne, in dem wir Deutsche diese Gattung von den Großen -und Echten unsrer Minnedichter her, von den Dichtern des Volkslieds, -von Andreas Gryphius und Paul Fleming, von Günther und Goethe, von -Claudius und Hölderlin her kennen: Leben der eigenen Empfindung in -Verbindung mit dem eigenen Schicksal, zur Gestalt erhoben und zur Form -geprägt.</p> - -<p>So haben uns die Sonette schon in das Thema hineingeführt, das -uns jetzt zum allerletzten Schluß obliegt: William Shakespeares -Persönlichkeit, seine Stellung im Leben. Und ich will von dem letzten -Teil der Sonettendichtung, der dem Weibe gilt, das in Shakespeares -Leben eine so verhängnisvolle Rolle gespielt hat, von dem Teil, der -auch das Endgültige dieses Mannes zur Frage des Lebens, des Leibes, -der Seele sagt, nur im Zusammenhang mit seiner persönlichen Existenz -sprechen.</p> - -<p>Nie mit der geringsten Hinweisung ist in diesen Sonetten von -Shakespeares Familie, von seiner Frau, von seinen Kindern die Rede. Sie -haben nirgends in seiner Dichtung auch nur das kleinste Plätzchen. Sei -auch von ihnen gesagt, was allenfalls zu sagen ist, wenn wir nun vom -Schlußteil der Sonette aus den unheimlichen Weg vom Dichter Shakespeare -zu William Shakespeare dem Menschen weiterzugehen wagen.</p> - -<hr class="chap" /> - -<div class="chapter"> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_371" id="Seite_371">[S. 371]</a></span></p> - -<h2 class="nobreak" id="Shakespeares_Persoenlichkeit">Shakespeares -Persönlichkeit</h2> - -</div> - -<p class="s5 center">(Aufzeichnungen zum Schlußvortrag)</p> - -<p class="initial mtop2">Was hier noch gesagt wird, ist ein Nachtrag und eine Zusammenfassung. -Vom Leben und der Persönlichkeit des Dichters habe ich schon immer und -immer mehr gesprochen, je näher wir dem Ende kamen.</p> - -<p class="mtop2">Shakespeares Persönlichkeit: wir wollen also aus seinen Werken uns ein -Bild seines Wesens machen, im Zusammenhang mit den Umständen seiner -Zeit und seiner Lebensführung.</p> - -<p class="mtop2">Vor allem also müssen wir die Identität des Verfassers der Gedichte, -der Sonette, der Dramen mit William Shakespeare aus Stratford, -Schauspieler am Globe- oder Blackfriars-Theater in London feststellen.</p> - -<p class="mtop2">Denn gleich stellt sich uns die Behauptung in den Weg: Shakespeare sei -nicht Shakespeare; ein anderer hätte die Werke verfaßt.</p> - -<p>Über diesen andern sind die Vertreter dieser Theorie nicht mehr einig. -Außer Lord Bacon werden noch andre genannt.</p> - -<p class="mtop2">Mit den Beweisen für diese Theorie sieht es nun so aus: sie sind -jedesmal durchschlagend; aber sie haben kein langes Leben; sie lösen -einander ab.</p> - -<p>Zum Beispiel: Wenn wirklich in der Folio-Ausgabe in Chiffredruck -mitgeteilt ist, daß Francis Bacon der Verfasser ist, so ist der Beweis -geliefert.</p> - -<p>Aber — nach einiger Zeit läßt man diese unerhört freche und dumme -Behauptung fallen und — behauptet etwas andres.</p> - -<p>Oder: wenn wirklich ein Notizenheft in Bacons eigener Handschrift da -ist, wo er zu einer Zeit, wo die entsprechenden Dramen Shakespeares -noch nicht verfaßt sein konnten, sich Wendungen, Bilder, Gleichnisse, -Redensarten notierte,<span class="pagenum"><a name="Seite_372" id="Seite_372">[S. 372]</a></span> die dann etwa in Romeo und Julia und andern -Dramen genau so verwandt sind, so ist der Beweis geliefert.</p> - -<p>Aber — die Voraussetzungen treffen alle nicht zu; beim ganz -Verblüffenden handelt es sich um Fälschungen einer armen Irrsinnigen -— — und nach einiger Zeit wird es von diesem Beweisstück wieder ganz -still.</p> - -<p>Und so geht es durchweg: es ist wie bei einem Indizienbeweis gegen -einen Unschuldigen, wo lauter Einzelheiten, die entweder nichts -beweisen oder falsch sind, als Gesamtheit eine gewisse Stimmung -erzeugen.</p> - -<p class="mtop2">Fragen wir jetzt im ganzen: ist die Theorie nötig? — ist sie möglich?</p> - -<p class="mtop2">Nötig ist sie denen, denen Shakespeare der Stratforder zu ungebildet -ist. Sie meinen, diese Dichtungen müßten einen Aristokraten, einen -Gelehrten, einen Akademiker zum Verfasser haben. Ein greuliches -Überschätzen der Bildung schulmäßiger Art tritt zu Tage.</p> - -<p>Die meisten aber gehen noch weiter und sagen: gewisse gemeine, -pöbelhafte, volkstümliche, komische Elemente in den Stücken stammten -von Shakespeare dem Schauspieler; die edlen Teile hätte der Lord und -Gelehrte verfaßt.</p> - -<p>Damit ist aber dem Dichter Shakespeare Wesentliches genommen, -nicht bloß seine zeitliche Bedingtheit, seine Konzessionen an den -Zeitgeschmack, seine Müdigkeit und Lässigkeit, die Derbheit, die ihn -mit der Zeit verbindet — worauf ich aber auch keineswegs verzichten -möchte — sondern seine Allseitigkeit, sein Aufsteigen, seine -gegensätzliche Art zu charakterisieren und den innern Sinn der Handlung -herauszuarbeiten.</p> - -<p>Und wo soll man da, wenn man ihm die Clown-, die Wirtshaus-, die -Bordellszenen nehmen will, anfangen und aufhören?</p> - -<p>Und wozu? Das ist eine ganz blaustrumpfmäßige Art, den „Tichtēr“ -aufzufassen.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_373" id="Seite_373">[S. 373]</a></span></p> - -<p>Jetzt aber das Entscheidende: die Frage nach der Möglichkeit der -Theorie.</p> - -<p>Sie ist nicht möglich. Die Zeugnisse für die Identität des Dichters mit -dem in London lebenden, aus Stratford stammenden William Shakespeare -sind zahlreich und unumstößlich.</p> - -<p>Der Dichter William Shakespeare hat seine Gedichtbücher Venus und -Adonis und Der Raub der Lucretia selbst herausgegeben und — was ohne -des Grafen Erlaubnis nicht möglich war — dem Grafen Southampton -gewidmet. Und grade die sind mit glänzendem Verstalent, mit -Anschauungen und Wendungen, wie sie in den Dramen wiederkehren, in der -modischen, gelehrtenhaften, klassisch eingekleideten Art verfaßt.</p> - -<p>Nach William Shakespeares Tod in Stratford haben seine -Schauspielerkollegen Heminge und Condell 1623 die Gesamtausgabe -besorgt; sein Porträt beigegeben; von seinen Handschriften in der -Vorrede gesprochen, in denen sich fast keine Korrekturen fänden.</p> - -<p>Die und die andern Schauspieler, darunter der große Künstler Richard -Burbage, haben mit Shakespeare zusammen die Stücke einstudiert, gegeben.</p> - -<p>Ben Jonson, eine bedeutende Persönlichkeit, ein Dichter und Gelehrter, -mit Shakespeare nachweislich und selbstverständlich persönlich bekannt, -der sich immer wieder an ihm rieb und gerade sein volkstümlich -Unregelmäßiges tadelte, gab der Gesamtausgabe seine Ode bei, mit der -Überschrift</p> - -<p class="center mtop2">„Zur Erinnerung an meinen geliebten William Shakespeare.“</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Nicht daß dein Name uns erwecke Neid,</div> - <div class="verse">Mein Shakespeare, preis’ ich deine Herrlichkeit,</div> - <div class="verse">Denn wie man dich auch rühmen mag und preisen,</div> - <div class="verse">Zu hohen Ruhm kann keiner dir erweisen.</div> - <div class="verse">— — — — — — — — — — — — — — — — </div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_374" id="Seite_374">[S. 374]</a></span> - <div class="verse">Du Seele unsrer Zeit, kamst sie zu schmücken</div> - <div class="verse">Als unsrer Bühne Wunder und Entzücken!</div> - <div class="verse">— — — — — — — — — — — — — — — — </div> - <div class="verse">Und wußtest du auch wenig nur Latein,</div> - <div class="verse">Noch weniger Griechisch, war doch Größe dein,</div> - <div class="verse">Davor sich selbst der donnernde Äschylus,</div> - <div class="verse">Euripides, Sophokles beugen muß — — —</div> - <div class="verse">Voll Stolz war Rom, voll Übermut Athen,</div> - <div class="verse">Sie haben deinesgleichen nicht gesehn!</div> - <div class="verse">— — — — — — — — — — — — — — — — </div> - <div class="verse">Doch darf ich der Natur nicht alles geben,</div> - <div class="verse">Auch deine Kunst, Shakespeare, muß ich erheben;</div> - <div class="verse">Denn ist auch Stoff des Kunstwerks die Natur,</div> - <div class="verse">Wird Stoff zum Kunstwerk durch die Form doch nur.</div> - <div class="verse">— — — — — — — — — — — — — — — — </div> - <div class="verse">O säh’n wir dich aufs neue, süßer Schwan</div> - <div class="verse">Vom Avon, ziehn auf deiner stolzen Bahn!</div> - <div class="verse">Säh’n wir, der so Elisabeth erfreute</div> - <div class="verse">Und Jakob, deinen hohen Flug noch heute</div> - <div class="verse">Am Themsestrand! — — —</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Wie will man denn um dieses Zeugnis eines Zeitgenossen, eines -vertrauten Bekannten, einer großen Persönlichkeit, die Urteil und -Schärfe und Bosheit hatte, herumkommen!</p> - -<p>Der hat dem Schauspieler Shakespeare, mit dem er Umgang pflog, diese -Werke zugetraut.</p> - -<p>Was für Narren wären wir, wenn wir bloß darum daran zweifelten, weil -unsre Kenntnis der Person Shakespeares weniger intim ist als seine!</p> - -<p>Diese Zeugnisse könnten aber nun gehäuft werden.</p> - -<p>Im Anfang von Shakespeares Londoner Laufbahn erscheint eine Schrift aus -dem Nachlaß des Dramatikers Robert Greene, eines Gelehrten: darin warnt -er in bittern Worten vor den Schauspielern, die sich jetzt auch als -Dramatiker auftun; mit einem deutlichen Hinweis auf<span class="pagenum"><a name="Seite_375" id="Seite_375">[S. 375]</a></span> Shakespeare, der -„in dem Wahne lebe, der einzige <em>Shake-scene</em>, Bühnenerschütterer -im Lande zu sein“.</p> - -<p>Ein paar Monate darauf erklärt der Herausgeber dieser Schrift, Henry -Chettle, sein Bedauern über diesen Angriff auf Shakespeare: „ich habe -mich persönlich davon überzeugt, daß seine höflichen Umgangsformen -seinen Vorzügen, die ihn in seinem Berufe auszeichnen, in nichts -nachstehn. Überdies wissen einige angesehene Persönlichkeiten von -seiner rechtschaffenen Handlungsweise — als Beweis für seine -Ehrenhaftigkeit — und von der glücklichen Anmut seines Stils — als -Beweis für seine Kunst — zu erzählen.“</p> - -<p>Genug, zu viel schon davon: ob es uns lieb ist oder leid: der Verfasser -der gewaltigen Dichtungen ist 1564 in Stratford geboren und 1616 dort -gestorben und war zwischenhinein Schauspieler in London.</p> - -<p class="mtop2">Sind wir nun so weit, so möchten wir uns gern ein Bild von seiner -äußern Gestalt, seiner Leiblichkeit, seinem Gesicht machen; das ist uns -für die Persönlichkeit sehr wichtig. Aber da hapert es sehr, — wie -es mit all diesem Persönlichen, was Überlieferung von Tatsächlichem -angeht, fast in allen Stücken hapert.</p> - -<p>Der elegante Mann mit dem schönen Bart, wie er vor den meisten -Shakespeare-Ausgaben steht, oder wie man ihn, im Hofgewand und mit -einer begeistert-anmutigen Gebärde vor der Königin Elisabeth — man -tut’s nicht billiger — auf Ölgemälden und Stahlstichen vorlesen sieht, -— diese Gestalt mit diesem nichtssagend glatten Gesicht geht auf -das sogenannte Chandos-Porträt zurück, das in London in der National -Portrait Gallery hängt und erst lange nach Shakespeares Tod gemacht -ist. Es spricht gar nichts für diese Ähnlichkeit, — denn es ist sehr -unähnlich den beiden Abbildungen, in denen seine Bekannten ihn doch -wenigstens irgendwie erkannten und die untereinander übereinstimmen.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_376" id="Seite_376">[S. 376]</a></span></p> - -<p>Das ist einmal die Büste in der Stratforder Kirche, nicht weit vom -Grab, ein paar Jahre nach dem Tod von der Familie aufgestellt: ein -elendes Machwerk, fabriziert von dem holländischen <em>tomb-maker</em> -Jansen, der sein Geschäft in London betrieb. Immerhin wird er -Shakespeare gekannt haben, vielleicht hat er gar nach einer Totenmaske -gearbeitet; und die Familie wird ja wohl zufrieden gewesen sein.</p> - -<p>Hier sei gleich gesagt, daß der tote Shakespeare in Stratford und von -seiner Familie nach Verdienst gewürdigt wurde, wenn auch wie alles, was -von dieser Seite kam, abgeschmackt. Unter der Büste stehen schlechte -lateinische und wenig bessere englische Verse, die lauten:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">„Nestors Einsicht, des Sokrates Geist und die Künste Vergils</div> - <div class="verse">Decket die Erde, betrauert das Volk, hat der Olymp.“</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und englisch:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">„Steh, Wandrer, warum willst du so schnell vorbei?</div> - <div class="verse">Lies, wenn du kannst, wen der neidische Tod hier gebettet,</div> - <div class="verse">In diesem Grabmal Shakespeare, mit dem die flinke Natur starb,</div> - <div class="verse">Dessen Name dies Monument mehr schmückt als der Kostenaufwand,</div> - <div class="verse">Denn alles, was er schrieb, läßt die überlebende Kunst zurück</div> - <div class="verse">Wie einen Pagen, sein Genie zu bedienen.“</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Das andre Bild steht als Kupfer vor der Folioausgabe, rührt wiederum -von einem Holländer, Martin Droeshout, her und ist ein kümmerliches -Machwerk.</p> - -<p>Aber eine äußere Ähnlichkeit mit der Stratforder Büste kann -herausgefunden werden, und überdies hat es Ben Jonson gelobt.</p> - -<p>Wir haben nun zwar seit 1892 auch ein Ölgemälde, das in Stratford -entdeckt wurde, und das die Jahreszahl 1609 trägt: gleichviel, wie -es entstanden ist, jedenfalls gibt es nur in nicht viel besserer -Handwerksmanier dasselbe Gesicht wieder, wie der Stich vor der -Gesamtausgabe.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_377" id="Seite_377">[S. 377]</a></span></p> - -<p>Man kann aber, wenn man sich in eines dieser Machwerke, die offenbar -eine gewisse äußere Ähnlichkeit haben, versenkt, sie von innen heraus -beleben und dann einen Augenblick lang einen Eindruck wie von einem -großen Lebenden haben.</p> - -<p>Dazu helfen kann nun die wunderschöne sogenannte Darmstädter Totenmaske -oder eine Abbildung von ihr. Die ist in den 40er Jahren in Darmstadt -aufgetaucht und befindet sich noch da in Privatbesitz. Die Ähnlichkeit -besonders mit der Stratforder Büste ist groß, außerordentlich: während -die aber leer und albern dreinblickt, hat die Maske einen wunderbar -ernsten großen Ausdruck. Ich halte sie für ein Meisterwerk — wie die -Tiara des Saitaphernes; womit ich schon sage, daß ich sie für eine -großartige Fälschung halte (Herman Grimm und andere sind begeistert für -die Echtheit eingetreten).</p> - -<p>Aber so stelle ich mir Shakespeare vor, weil diesen Ausdruck auch die -authentischen Bilder annehmen, wenn man sie zu beleben versucht.</p> - -<p class="mtop2">Zu Shakespeares Leben und zur Shakespeare-Biographie: — das ist nicht -das nämliche!</p> - -<p>Vier Elemente bezeichnen Shakespeares Leben: Leidenschaft oder -Trieb — Innigkeit oder Seele — überlegener Geist oder Verstand — -Menschenfreundlichkeit (<em>humane gentleness</em>).</p> - -<p>Vier Elemente ganz andrer Art bezeichnen die Shakespeare-Biographie: -Dürre oder Leere — Hypothese — Komik — und Langeweile.</p> - -<p>Wie viele solcher dickleibigen Werke gibt es, in einem oder zwei -Bänden, die alle so aussehen:</p> - -<p>Eine Schilderung der Zeit — Beschreibung der Lage Stratfords — des -Lebens in solchen Städten — sehr Ausführliches über die damaligen -Theaterverhältnisse — eine Abhandlung über den Modestil des Euphuismus -—<span class="pagenum"><a name="Seite_378" id="Seite_378">[S. 378]</a></span> ausführliche Analysen sämtlicher Stücke Shakespeares — und -zwischenhinein gestreut die meist gänzlich unwichtigen zufälligen -Dokumente, die sich auf Shakespeare und seine Familie beziehen, ein -paar dürre Nachrichten, und Vermutungen über Vermutungen, Behauptungen -über Behauptungen!</p> - -<p>Überall aber geht es so zu, wie es naiv genug einer der Biographen in -seinem Vorwort bekennt:</p> - -<p>„Manche Behauptung stützt sich mehr auf Vermutung und Kombination -als auf sicheren Beweis. Ich habe solche Angaben mit allem Vorbehalt -gemacht, aber die Natur des Werkes bringt es mit sich, daß auf diesen -nicht ganz zuverlässigen Steinen später weitergebaut werden mußte.“</p> - -<p>Ein paar Beispiele für dieses Verfahren, aus einem der kürzesten, -tatsächlichsten dieser Art Bücher, das von Dowden verfaßt ist:</p> - -<p>„Shakespeare wurde sicherlich in die Stratforder Lateinfreischule -geschickt.“ Das heißt: man weiß gar nichts davon. — Der nächste Satz: -„Dort lernte er nicht bloß Englisch, sondern auch etwas Latein und -vielleicht ein klein wenig Griechisch.“ Ein paar Sätze weiter: „Daß er -seine lateinische Grammatik auswendig konnte, kann fast mit Sicherheit -angenommen werden.“</p> - -<p>So geht es durchweg: Schauspieler waren in Stratford — der Vater mag -den kleinen William mitgenommen haben; ein Fest in Kenilworth: „der -Vater dürfte mit dem vor ihm auf dem Sattel sitzenden Buben hinüber -geritten sein.“</p> - -<p>Aus der Schule, von der wir bloß nicht wissen, ob er je drin war, -mußte Shakespeare sehr wahrscheinlich wegen des Vermögensverfalls -herausgenommen werden, der indessen auch nicht feststeht.</p> - -<p>Wenn wir schon Tatsachen dichten wollen, was bindet uns denn z. B. -an die armselige Lateinfreischule? Kann denn nicht ein gelehrter -Pfarrer oder Gutsherr oder ein Mönch wie Pater Lorenzo, oder mehrere -der Art hintereinander<span class="pagenum"><a name="Seite_379" id="Seite_379">[S. 379]</a></span> sich des Wunderkindes, des genialen Jünglings -angenommen und ihn zu Büchern geleitet haben?</p> - -<p>Und so durchweg, das ganze Leben hindurch!</p> - -<p class="mtop2">Und nun will ich die gesicherten nackten Tatsachen aufstellen, die uns -etwas angehn; zwischen diesen Grundpfeilern darf und soll die Phantasie -arbeiten, die vom Dichter, seinen Werken aus fühlen, nicht aber -Tatsachen erdichten soll.</p> - -<p class="mtop2">Eine kleine Landstadt — Fluß, Felder, Wiesen, Wälder. Ländliches, -zunftmäßiges Handwerk; die Gemeindeverfassung ganz mittelalterlich.</p> - -<p>Was der junge William trieb, wissen wir nicht. Gerüchte allerlei Art -besagen nur, was wir uns sowieso denken müssen: daß eine glühende -Jugendnatur in der Enge wild und schäumend wurde.</p> - -<p>Für das Gerücht von der Wilddieberei und den Konflikten mit dem -Gutsherrn gibt es tatsächliche Anhaltspunkte: da muß etwas dran sein.</p> - -<p>Etwa 18½ Jahre alt heiratet William Shakespeare; eilig, mit nur -einmaligem Aufgebot und besonderer Erlaubnis des Bischofs. Die erfolgt -November 1582; Mai 1583 ist das erste Kind da, die Tochter Susanna. -Shakespeares Frau, Anna Hathaway, ist acht Jahre älter als er: 18:26.</p> - -<p>Daß es da stürmisch, unregelmäßig herging, ist sicher.</p> - -<p>Zwei Jahre darauf, 1585, gibt es Zwillinge: der Sohn Hamnet, der dann -als Elfjähriger in Stratford starb, die Tochter Judith.</p> - -<p>Von 1592 an ist Shakespeare in London als Schauspieler und -Theaterdichter bekannt.</p> - -<p>Wann er dahin gekommen ist, ob er einfach ausgerissen ist, wann er mit -Dichten anfing, wo er die Bildung her hatte, die sich von allem Anfang -an zeigt: nichts von alledem wissen wir; in nichts ist unsre Phantasie -behindert; keine Tatsächlichkeit stellt uns vor eine Unmöglichkeit oder -Unwahrscheinlichkeit.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_380" id="Seite_380">[S. 380]</a></span></p> - -<p>Nicht die geringste Nachricht, daß seine Frau und die Kinder je in -London gewesen wären.</p> - -<p>Dagegen wissen wir, daß Shakespeares Beziehungen zu Stratford nie -abbrachen, daß er früh begann, dort Grundstücke zu erwerben.</p> - -<p>In den Sonetten sehen wir ihn manchmal — schwermütig die Trennung vom -Freund beklagend — über Land reiten.</p> - -<p>1592 erscheint Heinrich VI., erster Teil auf der Bühne, 1593, 94 -erscheinen seine beiden Gedichtbände, von ihm selbst herausgegeben, von -1597 an ununterbrochen hintereinander im Anschluß an Aufführungen die -Quartbändchen, die seine Dramen drucken.</p> - -<p>1598 nennt ihn Meres als großen Dichter und zählt 12 seiner Stücke auf.</p> - -<p>1599 erlangt der alte Shakespeare das Recht, ein Wappen zu führen; -damit gehören er und seine Nachkommen zur <em>gentry</em>, einer Art -niedern Adels oder erhöhten Bürgertums; in den Dokumenten erscheint -der Dichter-Schauspieler jetzt als William Shakespeare, „Gentleman aus -Stratford“.</p> - -<p>Er erwirbt ganz ansehnliche Grundstücke in Stratford; auch ein Haus in -London.</p> - -<p>1607 heiratet seine Tochter Susanna, 24 Jahre alt, den Arzt John Hall, -1608 kommt sein Enkelkind Elisabeth zur Welt († 1670, und damit war -Shakespeares Nachkommenschaft zu Ende).</p> - -<p>Von 1612 an etwa — der Tradition zufolge — wird Shakespeare wieder -seinen Wohnsitz in Stratford gehabt haben.</p> - -<p>Januar 1616 erster Entwurf des Testaments, das dann wieder weggelegt -wird. Februar heiratet, 31 Jahre alt, die Tochter Judith einen -Stratforder Weinhändler.</p> - -<p>Am 25. März: Testament.</p> - -<p>Am 23. April — nach unserm Kalender 3. Mai — starb er.</p> - -<p>Die Grabschrift auf dem Grabstein — ich habe sie schon erwähnt — wird -von der Tradition auf ihn selbst zurückgeführt:</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_381" id="Seite_381">[S. 381]</a></span></p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">„Um Jesu willen, Freund, laß ab,</div> - <div class="verse">Den Staub zu stören hier im Grab.</div> - <div class="verse">Gesegnet der, so schont die Stein’!</div> - <div class="verse">Verflucht, wer rührt an mein Gebein!“</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Der Ton ist der übliche etwas bänkelsängerische Grabsteinton; die -Stimmung entspricht den Gedanken, die wir aus den Sonetten kennen:</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>Kümmert euch nicht um den Würmerfraß! laßt mich da drunten in Ruhe!</p></div> - -<p>In der Tat ist das Grab nie geöffnet worden, obwohl die -Shakespeareforscher und Kuriosen immer wieder Lust dazu verspürten und -die arme kranke Miß Bacon es jahrelang umkreiste und dort die Lösung -des Rätsels suchte.</p> - -<p class="mtop2">Und nun, wo in diesen kahlen Umrissen eines Lebens so unendlich viel -Platz ist, atmen wir einmal auf, denken wir einen Augenblick an den -unsäglichen Reichtum von Lebendigkeit aus Zeiten und Schicksalen in den -Werken dieses Dichters, hören wir eine Stimme aus einer der Tragödien.</p> - -<p>Bürger Roms, leidenschaftlich aufgepeitschte wollen wir sein, eben ist -der große Cäsar ermordet worden, Antonius steht auf dem Forum über dem -Leichnam und ruft in die Menge:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">„Seht hier dies Pergament mit Cäsars Siegel,</div> - <div class="verse">Ich fand’s bei ihm, es ist sein letzter Wille.</div> - <div class="verse">Vernähme nur das Volk dies Testament,</div> - <div class="verse">— — — — — — — — — — — — — — — — </div> - <div class="verse">Sie gingen hin und küßten Cäsars Wunden — —“</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Wie hat dieser Shakespeare die Größe, die Gehobenheit, die Erhabenheit -des gebietenden, des über seinen Tod hinaus wirkenden Mannes immer -wieder gedichtet, gepriesen!</p> - -<p>Wie hat er selbst, in der großen Stimmung, wenn er zu dem Freunde -sprach, hie und da immer wieder sich der Unsterblichkeit seiner Zeilen -versichert!</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_382" id="Seite_382">[S. 382]</a></span></p> - -<p>Dürften wir nicht, wenn wir das Testament William Shakespeares -vernehmen sollen, irgendwie ein Vermächtnis des großen Mannes, wenn -nicht an die Menschheit, nicht an sein Volk, so doch an gleichstrebende -Freunde erwarten? Eine Verfügung wenigstens über seine Schriften, seine -Manuskripte? Oder doch — wir werden schon ganz bescheiden — über die -Bücher seiner Bibliothek?</p> - -<p>Aber nichts, nichts von alledem hören wir.</p> - -<p>Ich gestehe aufrichtig, es überläuft mich jedesmal kalt, wenn ich an -Shakespeares Testament denke.</p> - -<p>Die Echtheit ist nie bezweifelt worden, ist wohl auch nicht zu -bezweifeln, obwohl es keine saubere Reinschrift ist, sondern nur eine -erste Niederschrift mit Ausstreichungen und Einfügungen von seiten des -Notars (nicht Geistlichen). Von Shakespeare geschrieben ist darin nur -die sehr zittrige Unterschrift.</p> - -<p>(Diese und noch ein paar Unterschriften unter Aktenstücken: das ist -alles, was wir von seiner Hand haben.)</p> - -<p>Sehen wir von dem, was nicht da steht, ab, und ebenso von einer -kleinen nachträglich eingeschobenen Verfügung, so hat das Testament -im positiven Inhalt gar nichts Befremdliches: verfügt man über -wirtschaftliche Güter, so kann es sich nur um wirtschaftliche -Zweckmäßigkeit handeln. Shakespeares Besitz bestand im wesentlichen aus -Liegenschaften, und wie ein Bauer oder Edelmann hatte er den Wunsch, -daß diese Besitzung ungeteilt beisammen blieb. Sohn war keiner mehr -da; es sollten also die Häuser in Stratford und das in London und die -Grundstücke in Stratfords Umgebung alle an die älteste Tochter fallen, -von da nach dem Erstgeburtsrecht an Söhne; und gibt es in dieser -Linie keine Söhne mehr, an Söhne aus der Linie der zweiten Tochter -Judith. Die Linien starben aber beide schon in der nächsten Generation -aus. Judith wird mit 300 Pfund abgefunden, das sind nach heutigem -Geldwert etwa 48 000 Mark, die allmählich in Raten unter bestimmten<span class="pagenum"><a name="Seite_383" id="Seite_383">[S. 383]</a></span> -Bedingungen zu zahlen sind. Das bewegliche Vermögen fällt ebenfalls in -der Hauptsache der ersten Tochter anheim; dafür wird eben die zweite -mit Geld abgefunden. Legate werden ausgesetzt: für Shakespeares einzige -noch lebende Schwester, drei Schwestersöhne; zehn Pfund für die Armen -Stratfords, etwa 1600 Mark also; etliche Bekannte in Stratford; ferner -die drei ehemaligen Schauspielerkollegen Richard Burbage — der die -größten Gestalten Shakespeares verkörperte —, John Heminge und Henry -Condell — die dann die Werke herausgaben: die erhielten je 26 Shilling -8 Pence, über 200 Mark, für Ringe, die sie zu seinem Gedächtnis tragen -sollten; diese <em>In-memoriam</em>-Ringe entsprachen einem Brauch der -Zeit.</p> - -<p>In dem Entwurf, der dann Rechtskraft erlangte, ist nun ursprünglich -Shakespeares Frau, die ihn um 7 Jahre überlebte, mit keiner Silbe -erwähnt. Wäre sie unerwähnt geblieben, so könnten wir sagen, was die -ängstlich aufs Normale bedachten Biographen sowieso stark betonen: sie -war vor Not geschützt, sie hatte, woran kein Testament etwas ändern -konnte, ihr gesetzliches Witwenausgedinge: ein Drittel aller Einkünfte.</p> - -<p>Schön: wer denkt an Not?</p> - -<p>Aber die Tochter Susanna und ihr Mann erhalten alle -Einrichtungsgegenstände und Schmucksachen; deren Tochter Elisabeth -alles Silbergeschirr; die Tochter Judith eine vergoldete Schale; -Shakespeares Schwester seine sämtlichen Kleidungsstücke; seine Frau -zuerst nichts und dann, in einem nachträglich eingeflickten Sätzchen — -wer es nicht weiß, würde es nie erraten — das zweitbeste Bett.</p> - -<p>Wir wissen nichts; wissen nicht, ob die Ehe ganz zerfallen war; ob die -Frau krank, ganz siech oder gar schwachsinnig war, wissen auch nicht, -wie es um Geist und Gemüt William Shakespeares jetzt am Rande des -Todes, am Schluß eines körperlichen Verfalls, einer Zermürbtheit, die -er schon lange in sich gespürt hat, bestellt war, — — all das, was<span class="pagenum"><a name="Seite_384" id="Seite_384">[S. 384]</a></span> -ich hier sage, was ich kaum anzudeuten mich getraue, — — all das ist -möglich; wir wissen nichts. Wir wissen bloß, daß dasteht: für die Frau -das zweitbeste Bett, — und daß das der Dichter des Lear, des Hamlet, -des Macbeth verfügt hat, dieses ganze Testament, und weiter nichts, -kein Wort. (Die christliche Eingangsphrase und die Versicherung ... bei -guter Gesundheit, ohne Bedeutung.)</p> - -<p class="mtop2">Ist das ein Rätsel? Halte ich mein Versprechen, daß ich wahrlich dieses -Rätsel nicht lösen werde, wie dieser glühendste, wildeste und innigste -aller Menschen — ich sage nicht zu viel — alles, worin er wahrhaft -lebte, abbrach und sich irgendwie ins Bürgerliche verkroch, um da mit -dem Leibe, am Ende gar noch vorher mit dem Geiste zu sterben?</p> - -<p>Wir lösen es nicht, aber wir erblicken das ganze schauerliche Rätsel, -wenn wir unmittelbar nach diesem bürgerlichen Geschäftstestament das -geistige, das franziskanische Testament Shakespeares hören:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">„Seele, o arme Seele, Kern im Kot,</div> - <div class="verse">Im sündigen, des Aufruhrs frevelmächtig!</div> - <div class="verse">Was quälst du dich im Innern, leidest Not.</div> - <div class="verse">Und kleidest deine Außenwände prächtig?</div> - <div class="verse">Was wendest du bei also kurzer Pacht</div> - <div class="verse">So große Kosten auf dein eitles Haus?</div> - <div class="verse">Daß einst der Wurm, der Erbe solcher Pracht,</div> - <div class="verse">Die Last auffresse? Geht dein Leib so aus?</div> - <div class="verse">Dann wag’s, auf Kosten dieses Knechts zu leben,</div> - <div class="verse">Und laß ihn darben, daß dein Schatz sich mehre;</div> - <div class="verse">Für Himmelsgut sollst Erdentand du geben,</div> - <div class="verse">Sei außen fürder arm, dein Innres nähre!</div> - <div class="verse">Den Menschenfresser Tod, o Mensch, verzehr!</div> - <div class="verse">Ist Tod erst tot, dann gibt’s kein Sterben mehr.“</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Dieses 146. Sonett steht, in der letzten Abteilung der Sonette, mitten -in der Auseinandersetzung des Dichters<span class="pagenum"><a name="Seite_385" id="Seite_385">[S. 385]</a></span> mit dem Weibe, mit seinem -Weibe, der Art Weib, die ihm so arg zu schaffen machte.</p> - -<p>Von seiner Frau rede ich hier nicht, von der Geliebten in London, die -die Frau eines andern gewesen war, der noch lebte.</p> - -<p><em>Fair is foul, and foul is fair</em>: schön ist wüst, und wüst ist -schön — so haben wir es von den Hexen im Macbeth gehört.</p> - -<p>Und ganz ähnlich klingt’s in dem ersten dieser Weibsonette: Schwarz -soll jetzt als Schönheit gelten, soll der Erbe der Schönheit sein, denn -Schönheit muß sich wie ein Bastard verstecken.</p> - -<p>Jetzt, wo jede Hand künstlich die Kräfte der Natur anwendet und das -Häßliche schön macht — <em>fairing the foul</em> — jetzt lebt Schönheit -in Schmach und Verbannung.</p> - -<p>Drum sind die Augen der Geliebten schwarz: sie tragen Trauer um die, -die, nicht schön geboren, doch der Schönheit nicht entbehren; doch -in ihrer Trauer werden sie schön, durch das Seelische, das aus ihnen -spricht.</p> - -<p>Es ist zweifelnde Liebe, unwillige Liebe: der Dichter ist gespalten in -Trieb und Geist: oben wohnt einer, der sich wehrt; unten treibt etwas, -und es kann sich nicht frei machen.</p> - -<p>Drum analysiert er sie, zerlegt ihre Reize.</p> - -<p>Was ist denn an ihr?</p> - -<p>Und — fast gegen seinen Willen, so klingt es, so soll es klingen, denn -es ist ein Kunstwerk — entsteht aus der kritischen Prüfung ihrer Reize -das Lob der Geliebten.</p> - -<p>In lauter Skepsis ist es doch ein entzückend kecker Einfall, so zu -loben:</p> - -<div class="blockquot"> - -<p>Ihre roten Lippen — Korallen sind eigentlich röter; Schnee strahlt -doch noch heller als ihre Brüste... Ich hör’ sie gern reden, aber -Musik klingt doch noch schöner; eine Göttin hab’ ich zwar nie -wandeln sehen, aber den Boden berührt die Geliebte immerhin: —</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_386" id="Seite_386">[S. 386]</a></span></p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">„Und dennoch ist mein Lieb so wohlgefügt,</div> - <div class="verse">Wie irgendeins, von dem ein Dichter lügt.“</div> - </div> - </div> -</div> - -</div> - -<p>Aber dann kommen die so ganz andern Töne, wo er nicht mehr zweifelnd -spielt, sondern ingrimmig verzweifelt, wie wenn alles Heil verspielt -wäre.</p> - -<p>Da ist das 129. Sonett, das ich Ihnen, als ich von Cleopatra sprach, -in Prosa mitteilte, möge es jetzt, wennschon viel verloren geht, -als Dichtung erklingen. Es wirkt noch stärker und schauriger, wenn -wir das wissen, daß es unmittelbar solchem Spiel folgt und wieder -vorhergeht. Solch ein Spiel mit kritischer Liebe, das nicht will, -aber muß, hat mancher Dichter, etwa Heine, auch getrieben; aber dann -diese irdisch-höllische Liebe in so wahrhaft biblisch-gewaltigen Tönen -verfluchen, das finden wir nur bei Shakespeare. Das Spielerische, das -Innige des Hohen Liedes ist da,</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">Schwarz bin ich und doch lieblich,</div> - <div class="verse">Ihr Töchter Jerusalems — —,</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>aber bei Shakespeare wendet sich die ganze glühende Leidenschaftsgewalt -im selben Zusammenhang ebenso von der Liebe ab wie vorher und nachher -der Liebe zu.</p> - -<p>Das ist die Notwendigkeit der Natur und des Geistes, wie er sie eben in -diesem Sonett erklärt:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">„Geübte Wollust ist des Geists Verschwendung</div> - <div class="verse">In wüste Schmach; Wollust ist bis zur Tat</div> - <div class="verse">Meineidig, mördrisch, blutig, voll Verblendung,</div> - <div class="verse">Roheit, Ausschweifung, Grausamkeit, Verrat.</div> - <div class="verse">Genossen kaum, verachtet allsogleich,</div> - <div class="verse">Sinnlos erjagt, und wenn ihr Ziel errungen,</div> - <div class="verse">Sinnlos gehaßt, dem gift’gen Köder gleich,</div> - <div class="verse">Gelegt, um toll zu machen, wenn verschlungen.</div> - <div class="verse">Toll im Begehren, toll auch im Genuß;</div> - <div class="verse">Gehabt, erlangt, verlangend — ohne Zaum;</div> - <div class="verse">Im Kosten Glück, gekostet Überdruß,</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_387" id="Seite_387">[S. 387]</a></span> <div class="verse">Im Anfang Seligkeit, nachher — ein Traum.</div> - <div class="verse">Das alles weiß die Welt, doch keiner flieht</div> - <div class="verse">Den Himmel, der uns so zur Hölle zieht.“</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Es muß im Ausdruck dieser Frau etwas bezaubernd Seelenvolles gewesen -sein, was sich dann in ihrem Tun und Lassen nicht bewährte.</p> - -<p>Erinnern wir uns an das Bild, das er von Cleopatra, der hysterischen -und eben darin zauberhaften Frau, entworfen hat; so ähnlichen Eindruck -bekommen wir auch hier:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">„Euch Augen bin ich hold, die voll Bedauern,</div> - <div class="verse">Derweil mich mit Verachtung quält dein Herz,</div> - <div class="verse">In schwarzem Schleier liebend mich betrauern,</div> - <div class="verse">Mit edlem Mitleid schauend meinen Schmerz.“</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und dann kommt die Entwicklung der äußern Handlung auch in diesem Teil: -bald spielerisch, bald in wild-vezweifelndem Ausbruch hören wir von dem -Verhältnis der drei Menschen zu einander:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">„Kannst du dich nicht mit meiner Qual bescheiden,</div> - <div class="verse">Muß auch mein Freund ein Knecht der Knechtschaft sein?“</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">„Er ging von mir; du hast statt Eines Zwei;</div> - <div class="verse">Er zahlt das Spiel, und doch bin ich nicht frei.“</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und wie Antonius im Wutausbruch die zweideutige Geliebte wie eine -Dirne behandelt, so hören wir auch den Sonnettendichter Shakespeare -selbst seine Liebste „<em>the wide world’s commonplace</em>“, den -gemeinsam-gemeinen Jedermanns-Ort schelten.</p> - -<p>Dann aber wird dieses Zwiefache, in dem jeder der drei Menschen steht, -wo sie zu dreien einen Reigen, einen Totentanz bilden, in dem jeder -den andern an der Hand hält, und ihre Plätze immer neu tauschen, wie -programmatisch auf die Höhe des ewigen Kriegs zwischen Seele und Leib, -zwischen irdischer und himmlischer Liebe gehoben:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">„Zwei Lieben hab’ ich, die mein Trost und Bangen,</div> - <div class="verse">Die wie zwei Geister üben ihre Macht.</div> - <div class="verse">Der gute Geist ein Mann in Schönheitsprangen,</div> - <div class="verse">Ein Weib der böse, dunkel wie die Nacht.</div> -<span class="pagenum"><a name="Seite_388" id="Seite_388">[S. 388]</a></span> - <div class="verse">Das weiblich Böse rüstet mich zur eil’gen</div> - <div class="verse">Verdammnis, drum entführt sie mir den guten,</div> - <div class="verse">Und wandelt’ gern zum Teufel meinen Heil’gen,</div> - <div class="verse">Sein Herz umbuhlend mit verruchten Gluten.</div> - <div class="verse">Ob er verwandelt, ob er rein geblieben,</div> - <div class="verse">Vermuten kann ich’s, kann es nicht bestimmen;</div> - <div class="verse">Doch weil die Zwei mich nicht, nur sich noch lieben,</div> - <div class="verse">Wird einer in des andern Hölle glimmen.</div> - <div class="verse">Allein mein Zweifel wird sich nimmer lösen,</div> - <div class="verse">Bis einst mein Engel flieht, versengt vom Bösen.“</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Wahrhaftig, es gehört viel dazu, ein so arges, zweifelndes Trieb- -und Liebeserlebnis nicht bloß mildernd und stillend zum Spiel -hinabzustimmen, sondern es so, wie es hier geschieht, zur Höhe des -Symbols zu erheben.</p> - -<p>Was ihm, ihm im wirklichen, persönlichen Leben das Schicksal bereitet -hat, diese seine Freundschaftsliebe zu dem bestimmten hellen Mann, -diese seine Brunstliebe zu der dunklen Frau, und daß nun die beiden -sich zu einander, gegen einander wenden, das erlebt er als Gleichnis, -mit der Düsterkeit seines Gemüts als Verheißung trostlosen Ausgangs: -hat der böse Geist den guten ganz an sich gezogen, so ist sein, des -Dichters Schicksal erfüllt: die böse Macht hat gesiegt.</p> - -<p>Hier empfindet er sein Leben und die Gewalten, die von außen in sein -Leben eingreifen, so, wie er’s im Macbeth dargestellt hat: innen und -außen — es ist ein dämonischer Zusammenhang; wie der Träger der -Wünschelrute ein metallisches Element in sich hat, das die Metalle im -Erdinnern grüßt und lockt, so besteht eine geheime Kongruenz zwischen -den Strömen in unserm Gemüt und den Kräften und Wesen draußen, zu denen -es uns, die es zu einander von uns her hinzieht.</p> - -<p class="mtop2">Mehr als einmal im Lauf dieser Vorträge habe ich auf einen großen Mann -des Geistes, einen Zeitgenossen und Lands<span class="pagenum"><a name="Seite_389" id="Seite_389">[S. 389]</a></span>mann Rembrandts, auf den -spanisch-holländischen Juden Spinoza hinzuweisen gehabt, der 16 Jahre -nach Shakespeares Tod geboren wurde.</p> - -<p>Was wir bei Shakespeare immer wieder als letzten Sinn der Dramen -erleben, daß der Triebmensch, auch wenn er ein gebietender Fürst ist, -ein Knecht, ein Sklave ist, daß der Geist aber frei macht, das haben -wir jetzt eben wieder in den Sonetten gehört, in der Klage, die sich an -die Wollust richtet:</p> - -<div class="poetry-container"> - <div class="poetry"> - <div class="stanza"> - <div class="verse">„Muß auch mein Freund ein Knecht der Knechtschaft sein?“</div> - <div class="verse">„Und doch bin ich nicht frei.“</div> - </div> - </div> -</div> - -<p>Und so hat es Spinoza seiner Ethik zugrunde gelegt:</p> - -<p>„Die Ohnmacht des Menschen zur Mäßigung oder Hemmung seiner Affekte -nenne ich Knechtschaft; denn der von seinen Affekten abhängige Mensch -ist nicht Herr seiner selbst, sondern dem Schicksal untertan.“</p> - -<p>Nicht Herr seiner selbst, sondern dem Schicksal untertan — das Thema -der großen Charaktertragödien Shakespeares.</p> - -<p>Und dann folgt bei Spinoza eine Analyse der verschiedenen -Erscheinungsformen der Knechtschaft, in der kühlen Begriffssprache so -unerbittlich scharf, so vollendet und letztgiltig, wie Shakespeare -diese Musterkarte in seinen Dramen in lebendiger Anschaulichkeit -entworfen hat.</p> - -<p>Und haben wir nicht eben als höchsten Gipfel von Shakespeares Leben, -als sein Vermächtnis, zu dem er in glühenden Kämpfen kaum für seine -Wirklichkeit, nur für seine Sehnsucht, für seinen Glauben gekommen ist, -die Botschaft von der Überwindung des Todes gehört?</p> - -<p>Wende nichts mehr an das Außen, nichts mehr an den Leib und seine -Triebe, sei außen arm, nähre deine Seele!</p> - -<p>Entringe dich, so heißt das, der Knechtschaft der Triebe, du -vernünftiger, du geistiger Mensch, sei frei!</p> - -<p>Genau so hören wir’s von Spinoza, der’s nicht, wie der Phantasie- und -Leidenschaftsmensch, sich mit dem Leben erarbeiten mußte, bei ihm nicht -als ersehnten Gipfel glühend eruptiven Lebens, sondern als stille Höhe -der Weisheit:</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_390" id="Seite_390">[S. 390]</a></span></p> - -<div class="blockquot"> - -<p>„Der freie Mensch denkt an nichts weniger als an den Tod, und seine -Weisheit besteht im Nachdenken über das Leben und nicht über den -Tod.“</p></div> - -<p>Das ist das Letzte und Höchste, wozu Shakespeare der Dichter gekommen -ist. Das ist der Gipfel, die Krone seiner Persönlichkeit, wenn wir mit -Fug und Recht als die Persönlichkeit eines Dichters, eines Künstlers -nicht das nur nehmen, was äußerlich in die Welt hinein ragt, sondern -was innen eine neue Welt, einen neuen Menschen schafft und in den -Werken der Kunst verkörpert.</p> - -<p class="mtop2">Wir haben ja doch wahrlich heutigen Tags eine ganz andre biographische -Neugier als Shakespeares Zeitgenossen, aber nehmen wir doch einmal ein -Beispiel.</p> - -<p>Wie gräßlich unbegreiflich, was für ein widerwärtiges Rätsel wäre uns -der große Vincent van Gogh in seinem persönlichen Leben, wenn wir für -dieses Leben angewiesen wären auf die Berichte seiner Verwandten, -Bekannten und Freunde, und auf die amtlichen Dokumente.</p> - -<p>Nur dadurch, daß wir die wundervollen Briefe dieses Mannes haben, -kennen wir die heilige Glut seines reinen Innern; außen in dieser -unsrer Welt wurde das Schöne wüst; gehen wir in ihn hinein, so wird das -Wüste schön, wie in seinen Bildern.</p> - -<p>Und dasselbe gilt für Courbet, dasselbe für Verlaine, für Oscar Wilde, -für so viele andre, für alle, die das Reine, das Hohe, das Göttliche -nicht in der Ruhe des Denkens, sondern in der Glut der Gesichte, der -Gestalten, des Lebens suchen mußten, die es sich erarbeiten mußten, -indem sie sich durch das Leben, durch alle Triebe durcharbeiten mußten.</p> - -<p>Nicht wie eine Spinne im Netz konnte Shakespeare in Stille verweilen, -bis ein Gewalträcher seiner Natur wie Richard III., ein -adliger Wutmensch wie Othello, ein junger, stechender, unerbittlicher -Umklammerer wie Jago, ein finsterer, nur auf Eines starrender, von -Einem gebannter<span class="pagenum"><a name="Seite_391" id="Seite_391">[S. 391]</a></span> Machtmensch wie Macbeth, eine universell tändelnde, -amoralische, berückende, geniale Machtnatur wie Antonius, bis all diese -all-alle Männer- und Frauen-, Greisen- und Mädchengestalten in seinem -Netz hängen blieben.</p> - -<p>Ich glaube nicht, daß er viel nach Modellen arbeiten konnte, die er -kühl, unbeteiligt beobachtete; denn er entdeckte so bis ins letzte und -tiefste ihre innerste, verräterische Wurzel, daß wir notwendig annehmen -müssen: mit den Menschen, die er so kannte, hat er gelebt, mit ihnen -hat er erlebt: die Phantasie, die ihm half, war glühendes Hineinbohren, -gleichviel, ob Liebe oder Haß oder gar wohl auch einmal Neid: er hat -sich so in ihre Seele, in ihre Lage versetzt, daß er lebte, als wenn er -sie wäre.</p> - -<p>Wer das kann, wer das muß, — nun, wundern wir uns nicht mehr, daß -William Shakespeare, der Schauspieler, der Dramatiker, der Künstler in -seinen Sonetten sich der Schmach und Sünde anklagt: wer so inständig -Glut der Seelen und Flammen der lodernden Leidenschaft miterlebte, -nacherlebte, vorerlebte, der war mehr als einmal, in Gedanken, in -Wünschen, im Spiel, in Wirklichkeit, gleichviel, ein Verbrecher. Wilde, -flammende, zehrende, vernichtende Leidenschaft, gebändigt durch Form, -die Beschränkung und Verklärung ist, das war sein Wesen, das war sein -Weg.</p> - -<p>Die Sonette sind die Briefe Shakespeares, die uns erhalten geblieben -sind; Briefe nur an einen oder zwei bestimmte Adressaten, Briefe auch, -die keine bloß persönlichen Dokumente, die Kunstwerke sind, aber von -hier aus dringen wir in die Seele des Menschen, hier ist der Punkt, wo -die Werke, die Dramen sich mit dem Menschen, mit der Persönlichkeit zu -einem verbinden.</p> - -<p class="mtop2">Könige aller Sorten; Mörder, Säufer, Beutelschneider, Tunichtgute, -Bordellwirte, — sie alle haben uns keine Geständnisse gemacht, wie -tief sie Shakespeare durchschaut hat.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_392" id="Seite_392">[S. 392]</a></span></p> - -<p>Wollen wir für dieses sein unbegreifliches, nie so erreichtes Talent, -sich in Lagen, Tätigkeiten, Berufe bis ins einzelne zu versetzen, -Zeugnisse haben, so müssen wir uns in ungefährlicheres Fahrwasser -begeben.</p> - -<p>Niemals, in der weiten Welt, im Lauf aller uns bekannten Zeiten -ist ein Dichter so einhellig von den Fachmännern bewundert worden -wie Shakespeare: Die Juristen, besonders die Advokaten, die Jäger, -besonders die von der Falkenbeize, die Ärzte, besonders die Irrenärzte, -sagen, er müsse irgendwann in seinem Leben einmal einer der ihren -gewesen sein. Zoologen, besonders Entomologen, Botaniker, Gärtner, -Navigationskundige, Musiker, Maler, Buchdrucker, Physiologen, alle -haben sie spezielle Bücher geschrieben, in denen sie aufzeigen, wie -erstaunlich viel Shakespeare von ihrem Fach verstanden habe, und wie -weit er darin seiner Zeit voraus gewesen sei.</p> - -<p>Er hat geologische Anschauungen geäußert, ehe es eine Wissenschaft der -Geologie gab; er hat die Lehre von der Blutzirkulation gekannt, die -Harvey erst bekanntgab, als Shakespeares Blut nicht mehr zirkulierte; -er, der sich nichts draus machte, in Märchenstücken alle Zeiten und -Kulturen durcheinanderzubringen und ein Nirgendwo am Meeresstrand -Böhmen zu nennen, hat Verhältnisse und einzelne Umstände in Oberitalien -so genau gekannt, daß manche Gelehrte drauf schwören, er müsse dort -gewesen sein.</p> - -<p>Das, diese Kenntnisse, die Shakespeare an den Tag legt, bringt ja die -Baconianer hauptsächlich dazu, einen Mann der Wissenschaft hinter dem -Dichter zu suchen.</p> - -<p>Wie wenig ahnen sie von der Differenzierung des Geistes!</p> - -<p>Dieser Bacon, der noch nicht einmal das kleinste Gedicht -zurechtstümpern konnte, war ein echter Mann der Forschung, der Kritik, -der wissenschaftlichen und denkerischen Sprache.</p> - -<p>Shakespeares Wissen war völlig andrer Art; war immer mit Anschauung, -immer mit Intuition, immer mit einer bestimmten Lebenssphäre verbunden, -die es zu gestalten galt.</p> - -<p><span class="pagenum"><a name="Seite_393" id="Seite_393">[S. 393]</a></span></p> - -<p>Hätte ihm einer die Aufgabe gestellt, eine botanische Abhandlung -über die Flora von Warwickshire oder eine über das Leben der Bienen -zu schreiben, er hätte es keineswegs gekonnt oder, wenn’s hätte sein -müssen, wäre es ganz armselig geworden.</p> - -<p>Im Zusammenhang aber von Erlebnissen, in Gemeinschaft mit Gefühlen und -Leidenschaften strömten ihm als Gleichnisse die Erinnerungen zu, und -verstand er es überdies, sich all das aus Büchern, aus Gesprächen, aus -der Umschau, in der freien Natur und im Handwerk zu holen, was er im -Zusammenhang seines Schaffens, seiner bestimmten Zwecke brauchte. Wenn -etwas gewiß ist, so gerade das, daß Shakespeare gar nichts Lehrhaftes -an sich hatte, daß es ihm nie auf die Verbreitung oder auch nur -Behauptung einer Ansicht ankam; jede Anschauung, die er äußerte, stand -immer im Zusammenhang mit einer bestimmten Seite des Menschenwesens, -mit bestimmtem Erleben eines Charakters. Und so bleiben uns diese -wissenschaftlichen, all diese Erkenntnis- und Beobachtungsäußerungen -auch nur im Gedächtnis im Zusammenhang mit Gefühlen, Repliken, -Ausbrüchen; wir empfinden es als völlig unshakespearisch, wenn die -Gelehrten solche Äußerungen jede für sich aus ihrem Gefüge lösen und -zusammenstellen.</p> - -<p>Auch Homer, den man am ehesten mit Shakespeare in einem Atem nennen -darf, hat sich auf Wagenbau, auf Tischlerei, auf Waffenhandwerk, aufs -Schmiedehandwerk, auf Obstbau, auf Schiffahrt, auf Schweinezucht -trefflich verstanden, — aber noch niemand ist auf die Idee gekommen, -der Dichter Homer müsse mit dem Mann der Wissenschaft Pythagoras -identisch sein.</p> - -<p>Bei ihm ist’s auch nicht nötig; er hat das Glück, daß man von seinem -Leben gar nichts weiß; er lebt nur in seinen Gedichten.</p> - -<p class="mtop2">William Shakespeare wollte ich im ersten dieser Vorträge weniger in -seine Zeit hineinstellen, als in seiner fast<span class="pagenum"><a name="Seite_394" id="Seite_394">[S. 394]</a></span> schreckhaft-starken -Vereinzelung von seiner Zeit abheben; siebzehnmal habe ich dann in -seine Werke geführt, und in Liebestragödien, in Liebesspielen, in -Machthabertragödien haben wir seine Persönlichkeit gefunden, nie -einseitig in einer Gestalt ausgeprägt, vielmehr immer allseitig, -immer beidseitig, immer das Tier und die Hoheit, den Trieb und die -Vernunft, den Mann der Gier und die adlige Frau, und das verderbliche -Weib und den seelenvollen Mann, alle in ihrem Recht, der Ritterkönig -und Falstaff, der herrliche Hektor und der gemein zausende, geifernd -kritische Thersites; nie einer ein Typus bloß, immer ein einmaliger, -ganz individueller Vertreter dieses Typischen.</p> - -<p>Im 19. der Vorträge habe ich Sie dann von den Werken, von der -Sonettendichtung zur Person Shakespeare, heute aber schnell und fast -scheu von der Person zurück den Weg zur Persönlichkeit führen wollen, -wie sie sich in den Dichtungen offenbart.</p> - -<p>Ich für meine Person habe es in diesen Vorträgen wohl nicht immer -vermieden, persönlich zu sein; und der furchtbare und für die -Menschheit vielleicht entscheidend wichtige Zeitabschnitt, in dem wir -stehen, hat, ich fühle es selbst, auf meine Art, Shakespeare zu sehen, -bestimmend eingewirkt. Der Weg vom Trieb zum Geist hinauf, Shakespeares -schwerer und gefahrvoller Weg ist auch der Weg vom Krieg zum Frieden, -vom Tod zum Leben, — ich glaube es, gleichviel, wie lang und gewunden -dieser Weg noch sein mag.</p> - -<p class="s4 mtop2 center"><em class="gesperrt">Ende</em></p> - -<hr class="full" /> - - - - - - - - -<pre> - - - - - -End of Project Gutenberg's Shakespeare (Volume 2 of 2), by Gustav Landauer - -*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SHAKESPEARE (VOLUME 2 OF 2) *** - -***** This file should be named 52013-h.htm or 52013-h.zip ***** -This and all associated files of various formats will be found in: - http://www.gutenberg.org/5/2/0/1/52013/ - -Produced by Mark C. Orton, Itay Perl, Reiner Ruf, and the -Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net -(This book was produced from scanned images of public -domain material from the Google Books project.) - -Updated editions will replace the previous one--the old editions will -be renamed. - -Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright -law means that no one owns a United States copyright in these works, -so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United -States without permission and without paying copyright -royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part -of this license, apply to copying and distributing Project -Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm -concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, -and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive -specific permission. 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General Terms of Use and Redistributing Project -Gutenberg-tm electronic works - -1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm -electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to -and accept all the terms of this license and intellectual property -(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all -the terms of this agreement, you must cease using and return or -destroy all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your -possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a -Project Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound -by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the -person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph -1.E.8. - -1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be -used on or associated in any way with an electronic work by people who -agree to be bound by the terms of this agreement. 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