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-Project Gutenberg's Shakespeare (Volume 2 of 2), by Gustav Landauer
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-Title: Shakespeare (Volume 2 of 2)
- Dargestellt im Vorträgen
-
-Author: Gustav Landauer
-
-Editor: Martin Buber
-
-Release Date: May 6, 2016 [EBook #52013]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SHAKESPEARE (VOLUME 2 OF 2) ***
-
-
-
-
-Produced by Mark C. Orton, Itay Perl, Reiner Ruf, and the
-Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
-(This book was produced from scanned images of public
-domain material from the Google Books project.)
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- Anmerkungen zur Transkription:
-
- Der vorliegende Text wurde anhand der 1922 erschienenen Buchausgabe
- so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Zeichensetzung
- und offensichtliche typographische Fehler wurden stillschweigend
- korrigiert bzw. ergänzt. Einige altertümliche Wortformen wurden vom
- Autor offenbar in illustrativer Absicht eingefügt; diese Begriffe
- wurden nicht verändert. Unterschiedliche Schreibweisen wurden nicht
- vereinheitlicht.
-
- Im Originaltext beginnen neue Absätze ohne Kennzeichnung durch
- Einrückungen oder vergrößerte Zeilenabstände. In einzelnen
- Fällen mussten daher vom Bearbeiter willkürliche, aber möglichst
- sinngemäße, Entscheidungen bezüglich des Beginns eines neuen
- Absatzes getroffen werden.
-
- Wie bei den meisten Frakturschriften üblich, kann auch im Original
- zwischen den Großbuchstaben ‚I‘ und ‚J‘ nicht unterschieden werden.
- Die Zuordnung erfolgte in einigen Fällen gezwungenermaßen rein
- willkürlich; obwohl beispielsweise die Schreibweisen ‚Iago‘ und
- ‚Jago‘, sowie ‚Iachimo‘ und ‚Jachimo‘ gleichermaßen bekannt sind,
- wurden in diesem Text die Formen ‚Jago‘ bzw. ‚Jachimo‘ verwendet.
-
- Die Originalausgabe enthält am Ende des vorliegenden zweiten
- Teiles ein Inhaltsverzeichnis für beide Bände, welches in der
- elektronischen Fassung der Übersichtlichkeit halber vom Bearbeiter
- an den Beginn des Textes gestellt wurde.
-
- Gesperrt gedruckte Passagen wurden mit _Unterstrichen_
- gekennzeichnet; Stellen in Antiquaschrift sind von ~Tilden~ umgeben.
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- Gustav Landauer
-
- Shakespeare
-
- Dargestellt in Vorträgen
-
-
- Zweiter Band
-
-
- 1922
-
- Literarische Anstalt Rütten & Loening
- Frankfurt am Main
-
-
-
-
- Alle Rechte, besonders die der Übersetzung, vorbehalten
-
- ~Copyright 1920 Literarische Anstalt
- Rütten & Loening, Frankfurt a. M.~
-
-
- 6. bis 10. Tausend
-
-
- Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
-
-
-
-
-Inhaltsverzeichnis
-
-
-_Erster Band_
-
- Seite
-
- Vorwort V
-
- Romeo und Julia 1
-
- Der Kaufmann von Venedig 42
-
- König Johann 91
-
- Julius Cäsar 139
-
- Hamlet 189
-
- Troilus und Cressida 256
-
- Othello 303
-
-
-_Zweiter Band_
-
- Maß für Maß 1
-
- Macbeth 48
-
- König Lear 80
-
- Antonius und Cleopatra 130
-
- Timon 160
-
- Coriolan 189
-
- König Zymbelin und Das Wintermärchen 238
-
- Der Sturm 269
-
- Die Sonette 318
-
- Shakespeares Persönlichkeit 371
-
-
-
-
-Maß für Maß
-
-
-Von dem Augenblick an, wo ein Registrator sich auf den Himmelsthron
-setzt und mich als gebietender Gott zwingt, Shakespeares Stücke
-ordentlich auf die gehörigen Rubriken zu verteilen, werde ich
-Troilus und Cressida zu den ganz großen Tragödien, Maß für Maß aber
-unbedenklich als größte zu Shakespeares Komödien stellen. Eine Komödie
-größter Art ist dieses Stück gerade darum, weil es seinem Stoff nach
-durchaus tragisch ist; die Komik liegt nicht im entferntesten in den
-Geschehnissen, die zur Höhe der Handlung emporgeführt werden, nicht
-einmal eigentlich in der Art, wie der Dichter die Welt, in der diese
-Dinge geschehen, ansieht: die größte Schärfe des Blicks und Bitterkeit
-der Stimmung ist mit unsäglich liebender Innigkeit und verzeihender
-Milde verbunden, so daß ein Umfang der Empfindung von einer Weite und
-Höhe entsteht, die man Heiterkeit oder Humor nur nennen kann, wenn man
-jeglichen Beigeschmack von Vergnüglichkeit oder idyllisch kauziger
-Beschränktheit aus diesen Begriffen entfernt; die Komik liegt vor allem
-in der gleich von Anfang an vorbereiteten Wendung, die die Handlung
-auf ihrem Höhepunkt nimmt: ein geheimer Lenker, ein ~deus~ nicht ~ex
-machina~, sondern ~ex anima~ ist da, der mit einer liebenswürdigen
-Grazie ohnegleichen wilde Wallungen besänftigt, schroffe Gegensätze
-ausgleicht und den pochenden Schmerz der Leidenschaften in sinnvollen
-Scherz und ernstes Spiel verwandelt. Wie wenn ein ironischer Gott
-die Menschen erschaffen hätte und nun als Zuschauer sie frei
-gewähren ließe, bis ihre Leidenschaften und Widersprüche zu solchen
-Verwicklungen und Konflikten geführt hätten, daß sie ohne sein
-Eingreifen verderben müßten, und dann käme er und lenkte sie mit
-sanfter Bestimmtheit, wohin er sie haben will, so erschafft der Herzog
-dieser Komödie einen Fürsten an seiner Statt mit dem Vorbehalt, ihm
-eine Weile zuzusehen, zur rechten Zeit aber einzuschreiten. Die Ironie
-weckt die Tragik und gestattet ihr ihre verzerrte Bahn, bis es der
-Pein und des Frevels genug und schon fast zu viel ist und die Ironie
-wieder die Herrschaft antritt.
-
-Shakespeares Lustspiele könnte man einteilen in die Spiele, in denen
-alle Erdenschwere in Ironie, Musik, Traum und Geisteszauber aufgelöst
-scheint; dahin gehören der Sommernachtstraum und der Sturm; auch der
-Kaufmann von Venedig, nur daß da das Geisterhafte ganz vom Menschlichen
-und Natürlichen bestritten wird; und in die Stücke, die zwar oft in
-dieses Reich hineinragen, deren Leichtigkeit und Spielerei aber zum
-Teil auch daher kommen, daß der Dichter in ihnen etwas auszuruhen
-scheint, nicht nur die Probleme, sondern auch die Durchführung leichter
-nimmt und sich eine Umbiegung der Charaktere je nach dem Erfordernis
-der Handlung und Bühnenwirkung keineswegs immer verbietet; Was ihr
-wollt, Wie es euch gefällt, Viel Lärm um nichts sind die vollendetsten
-Exemplare dieser Gattung. Aus diesem Bezirk ins Reich der großen,
-bitter ernsten Komödie hebt sich Ende gut, alles gut, ohne die letzte
-Vollendung zu erreichen. Diesem Schauspiel ist Maß für Maß in mehr
-als einem Punkte benachbart; hier aber ist die Vollendung erreicht,
-und die Wendung zum Sinnspiel bringt diese Dichtung wieder in die
-Nähe der Gattung menschlich-natürlicher Märchen, die Der Kaufmann von
-Venedig repräsentiert, nur daß im Kaufmann die Tragödie als alles
-überschattende Episode im Lustspiel steht, während in Maß für Maß die
-gesamte Handlung, in der alle Hauptpersonen stehn, zu tragischer Höhe
-ansteigt, bis vom Scheitelpunkt an die Tragik mählich gemildert und in
-Prüfung verwandelt wird.
-
-Der erste Druck, den wir von dem Stück haben, steht in der Folioausgabe
-von 1623. Nach einem Dokument, dessen Echtheit nicht völlig feststeht,
-wäre das Stück 1604 am Hof aufgeführt worden.
-
-Der Stoff findet sich zuerst in derselben Novellensammlung
-Hecatommithi von Giraldi Cinthio, in der sich auch die Novelle vom
-Mohren von Venedig findet; Shakespeare stützte sich aber überdies auf
-zwei Arbeiten von Georg Whetstone, die Komödie Promos und Kassandra
-(1578 gedruckt), und eine kurze Novelle, die er 1582 in der Sammlung
-~Heptameron of civil discourses~ herausgab. Die ursprünglichen Namen
-und Schauplätze Cinthios haben sowohl Whetstone wie dann wieder
-Shakespeare verändert. Shakespeares Herzog Vincentio von Wien ist bei
-Cinthio Kaiser Maximilian in Innsbruck, bei Whetstone König Corvinus
-von Ungarn und Böhmen; der Statthalter heißt erst Juriste und dann
-Promos; unsre Isabella bei Cinthio Epitia, bei Whetstone Kassandra; in
-all diesen Fassungen vor Shakespeare muß dies Mädchen um der Rettung
-ihres Bruders willen sich tatsächlich dem Statthalter hingeben; und aus
-der Umgestaltung dieses Hauptmotivs, die Shakespeare vornahm, ergibt
-sich schon, wie er mit dem äußern Stoff und innern Sinn im Kleinen und
-Großen frei geschaltet hat.
-
-Maß für Maß hat sehr vielen, die über Shakespeare geschrieben haben,
-aus demselben Grund und im nämlichen Grad unangenehme Gefühle und
-Verlegenheit erzeugt, wie Troilus und Cressida. Man hat von berühmten,
-geachteten und anerkannten Männern Urteile gehört, wie: das Stück sei
-auf _unsrer_ Bühne nicht möglich; für _unsern_ Geschmack dürfe bei
-einem solchen Motiv von komischer Behandlung und Wirkung keine Rede
-sein; _unser_ sittliches Gefühl werde in unerträglicher Weise verletzt;
-und die üblichen Epitheta sind: peinlich, abstoßend, widerlich. Mit
-alledem zeigen, die so schreiben, nur, daß sie für Shakespeare nicht
-reif sind; und daß ihresgleichen in Ehren und nicht in verlachtem
-Schimpf stehen, ist kennzeichnend für unsre öffentlichen wie geheimen
-Zustände.
-
-Ich sage von vornherein, daß mir Maß für Maß zu Shakespeares
-vortrefflichst gebauten, schlagkräftigsten, spannendsten,
-bühnenwirksamsten, innigsten, reinsten und reifsten, freiesten und
-tiefsten Schöpfungen gehört. Kann es denn für eine Komödie, das heißt
-für eine solche Darstellung von Gegensätzlichkeiten, über die wir
-lachen dürfen, weil wir sie in uns und um uns zugleich kennen und nicht
-kennen, in unsrer erbärmlichen Wirklichkeit kennen, in unserm Glauben,
-Wünschen und Umschaffen nicht kennen, kann es tauglichere Motive geben,
-sowie wir die Komik ernst genug nehmen und mit ihr nicht Vergnügliches
-betrachten, sondern wollend in unsrer eignen Zwiespältigkeit eine
-Entscheidung treffen? Wer, der in Betracht kommen will, ist denn durch
-elende Lustigkeit, bei der die Gemeinheit mit der Gemeinheit lacht,
-oder gar durch Frohsinn, bei dem der Philister mit den Philistern
-vergnügt ist, so verdorben, daß er nicht weiß, daß das echte Lachen
-der Komik ebenso gegen die Niedrigkeit Partei ergreift, wie die
-Ergriffenheit der Tragik für die Hoheit und Innigkeit eintritt? Ich
-habe das Wort Tränen hier vermeiden müssen, weil die Rührung allermeist
-erbärmlich geworden ist und weil bei diesen edeln Tropfen nicht mehr
-die adligen Gefühle der Teilnahme am Großen und Reinen, das beschmutzt
-und zu Fall gebracht wird, von den Regungen der Tröpfe zu unterscheiden
-sind; genau so ins Gemenge und in die Menge gekommen ist das Lachen,
-das eine Steigerung sein sollte und allermeist eine Erniedrigung oder
-Plattheit geworden ist.
-
-Maß für Maß zeigt uns die Macht und den Mißbrauch der Macht; das
-Verhältnis des wahren Menschen zu der Rolle, die er im Amt spielt;
-die hohe richterliche Pose; zeigt uns den Mann, der in einem idealen
-Wortgebäude wohnt, welches einstürzt, sowie der Sturm der Triebe
-kommt; den Anspruch des Staates, regulierend und sittlichend ins
-Geschlechtsleben einzugreifen, wobei sich dann ergibt: was für eine
-Erfindung, vom Staat zu reden, als ob das ein Gebilde übermenschlicher
-Art für sich wäre, und ist doch nur ein Name für Menschen und
-Untermenschen! Einen Fürsten sehen wir, der wie Harun al Raschid im
-Verborgenen, verkleidet, die Vorgänge in seinem Staat beobachtet,
-Zeuge wird, die Fäden lenkt, alles zum Guten wendet, der Milde und
-Nachsicht, vor allem aber Wahrheit an die Stelle der Strenge, der
-Übergriffe, der Heuchelei setzt; dazu kommen die Probleme des Rechts,
-vor allem des Strafrechts und geradezu der Strafrechtstheorie; der
-Moral und Moraltheorie, der Gnade, der himmlischen und irdischen Liebe,
-des Lebens und des Todes.
-
-Dazu ist die Sprache dieses Dramas nach Form und Gefühls- wie
-Gedankengehalt rein, reich, voll, kräftig, knapp; sie bringt Bilder
-von wundervoller Ausdrucksgewalt; die Komposition ist glänzend und
-sicher; die Abwechslung zwischen Verssprache und Prosa ist besonders
-weise abgestuft; die Szenen der niederen Komik, diese burlesken
-Scherzo-Variationen sowohl des erotischen wie des Beamtenthemas, die es
-mit den entsprechenden in Viel Lärm um Nichts getrost aufnehmen können,
-sind lustig, reich an Einfällen, famos; und selbst in diesem untern
-Bezirk ist das höchste tragische Motiv mit Fug in eine keineswegs bloß
-das Zwerchfell erschütternde, in eine schlechtweg erschütternde Komik
-gewandt: da haben wir den Mörder und Räuber, der lustig leben und
-sterben will.
-
-Dies Stück, das, wie jedes von Shakespeares bedeutenden, seinen Sinn
-nicht irgendwie sentenziös ausspricht, sondern sich deiktisch verhält,
-ist darum auch nur denen voll zugänglich, die schauend, Gegensätze
-schauend, empfindend, in der Phantasiesphäre zu denken vermögen, die
-überdies das, was ihnen plastisch, als bewegtes, dissonierendes Leben,
-als Gegensätze der Sphären, der Regungen, der Charaktere entgegentritt,
-aufzulösen und zu vereinigen wissen in der Musik, die durch dieses
-Stück so waltet wie in Rembrandts Schöpfungen. Das hat sehr schön Hugo
-von Hofmannsthal gesehen und zum Ausdruck gebracht, und besonders gut
-weist er auch auf diese gegenseitige Ergänzung des oberen und unteren
-Bereichs hin: „Welche Lichter auf dem Finsteren, welches Leben des
-Schattens durch das Licht.“
-
-Das Stück setzt, so wie der König Lear, in der Staatsszene, die den
-Eingang bildet, sofort mit einem Sprung in die Haupthandlung hinein:
-der Herzog entfernt sich aus Wien, seiner Hauptstadt, und übergibt aus
-besonderen Gründen dem jungen Angelo mit voller Statthalterhoheit das
-Regiment; einen alten, klugerfahrnen Mann, Escalus, der eigentlich das
-nächste Anrecht auf die Vertretung des Herzogs hätte, gibt er ihm nur
-als Gehilfen bei. Was sind das für Gründe besondrer Art? Was ist Angelo
-für ein Mann? Das merken wir, daß die besondern Gründe in ihm, in
-seiner Natur liegen; ihn selbst aber, wie er ist, zeigt uns der Dichter
-noch lange nicht; und auch, was der Herzog über ihn zu ihm selbst
-äußert, ist zwar von entscheidender Wichtigkeit, aber mit Absicht
-dunkel gehalten; so dunkel, daß die meisten Übersetzer, die ich habe
-prüfen können, -- zumal der neueste und doch wohl allerschlechteste,
-Hans Olden -- den Sinn verfehlt, oft ins Gegenteil verkehrt haben; der
-Herzog sagt:
-
- Angelo,
- Auf deinem Leben zeigt sich eine Prägung,
- Die dem, der aufmerkt, deinen Lebenslauf
- Völlig enthüllt. Du selbst und deine Gaben
- Sind nicht so ganz dein eigen, daß du dich
- An deine Tugenden, noch sie an dich
- Verschwenden darfst. Der Himmel macht’s mit uns,
- Wie wir’s mit Fackeln tun: um ihretwillen nicht
- Entzünden wir sie; wenn die Tugenden
- Aus uns heraus nicht flössen, wär’ es so,
- Als hätten wir sie nicht...
-
-Ein paar Szenen weiter, nachdem Angelo dem Rat, dem Gebot prompt
-gefolgt ist und schon begonnen hat, seine Tugenden in die Welt wirken
-zu lassen, hören wir vom Herzog in seinem Gespräch mit dem Bruder
-Thomas schon deutlicher, wie er’s gemeint hat: die scharfen Gesetze,
-über die das Land verfügt, hat dieser Fürst in den vierzehn Jahren
-seiner milden Regierung kaum zur Anwendung gebracht; so ist vielerlei
-Zügellosigkeit eingerissen,
-
- Die Freiheit zupft dem Rechte an der Nase;
-
-würde er selbst jetzt mit einem Male auf die Gesetze zurückgreifen, die
-fast vergessen wurden, so wäre das eine Härte, die er geneigt wäre,
-Tyrannei zu nennen. Denn hatte er nicht selbst all die Schlechtigkeiten
-geradezu geboten?
-
- Denn wir gebieten’s,
- Wenn wir der Übeltat den Freipaß geben,
- Anstatt der Strafe.
-
-Darum also soll Angelo,
-
- ein Mann
- Der keuschen Selbstbeherrschung und der Strenge,
-
-wie uns jetzt gesagt wird, den Gesetzen wieder Geltung verschaffen.
-Und mit den Worten, die wir vorhin hörten und die keineswegs bloß uns,
-die auch Angelo selbst dunkel bleiben sollen, hat er ihn dazu bringen
-wollen und dazu sofort dazu gebracht, aus sich herauszugehen und seine
-Tugenden -- im Anschluß an die alten Gesetze -- an die Anwendung zu
-lassen. Der Herzog hat aber, er deutet es Bruder Thomas schon an,
-noch einen geheimen Hintergedanken: nicht bloß sollen die Gesetze
-jetzt wieder zu Leben erweckt werden; diesen Statthalter, der nun auf
-öffentlichem Gebiet seine Tugenden ans Werk lassen soll, will er prüfen.
-
- Herr Angelo ist genau
- Und sieht sich vor. Kaum, daß er zugibt, Blut
- Fließ’ ihm in Adern oder es gelüste
- Ihn mehr nach Brot als Stein; die Probe lehrt,
- Wie sich im Machtbesitz der Schein bewährt.
-
-Nach diesen Worten sehen wir schon viel deutlicher in das Verhältnis
-des Herzogs zu dem jungen, begabten Mann, den er zu seinem Statthalter
-gemacht hat: etwas Strenges, Asketisches, Welt- und Wirkungscheues
-hat Angelo bisher an sich gehabt; drum hat der Herzog ihn ermahnt, er
-solle sein Licht der Welt leuchten lassen, solle seine Tugend auf die
-Menschen anwenden; und den weitesten Spielraum hat er ihm gelassen,
-überdies noch zu dem Versuch, in seinem Staat für Zucht und Ordnung zu
-sorgen. Bist du so tugendhaft, hier hast du Arbeit! Verschwende nicht
-deine Tugenden in dir, in sich selbst; gib ihnen entfesselte Freiheit,
-so wie in meinem Lande die bösen Triebe allzu lange diese Freiheit
-genossen haben.
-
-Das soll sich also nun zeigen; die Widersprüche der Menschennatur
-sollen an den Tag kommen; der Gegensatz von Schein und Wesen, vor allem
-von Reden und Handeln soll heraustreten. Ganze Systeme hat sich das
-Reden geschaffen: das System der Tugend oder die Moral; das System der
-Religion; das System des Rechts. Sie alle treten in diesem Stück auf
-und spielen ihre Rolle; und ihnen allen treten die leibhaften Tatsachen
-gegenüber und entlarven sie.
-
-Eine kleine Probe solcher Kritik bekommen wir gleich zu Beginn der
-zweiten Szene in einer kleinen episodischen Einlage. Der Herzog hat
-absichtlich seine Spuren verwischt; am Hof meint man, er sei in den
-Krieg gegen Ungarn gezogen; die Berufsoffiziere kennen aber seine
-milde, vernünftige Natur und fürchten, es könne zu einem Vergleich mit
-dem Feind kommen. Da seufzt einer den frommen Wunsch:
-
- Der Himmel schenk’ uns Frieden; nur nicht mit dem
- König von Ungarn!
-
-Und ein andrer ruft Amen dazu. Da spottet der Edelmann Lucio mit seinem
-bösen Mundwerk:
-
- Du amenst wie der andächtige Seeräuber, der sich mit den zehn
- Geboten einschiffte, aber eins davon von der Tafel auskratzte.
-
-Da lachen sie und wissen gleich, welches Gebot der Seeräuber nicht mit
-auf seine Berufsfahrt nahm: Du sollst nicht stehlen.
-
- Ja, das schabte er weg.
-
-Und einer der Offiziere macht sofort die aufrichtige Nutzanwendung:
-
- Kein rechter Soldat ist unter uns, der im Tischgebet an der Bitte
- um Frieden Gefallen fände!
-
-So geht’s, das sehn wir sofort nach der kurzen feierlichen Einleitung
-der Übergabe des Regiments, in diesem Staat, in dieser Stadt Wien zu:
-es gibt gewisse allgemeine Normen, gewisse Lehren, die ihre Wortmacht
-üben, so daß man sie mit den Lippen bekennt; aber im vertrauten
-Kreis macht man kein Hehl daraus, daß dieses Allgemeine sich auf die
-besondern Stände und Interessen in Wirklichkeit gar nicht anwenden läßt.
-
-Und nun ist ein junger Mann ans Ruder gekommen, nicht durch Ehrgeiz
-oder Usurpation; er hatte sich’s, wir haben es wohl zu beachten, nie
-träumen lassen, so hoch hinauf zu kommen; und er muß ja auch von
-vornherein annehmen, daß es nur für eine Weile ist und daß er für
-alles, was er verfügt, Rechenschaft abzulegen haben wird; wir wissen
-zunächst weiter nichts von diesem Statthalter, als daß er ein strenger
-Idealist oder Ideologe sein soll. Wo wird er zunächst angreifen?
-Welches Gebiet liegt seinem Reform- und Reinigungseifer am nächsten?
-
-Noch ehe wir so weit sind, über Angelos Wesen, seine Sittenstrenge und
-Selbstbeherrschung aus dem Mund des Herzogs etwas zu erfahren, sehen
-wir, daß dies das Gebiet ist, auf dem der Rigorist vor allem eingreift:
-die Gesetze zur Aufrechterhaltung und Hebung der Sittlichkeit sind
-da -- nicht von diesem Herzog, der sie kaum angewandt hat, gegeben,
-sondern von seinem Vorgänger -- nun soll Ernst gemacht werden. Die
-Freudenhäuser in den Vorstädten sollen niedergelegt werden; den
-Kupplern und Kupplerinnen will Herr Angelo das Handwerk legen; ein
-junger Edelmann, Herr Claudio, der einem Mädchen -- das er sogar zu
-heiraten gedenkt, nur aus Gründen der Mitgift ist der Akt verschoben
-worden -- ein Kind gemacht hat, ist verhaftet worden; auf diesem
-Verbrechen steht nach dem Gesetz der Tod.
-
-An dem nämlichen Tag, an dem Claudio ins Gefängnis abgeführt wird,
-tritt seine Schwester Isabella ins Kloster ein, um da als Novizin ihre
-Probezeit durchzumachen. Aber sie wird ganz anders, als sie sich’s
-dachte, wird mitten in der Welt geprüft, wird in die Prüfung Herrn
-Angelos verwickelt. An sie wendet sich der Bruder durch Vermittlung
-eines Freundes: sie soll durch Freunde und vor allem persönlich beim
-Statthalter tun, was sie irgend kann, um ihren Bruder zu befreien. So
-widerwärtig dem reinen Mädchen, das in einem Zusammenhang, von dem wir
-nichts Äußeres wissen, im Begriffe steht, der Welt Valet zu sagen,
-ehe es sie aus Erfahrung kennt, diese Männergeschichten sind, so weiß
-sie doch, daß der Fall hier anders liegt, als der Anschein sagt: das
-Mädchen, das Mutter werden soll, ist ihre Freundin, sie hat schon immer
-gewünscht, daß ihr Bruder sich mit ihr vermähle. Und dann: der Tod!
-Tod, weil gegen die Ordnung des Staats, aber nach der Ordnung der Natur
-ein neuer Mensch geboren werden soll! Sie ist bereit, zur Rettung alles
-zu tun, was sie kann.
-
-Wie allmählich, wie zurückhaltend Shakespeare diesmal seine Motive
-bringt! Da haben wir, jetzt ganz im Hintergrund, den Herzog, den die
-Leute seiner Regierung und das Volk im fernen Polen glauben, der sich
-aber in einem Kloster verbirgt, um bald als Mönch zum Volk und zum
-Statthalter zu gehn, und zu sehen, wie die Dinge sich entwickeln. Da
-ist der junge Mann im Gefängnis, vom Tode bedroht, und seine fromme
-Schwester soll helfen. Und da ist der Herr über Leben und Tod, der
-stellvertretende Fürst, Herr Angelo, und noch wissen wir nichts von
-seinem innern Wesen, noch kennen wir ihn nur aus Amtshandlungen und
-Kennzeichnungen aus dem Munde andrer; von seinem privaten Leben sehen
-wir gar nichts. Können wir uns auf das verlassen, was die Leute so
-über ihn sagen, jetzt zum Beispiel Claudios mit dem Mundwerk so
-leichtfertiger Freund Lucio, der Herrn Angelo also schildert:
-
- ... ein Mann, des Blut
- Zerlass’ner Schnee ist; einer, der der Sinne
- Begier und süßen Stachel niemals fühlt,
- Nein, stumpft und schwächt den Antrieb der Natur
- Durch Geistesarbeit, Fasten und Studieren.
-
-Ist er so? Ist damit alles über ihn gesagt? Nicht sehr wahrscheinlich;
-Lucios Psychologie steht auf schwachen Beinen: die Heiligen und
-Anwärter zur Heiligkeit, die durch Fasten und Kasteien ihre Triebe im
-Zaum halten, spüren die Regungen und den Aufruhr der Sinnlichkeit nur
-allzu stark. Sollte das vielleicht der Fall des jungen, strengen Mannes
-sein, den der Herzog jetzt aus seiner Abgeschiedenheit holte und in die
-freie Welt, in die Welt des Befehls und der Verantwortung stellte?
-
-Mit solchen Fragen und auf wahre Innerlichkeit gespannten Erwartungen
-treten wir in den zweiten Akt ein, in dem nun sofort Angelo als
-Hauptperson dasteht.
-
-Bei einem Aufbau, wie ihn Shakespeare hier gewählt hat, daß eine
-Person inmitten des Dramas agiert, deren letztes Wesen und Geheimnis
-noch unbekannt bleibt und erst später enthüllt wird, könnte es eine
-Schwierigkeit für den darstellenden Künstler sein, daß er von allem
-Anfang an einen ganzen Menschen hinstellen muß, während wir nach der
-Absicht des Dichters noch im Unbestimmten bleiben, das Ganze noch gar
-nicht durchschauen sollen. Hier ist das keine ernste Schwierigkeit,
-weil Angelo, das sehen wir jetzt sofort und er sagt es überdies selbst,
-solange er’s irgend vermag, nicht in seiner privaten Menschlichkeit
-unter die Leute geht, sondern in der Rolle seines Amtes. Wie es mit
-ihm bestellt war, als er noch in seinem Wiener Palast sein strenges,
-privates Leben führte, ob auch da die Sittenstrenge ein Gewand war,
-das er aus Pflicht oder sonst einem Grund über seinen Menschen
-streifte und nicht auszog, das wissen wir nicht. Jetzt aber ist er
-vom Herzog mit dem Amtscharakter bekleidet worden; den trägt er, den
-hat er darzustellen, das ist seine Aufgabe im Staat, dagegen darf
-nichts aufkommen. Und das eben wird in dem Drama vorgeführt, wie der
-zurückgedrängte Mensch Sieger über die Rolle wird. Selbst wenn das
-nicht ein so wundervolles Motiv wäre, das unser aller Leben, das im
-Haus und das auf dem Markt, aufs nächste angeht, so wäre es immerhin
-erstaunlich, daß das Theater sich diesem Stück trotz manchen Versuchen
-in Wahrheit noch heute verschließt, einem Stück, in dessen Mitte das
-Problem steht, das den Schauspieler in seiner innersten Menschheit
-angeht: der Konflikt zwischen der Rolle, die ein Mensch annimmt,
-und dem von dieser Rolle unterdrückten Triebleben, das, während
-die Amtsperson ihre Rolle agiert, eben in der Betätigung des Amtes
-herausgekitzelt wird.
-
-Escalus, der alte weise Mann, den der Herzog Herrn Angelo als nächsten
-Berater unterstellt hat, bittet für den mit dem Tod bedrohten Claudio.
-Da der Fall ihm arg ans Herz greift -- er hat Claudios und Isabellas
-Vater gekannt und verehrt --, wird er sehr warm, und es fügt sich
-natürlich, daß er Herrn Angelo sagt: Kein Zweifel gegen Eure strenge
-Tugend; aber bedenkt doch nur, um welches Vergehen es sich handelt,
-besinnt Euch auf Euch selbst; hätte sich die Gelegenheit günstig und
-verführerisch erwiesen, hättet Ihr nicht denselben Fehler begehn
-können? Das ist menschlich gefragt; was Herr Angelo zur Antwort gibt,
-ist in großer Art unmenschlich und heißt nichts anderes als: Richtet
-euch nach meinen Worten und nicht nach meinen Taten, und noch viel
-weniger nach Trieben, Gelüsten und Regungen meiner Natur.
-
-Was Angelo hier, in Vornehmheit und Amtswürde eingehüllt, ohne mit der
-Wimper zu zucken, ohne über seine Natur das geringste zu verraten,
-verkündet, ist weder Tartüfferie noch Heuchelei zu nennen. So viel ist
-jetzt schon sicher, wo wir den Mann immer noch von außen abtasten:
-eine solche vereinfachende Karikatur wie den Tartuffe hat Shakespeare
-mit diesem Herrn Angelo nicht dargestellt; eher könnten wir darauf
-gefaßt sein, daß das, was Molières elende Psychologie als Heuchelei
-des isolierten Individuums gegeben hat, von Shakespeare in seinen
-gesellschaftlichen Zusammenhang eingefügt wird. Angelos Erklärung,
-Recht müsse Recht bleiben, auch wenn unter den zwölf Geschworenen,
-die einen Dieb verurteilen, einer oder zwei sitzen, die ärgere Diebe
-seien als der Beschuldigte, seine Erklärung, der Richter habe das
-Gesetz anzuwenden, ohne an seine eigene Natur, an seine eigenen
-verbrecherischen Triebe auch nur zu denken, diese Losung, die wir
-nannten: Richtet euch nach meinen Worten und nicht nach meinen Taten,
--- das ist in Wirklichkeit die Losung jeglicher Kirche, worunter hier
-jede Organisation zu verstehen ist, in der fehlbare Menschen die
-Hüter und Rächer eines Idealismus sind. Es geht in dieser gewaltigen
-Komödie nicht um so eine vom primitiven, abkürzenden, verleumderischen
-Denken erfundene Figur wie den Tartuffe, mit der man die Lacher aller
-Stände mit Ausnahme des jeweils betroffenen immer auf seiner Seite
-hat, sondern es geht um dieses Grundproblem der Kirche, der Schule,
-des Staats und seiner Rechtsordnung, um ein Problem von unendlicher
-Erhabenheit und unendlicher Komik, um ein Problem, das immer wieder
-neu ersteht, solange der Pfarrer in der Sakristei den Talar über den
-bürgerlichen Anzug streift, unter dem sein nackter Leib sitzt, solange
-der Richter in der Robe sich zur Frühstückspause zurückzieht, solange
-es in unsern Menschengesellschaften Bacons Idole gibt, an welche man
-hier, ohne vor den törichten Schlußfolgerungen der Baconianer Angst zu
-haben, sachlich zu erinnern hat[1]. Ehe wir Herrn Angelo wegen der
-These, die er hier verficht, einen Heuchler nennen, wollen wir uns
-besinnen, ob wir nicht wie er in unsrer Maske stehn, wenn wir als Vater
-oder Mutter mit unsern Kindern, als Kaufmann mit unsern Kunden, als
-Offizier mit unsern Soldaten, als Arzt mit unsern Patienten, als Mann
-mit der Frau, als Mensch mit Menschen, ja sogar als einzelner mit uns
-selbst und unsern Bedürfnissen zu tun haben.
-
-Vielleicht verstehen wir jetzt besser, was es mit dem Problem auf
-sich hat, das Shakespeare hier behandelt, und mit der Behauptung
-der Prüderie, dieses Problem könne und dürfe bei uns nicht komisch
-behandelt werden, das Problem nämlich des Zusammenstoßes zwischen
-Geschlechtsleben und Rechtsordnung. Vielleicht verstehen wir jetzt
-besser, warum es grade die Grundnatur des Tiermenschen, das Geschlecht
-ist, mit dessen Regulierung sich hier der Fürst und oberste Richter zu
-beschäftigen hat. Vielleicht verstehen wir jetzt auch schon, warum in
-diesem Stück die niedrige Sphäre der Hurenwirte und Kuppelknechte einen
-so breiten Raum einnimmt, verstehen, warum hier auch der niedrigste
-Standpunkt der Kritik an diesen Regulierungen des Staates zu Wort
-kommt, so, wenn zum Beispiel der Kuppelknecht, der den pompösen Namen
-Pompejus führt, bei den neuen Maßnahmen und Verfolgungen erstaunt fragt:
-
-Soll die ganze Jugend in der Stadt kapaunt und wallacht werden?
-
-Und wie das verneint wird, begreift er gar nichts mehr; braucht man
-denn nicht Freudenhäuser oder so ähnliche Anstalten, solange es lockere
-Buben und liederliche Dirnen gibt?
-
-In der Tat ist das Geschlechtsleben von allen Grundtrieben des
-Menschen bei weitem der geeignetste, um auf der Bühne mit der Maske
-der Gerechtigkeit und Hoheit konfrontiert zu werden. Ein Zeichner kann
-eine komische Wirkung schon erzielen, wenn er einen Priester den Talar
-hochheben läßt, um, sagen wir, einen Floh zu fangen; oder wenn er einen
-Monarchen in seinem Ankleidezimmer im Hemd zwischen den Uniformen
-seiner verschiedenen Regimenter und Feldherrnstellen im In- und Ausland
-zeichnet; eminent komisch wirkt es, wenn wir etwa in einem Briefe
-Mirabeaus lesen, die Abgeordneten der Nationalversammlung hätten eine
-Sitzung in einem entscheidenden und kritischen Moment unterbrochen,
-weil sie das Bedürfnis verspürten, zu pissen; aber alle solche
-natürlichen Bedürfnisse und Verrichtungen, auch das Essen und Trinken,
-haben nicht annähernd eine so seelische Weite wie das Geschlecht,
-das in seiner Verbindung mit Wildheit, unbezwingbar Leiblichem und
-erschütterter Innigkeit das Tierische in uns mit der Phantasie und dem
-Geiste in nächste Beziehung bringt, das vor allen Dingen durch seine
-Polarität das Element des Dramatischen schon in sich trägt. So daß mich
-dünkt, Shakespeare hätte sich auf das, was aus dramatischen und eminent
-wichtigen ethischen und sozialen Gründen auf unsre Bühne gehört und in
-höchst bedeutendem Sinne komisch zu behandeln ist, besser verstanden
-als seine Kritiker.
-
-Irgend etwas muß in Angelo leben, was ihn zu der unnahbaren Pose des
-Monarchen, der die staatliche, schon fast die göttliche Gerechtigkeit
-zu repräsentieren hat, besonders geeignet macht; und der Herzog muß
-es bemerkt haben. Aber ein andres -- oder ist es das selbe? -- lebt
-noch dazu in ihm, was die Grenze der Strenge bis zur Härte, bis zu
-einer fast wilden Grausamkeit hin überschreitet. Von dem Verhör der
-armseligen Kupplergesellschaft wendet er sich schließlich wie ein
-Gelangweilter ab und kann den Wunsch nicht unterdrücken, es möchte
-sich Grund finden, alle miteinander auszupeitschen. Mild und klug, als
-ein Mann, der in seinen hohen Jahren es noch nicht aufgegeben hat, mit
-Warnungen, Verweisen, bedingter Strafandrohung zu arbeiten, zeigt sich
-dagegen Escalus. Aber er, so will es für diese Zwischenzeit der Prüfung
-der Herzog, darf der Gerechtigkeit, sagen wir besser, der Justiz, nur
-dienen; Angelo ist ihr Herr.
-
-Zu diesem Herrn des Rechts, der schon auf den nächsten Tag die
-Hinrichtung Claudios verfügt hat, kommt nun, um den Starren zu beugen,
-die angehende Nonne Isabella, des Verurteilten Schwester. Himmel
-und Welt treffen da auf einander, Welt in den beiderlei Formen von
-Staatsregiment und privatem Libertinismus. Furchtbar ist es diesem
-herben, keuschen Mädchen, daß sie für eine Sünde eintreten muß, die ihr
-vor allen verhaßt ist; so sind in diesem Zwiegespräch, das nun anhebt,
-die Rollen verteilt: Isabellas Natur sträubt sich gegen alles, was mit
-geschlechtlicher Unordentlichkeit im geringsten zu tun hat, sie hat
-aber, aus Liebe zu ihrem Bruder, das Amt übernommen, ihn zu erretten;
-Herr Angelo hat das Amt, ihn zum Gericht und zum Tode zu bringen; wie
-steht es mit seiner Natur? Was sagt die dazu?
-
-Isabella hebt damit an, daß sie bittet, die Schuld und den Schuldigen
-zu trennen; die Schuld soll verdammt werden, nicht ihr Bruder.
-Schwächer könnte sie’s nicht beginnen; aber auch nicht gefährlicher
-für sich selbst; denn was geht es den Hüter des Rechts an, daß der
-Verurteilte eine Schwester hat? Lenkt sie nicht in ihrer Verlegenheit,
-in ihrer Scham sofort den Blick auf sich? Und tut sie übrigens damit
-nicht das, was ihr verzweifelter Bruder und sein leichtfertiger Freund
-Lucio von ihr erwarteten? Wenn Claudio meinte:
-
- Ihre Jugend
- Spricht sprachlos eine wirkungsvolle Mundart,
-
-was kann er andres gewollt haben, als daß sie mit ihrem Persönlichen
-durch die starre, stachlige Hecke des Rechts hindurch auf die Person
-Herrn Angelos wirken solle? Wie schön wäre das, wenn die reine
-Menschlichkeit der Jungfrau alle Überzüge, Decken, Masken und Kostüme
-der Wortsysteme entfernte und zur reinen Menschlichkeit des Fürsten
-durchdränge? Aber ist das, in dieser Situation, unter Menschen, wo
-ein Menschliches ganz andrer Art dazwischen steht, zu erwarten? Wird
-es vielmehr nicht dahin kommen, daß Mensch von Mensch, wie sie jetzt
-getrennt sind durch das trotz allem ideale Gestrüpp des Rechts, nach
-dessen Entfernung noch viel tiefer getrennt sind durch das, was sich
-statt dessen zwischen ihnen erhebt und sie zusammenwerfen will? Das ist
-die Frage, vor die wir jetzt gestellt sind; und um dieser Frage willen
-ist das Stück so gebaut, daß wir Herrn Angelo nicht kennen, nichts von
-seinem Wesen, nichts von seinem Leben.
-
-Auf diese Anforderung Isabellas, die Schuld zu verdammen, aber nicht
-den Schuldigen, hat der Mann des Strafrechts leicht antworten. Die
-Schuld zu verdammen, einmal für alle, dazu ist das Gesetz da. Er hat
-gerade das Amt, das Gesetz anzuwenden, ohne Ansehen der Person, auf die
-Personen, die es übertreten. Isabella, der ihre Rolle über die Kraft,
-so ganz gegen die Natur geht, sieht es seufzend ein und will gehen.
-Lucio hält sie zurück, ermahnt sie, flehentlicher zu sprechen; erinnert
-sie, daß es ums Leben geht. Das bringt sie zu größerer Klarheit, was
-hier ihres Amtes ist; sie darf nicht mit dem Wahrer des Rechts rechten,
-sie hat um Gnade zu bitten. Das aber ist ein Punkt, wo irgend etwas in
-ihm ganz besonders empfindlich getroffen sein muß; er scheint sich noch
-fester in den Mantel der Justiz einzuhüllen, ehe er schroff zur Antwort
-gibt:
-
- Ich will’s nicht tun.
-
-Kaum, daß er als Mann, der sich eifrig, eifersüchtig an die
-Wahrheit hält, anderes sagen kann. Er ist ja nicht bloß der oberste
-Gerichtsherr; ihm ist in vollem Maße, ohne Einschränkung, auch die
-Gnade anvertraut worden. Das entnimmt sie, die, wir merken es mehr
-und mehr, eine der Frauen ist, die den Geist haben, der ihrer schönen
-Natur gewachsen ist, seiner kurzen Abweisung sofort; sie wird wärmer,
-weil sie nun am rechten Ort ist, und fragt, stellt fest, er könne also
-Gnade üben, wenn er nur wolle. Das rührt nun wieder an ein ungeheures
-Problem, an kein geringeres als das der Willensfreiheit. Herr Angelo
-hat in seinem Leben offenbar Gründe genug gehabt, sich mit ihm zu
-beschäftigen; und der Rigorist hat es in seiner Art gelöst:
-
- Was ich nicht tun will, seht, das kann ich nicht.
-
-Was hilft da alles Zureden? heißt diese Antwort, aller Versuch, ihn
-umzustimmen? Er kann doch den Willen nicht haben, den Schuldigen zu
-begnadigen. Während wir aber dieser Dialektik zuhören, achten wir noch
-auf etwas andres, kaum Merkliches. Der Mann, der da cäsarisch als Fürst
-steht, ist kurz, schneidend, schroff, sachlich in seinen Antworten bei
-dieser Audienz; er will seine Schuldigkeit tun, die Fürbitte zu hören,
-nichts weiter. Da fällt es auf, wie er allmählich ein ganz klein wenig
-weicher, wie auftauend wird; mal fügt er als Anrede das Wort „Mädchen“
-in eines seiner knappen Sätzchen ein; mal mildert er eine Schroffheit,
-indem er „~look~“, seht her, dazu sagt. Man könnte wohl einwenden,
-das seien kleine Flickworte des Versdichters; aber da kennte man
-den Shakespeare dieser Stufe schlecht! Bei einer solchen Szene ist
-jedes Wort erwogen und steht kein Wort umsonst; und so sind wir an
-dieser Stelle schon ahnungsvoll gespannt, was sich weiter mit seiner
-Menschlichkeit begeben wird.
-
-Und siehe da! Gleich bei seiner nächsten Replik ergibt sich zur
-Evidenz: der Mann ist verwirrt, er ist nicht mehr ganz verwachsen mit
-seiner Rolle, etwas in ihm fängt an, den Mann von dem Gewandträger
-loszulösen und einen Spalt zu eröffnen. Denn diese Antwort:
-
- Er ist verurteilt; ’s ist zu spät,
-
-hätte er in normaler Gemütsverfassung nie geben können; so weit kennen
-wir den gegen sich selbst viel mehr noch als gegen andre harten
-und gewalttätigen Mann nun schon aus Schilderungen und aus seinem
-eignen Auftreten. Von der Gnade ist jetzt die Rede; er kann es nicht
-vergessen haben; und für Gnade ist es niemals zu spät. Isabella merkt
-auch sofort, daß da so etwas wie eine nachgiebige Stelle ist; jetzt
-erst läßt sie ihre schöne Menschlichkeit in ihr bitteres Geschäft,
-sie wird warm, lebhaft beseelt. Sie weiß ja, fühlt ja im Innersten,
-daß die Gnade, die menschliche Nachsicht mit der wahren Menschheit,
-wie sie in ihr selber lebt, mehr zu tun hat als das starre Recht. Sie
-spricht als eine Liebende; Eros redet aus ihr; und sie, die Strenge,
-Züchtige, Herbe, beinahe schon Nonne, ahnt nicht, wie der Eros und das
-Geschlecht bei dem einen aufs feinste, bei dem andern aufs gröbste und
-leidenschaftlichste beieinander wohnen, sie ahnt nicht, was sie in
-dem Manne erweckt, dem sie mit ihren kühnen, beflügelten, erwärmenden
-Worten, mit der ganzen Bewegtheit ihrer Seele, die aus Augen und Mienen
-und Haltung zu ihm hinüberstrahlt, das Amtskleid herunterreißt! Sie
-will die Liebe, die Gnade darunter zeigen, wenn sie sagt:
-
- Seid gewiß,
- Nicht festliches Gepräng’ und große Herrn,
- Nicht Königskrone noch Statthalterschwert,
- Des Marschalls Stab, des Richters Amtsgewand,
- Nicht geben die nur halb so schönen Schmuck,
- Wie Gnade gibt.
-
-Irgendwie wird auch in ihr selbst in dem Grade und in der Art, wie
-es der keuschen Seele ziemt, damit, daß sie das so sagt, eine Hülle
-dünner, die das Geschlecht von dem Geiste des Eros in ihr trennt,
-und sofort findet sie die Brücke von ihrem Appell an die Gnade zu
-der Betrachtung: Wie bist du Mann denn eigentlich selbst in deinen
-Regungen?
-
- Wär’ er wie Ihr, und wäret Ihr wie er,
- Ihr wärt wie er gestrauchelt, doch nicht wär’ er
- Wie Ihr, so finster streng.
-
-Das trifft; diese Betrachtungen liegen dem Mann des Determinismus nahe
-genug; und vielleicht hat er auch sonst in seinem Inwendigen Gründe zu
-solchen Erwägungen, der Heilige? Aber heute hat er ganz Ähnliches schon
-einmal gehört, von Escalus, und da hat er scharf und trefflich erwidern
-können, ganz in der Hoheit des Amtes und der Ideologie:
-
- Nicht dürft Ihr sein Vergehn drum schmälern, weil
- Auch ich ja fehlen könnt’, nein, lieber sagt mir,
- Wenn ich, der ihn bestraft, mich so vergehe,
- Mein eigner Spruch sei dann mein Todesurteil.
-
-Was aber weiß er jetzt zu erwidern? Er sagt:
-
- Ich bitt’ Euch, geht nun,
-
-sagt es dumpf, als handle es sich um etwas für ihn Persönliches, was
-er fast nicht mehr aushalten könne. Sie aber wird davon, von diesem
-Hauch des Verstehens, der von ihm zu ihr geht, nur kühner, sie ist
-jetzt mit Feuereifer, mit Hingegebenheit, mit Größe bei ihrer Sache.
-Erst zeigt sie ihm, was sie für ein ganz andrer Richter an seiner Statt
-wäre, wenn er als Isabella vor ihr stände; sie kann nicht ahnen, was
-sie mit dieser Vertauschung in dem wüsten Manne anrichtet, der bei
-dieser Vorstellung fast zurückweicht; Lucio, der mit dem Kerkermeister
-dabei steht, merkt es wohl. Sie aber ist eine so reine himmlische
-Seele und lebt so in den innigsten Vorstellungen ihrer Religion, daß
-sie von diesem Gedanken, sie wäre Richter, sofort wieder zur Gnade
-übergeht, die seinen mechanisch stereotypen Einwand, das Gesetz habe
-gesprochen, fortweist. Und wieder, von noch höher oben, erinnert sie
-ihn: Bist nicht auch du ein Sünder? Ähnlich ihrer Schwester Porzia,
-aber christlicher getönt, wie es der Novizin natürlich ist, ruft sie
-ihm in die Seele hinein:
-
- Wie? Was an Seelen war, das war verfallen,
- Und er, dem Fug und Grund zur Strafe war,
- Fand noch Vermittlung. Was wohl würd’ aus Euch,
- Wollt’ er, der Allerhöchste des Gerichts,
- Euch richten, wie Ihr seid?
-
-Während sie so sprach, dadurch, daß sie so sprach, ist viel, ist
-Großes, ist fast schon Entscheidendes in ihm vorgegangen. Irgend
-einer in ihm hat einer Stelle in ihm eine Erlaubnis gegeben; etwas
-ist losgelassen worden. Er wird aufgeräumt, zutraulich, freundlich,
-und -- oh über uns seltsame Menschenkinder! über das absonderliche
-Verhältnis in uns zwischen Trieb und Geist! -- gerade dadurch, daß er
-da drunten irgendwo den Mann der Erhabenheit, den Mann im Amtskleid
-verrät und dadurch freier wird, ein Erlöster in ganz anderm Sinn, als
-die Christin jetzt eben dies Wort an sein Ohr klingen läßt, grade
-dadurch kann er die Sache seines Amtes jetzt wieder besser, jetzt
-wieder mit trefflichen Gründen verteidigen. Er ist nicht mehr starr und
-zugeknöpft; „schönes Kind“ sagt er zu ihr, und wie sie denn wieder,
-jetzt gar nicht mehr widerstrebend, im Feuereifer ihrer Rolle, der
-sie so sehnsüchtig Erfolg wünscht, von den „Vielen“ spricht, die
-dasselbe getan wie ihr Bruder, da doziert er ihr mit offenbarer Freude,
-wohlgefällig und mit vorzüglicher Beherrschung der Sache seine Theorie
-des Strafrechts:
-
- Nicht tot war das Gesetz, wiewohl es schlief.
- Die ‚Vielen‘ hätten nicht gewagt den Frevel,
- Wenn gleich der erste, der die Vorschrift brach,
- Gebüßt hätt’ seine Tat.
-
-Und wie sie ihn von dem starren Recht abbringen will und sein Mitleid
-anruft, da fährt er gewandt, elegant, beredt und grausam fort, Mitleid
-erweise er am meisten, wenn er Gerechtigkeit erweise:
-
- Denn Mitleid zeig’ ich dem, den ich nicht kenne,
- Den die erlaßne Schuld einst schäd’gen würde,
- Und tu’ dem Recht, der, büßt er ein Vergehn,
- Ein zweites nicht erlebt...
-
-Das alles ist für Isabella, an der wir mit immer innigerer Freude
-die schöne, seelen- und geistvolle Natur entdecken, unbegreiflich
-unmenschliche Überhebung und Pose; so ein kleiner Mensch will den
-strafenden Gott spielen, wo Gott selber lieber für unsre Sünden den
-Martertod erlitt, als daß er strafte!
-
- Oh, es ist herrlich,
- Zu haben Riesenkraft; doch ist’s tyrannisch,
- Zu brauchen sie als Riese!
-
-Sie fühlt sich ihm nun, ohne zu ahnen, wieso der Machthaber
-einschrumpfte und der Mensch vor ihr wie in Fesseln kam, überlegen; es
-kommt wie Glück, wie Heiterkeit über sie; und mit der Vorwegnahme des
-Gefühls, sie könne ihren Bruder retten, fällt von ihr das Christelnde
-ab; sie wird weltlich, witzig, heidnische Vorstellungen, in denen sie
-in der gebildeten Sphäre ihres edeln Vaters aufgewachsen ist, werden
-von Angelos Theorie des gestrengen Rechts, nach dem jeder für seine
-Taten büßen muß, damit andre sich von ihnen abschrecken lassen, erweckt:
-
- Wenn Große donnern könnten,
- Wie Zeus es selbst kann, Zeus fänd’ nimmer Ruhe,
- Denn jedes winzige Beamtlein würde
- Aus seinem Himmel donnern, nichts als donnern!
-
-Sie erkennt, sie durchschaut den Mann, der jetzt selbst wie
-niedergedonnert kläglich vor ihr steht, wäre sie gleich erschrocken,
-wenn ihr einer von einem Wissen in ihr spräche, von dem sie in der
-obern, oberflächlichen Region unsres Geistes nichts weiß. Sie redet von
-dem Hochmut des Menschen; und in dem
-
- ~man, proud man~
-
-klingt noch etwas anderes, klingt das spezifisch Männische in dem
-herrschenden Menschen an; von der armseligen autoritären Gewalt redet
-sie, von der gläsernen Gebrechlichkeit dieses Herrschaftsmannes, der
-sich wie ein wütiger Affe aufspielt, -- sie weiß und weiß nicht, was
-sie dem Manne da vor ihr, da unter ihr sagt. Er wird ganz verwirrt,
-weiß gar nichts mehr zu sagen, schweigt und stammelt schließlich
-beinahe die Frage, wozu sie ihn mit all den Worten überhäufe; und sie
-nimmt herzhaft ihre ganze Kühnheit zusammen und schneidet mit großem
-Zuruf den Würdenträger vom Menschen ab:
-
- Greift in den Busen,
- Klopft an und fragt Euer Herz, ob nichts drin wohnt,
- Gleich meines Bruders Fehl. Wenn’s nur bekennt
- Natur_trieb_, so zu sündigen wie er,
- So tön’ auf Eurer Zunge auch kein Laut
- Von meines Bruders Tod.
-
-Nönnlein! Nönnlein! Nur allzu gut ist dir geglückt, was du da
-unternahmst! Isabella hat Herrn Angelo mit diesen Worten, mit all
-ihrem schönheitsvollen, seelenberauschten Wesen das Amtsgewand
-heruntergezogen; aber der Arme, der Gepeinigte, der Peiniger seiner
-selbst! Darunter ist, meint er, nicht die seelenvolle Güte und Gnade,
-sondern der nackte, pochende, fiebrig gierende Leib. Wir aber, die
-wir ihn besser kennen, als er sich selbst, dürfen vorwegnehmend
-sagen: der Mann, der so lange den kalten Juristen sich und der Welt
-vorgespielt hat, der strenge Mann, der sich selbst vergewaltigt, der
-seine Triebe unterdrückt hat, der vielleicht von einer Gewissensschuld
-erdrückt wird, die er weit aus dem Gedächtnis verbannt, der nimmt
-da etwas für Brunst, für wütende, unwiderstehliche Geilheit, was
-seelische Innigkeit, was Mitfreude wäre, wenn er seine gute Natur nicht
-verfälscht und verwandelt hätte. Kaum ist sie weg -- denn sowie er die
-Sinnlichkeit deutlich in sich hochsteigen fühlt, schickt er sie eilends
-fort, morgen soll sie wiederkommen, er flieht vor ihr und vor sich
-selbst, indem er sie für heute entläßt, aber -- wie vielfältig ist der
-Mensch! -- heute sind auch Zeugen bei der Unterredung, morgen werden
-sie wohl allein sein -- da bekennt er sich, da fragt er sich staunend:
-
- Ist es möglich denn,
- Daß Sittsamkeit mehr unsre Sinne aufrührt
- Als Weiberlockung?
-
-Es ist nur möglich bei Gewaltsmännern gleich ihm, die so anfällig sind,
-daß sich in ihnen die wunderzarte Erotik, die bei jeder Seelenfreude,
-Seelenbewegtheit auch das Geschlecht leise rege macht, in tobende Sucht
-verwandelt. Er wehrt sich, wehrt sich mit gewaltiger Anstrengung, hält
-sich ihre Reinheit, ihre Tugend, ihre Himmelsart vor, aber gerade
-damit, daß er ihre Seelenschönheit und den Ausdruck, den sie im
-bewegten Leibe findet, vor seine verwahrloste und verderbte Phantasie
-stellt, wird sein schmerzlich-begehrender Überwältigungstrieb zu diesem
-Weibe hin immer ärger.
-
-Dieses Gespräch zwischen Angelo und Isabella ist von dem zweiten,
-das, wir fühlen es voraus, entscheidend sein wird, nur durch eine
-kurze Szene getrennt, die uns in unsrer erwartungsvollen Erregung
-eine Trosteshoffnung bringt: der hinter alledem steht, der diese
-Zwischenzeit der Prüfung gewollt und so ähnliche Ereignisse vielleicht
-gar vorhergesehen hat, der Herzog ist als Mönch in dem Gefängnis
-eingetroffen, in dem der junge Claudio auf seinen Tod wartet, und
-versteht sich gut mit dem braven, menschenfreundlichen Kerkermeister.
-Und dann sind wir wieder bei Herrn Angelo. Er erwartet Isabella; er
-möchte beten, aber Isabellas Gestalt tritt zwischen ihn und Gott;
-er will sich an den Staat, dem sonst all seine Gedanken gelten,
-anklammern, aber mit einem Mal, zum ersten Mal, findet er diese
-Beschäftigung langweilig und abgedroschen. Sonst streckte er sich stolz
-in Amt und Würde hinein und stand aufrecht und -- er bekennt es sich
--- eitel in dieser Figurine da; jetzt sieht er ein: Rang und Form sind
-äußre Schale und Gewand, doch
-
- Blut bleibt Blut!
-
-Isabella, die nun bei dem Gepeinigten eintritt und gleich wieder
-als „schönes Mädchen“ begrüßt wird, hat am Tag zuvor alles gesagt,
-was sie irgend weiß; sie ist wieder herb und spröde geworden; und
-wie sie aus Angelos ersten, gepreßten Reden entnimmt, es müsse beim
-Todesurteil bleiben, wendet sie sich zum Gehen. Er hält sie aber auf,
-zunächst mit einem furchtbar heftigen Ausbruch, äußerlich gegen das
-Laster, das ihren Bruder zur Verdammung gebracht hat; er braucht aber
-diese leidenschaftlich aufwallende Rede, einmal, um seine eigne Glut
-irgendwie herauszulassen, dann, um mit dem Inhalt dessen, was er sagt,
-eben diese seine Wildheit in gewalttätiger Unterdrückung zu zähmen.
-So schäumt er gegen die unsaubere Lust, die das Standesamtsregister
-des Staates bastardiert, die Akten fälscht, das Leben der Neugebornen
-fälscht und in unheilvolle Bahnen lenkt; solche Zeugung ist nichts
-Bessres als Mord! Für staatsrechtliche und gesellschaftliche Argumente
-der Art, wie sie sein verzweifelter Kampf gegen sich selbst ihm aus
-dem bereiten Vorrat seiner Studien und Gesinnungen jetzt über die
-Lippen bringt, hat sie wenig Sinn; was ihr Bruder getan, ist ihr eine
-schwere Sünde vor Gott und eine Unordentlichkeit, die ihr widerwärtig
-ist; kein Verbrechen, das auf Erden, dem Staat gegenüber, mit dem Tode
-gesühnt werden müßte. Bei diesen ihren Worten jubelt es in ihm; sie
-wird also zu gewinnen sein, sagt er sich; er gibt den Kampf gegen sich
-auf und geht zum Kampf gegen sie, zu seiner Art der Werbung über. Ganz
-erbarmenswürdig, ganz erbärmlich geht er da vor; er denkt nicht daran,
-sein Begehren nach ihr nun vor allen Dingen loszulösen von dem Fall
-ihres Bruders; er denkt nicht daran und versteht es nicht, sich bei
-dieser Frau liebenswert zu machen; seine Gier kann er nicht trennen
-von der Situation, durch die sie ihm, wähnt er, verfallen ist. Haben,
-erobern, besitzen will er sie, da in ihm Gewalt des Triebs hämmert, mit
-Gewalt; die Gewalt des Triebs setzt sich bei diesem Mann, der darin
-geübt ist, den Trieb durch den Geist zu unterdrücken, jetzt, wo er ihn
-loslassen will, zur Vermittlung in Logik um. Das ist sein Instrument;
-raffinierte Manneslogik soll ihm zur Vergewaltigung, zu nicht viel
-Besserem als zur Notzucht dienen; in ein Dilemma, in diese gespreizte
-Gabel der Logik will er sie hineintreiben.
-
-So legt er ihr zunächst die Frage vor, was ihr lieber wäre: daß ihr
-Bruder stürbe oder daß sie ihren Leib derselben lustvollen Unsauberkeit
-hingäbe, wie jenes Weib, das ihr Bruder befleckte? Sie ahnt nicht im
-entferntesten, was der Mann, den sie nun als starren Theoretiker schon
-kennen gelernt hat, mit der Abschweifung will, und erwidert zerstreut,
-aus frommer Gewöhnung heraus, den Leib würde sie gewiß eher geben als
-die Seele. Er antwortet ungeduldig; mit greulich dummer Brutalität
-versteht er so, als meine sie, eine beseelte Liebe, die zu solcher
-Sünde führe, wäre ihr ärger als die Preisgabe des Leibes selbst; und zu
-ihrer Beruhigung sagt er, die Seele könne ganz aus dem Spiele bleiben;
-es handle sich um eine pure Zwangslage. Sie versteht nicht, und er will
-jetzt ganz deutlich werden:
-
- Darauf nur gebt Antwort:
- Ich, jetzt der Mund des gült’gen Rechtes, fälle
- Ein Urteil über Eures Bruders Leben;
- Wär’ etwa nicht Barmherzigkeit die Sünde,
- Die Euren Bruder rettete?
-
-Entzückend, wie sie nicht im entferntesten versteht, was er meint,
-ganz sicher aber ist, recht zu verstehen; ja, er will barmherzig sein!
-Und eifrig, beglückt versichert sie ihm, das wäre keine Sünde, solche
-Gnade sei nur Barmherzigkeit. So geht es nun noch eine Weile mit dem
-Mißverstehen hin und her; der elende Tropf wird ärgerlich und redet
-grob, wie er wohl in schlechter Laune als Untersuchungsrichter mit
-einer unlogischen oder schlauen Angeklagten umgegangen wäre; und so
-legt er ihr denn knappe, ganz klare Fragen vor, um ihr jeden Ausweg
-zu verrammeln. Der Bruder muß sterben; das Gesetz spricht klar dieses
-Urteil. Das muß sie zugeben. Nun aber, wo er ihr bedeuten will, wie
-der Bruder noch zu retten sei, hindert ihn doch die Scham, direkt
-herauszureden; er setzt einen Fall, wie aus der Moralkasuistik.
-Gesetzt den Fall, der Bruder wäre vom Tod nur zu retten durch einen
-Mächtigen oder Einflußreichen; und „dieser Supponierte“ stellte zur
-Bedingung, daß sie, die Schwester, ihm ihren Leib preisgäbe; was würde
-sie tun?
-
-Die Frage ist nun klar; nur daß sie noch immer keine Ahnung hat, warum
-er so fragt. Sie zögert keinen Augenblick mit ihrer entschiedenen
-Antwort. Wo’s um die Tugend geht, die von Seele und Züchtigkeit geboten
-wird, ist sie so fest bis zur Härte, wie er’s bis vor kurzem war, wenn
-sich’s um die Tugend handelte, wie sie Staat und Gesetz vorschreiben.
-Nur daß in der edeln Frau die Tugend keine Idee, sondern zur Natur
-gewordene seelische Notwendigkeit ist, während im Mann -- selbst wenn
-ihm, wie Herrn Angelo, Adel nicht fehlt -- die Staatsidee immer eine
-kahle Sache der Überlegung und des Verstandes bleibt, die sich gegen
-ursprünglichen Naturtrieb niemals behaupten kann. Was sie tun würde?
-Qualvoll sterben würde sie lieber -- für ihren Bruder wie um ihrer
-selbst willen --, ehe sie den Leib der Schmach gäbe.
-
- Viel besser, daß ein Bruder einmal sterbe,
- Als daß, ihn frei zu kaufen, eine Schwester
- Auf ewig stürbe.
-
-Er gibt es noch nicht auf, sie mit Theoretisieren zu fangen. Aber sie
-ist jetzt, in der Wallung des Zorns bei der bloßen Vorstellung solchen
-Schimpfs, wieder glühend geworden und repliziert schlagkräftig. Er
-möchte ihre Härte erweichen und meint grob aufmunternd:
-
- Gebrechlich sind wir alle!
-
-sagt es aber nicht entschuldigend für Claudio, nicht einmal so recht
-für sich selber, sondern für die Weiber. Da gibt sie, und wundervoll
-wirkt in dieser Situation die unschuldige Lebhaftigkeit ihres Geistes,
-auf dieses sein Wort: Nein, auch die Weiber sind gebrechlich! zur
-Antwort:
-
- Ja, wie der Spiegel, drin sie sich beschaun,
- Der so leicht bricht, wie er Gestalten formt.
- Das Weib! -- Weiß Gott, der Mann entwürdigt sich,
- Nutzt er _den_ Vorteil! Nennt uns zehnmal schwach,
- Denn wir sind sanft, so sanft wie unser Bau,
- Und trauen falscher Prägung.
-
-Jetzt glaubt der Mann, den die Vermengung des Triebs mit entartetem,
-willfährigem Verstand zum bösen, verrannten Narren gemacht hat und den
-dazu noch gerade bei diesem Bilde des schwachen, leicht verführten
-Weibes eine persönliche Erinnerung ermuntern mag, sie zu haben. Sie
-redet der Schwäche der Frauen das Wort; nun -- er faßt sich einen
-gewaltigen Mut -- wir Männer sind auch nicht stärker. Sie soll nur ein
-Weib sein; mehr tut gar nicht not. Und er wird deutlich genug, daß sie
-endlich verstehen muß, was er ihr anträgt. Erst will sie immer noch
-annehmen, er wolle sie prüfen; wie er dann aber „auf Ehre“ erwidert, es
-sei ihm Ernst, muß sie’s glauben. Kaum einen Augenblick verweilt sie,
-deren Sittsamkeit so rein wie ihr Denken schnell ist, bei der Schmach,
-die dieser Antrag ihr antut; ihr liegt bei dem ganzen Gespräch nichts
-im Sinn wie ihr Bruder. Jetzt, glaubt sie, muß er gerettet sein: sie
-scheut die Erpressung gegen den elenden Machthaber nicht:
-
- Gleich stell’ des Bruders Gnadenbrief mir aus,
- Sonst künd’ ich aller Welt aus lautem Hals,
- Was für ein Mann du bist.
-
-Ihm aber, der die Schwelle der Schamlosigkeit überschritten hat, ist
-nun keine Wahl mehr geblieben. Er kann nicht, er will nicht zurück;
-seine Gier läßt sich so nicht abweisen. Ihre Drohung schreckt ihn
-nicht; wer wird ihr denn glauben, wenn er’s abschwört? Solche Anklage
-gegen ihn, den Vertreter des Fürsten, dessen Ruf fleckenlos ist, dessen
-strenges Leben die Welt kennt? Einen Tag noch gibt er ihr Frist; bis
-dahin muß sie nachgeben; sonst stirbt ihr Bruder nicht den einfachen
-jetzt mehr, den martervollen, schweren, langsamen Foltertod.
-
-Damit verläßt er sie. Und sofort sieht sie ein: ihr letzter Versuch
-ist gescheitert; sie kann die Gnade nicht erpressen. Ihr Bruder ist
-zum Tode verurteilt; jetzt auch von ihr; um ihrer Ehre willen muß er
-sterben. Sie geht zu ihm, um ihm das zu sagen: er stirbt nicht mehr
-bloß für sein heißes Blut; er stirbt für die Reinheit seiner Schwester.
-
-Wiewohl sich alles um die Rettung dieses Bruders drehte, galt unser
-Anteil bisher viel mehr Herrn Angelo und Claudios Schwester, die ihn
-nun beide verurteilt haben. Jetzt, wo Angelo für lange zurücktritt,
-lernen wir Claudio kennen; durch den Konflikt zwischen Angelo und
-Isabella, der fürs erste in der Schwebe bleibt, ist, wir sehen es
-voraus, ein Konflikt zwischen den Geschwistern reif geworden. In
-dem Moment, wo der dritte Akt beginnt, stehen wir zwischen der
-physischen Möglichkeit und der psychischen Unmöglichkeit mitten inne:
-Claudio kann durch Isabella gerettet werden; er kann nicht durch sie
-gerettet werden. Der Vorhang geht auf; wir sehen den Herzog-Mönch
-bei dem zum Tod Verurteilten und sagen uns noch stärker als zuvor:
-Der aber, der wahre Fürst, wird ihn retten! Der Mönch bereitet den
-Gefangenen indessen zum Tod vor und spendet ihm die Tröstung keineswegs
-christlicher Verheißung, sondern allerbitterster pessimistischer
-Philosophie. Der Mann, der sich in den Tod finden soll, erfährt von dem
-erfahrenen, leidgeprüften Pilger durch sein Reich, was das Leben ist.
-Claudio, dessen Gemüt rasch bewegt und dem Moment unterworfen ist, ist
-für den Augenblick ruhig:
-
- Auf Leben hoff’ ich, bin gefaßt auf Tod.
-
-Da sagt der Mönch, und diese große Rede, die weniger auf den Tod
-vorbereiten als den Tod im Leben, die Abgeschiedenheit, lehren will,
-wollen wir ausführlich vernehmen:
-
- Seid’s unbedingt auf Tod. Tod oder Leben
- Wird dadurch süßer. _Redet so zum Leben_:
- Wenn ich dich lasse, lasse ich ein Ding,
- Dran nur ein Tor sich hängt. Ein Hauch bist du,
- Abhängig jeder Änderung der Luft,
- Wie sie die Wohnung hier, in der du weilst,
- Stündlich bedroht. Du bist des Todes Narr;
- Durch deine Flucht strebst du ihm zu entgehn,
- Und rennst ihm stets doch zu. Du bist nicht edel;
- Denn alles Angenehme, was du hegst,
- Stammt aus Gemeinem. Du bist gar nicht tapfer;
- Denn dir macht Angst das schmale Züngelchen
- Des armen Wurms. Dein bestes Ruhn ist Schlaf,
- Den suchst du täglich, doch dich schreckt dein Tod,
- Der auch nichts mehr ist. Du bist nicht du selbst,
- Denn du bestehst durch Tausende von Körnern,
- Aus Staub entsprossen. Glücklich bist du nicht,
- Denn was du nicht hast, strebst du stets zu fassen
- Und gibst auf, was du hast. Du bist nicht stetig,
- Denn deine Farb’ ist launisch wandelbar,
- So wie der Mond... Nicht Jugend und nicht Alter
- Hast du, nur gleichsam den Nachmittagsschlaf,
- Der beides träumt; all deine selige Jugend
- Tut wie bejahrt und bettelt lahme Greise
- Um Gaben an. Und bist du alt und reich,
- So fehlt dir Glut und Trieb, Gelenk und Schönheit,
- Des Reichtums froh zu sein. Was ist doch dies?
- Das Leben heißen darf? Birgt doch dies Leben
- Viel tausend Tode, -- und wir scheun den Tod,
- Der alles ausgleicht?
-
-Erst ist Claudio davon wunderbar besänftigt; dann aber, wie zum Mönch
-der skeptischen Resignation mit frommem Friedensgruß die Nonne in
-dieses Gefängnis dazukommt, wie die Lichte aber nicht die Erlösung
-bringt, sondern den Zweifel, da kommt die Todesangst über ihn.
-
-Ihr ist es notwendig, ihm alles zu sagen; keineswegs um ihm die
-Entscheidung zu überlassen; so lieb sie ihn hat, so sehr wir ihr
-glauben, daß sie ihr Leben an seine Rettung setzen würde, in dieser
-Sache gibt es keine Beratung und keine Wahl für sie. Sie will aber,
-daß er sie stützt, daß er jeden Gedanken an ihr Opfer verwirft;
-daß sein Tod jetzt einen Sinn bekommt: er soll wissen, daß er für
-seine Schwester stirbt. Mit dieser Absicht ist sie gekommen; jetzt
-aber, wo sie seine weichen Züge sieht, bangt sie im voraus vor dem,
-was nicht ausbleibt. Erst, wie er’s vernimmt, ist er entsetzt, daß
-sein strenger Richter so dastehn soll; dann sieht er ein, daß sie
-sich nicht preisgeben darf, und will sich in den Tod, vor dem jetzt
-keine Rettung mehr ist, finden. Aber es regt sich ein Sinnen in ihm;
-also dieser erhabene weisheitsvolle Mann ist doch auch dem Trieb
-unterworfen! Claudio wagt nicht zu sagen, kaum auszudenken, wie ihm
-von dieser Vorstellung, daß die Lust doch mächtiger sei als alles, die
-Gedanken von Angelo zur Schwester, von der Schwester, die nun über sein
-Schicksal verfügt, zu seiner eigenen Lebenslust irren. O Isabella! Mehr
-vermag er noch nicht als diesen Ausruf; und dann, immer noch wieder
-gebändigt und bedächtig, sinnt er vor sich hin:
-
- Sterben ist schrecklich --
-
-Wie sie aber, schon in streng vestalischer Abwehrstellung, erwidert:
-
- Und schmachvoll Leben greulich,
-
-da, wo für ihn auf der einen Seite das Leben, sein Leben, steht,
-auf der andern -- ein Nichts, ein Wort, eine Tugend, von deren
-Notwendigkeit seine eigne Natur kein Wissen und keine Erfahrung
-hat, die ihm ein so kaltes Schema ist wie der Staatsgedanke, dem er
-geopfert werden soll, da wallt die Todesangst zu einem gewaltigen
-Ausbruch heraus. Vergessen auch alles, was der Mönch -- der, ohne daß
-die beiden es wissen, alles mit anhört -- Schlimmes an die Adresse
-des Lebens gesagt hat; nur leben, leben will Claudio, leben um
-jeden Preis! Er sieht das Grauen des Grabes vor sich, er ist in der
-Situation des Prinzen von Homburg, und ich zweifle nicht, daß Kleist,
-dem dieses Stück ja auch sonst so ganz besonders, so unsäglich nah
-gehn mußte, aus dieser Szene den Mut zur Fassungslosigkeit seines
-Prinzen geschöpft hat; geht Kleists Szene darin über Shakespeares
-hinaus, daß sein romantischer Prinz sonst von Natur und Gewöhnung in
-der Rolle des Helden steht, so ist wiederum Claudios Ausbruch insofern
-erschütternder, als dieser weiche Genießer nicht bloß die eigne Würde
-wegwirft, sondern die Schwester anbettelt, sie solle um seinetwillen
-sich in Schmach und Ekel stürzen:
-
- Ja, aber sterben! gehn, wer weiß, wohin,
- Daliegen kalt und reglos starr und faulen,
- Aus sinnbegabter, warmer Regsamkeit
- Verschrumpft zum Kloß; der Geist, noch lebensfroh,
- Getaucht in Feuerwogen, hingebannt
- In schaudernde Gefilde ew’gen Eises;
- Im Kerker unsichtbarer Sturmgewalt
- Rastlos gejagt rund um die schwebende
- Weltkugel; ja, noch Schlimmres als das Schlimmste
- Von dem, was zügellose Phantasie
- Sich heulend ausmalt -- gräßlich, schauderhaft!
- Die schwerste Last von Lebensmühsal hier,
- Was Alter, Armut, Schmerz, Einkerkerung
- Dem Menschen auferlegt, ist Paradies,
- Mit dem verglichen, was der Tod uns droht.
- -- -- --
- O Schwester! laß mich leben!
- Was für des Bruders Leben du auch tust,
- Oh, die Natur rechtfertigt es so sehr,
- Daß es zur Tugend wird.
-
-Erst war die Schwester bei diesen apokalyptischen Bildern von den
-unausdenkbaren Schrecknissen, die der Seele im Tode warten, unnennbar
-erschüttert worden, ins Gewissen hinein; was kann den fühlenden
-Menschen schwerer treffen, als wenn er aktiv hilflos sein muß: wenn
-er physisch erretten könnte, aber angesichts bitterster Not in dem
-moralischen Entschluß steht, stehn muß, nichts zu tun? Wie Claudio
-dann aber seinen fassungslosen Jammer in diesen Anruf münden läßt, da
-schlägt all ihre Innigkeit in lodernde Empörung um. Über alle Grenzen
-setzt ihre Verachtung gegen diesen Wicht vor ihr, der um diesen Preis
-sein Leben erhandeln möchte. Sie spricht ihm endgültig das Todesurteil;
-sie kann ihn nicht retten; das wußte sie vorher; er verdient nicht zu
-leben; das empfindet sie jetzt und sagt es ihm.
-
-Da tritt der Herzog dazu. Was hat er gehört! Von all diesen
-Zusammenhängen, von seinem Statthalter Angelo!
-
- Die Probe lehrt,
- Wie sich im Machtbesitz der Schein bewährt.
-
-Er hat’s geahnt, als er das sagte; diese drei, Angelo, Claudio und
-Isabella, sind geprüft worden und haben ihr Innerstes, ihr Äußerstes
-gezeigt; über ihre Grenze gegangen sind sie -- alle drei. Nun ist’s
-höchste Zeit, einzugreifen, nach dem Rechten zu sehn und diese
-verirrten Menschenkinder zu ihrem Maß zurückzuführen. Angelo zwar --
-das muß noch näher untersucht, muß sehr behutsam behandelt werden. Die
-entfernte Möglichkeit, daß er das Mädchen nur prüfen wollte, liegt
-immerhin vor; und sehr wahrscheinlich ist es zum mindesten, daß er sich
-so ausreden würde.
-
-Das Drama ist in den drei Gestalten Angelo, Isabella, Claudio und ihren
-Erlebnissen an einander bis zur Tragik gediehen. Nur das Vorspiel, nur
-die Gewißheit, daß wir in einer Zwischenzeit der Prüfung sind, und die
-Gestalt des Herzogs haben uns immer getröstet. Wie er jetzt mitten
-in den exzentrischen Überschwang der todesbangen Lebenslust und der
-lustverächterischen Tugend dazwischentritt, wie in die zum Höchsten
-gesteigerte Verssprache seine kluge, sichere Prosa hineinredet, da
-werden wir ganz ruhig, da biegt der Konflikt der von der Leidenschaft
-Fortgerissenen in das überlegene Spiel eines Weisen, die Tragik in die
-Komik um.
-
-Wir wissen, der Herzog hat Angelo schon lange beobachtet und hat
-Mißtrauen gegen seine Tugend gehegt; aber wir wußten nicht, daß er
-mehr von ihm weiß, als wir bisher erfahren haben. Jetzt, so spät in
-diesem Stück, dessen ganze Technik von allem Anfang an darauf angelegt
-ist, Herrn Angelo sehr allmählich und immer mehr die Hüllen zu nehmen,
-erfahren wir aus dem Gespräch des Herzog-Mönchs mit Isabella, was
-Angelo noch auf dem Gewissen hat. Wir haben gesehen, wie dieser Jurist,
-dieser Staatsheilige es seinem Intellekt erlaubt hat, seit langem die
-Triebe und die Seele zu vergewaltigen; jetzt hören wir das Schlimmste,
-was er sich und vor allem einem andern Menschen angetan hat. Er hat
-eine Braut gehabt; hat es elenden Verstandesgründen erlaubt, die Liebe
-zu diesem Mädchen, die er hegte, in ihm zu ersticken; hat diese Mariana
-um einer verloren gegangenen Mitgift willen sitzen lassen. Jetzt
-vereint der kluge Herzog, der Philisterbedenken nicht kennt, vielmehr
-seiner herrlichen Losung folgt:
-
- Tugend ist kühn und Güte niemals furchtsam,
-
-der Mönch flicht Claudios Todesnot, Angelos Brunst, Isabellas tapfere
-Tugend, Marianas Liebessehnsucht in eines: Isabella soll Angelo ein
-kurzes nächtliches Liebesbeisammensein bewilligen; Angelo soll, ohne es
-zu ahnen, statt ihrer Mariana umarmen:
-
- Damit ist Euer Bruder gerettet, Eure Ehre unbefleckt, die arme
- Mariana versorgt und der arge Statthalter entlarvt.
-
-Wären wir von vornherein in einem lustigen Spiel gewesen, wo dann
-aber von Anfang an Mariana dabei gewesen wäre, so wäre diese Lösung
-nichts weiter als ein höchst übermütiges Motiv. Nun aber, wo wir so
-zu teilnehmender Not hochgeführt worden sind, wo sich uns allmählich
-erst das Rätsel Angelo erschlossen hat, das für uns immer noch nicht
-ganz erklärt ist, von dem wir jetzt eben wieder Neues erfahren haben
-und auf dessen noch tiefere Ergründung wir gefaßt sind, nun ist uns
-diese plötzliche Wendung eine wahrhafte Erlösung. Der Dichter und sein
-fürstlicher Mönch schalten mit uns, als ob die strafende Rede, die
-dieser ans arge Leben gehalten hat, Wirkung getan hätte: das Leben
-ist in sich gegangen; seine bebende Not und Gefahr war nur Schein
-und Prüfung; alles, was wir da als Grauen erlebt zu haben glaubten,
-ist, wenn wir näher zusehen, gar keine Wirklichkeit, ist nur Spiel,
-sinnvolles Spiel, in dem sich die Bilder des Wesens tummeln. Und mit
-einem Sinnspruch in dem Bänkelsängerton, den Shakespeare liebt, wenn er
-die Naturgewalt der Tragik in das freie Spiel überleitet, faßt darum
-der Herzog-Mönch die vergangene und künftige Handlung zusammen und
-beschließt damit den dritten Akt.
-
-Und doch wäre es -- mit Goethe zu reden -- ein klattriges Motiv,
-welche Aushilfsrolle diese Mariana spielen soll, wenn der Dichter,
-der so meisterhaft von innen heraus komponiert, Mariana nicht bei
-ihrem ersten, späten Auftreten zu Beginn des vierten Aktes wie
-umlodert zeigte vom Feuermantel der Liebesglut, die, verschmäht, in
-sie zurückgeschlagen ist. Da verliert sich sofort der Eindruck, ein
-Menschenkind solle als Mittel dienen, dazu noch mit seinem Geschlecht;
-wir erleben, wie die Liebesvereinigung dieser Süchtigen eigenes,
-äußerstes Bedürfnis ist.
-
-Sie sitzt da, passiv, lechzend, wartend auf nichts; sie hört
-schmachtend zu, wie ein Knabe ihr ein Lied, ihr Lied, das Lied ihres
-brünstigen Verlangens und ihrer Verlassenheit vorsingt; eines der
-wunderbarsten Liebeslieder, in dem die ganze Wonne des Schmerzes, der
-ganze Schmerz der Brunst liegt; keine Übersetzung kann ihm Genüge tun:
-
- Weg, o weg die Lippen dein,
- Die so süßen Meineid schworen;
- Weg dies Auge, Funkelschein,
- Licht, das mir die Nacht geboren.
- Nur die Küsse bring zurück, bring zurück,
- Liebessiegel, falsche Siegel falschem Glück, falschem Glück!
-
-Es geschieht nun alles nach dem Plan des Herzogs. Aber der weise
-Dichter, der die Sensation, das bloße Sinnenbild, auch wenn es von
-zentraler Bedeutung ist, gerne im Hintergrund läßt, wenn es die innere
-Entwicklung nicht fördert und bloß die Erfüllung dessen zeigt, was wir
-in der Anlage miterlebt haben; und der die Sensation im gröberen Sinn
-des Wortes gewiß nicht auf die Bühne zieht, läßt nun alles, was wir
-im Entwurf schon kennen, im Hintergrund vor sich gehn: wir sind nicht
-bei Isabellas Gespräch mit Angelo, in dem sie ihm zusagt, sich ihm
-preiszugeben; nicht einmal bei der Einweihung Marianas in den Plan,
-und gewiß nicht bei Mariana-Isabellas nächtlicher Begegnung mit Herrn
-Angelo. Shakespeare mit seinem zarten Takt hat Bühne und Sichtbarkeit
-aufs feinste unterschieden: nichts, was geeignet war, das Menschenwesen
-zu ergründen, hat er, der freie Geist, der er war, von der Bühne
-verbannt; aber er hat auch gewußt, daß keusche Ohren in der Form der
-Sprache, welche durch die Verwandlung des Sinnlichen in Geist alles
-rein zu machen imstande ist, alles hören können, daß aber nicht alles
-in sinnlicher Erscheinung gezeigt werden kann. So ist es unsäglich
-weise, frei und witzig von ihm, daß er auf der Stufe der Handlung, wo
-unzüchtige Seelen, deren es unter seinem Publikum genau so gut gab
-wie unter seinen Kommentatoren späterer Jahrhunderte, Sinnenkitzel
-und angenehmes Ärgernis von den Vorgängen erwarteten, die Bühne statt
-dessen mit Szenen aus der niederen Welt der Kuppler und Verbrecher
-füllte, wo eben die Gemeinheit nicht vor Augen, sondern zu Sprache und
-robustem Spaß gebracht wird.
-
-Die Zusammenhänge von Brunst und Machtgier, wie sie von Shakespeare
-auch in andern Stücken aufgezeigt werden, stehen in der besondern Art
-in der Mitte dieses Dramas, daß der Machthaber ein rigoristischer
-Staatstyrann ist, solange er den Trieb zurückdrängt und ein Diener
-am Wort ist, daß er dann ganz schlecht, in jedem Sinn wortbrüchig,
-verräterisch und nur mehr auf seine Stellung und Sicherheit bedacht
-werden muß, sowie die Lust ihn überwunden hat. Wollust wie Tyrannei
-aber hat der Dichter diesmal noch in andre Verbindungen gebracht: wir
-wandern vom Palast des Tyrannen zum Gefängnis, zu den Verbrechern,
-zu den Henkern; von der Sinnengier des Mächtigen zu den Lieferanten
-der Genußbefriedigung und den leichtlebigen Genießern; und durch das
-alles geht noch das Verhältnis des Menschen zu der Instanz hindurch,
-die, sollte man meinen, ihm die Lebenslust am gründlichsten austreiben
-könnte: zum Tod. Wir sehen den prachtvollen Kerl, den Zigeunermörder
-Bernardin, den sein langjähriger Aufenthalt im Gefängnis so wenig wie
-der Gedanke an die seit vielen Jahren immer mal wieder bevorstehende
-Hinrichtung oder ans Jenseits vom lustigen Leben abbringen kann, den
-vollendeten Gegensatz in seiner zynisch robusten Gesundheit zu dem
-weich genießerischen Claudio und seiner Todesangst; und wir gewahren:
-nicht der Staat und nicht einmal der Tod mit ihrer Drohung von außen
-vermögen es, die Triebe im Zaum zu halten und die Menschen entscheidend
-auf neuen Weg zu bringen; nur zwei Menschen in diesem Drama, die vom
-innern Sinn bedeutungsvoll zusammengedrängt werden, haben vermocht, die
-Lust des Lebens, die übergreift und ausbricht, zu beschränken, mit dem
-Tod einzuschränken, den sie in ihr Leben aufgenommen haben, mit der
-Ordnung und Zucht, die nicht von außen auferlegt wird, sondern die das
-Bedürfnis ihrer Seelen ist: Isabella und der Herzog, die Nonne und der
-Mönch.
-
-Das ist die Sphäre dieses Stückes: von der liederlichen Gemeinheit
-und denen, die mit dem Geschlechtstrieb Handel treiben, zu dem
-Männerpaar Claudio und Angelo zunächst; der eine umgeht die Ehe und
-scheut sich nicht vor allerlei dunklem Schmutz für sich, seine Liebste
-und ihr Kind, weil er auf eine Mitgift wartet; der andre bricht
-das Ehegelöbnis, weil die Mitgift verloren ist; sitzt über seinen
-unsittlichen Bruder zu Gericht und schickt ihn in den Tod; drängt den
-Trieb zurück, bis er alle Schranken durchbricht und Geist und Macht
-als Werkzeuge der Vergewaltigung benutzt. Und eine Stufe höher Mariana,
-der die Sinnlichkeit des Leibes in die Seeleninnigkeit flammt; deren
-Sehnsucht und Wollust duftet, und tönt und von der sich Angelo, der
-ehrlich seinen Geist nüchtern und frei vom Trieb halten möchte -- es
-wird genügend angedeutet --, vielleicht doch nicht bloß aus schnöden
-Besitzgründen getrennt hatte. Und hoch hinauf endlich zu den beiden,
-die uns lange vor dem schönen Schlusse, der sie zusammenfügt, als
-Paar zu einander gehören: zu dem Herzog und Isabella. Der Herzog,
-ein gereifter Mann, dem zwar um seiner Milde und der geheimnisvollen
-Geborgenheit willen, die dem ernsten Manne unter Menschen notwendig
-ist, die lästernde Liederlichkeit geheime Sünden nachredet, der aber
-in der Reinheit steht, bis er seine weibliche Ergänzung gefunden hat;
-Isabella, Marianas Gegenbild, die nicht wie der Herzog das Klosterkleid
-zu sinnvoller Vermummung bloß gewählt hatte, die einen Widerwillen
-gegen alle Sinnenlust im Herzen trug und voll verdammender Härte war;
-welche Wirren und Nöte erst, welche Kühnheit und Überschreitung der
-Grenzen mußten kommen, um ihren Geist zur Natur zu bringen, um ihre
-Seele zu vermögen, beruhigt, ohne Aufruhr und einverstanden im Leibe zu
-wohnen.
-
-Von unten nach oben, die Skala der Sinnlichkeit immer wieder berührend
-und kreuzend, geht’s auch im Bezirk der Macht. Ganz draußen bleiben
-die Wiener Lüstlinge, in deren Gesellschaft sich auch Claudio gefällt,
-Genießende, die im Schutz der Macht Bevorzugte sind, bis die Macht
-daran geht, sie als geile Schmarotzer auszurotten; ganz drunten steht
-Bernardin, der brutale Mörder; es folgen die Berufsoffiziere, die
-den Krieg um des Kriegs willen treiben und sich selbst mit Piraten
-vergleichen; der Konstabel Ellbogen, ein Duplikat Holzapfels aus
-Viel Lärm um nichts, eine der aus Dummheit, Brutalität, Gutmütigkeit
-und Aufgeblasenheit zusammengesetzten Volksgestalten, die es den
-studierten Beamten gleichtun möchten; der Henker Abhorson oder
-Grauserich, der mit gefühlloser Lust aus dem gesetzlichen Morden nicht
-bloß ein Gewerbe, sondern eine Technik und ein System gemacht hat; der
-Staatsmann und Jurist Angelo, der auf derselben Stufe stünde, wenn
-er nicht die weiten Gesichtspunkte, den Ernst und den Geist und die
-Bildung dazu brächte; und oben in reiner Höhe der gütige Kerkermeister
-und der nach milder Gerechtigkeit trachtende Herzog, der doch hart,
-stetig, ausdauernd, abwartend bis zur Peinigung sein kann, wenn er mit
-Menschen zu tun hat, denen es not tut und die es wert sind, erzogen zu
-werden.
-
-Ein solcher Mensch ist für ihn der junge Herr Angelo; ein solcher
-Mensch auch Isabella. Um sie beide zu ihrer guten, echten Natur zu
-bringen, scheut sich der Herzog nicht, Angelo die Gelegenheit zu
-schaffen, wo das Verkehrte in ihm sein Bösestes tun kann, wie ihn kein
-Mitleid hindert, Isabella, die in furchtbarer Tugendhärte ihrem Bruder
-den Tod gewünscht, seinen Tod als gerecht und verdient bezeichnet hat,
-diesen Tod, diese Hinrichtung des Bruders ganz erleben, den Bruder als
-tot betrauern zu lassen.
-
-Denn es geht nun keineswegs alles nach dem Plane des Herzog-Mönchs.
-Wohl hat Angelo -- wie er meint -- sein Gelüste an Isabella befriedigt,
-rauh, heimlich, nachts, seelenlos, brutal; wie er dann aber die Brunst
-gelöscht hat und von der ganzen Glut nichts mehr da ist als brennende,
-unauslöschliche Scham, erwägt er, daß gefährlicher als die Anzeige des
-geschändeten Mädchens Isabella, von der überdies kaum zu erwarten ist,
-daß sie ihre Entehrung kundgeben wird, die Rache des gepeinigten und
-um solchen Preis freigegebenen Bruders wäre; er muß den Weg der bösen
-Tat bis zu Ende gehen und verfügt die schleunige Hinrichtung Claudios.
-Die geschieht, für Angelo und alle Welt; auch Isabella wird nicht in
-das Geheimnis eingeweiht; Claudio wird in verborgener Haft gehalten;
-ohne sich ganz zu offenbaren, bringt der Mönch den guten Kerkermeister
-dazu, Angelo anzuführen und seinen Befehl zu mißachten: der Wackere
-weiß, der wahre Fürst wird nun zurückkommen. Wie die Verwirrung am
-größten ist, sagt der Herzog zu diesem Wächter der Gefangenen ein
-Wort, das in all seiner Leichtigkeit, mit der es uns nahe an traumhaft
-spielerische Märchenstimmung trägt, tief erhellend für das Ineinander
-äußerer und innerer Wirrnis in diesem tragischen Lustspiel ist:
-
- Staunt und grübelt nicht darüber, wie dies alles zugeht. Alle
- schweren Dinge sind ganz leicht, wenn sie nur erst erkannt sind.
-
-Sie zur Erkenntnis zu bringen, in ihrer innern Beschaffenheit und
-ihrem Zusammenhang, ist die Bestimmung des fünften Akts. Innerlich
-ist für uns schon beruhigte Entspannung da; wir sehen in dieser einen
-Szene, in der Shakespeare, wie öfter, nach den verwandlungsreichen
-früheren Akten alle Verwirrungen zur vollen Höhe häuft, ehe er sie
-löst, guten Muts zu, wie die Personen des Stücks, zumal Angelo und
-Isabella, vom Herzog noch gehörig auf die Folter gespannt und dann mit
-Enthüllungen überrascht werden, mit denen allen wir vom weisen Dichter
-dieses Lustspiels schon lange bekannt gemacht worden sind. Angelo und
-Isabella! In ganz anderm Sinn, als der junge Wüterich meint, bilden
-auch sie denn doch ein Paar. In beiden ist die Tugendstrenge seltsam
-nach Art und Grad verschiedene Irrwege gegangen; die Nonne, die es bis
-zum wildesten Ausbruch der Unbarmherzigkeit bringt, ist eine adlige
-Seele trotzdem; der vom Herzog zur Probe zum Fürsten erhöhte, dadurch
-zum Tyrannen gewordene, zwischen Idealismus, Abstraktionshärte und
-ichsüchtiger Schnödigkeit hin und her irrende unfertige junge Mann
-ist, wir sollen’s nun erleben, nicht minder in seinem besten Wesen ein
-adliger Mensch.
-
-Der Herzog hat, ehe er in Wien wieder einzog, verkünden lassen, wer
-irgend sich über erlittene Unbill zu beschweren habe, solle es sofort
-bei seinem Einzug tun; unverzüglich, wenn der echte Herr das Regiment
-wieder antritt, soll reiner Tisch gemacht werden. Kaum hat er denn den
-Statthalter mit Worten höchster Achtung über seine gerechte Verwaltung
-des obersten Amtes beglückt, so tritt die trauernde Isabella auf und
-fordert, immer das eine Wort wiederholend, mit lauter Stimme, was in
-diesem Staat durch Angelo so streng durchgeführt worden sein sollte:
-
- Recht, ja Recht, Recht, Recht!
-
-Mariana, hat der Mönch ihr geraten, soll außer Spiel bleiben; so
-beschuldigt Isabella Herrn Angelo genau dessen, was er selbst glaubt,
-an ihr begangen zu haben. Was tut er, der hochgeehrt neben dem Herzog
-sitzt, auf diese entsetzliche, gegen einen Mann wie ihn jedoch höchst
-unglaubwürdige Anklage hin? Was wir alle täten, wenn wir erst Schritt
-für Schritt uns so mit dem Bösen eingelassen hätten: er leugnet alles,
-mit frecher Stirn, und erklärt, Isabellas Verstand habe seit dem
-Prozeß gegen ihren Bruder gelitten. Merken wir hier nur darauf: vor
-dem Buchstaben des Rechts hat Angelo kein andres Verbrechen begangen
-als das gegen Isabella, und das hat er, wir wissen es, nicht begangen;
-Claudio war dem Gesetz verfallen, und er hat’s dabei gelassen; es ist
-kein Recht gebeugt worden. Und da kommt nun eine und schreit hinaus,
-um ihren Bruder, wie es der Statthalter selbst bedungen hätte, zu
-retten, hätte sie dem ihre Ehre preisgegeben; aber der Bruder ist ja
-hingerichtet worden; wer wird solches wirre Zeug glauben? So scheint
-es ganz in Ordnung, daß der Herzog die Anklägerin bis zur weitern
-Prüfung der Sache ins Gefängnis abführen läßt; um wahnsinnig zu sein,
-redet sie wieder zu klar; es scheint eine Verschwörung gegen Herrn
-Angelo vorzuliegen, der von dem heillosen Schmutz, wie er da gegen
-ihn geworfen wird, so wenig berührt werden kann, daß der Herzog ihn
-auffordert, in dieser seiner eigenen Sache selbst Richter zu sein.
-
-Was für eine Verwirrung tritt aber nun ein, als von einem Vertrauten
-des Herzogs, dem Mönch Peter, geleitet, eine Zeugin auftritt, die
-Herrn Angelos Alibi auf die seltsamste Art beweisen soll: da stellt
-sich eine hin, die sich für weder verehlicht noch Mädchen noch Witwe
-und dann gar für des Statthalters Gattin erklärt und bezeugt: just zu
-der Stunde, wo Herr Angelo Isabella fleischlich beigewohnt haben solle,
-sei er in ihren Armen gelegen. Gegen diese Behauptung, gegen diese
-Anklage, die als Verteidigung auftritt, kann sich Angelo nun mit bestem
-Gewissen verwahren; und das hilft ihm, viel freier als zuvor, fast mit
-Lächeln über so viel Tollheit, alles zu leugnen, auf die Vermutung
-des Herzogs einzugehn und dies schamlose Auftreten zweier Weiber
-gegen ihn, der jetzt eben das Land von der Unzucht gereinigt, auf ein
-niederträchtiges Komplott zurückzuführen. Er ist auch klug genug, den
-Vorschlag des Herzogs, Richter in eigner Sache zu sein, in diesem
-Augenblick, wo die Sache für ihn so günstig steht, anzunehmen. So kann
-der Herzog, um seinem bisherigen Statthalter sein ganz besonderes
-Vertrauen zu bezeigen, sich von der Gerichtsstelle, zu der dieser freie
-Platz vor dem Tor geworden ist, entfernen, ohne daß es jemand auffällig
-finden darf. Welch köstliche Motivierungskunst in einer auch für den
-Dichter fast unmöglich scheinenden Situation; was für eine leichte,
-spielende Hand; wie ist das, womit motiviert wird, das Auskunftsmittel
-des Dichters, daß der Statthalter seinen Fall selbst zu richten
-bekommt, für den Gang der Handlung entscheidend wichtiger, als was zu
-motivieren notwendig ist: daß der Herzog fortgeht, damit er in Gestalt
-des geheimnisvollen Mönchs wieder erscheinen kann.
-
-Der Mönch erscheint und braucht stärkste Worte, erst gegen den Herzog
--- sich selbst --, der einen Schurken in eigner Sache richten läßt,
-dann gegen diesen Elenden nicht nur, der immer noch als oberster
-Richter auf dem Thron sitzen darf, sondern im allgemeinen gegen die
-Widersprüche zwischen dem Moral- und Gesetzsystem, das im Reich
-herrscht, und den wirklichen Zuständen. Er mußte sehen,
-
- wie hier Entartung kocht und brodelt,
- Ja überschäumt; für jeden Fehl Gesetze,
- Doch Frevel so beschützt, daß die Verbote,
- Wie Sittensprüche in den Baderstuben,
- Indem sie Schmach verpönen, sich verhöhnen.
-
-Das starke Auftreten dieses Mönchs gegen die Sitten der Wiener goldenen
-Jugend bringt den Vertreter dieser Gesellschaft, Herrn Lucio, der mit
-seiner dreist anmaßenden Geschwätzigkeit auch schon vorher dem Herzog
-lästig gefallen war, zum kecken Eingreifen: er will das Gesicht dieses
-Sittenpredigers sehen und reißt dem Mönch die Kapuze herunter: alle
-erkennen den Herzog. Sofort, noch ehe irgend ein Weiteres enthüllt ist,
-gesteht Angelo seine Schuld: er ist, sowie er vor Augen sieht, daß der
-Herzog schon lange mit dieser furchtbaren Sache zu tun hat und sein
-Tun beobachtet, wie von einem Strahl göttlicher Rache vernichtet: auf
-geheimnisvollste Weise, die er nicht begreift, ist einem Zusammenhang,
-den er selbst und dazu noch Vorfälle, die ihm rätselhaft sind, aufs
-verwirrteste versträhnt haben, die schlichte Klarheit, der wirkliche
-Kausalzusammenhang wiedergegeben. Wie eine Erleichterung überkommt es
-ihn, daß der Bau des Bösen und der Lüge, den er hat türmen müssen, weil
-in seinem Bau der starren Moral der Grundstein ins Rutschen gekommen
-war, auf einen Schlag eingestürzt ist: höchst würdig legt er sein
-Bekenntnis ab und erbittet sofortiges Gericht, sofortigen Tod.
-
-Gewiß hat der Herzog, der den Mann von allem Anfange an gekannt hat,
-nichts andres erwartet. „Alle schweren Dinge sind ganz leicht, wenn sie
-nur erst erkannt sind.“ Der Spruch bewährt sich bei der unglaublichen
-Verwirrung aller äußern Geschehnisse; er bewährt sich auch für Angelo.
-Eine schwere Last ist von ihm genommen, ein Druck, der seit langem sein
-Leben auf schiefe Bahn geschoben hat; mit der Reue, die überraschend
-wie der Blitzstrahl über ihn gekommen ist, ist ihm so ganz leicht
-geworden. Der Herzog aber macht keine Miene, ihn zu richten; erst tut
-andres not. Kurz stellt er fest, daß Angelo und Mariana rechtmäßig
-verlobt waren; stracks schickt er beide weg zu schleuniger Vermählung.
-Aus diesem Verfahren und dem entsprechenden, das er dann gegen den
-heillosen Liederjahn und Verleumder Lucio einschlägt, ergibt sich, daß
-in seiner Methode zur Verbesserung der Sitten die Ehe ungefähr die
-Rolle spielt, die in Herrn Angelos System Auspeitschung, Einkerkerung
-und Hinrichtung eingenommen haben.
-
-Dann erst, wie dies erste und vielleicht innerlich häßlichste Vergehen
-Angelos gut gemacht ist, soll zwischen ihm und Isabella gerichtet
-werden. Nun soll Angelo lernen, wie es mit seinem Grundsatz des
-starren, strengen, vorbeugenden Rechts bestellt ist: Gleiches mit
-Gleichem, Maß für Maß: mit welcherlei Maß ihr messet, so soll euch
-wieder gemessen werden! Gut denn; er hat sich das Urteil schon lange
-selbst gesprochen: sein Verbrechen ist das Claudios; was er noch
-viel Schlimmeres als dieser getan, kann ganz außer Betracht bleiben:
-wie Claudio hingerichtet wurde, so soll auch er dem Henker verfallen
-sein. Was für ein wahrhaft wonnevoller Gegensatz zwischen dem, was die
-Menschen auf der Bühne in diesem Augenblick empfinden und erleben, und
-dem, was wir beglückt, heiter, frei wissen: Claudio lebt, Angelo wird
-leben!
-
-So kommt es noch zu einem letzten Gipfel; Isabella, die Tugendstrenge,
-die nur mit äußerster Selbstüberwindung für ihren Bruder, dessen Fall
-so ganz milde zu betrachten war, eingetreten war, die ihn zum Tod
-verurteilte, als Lebensdurst und Todesangst ihn zum winselnden Tier
-erniedrigt hatten, Isabella, die diesen Bruder tot glauben muß, tot
-durch Schuld dieses Angelo, der ihn als Meineidiger in dem Augenblick
-wie ein unsträflicher, erhabener Richter dem Gesetz geopfert und auf
-den Richtblock geschickt hat, wo er selbst auf dem selben Gebiet nach
-seinem Willen weit Schlimmeres verbrochen hat, Isabella bittet um das
-Leben dieses Mannes, der Notzucht abscheulichster Art, Notzucht auf
-dem indirekten Weg des Seelenzwangs hat gegen sie begehen wollen; sie
-wirft sich vor dem Herzog auf die Knie und spricht:
-
- Huldreichster Fürst,
- Betrachtet, fleh’ ich, diesen schuld’gen Mann,
- Als lebte noch mein Bruder. Fast ist mir,
- Als habe Ehrlichkeit sein Tun gelenkt,
- Bis er sein Aug’ auf mich warf. Ist dem so,
- Laßt ihn nicht sterben. Claudio starb nach Recht,
- Sofern er wirklich tat, wofür er starb.
- Doch Angelo -- --
- Sein Tun kam nach ja nicht der bösen Absicht
- Und soll begraben sein als bloße Absicht,
- Die nicht ans Ziel gelangt. Denken ist frei,
- Und Absicht bloßes Denken.
-
-Wie sieht man da voller Lust, Lust des Herzens wie auch des unbeschwert
-spielenden, rasch sich bewegenden, Ernstes bedenkenden Geistes: auch
-die Milde hat ihren scharfen Juristenverstand, -- und wer weiß, ob
-diese Porzia-ähnliche Gestalt, diese Isabella, die vor unsern Augen
-so gewachsen und gereift und aus klösterlicher Enge zu Menschenweite
-und freiem Sinn sich erhoben hat, ob sie, die der reifsten Stufe des
-Dichters zugehört, nicht auch Shylock, dessen Untat ja auch beim
-Versuch geblieben ist, Gnade, volle erlösende Gnade erwiesen hätte?
-
-Angelo aber, der jetzt zum ersten Mal ganz und fest in seinem Adel
-steht -- wie vielfältig ist der Mensch! und wie groß der Dichter,
-der uns die wahrhaft wundervolle Geräumigkeit im Schacht des
-Menscheninnern, die Wirklichkeit der Niedertracht wie der Seelengröße
-in diesem nämlichen Menschen erleben läßt -- Angelo will den Tod
-erdulden:
-
- Mich schmerzt’s, daß solche Schmerzen ich bereitet,
- Und Scham durchdringt so tief mein reuig Herz,
- Daß Tod mir lieber als die Gnade ist.
- Verdient so hab’ ich’s, laßt’s dabei bewenden.
-
-In diesem Augenblick kommt des Herzogs Ebenbild und Gehilfe aus dem
-einfachen Volk, der Kerkermeister, und bringt den vielfachen Mörder
-Bernardin und eine verhüllte Gestalt.
-
-Dem Mörder, der seit neun Jahren in unverwüstlicher Lebenslust im
-Gefängnis sitzt, wird von diesem Herzog, der immer noch in der Tracht
-des Mönchs seines Amtes waltet, Leben und Freiheit geschenkt, weil er
-keine Todesangst und keine Höllenangst kennt:
-
- He, Kerl, man sagt, du trägst ein störrisch Herz,
- Das Furcht vor nichts hat jenseits dieser Welt,
- Und lebest demgemäß. Du bist verurteilt,
- Doch deine Schuld auf Erden sei verziehn.
- Wend’ aber so die Gnad’ an, daß du denkst
- Auf bessre Zukunft.
-
-~For better times to come~: der Fürst, der Harun al Raschid,
-der Geheimnis und Vermummung liebt, der Dichter, der sich in seinen
-Gestalten und in der schwebenden Rede hold vielsagender, duftig auf
-alles weisender Allgemeinheit verbirgt, sie überlassen es jedem, was
-er dabei empfinden und denken will: ein besseres Leben, das dieser der
-Freiheit wiedergegebene Mordskerl jetzt beginnen soll; bessere Zustände
-und Einrichtungen zwischen den Menschen; das dunkle Reich jenseits des
-Todes.
-
-Da steht noch ein Vermummter; er darf nun in die Klarheit treten:
-Claudio lebt! Und er, der genießende Phantasiemensch, der alle
-Gräßlichkeiten des Nichtmehrseins und des Jenseits voraus gekostet
-hat, hat wahrlich genug ausgestanden, um ferner Leben und Gesellschaft
-ernster zu nehmen als vordem: er bedarf keiner Strafe mehr.
-
-Was für ein Recht übt dieser Herzog, der vom Thron gestiegen war, damit
-der Statthalter Angelo die Gesetze wieder wirksam machen sollte! Ein
-Mörder wird völlig begnadigt; ein zu Unrecht dem Henker Gestohlener in
-die Freiheit geschickt! Und doch atmen wir alle, seit in diesem Reich
-er wieder die Lenkung hat, frei und beruhigt die Luft der Reinheit und
-spüren die Zucht und eine Ordnung, die nicht vom auferlegten Zwang, die
-von innen kommt und ein Band um geprüfte Menschen schlingt.
-
-Angelo ist nun mit dieser Erscheinung das milde Urteil gesprochen:
-da er kein Mann der Gnade ist und auch gegen sich selbst schließlich
-keine Gnade noch Barmherzigkeit geübt hat, da er hart und streng auch
-gegen sich gewesen ist, soll ihm sein Recht, nichts als sein Recht
-werden: Gleiches mit Gleichem, Maß für Maß: Claudios Schicksal, so
-war der Rechtsspruch ergangen, solle sein eigenes werden. So darf er
-leben und mit dem leidenschaftlichen Weib, das beglückt an ihm hängt,
-so glücklich sein, wie er nach dieser Prüfung, nach diesem Fall, nach
-dieser Erziehung vermag. Ein Wilder war er in dieser Welt, und seine
-angeborene Vornehmheit hatte die Verwilderung mit Starrheit und Strenge
-bändigen wollen; die Wildheit brach eruptiv durch und riß alle Dämme
-ein; wie wird er nun werden? wie leben? wie wirken? was wird aus
-seinem System? aus dem Wortgebäude, das er über der dunklen Schlucht
-des Triebs errichtet hatte? Er spricht von dem Augenblick an, wo in
-Claudios Gestalt die Gnade erschienen ist, kein Wort mehr. Der alte
-Angelo ist vernichtet; die Hoffnung meint zu schauen, er stehe in
-seiner Wiedergeburt.
-
-Und noch ein Menschenkind schweigt: Isabella. Ein wunderbar zarter Zug,
-von dem man nur ehrfürchtig reden kann, wie Shakespeare Angelo bei der
-Rettung und Isabella bei dem Anblick des wiedergeschenkten Bruders und
-bei der Werbung des Herzogs in wortloser Stille verharren läßt. Der
-Herzog selbst deutet in verehrender Scheu vor ihrer Menschennatur wie
-dem Schicksal, das er selber gelenkt, nur leise an, daß er sie bittet,
-die Seine zu werden; wir haben schon lange gefunden, daß die beiden,
-der Mehralsmönch und die zum Leben des Menschlichen herangereifte
-Nonne, ein edles Paar bilden und in ihrer Zusammengehörigkeit und
-Ergänzung, in Klugheit, Innigkeit, Entsagung und Ironie zu Herrschern
-in einem Reich milder Weltfrömmigkeit berufen sind.
-
-
-[1] Auf noch eine Verbindung dieses Stückes mit Bacon hinzuweisen will
-ich nicht unterlassen. Das juridische Grundmotiv sowohl unsres Dramas
-wie Einzelzüge erinnern in der Tat -- man darf sagen, auffallend -- an
-eine Ausführung in Bacons vorzüglichem Essay „Über Rechtsprechung“:
-„Wenn Strafgesetze lange in Schlaf gelegen haben oder wenn sie für die
-Gegenwart nicht mehr passen, sollten sie von klugen Richtern in der
-Anwendung eingeschränkt werden: ~Judicis officium est, ut res, ita
-tempora rerum~ usw. [Des Richters Amt erstreckt sich auf Dinge wie
-Zeiten der Dinge.] In Fällen, wo es um Leben und Tod geht, sollten
-die Richter in der Rechtspflege der Gnade gedenken und ein strenges
-Auge auf das Beispiel werfen, ein gnädiges aber auf die Person.“ Das
-sind in der Tat Gesichtspunkte, denen wir genau so beim Herzog und bei
-Isabella begegnen. -- Ich für mein Teil erlaube mir daraus gar nichts
-zu folgern, -- so wenig wie aus der Tatsache, daß der Staatsbeamte Lord
-Bacon von Verulam, Viscount von St. Albans in seiner Person (~persona~
-heißt Maske) etliche Ähnlichkeit mit Lord Angelo aufweist. Solche
-Indizien sind mir noch kein Beweis dafür, daß der gelehrte Whetstone
-Bacons Schriften verfaßt hat.
-
-
-
-
-Macbeth
-
-
-Der Macbeth ist erst aus dem Nachlaß im Jahr 1623 in der Folioausgabe
-veröffentlicht worden; verfaßt wird er wohl in der Zeit zwischen 1606
-und 1608 sein; sicher ist, daß ~Dr.~ Forman ihn 1610 im Globetheater hat
-aufführen sehen.
-
-Den Stoff fand Shakespeare wie den des Hamlet, des Lear und manchen
-andern in Holinsheds Chronik. In diesem Geschichtswerk findet sich auch
-die Begegnung Macbeths mit den drei Zauberfrauen, die man, wie es an
-einer Stelle heißt, im Volk für die drei Göttinnen des Schicksals oder
-doch für Nymphen oder Feen hielt. Die Begegnung schildert Holinshed so,
-daß man schon einen großen, schaurigen Eindruck von der Szene gewinnen
-kann: „Macbeth und Banquo ritten zusammen ohne weitere Begleitung nach
-Fores, wo der König damals sein Lager hielt, und kamen durch Wälder und
-Felder, als ihnen plötzlich in der Mitte einer großen Heide drei Weiber
-von fremdem und seltsamem Aussehen begegneten, die Geschöpfen einer
-früheren Welt glichen.“ Im übrigen ist uns an dem Bericht der Chronik
-besonders das interessant, was Shakespeare nicht brauchen konnte oder
-irgendwie verwandeln mußte. Denn der Macbeth der Sagengeschichte,
-der siebzehn Jahre lang, von 1040 bis 1057 regierte und Banquo erst
-im zehnten Jahr seiner Regierung ermorden ließ, war trotz der Untat,
-durch die er auf den Thron kam, bis zu Banquos Ermordung ein guter
-Fürst: „Macbeth suchte nach der Abreise der beiden Prinzen sich die
-Gunst der schottischen Edlen und Ritter durch große Freigebigkeit zu
-gewinnen, und als er sich im friedlichen Besitze des Thrones sah,
-begann er die Gesetze zu reformieren und alle Unregelmäßigkeiten und
-Mißstände, die sich unter dem schwachen und trägen König Duncan in
-die Verwaltung eingeschlichen hatten, auszurotten. Er befreite das
-Land auf viele Jahre von allen Räubern und verfuhr hierbei so ohne
-Ansehen der Person, daß er selbst viele Thane, wie die von Cathnes,
-Sutherland, Stranaverne und Ros, und den Beherrscher von Galloway
-hinrichten ließ. Dagegen beschützte er die Kirche und die Geistlichen
-auf das sorgsamste und wurde, um kurz zu sein, wie der Verteidiger und
-Schild jedes Unschuldigen angesehn.“ Freilich, fügt Holinshed naiv
-genug hinzu, war das alles nur erheuchelt. Nach Banquos Ermordung trat
-dann seine Grausamkeit und Tyrannei klar zu Tage. Shakespeare, der
-auch hier verfährt wie immer und die Regierungszeit König Macbeths
-nicht nach irgend einer astronomischen Zeit, sondern nach dem inneren
-Verlauf seines Schicksals, nach dem Tempo seiner Lebenskraft und
-Intensität bemißt, und der nicht die Wirklichkeit, die Relativität und
-Gemischtheit der politischen Gesellschaft, sondern die Wahrheit der
-Grundtriebe im Individuum ~sub specie aeternitatis~ darstellt,
-kann diese lange Zwischenzeit zwischen Duncans und Banquos Ermordung
-und diese ganze zehnjährige Heuchelei oder Normalität nicht brauchen.
-Dagegen bleibt Banquo bei Holinshed ruhig in seinem Grabe; die
-Erscheinung des Toten ist Shakespeares Erfindung, und ebenso auch
-der Anteil der Lady an Macbeths Schicksal und Taten; bei Holinshed
-wird ihr Einfluß nur nebenbei einmal erwähnt. Sonst hat Shakespeare
-manche Einzelzüge und Szenen in treuem Anschluß übernommen; die drei
-Begrüßungen und die späteren drei Prophezeiungen der Hexen sind da,
-wenn auch freilich nicht in ihrem großartigen Zusammenhang; die
-Ermordung der Frau und der Kinder Macduffs und vor allem die Szene
-seiner Prüfung durch Prinz Malcolm, der sich verstellt, sind dieser
-Quelle entnommen.
-
-Soviel zur Herkunft der äußern Handlung. Welcher Quelle die innere
-entstammte, soll uns ein junger Dichtersmann sagen, Grillparzer, der im
-Jahr 1817 die folgende merkenswerte Niederschrift machte:
-
-„Vielleicht ist Macbeth das größte Werk Shakespeares, das wahrste
-ist es jedenfalls... Ich glaube, daß das Genie nichts geben kann,
-als was es in sich selbst gefunden, und daß es nie eine Leidenschaft
-oder Gesinnung schildern wird, als die es selbst als Mensch in seinem
-eigenen Busen trägt. Daher kommen die richtigen Blicke, die oft ein
-junger Mensch in das menschliche Herz tut, indes ein in der Welt
-Abgearbeiteter, selbst mit scharfem Beobachtungsgeist Ausgerüsteter
-nichts als hundertmal gesagte Dinge zusammenstoppelt. Also sollte
-Shakespeare ein Mörder, Dieb, Lügner, Verräter, Undankbarer,
-Wahnsinniger gewesen sein, weil er sie so meisterlich geschildert?
-Ja! Das heißt, er mußte zu dem allem Anlage in sich haben, obschon
-die vorherrschende Vernunft, das moralische Gefühl nichts davon zum
-Ausbruch kommen ließ. Nur ein Mensch mit ungeheuren Leidenschaften kann
-meiner Meinung nach dramatischer Dichter sein, ob sie gleich unter dem
-Zügel der Vernunft stehen müssen und daher im gemeinen Leben nicht zum
-Vorschein kommen.“ Von dieser Einsicht, die uns wichtig nicht nur für
-die Psychologie des Genies, sondern vor allem auch für die Beurteilung
-des Dramatikers Grillparzer sein muß und die überdies, wir erfahren
-es noch, in Shakespeares Selbstbekenntnissen, in seinen Sonetten
-ihre Bestätigung findet, war der junge Mann, der sie aufschrieb, so
-ergriffen, daß er den Ausruf hinzufügte: „Ich wollte, irgend ein
-Dichter läse das!“
-
-Darin jedenfalls haben inzwischen viele Grillparzer zugestimmt, daß
-auch sie den Macbeth für Shakespeares größtes Werk erklärt haben.
-Und darin sind fast alle Beurteiler einhellig, daß Macbeth seine
-klassischste, seine formvollendetste, seine der Antike geistig am
-nächsten kommende Tragödie ist. Und in der Tat, kann man vor den und
-jenen andern Werken Shakespeares wenigstens verstehen, wie der ganz
-falsche Eindruck, der so lange gespukt hat, entstehen konnte, als
-wäre er so eine Art Naturdichter, ein Volksdichter, der nachlässig
-und unbekümmert wie ein trunkener Wilder seine Einfälle vor uns
-ausschüttete, ein unbewußtes Genie, das sich um Überlegung, Berechnung,
-Komposition nicht viel kümmerte, so kann bei Macbeth keinem, der
-irgendwie aufzumerken imstande ist, im geringsten zweifelhaft sein,
-daß hier alles geplant, gebaut, gewußt, gewollt ist, alles, Aufbau,
-Szenenfolge, jede Rede und jedes Wort, was getan und gesagt und ebenso,
-was geschwiegen wird. Mit dieser straffen Komposition, die an nichts so
-sehr erinnert wie an die gespannten Muskeln in Macbeths Gesicht, wenn
-er von Dunsinans Turm Ausschau hält nach dem Schicksal, das ihm nichts
-anhaben soll; mit dieser festen Geschlossenheit, die ihres gleichen nur
-hat in Macbeths finsterer Entschlossenheit, sich zu behaupten, damit
-steht auch in Zusammenhang, daß das Stück die kürzeste aller Tragödien
-Shakespeares ist, wie Hamlet die längste; Hamlet hat 4000 und Macbeth
-nur 2100 Verse.
-
-Dämonische, sagen wir getrost teuflische Triebe im Innern des Menschen
-und reale, äußere dämonische Mächte, Abgesandte der Hölle begegnen
-einander: daß dieses Hereinragen der Geistersphäre diese Tragödie von
-andern abhebt, sehen wir sofort. Auch haben wir eben gehört, daß es
-so überliefert ist. Es liegt uns aber trotzdem die Frage ob: Wie ist
-das? Wie steht es hier um das Verhältnis von Glauben, Aberglauben und
-Wissen? Wie zumal ist das Verhältnis zu unsrer naturwissenschaftlichen
-Weltanschauung?
-
-Vor allem ist da zu beachten: Shakespeare der Weite und Vielfältige
-ist darum aus Notwendigkeit ein Dramatiker, weil er sein Geheimnis
-zu wahren hat, weil er die Einheit der Person, die eine _Frage_
-ans Schicksal und ein Ringen mehr ist als eine Sicherheit, hinter
-der gespaltenen Vielheit der Gestalten versteckt. So entsprechen
-bei ihm Weltanschauung und geistige Stimmung, die in einem Stück
-walten, durchaus der Gesinnung und Charakterhaltung der Hauptperson
-oder den Tönungen und Bedingungen der Handlung, und es ist nicht
-zu viel gesagt, wenn geradeswegs ausgesprochen wird, daß bei einem
-Dichter wie Shakespeare die Weltanschauung viel mehr, als gewöhnlich
-beachtet wird, ein je nach Bedarf wechselndes formales Element ist.
-Was daher für ein besonderes Stück gilt, darf nie auf den ganzen
-Dichter und seine Gesamthaltung übertragen werden: so passen sich
-auch die Elementargeister, die Erscheinungen, die Gespenster immer
-der Stimmung der Dichtung, der Innerlichkeit der Träger der Handlung
-an: im Sommernachtstraum weht eine Renaissanceluft hell, neckisch,
-spöttisch wie bei Ariost, eine Romantik also, die der Ausdruck mehr
-des Rationalismus als irgendwie dumpfer Mystik ist; die Erscheinung
-von Julius Cäsars Genius hinwiederum in ihrer klaren, würdevollen
-Sprache steht ganz im Einklang mit der stoisch-republikanischen
-Selbstbestimmung edel-gebildeter römischer Bürger. Man denke sich die
-Hexen der schottischen Heide in dem Römerdrama, oder einen Kobold wie
-Puck, einen Geisterfürsten wie Oberon im Macbeth, -- und man wird
-sofort merken, daß man mit einem souveränen Dichter zu tun hat und
-daß die Frage nach seiner Befangenheit in Glauben und Aberglauben von
-Seiten seiner Dramen kaum eine bündige Antwort finden wird.
-
-Für das Zeitalter Shakespeares und die Anschauungen, in denen die
-besten Geister dieser Zeit standen, ist zu sagen, daß das, was wir
-geneigt sind Aberglauben zu nennen, viel weniger Rückstände alter Zeit,
-als gerade Anfänge natürlicher Betrachtung sind. Die Wissenschaft hat
-sich nicht allmählich aus geringem und bescheidenem Keime zu uns herauf
-entwickelt; wenn sich etwas auf diesem Gebiete aus kleinsten Anfängen
-zu achtbarer Größe hinaufgesteigert hat, so ist es vielmehr gerade die
-Bescheidenheit und Resignation. Im Anfang, im Zeitalter Fausts, hat das
-Wissen im Glauben der Menschen die Gabe, Riesenkräfte zur theoretischen
-wie praktischen Bezwingung der Natur zu verleihen; und diese Natur wird
-nicht für harmlos und lediglich sachlichen Prinzipien oder gar nur
-mathematischen Formeln unterworfen angesehen, sondern als strotzender
-Kraftspeicher betrachtet. Man sieht die Natur ungeheuerlich, wozu eben
-auch gehört, daß es in ihr nicht geheuer ist; alles Ungeheuerliche aber
-wird als durchaus natürlich und unsrer bezwingenden Menschenkraft
-erkennbar und zugänglich aufgefaßt.
-
-In alledem, was wir heute überwunden haben und dem Aberglauben
-zuzuweisen geneigt sind, in der Alchemie und Astrologie, in dem
-Glauben an Vorbedeutungen und Offenbarungen durch Naturgeschehnisse,
-wie Erdbeben, Meteore, Finsternisse und dergleichen, steckt die
-wissenschaftliche Frage an die von den Banden des Dogmatismus befreite,
-seltsam, trächtig, gärend, chaotisch gewordene Welt: Ist hier nicht,
-ist nicht zwischen innen und außen, zwischen Menschenschicksal
-und Weltbewegung ein kausaler Zusammenhang? Die Frage gehört der
-Wissenschaft an, so betrüblich paradox im eigentlichen Wortsinn es
-auch klingen mag, eine Frage ein Wissen zu nennen, die Antwort aber,
-die jene Zeit fand, entstammt starker, gestaltender dichterischer
-Phantasie; wohl uns, wenn nach wiederum etlichen Jahrhunderten von
-unsern Antworten das Selbe gesagt werden kann!
-
-So steht’s nun auch um den Hexenglauben, der in dem Glaubenssystem der
-christlichen Zeit nie recht Platz fand, erst vom 14. Jahrhundert an ins
-Kraut schoß und im Zeitalter der sprossenden Wissenschaft sich sein
-System ausbildete, -- woran sich Shakespeares gelehrter König Jakob in
-eifrig pedantischer Arbeit redlich beteiligte.
-
-Überall begegnen wir der Tendenz, der auch dieser Glaube angehört,
-nicht, das Geheimnis, das Grauen, den dunklen Zusammenhang zwischen
-Materie und Seele ins Mechanische aufzulösen und die Welt, die man als
-dämonisch erlebte, durch die Wissenschaft nüchtern zu machen, sondern
-umgekehrt das Materielle als beseelt, als vom Geiste durchdrungen
-und durchglüht zu erfassen. Das Göttliche und Teuflische war in die
-Natur aufgenommen; dem Verständnis und der gebietenden Gewalt, der
-Magie des Menschen sollte kein Gebiet mehr unerreichbar, mehr jenseits
-verbleiben. Männer wie Giordano Bruno und Jakob Böhme, Shakespeares
-Zeitgenossen, mit deren erstem er als junger Mensch sogar persönlich
-in London Verkehr gepflogen haben könnte, machten den Versuch, die
-symbolischen Heilswahrheiten der Religion naturwissenschaftlich zu
-deuten, eine Physik und Chemie des Christentums zu begründen. Und immer
-soll die Naturanschauung, soll die Einheit der Natur Geist und Materie
-umfassen. Zu der Bescheidung, um der Kausalität willen auf die Frage
-nach dem Zweck und dem Sinn, um der Wissenschaft willen auf das Suchen
-der Wahrheit zu verzichten, war man noch nicht gekommen.
-
-In dieses Gebiet also, auf diese Stufe der schöpferischen Kraft und
-Vehemenz des forschenden und ringenden Geistes gehört der Glaube von
-Shakespeares Zeitalter an den Verkehr zwischen Menschen und dämonischen
-Elementarwesen, die in die Stoffe und Kräfte der Natur gebannt sein
-sollten, gleichviel hier, wie weit Shakespeare diesen Glauben teilte,
-wie weit er als Dichter sich spielend, versuchend, versucherisch,
-tragisch, dämonisch in ihm erging.
-
-Das Gewaltige und Einzige in der Darstellung des Dichters, die uns
-hier beschäftigt, ist nun, daß Macbeth den Dämonen verfallen ist,
-ohne -- wie Faust zum Beispiel im Volksbuch und bei Marlowe -- ein
-ausdrückliches Bündnis mit ihnen einzugehen. Es ist ein Verhältnis wie
-Sympathie oder Fernwirkung: er ruft die höllischen Mächte nur dadurch,
-und sie, die uns allezeit unsichtbar umschweben, nehmen nur darum für
-ihn Sichtbarkeit an, weil seine Gedanken, seine Triebe, seine dunkeln
-Wünsche und undeutlichen Pläne ihnen verwandt sind. Welch eine Welt!
-Welch eine prästabilierte Harmonie der Hölle! Was in unserm tiefsten,
-finstersten Untergrund sich keimend regt und noch farblose, blasse
-Würzelchen unsicher tastend nach außen schickt, das sind zugleich
-Lockungen, die von draußen, vom Drunten nicht unsres Innern, sondern
-der allverbreiteten Unterwelt her uns suchend, Einlaß begehrend,
-unruhig schwirrend umkreisen und zu uns hinein wollen. Das ist hier
-auf Erden nicht nur eine Welt des Stoffwechsels, wo der Leib des
-Individuums in unausgesetztem Austauschverkehr mit der stofflichen Welt
-steht, sondern eine Welt, wo die Kräfte, die Seelchen, die Dämonen des
-Innern und Äußern im Wechselverhältnis stehen.
-
-Wir Laien, wir Normalen, wir Braven sagen so leichthin: Wo ein Wille
-ist, ist ein Weg. Man überlegt aber nicht, was für eine Wechselwirkung,
-was für eine geheimnisvolle Gemeinschaft damit zum Ausdruck gebracht
-ist. Schon wenn dieses Geistige in uns, das wir Willen nennen, nur den
-Finger rühren will und siehe da! es geschieht, schon da ist es so, wie
-wenn dem Gedanken Mächte, die im Elementaren der Materie auf unsern
-Befehl, auf unsre Bereitschaft warten, gehorchen und entgegenkommen.
-Das Kindchen will an der Mutterbrust saugen; will aber die Brust nicht
-auch geleert und befreit sein? Und wissen wir nicht, wenn nicht in der
-Naturwissenschaft, so doch gewiß in der Welt, die wir die moralische
-nennen, und das ist die, die den Dichter angeht, daß die Materie, die
-uns dient, die wir brauchen und begehren und einheimsen und formen, daß
-sie Herr über uns werden, daß sie uns mit Haut und Haaren verschlingen
-kann?
-
-Nichts an höllischer Einwirkung kommt zu Macbeth bloß von außen, ohne
-daß es von seiner innern Bereitschaft gerufen wäre; aber auch umgekehrt
-freilich, und das macht seine besondere Welt aus, das stellt diese
-der Sphäre der christlich-renaissancehaften Naturmagie zugehörige
-Tragödie neben die antike: nichts, was sich in seinem Innern gebiert,
-bleibt ohne dämonische Unterstützung, Weiterführung und Irreführung.
-Gott, mein Gott, was würde aus uns allen, wenn die Dämonen uns und
-unsern geheimen Regungen auch nur so hülfen, wie sie Macbeth zur Seite
-treten: mit Verkündungen, Verheißungen, feierlichen Begrüßungen! Und
-wenn nun gar wie hier diese Hilfe ein Beinstellen, die Verkündung
-eine Zweideutigkeit, die Verheißung eine Fopperei, die Begrüßung ein
-feindlicher Hohn wäre! Damit, daß wir das bedenken, haben wir, wie es
-für die innige Aufnahme der Tragödie not tut, aus Macbeth, was immer
-Entsetzliches er tue, den Bruder unsres Herzens gemacht, einen solchen
-aber, der in leibhafter Wirklichkeit auf gehobener Ebene verkörpert
-und erlebt, was uns in den Eingeweiden stecken bleibt. Nicht eine
-zufällig-äußerliche Wirklichkeit fabelhafter Ferne, sondern unsre
-nächste Gefahr, den Nachbarn all unsrer Emotionen und Begierden,
-die Wahrheit unsres Innern stellt Macbeth uns vor Augen. Er ist ein
-tragisch, ein dämonisch Auserwählter, ein übers menschliche Maß
-hinaus Gesteigerter und über Menschenkraft Gequälter wie unser Vater
-Prometheus, der zum Tisch der Götter zugelassen wurde, wie unser Bruder
-Ödipus, über den die Götter in dem Spiel, das sie da droben üben, schon
-vor der Geburt das Los warfen.
-
-Nun sollten wir bereitet sein, zu hören, was er ist, was er tut, was er
-leidet, was ihm geschieht.
-
-Er ist einer der Großen Schottlands, der Vetter des Königs Duncan.
-Solange Malcolm, der älteste Sohn des Königs, nicht für volljährig und
-thronberechtigt erklärt ist, darf Macbeth sich für den rechtmäßigen
-Thronerben halten. Auch in Schottland geht es so zu, wie damals fast
-überall: eine richtige Thronfolgeordnung besteht nicht zu Recht; es
-ist eine Mischung aus Wahlrecht der Stände und Erbkönigtum; keineswegs
-folgt immer der älteste Sohn, oft ein andres, nah oder fern verwandtes
-Glied des Königshauses, das sich durch Kraft oder Erfolg hervortut.
-
-Macbeth jedenfalls ist seit langem von keinem andern Gedanken erfüllt
-als diesem: König zu werden. Daran, wie lange das schon in ihm bohrt,
-erinnert ihn seine Frau in entscheidender Stunde. Und nun ist der
-Moment zugleich da und vorbei: in schwerem Kampf, wo er Wunder der
-Tapferkeit und Feldherrnkunst vollbracht hat, während der weiche König
-zugesehen hat, hat er mit Banquo zusammen den Aufruhr und den äußern
-Feind, den Norweger, niedergeschlagen. Der Thron hat gewankt, nun ist
-er befestigt: Macbeth wird reich belohnt, in Rang und Macht erhöht;
-aber unmittelbar nach der Schlacht, in Anwesenheit Macbeths und der
-andern vertrautesten Stützen des Throns, wird Malcolm vom König zum
-Erben des Reichs ernannt. Soll es dabei bleiben? Soll der Retter des
-Reichs, der so lange den Gedanken genährt, dereinst König zu sein, von
-Stund ab, von der Stunde seiner größten Leistung und Herrlichkeit an
-vom Thron ausgeschlossen sein?
-
-Jetzt ausgeschlossen, wo seine Berufung, sein geheimer Wunsch gerade
-eben, im Anschluß an die Schlacht, von den Dämonen bestätigt worden
-ist? Wir sind dabei gewesen, wie zum ersten Mal in seinem Leben die
-Welt des Geheimnisses nicht von innen, sondern real von außen zu ihm
-gesprochen hat; und daß diese drei Schicksalsschwestern, die ihm im
-Gewitter auf der öden Heide sichtbar wurden, nicht Einbildungen seiner
-erregten Phantasie, sondern Vertreter der Geisterwelt waren, dafür
-ist Feldherr Banquo der Zeuge, der dabei gewesen und auch mit ihnen
-gesprochen hat.
-
-„Heil dir, Macbeth, Than von Glamis! Heil dir, Macbeth, Than von
-Cawdor! Heil dir Macbeth, König demnächst!“ So begrüßen ihn die
-schrecklichen Weiber. Das erste ist er, aber noch nicht lange; das
-zweite scheint unmöglich, der Than von Cawdor lebt, und doch erfüllt es
-sich sofort aufs erstaunlichste; und das dritte? König demnächst? Die
-Hexen haben einmal gewußt, was noch kein Mensch wissen konnte; und nun?
-Wie weiter? O, es scheint schnell kommen zu sollen, dieses künftige
-Große; es scheint auf seine eigne Seele gelegt: der König will die
-Nacht in Inverneß, auf Macbeths Burg verbringen!
-
-Und nun, da unsre innere Bühne noch einen weiteren Schauplatz umfaßt
-als die Shakespeares, müssen wir, während der Abend sinkt, die
-Kavalkade über Hügel, Täler und Heiden reiten sehen, dahinsprengen
-hören. Der König und sein Gefolge in schnellem, fröhlichem Ritt,
-Macbeth aber weit voraus, um Quartier zu machen! Das muß Schickung
-sein; muß mit den Geistermächten zusammenhängen; welch eine
-Gelegenheit, die so nie wiederkehrt! Auf einmal der anerkannte Held des
-Landes geworden, geehrt und gefürchtet von allen, -- und der König heut
-zur Nacht in Inverneß! Es muß alles vorbereitet werden; jetzt, jetzt
-muß es geschehen, muß ins Werk gesetzt werden, was kommen soll, was
-verkündigt ist -- -- der Gedanke läßt ihn keinen Augenblick.
-
-Und zu Hause sitzt ihm eine, die all sein Planen in ergebenster,
-mitreißender, befeuernder Gattenliebe teilt: sie muß vorbereitet
-werden, sie muß vorbereiten: und noch schneller als er sprengt ein Bote
-voraus, der die Nachricht bringt: der König kommt, kommt heute zur
-Nacht, trifft sofort ein!
-
-Fast zu Tod erschöpft steigt der Bote vom Pferd, außer Atem; er selbst
-kann in dem Zustand nicht vor die Herrin treten; ein Diener bringt ihr
-die Meldung. Das ist „große Zeitung“.
-
- Selbst der Rab’ ist heiser,
- Der krächzt den Schicksalseintritt König Duncans
- In meine Mauern.
-
-Wie wunderbar schnell das alles sich fügt! Jetzt eben erst -- die
-beiden halten sich in steter Verbindung mit einander -- hat sie
-den Brief gelesen, den ein früherer Bote gebracht hat, der ihr die
-Nachricht von Macbeths Sieg, von der Begegnung mit den Hexen und
-ihrer übermenschlichen Kunde und der sofortigen Erfüllung der ersten
-Prophezeiung gebracht hat. Schon war die Stimmung in ihr: es muß
-geschehen, es muß getan werden. Und nun, wo ihr die Gelegenheit ins
-Haus rennen soll, ist sie ganz gerüstet, ganz reif.
-
-Hier werfen wir erstmals einen Blick auf die seltsame Gleichheit und
-Ungleichheit dieses liebenden Ehepaars.
-
-Ihn belauschen wir in seinen innersten Gedanken, seinen dialektischen,
-die Vorfälle hin und her werfenden Erwägungen. Eine überirdische, eine
-metaphysische Verkündung und Lockung ist zu ihm gekommen; schlimm
-kann sie nicht sein, denn, sagt er sich, ein Pfand des Erfolgs ist
-ihm sofort in die Hand gegeben worden. Schlimm wäre also für ihn das
-Wesenlose, das Unwirkliche, das Lügenhafte. Aber gut? Gut kann diese
-Prophezeiung auch nicht sein; denn er vermag es nicht, ruhig, geduldig,
-vertrauend abzuwarten, bis sie eintrifft; Mord liegt ihm im Sinne; er
-bekennt sich’s sofort. Dann aber ruft ihm wieder eine Stimme zu, es
-müsse alles gut und in Ordnung sein; er solle sich doch nur beruhigen
-und still halten; diese Geister sagten ja die Wahrheit:
-
- Will Glück mich König, möge Glück mich krönen
- Ohne mein Zutun.
-
-Das aber ändert sich, sowie er vor den König getreten ist; da
-wird schon klar, wie’s gemeint war; da bietet sich die dringende
-Aufforderung: Prinz Malcolm ist nun zum Thronfolger ausersehen; ihm
-soll genommen werden, was ihm zukommt, was er will, was er braucht;
-aber es bietet sich auch die Gelegenheit: der König wird sein Gast. So
-also ist’s gemeint; auf ihn ist die Tat gelegt; hält er sich still,
-wird er nie König, er soll’s aber demnächst werden, er soll also
-mithelfen, jetzt oder nie ist die Gelegenheit. So deutet er sich den
-Zusammenhang aller innern und äußern Momente.
-
-Und doch schwankt er noch und will gerne schwanken; er ahnt: die
-Entscheidung findet sich, zu Hause, bei der Frau. Darum der Eilbote;
-darum sprengt er selber dem König voraus; er muß ihren Rat, ihre Stimme
-vorher hören.
-
-Sie ist die teuerste Gefährtin seiner Größe, wie er sie nennt; die
-Liebe dieses Paares, dem die Kinder weggestorben sind, ist ganz auf
-den großen Plan, auf das Kind seines Ehrgeizes gesammelt. Er denkt,
-noch schwankend, unbestimmt; was er aber brütend sinnt, das hält sie,
-nachdem er ihr’s gesagt hat, mit eifernder Hingebung fest. Sie ist
-weder ein Mannweib noch eine Furie, auch in der äußern Erscheinung ganz
-weiblich; wir wissen, wie klein ihre Hand ist, wie ihr Mann in der
-Mannigfaltigkeit kosender Anreden, die er im Brauche hat, „zarte Frau“,
-wohl auch einmal „liebes Täubchen“ zu ihr sagt.
-
-Der Unterschied zwischen den beiden ist der: der Abstand zwischen
-Unterbewußtsein und Oberbewußtsein funktioniert in ihnen verschieden;
-es sind in ihnen andre Pendelschwingungen zwischen Vorsatz,
-Vorstellung, Phantasie und Gefühl. Der Plan, die Idee: ich muß König
-werden, stammt sicher von ihm; es wird uns ausdrücklich gesagt. Sie
-nimmt ihn auf, folgt und geht dann voraus, da sich, was sie erst
-einmal eingesehen hat, hemmungslos mit ihrem Willen verbindet und da
-es Hindernisse für sie nicht geben darf; andre Gedanken können gegen
-seinen Königsgedanken nicht aufkommen; und das Gefühl bleibt tief
-drunten. „Du willst; also tu’s auch.“ Es gibt nichts Klareres.
-
-Er aber hat Hemmungen, die in seinem Oberbewußtsein, in seiner
-vernünftigen Sphäre, das Wort in umfassendem Sinn genommen, vor sich
-gehen; er hat die Moral, das Religiöse, das Bangen und Schwanken in
-Verbindung mit der vernünftigen Überlegung. Er hat von Haus aus Weite
-in seinem Kopf; sie ist darin ganz eng und darum unheimlich klar,
-scharf und bestimmt. Denken, Planen heißt für sie nichts andres als die
-Mittel für das Gewollte suchen. Da begreift sie kein Schwanken, kein
-Zögern; sie rüttelt an ihm und ist imstande, fast verächtlich von ihm
-und zu ihm zu reden.
-
-Sehr wahr ist etwas, worauf Grillparzer hinweist: „Shakespeare hat hier
-nicht bloß Macbeth und seine Gattin, er hat Mann und Weib überhaupt
-geschildert.“ Besser wäre zu sagen, daß der Dichter den ganz besonderen
-Mann Macbeth in seiner einmalig individuellen Situation nie aus dem
-Umkreis der Mannesart, das individuelle Weib, seine Frau, nie aus der
-Sphäre des Weiblichen entfernt. Und wenn Grillparzer dann weiter sagt,
-in Lady Macbeths Seele sei der Entschluß im ersten Augenblick reif, so
-ist das nur wahr, wenn man dazu sagt, daß es der Gedanke ihres Mannes
-ist, der in ihr sofort zum Entschluß erwächst und gesteifter Tatwille
-wird. Richtig ist jedenfalls, sie bestimmt ihn zu seiner Tat, feuert
-ihn an, hält ihn wie mit Klammern darin fest.
-
-Aber nun das sehr Richtige und Wichtige, was Grillparzer beobachtet
-hat: „Aber jetzt, da gehandelt werden soll, kehrt sich auf einmal
-das Verhältnis um. Macbeth schaudert, aber handelt; sein Weib, die
-Entmenschte, die Verlockerin, war vor ihm in Duncans Zimmer, sie hatte
-die Dolche in der Hand, --
-
- ‚hätt’ er nicht im Schlaf meinem Vater ähnlich gesehn,
- ich hätt’s getan!‘“
-
-Und Grillparzer, der von Anfang an gewußt hat, wie das Genie nicht
-blind hinwirft, sondern sein Handwerk verstehn muß, fügt ganz
-begeistert hinzu: „Ich ärgere mich oft über mich selbst, daß ich die
-Idee, etwas zu schreiben, nicht aufgebe, wenn ich so was gelesen habe.“
-
-Sie also kann weder ursprünglich denken, noch letztgiltig handeln;
-da stellt sich ihr der Schauder in den Weg; aus dem Gebiet, das sie
-oben nicht kennt und nicht duldet, aus dem Gebiet der Erinnerungen,
-Assoziationen, Verwandtschaften und Träume, aus dem zu Gefühl
-gewordenen Leben der Vergangenheit herauf tritt etwas dazwischen und
-lähmt ihre Hand.
-
-Zunächst aber tritt viel mehr die Einigkeit des Paars als seine
-Getrenntheit zu Tage; das ist schauerlich wie das Eingreifen der
-Unterirdischen in das Werk der Menschen, wie diese zwei zu schnödestem
-Mordplan in ganz inniger Liebe verbunden sind. So stellen wir uns
-bewundernd und ohne Schauder einen Löwen und seine Löwin vor; nur
-daß wir hier doch von Anfang an wissen und fühlend miterleben: das
-Bluthandwerk ist nicht ihr Beruf; es sind trotz allem empfindende,
-phantasiebegabte, leidende und mitleidige Menschen!
-
-Zunächst aber spüren wir nur den frevlen Gegensatz zwischen ihrer Liebe
-zu einander und ihrer Unmenschlichkeit, und dazu den Gegensatz zwischen
-dem Vertrauen des Königs und ihrem Plan.
-
-Macbeth ist rasch vom Pferd gesprungen, ahnt die Königskavalkade dicht
-hinter sich, es ist nur Zeit für ein paar hastige Worte, aber sie
-verstehen sich sofort:
-
- Geliebtes Weib,
- Der König ist heut’ Nacht bei uns.
-
-So tritt er in die Tür, und damit ist für sie in beschwörender
-Zärtlichkeit alles gesagt. Sie wendet sich sofort, in fest
-zusammengenommener, schneidender Kürze zum Praktischen:
-
- Und geht?
-
-Eine unwahrhaft zögernde, schwankende und doch vielsagende Antwort
-kommt von ihm:
-
- Schon morgen, hat er vor.
-
-Da, so sehr die Minute drängt, läßt sie sich Zeit zum Ausbruch, aber
-rasch, heiser, zwischen Flüstern und Schreien:
-
- O nimmer soll
- Die Sonne dieses Morgen sehn!
-
-Der König kommt und fühlt sich ganz wohl: es ist der Abend nach der
-siegreichen Schlacht; ihm scheint eine Stimmung des Friedens und
-der Behaglichkeit in der Luft zu schweben. Und Banquo, dem allerlei
-Gedanken fürs Nächste und Entfernte durch den Kopf gehen mögen -- er
-war dabei, wie dem Macbeth die Königskrone verheißen wurde, und hat
-ihn dabei gut im Auge gehabt, und ihm, Banquo, ist von den wissenden
-Schwestern verkündet worden, seine eigenen Nachkommen sollten einst
-Könige sein --, Banquo bestärkt den König in seinem harmlosen Vertrauen.
-
-So geht man zur Tafel. Macbeth ist noch keineswegs mit sich im reinen.
-Er nimmt keine Rücksicht darauf, daß es auffallen muß, wenn der Wirt
-seine Gäste allein läßt; er kann nicht still sitzen; er geht hinaus und
-erwägt. Es sollte schnell geschehen -- aber die Folgen müssen bedacht
-werden. Wie wird’s die Welt ansehen? welches Mitleid wird aufsteigen?
-die Tat ist unerhört: der Untertan ermordet den König; der Vetter den
-Nahverwandten; der Wirt den Gast; bei Nacht den Vertrauenden; blutige
-Taten gegen ihn selbst können folgen.
-
-Die Frau kommt dazu; sie begreift von alledem nichts. Wozu jetzt dies
-auffällige Benehmen? Er hat’s doch schon lange beschlossen; jetzt ist
-die Gelegenheit, das kann er nicht leugnen; wie kann er schwanken? Er
-hat sich’s zugeschworen, hat’s ihr geschworen: König zu werden; was
-er geschworen hat, muß er tun. Nicht der entfernteste Gedanke kommt
-ihr, an welches Heilige und Unverbrüchliche gerade der Schwur des
-Menschen gebunden ist; sie versteht nichts andres in ihrem Hirn als
-dieses Festhalten am Wort; sie formalisiert ihn und nagelt ihn fest;
-eigensinnig, beschränkt wiederholt sie ihm, was er doch immer selbst
-gesagt; und um ihm vorzuhalten, was Konsequenz und was Mannhaftigkeit
-ist, zeigt sie ihm, und es verbindet sich dabei wahrhaft erhabenes
-Gefühl mit ihrer Vorstellung, was es doch heißen wolle, sich Wort zu
-halten und seinem Vorsatz treu und fest zu sein, sie zeigt ihm, was sie
-als Frau Gräßlichstes, Unnennbares zu tun imstande wäre, wenn sie’s nur
-erst sich vorgesetzt und sich und dem Gemahl geschworen hätte; sie sagt
-es und sie glaubt es:
-
- Ich hab’ gestillt und weiß,
- Wie süß es ist, ein liebes Kind zu nähren, --
- Ich hätt’ ihm, wie es mir ins Auge lachte,
- Die Brust gerissen aus den weichen Kiefern,
- Sein Hirn zerschmettert, hätt’ ich’s so geschworen,
- Wie du geschworen hast!
-
-Diese ihre Logik, Konsequenz, Entschlossenheit mit dem eiskalten
-Pathos des Willensgedankens sticht wie ein blitzender Dolch in das
-nächtige Dunkel, das wogend um ihn und in ihm braut. Der Mann täte
-die Tat, so glauben wir in dieser Stunde, niemals, wenn nicht diese
-dämonischen Mächte, dieses Teuflische wäre, wie es erst von den wüsten
-Weibern in feierlicher Begrüßung und jetzt von seiner schönen Frau
-mit seinen eignen Gedanken zu ihm spräche, wenn nicht das Ungeheure
-ihn wie überirdischer, wie Geist- und Liebeszauber anlockte. So tritt
-jetzt das Dämonische sichtbar, greifbar aus seinem Innern heraus;
-jetzt wohnen wir seiner ersten Halluzination bei: den Dolch, gerade so
-einen paßlichen für diese Tat, sieht er vor sich lockend in den Lüften
-schweben und den Weg weisen; nun ist er zur Tat entschlossen, wie
-einer, der unentrinnbarem Joch den Nacken beugt; er fühlt sich in die
-Geisterwelt aufgenommen, und es ist ihm, als wäre sein Mord so etwas
-wie das Tun eines Mondsüchtigen oder der Zwang, der einen Sklaven der
-Wollust auf seine Wege zieht. Er ist in den Zauberkreis getreten; der
-Bund mit den elementaren Mächten ist geschlossen; er tut, was er muß;
-ernst, schaudernd, wie ein hoffnungslos Bezeichneter.
-
-Derweile besorgt die Frau in umsichtiger Ruhe, was vorbereitet werden
-muß. Das kann sie gemächlich tun; was sollte sie dabei stören?
-Dieses Zubereiten des Schlaftrunks, dieses Berauschtmachen der
-Männer, das sind der äußern Erscheinung nach alles Hausfrauen- und
-Köchinnenangelegenheiten, und nichts Bildhaftes ist dabei, was aus
-ihrer Tiefe Unwillkürliches und Unbewußtes emporschnellen und ihr in
-den Weg wälzen könnte.
-
-So geschieht die Tat. Trunkenheit liegt über den Gästen, betäubender
-Schlaf über den Wächtern, die sie erst wie in Ausübung häuslicher
-Handwerkskunst mit Blut bemalt, er dann in raschem Entschluß tötet.
-
-Über Macbeth aber kommt sofort die Reuequal, das inständige Leiden.
-Stimmen tönen ihm durch die Nacht:
-
- Schlaft nicht mehr!
- Macbeth mordet den Schlaf!
-
-Und er fühlt: von nun an wird er selbst nicht mehr schlafen können.
-
-Sie aber ist immer noch, noch lange, ganz besonnen; von Stimmen hört
-sie nur, was sie auf der Burg von Inverneß zu nächtlicher Stunde
-gewohnt ist: die Eule mit ihrem Schrei, das Heimchen mit seinem
-Gezirpe; das macht ihr nichts; sie ist in keine andre Welt eingetreten.
-Vielmehr redet sie ihm rationalistisch gut zu: über so was darf man
-nicht grübeln; man darf seine Tat nicht ansehn; ein bißchen Wasser
-wäscht das Blut von der Hand.
-
-Wie anders werden wir’s noch von ihr hören! Gerade das!
-
-Zunächst aber gelingt alles; das auffällige, das törichte Benehmen
-Macbeths sieht wie herausfordernde Verwegenheit des Mächtigen aus. Die
-Prinzen fliehn und bringen sich dadurch in Verdacht; so ergibt sich von
-selbst, daß Macbeth, der Erbberechtigte, der Mächtigste, König wird.
-Die Prophezeiung, die nur er und seine Frau und noch einer kennt, ist
-erfüllt; kein Verdacht wagt es, laut zu werden.
-
-Es schweigt vor allem -- Banquo. Da scheint ein seltsam
-stillschweigendes Einverständnis zu herrschen; er ist eine Art
-Mitwisser und Mitschuldiger; er ist mit bei den Hexen gewesen. Er steht
-da wie einer, der seine Zeit abwartet. Und hat er nicht doppelt Grund
-dazu? Ist, zwar nicht ihm selbst, aber doch seinem Geschlecht, nicht
-die Nachfolge verheißen worden? Für ihn also und seine Erben soll
-Macbeth das Gräßliche getan haben? Nein; diesmal will Macbeth den Kampf
-mit dem Schicksal, mit der Vorbestimmung selbst aufnehmen; es soll
-nicht kommen, wie die Sprecherinnen des Schicksals verkündet haben:
-Banquo und dazu noch sein einziger Sohn, beide müssen sie fort aus der
-Welt. Er ist es dem Schicksal, seinem Schicksal, schuldig, sich der
-Verheißung, die einem andern zu Teil wurde, nicht zu fügen, sondern zu
-tun, was geboten ist.
-
-Das ist das Eigentümliche an diesem Macbeth, der sein Alles an Eines,
-an die Macht, gesetzt, der seine Phantasie nur nach diesem Einen hat
-fahren und an ihm scheitern lassen, daß er nun seinem Trieb und der
-Notwendigkeit seines Schicksals folgt wie einer Pflicht. Das hat Goethe
-gesehen: das Wollen wird in Macbeth zum Sollen. Seine Tat an Duncan hat
-er geleistet, weil er sie schuldig war, seinem Willen, dem Verhängnis,
-seiner pochenden Frau, und nun folgt Schuld auf Schuld: alles aber tut
-er finster, hart, in gepreßter Verzweiflung, wie ein Sklave.
-
-Daß er froh lachen oder lächeln könnte, solche Vorstellung ist uns
-unmöglich; ja später, wenn er noch eine Stufe weiter gekommen ist, wird
-er höhnisch auflachen können, wenn er an seine Unbesiegbarkeit und an
-die Hexenoffenbarungen denkt.
-
-Es wird immer einsamer um den lustlosen Mann. Noch ist er gut und
-sanft zur Königin; aber er zieht sie nicht mehr ins Vertrauen; er ist
-nicht mehr der Mann, der er früher war, wo er so gern und immer wieder
-ihr all sein Inneres eröffnete und seine Träume und Pläne mit ihr
-besprach. Er hat genug von den Folgen, die diese Vertraulichkeit gehabt
-hat; er zieht sich ins Schweigen zurück; damit schont er sie und sich
-selber. Die Ermordung Banquos, durch gedungene Mörder, die auch eigene
-Gründe zur Rache haben, entwirft er allein. Die Tat geschieht; ihr
-phantastisches Element, das dem verheißenen Schicksal entgegentreten
-sollte, mißlingt; Banquos Erbe entkommt; eine neue Bestätigung für
-die Wahrheit der Hexensprüche; aber Banquo, die Gefahr für des Königs
-Wirklichkeit, ist aus dem Wege geräumt.
-
-Nun aber tritt das Dämonische ganz gewaltsam aus seinem Innern heraus.
-Längst ja zwingt sich der unselige Mann zu Dingen, die über seine
-Kraft, über seine Natur gehen; in dem Augenblick, wo er da droben in
-der Bewußtseinswelt die Zunge mit seinem Willen zwingt, heuchlerisch zu
-reden und die Abwesenheit dessen zu bedauern, den er hat morden lassen,
-stellt ihm das Unterbewußtsein die Gestalt des Ermordeten, so blutig
-und entstellt, wie seine Phantasie drunten sie sich ausmalt, leibhaft
-vor Augen. Nur er sieht die Gestalt, keiner der Gäste beim Bankett,
-und ganz gewiß nicht die Lady, die uns hier noch einmal in ihrem
-Rationalismus gegenübertritt; sie versteht ganz gut, was geschehen ist;
-aber sie versteht nicht, wie man so sein kann; wollen und nicht wollen;
-überlegt tun und bereuen; wie seltsam!
-
-Banquos Erscheinung ist eine Halluzination der Angst und des Grauens;
-keiner hat sie gesehen, aber alle haben gehört, die fürchterlich
-verräterischen Worte ihres Königs gehört. Das Land weiß nun, daß der
-König durch greulichen Mord auf den Thron gekommen ist; seine eigne
-Zunge hat’s ausschwatzen müssen. Und er wiederum weiß, daß die
-andern ihn jetzt kennen: er fängt seine Schreckensherrschaft an; er
-muß. „Wir sind noch jung in solchen Taten.“ In furchtbarer Bitterkeit
-entschuldigt er sich für seine Empfindsamkeit. Er weiß: er muß
-fortfahren, wie er begonnen. Und nun _sucht_ er die, die einstmals
-von selbst, wie von selbst seinen Weg gekreuzt. Er weiß, hat es heute
-Abend durch Banquos Erscheinung wieder neu erfahren: mit ihm ist’s
-nicht wie mit andern Menschen. Er dient den Dämonen, sie sollen auch
-ihm dienen. Er will alles wissen, will sein Geschick ganz kennen; will
-alles tun, was das einmal Begonnene erfordert; und gälte es, weiter und
-immer weiter durch Blut zu waten. Zurück? Das ist unmöglich. Vorwärts
-also!
-
-Und so geht er streng entschlossen zu den Hexen in ihre Höhle. Aber sie
-sind nun, wo er selber kommt, nicht mehr die nämlichen. Die Wendung
-ist da; Hekate selbst, die Herrin und Göttin teuflischen Zaubers, hat
-eingegriffen; bisher haben die bösen Triebe und Gewalten ihm gedient
-und ihn hochgebracht; jetzt, wo er die schlimmste Mordtat begangen, wo
-er letztgiltig sein besseres Ich getötet und sich zum Weg des Unholds
-entschlossen hat, muß völlige Verblendung über ihn kommen: der Wahn,
-ein Cäsar, ein Gott, ein Unverletzlicher, ein Erkorener zu sein.
-
-So werden ihm in der Hexenküche die drei neuen Verkündigungen
-offenbart, die so sonderbar in einander greifen und die für ihn doch
-keinerlei Widerspruch enthalten.
-
-Zuerst wird er vor Macduff gewarnt. Nun, das ist gut und sicher
-ehrlich; dem hat er schon von selber nicht getraut; da soll abgeholfen
-werden. Und es wird ja auch wohl gelingen, ihn unschädlich zu machen;
-denn die zweite Verkündigung lautet, daß keiner, den ein Weib gebar,
-kein Mensch in der Welt also, ihm etwas anhaben kann; und die dritte,
-daß er unbesiegt bleibt, solange nicht der Wald von Birnam gegen seine
-Bergfestung Dunsinan anrückt! Ja ja, so schwungvoll in Bildersprache
-drücken sich diese phantastischen Geister aus, das kennt er schon;
-er aber, der jetzt genug hat von der Phantasie und nüchtern geworden
-ist, übersetzt es sich in unsre gemeine Menschensprache. Immer also,
-immer, sein Leben lang soll er unbesiegt bleiben! Kein Menschenkind
-soll ihn überwinden können! Jetzt hat er, was ihm einzig noch das Leben
-erträglich macht, was ihn auf einmal befreit von allen Ängsten; denn
-bei all seinen Anfällen war es ja immer die trügerische Ungewißheit,
-was ihn erschreckt hat, waren es ja vor allem die Folgen, die er
-gefürchtet hat. Aber jetzt hat er, was er braucht, was ihn festigt und
-feit, was ihn über alle andern Menschen weit erhebt: die Sicherheit!
-Eben die Sicherheit, die ihm Hekate als Höllenangebinde zugedacht hat.
-
-Er hat die Sicherheit, aber er ist nicht der Mann, sich in ihr zu
-wiegen; er hat nicht vergessen, womit es angehoben hat: daß die Geister
-den Spruch verkünden, und daß er selber das Amt hat, ihn auszuführen.
-Kaum einen Augenblick überläßt er sich dem Gefühl der Befriedigung;
-dann will er noch mehr wissen; sein Wille möchte übers Grab hinaus
-wirken; wird Banquos Nachkommenschaft je über Schottland herrschen?
-Und er sieht die ruhmreichen Könige vor Augen, die nicht seine, die
-Banquos Erben sein sollen. (Das empfanden Shakespeares Zeitgenossen
-nebenbei als eine Huldigung für König Jakob, der seinen Stammbaum auf
-Banquo zurückführte; uns geht das nichts an.) Macbeth hat genug von
-dem Hexenwesen; die Wut bäumt sich auf und weiß doch, daß sie gegen
-das Schicksal ohnmächtig ist; aber in Ausführung des Schicksals gilt
-es nun, grimmig im Lande zu wüten, zumal er sofort beim Verlassen der
-Höhle die bedenkliche Botschaft empfängt, daß Macduff nach England
-geflohen ist. Jetzt soll ein neues Regiment beginnen; hätte er gegen
-Macduff sofort so gehandelt, wie es sein Argwohn ihm eingab, so wäre
-das nicht geschehen. Nun ist er so weit, wie die Frau ihn hatte haben
-wollen: keine Lücke darf es geben zwischen Gedanken und Tat; ohne
-Besinnung, ohne Pause soll fürder ausgeführt werden, was er will, was
-er soll. Das ist von je sein Feind gewesen, das Grübeln, die Besinnung,
-die Betrachtung der Tat vor ihr und nach ihr. Jetzt hört das auf;
-er hat Sicherheit; Sicherheit vor allem über seine Aufgabe: wie ein
-Würgengel um seinen Thron zu mähen, auf daß er ungefährdet, unnahbar
-und erhaben in der Leere stünde. Macduff ist weg, der einzige, den er
-noch fürchten soll; da will er helfen, er braucht keine Geister dazu,
-will nie mehr mit ihnen zu tun haben, die ihm ein höllisches Leben
-bestimmen, aber keine Kinder und keine genießenden und entsühnenden
-Erben gewähren. Sofort soll Macduffs Burg überfallen, soll alles
-zerstört, sollen Weib und Kinder getötet werden.
-
-Und immer einsamer wird es um Macbeth. Auch von seinem Weib trennen ihn
-jetzt Schranken wie Tore der Hölle; da er nun geworden ist, wie sie ihn
-wollte, braucht er sie nicht mehr. Er braucht kein Gespräch mehr und
-keine Vertraute; er braucht sich nicht zu äußern und kann sich nicht
-äußern; die Tat ist seine Äußerung; er hat keine Gemeinschaft, hat
-keine Liebe, hat kein Geschlecht mehr. Er ist der Tyrann: lebendig an
-ihm sind nur seine Taten.
-
-So tritt er denn im Drama fürs erste in den Hintergrund, wie schon
-vorher die Lady; wir sehen seine Wirkungen. Persönlich tritt nun
-Macduff hervor, der Than von Fife, der Mann aus einer andern Welt,
-deren wir uns nun aufatmend versichern: er will nur den als König
-anerkennen, der auch die Tugenden des Herrschers hat; wundervoll ist
-diese Szene, wie Malcolm, der junge Prinz, zu dem er nach England
-kommt, ihn prüft, ob er kein Verräter, kein mörderischer Abgesandter
-Macbeths ist; wie der Prinz sich selber alle Laster zuschreibt; wie
-Macduff auf die Frage, ob so ein habgieriger, grausamer Lüstling zu
-herrschen verdiene, ausbricht:
-
- Zu herrschen wert?
- Nein, nicht zu leben! -- Unglücksel’ges Volk!
-
-Und gleich darauf trifft den edeln Macduff die Nachricht vom gräßlichen
-Untergang seines Hauses: von der Ermordung der Frau und der Kinder.
-
-Eine der innigsten Szenen Shakespeares ist das, wie der vom größten
-Leid Angesprungene kein Wort spricht, das Gesicht im Hut verbirgt und
-dann, als Worte kommen, als er im Bilde sieht, wie der Geier auf sein
-Nest losgestürzt ist, immer wieder fragt: Alle? Alle?
-
- All meine lieben Küchlein? samt der Henne?
-
-Und wie er sich dann mannhaft faßt, den Schmerz um all seine Lieben
-zum Schmerz ums Vaterland, um das von einem Tyrannen gequälte Volk
-werden läßt, da kommt es in aller Ergriffenheit wie Glück über uns: wir
-haben einen Mann und Menschen gesehn, in dem Liebe, Innigkeit, Güte,
-Klarheit, Beherrschtheit in Harmonie stehen.
-
-Und unmittelbar -- zum Beginn des Schlußakts -- folgt dann die große
-Szene der Unharmonischen. Nun dürfen wir in Grauen miterleben, was
-alles in Lady Macbeth gelebt und empfunden hat, ohne daß sie’s hat
-hochkommen lassen, ohne daß sie’s gewußt hat.
-
-Bei dieser Szene, wo ein enger, aber gewaltig starker Verstand endlich,
-endlich überwältigt wird von der lange niedergedrückten Innerlichkeit,
-darf uns das entscheidende Wort in den Sinn kommen, das im Kaufmann von
-Venedig die Lösung gebracht hat, das Wort von dem Menschen,
-
- der nicht Musik hat in ihm selbst, --
-
-denn die Musik, die Harmonie war in diesem ärmsten Menschen, diesem
-bösen Weiblein gestört, und die Seelenkrankheit der Nachtwandlerin
-rührt uns nun zu Tränen beglückend wie die Auflösung einer Dissonanz.
-(Kein Wunder drum, daß diese Nachtwandelszene ganze Opern geboren hat.)
-Nun wäscht sie ohne Unterlaß und immer ohne Erfolg und ohne Ruhe die
-Flecken ab, von denen ihr Rationalismus so kühl gemeint hatte, ein
-Händewaschen genüge; nun stören Banquo und Lady Macduff ihren Schlaf,
-an deren beider Tod sie selbst keine unmittelbare Schuld trägt; nun
-seufzt und klagt sie aus dem Schlafe und zerstört sich von innen
-heraus. Was tief drunten in ihr verschüttet lag, hat alles, alles
-in sich gesammelt, was sie nicht des Aufmerkens für wert hielt; es
-war immer noch eine andre in ihr als die, die vor sich und der Welt
-die Rolle der Lady Macbeth spielte, -- und nun ist sie gekommen, die
-Unterdrückte, und ringt gewaltig mit der bösen, falschen Tyrannin ihrer
-selbst. Man sagt später, „durch Gewalttat ihrer eignen Hände“ solle
-sie sich das Leben genommen haben -- und das ist sicher wahr, für ihr
-Ende und für all die Jahre vorher, gleichviel, wie ihr äußeres Ende
-schließlich war.
-
-Diese Szene geht auf derselben festen Burg Dunsinan vor sich, in der
-der Tyrann haust, -- aber haben wir nicht dabei immer das Gefühl,
-die beiden, die einst so nah und zärtlich beisammen waren wie ein
-Sittichpärchen, seien jetzt längst meilenweit getrennt? So wundert’s
-uns nicht, daß Macbeth, wie er mitten im letzten Verzweiflungskampf die
-Nachricht von ihrem Tod erhält, aus seiner versteinerten Öde heraus das
-Ding erst wie einen unwillkommenen Botenbericht von sich schieben will:
-
- Sie hätte später sterben sollen;
- Es wär’ wohl Zeit für solch ein Wort gekommen.
-
-Dann aber kommt es doch, nicht wie Trauer um sein geliebtes Weib,
-um diesen besonderen Menschen, sondern wie eine Besinnung über die
-Sinnlosigkeit des ganzen Lebens über ihn. In diesem Augenblick, wo der
-Verblendete, der eiserne Mann der Sicherheit, sich zu besinnen anfängt,
-will auch in ihm wieder der alte Macbeth erwachen; auch für ihn ist
-diese Auferstehung die Ankündigung des Endes. Wie der Zugefrorene sich
-aber jetzt in der wüsten Welt, in seinem verwüsteten Leben umzusehen
-beginnt, was gewahrt er? Das Leben ist Kerzenlicht, das Narren ins
-modrige Grab leuchtet! Das Leben ist nichts als bewegter Schatten! Das
-Leben ist
-
- ein armer Komödiant,
- Der auf der Bühn’ ein Stündlein lärmt und tobt
- Und dann nicht mehr gehört wird; ’s ist ein Märchen,
- Erzählt vom Irrsinn, voller Lärm und Wut,
- Dessen Bedeutung: nichts.
-
-Nichts! -- Der Systematiker des Nihilismus konnte es nicht deutlicher,
-nicht grimmiger sagen, -- nichts bedeutet ihm mehr das Leben. Auch
-ist er gar nicht mehr ein Lebendiger, gar nicht mehr er selbst: nur
-noch der klapperdürre Träger eines Staatsgewandes, nur noch eine hohle
-Rolle, nur noch der Mann, der spielen muß, was die Dämonen aus ihm
-gemacht haben. Er selbst der Schauspieler, der den Tyrannen mimt, --
-aber er will, er muß ihn weiter spielen, den königlichen Herrn, der
-unbesiegbar ist. Er hat den erhabnen Wahn, den Cäsarenwahn, hat fast
-ein Gefühl, als könne er nicht sterben, -- wo doch etwas irgendwo in
-ihm sich so längst nach Erlösung sehnt! Nach Erlösung aus dem Tode, den
-er als Leben führt.
-
-Jetzt aber kommt, woran er nicht glaubt, wogegen er sich versteinert,
-das Ende, die Nemesis, die Überwindung.
-
-Das Unmögliche richtet sich in seiner Welt der Tatsachenwirklichkeit
-auf -- der Wald rückt gegen seine Burg heran!
-
-Das ist uns, auch wenn wir nichts von ähnlichen Sagen wüßten, wie
-ein Mythos: das grünende Leben empört sich gegen den Steinturm des
-Tyrannen, dem das Herz auch von Marmelstein ist.
-
-Wir kennen aber, aus einer deutschen Überlieferung, die Sage von dem
-König auf seiner festen Burg, gegen den am Maientag der König Grünewald
-angerückt kam, alle Krieger mit grünen Maien geschmückt; da rief die
-Königstochter:
-
- Vater, gebt Euch gefangen,
- Der Grünewald kommt gegangen!
-
-So wird in der Sage der Winter vom Frühling besiegt. So wird auch der
-längst vereiste Macbeth von dem glühend reinen Prinzen Malcolm, von dem
-warmherzigen Macduff, von dem ehrenfesten alten Siward, dem weisen und
-beherrschten, überwunden.
-
-Die Orakel erfüllen sich und enthüllen sich in ihrer Zweideutigkeit;
-und wie um die tragische Ironie zu verdoppeln und den harten
-Tatsachenmenschen, den die Dämonie erzeugt hat, mit seinen eigenen
-Waffen zu schlagen, löst sich alles Dämonische und Zauberhafte ins
-Natürliche auf, und die Unmöglichkeit ist lange nicht so unmöglich,
-wie die gefeite Sicherheit und Majestät von Hexen Gnaden, die der
-besessene König für Wirklichkeit genommen hatte: der Wald kann freilich
-nie gegangen kommen, -- aber Soldaten der Revolutionsarmee können
-Zweige tragen, um ihre große, überlegene Zahl dahinter zu bergen;
-kein vom Weibe Geborener sollte Macbeth je überwinden können, nun
-denn, Kleingläubiger, Ungläubiger, Wortgläubiger, Macduff hat aus dem
-Mutterleib geschnitten werden müssen.
-
-Und die Führer des Ständeheers, das den Sieg erlangt -- der Jüngling,
-der Mann, der Greis -- alle drei sind geprüfte Menschen der Harmonie;
-Trieb und Geist sind ausgeglichen in ihnen; ihr Fühlen, ihr Wollen, ihr
-Denken streben zur Einheit, ihr Unteres und ihr Oberes halten einander
-die Wage.
-
-Faust -- der Faust jener Zeit -- hat ein Bündnis mit dem Teufel
-geschlossen und wird am Ende vom Teufel geholt.
-
-In Macbeth haben sich die Teufel in der eignen Brust zusammengefunden
-mit den teuflischen Mächten der Welt; er war ein Besessener, der hoch
-kam und dem es glückte und der gebietend in der Macht stand wie mancher
-besessene Unhold; der kein Glück und keine Freude seitdem kannte; der
-wußte, daß er ein Fluch der Menschen war, und der, ohne zu wissen,
-wofür, ein Sklave der Pflicht, ein ganz hart und trocken gewordener
-Pflichtmensch, nur freilich dem Bösen verpflichtet, tapfer bis zum
-Schluß sein Dasein verteidigt, sein Nichts!
-
- Ich fechte, bis das Fleisch mir von den Knochen
- Gehackt ist.
-
-Daß er einst Gewissensbisse, Reue, Grauen, Angst vor Zusammenhängen und
-Folgen, Furcht vor den Menschen gekannt hat, ist ihm längst nur noch
-wie ein Märchen:
-
- Vergessen hab’ ich fast der Furcht Geschmack.
- Einst war die Zeit, wo meine Sinn’ erstarrten
- Beim nächtlichen Geschrei, wo sich mein Haar
- Bei einem Unglückswort erhob und sträubte,
- Als lebte es; ich aß mich satt an Grausen;
- Entsetzen, meinem blut’gen Sinn verwandt,
- Erstaunt mich nicht mehr.
-
-So wenig wie er mehr begreift, wozu man lebt, versteht er, wie man
-freiwillig dem Leben ein Ende machen, wie man dem Schicksal durch
-den Freitod entrinnen wollen kann. Nichts faßt er, was mit Freiheit
-zusammenhängt; es gibt kein vollendeteres Gegenbild des Brutus als
-diesen Zinspflichtigen des cäsarischen Dämons; wie in der letzten
-Schlacht die Not schon ans Äußerste geht, ruft er voller Hohn über so
-eine unmögliche Vorstellung:
-
- Soll spielen ich den römischen Narren und
- Ins eigne Schwert mich stürzen?
-
-So ist dieser Tyrann, der dämonischer Ehrsucht gefröhnt hat, der Narr
-und leibeigene Knecht des Lebenstriebs, eines Lebens aber, das keinen
-andern Inhalt hat als Macht über andre, leere, ziellose Macht, die sich
-nur behaupten kann durch unausgesetzte Gewalttat und die einen Sinn,
-auch nur für ihren Träger selbst, so wenig hat wie einen Erben. Und
--- er hat es in einer Stunde, wo ihm mit dem einstmals Liebsten alles
-hinsinken und schwinden wollte, durchschaut -- solch ein öder Wille zum
-Dasein und zur Macht ist Wille zum Nichts. Solange er Angst und Reue
-und Qual hatte, war er noch irgendwie im Reich der Lebenden gewesen;
-sowie ihm die Hölle ihre unbewegte Ruhe und Sicherheit gegeben hatte,
-gehörte er dem Reich der Leere, dem Nichts an und war nur noch ein
-bewegter Schatten, ein Bühnenheld mit allerlei Lärm und Wut, der seine
-Rolle gut zu Ende führte und tapfer wie ein Held den Schlachtentod fand.
-
-
-Soviel ich weiß, können dem Dichter des Macbeth nur zwei spätere an die
-Seite gestellt werden. Den einen hat Otto Ludwig genannt: Goethe, den
-Dichter des Tasso. Für den andern halte ich Dostojewskij, den Dichter
-des Raskolnikoff und des Iwan Karamasoff.
-
-Wenn ich hier bei genialen Menschen, die zeitlich weit auseinander
-sind, von An-die-Seite-stellen rede, so kann ich damit nur meinen, daß
-ein Gleiches da ist und ein Trennendes, nenne man’s Fortschritt oder
-wie man wolle, es wird der Änderung im Geist der Zeit, aus dem oder
-gegen den der Künstler sich erheben muß, entsprechen.
-
-So auch, wenn wir von Shakespeare aus rückwärts gehn und in der
-Vergangenheit einen suchen, der seinesgleichen, der wie er also
-und anders war. Wir werden keinen eher nennen als Sophokles und
-werden erkennen: das Verhältnis des Menschen zu seinem Schicksal,
-das Verhältnis innerer und äußerer Dämonie ist in aller Gleichheit
-des Wesentlichen bei den beiden Dichtern ein anderes; die Macht der
-Vernunftsphäre, die Freiheit, in der der Mensch gegen das Verhängnis
-steht, die Macht des Individuums, sich zu wandeln und zu entwickeln,
-ist in Shakespeare größer geworden. Selbst an dem finstern, strengen
-und streng behandelten, aus der Bahn der Gewöhnlichkeit von den Mächten
-ins Reich metaphysischer Lockung und Verfolgung gehobenen Macbeth und
-in andrer Art an seiner Gefährtin erkennen wir die Möglichkeit des
-μετανοεῖν, der Buße, der Umkehr und Heimkehr ins wahre Wesen, das
-keinem Lebendigen in seinem Innern ganz und gar fehlen kann.
-
-Und dasselbe Verhältnis sehen wir fortschreitend zwischen Shakespeare
-und den beiden Dichtern, die nach ihm kamen. Das Gleiche in den
-Werken der drei Dichter, die ich nannte -- Shakespeare, Goethe und
-Dostojewskij --, ist, daß in vollendeter Art der Charakter sich selber
-sein Schicksal baut, daß nicht hier die Tat ist und dort, nachher, von
-außen die Vergeltung kommt, sondern daß Tat und Leiden ein einziger
-Zusammenhang sind: in der Tat, im ursprünglichen Wesen, das die Tat aus
-sich entlassen hat, liegt das Leiden, die Strafe.
-
-Ödipus straft sich selbst für das, was die Götter dadurch taten, daß
-sie ihm sein Schicksal gaben.
-
-Diese Männer neuerer Zeit indessen sind vom Weltengeist gestraft, nicht
-mit äußerem Schicksal zunächst, sondern mit ihrem inneren Wesen. Und
-was von außen als Strafe über sie hereinbricht, ist in Wahrheit der
-Anfang der Erlösung: auch für Macbeth, der längst kein Lebendiger mehr
-ist, wenn der Tod ihn von seinem Posten abruft.
-
-Hier aber fängt gerade der Unterschied an zwischen den Dichtern unserer
-näheren Zeit und Shakespeare: Strafe, Sühne, tragischer Ausgang fällt
-für die modernen Tragiker nicht mehr so unbedingt mit dem Lebensausgang
-zusammen. Den Knalleffekt des gewaltsam aus dem Leben gerissenen und
-dann als Leiche daliegenden Menschen braucht unser Empfinden und unser
-Geist -- denn die hohe Dichtung wendet sich keineswegs bloß an die
-Empfindung -- nicht mehr. Tasso wie Macbeth, beide leben ihre Tragödie,
-solange sie leben; aber für Macbeth und seine Welt ist es so notwendig,
-daß er als einer, der gewaltsam gelebt hat, gewaltsam von hinnen geht,
-wie für Tasso, daß das Äußere, Plötzliche, Einmalige des Ausgangs ohne
-Bedeutung ist. Bei dieser Gestalt kommt alles nur darauf an, daß ihr
-Wesen und Leben nicht in die Umgebung, nicht in die Welt paßt.
-
-Und wieder einer andern Tönung des mit der Zeit und dem Volksschlag
-veränderlichen Teiles der Ausdrucksgestalt des Geistes gehören
-Dostojewskijs Gestalten an. Raskolnikoff und gewiß auch -- das Werk ist
-unvollendet geblieben -- Iwan Karamasoff, beides Mörder gleich Macbeth,
-Iwan ein indirekter, der durch Psychologie die Mordtat zustande
-bringt, sie beide überleben ihre Tragik, leben über sie hinaus,
-überwinden ihr So-tun-müssen, So-wollen-müssen, das ihre Qual bedingt
-hat.
-
-Ihre Tragik, ihr Aufruhr, ihr Nicht-in-die-Welt-passen und Zerfall mit
-sich selbst, mit Gott und der Welt, ist ein Krampf und Übergangszustand
-der Jugend.
-
-Da ist ein Neues, und Goethe der junge Dichter hat nicht gewußt, nicht
-gestaltet, was Goethe der Mensch langen Lebens würdevoll bewährt hat:
-daß Werther nämlich sich in Wahrheit nicht hat töten, sondern nur den
-Krampf der Jugend bei furchtbarem Zusammenprall mit der schnöden Welt
-hat überwinden müssen.
-
-Das aber gibt es bei diesen Gestalten Dostojewskijs: sie haben einen
-so starken Grad der Erkenntnis in die Zusammenhänge des Innen und
-Außen, ihres Wesens und der geschichtlich gewordenen Umgebung, daß
-ihre Leidenschaft, ihr Napoleons- und Mordtrieb und ihr Leiden nur ein
-Entwicklungsstadium in ihrem Leben bilden, daß sie durch Resignation
-und Hoffnung, Hoffnung nicht so sehr für sich wie für die Menschheit,
-gerettet werden.
-
-Etwas von dieser Entwicklung fängt gerade mit Shakespeare an: in
-seinen beiden modernsten Tragödiengestalten Troilus und Hamlet und in
-der Entwicklung des trotz allem nichttragischen Schauspiels Maß für
-Maß. Troilus der Jüngling wächst und reift während der Handlung; als
-Lebender sieht er am Ende des Dramas gefaßt und groß dem Untergang
-seines Volkes entgegen. Und Hamlet? Wie er leben mußte, in dieser Welt,
-das ist für uns seine Tragödie; daß er am Schluß gewaltsam stirbt,
-und die Art, wie dieser Tod herbeigeführt wird, das hat etwas fast
-Nebensächliches, ja sogar Ungemäßes und Konventionelles an sich.
-
-Und vielleicht darf ich hier sogar mit einer persönlichen Erinnerung
-kommen. Als ich ein junger Student war und mich viel mit Hamlet
-beschäftigte, konnte ich nicht anders: ich erklärte mir das ganze
-seltsame Wesen des Dänenprinzen, seine Nähe am Wahnsinn, sein
-furchtbares Leiden an sich und den Menschen -- wovon allem wir an
-seinem Ort ausführlich gesprochen haben --, ich erklärte mir das alles
-mit der Pubertät, mit Jugend und Übergangszustand also.
-
-Kein Zweifel ist, daß auch in Hamlet potentiell eine Macht der Vernunft
-vorhanden ist, deren höchste und reinste Gestalt, die Harmonie zwischen
-Fühlen und Denken und Handeln, auch die höchste Tragik überwinden kann,
-weil kein Äußeres, auch der Himmel und sein Verhängnis nicht, mächtiger
-ist als der Mensch, der überwunden hat.
-
-Was da mit der Gesamthaltung des Sinnspiels Der Kaufmann von Venedig,
-mit dem Schicksal und der Läuterung des Angelo und Troilus beginnt,
-was im Vernunftwesen Hamlets angelegt ist, das wird auf Shakespeares
-letztem Gipfel zu weihevoller Höhe gehoben im Wintermärchen und zumal
-im Sturm, der, wie wir sehen wollen, von nichts anderm handelt als von
-dem Sieg des Geistes über den Trieb.
-
-Tragik aber bleibt immer das Teil derer, deren Wesen nicht nur im
-Triebhaften wurzelt -- so sind wir alle beschaffen --, sondern aus
-denen der Trieb wie Blattwerk und Blüte und Flamme zehrend, zündend
-und verderbend nach oben schlägt. Auch sie haben Erkenntnis, manchmal
-hohe und starke; aber nur eine solche, die ihr Licht auf den Trieb
-wirft und dies Nächtige sichtbar macht, auch für sie selbst; nicht aber
-die Erkenntnis, die Macht über den Trieb ist und beherrschend mit ihm
-fertig wird.
-
-Ein solcher Triebmensch, ein Getriebener also, ein Bewirkter, Passiver,
-von Dämonen Gepackter, so sehr er sich zumal später, nach seiner
-Krise, einbildet, eine aktive Natur zu sein, ist Macbeth der König,
-ganz anders denn doch von seiner innern Bestimmtheit seinem Schicksal
-zugetrieben als König Ödipus, bei dem die Hybris und der Herrscherwahn
-nur eine Begleiterscheinung, eine Folge und Widerspiegelung des
-unbegreiflichen Beschlusses der Götter ist. Und als ein Triebmensch,
-diesmal aber einer, der zum Lernen, zur Entwicklung der Vernunft wie
-der Innigkeit noch im höchsten Greisenalter nicht zu alt ist, der vom
-Schicksal in die Schule genommen wird und bei der Natur, beim Volk, bei
-Narren und nicht zuletzt beim Unglück in die Lehre geht, wird sich uns
-auch ein ganz anderer König enthüllen -- jeder Zoll ein König! -- das
-nächste Mal --, König Lear.
-
-
-
-
-König Lear
-
-
-Im Jahre 1603 erschien ein Buch eines gewissen Harsnet „Entdeckung und
-Erklärung hervorragender papistischer Betrügereien“; darin findet sich
-ein großer Teil der seltsamen Teufelsnamen, die Edgar Gloster in seinem
-vorgegebenen Wahnsinn im Munde führt. Es ist also wahrscheinlich, daß
-Shakespeare das Werk für diese Einzelheit benutzt hat, woraus sich
-ergibt, daß der König Lear, wofür auch gar nichts spräche, nicht vor
-1603 verfaßt sein wird. Im Jahre 1605 erschien ein Schauspiel, „Die
-echte Chronikenhistorie von König Leir und seinen drei Töchtern“.
-Dieses Stück hat, vom Rohen der Handlung abgesehen, so gut wie keine
-Ähnlichkeit mit Shakespeares Stück und weist von seinem Geist so wenig
-wie von seiner Komposition und Sprache etwas auf. Da nichts sicherer
-ist, als daß dieses Stück nichts mit Shakespeare zu tun hat -- außer
-Tieck, der bei all seinem beinahe tiefen Verstand eine wahre Sucht
-nach dem Verkehrten hatte, hat es, glaube ich, nur Simrock für möglich
-gehalten, der vom Volkstümlichen im allgemeinen wie von Shakespeares
-Volksart im besondern einen falschen Begriff hatte --, so kann man
-annehmen, daß hier ein älteres Stück rasch gedruckt und als das echte
-bezeichnet wurde, weil damals gerade Shakespeares Stück neu, noch nicht
-gedruckt, aber begehrt war. Sicher wissen wir, daß Shakespeares König
-Lear 1607 mit der Bemerkung ins Buchhändlerregister eingetragen wurde,
-das Stück sei Weihnachten 1606 aufgeführt worden; diese Aufführung,
-die vor dem König in Whitehall stattfand, braucht aber nicht die erste
-gewesen zu sein. 1608 erschienen dann tatsächlich zwei von einander
-abweichende Quartausgaben des Stückes. Der Text, den die Gesamtausgabe
-von 1623 bringt, ist in vielem einzelnen bedeutend besser; dafür
-fehlen ihm aber wichtigste Szenen, so vor allem die, wo Lear in
-Wahnsinnswut seine Töchter aus der Luft zusammenballt und vor die
-Richter stellt. Da diese Nachlaßausgabe trotz allem redlichen Willen
-der Herausgeber Liederlichkeiten genug begeht, da ihr Text nicht im
-entferntesten kanonische Geltung hat, da er so wenig von Shakespeare
-endgültig festgesetzt worden ist wie der, den die bei seinen Lebzeiten
-erschienenen Raubausgaben bringen, da man auf alle möglichen Gründe zur
-Erklärung der Auslassung raten kann, haben wir dem Schicksal lediglich
-dankbar zu sein, daß wir diese prachtvolle Hauptszene haben; sie aus
-dem Text wegzulassen und in den kritischen Apparat zu verbannen, blieb
-dem Tieck ~redivivus~ unserer Tage Gundolf vorbehalten.
-
-Die Geschichte vom König Lear war offenbar sehr bekannt und beliebt;
-ich nenne hier, ohne auf einzelnes einzugehen, die Quellen, die
-Shakespeare sicher bekannt waren: Mitte des 12. Jahrhunderts verfaßte
-der Bischof Galfried von Monmouth nach Überlieferungen in seiner
-Heimat Wales die „Geschichte der britischen Könige“, die 1508 in Paris
-lateinisch gedruckt erschien; darin berichtet er auch von Lear und
-seinen drei Töchtern. In allem Wesentlichen stützte sich Shakespeare
-aber wieder auf Holinsheds Chronik, deren zweite Ausgabe aus dem Jahr
-1587 stammt. Dichterische Bearbeitungen fand er in dem Lehrgedicht
-„Spiegel der Obrigkeiten“ von 1575 und in Spensers „Feenkönigin“ von
-1590. Das erwähnte Chronikendrama wird er doch wohl gekannt haben; eine
-der hölzernen Gestalten, die sich in Shakespeare zu seinem wundervollen
-Kent verwandelt haben kann, der in der sonstigen Überlieferung kein
-Vorbild hat, unterstützt die allgemeinen Erwägungen, die dafür
-sprechen. In allem übrigen aber hat er das biedere Ding, das so
-ungefähr auf dem Niveau von Hans Sachs steht, so gar nicht benutzt, daß
-keinerlei wirklicher Beweis dafür da ist, daß er es gekannt hat.
-
-Nun ist aber in der ganzen Überlieferung von den Vorfällen im Haus
-Gloster mit keinem Wort die Rede. Shakespeare flocht diese Tragödie
-kunstvoll in die Lear-Tragödie ein, indem er eine ganz andere Fabel,
-die Geschichte vom paphlagonischen König, die er in Sidneys „Arcadia“
-vom Jahr 1590 fand, benutzte.
-
-All diese Texte, die Shakespeare vorlagen, sind im Original
-und in guter deutscher Übersetzung in einem sehr hübschen und
-lehrreichen Büchlein zu finden, dem ersten Band einer Sammlung von
-„Shakespeares Quellen“, die Alois Brandl im Auftrag der Deutschen
-Shakespeare-Gesellschaft herausgibt.
-
-Seien nun zunächst die Grundelemente der überlieferten äußern Handlung
-und Shakespeares Abweichungen von den groben Zügen dieser Fabel
-zusammengestellt.
-
-Die Regierung des Britenkönigs Lear, der in noch älterer Gestalt
-der Sage ein keltischer Gott gewesen zu sein scheint, wird in eine
-fabelhafte Vorzeit verlegt; wir haben die Wahl, ob wir das Jahr 600
-oder gar 800 vor Christus nennen wollen. Immer ist er bei Beginn der
-merkwürdigen Geschehnisse sehr alt. Er hat drei Töchter, deren jüngste
-sich durch Schönheit und Klugheit auszeichnet und von ihm besonders
-geliebt wird; die beiden andern sind, wie wir im Märchen so häufig
-hören, böse und neidisch. Nun will er das Reich teilen und zugleich die
-Töchter verheiraten. Damit in Verbindung stellt er ihnen die Frage,
-welche von ihnen ihn am liebsten habe. Die bösen Töchter antworten
-schwülstig schmeichlerisch; Cordelia -- die Überlieferung ist in der
-Deutung dieses schwierigen Charakters nicht ganz einig -- spricht sich
-bald trocken, bald trotzig, bald keusch zurückhaltend aus; immer aber
-für ihn sehr unbefriedigend und überraschend. Sie wird enterbt; aber
-der König von Frankreich nimmt sie auch so, als armes Mädchen, zur
-Frau. Lear wird dann durch Goneril und Regan schlecht behandelt, sein
-Rittergefolge, das er sich ausbedungen hatte, immer mehr verkleinert.
-Zuletzt geht es ihm bei diesen vorgezogenen Töchtern so schlecht,
-daß er nach Frankreich flieht. Dort findet er am Hof die liebevollste
-Aufnahme. Es kommt zum Krieg; Frankreich siegt; Lear wird wieder
-König und lebt noch ein paar Jahre. Nach seinem Tod besteigt Cordelia
-den Thron. Etliche Jahre später aber erheben sich die Söhne ihrer
-Schwestern gegen die Herrschaft der Tante und erlangen den Sieg; sie
-wird gefangen gesetzt und erhängt sich im Gefängnis.
-
-Hier nun können wir Shakespeare sehr schön bei der Arbeit beobachten;
-wir sehen, wie er aus kompositorischen und inneren Gründen
-zusammengezogen und geändert hat, wie er aber dabei von den Elementen
-der Tradition in irgend einer Umgestaltung noch nimmt, was er irgend
-brauchen kann. Frankreich und Cordelia siegen in der Überlieferung;
-Lear wird wieder König; etliche Jahre später wird Cordelia in einem
-neuen Krieg besiegt. Diese Dehnung am Schluß konnte der Dichter nicht
-brauchen; ein Sieg Frankreichs über die Briten paßte also nicht zu
-seinem Schluß; er wird auch sonst keine Lust gehabt haben, ihn ohne Not
-auf die Bühne zu bringen. Aber daß Lear wieder König wird, entsteht,
-wenngleich nicht für Jahre, so doch für Augenblicke irgendwie vor
-unsrer Vorstellung: er wird wieder groß, königlich, gebieterisch, ehe
-er stirbt. Cordelia in der Überlieferung erhängt sich im Gefängnis nach
-ihrer Niederlage; bei Shakespeare wird sie gleich das erste Mal besiegt
-und von Edmund verräterisch ermordet; aber die Tat geschieht ebenfalls
-im Gefängnis und durch den Strick.
-
-Aber was hat Shakespeare sonst noch der dürren Fabel gegeben! Seine
-wichtigste Zutat ist Lears Wahnsinn, von dem die Überlieferung nichts
-weiß, und alles, was damit zusammenhängt; die Nachtszenen im Gewitter
-auf der Heide, in der Hütte, auf dem Pachtgut. Kents Widerspruch bei
-Lears Verstoßung Cordelias, seine Verbannung und Treue sind neu;
-wie gesagt, eine Spur davon bot das ältere Drama. Wie Cordelia zum
-König von Frankreich kommt, ist völlig verändert; da hat Shakespeare
-vor allem viel Liebesromantik, die ihm in dieses Stück nicht paßte,
-weggelassen; dafür hat er die Doppelwerbung Burgunds und Frankreichs
-erfunden, um Frankreichs edle Gesinnung in Kürze zu zeichnen.
-Wiederum Shakespeares Erfindung ist, daß die beiden Ehemänner der
-bösen Schwestern sich wesentlich unterscheiden; bei ihm ist Gonerils
-Gemahl Albanien ein edler, rechtschaffener Mann; das brauchte er im
-Zusammenhang der Glosterhandlung, brauchte es wohl auch zum Ersatz des
-Königs von Frankreich, der ganz in den Hintergrund trat. Der Narr ist
-völlig Shakespeares Erfindung. Und dann die ganze Glosterhandlung:
-Glosters Erlebnisse mit den beiden Söhnen, mit Regan und Cornwall; des
-Bastards Edmund Beziehungen zu Goneril und Regan; Edgars verstellter
-Wahnsinn und Zusammenhang mit Lear; Glosters Blendung und Erlebnisse
-mit dem Sohn und Lear; Edmunds entscheidendes Eingreifen in den Krieg
-und gegen Cordelia: all diese aufs engste verflochtenen Beziehungen der
-drei Gloster zu Lear und seinen Töchtern stammen ganz von Shakespeare,
-können natürlich auch in der Geschichte des paphlagonischen Königs
-nicht vorgebildet sein.
-
-Zwei sinnvoll nebeneinander laufende und aufs natürlichste ineinander
-verflochtene Handlungen, reichlich Stoff für ein großes Drama hätte
-Shakespeare in der ursprünglichen Überlieferung gehabt: Lears
-Erlebnisse mit den Töchtern; Cordelias und des Königs von Frankreich
-Liebesabenteuer. Das hätte ein Stück werden können, mit seinem
-Ineinander des triebhaft Wilden, Willkürlichen in der alten Generation
-und des freien Liebesspiels in der jungen, ganz anders als das hölzerne
-Chronikenspiel es machte, ganz shakespearisch, so wie Shakespeare eine
-ähnliche Doppelfabel in der Tat später im Wintermärchen behandelt
-hat. Aber daß es ihm diesmal auf ganz anderes ankam, zeigt eben die
-Tatsache, daß er das Liebesspiel unschuldiger Jugend in Wald und
-freier Natur, dem er sich sonst so oft zugewandt hat, radikal aus dem
-überlieferten Stoff austilgte und statt dessen mit der Glosterhandlung
-Ereignisse einfügte, die gegen Lears Geschichte sich nicht abheben,
-sondern das nämliche Thema verstärkt variieren und die Lears Erlebnis,
-das er selbst so überraschend in seinen Reden manchmal ins Sexuelle
-hinüberspielt, auch in der Handlung, die wir vor Augen haben, in
-den Vorgängen zwischen dem Bastard Edmund und Lears Töchtern, in
-Verbindung bringen nicht mit unschuldiger Liebe, sondern mit arger und
-frevelhafter Verkuppelung von Geschlechtstrieb und Machtgier.
-
-König Lear, wir sehen es mit seinem ersten Auftreten und blicken immer
-tiefer in seinen innern Zustand hinein, ist ein Mann des Triebs, der
-Willkür, gutartig dabei, aber jäh, ungezügelt. Ungeheuer stark prägt
-sich sein Königsbewußtsein aus; er ist eigensüchtig und eigensinnig,
-ist es von je gewesen und in seinem hohen Alter noch viel mehr
-geworden. Aber eine ganz besondere Spielart in Shakespeares Sammlung
-gebietender Triebmenschen stellt er vor. Ohne Frage hat Lear mit
-Macbeth, mit König Claudius, mit Richard III. Züge genug, entscheidende
-Züge gemeinsam; am ehesten aber wirkt er, wie ein in langer
-Regierungszeit von keiner Rebellion gestörter, alt gewordener Richard
-II.; eine unverwüstlich gute Anlage ist in ihm, und sein Schöpfer,
-so scharf er ihn ansieht, entzieht ihm niemals seine Sympathie. Auch
-insofern darf er mit König Leontes aus dem Wintermärchen verglichen
-werden. Der wird von der Raserei seines eingewurzelten Triebs, seiner
-Willkür und Tyrannei im Gang der Handlung, vor allem durch das
-Eingreifen einer resoluten Frau, die ihn in die Kur nimmt, geheilt.
-Die Gattin, der Gegenstand seiner Wut, wird ihm weggenommen; er
-glaubt, durch sein Gericht in den Tod; in Wahrheit durch Intrige vor
-ihm verborgen. So ist das Wintermärchen, obwohl es in einem Punkt
-bis ins Allerletzte der Seelenergründung geht, doch keine Tragödie
-und kein Lebensdrama geworden, sondern ein Spiel; darum auch hat in
-ihm die heitere Liebesepisode und so manche andre Erholung Platz,
-und die Heilung und Befreiung des Königs ist der Zeit anvertraut,
-die übersprungen wird. Wie anders im Lear! Da sind wir dabei, wie
-allmählich, Stufe um Stufe, auf seltsamstem Weg die neuen Umstände,
-die furchtbarsten Erfahrungen eine Wandlung und Läuterung von innen
-hervorbringen.
-
-Lear der König, der alte Mann, der Vater legt großen Wert auf
-die Liebe; aber -- Strindberg hat gut darauf hingewiesen -- der
-Eigenwillige, Heftige, Launische versteht unter Liebe vor allem: sich
-lieben lassen. Mildernd ist da allerdings zu sagen: er ist alt, fühlt
-sich hinfällig, hat, ohne daß er’s in seinem starken Verlangen nach
-majestätischem Auftreten zeigen will, das Bedürfnis, sich anzulehnen;
-sein starkes Reden, Pochen und Kopf-in-den-Nacken-werfen täuscht nicht
-darüber, er ist schon ein wenig weinerlich geworden; er blickt sich,
-nur soll man’s nicht merken, nach Liebe und Pflege um.
-
-Wie mag er früher gewesen sein, als er noch rüstig war, in der
-Manneszeit, in der Jugend? Auch da hat Strindberg etwas Interessantes,
-auch für ihn selbst Bezeichnendes gefragt: was hat König Lear
-eigentlich für eine Frau gehabt? Jetzt ist sie tot. Wie hat er mit
-ihr gelebt? Die Kinder dieser Ehe sind jedenfalls sehr ungleich
-ausgefallen, und ungleich werden wohl auch ihrer beider Naturen,
-untereinander und jede in sich, gewesen sein; ungleich etwa auch Art
-und Grad ihres Zusammenlebens. Erwähnt wird die Frau nur einmal. Wie
-Regan den Vater, der sich unzeitig bei ihr einquartieren will, mit kaum
-unterdrücktem Zorn begrüßt:
-
- Ich freu’ mich, Euer Majestät zu sehn,
-
-da erwidert er mißtrauisch:
-
- Regan, ich denk’, du tust’s, und weiß den Grund,
- Warum ich’s denke: wärst du nicht erfreut,
- Ich schiede mich von deiner Mutter Grab,
- Weil’s eine Ehebrecherin verschlösse.
-
-Schließlich heißt das nur in einer etwas blühenden Gleichnissprache: Du
-bist mein echtes Kind nicht, wenn du dich nicht freust, deinen Vater
-zu sehen! Aber dies Stück stammt aus der Periode, wo Shakespeare schon
-lange nicht mehr die üppige Sprache mit sich, sondern höchstens mit
-den Personen davonlaufen läßt, für deren Charakter und Erleben sie
-kennzeichnend ist; und überdies dürfen wir glauben, daß dem reifen
-Dichter, als er Lear gerade so und nicht anders reden ließ, die Frage
-nach Lears Weib schon auch selber einfiel, und vor allem: wir werden
-noch hören, wie Lear später, wo mit der Tollheit die Erinnerungen
-farbig und brennend heraufgekommen sind, sich über den Zusammenhang von
-Machtwillkür und Weibsgemeinheit äußern wird. Ein gewisser Einblick
-in das frühere Leben und die Beschaffenheit der Ehe eröffnet sich da
-schon, und mehr als diese allgemeine Stimmung brauchen wir nicht; mehr
-hat auch der Dichter selbst nicht gewußt.
-
-Was die beiden ältesten Töchter über ihren Vater äußern, soll wohl
-vor allem ihre Lieblosigkeit kennzeichnen; der böse Blick aber sieht
-scharf, und was sie von den Schwächen, den Altersschwächen ihres
-Vaters sagen, finden wir im Sachlichen selbst bestätigt und glauben
-den Töchtern gern, daß das im Alter sich nur verstärkt hat, aber
-schon immer seine Manier war. Und wenn nun Goneril, das junge Weib,
-klagt, „die besten rüstigsten Jahre seines Lebens“ seien auch schon
-voll Übereilung gewesen, so finden wir das recht glaubhaft; sie wird
-sich aus ihrer Kinderzeit, etwa auch aus Erzählungen, an genug solche
-Auftritte erinnern. Er ist ein Mann, von dem ungestüme Launen, jähe
-Machtsprüche zu erwarten sind. Vielleicht ist aber doch die Szene,
-mit der die Handlung einsetzt, das tollste Stück, das er je geleistet
-hat. Die beiden ältesten Töchter sind schon verheiratet; um Cordelia,
-die jüngste, bewerben sich zwei hochansehnliche Freier. Das wurmt ihn
-innerlich schon, ohne daß er sich’s eingesteht, daß das jüngste und
-liebste Kind ihn nun auch noch verlassen, einem andern in Liebe folgen
-soll:
-
- Sie war mein liebstes Kind; des Alters Trost
- Hofft’ ich von ihrer Pflege.
-
-Sie hätte ganz bei ihm bleiben sollen; er ist nicht der Mann zu
-begreifen, wie man einen andern lieb haben kann; und nun soll sie
-gar so weit weg; zwei Ausländer, man könnte fast Schlimmeres sagen,
-Landesfeinde bewerben sich um sie; die beiden älteren Töchter haben
-wenigstens Herzöge Britanniens zu Männern genommen. Nun wird sie wohl
-gar, wenn er ihr schon ein Drittel des Landes gibt, die meiste Zeit
-fort, drüben in Frankreich oder Burgund sein. Auf jeden Fall will er
-sich’s jetzt bequem machen, will die Last der Regierung auf seine alten
-Tage los sein, aber ein reiches, üppiges, königlich gebieterisches
-Leben mit Jagden und Festen und Ritterfahrten weiter führen. Diesen
-seinen Entschluß betrachtet er als einen edelmütig liebevollen
-Verzicht, als Großmut; er hält es für selbstverständlich, daß die
-Töchter und der Hof ihn so nehmen müssen; und da ist es, meint er,
-das wenigste, daß sie ihm dafür jetzt, in feierlicher Staatssitzung
-versichern, wie lieb sie ihn haben, das heißt, wie gut er ist.
-
-Und gerade das kann Cordelia nicht! Ihre beiden Schwestern nehmen die
-Sache politisch; wenn Paris eine Messe wert ist, sind sie ja wohl keine
-Teufelinnen aus der Hölle, sondern bloß Fürstinnen durchschnittlicher
-Art, wenn sie für ein Drittel Britanniens ihrem despotischen Vater mit
-schönen Redensarten um den Bart gehen. Wie man Shakespearephilologie
-von seiner übrigen Gesinnung trennen kann, verstehe ich nicht,
-aufrichtig gesagt; ich habe in der Tat gar nichts dagegen und sehr
-viel dafür, wenn man sich auf den wunderschönen Standpunkt Cordelias
-stellt; aber damit, daß man ihre Haltung bewundert und die der
-andern Schwestern als etwas abgründlich Schlechtes, als schnöde
-Heuchelei verdammt, ist es nicht getan. Unser ganzes öffentliches,
-gesellschaftliches und Familienleben wird radikal umgestaltet, wenn
-man auf Cordelias Boden tritt. Goneril und Regan benehmen sich höchst
-abscheulich und ganz nach der Regel. In Cordelia, die bisher ein Kind
-war und nun vielleicht zum ersten Mal berufen ist, vorzutreten und ihr
-Inneres zu offenbaren, tritt diesem herrischen, eigensüchtigen, an
-Liebedienerei gewöhnten König zum ersten Mal ein Ausnahmemensch, zum
-ersten Mal jemand entgegen, dem das Gebot des Herzens wichtiger ist als
-alles andre in der Welt. Und das ist sein eignes, sein liebstes Kind!
-Keine Frage, er weiß es bloß nicht, darum liebt er sie vor allen, weil
-ihre Innigkeit, ihre Menschlichkeit, ihre Echtheit ihm wohltut; weil
-sich die Übereinstimmung von Fühlen und Handeln, die ihr notwendig
-ist, in ihren Bewegungen, ihrem Antlitz, dem Blick ihrer Augen und
-hundert täglichen Kleinigkeiten äußert. Keineswegs kann man sagen, daß
-sie eine Fanatikerin der Wahrheit wäre; dann müßte das Denken in ihr
-besonders entwickelt sein, und sie könnte dann ihrer echten Liebe zum
-Vater wahrscheinlich einen recht starken Ausdruck geben. Sie ist aber
-in keiner Weise unter wahrhaften Menschen eine Ausnahmeerscheinung;
-sie ist es nur in der knechtisch-lügnerischen Umgebung, wie man sie
-allenthalben, ganz besonders aber am Hofe trifft. Ein sprödes Mädchen
-ist sie; sie kann ihr Herz nicht auf dem Präsentierteller herumreichen,
-kann nicht in einer Staatssitzung, kann vor allem nicht zu einem Zwecke
-von ihren Gefühlen sprechen. Von den Gefühlen zu sprechen geht gegen
-das Gefühl; Gefühle äußern sich im stillen, fortwährenden Tun und in
-plötzlichen Erhebungen und Aufwallungen. Der König zwar erwartet, wenn
-er verkündet, er wolle zurücktreten und das Reich seinen Töchtern
-und Tochtermännern schenken, müsse eine solche Aufwallung, die ihm
-echt und von innen aufschießend vielleicht noch nie im Leben, gemacht
-aber gewiß immerzu begegnet ist, sich sofort einstellen; und die
-gezierten Äußerungen der beiden andern Töchter, derengleichen er für
-ungewöhnliche Dankbarkeit, zu der er so oft Veranlassung gegeben hat,
-gewohnt ist, nimmt er für solche Ausbrüche. Cordelia aber horcht in
-sich hinein und findet in diesem Augenblick nur Leere. Den Äußerungen
-ihrer Schwestern hört sie die Berechnung an, und so wird aus ihrem
-Unvermögen, sich jetzt zu äußern, Verstocktheit. Es kommt aber noch
-etwas dazu. Der Kindheit entwachsen, eine Jungfrau geworden ist sie
-durch die ersten Regungen der Liebe, einer Liebe so ganz andrer Art
-als die Kindesliebe. Wir dürfen annehmen, daß ihr Herz sich Frankreich
-zuneigt; aber selbst, wenn sie davon gar nichts wüßte, wäre doch
-Liebigkeit, diese Bereitschaft in ihr, bald ein eheliches Weib zu
-werden, die ja auch von außen gefördert wird. Höheres gibt es für
-dieses Mädchen nichts in der Welt als diese Erwartung, sich liebend
-hinzugeben und hemmungslos, wie es das Gebot der Liebe ist, einem Manne
-zu gehören. Und in diesem Augenblick -- die Freier stehn vor der Tür,
-werden eben geholt, die Stunde grenzenlosen Aufgebens, wonnig bangen
-Umfassens ist da -- verlangt der alte Mann für sich, was bis aufs
-letzte Tröpfchen gesammelt in ihr eines andern wartet. Und sie muß
-mitanhören, wie ihren Schwestern glatt wie Öl etwas von der Zunge geht,
-was ihr nur wie Verrat an der Gattenliebe klingen kann. So vermag sie
-ihrem Vater nicht nur das Gehäufte nicht zu geben, worauf er Anspruch
-macht; sie kann ihm jetzt gar nichts geben; und was sie schließlich
-äußert, kommt gezwungen und hart heraus. König Lears Seelenkenntnis
-können wir uns aber nicht verwahrlost, verbogen und verkehrt, man nennt
-das naiv, genug vorstellen. Er hat verlangt, mit Recht verlangt, das
-war doch das wenigste, daß man ihm bei diesem feierlichen Akt seines
-ungemeinen Edelmuts ein paar schöne Worte sagt; ist das denn zu viel?
-Nun, die älteren Töchter tun’s; und schon ist er zufrieden und gibt
-ihnen ihr überreichlich Teil. Jetzt ist an seinem liebsten, seinem
-Schmerzenskind die Reihe; und wie? hört er recht? hart, fast böse
-antwortet sie, sagt wohl so etwas von pflichtschuldiger Liebe; aber
-merkt man nicht, wie sie sich dazu selbst zwingen muß? Für ihn ist sie
-in diesem Moment nicht bloß verstockt und lieblos; sie ist eine arge
-Heuchlerin; sie preßt sich Äußerungen ab, die ihr nicht von Herzen
-kommen. Was steckt da dahinter? Es muß doch einen Grund haben! Was
-offenbart sich da? Wie sieht es in ihrem Herzen aus? In dem Augenblick,
-wo sie ihrem Vater, der den Kindern sein ganzes Reich gibt, wie die
-Schwestern, überströmend dankbar sein sollte, zeigt sie sich so und
-redet mehr von ihrem künftigen Mann als von ihrem guten Vater? Alles
-dreht sich um ihn, innen kocht’s auf, und der Ausbruch ist da.
-
-Vergebens ruft der Graf von Kent, ein Mann, der schon lange an diesem
-Hof gelebt und zu Lear voller Verehrung wie zu einem Vater aufgeblickt
-hat, dessen kerniger Biedersinn Cordelias verwandte Frauenseele
-erkennt, dem König zu, er sei ja toll:
-
- Was tust du, alter Mann?
-
-In dieser Verfassung läßt Lear sich von keinem Menschen hemmen:
-Kent wird verbannt, Cordelia verstoßen, enterbt, ohne Mitgift dem
-überlassen, der sie nimmt. Burgund tritt zurück; Frankreich liebt
-Cordelia um ihrer selbst willen; sie wird seine Frau. Cordelias
-knospenhaftem Wesen, das überlegener Klugheit fern ist, können wir
-nicht zutrauen, daß sie daran gedacht hat; aber ein besseres Mittel,
-ihre Freier zu prüfen, als auf jede Würde und Mitgift zu verzichten und
-nur noch sie selbst zu sein, konnte es nicht geben.
-
-Hundert Ritter, mit ihrem stattlichen Gefolge von Edelknappen, Knechten
-aller Art, hat der alte Mann sich vorbehalten; mit diesem Hofstaat
-will er abwechselnd bei den Töchtern hausen; und hochbeglückt und
-erfreut sollen sie sein, wenn ihr Vater kommt. Goneril hat in der Sache
-keineswegs unrecht, wenn sie meint, er habe seine Macht verschenkt,
-wolle aber nichts davon entbehren. Er tritt herrisch, brutal auf;
-die Ritter ahmen das Beispiel nach; was er um seiner Machtfülle,
-seines Selbstbewußtseins willen tut, setzen sie in Willkür, Roheit
-und Liederlichkeit fort; es ist ein zügelloses Treiben; sein erstes
-Wort, das wir bei Goneril von ihm hören, wie er mit seinem wilden
-Gefolge von der Jagd kommt, ist: „Laßt mich keinen Augenblick auf das
-Essen warten!“ Und noch mehr Proben eines Auftretens erhalten wir,
-das übermütig zu nennen wäre, wenn er nicht ein überalter Mann wäre,
-der in einem langen, langen Leben niemals vom Leben in die Schule
-genommen worden ist. Er ist derart ungezügelt wie kleine Kinder, die
-man ungezogen nennt; die Sinneseindrücke scheinen fast ohne jede
-geistige Vermittlung Handlungen bei ihm auszulösen; er verstößt,
-verbannt, schimpft und schlägt so unmittelbar, nachdem man sich seiner
-Willkür entgegengestellt hat, wie das kleine Kind nach dem glänzenden
-Gegenstand greift, den es sieht. Hat man das Kindchen ein paarmal aufs
-Händchen geschlagen, so wird sich, wenn es die Bewegung noch macht,
-schon so etwas wie Zögern, wie böses Gewissen darin äußern; Lear
-aber scheint nie im Leben etwas entgegengetreten zu sein, was er als
-ernsthaften Widerstand achtete; er hat das beste Gewissen von der Welt;
-er meint es wirklich gut zu meinen; er hält sich für gut. Er hat doch
-seine Macht abgegeben; bloß auf die Eitelkeiten dieser Welt will er
-nicht verzichten; das ist für ihn fast nichts, was er behalten hat; daß
-er damit andern sehr lästig fallen kann, daß das -- gleichviel, wie
-die Töchter sind -- ein ganz unleidliches Verhältnis ist, -- wer soll
-es ihm sagen? So daß er es erkennt? Wer will den alten Mann jetzt noch
-erziehen?
-
-Kein einzelner Mensch könnte das mehr unternehmen wollen; man kann
-ihn nur dulden und liebevoll klug, unmerklich lenken. Die Töchter
-aber haben von ihrem Vater die Herrschsucht ohne die Würde, ohne die
-Liebenswürdigkeit, ohne den Charme geerbt; dafür handeln sie nicht
-bloß in Hitze, sondern planmäßig, kalt. Lears Bedürfnis, geliebt zu
-werden, ist immer noch ein Grad der Liebe; die Töchter sind in ihrem
-Verhältnis zu ihm ganz lieblos und kennen auch die Hemmung nicht, die
-man Pietät nennt. Er hat seine Macht weggeschenkt; sie haben, was sie
-von ihm wollten; nun soll er ihnen abwechselnd täglich und stündlich
-mit anspruchsvollen Narrheiten lästig fallen? Erziehen wollen sie ihn
-gewiß nicht, aber los werden und rücksichtslos seines Spielzeugs,
-seiner Machtfülle, seines Scheins berauben. Für ihn ist das gerade
-so, als wollten sie ihn zum Gerümpel werfen, obwohl die Rumpelkammer,
-die sie ihm anweisen würden, wenn alles ginge, wie sie in kalter Ruhe
-planen, wahrscheinlich ein ganz stattliches Haus wäre. Davon, daß sie
-ihn hungern lassen, in Nacht und Elend, in Obdachlosigkeit hinausstoßen
-wollten, ist gar keine Rede: die Vereinfachung der Märchenpsychologie
-ist Shakespeares Sache nicht. Für Lears Subsistenz wollen die Töchter
-schon sorgen; ihre Lieblosigkeit übersieht nur, daß die Substanz, von
-der das Gemüt des alten Mannes sich nährt, eben die Akzidenzien sind,
-die sie ihm wegnehmen wollen.
-
-Um ihn steht es nun so: er war in der Macht, und man war vor ihm
-gekrochen, und was sich dabei ergab, hatte er für die wirkliche Welt
-genommen. War ihm einmal im Ernst Widerspruch entgegengetreten, so
-hatte er ihn unter dem Beifall seiner Umgebung sofort zermalmt.
-Niemals war äußerer Widerstand begleitet gewesen von einer inneren
-Unruhe in ihm selbst; seine Umgebung hatte immer den Glauben in ihm
-befestigt, daß er es um seiner angeborenen Majestät willen verdiene,
-zu befehlen. Diesmal ist es anders. An ihm nagt etwas, immerzu, etwas
-Doppeltes, etwas Dreifaches: daß er seine Macht weggegeben hat, daß
-er sie diesen Töchtern gegeben hat, daß er Cordelia verstoßen hat.
-Falschheit kann täuschend wie Wahrheit aussehen, aber die Wahrheit
-hat etwas ganz Untrügliches in sich. Hat man einen Menschen, den man
-gut kennt, im Vorübergehen zu sehen geglaubt, so kann man sicher
-sein, daß er es nicht war; wäre er es gewesen, so wüßte man es. So
-ähnlich geht es diesem kurzsichtigen Vater: er glaubt, daß Cordelia
-ein liebloses Geschöpf, daß Goneril und Regan liebende Töchter sind;
-aber etwas in ihm weiß, daß es nicht so, daß es umgekehrt ist. Der
-Klang der Stimme Kents, der so tapfer zu Cordelia stand, liegt ihm noch
-im Ohr; und da ist nun noch einer, der auf seine Art ausspricht, was
-Lear selber nicht hochkommen läßt, der ein Privileg hat, den er nicht
-so ohne weiteres des Landes verweisen kann: das ist sein Narr, sein
-scharfer, sein bitterer, sein armer, sein liebender Narr. Der hängt
-treu und liebevoll an ihm, ganz gleich, wie er vom Herrn behandelt
-wird, der kennt die Liebe so, wie Goneril und Regan sie nicht kennen
-und wie auch Lear sie keineswegs kennt und übt, und in immer neuen
-Gleichnissen, Verdrehungen und Liedchen gibt der ihm nun zu verstehen,
-was für ein Narr er gewesen, das gute Kind zu verstoßen und sich und
-sein Reich den harten, scharfen, lieblosen Töchtern anzuvertrauen. Er
-kann sich’s nicht verhehlen, denn er merkt’s durch bittre Erfahrung:
-an den mitleidig verdammenden Sprüchen des Narren, die immer schärfer
-ausfallen, ist etwas, ist viel dran. Und doch glaubte er, so klug und,
-da er sich so recht mollig lieben und hegen lassen wollte, ein so guter
-Vater zu sein! Das erkennen wir nun aber auch deutlicher, als wir’s zu
-Beginn wußten: er kann tun, was er will, selbst Brutales: Böses ist
-doch nicht in ihm. In seinem Verkehr mit dem Narren gewahren wir gleich
-echte Liebenswürdigkeit und eine Neigung zu Kameradschaft, in der sich
-seltsam eine Kindlichkeit angeborener, zurückgedrängter Natur mit
-Kindischwerden vor Alter mengt.
-
-Die Welt sieht doch nun, wo er der Macht entkleidet ist, so ganz anders
-aus, als er gemeint hatte! Was sich der Haushofmeister seiner Tochter
-gegen ihn herausnimmt, wie scharf und ausfallend die Tochter selbst zu
-ihm spricht, wie es der Narr mit seinen Sprüchen kommentiert, -- aber
-der arme alte Mann! In dem Augenblick, wo allererst die Erkenntnis
-der Wirklichkeit kommen, wo der Wahn sinken will, bricht in dem
-schwachen Gefäß, das Druck von außen nie gekannt hat, der Wahnsinn aus.
-Sein erstes Zeichen bemerken wir sofort nach der ersten unerbittlich
-scharfen Rede Gonerils, wie Lear die Hand über die Augen hält, die
-Tochter prüfend, als sehe er nicht gut, ansieht und fragt: Ist das
-meine Tochter?
-
-Sowie wir diese erste Spur merken, können wir nun zurückgreifen,
-können uns der Worte Kents erinnern, der es gewagt hatte, seinen
-König verrückt zu nennen und dabei an sein Alter zu erinnern, können
-dazu nehmen, daß jetzt eben der Narr seinen Herrn den wahren Narren
-gescholten hat, und können fragen: war denn nicht wahrscheinlich sein
-Benehmen bei der Teilung des Reichs und bei Cordelias Verstoßung auch
-schon Geisteskrankheit?
-
-Fragen können wir so; ich antworte: Nein. Und vergesse dabei
-keinen Augenblick die Regel, die Gestalten des Dichters nicht als
-Naturgeschöpfe zu nehmen, sondern als Geistgeburten Shakespeares. Ich
-untersuche nicht einen Britenkönig Lear, sondern was Shakespeare uns
-gegeben hat. Dabei kommen irgendwelche medizinische Ausdrucksweisen,
-die der Dichter gehabt hat oder nicht gehabt hat, nicht in Betracht,
-sondern lediglich die Züge, die er seinen Gestalten gegeben hat. Die
-haben wir, ganz in unsrer eigenen Sprache, zu deuten. Das Problem,
-was Krankheit und was gar geistige Krankheit sei, will ich bei
-dieser Gelegenheit nicht aufrollen; sicher ist, daß es Namen für
-Veränderungen sind, deren wahres Wesen uns unbekannt ist, und daß
-diese Namen nur gewisse Komplexe von Symptomen einordnen. Sicher
-ist aber auch, daß Begriffe dieser Art haarscharf begrenzt sind,
-und daß unsre Menschenwelt untergehen und das Chaos beginnen würde,
-wenn diese Grenzen verwischt würden. Wie König Lear bei der Teilung
-des Reichs gehandelt hat, war, wie Kent in derber Volkssprache sagt
--- nicht umsonst kann der herzhafte, getreue Landedelmann nachher
-so gut den Knecht spielen --, verrückt, war verrückt, was das Volk
-so verrückt nennt. Der König hat so tun müssen, sonst hätte er’s ja
-nicht getan, aber die Notwendigkeit, die ihn zu seinem Verhalten
-brachte, war ein sozialer Komplex, bestehend aus den Beziehungen seiner
-Erziehung, Stellung, Umgebung; man kann sich darum auch denken, daß
-diese Notwendigkeit durch eine gleichfalls soziale Einwirkung, z. B.
-das ruhige und vernünftige Auftreten mehrerer im Staatsrat oder einen
-plötzlichen Überschwang kindlicher Verzweiflung in Cordelia aufgehoben
-worden wäre. Was aber jetzt in Lear allererst sich ankündigt, ist ein
-individueller, organischer Zwang unsäglich viel stärkerer und anderer
-Art in ihm; irgend etwas funktioniert jetzt anders in ihm; und wenn
-Heilung kommen soll -- wie sie denn in der Tat kommt, das Stück, in
-dessem erstem Akt wir noch stehen, handelt von ihr --, wird sie ganz
-andere Wege gehen müssen, als gutes Zureden oder soziale Einwirkung der
-üblichen Art.
-
- Seid Ihr Unsre Tochter?
-
-Mit dieser Frage sind wir genau an der Grenze zwischen Vernunft und
-Wahnsinn. Man kann völlig vernünftig sein und sein schmerzliches
-Staunen über das eigene Kind so ausdrücken, daß man fragt, ob man so
-einen Menschen, wie er da vor einem steht, wirklich selbst gezeugt
-und aufgezogen habe. Es kann auch tatsächliche Gründe geben, warum
-man bei einer starken Enttäuschung, die eine völlige Unähnlichkeit
-zwischen Vater und Kind an den Tag stellt, sich ernsthaft fragt,
-ob nicht Ehebruch im Spiel sei. Auch ist der Mensch, jeder, da er
-gottlob einen Dichter in sich hat, durchaus befugt, in irgend einer
-ekstatischen Stimmung mit dem Wahnsinn zu spielen. So hebt es denn
-auch bei Lear an: er schwankt zwischen ganz leise einsetzendem echtem
-Wahnsinn und dem Spiel damit. Noch spielt er, daß er nicht er selbst
-sei, daß er die Dame, die vor ihm steht, nicht kenne, aber schon ist
-es einen verschwindenden Moment lang innerer, organisch-funktioneller
-Zwang, so zu spielen, der dann aber sofort wieder abgelöst wird von dem
-gewaltig ausbrechenden, schmerzlichsten, wütendsten Zorn des in seiner
-Königswürde, in seiner Vaterschaft, in seiner Menschheit gekränkten
-Mannes.
-
- Seid Ihr Unsre Tochter?
-
-Hier an der Grenze haben wir schon die Form, in der sein Wahnsinn
-sich äußern wird. Eines hat er sein Leben lang nicht gekannt, ein
-Allerwichtigstes freilich: denken. Es hat für ihn keine Wirklichkeit
-gegeben, sondern nur Schein und Trug, von Schmeichelei und botmäßigem
-Eifer erzeugt; und so war in ihm kein Denken, sondern Trieb, Raschheit,
-Laune; und auf diese Weise entstand eine Welt, eine Beziehung von innen
-und außen, wo alles glatt funktionierte: seine Umgebung und er paßten
-ihre Lücken und Auswüchse an einander an, und was er befahl, geschah.
-In diese Welt der Täuschung, und andre kannte er keine, war er nun in
-langen Jahrzehnten, bis in sein höchstes Greisenalter, ganz eingelebt.
-Nun aber ist er allererst nicht oben in seiner, sondern irgendwo unten
-in der wirklichen Welt, und da sieht alles so ganz, so schmerzlich
-anders aus. Er sollte also umlernen, nachdenken, sich einordnen, sich
-zurechtfinden, und das kann er nicht mehr; er ist zu alt dazu. Zu alt
-wenigstens, um noch in der üblichen Art zu lernen, zu wachsen. Denn er
-lernt, der arme, alte Mann, lernt sogar erstaunlich, wie in Glut und
-Fieber; aber er begreift nicht in Begriffen; in seiner Altersschwäche,
-wo ihn immer hilfloses Weinen ankommt, nimmt ihn das Leben in die
-Schule, und sein Lernen sieht so aus: Gegen meine Töchter bin ich
-immer gut gewesen -- sie müssen also auch gut gegen mich sein -- diese
-Damen sind ja so hart gegen mich -- -- ~ergo~ sind es nicht
-meine Töchter. Die neue Wirklichkeit, die sich ihm jetzt objiziert,
-lernt er nur in der Weise kennen, daß er das Neue, das er nun von der
-innern Beschaffenheit und Wahrheit der Menschen entdeckt, als äußere
-Halluzinationen, als Zwangsvorstellungen schaut und hört; der Sinn
-geht ihm auf in Gestalt von Sinnestäuschungen. Und so wie er daran
-ist, die Töchter nicht mehr als seine Töchter zu erkennen, so verliert
-er den Glauben, das Wissen, das Selbstbewußtsein, daß er Lear ist; er
-verliert sich selbst.
-
-Aber er versinkt nicht völlig in diesen Wahnsinn; er ergeht sich nur
-gefährlich am Rande der Tollheit; ganz wahnsinnig, bloß wahnsinnig
-sehen wir ihn nie; wir erleben an ihm einen entstehenden und auch
-wieder vergehenden Wahnsinn; wir sind dabei, wie in und mit dem
-Wahnsinn sich ihm der Sinn öffnet für den Wahn seines bisherigen
-Lebens; wie er jetzt allererst einen Blick ins Leben tut; wie er mit
-dem Schmerz, der ihm von außen angetan wird, wütenden Schmerz über
-sich selbst, Reue, von daher Einsicht und mit der Einsicht Liebe,
-echte Liebe, Liebe zu andern lernt. Der Schein, der Machtkitzel, der
-Dünkel, die Hohlheit, die Ichsucht, all das schmilzt weg; indem er ins
-Elend hinuntersinkt, vermag er nun auch, die Welt und das Leben vom
-Standpunkt des Elends aus zu erblicken.
-
-Daß er das aber noch vermag, daß er auf diesem einzigen furchtbaren
-Weg, den seine Altersschwäche ihm läßt, auf dem schwindelnden Grate
-zwischen Verzweiflung und Aberwitz noch lernt, noch wächst, Erneuerung
-und Wiedergeburt findet, das zeigt uns, was wir in dem Vater Cordelias,
-in dem Freund des Narren, in dem von Kent verehrten König, in der
-Gewalt seiner Leidenschaft und der Hoheit seines Auftretens schon
-geahnt hatten: daß eine große Natur in ihm von sozialen Narrheiten und
-Wüstheiten überklebt war; daß seine brutale Willkür sowohl wie seine
-ungeheuerliche Dummheit nur Manier war und nicht Wesen, daß ein guter,
-ein allerbester Kern in ihm ist, der nun, wo die gräßliche Not ihn
-zeitigt, sich zugleich als Geist und als Güte offenbart.
-
-Jetzt sehen wir: die Welt seines pompösen Scheins war ihm notwendig
-gewesen, weil seine echte Natur eine Welt der Niedrigkeit
-nicht ertrug, weil er Größe, Adel, Übereinstimmung braucht. Die
-Lebensmöglichkeit entsinkt ihm, sowie er gewahrt, wie es wirklich in
-der Welt zugeht. Dieses sein Lernen, seine neue, seine erste Erkenntnis
-kommt ganz allmählich, und er kann nur dazu gelangen durch furchtbarste
-Not und Schrecknisse. Zum weit überwiegenden Teil aber tut er sich all
-dieses Fürchterliche selber an; sein Adel, sein Mißverhältnis zur Welt
-äußert sich in dem, was die Welt seine unerhört übertriebene Natur
-nennen müßte; durch Erschütterung allerschrecklichster Art, durch Wut
-und Leidenschaft, elementar wie eine Naturkatastrophe, arbeitet er sich
-aus der Verschüttung zum schmerzlichen Licht empor, ein überalter Mann,
-der nach dieser letzten gewaltigen Anstrengung gerade noch Zeit hat,
-still und milde für einen Augenblick sein wahres Wesen zu sein, sein
-Leben zu führen, wie es ihm zukommt, und dann zu sterben.
-
-Noch genauer müssen wir zusehen, was ihn zuerst in diese Verfassung
-bringt; nur dadurch lernen wir seine wahre Natur und seine Stellung
-in der Welt kennen. Gonerils Hausverwalter behandelt ihn nicht mehr
-als König, sondern als Myladys Vater: der von Lear selbst geschaffenen
-Tatsache entspricht es, aber es ist schonungslos. Dann beklagt sich
-Goneril über seinen zügellosen Troß, den er nicht in Zucht hält;
-diese hundert Ritter mit ihrem wüsten Treiben machen ihr Schloß zur
-Kneipe, zum Bordell gar; sie ersucht kategorisch -- widrigenfalls
-will sie selbst einschreiten --, sein Gefolge etwas zu verringern;
-er solle nur gesetzte, ältere Männer in seinem Dienst behalten. In
-der Sache hätte sie ganz einfach recht; weder ihre Darstellung noch
-ihre Forderungen könnten als unmäßig bezeichnet werden. Aber der Ton,
-in dem sie redet, ist von schneidender Schärfe, von einer unheimlich
-unpersönlichen Sachlichkeit; sie spricht als Regentin zum abgedankten
-König; sie denkt nicht daran, sie fühlt nicht, daß alles, worin sie
-nun in einem einzigen Punkt empfindlich gestört wird, ihr freiwillig
-von ihrem lebenden Vater geschenkt worden ist, ohne daß es einen
-andern Grund zu seinem Verzicht gab, als seinen Willen, der für sie ein
-guter Wille war; sie offenbart völlige Gefühllosigkeit, Lieblosigkeit,
-Undankbarkeit. Er wird nun an der Welt und an sich organisch irre,
-irgend etwas in ihm bekommt einen Riß; nur einen Augenblick lang
-erliegt er dieser Pathologie; sowie er wieder zu sich kommt, sowie
-seine erste gräßliche Wut über diese Undankbarkeit herausgeströmt ist
-und fast automatisch der Entschluß da ist, sofort zur zweiten Tochter,
-zu Regan zu reisen, sowie er merkt: ja, so spricht, so handelt wahr und
-wirklich seine Tochter, kommt sofort, offen eingestanden, die Reue über
-sein Verfahren gegen Cordelia. Die, so argumentiert er noch verderbt,
-dumm und lieblos genug, hätte ein Recht zu solcher Lieblosigkeit gegen
-ihn. So klammert er sich denn blind, vertrauensvoll, im geheimsten aber
-schon angstvoll an die einzige Tochter, die noch übrig ist, an Regan;
-gegen Goneril aber bricht er in den grauenvollsten, leidenschaftlichen
-Fluch aus. Welche Ansprüche stellt dieses Menschenkind, dieser
-wahrhaft königliche Tor an die Weltordnung! Ein undankbares Kind muß
-mit Unfruchtbarkeit geschlagen werden; ganz einfach, ganz logisch,
-ganz unbedingt ist für ihn der Zusammenhang zwischen Menschenlos und
-göttlicher Gerechtigkeit: er ist König, ist Vater; die Götter, die
-Göttin Natur voran, müssen die undankbare Tochter strafen. Er ist ganz
-überzeugt, daß dieser Fluch in Erfüllung gehen muß; darum auch kann er
-ihn mit dieser ungeheuren Gewalt ihr zuschleudern. Es wird von einer
-jung verheirateten Schauspielerin berichtet, daß sie nie mehr als
-Goneril auftreten wollte, nachdem der große Schröder ihr diesen Fluch
-ins Gesicht und ins Innerste hinein gedonnert hatte.
-
-Auf dem Weg zur andern Tochter, zu der letzten, die ihm geblieben, sagt
-ihm der Narr das Stichwort seiner Rolle:
-
- Du hättest nicht alt werden sollen, ehe du zu Verstand kamst!
-
-Was für eine Reise! Der Narr spricht immer nur aus in seinen
-Gleichnissen und Rätselfragen, was in ihm selber auch bohrt. Ist Regan
-denn wirklich, wie er hoffen muß, so ganz anders als ihre Schwester,
-die jetzt ihr wahres Gesicht gezeigt hat? Und der Gedanke, daß er
-Cordelia Unrecht getan hat, die Furcht, um den Verstand zu kommen,
-verläßt ihn keinen Augenblick. Und erst sind wir am Schluß des ersten
-Akts -- was werden wir noch erleben, was wird der ärmste Abcschütze im
-weißen Haar, der, indem er seine äußere Würde freiwillig und großmütig
-aufgegeben hat, nun in seiner natürlichen Hoheit angetastet wird, noch
-durchmachen!
-
-Der alte Mann muß eine weite Reise machen. Einen Boten mit einem
-Schreiben, in dem er der Tochter Mitteilung von dem Geschehenen macht,
-schickt er voraus. Das ist sein neuer Knecht Cajus, in Wahrheit der
-treue Kent, der vorhergesehen hat, was kommen muß, und den Herrn, der
-ihn verbannt hat, nicht verlassen will. Wie Lear dann ankommt, ist
-das Haus leer: Cornwall und seine Frau sind weg. Auch die Schwester
-hat sofort Botschaft geschickt; und in dieser Sache sind sie einig,
-so weit sonst die Gegensätze zwischen Albanien und Cornwall schon
-gediehen sind. Lear muß ihnen nach dem Schlosse des Grafen Gloster
-nachreisen; und wie er nun zu später Stunde ankommt, sieht es ganz böse
-aus: sein Diener Cajus ist schimpflich mißhandelt worden; Regan und ihr
-Mann scheinen ihn gar nicht empfangen zu wollen; sie lassen sich erst
-verleugnen; und ihr Wirt, der alte Gloster, muß seinen Einfluß, der zur
-Zeit groß ist, aufbieten, damit Tochter und Tochtermann herbeikommen.
-Aus Lear will inzwischen die mühsam zurückgestaute Wut losbrechen;
-der Zweifel an der Wirklichkeit, die Krankheit zeigt sich wieder
-an; aber -- wir erleben’s zum ersten Mal -- er nimmt sich zusammen,
-versucht, was er nie gekonnt, sich zu beherrschen, will Vernunft und
-Gründe annehmen; und, wenn er nun endlich vor der Tochter steht,
-ist es rührend, wie er ihr kindlich sein Leid über ihre schlechte
-Schwester klagen will. Die Tränen steigen ihm auf, er kann nicht weiter
-reden. Sie weiß ja auch, er hat ja geschrieben; und jetzt eben hat er
-erfahren, daß Goneril auch einen Brief geschickt hat. Regan erwidert
-zunächst mit kalter Zurückhaltung: höflich, trocken, fast mild, wie
-etwa eine kalte, geübte Pflegeschwester einem Kindischen zureden würde,
-sagt sie ihm, sie, die Töchter, wüßten besser als er, was ihm not täte;
-er möchte zur ältesten Tochter zurückkehren und zugestehen, daß er
-unrecht gehabt. Er war nun schon auf so etwas gefaßt, so entsetzlich
-es ist; es hatte sich vorbereitet; noch bleibt er dem Grad nach
-mäßig; aber was sie da sagt, ist ihm sofort wieder eine suggestive
-Anschaulichkeit; er probiert’s gleich, wie sich’s ausnimmt, wenn er,
-der König, der Vater, hinkniet und seine Tochter um Verzeihung, um
-Schutz und Obdach bittet. Das ahnt er noch nicht, wie seine Entwicklung
-bald so vollendet sein wird, daß er das, was ihn jetzt die äußerste,
-die tollste Zumutung dünkt, gerade in der Form, die niemand von
-ihm verlangt hat, die nur seine im Stolz getroffene Phantasie sich
-ausgemalt hat, aus innigem Ernst tun wird, er der König, der Gebieter,
-der Vater: in Reue und Demut vor einem Kind, das der Vater gekränkt,
-hinknien und um Vergebung flehn.
-
-So wird er am Ende sein. Jetzt klammert er sich noch an Einbildungen,
-die er gewaltsam festhalten will, klammert sich an Regan, sein einziges
-Kind. In vernünftiger Auseinandersetzung will er ihr dartun, daß ihr
-Vorschlag unmöglich sei, will ihr beweisen, sie sei so milde, wie
-Goneril grausam. Aber es ist, als sprächen nur seine Lippen, während
-unten in ihm ganz anderes arbeitete; und mit einem Mal, gerade während
-der Mund ihr vorhält, daß er ihr das halbe Reich geschenkt, wirft
-er den Kopf zurück und fragt zornig, wer es gewagt, seinen Diener
-in den Block zu setzen? Er nimmt das ganz, wie wenn an fremdem Hof
-sein Botschafter verletzt worden wäre; es ist eine Antastung seiner
-Majestät. Aber Trompetengeschmetter reißt ihm die Worte vom Mund:
-Goneril trifft zur eiligen Beratung mit der Schwester ein und findet
-den Vater. So muß denn die Entscheidung sofort erfolgen; ganz großartig
-hat der Dichter alles so aufgebaut, daß nach der Gonerilszene, die in
-dem gewaltigen Fluch gipfelte, nun diese ungeheure Steigerung sich noch
-ergab. Die beiden Schwestern hatten politisch beraten und dann ihre
-Entschlüsse bekannt geben wollen, und nun muß es gegen ihren Willen
-doch wieder zu einer dramatischen Szene kommen, wie ihr Vater sie zu
-brauchen scheint.
-
-Sie fassen sich schnell und sind durchaus nicht aus der kühlen Ruhe
-gebracht. Regan wiederholt, er solle zur Schwester zurück, fügt aber
-nun hinzu, wenn er dann zu dem vereinbarten Zeitpunkt zu ihr komme,
-solle er vorher sein halbes Gefolge entlassen. Immer noch hält Lear an
-sich; als einen Vorschlag nimmt er das, der ganz falsch ist, und gegen
-den er nun, freilich wieder in erregter Bildersprache, Gründe ins Feld
-führt. Ja, noch mehr: Goneril läßt vier kalt abweisende Worte fallen,
-ohne ihn weiter zu beachten, und er redet nun noch einmal zu ihr, der
-er den Fluch entgegengeschleudert hat: mit sanfter, fast brechender
-Stimme, wirr, aber der Sinn ist, daß er ihr gütig, bittend zureden
-will, in sich zu gehn; schelten und fluchen will er nicht mehr; Gott
-soll ihr Richter sein, er will sie nicht verklagen. Er redet ihr zu,
-sich zu bessern, er spricht als Vater; er will nichts von ihr. In
-höchster Not tut er so, als habe er nichts Entscheidendes gehört; er
-bleibt an Regan, die letzte Hoffnung, angeklammert:
-
- Ich kann geduldig sein,
-
-sagt er und fühlt vielleicht, daß ihm die Tugend bisher vor allem
-gefehlt hat; im Zusammenhang heißt es, Goneril solle sich bessern, auch
-wenn sie lange dazu brauche, er wolle es abwarten und einstweilen
-
- bei Regan bleiben
- Mit meinen hundert Rittern.
-
-Aber die Töchter sind von dieser rührenden Wandlung nicht im mindesten
-ergriffen; Regan beharrt darauf, ihn jetzt nicht zu sich zu nehmen; im
-übrigen erklärt sie nun fünfundzwanzig Ritter für genug. Er winselt
-beinahe, er flüstert:
-
- Ich gab euch alles,
-
-und wie nun Regan auf ihrer Entscheidung beharrt, tut der alte Mann,
-dem mit seinen Rittern sein Selbstbewußtsein genommen werden soll,
-das ganz überraschende: um dies äußere Zeichen seiner Würde behalten
-zu dürfen, gibt er in kindischer Gesunkenheit die innere preis und
-erklärt, er wolle nun zu Goneril gehen; die läßt ihm doch fünfzig!
-Aber nun haben die Töchter genug: sie werden schon für seine Bedienung
-sorgen, er braucht keine zehn, keine fünf, keinen einzigen!
-
- Wozu ist einer not?
-
-Not? Dabei stutzt er. In der Tat, in Not ist er nicht und braucht es
-auch künftig nicht zu sein. Aber seine Würde, seinen Luxus, seine
-Hoheit wollen sie ihm nehmen, demütigen wollen sie ihn. Eindringlich,
-aber immer noch still hebt er an:
-
- Beklügelt nicht die Not! Der ärmste Bettler
- Hat bei der größten Not noch Überfluß...
-
-Und nun wechselt es in ihm zwischen Bitten und Zorn; zwischen
-Nichtweinenwollen, Weinen, Seufzen und Drohen; die Hitze steigt auf,
-es zerbricht etwas; er erträgt’s nicht; er will vor diesen Töchtern
-hier nicht mehr, nicht noch einmal ausbrechen; er stürzt hinaus; eben
-zieht das Unwetter am Himmel auf. Noch einen Blick hat er in die Runde
-geworfen, wie auf der Suche nach einem Menschen, nach einer Stütze,
-nach einem Freund; er fand ihn auch: den Narren.
-
- O Narr, ich werde wahnsinnig!
-
-Das war in diesem Kreis sein letztes Wort. Die bleiben doch etwas
-bestürzt zurück; und vielleicht würde gar der harte Eigensinn der
-Töchter erweicht; aber nun tritt eine noch größere Brutalität hervor:
-Regans Mann Cornwall. Er befiehlt, während der Sturm zu brausen
-anfängt, die Tore zu schließen. Kleinlaut versichern die Schwestern
-einander, für den alten Mann wäre hier schon Platz gewesen, aber nicht
-für sein Gefolge; an Cornwalls Haltung indessen werden sie wieder
-energisch; der Alte soll nur für seinen Unverstand büßen; schafft er
-sich selber Kränkungen und Beschwerden, so sollen die seine Schullehrer
-sein! Die Tore müssen jedenfalls geschlossen werden; wer weiß, wessen
-man sich sonst von seinem wilden Gefolge, das nun so gut wie entlassen
-und verzweifelt ist, zu versehen hätte? Um die aber kümmert sich der
-kranke, tobende Mann nun gar nicht mehr, und sie, mit Ausnahme eines
-einzigen Getreuen, um ihn auch nicht; sie werden schleunig weiter
-geritten sein und eine Herberge gefunden haben.
-
-Lear, seinen Narren und den Knecht, der Kent ist, treffen wir im
-tosenden Wettersturm wieder nachts auf der Heide. Er ist, nachdem er
-sich so lange gewaltsam unterdrückt hat, in einer Leidenschaft, die
-sich wollüstig mit dem Orkan mißt. Ah! sich auslassen zu dürfen! Welch
-königliches Herrengefühl, Grund zum Toben zu haben! Recht, recht so,
-ihr Stürme und Wetterschläge, Undankbarkeit ist auf diesem Erdenball
-eingesät; zertrümmert ihn! Das ist noch bacchantische Raserei der
-Leidenschaft; aber zwischendurch zuckt die Logik des Wahnwitzes
-auf. Auch ihn, den alten, preisgegebenen Mann, dürfen die Elemente
-treffen, sie haben die Erlaubnis, dürfen ihn zausen und schlagen nach
-Herzenslust: sie sind ja nicht seine Töchter! Und so apostrophiert er
-den Regen, den Donner, den Blitz:
-
- Ich gab euch nie ein Reich, nannt’ euch nicht Kinder!
-
-Und dann besinnt er sich, die Logik ist willfährig, man kann die
-Sache auch von der andern Seite ansehn: es ist doch unrecht von den
-Elementen; sie benehmen sich wie die „knechtischen Helfershelfer der
-verruchten Töchter“, und nun geht ihm eine ganz neue Gedankenreihe
-auf. Es denkt in ihm: wenn’s nach der Gerechtigkeit zuginge in der
-Natur, wer dürfte getroffen werden? Er nicht; er gewiß nicht; ganz
-andern müssen die Götter so begegnen: den verborgenen Verbrechern, den
-Meineidigen, den Mordlustigen. Und wir gedenken dabei der Greuel, die
-im Hause Gloster im Gange sind. Er aber, Lear?
-
- Ich bin ein Mensch, an dem man mehr
- Gesündigt, als er sündigte.
-
-Und er fängt an, sich noch tiefer zu besinnen, wie’s in der Welt
-zugeht; er wird liebevoller als je zuvor gegen den armen Narren, der
-gleich ihm selber, aber nur aus Liebe zu ihm, friert:
-
- Mein armer Narr, mir blieb vom Herzen nur Ein Stück,
- das ist betrübt um dich.
-
-„Obdachlose Armut!“ Das bohrt nun immer in ihm weiter, daß es so etwas
-in der Welt gibt, nicht bloß ein Verzicht auf Eitelkeiten, nein, ganz
-wirkliche Not, völlige Entbehrung, ein Leben wie das, dem er sich in
-der Raserei dieser Nacht ausgesetzt hat. In keinem Augenblick denkt
-er praktisch, was nun von jetzt an aus ihm werden soll; ganz andre
-Dinge hat er auszumachen; wir sehen, wie sich hinter seiner eiteln,
-äußerlichen Hoheit letzte Vornehmheit verborgen hat; er muß mit dem
-Allgemeinen, mit den Zuständen dieser Erde, mit der Weltordnung fertig
-werden; das ist nun in ihm aufgekeimt, was vorher der eigenwillige
-Triebmensch ganz beiseite liegen ließ.
-
-Sie nähern sich einer armseligen Hütte, die Kent ausfindig gemacht
-hat; aber vergebens zunächst fordert dieser treue Knecht den Herrn
-auf, sich darin zu bergen. Solche Sorge dünkt ihn gemein; was tut ihm
-alles Unwetter da draußen im Vergleich mit dem Sturm in seiner Seele?
-Doch ist er nicht mehr zu festen Entschlüssen imstande; und sowie er
-sich hoch aufrichten will und auf die Bestrafung der ruchlosen Töchter
-sinnt, bricht einer in ihm zusammen, und die Tränen stürzen vor. Ja,
-er wird schon hineingehn; er wird zu schlafen versuchen; der gute Narr,
-der nicht von ihm gewichen ist, soll nur vorausgehn; er will erst unter
-freiem Himmel, für sich allein, sein Gebet verrichten.
-
-Was der König aber jetzt betet, ist eben diese Erinnerung an die, zu
-deren Schicksalsgenossen er sich in dieser Nacht gemacht hat:
-
- Ihr armen nackten Elenden, wo ihr seid,
- Die ihr dies mitleidlose Wetter duldet,
- Wie soll eu’r bloßes Haupt, eu’r magrer Leib,
- Durchlöcherte Zerlumptheit euch beschützen
- Vor solchem Sturm wie der? -- O, nicht genug
- Bedacht’ ich das! -- Nimm dir’s zur Lehre, Pomp,
- Nur einmal fühle, was der Arme fühlt,
- Daß deinen Überfluß auf ihn du schüttest
- Und zeigst: es gibt Gerechtigkeit im Himmel!
-
-Was für eine große neue Erkenntnis diesem König da an der Grenze des
-Wahnsinns kommt! Das ist die Gerechtigkeit im Himmel, die man selber
-auf Erden übt! Damit, daß man hier auf Erden reichlich seinen Überfluß
-auf die Armen schüttet, zeigt man, daß im Himmel gerechte Mächte
-walten. Weit ist er jetzt davon entfernt, die Extragötter anzurufen,
-die ihm persönlich helfen sollen; und doch hätte er’s nie nötiger
-gehabt. Aber er hat schon viel gelernt; hat zu denken gelernt und damit
-zu fühlen und gut zu sein.
-
-Und in diesem Augenblick, wo er von seinem Elend absieht auf die vom
-Schicksal Verstoßenen auf dem weiten Erdenrund, tritt aus der Hütte,
-die sie leer geglaubt hatten, das nackte Elend leibhaftig: ein nackter
-Bettler, toll, besessen, von allen Teufeln verfolgt, wahnsinnig. Wir
-wissen: es ist Edgar Gloster, der sich vor seinem Vater und seinem
-Bruder bergen muß, der von Cornwall geächtet ist; das Elend ist echt,
-der Wahnwitz ist angenommen, wie umgekehrt Lear ganz dicht am Wahnsinn
-steht, im Elend nur, weil er’s zur Stunde nicht anders will und
-erträgt.
-
-Bei diesem Anblick schließt der Wahnsinn, das tolle Zwangsspiel mit dem
-Wahnsinn: den müssen undankbare Töchter so weit gebracht haben; was
-sollte einen sonst um den Verstand bringen? Die beginnende Erkenntnis
-aber, die im Fieber des Deliriums arbeitet, bohrt weiter. Sie führt ihn
-über die Wahrnehmung der Entblößtheit aus sozialen Gründen noch tiefer
-ins Echte hinein, ins Erfassen des Wesens: aller Pomp ist Schein; das,
-was da vor ihm steht in der Entblößtheit nicht bloß von Mitteln des
-Unterhalts, in der Entblößtheit des Leibes, das ist der wahre Mensch in
-seiner Nacktheit!
-
- Ist der Mensch nicht mehr als das? Betracht’ ihn wohl! -- Ha, drei
- von uns sind verfälscht! Du bist das Ding an sich. Der unverzierte
- Mensch ist nicht mehr als so ein armes, nacktes, gabelförmiges Tier
- wie du bist!
-
-Zum ersten Mal achtet der Mann, der sich bisher abends hat aus den
-Königsgewändern und in sein Nachtgewand helfen, morgens anziehen
-lassen, in dieser Sturmnacht beim flackernden Schein eines Kienspans
-auf den nackten natürlichen Menschen und seine Gestalt. Wieder ein
-Stück Anschauungsunterricht, aus dem er sofort die Lehre zieht:
-
- Fort, fort, erborgter Plunder!
-
-Zur Echtheit will er vordringen; er reißt sich die Königsgewänder ab
--- und sieht sich dabei in alter Gewohnheit nach den Dienern um, die
-ihm helfen sollen, sich zu entkleiden! Welch eine Szene! Wo ein Greis
-im nächtlichen Wettersturm anfängt, Wirklichkeit und Güte zu lernen,
-aber sein Hirn ist nun so geworden, daß er nur noch in Gestaltensehen
-und leidenschaftlicher symbolischer Aktion lernen kann. Und der Sturm
-heult, der Donner tobt, der Regen prasselt, Edgars Vater, der alte
-Gloster, voller Erbarmen gegen den König, zu mildtätiger Hilfe bereit,
-die ihm übel bekommen soll, tritt dazu, und Edgar, um sich vor dem
-Vater, der ihm ein grausamer Verfolger ist, zu verbergen, bricht
-in tollere Reden aus. Zugleich nimmt Lears immer weiter bohrende
-Erkenntnis wieder Wahnsinnsform an. Der ihn das gelehrt hat, die Sache
-zu erkennen, wie sie wirklich ist, bis zur Echtheit des Wesens, bis
-zur nackten Natur vorzudringen, der ist, nackt und zähneklappernd und
-irre redend, wie er vor ihm steht, ein edler Philosoph, ein weiser
-Thebaner, ein hoher Gelehrter. Und kaum sind sie durch Gloster auf
-einem seiner Pachthöfe unter Dach und Fach gebracht worden, so weiß
-er genau, wozu ihm dieser Weise, der die Wahrheit mit seinem Leibe
-kündet und der überdies zwischen Tiefsinn und Unsinn ein Kauderwelsch
-von sich gibt, aus dem der kranke Sinn des Königs manche Erleuchtung
-empfängt, zugeführt worden ist: die Töchter sollen vor Gericht gestellt
-werden! Der nackte Bettler ist ihm, eben weil er nackt ist und keine
-Falschheit und Verhüllung anhat, „der Mann im Rechtstalar“; der Narr
-ist der eine Beisitzer, der treue Knecht der zweite. Vors Gericht des
-Volks und der Wahrheit werden die Königinnen gestellt: der tolle nackte
-Bettler, der arme Narr, der gute Knecht sind die Richter: alle drei in
-Wahrheit tief Verkleidete, hinter deren Masken Güte und Ehre wohnt.
-Und sie, selbst so an die Grenze gerückt, daß das Spiel mit grotesker
-Phantasie ihnen nahe genug liegt, gehen aus Güte, um ihn zu beruhigen,
-und aus Tollheit, von der sie sich gern anstecken lassen, darauf ein.
-Die Töchter sollen vortreten, ein Schemel stellt Goneril vor; wie Lear
-Regan holt, entwischt sie ihm, seine Gedanken, seine Bilder irren
-in andre Richtung. Jetzt sieht er eine Hundemeute vor sich, die ihn
-kläffend verfolgt, die dann wieder die Töchter zu Tode beißt, bis er
-in Erschöpfung niedersinkt. Und wie der treue Kent ihn bettet, ist er
-wieder für einen Augenblick der alte König, und nichts von aller Würde
-und Behaglichkeit ist ihm genommen worden: „Macht keinen Lärm, zieht
-die Vorhänge zu.“ Er schläft ein.
-
-So läßt ihn Gloster auf einer Sänfte fortbringen; er soll nach Dover,
-zu Cordelia, zu dem Heer der Franzosen, das dort schon gelandet ist.
-
-In den Wirren des Reichs, die sofort nach König Lears Abdankung
-eingetreten sind, in den heimlichen Machenschaften zwischen Cornwall
-und Albanien und beider Feindseligkeit gegen den alten König, hat sich
-eine Partei zu Frankreich, zu Cordelia geschlagen, deren Rechte in dem
-Augenblick erwachen, wo die andern Töchter die Vereinbarungen mit ihrem
-Vater brechen. Kent und Gloster gehören zu dieser Partei. Gloster ist
-schon in Verbindung mit dem französischen Heer; für Cornwall ist das
-ärgste Gefahr, und er hat das Recht, es für Hochverrat zu erklären. Was
-da vorgeht, erfährt er durch Glosters eignen Sohn, den Bastard Edmund,
-der erst den echten Sohn verjagt hat und nun Graf an seines Vaters
-Stelle werden will: grauenhaft ist die Rache, die Cornwall nimmt: die
-Augen werden Gloster aus den Höhlen getreten, gerissen; in der Ekstase
-des Zorns hatte der alte Mann gerufen, er werde noch sehen, wie die
-Strafe des Himmels über die grausamen Kinder komme; das war das Wort,
-das die Art seiner eignen Bestrafung über ihn brachte.
-
-Ein geblendeter Vater war er schon zuvor, wie Lear sein Herr. Und wie
-Lear im Wahnsinn das Denken lernt, so gehen Gloster nach der Blendung
-die Augen auf. Bei Dover begegnen die beiden einander wieder: Lear
-auf der Flucht vor der Tochter, an der er gesündigt hat und deren
-Anwesenheit er in lichten Momenten ahnt; der andre, Gloster, durch den
-Tod hindurchgegangen und im äußersten Elend wie zu Ruhe und Frieden
-auferstanden und wiedergeboren: von der hohen Klippe über Dover hat er
-sich hinabzustürzen vermeint; aber der echte Sohn Edgar in allerlei
-fremden Gestalten und mit allerlei Täuschungen hat den blinden Vater
-gerettet, und wie ein Fluidum der Sanftmut und heilenden Liebe ist es
-vom verstoßenen Sohn und vom Tod her über den alten Mann gekommen.
-
-Und wir empfinden, wie der Elende, der von hoher Herrlichkeit so
-hinuntergestürzt ist, als blinder Bettler ergeben am Wege sitzt, sein
-noch unerkannter Sohn bei ihm, von diesem Vater verstoßen und auch
-im selbstgewählten nackten Bettlerdasein, wir empfinden in tiefster
-Seele die alte Weisheit: Es ist alles eitel; alles, was zur innersten
-Verborgenheit des Wesens als Aufputz und Zierat dazu kommt. Und in
-diesem Augenblick tritt Lear der König auf; wieder ganz herrisch für
-diesen Augenblick; und da dem Abgerissenen, der durch Wälder und
-Felder gerannt ist, der Königsornat fehlt, hat er sich mit Blumen
-ausgeschmückt. Der Wahnsinn hängt nun dicht und schwer über ihm; aber
-auch in dieser lastenden Wolke verfolgt er sein seltsames Lernen
-weiter. Zum König hat er sich jetzt wieder gemacht, um lebendig in
-seinen einstigen Zustand zurückgreifen zu können und mit besserer
-Einsicht sein Königserlebnis mit den Menschen zu wiederholen. Wie
-hatten sie ihm die Welt mit Schmeicheleien verhüllt; „Ja“ und „Nein“
-zugleich zu allem gesagt, was er vorbrachte!
-
- Ja und Nein dazu, das war keine gute Religion! Als der Regen kam,
- mich zu durchnässen, und der Wind, mich schaudern zu machen; als
- der Donner nicht einhalten wollte auf meinen Befehl, da fand ich
- sie, da witterte ich sie aus.
-
-Die unerbittlich wahre Natur, die außer der Sprache ihrer Taten nicht
-noch eine der Bemäntelung und Lüge hat, hat diesen Fürsten, der
-von Lüge erstickt war, in die Schule genommen. Und nun ist er, der
-Selbstherrscher, der König von Götter Gnaden, in Not und Wahnwitz zur
-selben Erkenntnis gekommen wie Richard II. in dem Augenblick, wo
-man ihn der Macht entkleidete:
-
- Sie sagten mir, ich wäre jedes Ding; ’s ist erlogen;
- das Fieber ist stärker als ich.
-
-Nun merkt er die Schranken, die Gleichheit alles dessen, was von
-Menschenhaut umspannt ist; seine Hand „riecht nach Sterblichkeit“. So
-hatte es Richard gesehen:
-
- Ihr irrtet euch die ganze Zeit in mir:
- Wie ihr leb’ ich von Brot, ich fühle Mangel,
- Ich schmecke Kummer und bedarf der Freunde.
- So unterworfen, -- kann ich König sein?
-
-Und jetzt, wo Lear weiß, was der nackte Mensch ist, jetzt weiß er
-auch, wie in dieser Welt der Kostüme, der Lüge, der Politik von
-Würdenträgern, Beamten, Richtern Unrecht geübt wird. Hör’ zu, blinder
-Mensch im Staub, der du dich freiwillig von der höchsten Klippe
-hinunterwerfen mußtest, um zu dir selbst zu kommen, hör’ zu, wie dein
-König auf Elends- und Wahnsinnswegen aus dem Lager seiner politischen
-Töchter hinweg endgültig zu Cordelia, zur Menschheit, zur Echtheit
-heimgefunden hat! Was hat er denn selber in seinem Königsornat geübt?
-Willkür! Laune! Und seine Beamten? Ach, du Blinder, das kannst du
-merken, ohne zu sehen. Hör’ nur hin, wie der Richter sich über den
-armseligen Dieb erhebt!
-
- Wechsle die Plätze, dreh die Hand um, horch hin: wer ist der
- Richter, wer der Dieb?
-
-Er gewahrt alles in bewegten Bildern, er erlebt die Wahrheit in
-lebendiger Aktion:
-
- Hast du wohl einmal gesehn, wie ein Pächterhund einen Bettler
- angebellt hat? -- Ja? -- Und der Tropf lief vor dem Hund davon?
- -- Da hast du das große Bild der Autorität: einem _Hund_ im
- _Amt_ gehorcht man.
-
-Alles, was er je gesehen, was in seinem Namen geschah, wird in ihm
-aufgerührt; und zugleich melden sich die Triebe, die ihm sagen: wir
-Herren, wir Gebieter, wir strafenden Richter und Henker, wir spielen
-eine Rolle; wir stellen uns an, als wären wir wie unser unbefleckter
-Mantel, als wären wir unser Amt; und was sind wir in unsrer
-Wirklichkeit, in unserm Leib? Die scharfe Erkenntnis, die sich im Ton
-der zugleich unerbittlich logischen und bildkräftigen Prosa geäußert
-hat, schwingt sich -- wie so oft in diesen Szenen Lears -- wie zu
-dichterisch gesteigerter Proklamation auf:
-
- Du Schuft von Büttel, weg die blut’ge Hand!
- Was schlägst du diese Dirne? Peitsch’ dich selbst!
- Heiß glühst du, das mit ihr zu tun, wofür
- Du sie zerschlägst.
-
-Da haben wir in Lears Erkenntnis das Motiv, das sich in Maß für Maß zum
-Drama ausgestaltet hat.
-
- Der Wuchrer hängt den Gauner.
- Durch lump’ge Kleider scheint der kleinste Fehl;
- Ein reich Gewand deckt alles.
-
-Die Klarheit, wie’s in der Welt zugeht und was die innere Wahrheit der
-Dinge ist, kommt jetzt; aber es ist ja zu spät; sein alter Leib hält’s
-ja nicht mehr aus; sein Geist ist ja dieser fieberhaften Anstrengung
-nicht mehr gewachsen. Es geht alles wirr und wüst durcheinander;
-er kann ja schon nicht mehr leben, wo es jetzt in ihm anfängt zu
-tagen. Manchmal ist er in hoher Erkenntnis und einmal in höchster;
-da eint sich sein alter Königsstolz mit der erhabnen Einsicht eines
-Augenblicks; der Ekel hatte ihn übermannen wollen über diese feile,
-gemeine, verbrecherische Welt der Lüge; aber wenn man erst so nah der
-Enthüllung ist, braucht’s nur noch einen Schritt; er tut ihn: Der
-Reiche entgeht dem Speer des Gesetzes; der Arme wird vom Strohhalm
-eines Zwergs gefällt; schon will er sagen, daß alle, alle Sünder sind;
-aber königlich hoheitsvoll kommt jetzt die Demut über ihn; wie viel
-weiter ist er nun in diesem Moment als in der Wetternacht, wo er in der
-Hütte des armen Toms die Töchter vors Gericht schleppte:
-
- Es sündigt keiner; keiner, sag’ ich, keiner.
- Ich schütze sie; glaub’, Freund, ich habe Macht,
- Des Klägers Mund zu stopfen.
-
-Was für eine Macht ist das, die da mit all seiner Königshoheit
-auftritt? Seine Erfahrung im Unglück und in der Herrlichkeit; sein
-Leben in beiden Reichen: er versteht sich jetzt auf das Leben der
-Enterbten und auf die Innerlichkeit der Obrigkeiten; er ist ein Mensch
-geworden, der das Bewußtsein seiner selbst und das Bewußtsein seines
-Gegenübers zugleich hat; aber o Jammer! nur wie Fetzen blauen Himmels,
-die die Wolkenschicht mal öffnet, mal schließt, sind diese höchsten
-Momente; schon im nächsten Augenblick tollt ihn die Verrücktheit wieder
-in seinen alten Königswahn hinein, und der Monarch ruft ungeduldig,
-herrisch die Diener herbei, die nicht da sind, ihm schnell die Stiefel
-auszuziehn! So ist er in dem Augenblick, wo die Abgesandten Cordelias
-ihn auffinden, in völliger Raserei. Dann aber kommt er in Pflege, in
-die behutsame, liebevolle Pflege Cordelias und ihres guten Arztes. Der
-heilt ihn mit Ruhe, mit Schlaf und weckt ihn schließlich mit sanfter
-Musik. Und nun möchte ich Adalbert Stifter das Wort geben, dessen
-Schilderung einer Lear-Aufführung am Burgtheater mit Anschütz, die er
-in seinen „Nachsommer“ verflochten hat, das Schönste ist, was je über
-diese Tragödie geschrieben wurde:
-
-„Der König erwacht endlich, blickt die Frau an, hat nicht den Mut, die
-vor ihm stehende Cordelia als solche zu erkennen, und sagt im Mißtrauen
-auf seinen Geist mit Verschämtheit, er halte diese fremde Frau für sein
-Kind Cordelia. Da man ihn sanft von der Wahrheit seiner Vorstellung
-überzeugt, gleitet er ohne Worte von dem Bette herab und bittet kniend
-und händefaltend sein eigenes Kind stumm um Vergebung.“
-
-Der Unterricht des alten Mannes ist vollendet: er -- jeder Zoll ein
-König! -- hat Demut und Selbstüberwindung gelernt. Wie er die Demut,
-als er noch in Wahnsinnsform den Wahn seiner Königswut durchbrach,
-verkündet hatte, so kann er sie jetzt in letzter Klarheit und Würde
-vor dieser reinen, kindguten, herb wahren Frauengestalt üben, die er
-geliebt hatte, ohne sie zu kennen, sie, die an seinem Hof die Echtheit,
-die Natur, die Seelenschönheit repräsentiert hatte.
-
-Und wie hatte er, gerade noch in seiner letzten Raserei, wo alles
-Verhohlene in ihm aufgewühlt wurde und er zu den letzten Gründen des
-tierisch Allzumenschlichen vordrang, in wüsten sexuellen Bildern gegen
-die Weiber gewütet! Die beiden andern Töchter traf’s -- wir haben ja
-ihr aus Herrschaftsgier, aus wonnigem Verlangen nach der Gemeinheit
-und aus edlerer Sehnsucht gemischtes ehebrecherisches Treiben mit dem
-Bastard miterlebt, das nun noch weitergeht:
-
- Vom Gürtel niederwärts sind sie Kentauren,
- Wenn oben gleich ganz Weib.
- Nur bis zum Gürtel sind sie Götterwohnung,
- Doch drunter ganz des Teufels...
-
-Es ist eine tiefe Erkenntnis Shakespeares -- fast haben wir ihn doch
-über dem Erleben dieser Gestalten vergessen, die alle seines Geistes,
-seiner Natur, seiner Kunst Geschöpfe sind --, daß er den Machtkitzel
-zu allerletzt auf einen Wahn zurückführt, der mit anderm Namen Wollust
-heißt. So weit die ichsüchtige Lüsternheit sich von ewiger Liebe
-entfernt, so weit irrt die Herrschgier von der geordneten Eintracht
-zwischen den Menschen ab; und beides ist dasselbe, derselbe Fehl unsrer
-schwachen, gemengten Menschennatur: daß wir erraffen und haben müssen,
-um unsres Ich und der Nächsten sicher zu sein, daß wir haben müssen, um
-zu sein.
-
-Was in ihm Wutmanier, Herrensinnlichkeit und gebieterisch besitzende,
-besessene Wollust der Wirklichkeit war, das haben Goneril und Regan,
-die politischen Schwestern, als Erbe bekommen; Cordelia, ein völlig
-weiblicher Mensch, hat vom Vater die ursprüngliche gute Anlage, die,
-da sie aus ihm herauskommen konnte, in ihm von je da war, und die wir
-an einem Zug gemerkt haben, der dem Vater und seinem Kind gemein ist,
-von dem wir aber an den Schwestern nicht die kleinste Spur finden:
-Kindlichkeit. Mit der Kindlichkeit steht alle Reinheit unsrer sexuellen
-Natur in tiefem Zusammenhang; das mädchenhaft Holde dieser Tochter,
-die ihrem Vater nicht von ihren Gefühlen zu reden vermochte, ihre
-Seelenkeuschheit entstammt dieser Unschuld, daß sie als reifer Mensch
-und liebende Frau geblieben ist, wie sie als Kind war. Und mit diesem
-seinem Kinde zusammen wird der Mann, der vordem so oft ein kindischer
-Wüterich gewesen und dessen unerzogene und verzogene Willkür trotz dem
-Grundguten seiner Natur der Schlechtigkeit so nah gekommen war, nun,
-wo’s zum Ende geht, sanft und kindlich. Nicht aber bloß so, wie man im
-gemeinen Leben von einem sanften und kindlichen Menschen spricht; wir
-haben schon, als die Wut tobte und die Krankheit verzerrte, gemerkt,
-daß da ein ungemeiner Mann sich herausarbeiten will; jetzt ist er
-das Urbild dessen, der überwunden hat, und hat ganz den Geist seiner
-Haltung. Wie die Schlacht für Cordelia und ihr Heer unglücklich ausgeht
-und Lear samt seiner Tochter in Gefangenschaft gerät, macht er sich
-aus diesem Schicksalswechsel gar nichts, nicht einmal für sein Kind;
-er ist, was er nie hat sein können, fröhlich: in gleichmäßiger Ruhe
-heiter, gelassen über die Wechselfälle der Ereignisse hinweg:
-
- Wir wollen ins Gefängnis
- Und wie zwei Vögel in dem Käfig singen.
-
- ... So woll’n wir leben:
- Man betet, singt, sagt alte Märchen, lacht
- Der goldnen Falter, hört wohl armer Leute
- Gered’ vom Hof und schwatzt wohl selber mit...
- Wir tun so wichtig mit geheimen Dingen,
- Als sei’n wir Gottes Späher; überleben
- Im Kerker Sekten und der Großen Streit,
- Was ebbt und flutet mit dem Mond...
-
-Man sieht, aus der Welt jeglicher Gier und Macht ist er völlig
-ausgeschieden; er, dem nichts galt als die Größe, die Herrlichkeit,
-das Befehlshabertum und der Pomp, ist ein kleiner Mann geworden, einer
-von den Stillen im Lande, deren Erhabenheit in Lächeln, in Frieden,
-in Überwindung besteht; ein Armer in jeglichem Sinn, auch in dem der
-christlichen Mystik: ein freiwillig Armer, ein Abgeschiedener, der
-nichts hat und nichts will. Aber dieses stille Versickern seines
-schwachen Lebensrestes in genügsamer Beschaulichkeit ist ihm nicht
-beschieden; zu tief hat sein früheres Treiben, zumal sein Handel mit
-den drei Töchtern ihn und die gute Cordelia mit ihm ins Böse, ins
-Politische, in Krieg und Mord verstrickt. Die sanfte, unpolitische
-Cordelia hat um seiner und um Britanniens Rettung willen zur Politik
-und den Waffen greifen müssen, die politischen Schwestern haben, um
-die Ziele ihrer privaten und öffentlichen Gier durchzusetzen, den
-Mann immer weiter nach oben gebracht, in dem das böse Prinzip sich
-verkörpert, den Glosterbastard Edmund, und nun ist es so weit gekommen,
-daß der Teufel und der Engel in Menschengestalt, Edmund und Cordelia,
-einander gegenübertreten; der Teufel bekommt, so weit ist’s in diesem
-Reich des Wahns gediehen, den Engel in die Hand, steht siegreich über
-ihm und darf ihn umbringen.
-
-Und nun sehen wir noch einmal den rasenden, den brüllenden, den
-wütenden König Lear; jetzt darf er toben; diesmal geht’s nicht um
-Eitelkeiten, nicht um ihn selber; sein Jammer tönt um den liebsten
-Menschen, nicht weil er sie nun nicht mehr haben soll, nein, weil man
-ihr das Leben, weil man sie der Welt genommen hat.
-
-In dem ganzen Stück scheint sich der Kampf des Guten,
-Menschenfreundlichen, Verträglichen mit dem Bösen, Gierigen,
-Ränkevollen und grausam Wütenden zu verkörpern, und so wie in Lear
-selbst eine tragische Bühne aufgeschlagen ist, auf der dieser
-Widerstreit der Mächte ausgefochten wird, so scheint er der König
-eines Reichs jenseits Britanniens, jenseits aller Reiche der Erde
-zu sein, wo dieser metaphysische Kampf der zwei Mächte um das
-Weltregiment gestritten wird. Auf der einen Seite Goneril und Regan,
-die wie Zwillingstöchter des Herrschteufels erscheinen; auf der andern
-Cordelia; hie Edgar, hie Edmund. Und auch der Verlauf der Geschehnisse
-ist so, daß Bös und Gut sich immerzu messen und abwechselnd siegen; und
-immer erscheint Bös als Reich dieser Welt, Reichtum, Unersättlichkeit;
-Gut als Stille, Friedfertigkeit, Armut. Der gute alte Gloster wird von
-Cornwall geblendet; sofort empört sich ein alter Knecht, einer von
-den kleinen Leuten der Menge, wir haben vorher nichts von ihm gesehen
-noch gehört, gegen den Herrn und verwundet ihn zu Tode; und Schlag auf
-Schlag; unmittelbar darauf ist das Böse wieder Meister: Regan bringt
-den Knecht um. -- Der Haushofmeister Gonerils,
-
- ein dienstergebner Bube,
- So treu den Lastern der Gebieterin,
- Als Schlechtigkeit nur wünscht,
-
-will den Hochverräter Gloster, blind wie er ist, töten; Edgar der
-Sohn, in Gestalt eines Bauernlümmels, nimmt dem Herrenknecht vorher
-das Leben. Edmund der Bastard tötet Cordelia; ihn aber erschlägt
-in ritterlichem Kampf sein wundervoller Bruder Edgar, der Armut
-und Tapferkeit, Milde und Heldentum in sich vereint. Und zugleich
-stirbt das Schwesternpaar, das nach dem Bastard lechzt: Regan von
-Goneril vergiftet, Goneril von eigner Hand, am meisten aber von der
-schneidenden Verachtung ihres „milden Gemahls“, wie sie ihn genannt
-hatte, getötet. Der, Albanien, hatte sich in ruhiger Verachtung, in
-einer Haltung stiller Größe von ihr geschieden, die ihr bitterer sein
-mußte als irgendein Wutausbruch eines Brutalen; zu seiner Schwägerin
-gewandt hatte er in dem Augenblick, wie er den Bastard in Haft nahm,
-die Worte gesprochen:
-
- Und Euren Anspruch auf ihn, schöne Schwester,
- Muß ich bestreiten namens meiner Frau.
- Sie ist mit diesem Herrn geheim verlobt,
- Ich als Gemahl tu’ Einspruch Eurer Ehe.
- Sucht Ihr ’nen Mann, schenkt Eure Liebe mir;
- Mein Weib ist schon versagt.
-
-Man hat es gewagt, Balzac einen Shakespeare zu nennen; das war weitaus
-zu viel gesagt; Gonerils und Regans im Kostüm seiner Zeit sind ihm
-trefflich gelungen; viel höher ist es nicht gegangen; aber an solcher
-Stelle Shakespeares wie dieser merkt man, woher der Irrtum gekommen
-sein mag: in Shakespeare dem Unerschöpflichen steckt auch, diese
-Worte Albaniens zeigen’s, der ganze Balzac, dazu aber noch, auch in
-schneidender Verachtung, eine Vornehmheit, die Balzac ewig unerreichbar
-blieb.
-
-Sehen wir nun, daß uns die letzten blutigen Entscheidungen, in denen
-es um Leben und Tod geht, über das Verhältnis von Gut und Böse in
-dieser Welt keine Sicherheit geben, daß der Kampf unruhig hin und her
-wogt, so tun wir vielleicht gut, von den Taten, die keine Klarheit
-bringen, überzugehen zu den Worten, die sie begleiten. Wie steht es
-mit dem Zusammenhang von Menschenschicksal und Weltordnung? Welche
-Weltanschauung des Dichters hat im König Lear Gestalt angenommen?
-Sehen wir zu; leicht möglich, daß wir hier endgültige Aufklärung über
-Shakespeares Weltanschauung erhalten.
-
-Lear hat sein Reich geteilt; Gloster hat von seinem Bastardsohn Edmund
--- dessen Bastardsohn Franz Moor heißt -- mit Hilfe eines gefälschten
-Briefes erfahren, daß sein Sohn Edgar ein Ruchloser ist, der nach des
-Vaters Besitz und Herrschaft und Leben trachtet. In dieser innern
-Verfassung des Jammers über sein mißratenes Kind und über die Lösung
-aller Bande in der Familie des Königs spricht er die Anschauung aus:
-
- Diese neulichen Verfinsterungen der Sonne und des Mondes bedeuten
- uns nichts Gutes. Mag sie die Naturweisheit so oder so deuten,
- immer findet sich die Natur selbst durch die darauf folgenden
- Wirkungen gepeinigt: Liebe erkaltet, Freundschaft fällt ab, Brüder
- entzweien sich: in Städten Aufruhr, auf dem Lande Zwietracht, in
- Palästen Verrat; und das Band zwischen Sohn und Vater zerrissen.
- Dieser mein Bube bestätigt die Wahrsagung: da ist Sohn gegen Vater;
- der König tritt aus dem Geleise der Natur: da ist Vater gegen Kind.
- -- Wir haben gesehen, wie weit unsre Zeit es bringen kann: Ränke,
- Gleißnerei, Verrat, und alle verderblichen Zerrüttungen folgen uns
- quälend bis ans Grab!... Und der edle, biederherzige Kent verbannt
- -- sein Verbrechen: Ehrlichkeit! -- ’s ist seltsam!
-
-Eine Beschreibung der Sphäre dieses Stückes, in der all die
-verschiedenen Handlungsteile darin sind, haben wir sicher mit diesen
-Worten; wenn aber darüber hinaus nicht nur Gloster in seiner bestimmten
-Situation, sondern der Dichter sich hier im allgemeinen über den
-Zusammenhang der Menschengreuel und der Zeichen der Natur äußern
-soll, so muß es uns stutzig machen, daß sich diese Weltanschauung
-des Dichters auf einer falschen Voraussetzung, die er eine seiner
-Gestalten machen läßt, aufbaut: Glosters echtes Kind Edgar, „dieser
-Bube“ bestätigt ja die Wahrsagung in der Tat nicht. So erstaunt es uns
-schon weniger, wenn der Bastard sofort darauf das Wort erhält und mit
-herzhafter Kraft die entgegengesetzte Auffassung äußert:
-
- Das ist die ausbündige Narrheit dieser Welt, daß, wenn unser
- Glück bei schlechtem Befinden ist -- oft, weil wir selber uns
- übernommen haben --, wir die Schuld für alles Unheil, das uns
- trifft, auf Sonne, Mond und Sterne schieben; als ob wir Schurken
- aus Notwendigkeit, Narren durch himmlische Fügung wären; Schelme,
- Diebe, Verräter durch Machtspruch der Sphären, Trunkenbolde, Lügner
- und Ehebrecher durch Abhängigkeit vom Einfluß der Planeten, und
- alles, worin wir übel daran sind, durch göttliches Verhängnis: eine
- prächtige Ausrede für den Hurenjäger von Menschen, seine Bocksnatur
- den Sternen zur Last zu legen!... Pah, ich wäre geworden, was ich
- bin, hätte auch der jungfräulichste Stern am Firmament meiner
- Bastardierung zugeblinzt!
-
-So spricht der Empörer, der Morallose, der Frevler, der natürliche
-Sohn, der sich ganz als Kind der Natur betrachtet und nur nach seiner
-Kraft, nicht nach Gesetz und Sitte und Rücksicht auf andre fragt; „ich
-wachse, ich gedeihe“; das ist seine einzige Losung. Daß er also diese
-Worte spricht, die jedes Band zwischen Himmel und Erde zerreißen,
-entspricht seinem Charakter, seiner Situation genau so kraftvoll, wie
-das bedenkliche Wiegen des Kopfes, das Grübeln, das Suchen nach einem
-Zusammenhang, das Erschauern vor einer Ahnung, die Ergebung in die
-Ratschlüsse des Himmels zu seinem Vater paßt. Aber der Dichter? Was
-sagt er? Vielleicht -- nichts? Wo ist er? Verschwindet er vielleicht
-hinter seinen Gestalten, in seinen Gestalten, aber nicht in einer
-einzigen oder einer Gruppe, sondern in allen? Ist er vielleicht darum
-mit Notwendigkeit der Dramatiker, weil er einer einzigen Anschauung
-nicht verschrieben sein kann?
-
-Nach seiner Blendung weiß Gloster von dem Verhältnis des Himmels zu
-unsern irdischen Losen ganz anderes zu sagen als vorher; da hören wir
-die unerbittliche, unerforschliche Grausamkeit des Schicksals also
-gedeutet:
-
- Was Fliegen losen Buben sind wir Göttern:
- Sie töten uns zum Spaß.
-
-Aber er ist sich seiner Sache jetzt nicht mehr sicher; auch er ist, wie
-Lear, erschüttert und zum Lernen gekommen: am Ende tragen die Menschen
-und ihre Einrichtungen größere Schuld als die Götter; vielleicht ist
-gerade das Unglück eine Art ausgleichende Gerechtigkeit? Wie er zum
-Freitod entschlossen oben auf der Klippe über Dover in hoher Luft zu
-stehen vermeint und einem armen, tollen Bettler -- seinem Sohn! --
-schenkt, was er bei sich hat, Geld und Schmuck, da meint er:
-
- ... Mein Elend
- Bringt dir Glück. Ganz recht so, ihr Himmelsmächte!
- Laßt überfluß- und wollusttrunknen Mann,
- Der eurer Satzung trotzt, der nicht will sehen,
- Weil er nicht fühlt, schnell fühlen eure Macht:
- Verteilung tilgte so das Übermaß,
- Und jeder hätt’ genug.
-
-Da ist es nun ganz deutlich, wie der blinde Gloster im Augenblick, wo
-er vor dem Tod steht, mit hellen Geistes Augen zu derselben Erkenntnis
-kommt wie noch in der nämlichen Stunde der wahnsinnige Lear. Für beide
-wird in dem Unterricht, den ihnen der Sturz von der Höhe erteilt,
-die metaphysische Weltanschauung, der sie beide wohl in der Zeit der
-Herrlichkeit angehangen haben, ergänzt und zu großem Teil ersetzt
-durch die soziale Betrachtung, die ja in Wirklichkeit die Erkenntnis
-birgt: Schiebt nicht den Göttern zu, was euer Menschenwerk ist, was ihr
-schlecht gemacht habt und gut machen könnt.
-
-Und doch kann-will es der Mensch nicht lassen, in den hohen
-Augenblicken des Menschenschicksals manchmal sichtbar und greifbar die
-geheime Führung, die Vorsehung, die ewige Gerechtigkeit, den Sinn zu
-erblicken. Wie der gute Albanien hört, daß nach Glosters scheußlicher
-Blendung der Täter, sein Schwager Cornwall, sofort vom eignen Knecht,
-der ihm Jahre gedient und zu Gloster keine Beziehung hatte, aus Aufruhr
-der Seele heraus erschlagen worden ist, ruft er, tief erschüttert ob
-dieser Vergeltung:
-
- Dies zeigt, ihr waltet droben,
- Ihr Richter, die der Menschen Übeltat
- So schleunig rächen!
-
-Hier erleben wir aber eine wundervolle Steigerung. Edgar hat seinen
-Bruder, den Bastard, der über ihn und seinen Vater das Elend gebracht
-hat, im Zweikampf feierlich-ritterlicher Art, im Gottesgericht besiegt;
-in dem Augenblick, wo er dann sich, mild verzeihend, dem Sterbenden
-enthüllt, findet er Worte des Verstehens auch für dies Entsetzliche
-selbst, für die Blendung seines Vaters; wie Albanien in der Tat, die
-dieses Gräßliche gerächt hat, so findet der eigene Sohn himmlischen
-Sinn in dem Gräßlichen selbst:
-
- Die Götter sind gerecht, aus unsern Sünden
- Erschaffen sie das Werkzeug unsrer Strafe.
- Der dunkle, schnöde Platz, wo er dich zeugte,
- Raubt ihm das Augenlicht.
-
-Geben wir’s nur zu: wir wären keine Menschen, wenn wir in den Momenten
-der innigsten Erschütterung, die uns so hinnimmt, daß wir nicht wissen,
-drückt sie uns nieder oder erhebt sie uns, mit dem Ewigen nicht spielen
-müßten, wie hier Edgar spielt, wie die Guten alle in dieser furchtbaren
-Welt des Zorns, der Bosheit, der Brunst und Gier, wenn Erkenntnis sie
-anrührt, spielen, in einem Spiele spielen, das dem Glauben so verwandt
-ist, wie ihre Art, die Wahrheit zu schauen, dem Wahn. Was Edgar da
-sagt, heißt ja doch: Du, den der Vater in Sünden, in Wollust, in
-Unehren, fern von Familie und aller gesellschaftlichen Anerkennung,
-wie in einem dunklen Loch in die Welt gesetzt hat, du, der als Bastard
-zum Aufrührer geboren war, du Bruder, in dem Neid und Rachsucht von
-Geburts und Erziehungs wegen entstehen mußte, du warst von Gottes
-und Rechts wegen der berufene Rächer seiner Sünde; und daß er durch
-dich der Finsternis anheimfiel, darin kann man tiefen Sinn und Fügung
-des Himmels erkennen. Ein solcher Ausruf, eine solche Bewunderung,
-ein solches Sichbeugen ist ja nicht die Setzung einer Theorie, es
-ist ein Stück heiligen Willens: so sei die Welt! ist ein Entschluß,
-ist die Umschaffung der natürlichen Welt in eine Menschenwelt und
-zugleich die Anerkennung des unverbrüchlichen Zusammenhangs der
-Notwendigkeitsordnung, die wir Ursache und Wirkung nennen: Denn alle
-Schuld rächt sich auf Erden.
-
-Während dies sich zwischen den Brüdern ereignet, wo der milde Held den
-bösen Kraftkerl tötet und ihm Verzeihung in sein Sterben ruft, stirbt
-der alte Vater still und lebenssatt. Er ist noch mitten in den Krieg
-geraten, hat miterlebt, wie die gute Sache, der er gedient hatte, für
-die er alles gegeben, unterlag, wie Lear und Cordelia gefangen wurden;
-der blinde Greis hockt unter einem Baum, will nicht mehr weiter, will
-sich nicht retten:
-
- Nicht weiter, Freund, ein Mensch verwest auch hier.
-
-Da ermuntert ihn der immer noch unerkannte Sohn Edgar, mit Worten, in
-denen zugleich Resignation und Tatkraft liegt: über nichts verzweifeln,
-alles tragen, nicht aber es stumpf über sich ergehen lassen:
-
- Dulden muß der Mensch
- Sein Scheiden wie sein Kommen in die Welt.
- Reif sein ist alles.
-
-In alledem haben wir je nach Charakter, Stimmung, Situation wechselnde
-Gefühle, Gedanken, Bereitschaften angesichts großen Unglücks; und
-immer versucht der Mensch, Himmel und Erde in Verbindung zu bringen
-oder ohne das auszukommen. Aber auch, wenn große, innige Seligkeit zu
-einem kommt oder wenn gar die Gleichzeitigkeit und das Ineinander des
-Bösen und des Guten gewahrt wird, ist der Mensch geneigt, den Himmel
-zur Erde hinabzuziehen und das Wunderbare als geheimen Zusammenhang zu
-erfassen. Wie Kent die Güte seines Lieblings Cordelia und die Bosheit
-ihrer Schwestern betrachtet, ist es ihm, als reichten irdische Gründe
-zur Erklärung des Warum all der Rätsel hier auf Erden nicht aus. Es muß
-eine überirdische Lenkung da sein; ein uns unbegreifliches Verhängnis,
-das in den Sternen geschrieben steht:
-
- Die Sterne,
- Die Sterne droben leiten unser Schicksal.
- Wie könnte sonst ein Paar wohl Kinder zeugen,
- So ganz verschieden?
-
-Die Szene am Schluß aber, wie Lear, selbst ein Sterbender, schwach,
-taumelnd, die Leiche der grauenhaft ermordeten Cordelia auf den Armen
-herein trägt, wie nun sein letztes Leben als Leidenschaft aufschreit,
-diese Szene hat wahrhaft Weltuntergangsstimmung:
-
- Heult, heult, heult, heult! -- O, ihr seid all von Stein!
- Hätt’ eure Zung’ und Augen ich, des Himmels
- Gewölbe machte ich zusammenstürzen!
-
-Und Kent, Edgar, Albanien, die Guten, die im Untergang einer Welt, wo
-die Guten mit den Schlechten in unlöslicher Umklammerung hinabgerissen
-werden, allein noch übrig sind, bilden den Chorus:
-
- Ist dies das verheißne Ende?
- Ist’s jenes Grauens Bild?
- Sink und vergeh!
-
-Und wie Lear sterben will, flüstert Kent der Vielgetreue, der seinem
-Herrn gleich nachsterben wird -- der zehnte und letzte Tote in diesem
-Stück --, ängstlich, bange, daß Lear doch ja nicht in dieses Leben hier
-noch einmal zurückkehre:
-
- Quält seinen Geist nicht, laßt ihn ziehn! Der haßt ihn,
- Der auf die Folter dieser zähen Welt
- Ihn länger spannen will.
-
-Man sagt, dieses Stück entstamme Shakespeares bitterster,
-pessimistischer Periode; der Untergang des Guten mit dem Bösen, durch
-das Böse werde darin gezeigt. Das ist wahr und nicht wahr; gezeigt
-wird, wie die böse Lust sich der Menschen bemächtigt, ihr angeboren
-Gutes unterdrückt und überwächst; wie dieses Schlechte Zustände und
-einen Nährboden schafft, wo auch das Gute nicht mehr gedeihen kann;
-und wie der Versuch der Umkehr, der Rettung, der Heilung zu spät
-kommen mag. Nirgends mehr als hier führt der Dichter das, was die
-Menschen einander antun, mit dem, was er zeigt, und mit dem, was er
-die Gestalten aussprechen läßt, nicht auf den dunklen Ratschluß der
-Götter, sondern auf die Verkehrtheit der Menschen, das Mythologische
-auf das Soziale, das Soziale auf die Seele zurück; die Äußerungen der
-Deutung gerade für die Beziehung zwischen Charakter und Schicksal
-sind mannigfach abgestuft und untereinander entgegengesetzt; nie
-äußert sich der Dichter, immer die bestimmte Gestalt nach Maßgabe
-ihres Charakters und der wechselnden Situation und Stimmung. Jeder,
-möchte man fast sagen, hat jedesmal recht. Shakespeare geht hier so
-wenig wie je von einer Idee aus; es ist nicht eine Fabel um der
-Darstellung eines Gedankens willen erfunden oder umgestaltet, es sind
-auch nicht die zwei Fabeln um einer Abstraktion willen zusammengefügt
-worden. Er erfüllt die rohe Skizze der überlieferten äußeren Tatsachen
-mit Leben, mit Seele, mit innerster Wahrheit. Ein Geschehnis wird
-berichtet; seht her, ruft der Dichter, ich zeige euch, wie’s dabei
-im Innern der Menschen zuging; warum sie tun mußten, was sie taten.
-Wie’s Herder gesagt hat, ein Stück unsäglich reiche, breite, innige
-Menschenwelt ist „zu einem Vater- und Kinder-, Königs- und Narren- und
-Bettler- und Elend-Ganzen zusammen geordnet“, eben um dieses Ganzen,
-um der gegenseitigen Beleuchtung der einzelnen Teile und Vorgänge und
-Gestalten willen. Shakespeare hat kein Stück geschrieben, wo wir so
-extensiv und intensiv in der Fülle leben wie im König Lear; Zymbelin
-freilich geht noch mehr ins Breite und Bunte, aber nicht annähernd
-so ins Tiefste, und wie mager wird selbst die Fabel des Hamlet gegen
-dieses Ineinander des Mannigfaltigen: Lears Verhältnis zu den Töchtern
--- Cordelia zwischen den zwei Freiern -- Lear und Kent -- Lear und
-sein Narr, den der Dichter, so innig lieb er ihn hat, im dritten Akt
-verschwinden läßt, weil nun Edgar an seine Stelle tritt -- Gloster und
-seine Söhne -- Edgars mannigfaltigste Schicksale und Begegnungen --
-das in seiner Körperlichkeit strahlend schöne, morallose, kraftvolle
-Naturkind Edmund und seine Beziehungen zu Lears Töchtern -- Gloster
-und Cornwall -- Cornwall und der Knecht -- Albanien und seine Frau --
-Edgars und Edmunds Kampf -- und all das und mehr in breiter Entladung
-und nie als dekorativer Auftritt, immer als Gestalt und Handlung
-gewordenes Innere; und welche Kühnheit und Sicherheit, die beiden
-Greise, Lear und Gloster mit ihren wesensgleichen und doch äußerlich
-so verschiedenen Erlebnissen neben- und miteinander agieren zu lassen!
-In eine solche Fülle des äußeren und inneren Lebens, der Qual und der
-inständigen Not und des über Elend und Wahnwitz und tiefsten Hinabsturz
-sieghaft empordringenden Geistes, in einen so mannigfach variierten
-und gesteigerten Gegensatz von Affektwut und friedfertig ergebener
-Demutsabgeschiedenheit, von sklavischem Herrentum und freier Armut, von
-Reichtum und Entblößtheit kommen wir hinein, daß wir, wenn mit einem
-Mal das Wort „Shakespeare“ an unser Ohr schlägt, erstaunt uns besinnen,
-daß all diese ausgedehnte Welt Werk eines einzelnen Menschen, eines der
-vielen Stücke dieses Dichters ist.
-
-Shakespeares Gestalten sind nicht bloß feurig aus produktiver
-Kraft geflossen; sie haben von ihrem Schöpfer solche Zeugungskraft
-aufgenommen, als wären sie lebendige Wesen. Kaum ein besseres Beispiel
-wüßte ich dafür, wie Shakespeares Gestalten sich in der Erinnerung
-nachträglich lebendig verwandeln können, als die Gestalt Lears.
-Das Sentenziöse, Sprichwörtliche, das mit dem Bilde dieses alten
-Mannes sich verbunden und zu neuen Dichtungen geführt hat, ist aus
-Shakespeares Stück, mehr durch Weglassung als durch Hinzufügung,
-erwachsen, bezeichnet aber nicht eigentlich seinen Inhalt und Sinn; am
-schönsten hat Goethe es in seinem Spruchgedicht geformt:
-
- Ein alter Mann ist stets ein König Lear! --
- Was Hand in Hand mitwirkte, stritt,
- Ist längst vorbeigegangen;
- Was mit und an dir liebte, litt,
- Hat sich wo anders angehangen.
- Die Jugend ist um ihretwillen hier,
- Es wäre törig, zu verlangen:
- Komm, ältele du mit mir!
-
-Die weise, gefaßte Heiterkeit dieser Schlußwendung ist ganz goethisch,
-ein Trieb, der Shakespeares Dichtung erst in Weimar zugewachsen ist.
-Zwar zeigt uns Shakespeare gleich zu Beginn in Cordelias Verhältnis
-zu dem alten Vater und zu ihrer jungen Liebe mehr als in Lears
-Verhältnis zu den andern Töchtern, daß, wer alt wird, sich gar nicht
-erst zurückzuziehen braucht: mitten unter denen, für die er Sorge
-trägt, ist er einsam. Aber Lear hat ganz andere, schwerere Dinge zu
-lernen als dieses, und wenn er es schließlich bis zu der Demut bringt,
-vor der eignen Tochter hinzuknien, so tut es wahrhaftig nicht der
-alte Mann, der der Jugend huldigt, sondern der König und Vater, der
-im Alter hat lernen müssen, was er sein Leben lang versäumt hat. Und
-so ist zum Ganzen dieser Identifikation Lears mit dem Alter zu sagen:
-Nachträglich, wenn die Gesamtstimmung Lear sich mit unserm eignen
-Gemüts- und Erfahrungsleben verbindet, beim Rückblick auf diesen
-Mann, dem sich die Kinder, alle drei, entziehen, gegen den sich der
-nicht mehr junge, aber jüngere Freund, der Graf Kent auflehnt, dessen
-Altersgenosse Gloster nur für ihn eintritt, um gräßliche Strafe zu
-finden, der fühlt, daß ihn niemand mehr braucht, daß er allen im Wege
-ist und irgendwohin in die Ecke gefegt werden soll, der schließlich
-vor den Menschen nicht als seinen Verfolgern, sondern als lieblos
-Abgewandten und Belästigten in Wettersturm und Wahnsinn flieht, so
-in der auslassenden und zusammenrückenden Erinnerung empfinden wir
-wohl, daß Lear das Bild der Altersvereinsamung ist. Aber in dem Stück
-selbst weist nicht der kleinste Einzelzug und keine einzige Äußerung
-darauf hin, daß der Dichter auf dieses Typische sein Licht und seine
-Wärme sammeln will. Die Dichtung sträubt sich nicht dagegen, daß wir
-diese Stimmung mitbringen oder mitfortnehmen oder später um Lears
-Bild ranken; was Shakespeare aber darstellt, ist ein sehr besonderer
-Fall nicht dieses Allgemeingültigen, das vom Alter handelt, sondern
-eines ganz andern. Shakespeare hat solche Allgemeinheiten und darum
-Mannigfaltigkeiten wie Alter, Freundschaft, Liebe, Weib nicht auf
-die Linie einer Regel gebracht, und für ihn ist ein alter Mann so
-wenig ohne weiteres ein König Lear, wie er ein Shylock oder Siward
-oder Lafeu oder Bruder Lorenzo ist, oder wie das Weib eine Cleopatra
-oder Cressida ist. Und viel mehr als mit den alten Männern, die man
-sonst noch bei Shakespeare findet, gehört König Lear mit dem jungen
-Richard II. zusammen. Denn wollen wir schließlich doch ein Wort
-haben, um das Individuum dieses Stückes einer Gattung einzureihen,
-so sagen wir: auch hier geht es um das Problem der Macht. Macht in
-ihrer Verbindung mit Willkür, Gier, Affektwut und Brunst bildet für
-Shakespeare in der Tat eine Kategorie der Zusammengehörigkeit. Wir
-halten schon lange bei diesem Problem der Macht: wir hatten es in
-Maß für Maß zwischen Lachen und Weinen; in düster dämonischer Art
-in Macbeth; in innigster Gestalt hier im König Lear. In großartig
-geschichtlichem Rahmen, wo denn die Verbindung zwischen Machtgier und
-Brunst, die wir in Maß für Maß wie im Lear hatten, sich uns noch einmal
-als ein Prinzip, das eine Welt beherrscht, weit und stark darstellen
-wird, werden wir’s, in unmittelbarem Anschluß der Handlung an Julius
-Cäsar, das nächste Mal in Antonius und Cleopatra haben.
-
-
-
-
-Antonius und Cleopatra
-
-
-Antonius und Cleopatra aufzuführen ist immer wieder in unsrer Zeit
-unternommen worden; es muß aber, wie bei mehreren der bedeutendsten
-Stücke Shakespeares, am rechten Geist der Aufführung, vielleicht auch
-an der rechten Beschaffenheit des Publikums gefehlt haben; denn wir
-wissen, Shakespeare gebührt ausnehmend viel Freiheit des Geistes und
-Ernst der Gesinnung. Wie auch immer, wir stehen hier vor einem Stück,
-dessen Gestalten noch nicht einmal der äußern Erscheinung nach durch
-Aufführungstradition feststehen; durch Bühnenanweisungen hilft uns
-Shakespeare gar nicht und durch Bemerkungen zu direkter Charakteristik
-selten; mit der Handlung erst und ihren Geschehnissen, mit den Taten
-der Menschen und der Art, wie sie dulden, bauen sich diese Gestalten im
-Lauf der Vorgänge für uns Leser auf.
-
-Es geht um schwer zu deutende, verworrene, gemischte Naturen; wir
-werden erst den Grund legen müssen, auf dem wir uns bewegen. Betrachten
-wir erst den äußeren Aufbau der Tragödie. Sie ist von allen Stücken
-Shakespeares das szenenreichste: es sind 42 Szenen, von denen viele
-ganz besonders kurz sind; ein paar Worte werden gewechselt, und schon
-verwandelt sich der Schauplatz wieder.
-
-Die fünf Akte sind so aufgebaut, daß der erste 5, der zweite 7, der
-dritte 13, der vierte 15, der fünfte aber nur 2 Szenen umfaßt: es ist
-eine fortwährende Erweiterung in die Breite der Welt, bis -- nach
-dem Tod des Antonius -- in dem Epilog, den der fünfte Akt bildet --
-alles Extensive sich am Intensiven, alle Unruhe der äußern Bewegung an
-Cleopatras Seelenfülle bricht, die am Ende hervorkommt. ~Bravest at
-the last~ -- die Kühnste, die Beste am Ende, sagt Octavius von ihr
-in der unnachahmlich vielsagenden Kürze dieser Sprache und hat recht;
-und was da nur für Cleopatra gesagt ist, gilt auch fürs Stück.
-
-Lassen wir alle Erfahrungen der Unzulänglichkeit, die es auf
-englischen und deutschen Bühnen bisher gemacht hat, beiseite, so
-ist zu sagen: dieses seinem besonderen Wesen der Breite und Tiefe
-entsprechend besonders gebaute Drama bietet der Bühne eine ungeheure,
-eine prachtvoll lockende Aufgabe; aber es verlangt seinen besonderen
-Stil; es braucht ein Tempo des Verlaufs, das in gleicher Weise der
-breiten Mannigfaltigkeit der Schauplätze wie der Fieberhaftigkeit der
-Seelenstimmung entspricht; keinerlei Dekorationskünste dürfen uns
-aufhalten; aber auch die Drehbühne mit ihrer Unruhe, Würdelosigkeit und
-Verengung wäre kein Rat. Helfen kann hier, meine ich, am leichtesten
-und schönsten das Prinzip der echten, alten Shakespearebühne, dem
-moderne technische Mittel zu Hilfe kommen: eine bleibende, für alle
-Szenen würdig gestaltete Bühne also, über der nur ganz selten der
-Vorhang fallen muß, damit ein paar Requisiten je nach dem Erfordernis
-der Szenen gewechselt werden; der Schauplatz aber, die Stelle in der
-Welt, in der wir uns jeweils für ein paar Minuten oder auch nur den
-Bruchteil einer Minute befinden, ist mit Hilfe des Skioptikons durch
-Lichtbild auf die Fläche des Hintergrunds zu projizieren; ist die
-Vorstellung nur sonst vom rechten Ernst erfüllt und vermeidet man
-jeden Versuch einer parodistischen Erinnerung an Bühnenkindlichkeiten
-früherer Zeiten, so darf die geographische Lage des Stückes Natur, das
-dieser Hintergrund unsern Augen zeigt, ruhig in Buchstaben, die sich
-dem Bilde des Hintergrunds einfügen, mitgeteilt werden; Konzessionen
-machen darf das Theater dem Kino keine, aber lernen darf es von ihm.
-So können und sollen die Szenen, die alle an ihrer Stelle stehen und
-nicht in einander gemengt werden dürfen, gleichviel, ob sie lang oder
-kurz sind, so auf einander folgen, daß die Verbindung von Ruhe und
-Bewegtheit, von Seeleneröffnung und großem geschichtlichen Hintergrund
-entsteht, die das Stück verlangt. --
-
-Antonius und Cleopatra liegt uns in keinem früheren Druck vor als in
-der Gesamtausgabe aus dem Nachlaß, der Folio von 1623; auch versichern
-die Herausgeber, das Stück sei bis dahin noch nicht gedruckt worden.
-Gegen die allgemeine Annahme, die sich auf Verstechnik und geistige
-Haltung stützt, wonach die Tragödie um 1607 oder 1608 verfaßt sei, ist
-nichts einzuwenden.
-
-Shakespeares Quelle bildet Plutarchs Antoniusbiographie, die er schon
-bei Julius Cäsar mitbenutzt hatte; sein Verhältnis zu dieser Quelle
-ist auch diesmal, wie wir es damals gesehen haben; viele Einzelzüge
-übernimmt er treu; geschichtliche Vorgänge, die in seinen Rahmen nicht
-passen, läßt er weg oder läßt sie berichten oder tut sie mit einem Wort
-ab; und zu dem Eigentlichen, worauf es Shakespeare dem Brennenden,
-Shakespeare dem Ergründer ankam, hat der gute, sacht-pädagogisch mit
-dem Pendelfinger warnende Plutarch keinerlei Beziehung.
-
-Der Schauplatz und mehr, ein Gegenstand des Dramas: das römische Reich,
-nichts Geringeres: Rom, Misenum am Golf von Neapel, Messina, Athen,
-Actium an der Westküste Griechenlands, Syrien, Alexandria in Ägypten;
-und einmal werden wir an Bord eines Schiffes geführt. Und immer die
-Breite und die Bewegtheit und der Zusammenhang, immer gehen Boten hin
-und her und verbinden die Teile des Reichs, wenn auch zu Streit, so
-doch noch zu Einheit.
-
-Die politische Situation: das Triumvirat, wie es nach Cäsars Ermordung
-sich zusammengetan hatte und nach dem Sieg über die Verschworenen
-geblieben war, das Regiment von Octavius Cäsar, Julius Cäsars Neffen,
-Adoptivsohn und Erben; Marcus Antonius; Lepidus. Alles drängt der
-Spitze, dem Kaisertum zu; Lepidus steht als gutmütig-gemeiner
-Vermittler -- der sich selbst nicht zu kurz kommen läßt, aber nur
-den Geiz, nicht den Ehrgeiz kennt -- zwischen den beiden adligeren
-Prätendenten, die ihn ihrerseits nur halten, weil ihr Streit zum
-Ausbruch noch nicht reif ist.
-
-Bei einer Reise in die östlichen Gebiete, die ein Kriegszug war, ist
-Antonius bei Cleopatra hängen geblieben.
-
-Stellen wir hier, wo es erst nur um die äußere Situation geht, gleich
-das Alter der beiden fest. Historisch verhält es sich damit so, daß
-sie, als Antonius ihr zuerst begegnete, 24 Jahre alt war; bei ihrer
-beider Tod hatte sie das neununddreißigste erreicht. Bei Shakespeare
-bleibt nun, wie fast immer, der zeitliche Verlauf im Unbestimmten,
-Idealen; wesentlich ist, daß die Königin, wenn wir sie kennen lernen,
-in dem Gefühl steht, ihre Jugend hinter sich zu haben, daß sie voller
-Angst vor dem Alter ist; aber es walten die orientalischen Verhältnisse
-der frühen Reife und des schnellen Welkens; wir brauchen das Alter,
-das sie erreicht, nicht höher zu schätzen, als eben Ende der dreißiger
-Jahre.
-
-Antonius ist in Wirklichkeit 53 Jahre alt geworden, und als einen
-Fünfziger haben wir uns die Gestalt Shakespeares in diesem Stück auch
-vorzustellen.
-
-Octavius Cäsar ist viel jünger, und seine Konstitution ist der Art,
-daß er auf Männer von Antonius’ Schlag wie ein Knabe wirkt und immer
-wieder leicht wie ein Knabe von ihnen behandelt wird. Das hindert
-nicht, daß er kühl, ruhig, berechnend ist; das Männliche wird von
-leidenschaftlichen Naturen gerade darum an ihm vermißt, weil er den
-Trieben nicht unterworfen, dem Rausch nie preisgegeben ist; er ist
-gemäßigt, nicht als einer, der seine Renner im Zügel hat, sondern als
-einer, in dem es kalt und gesetzt hergeht, ohne Genialität, ohne Natur;
-aber dabei ist er weit ausschauend, kann warten und lauern, hat in
-kühler Cäsarenart einen vom Verstand geleiteten zähen Willen und hat
-ohne Traum und ohne Wut Machtbegehr und Majestät. Als einer, der ohne
-eigene Familie und auch sonst in jedem Betracht nur für sich dasteht,
-hat er zwischen sich und der Welt, in die seine Hand herrschend
-eingreifen will, eine kalt isolierende Schicht der Leere.
-
-Antonius ist mit Fulvia, einer geprüften Witwe, die schon allerlei
-hinter sich gebracht hat, verheiratet.
-
-Cleopatra ist die Witwe des Ptolemäus; sie hat aus dieser Ehe wie aus
-ihrem Bund mit Antonius Söhne.
-
-Den Stand des römischen Reiches lernen wir aus den Erwähnungen des
-Stückes folgendermaßen kennen (wie immer, so auch hier brauchen wir
-bei Shakespeare nur Aufmerksamkeit, keinerlei sonstige Wissenschaft;
-darum ist er in all seiner erlesenen Reife stets volkstümlich, eine
-ganze Nation vom Höchsten des Geistes her im Gemüt ergreifend): In
-Italien wütet Krieg, erst zwischen dem Bruder und der Frau des Antonius
-gegen einander; dann haben sich beide zusammengetan und gegen Octavius
-gewandt, was diesem argen Verdacht gegen Antonius erregt, der in
-Ägypten liegt und sich nicht von der Stelle rührt.
-
-In Süditalien, Griechenland, vor allem auf dem Meer durch Seeräuberei
-macht sich ein außenstehender Prätendent, Sextus Pompejus, der Sohn des
-großen Nebenbuhlers Julius Cäsars, immer gefährlicher.
-
-In Asien ist der Aufruhrkrieg der Parther unter Anführung des
-rebellierenden Römergenerals Labienus im Gange. --
-
-Und nun, wobei wir aber immer noch im Äußern nur uns bewegen wollen,
-zur Handlung und zum Aufbau des Stückes.
-
-Tolles üppiges Leben in Alexandria am Hof der Cleopatra: Feste, Gelage,
-Trinken, Schlemmen, Lieben.
-
-Derweile ist das Reich also von vielen Seiten in Gefahr; Antonius
-leistet Octavius keine Hilfe; der Aufruhr seiner Angehörigen muß
-irgendwie, ohne daß Klarheit über die Zusammenhänge zu schaffen ist,
-auf ihn zurückgeführt werden; die Boten, die Octavius sendet, hört er
-nicht an, läßt sie kaum vor.
-
-Trotzdem wird Fulvia besiegt, muß fliehen und stirbt eines unversehenen
-Todes. Und in dem Augenblick, wo er dieses sein Weib tot weiß, erwacht
-Rom in Antonius: in letzter Stunde, wo arg Versäumtes gerade noch
-eingeholt werden kann, rafft er sich auf zur Reise nach Italien.
-
-Da kommt es in der Tat noch zur Versöhnung der Triumvirn: die Ehe des
-jung verwitweten, der Cleopatra entflohenen Marc Anton mit Octavia,
-auch einer Witwe, der Halbschwester des Octavius, wird gestiftet, und
-er zaudert nicht, darauf einzugehen.
-
-Auch mit Pompejus wird ein Ausgleich zustande gebracht: der erhält
-Sizilien und Sardinien.
-
-Und Antonius steht groß da, wie sein Feldherr drüben in Asien gegen die
-Parther siegt.
-
-Aber kaum ist er in seiner besonderen Provinz, in Griechenland, da
-bricht der Streit mit Octavius neu und nun erst recht aus: der geht
-nun aufs Ganze; als echter Politiker betrachtet er Friedensverträge
-lediglich als unerläßliche Stadien des Krieges: der Krieg gegen
-Pompejus ist im geeigneten Augenblick wieder losgebrochen; Pompejus
-wird darin ermordet; auch der Mitherrscher Lepidus ist jetzt reif; er
-wird ins Gefängnis geworfen.
-
-So rüstet denn Antonius zum Krieg gegen Octavius; wie schon alles auf
-des Messers Schneide steht, erlaubt er seiner Frau, nach Rom zu reisen:
-es bleibt alles im Unbestimmten, wie sich’s für eine so politische
-Ehe gebührt: halb reist sie zu einem fast aussichtslosen Versuch der
-Vermittlung, halb weil ihr, wenn’s denn zum Krieg kommen soll, der
-Bruder näher steht als der Gemahl, der sie nur so für eine Zwischenzeit
-genommen hat, wie der Vertrag mit Pompejus ad interim geschlossen
-worden war; in Antonius’ unterirdischen Bezirken wühlen aber, auch sie
-freilich noch gemischt aus Politik und Brunst, noch ganz andre Motive:
-kaum ist sie weg, bricht auch er auf -- nach Ägypten.
-
-Man blickt bei Shakespeare völlig schon in das wahre geschichtliche
-Verhältnis hinein; was ein paar Jahrhunderte später kommen mußte, der
-Zusammenbruch des großen Reiches, die Trennung in Ostrom und Westrom,
-in die byzantinisch-morgenländischen und die lateinisch-abendländischen
-Gebiete, das spielt hier vor. Antonius stützt sich ganz, in der äußern
-Politik wie in der seiner eignen Natur gemäßen seelischen Haltung,
-auf die östlichen Königreiche: Griechenland, Zypern, Lydien, Medien,
-das Partherreich, Armenien, Syrien, Kilikien, Phönikien, Libyen,
-Kappadokien, Judäa usw., die alle in Shakespeares Stück an ihrem Orte
-mit Namen hervortreten. Das orientalische Leben, dessen Repräsentantin
-Cleopatra ist, steht ihm an, weil er sich nach Natur wie nach Plan als
-Herrscher dieses ungeheuren Reiches im Orient fühlt und von da aus,
-auf dieses sein eignes Gebiet gestützt, den Kampf gegen Octavius ums
-Weltreich führen will. Wäre durchgedrungen, was sich da regte, so wäre
-Alexandria so die Hauptstadt der Welt geworden, wie später Byzanz;
-Rom aber wehrt sich und behauptet sich. Wir sehen, wie Tüchtigkeit,
-Nüchternheit, kriegerisch-geordnetes Wesen, zweckvoll logisches,
-planvolles Staatsregiment sich im Westen unter Führung des Octavius,
-des berufenen Erben Julius Cäsars und der Republik, aufbaut, während
-eine im Orient wurzelnde Welt, repräsentiert durch den Griechenrömer
-Antonius und die Ägypterin Cleopatra, den Luxus und Lebensgenuß, die
-Ruhe, die lässige Beschaulichkeit, das Ästhetische, die triebhafte
-Willkür und Laune wählt und zum Siege führen will. Wir sehen schon
-hier, schon im voraus: es ist viel, was mit diesem Paar Antonius und
-Cleopatra zugrunde geht, und diesmal bildet die Geschichte nicht,
-wie wohl in solchen Stücken wie Othello oder Romeo und Julia, bloß
-eine Art Hintergrund der Landschaft und Temperatur, sondern das
-Besondere der Seelenzustände und Leidenschaften dieser Menschen und
-aber das Allgemeine der geschichtlichen Verhältnisse sind hier so
-innig in einander gehörig, wie für dieses durch Liebe wie Politik
-zusammengeschmiedete Paar Seelenliebe, Sinnlichkeit, Glanz, Üppigkeit
-und Macht nicht von einander zu scheiden sind.
-
-Der Entscheidungskampf ist denn nicht mehr hintanzuhalten: große
-Landheere und Flotten stehen einander bei Actium gegenüber. Cleopatra
-mit ihrer Seemacht nimmt an der Schlacht teil -- und flieht; Antonius
-mit seiner gesamten Flotte hinter ihr her -- und die Schlacht ist
-zu Cäsars, zu Roms Gunsten entschieden. Octavius, mit einer ganz
-unerwarteten, kühnen Geschwindigkeit, deren sich zumal Antonius von
-ihm nicht versehen hatte, verfolgt sofort. Geht auch ein Treffen auf
-dem Lande bei Alexandria für Antonius zunächst, dank seiner und seiner
-Generale und Soldaten persönlicher Tapferkeit, günstig aus, so ist
-doch nichts mehr zu hoffen: es ist nur der groß-verzweifelte Kampf ums
-ruhmvolle Ende; und wie er -- fälschlich -- hört, Cleopatra sei tot,
-bringt er sich um; und Cleopatra stirbt ihm nach.
-
-Der Westen hat gesiegt; die Einheit des Reiches ist, mühsam genug,
-vorerst bewahrt; Octavius Cäsar Augustus ist als alleiniger Imperator
-übriggeblieben; ein Kaisertum hebt an, in dem vorerst das Erbe
-republikanisch politischer Rechnung mächtiger ist als das orientalisch
-üppige Machthabertum, das Antonius gebracht hätte.
-
-Das ist der bewegte, der wahrhaft lebendig bewegte Hintergrund der
-Tragödie: ein Film größter, riesenhafter Art.
-
-Wenigstens, so wie wir’s bisher skizziert haben, bildet dieses bewegte
-Gemälde der Historie nur den Hintergrund des Stückes. In Wahrheit ist
-all dieses Geschichtliche, all dieser Machtstreit unlöslich eingeknüpft
-in das eigentliche Drama, in die Tragödie, die Antonius und Cleopatra
-in dieser weltgeschichtlichen Landschaft an einander erleben und von
-der jetzt erst zu reden ist.
-
-Vorher aber noch ein Wort von der Stimmung und dem Sinn des Ganzen.
-
-Wir haben drei Dramen Shakespeares, die wie schon der Titel sagt, ein
-Paar in die Mitte stellen: Romeo und Julia, Troilus und Cressida,
-Antonius und Cleopatra. Nun sagt man wohl, das erste Mal sei die
-hohe Liebe, die beiden andern Male aber die niedre, die Sinnenliebe,
-die Wollust dargestellt. Es ist aber nicht eigentlich so. So viel
-Shakespeare von Anfang an und immer mehr gegen den Teil der Liebe,
-der Wollust heißt, auf dem Herzen hat, so sehr er sich, wo er zur
-Liebe klagend und anklagend steht, auf kritische Analyse einläßt,
-so sehr kennt er, wo er Menschen und ihre Schicksale gestaltet, nur
-_eine_ Liebe: die ganze. Er weiß, daß der Trieb selbst in rohester
-und tierischster Gestalt bei allen Lebendigen, die nicht Caliban sind,
-noch irgendwie von Traum und Phantasieschöpfung verklärt ist und daß
-~fancy~ ein Element ist, in dem Lust mit Laune, Leidenschaft mit
-Seele, Zwangsgewalt mit Freiheit und Geist mit göttlich-leichtem Spiel
-vereint wohnen. Er kennt nur die eine Liebe, die ganze; aber er kennt
-unsäglich verschiedene Menschen, die von ihr ergriffen werden und sich
-anders in ihr verhalten; er kennt unsäglich viele verschiedene Grade
-und Stufen der Liebe und ihres Mischungsverhältnisses. Die hohe Liebe
-des holden Jugendpaares Romeo und Julia ist sehr beseelt, sehr sinnlich
-und wenig geistig; bei Troilus und Cressida haben wir als bezeichnend
-gesehen, wie bei diesem Paar der Jüngling so viel mehr Seele und
-Geist in das Gefäß der Sinnenliebe gießt als das Mädchen; und so ist
-auch die Liebe von Antonius und Cleopatra, dieser nicht mehr Jungen,
-Vielerfahrenen, des reifen, überreifen Mannes, des reifen, überreifen
-Weibes Liebe nicht im entferntesten bloß Sinnenliebe; Shakespeare
-bleibt hier so wenig wie je im Typischen, Formelhaften, Abstrakten
-stecken; Einmaliges, das sich so nie in der Welt wiederfindet, wird
-gezeigt; es ist die leidenschaftliche, unentrinnbare, Seele und Leib
-und Geist trotz aller Abwehr und allen Fluchtversuchen und allen
-Einsichten und Verleumdungen hinnehmende Liebe des Staatsmanns und
-Kriegsmanns, des Römers und Griechen Antonius und dieser einzigen Frau,
-der Schlange vom Nil, wie er sie nennt, der Königin-Buhlerin Cleopatra.
-
-Antonius: wir kennen ihn schon aus Julius Cäsar, und er ist der
-selbe. Ein herkulischer Mann, der Familiensage nach auch wirklich
-aus Herkules’ Stamm entsprossen; Sportsmann, Ringer, Athlet. Tapfer,
-aushaltend, nicht umzubringen, von einer ehernen Konstitution, die
-man, im ursprünglich bildhaften Sinn, wahrhaft kolossal nennen darf.
-Dazu feurig, flammend, rasch einnehmend; er repräsentiert die seltene,
-berückende Vereinigung der stärksten Kraft mit der feinsten Eleganz,
-der unerschütterten Ruhe, wie sie sonst nur ein Vierschrötiger hat,
-mit der leichtesten und witzigsten Beweglichkeit. Sein Denken ist
-schnell, schnellend; und so ist auch seine Entscheidung ohne Bedenken
-und Skrupel. Solange er sich in der Gewalt hat, ist er imstande, all
-seine reichen Gaben in den Dienst eines Zwecks zu stellen, und ist
-dann ganz sieghaft. Denn er ist eine reiche Natur, voller Gefühl und
-Unmittelbarkeit, und wenn er diese Gaben vermöge seiner angeborenen
-und durch viel Übung bezwingend gewordenen Schauspielerkunst seinem
-Willen dienstbar macht, so siegt er durch sich selbst und durch die
-Popularität, die mit ihm geht.
-
-Er ist einer, der durch Ausschweifungen so wenig wie durch härteste
-Entbehrungen umgebracht wird. Für sein Ausmaß gilt nicht das
-Entweder-Oder kleiner oder mittlerer Normalmenschen: entweder
-liederlich etwa oder kriegstüchtig; entweder leidenschaftlich oder
-besonnen; er ist das eine wie das andre. Nie ist er, in fassungslos
-wilder Unbeherrschtheit nicht einmal, in äußerster Anspannung; immer,
-ehe es mit ihm zu Ende geht, ist in ihm und um ihn noch etwas von der
-Ruhe einer gewissen mittleren Haltung, einer holden Lässigkeit.
-
-Da sind wir aber bei seiner Gefahr, zumal in dieser dürr gewordenen
-Welt der Politik: er kann nicht nur, er muß manchmal den Zweck
-ausschalten; er kann nicht alleweile hell, klar, scharf sein, die
-Gegner belauern und ein Ziel verfolgen; er braucht Selbstvergessenheit,
-Hingebung, Versinken, Trägheit, Lust: Genuß und Rausch.
-
-Und dazu kommt nun: er steht jetzt an der Grenze, wo die Jugend ihn
-bald verlassen würde, wenn er sie nicht mit leidenschaftlicher Gewalt
-festhielte.
-
-Was ihm, ganz abgesehen von allen politischen, allen
-Rivalitätsgegensätzen, an Octavius menschlich so widerwärtig ist,
-das ist, daß dieser junge Mensch gar keine Gegenwart und also Wonne
-so wenig wie Laster zu haben scheint: der lebt nur in der Zukunft,
-in der Spannung, im politischen Ziel, im Abstrakten. Über Antonius
-aber scheint das Gebot zu walten, das der Dichter des augusteischen
-Zeitalters, Horaz, in die zwei Worte faßt: ~carpe diem~, genieße
-den Tag, pflücke die Stunde. Lust ist das Element, in das er immer mal
-wieder tauchen muß, Lust bis zur Liederlichkeit; nur daß sie tragisch
-umwittert ist, in Verbindung wie sie steht mit der Gefahr der Zeit in
-jeglichem Sinne: daß die Zeit dahinschwindet, daß die Jugend vergeht;
-und dazu noch die Untergangsstimmung dieser besonderen Zeit: es mischen
-sich die Kulturen von Ost und West; die republikanische Tugend ist
-versunken; wie lange ist’s schon her, daß er selber Brutus erst in den
-Untergang gehetzt und ihm dann den erschütterten Nachruf gesprochen
-hat! Nun herrschen Frivolität und Skepsis; die Welt hat keinen Halt und
-keinen Glauben mehr; und in den großen Kämpfen geht es nicht mehr um
-Prinzipien, sondern um persönliche Macht.
-
-Es ist fast wie ein landschaftliches, ein Natursymbol dieser wogenden
-Stimmung -- wie’s uns anders, aber doch verwandt dann wieder im
-Sturm begegnet --, daß wir in diesem weiten Drama immer wieder auf
-die Wasserfluten, des Meeres und des Stromes, geführt werden: es
-ist in diesem Stück etwas Weiches, Wogendes, Nebeldunstiges, feucht
-Dahinrinnendes; es fehlt nicht an Sonne, aber es ist die Sonne, die
-Maden ausbrütet; wir schwimmen auf einem Flusse wohliger Lust, und wo
-wir dem Feuchten entsteigen, kommen wir doch nicht aufs feste, sichere,
-trockene Land, sondern in die fruchtbar-schwüle Sumpfniederung des Nils.
-
-Auf einem Flusse ist Cleopatra allererst dem Antonius entgegengefahren;
-drüben in Kleinasien war’s; auf dem Kydnus in Kilikien. Das üppige
-prächtige Bild dieser Begegnung stammt ursprünglich von Plutarch; wir
-haben es nun, wie eine zauberhafte Wirklichkeit, die aus Geschichte
-zur Sage geworden ist, in den Farben, in denen es Shakespeare für
-alle Sinne gemalt hat und die noch frisch und strahlend sein werden,
-wenn das Bild, das Makart aus der Szene gemacht hat, längst chemisch
-zersetzt sein wird:
-
- Die Barke, drin sie saß, brannt’ auf dem Wasser
- Hellstrahlend wie ein Thron; getriebnes Gold
- Des Schiffes Spiegel; purpurrot die Segel
- Und so durchduftet, daß die Winde sich
- In Liebesweh verfingen. Silberruder
- Regten im Takt sich nach dem Ton der Flöten,
- Und wie in Sehnsucht folgten die Gewässer.
- Und nun sie selbst! Der Schildrer wird zum Bettler!
- In ihrem Zelt von Goldbrokat lag sie,
- Das Venusbild, in dem die Kunst der Laune
- Noch die Natur bemeistert: ihr zu seiten
- Wie lächelnde Amoretten standen Knaben
- Mit holden Wangengrübchen, bunte Fächer
- Wehten statt Kühlung Glut dem zarten Antlitz...
- Um sie die Dienerinnen, allesamt
- Meermädchen, Nereiden gleich...
- Ein Meerweib sitzt am Steuer; seidnes Tauwerk
- Schwillt an im Druck der blumenweichen Hände...
- Und von der Barke trifft
- Ein seltsam unsichtbarer Duft die Sinne
- Der nahen Ufer...
-
-Da haben wir sie allererst, Cleopatra die Nilschlange! Der Hörer des
-Stückes freilich vernimmt diese begeisterte Erzählung des sonst so
-ruhig-klugen Feldherrn Enobarbus erst, nachdem er die Königin schon in
-schönen und häßlichen Launen leibhaft kennen gelernt hat. Seltsam und
-ganz in der Art großer Dichter, so indirekt fast, wie Homer die Helena
-in ihrer Wirkung auf die trojanischen Greise geschildert hat, ist es,
-wie wir in diesem Bericht über die Jugend der Schönen, die wir vor
-Augen haben, mehr von ihrem Milieu, ihrem Dunst und Duft hören als von
-ihr selbst, mehr von ihrer Wirkung als von ihrer Erscheinung, und mehr
-von Kunst als von Natur!
-
-Ihrer äußern Erscheinung aber werden wir Leser besser durch die Szene
-habhaft werden, wo sie sich ihre Nebenbuhlerin Octavia schildern läßt;
-eine echte Cleopatra-, auch eine echte Shakespeare-Szene das; aus ihren
-Ablehnungen der Eigenschaften Octavias erfahren wir, für welche eignen
-sie sich selber zulächelt: demnach ist Cleopatra eine hohe, schlanke
-Erscheinung, voll graziöser Bewegung; das Gesicht ist oval, der Teint
-dunkel -- eine Zigeunerin wird sie genannt; die Stimme aber ist hell
-und zart. Sie wirkt königlich und weiblich; bezwingend, verführend vor
-allem durch Hinfälligkeit.
-
-Dies ist nun ein wesentlicher Zug an diesem Geschöpf, der, glaube
-ich, bisher nie richtig gedeutet worden ist. Um ihn zu gewahren,
-haben wir zunächst darauf zu achten, daß die Menschen sich in ein
-paar Jahrhunderten oder auch Jahrtausenden nicht eigentlich, nicht im
-Grunde ändern; gewisse Ausdrucksformen, Kleider, Moden und vor allem
-Bezeichnungen und Deutungen ändern sich, aber nicht Wesenszüge, weder
-normaler noch abnormer Art; und es macht kaum einen Unterschied,
-ob wir, darauf nun aufmerkend, den Blick in Shakespeares oder in
-Cleopatras Zeiten richten. Frauennaturen, wie sie uns heute begegnen,
-wie wir sie heute kennen -- was man so kennen heißt --, hat es
-auch damals gegeben. Ich glaube nun zu gewahren, ja, ich bin mir
-sicher, daß Shakespeare, wohl der größte Menschen- und vor allem
-Frauendurchschauer, den wir haben, in Cleopatra eine Frau dargestellt
-hat, die wir besser verstehen, wenn wir sie in den Kreis der
-Frauengestalten aufnehmen, wie sie in der uns vertrauten Sprache und in
-direkter Schilderung zuerst Stendhal und dann vor allen Dostojewskij
-geschildert haben.
-
-Ja, Shakespeares Cleopatra gehört zum Geschlecht der Aglaja Epantschin
-und der Nastasja Filipowna aus dem Idioten und vor allem der Gruschenka
-und der Katharina aus den Brüdern Karamasoff. Nur daß sie zu all
-der Hoheit, die bei ihr wie auch bei diesen Frauen aus mannigfachem
-Erliegen und sklavischem Hingeben, aus arger Erniedrigung sich immer
-wieder aufbäumt, noch die Stellung einer echten Königin hat, mit Macht,
-Üppigkeit, fabelhaftem Reichtum umgeben, und daß ihr Geliebter der
-Imperator ist.
-
-Sprechen wir das Wort nur aus: eine sinnlich, seelisch, geistig reich
-begabte Hysterische ist diese Zigeunerin und Königin aus dem Lande
-Ägypten, eine Hysterische von der strahlend reichen, schimmernden
-Gattung, die Männer verschwenderisch verbraucht und Männer zauberhaft
-anlockt; der Gattung, der gegenüber Worte wie Wahrheit und Lüge, ja
-sogar, Natur und Kunst unzulängliche Ausdrücke werden.
-
-Das entscheidende Wort, von dem aus die Gestalt aufzubauen ist, fällt
-im vertrauten Gespräch zwischen Antonius und seinem ersten Feldherrn
-und nächsten Freund Enobarbus. Antonius ist entschlossen, Cleopatra
-zu verlassen; es ist höchste Not, in Italien nach dem Rechten zu
-sehen; die Nachricht von Fulvias Tod hat ihn aufgestört, hat positiv
-und negativ ihre Wirkung getan; denn einer der Gründe, warum er
-ganz in diesem ägyptischen Weibe wie in einem Versteck und einer
-Vergessenheit untergetaucht war, besteht nun nicht mehr: seine Ehefrau,
-dies kriegerische Mannweib, vor dem er Respekt in jeder Hinsicht,
-wahrhaft Angst nämlich gehabt hat, ist nun tot. Wie Antonius ihm diesen
-Entschluß eröffnet, meint Enobarbus bedenklich: O weh! Da stirbt
-Cleopatra, sowie sie’s hört, auf der Stelle! Und ihre Frauen, ja, die
-leben ja in so einer Art bei weiblicher Freundschaft bekannter Mimikry
-mit der Existenz ihrer Herrin, die werden ihr eilends nachsterben!
-Damit will der Kauz, der zynische Sprache als Panzer gegen die Welt
-sich angelegt hat, sagen: Was wird es diesmal für eine Szene geben! Wie
-wird sie in Ohnmacht fallen!
-
-„Ich habe sie zwanzigmal sterben sehen bei weit armseligerm Anlaß. Es
-muß, denk’ ich, ein feuriger Stoff im Tod liegen, der irgendwie einen
-Liebesakt auf sie überträgt, sie hat so eine Schnelligkeit im Sterben!“
-
-Auf diese Bemerkung, die schon seltsam genug ist, erwidert
-Antonius, dem nicht wohl zumut ist, mürrisch: „Sie ist schlau über
-alle Begriffe.“ Er deutet also -- in diesem Augenblick -- ihre
-Hinfälligkeit, ihre Anfälle, ihre Ohnmachten, im Zusammenhang
-mit ihren Launen und ihrer Buhlerei aller Grade, ganz wie der
-Durchschnittsbeurteiler, als Falschheit, Schlauheit, List. Wir aber
-wollen, noch ehe wir weiter gehen, daran denken, daß unser Wort Laune
-von ~la lune~, dem Monde, kommt, der nur bei uns Deutschen nicht
-weiblichen Geschlechts ist, und daß Monat und Mond das nämliche Wort
-ist. Enobarbus aber, ein feiner Beurteiler, einer, der trotz rauher
-Rede fein empfindet, erspart uns vorerst weitere Deutlichkeit, indem
-er dies seltsame Wesen noch eindringlicher analysiert, mit sehr
-merkwürdigen Worten einer höchst modernen Seelenchemie:
-
-„Ach nein, Herr,“ so weist er des Antonius brummige Plumpheit zurück,
-„ihre Triebe -- ~passions~ -- bestehen aus gar nichts anderm als
-dem allerfeinsten Teil reiner Liebe; ihre Stürme und Fluten dürfen wir
-gar nicht Seufzer und Tränen benennen; es sind Orkane und Gewitter
-einer heftigeren Art, als sie im Kalender stehen: das kann bei ihr
-keine Schlauheit sein; wenn das wäre, könnte sie einen Regenschauer
-machen so gut wie Jupiter.“
-
-Moderne Verkünder der Periodizitätslehre würden sich weniger
-anschaulich und formelhafter ausdrücken; aber auch sie würden
-Cleopatras Wallungen mit Wind und Wetter, mit Ebbe und Flut und mit dem
-Kalender in Beziehung bringen.
-
-Damit ist also gesagt: ihre Launen, ihre Tränen, ihre Ohnmachten, ihre
-Wutanfälle, womit all ihr verführerischer, sinnlicher Zauber und auch
-ihr Spielen mit der Liebe, ihre Katzennatur zusammenhängt, all das ist
-im Grunde eine überempfindliche Hingebung an Liebe und Leidenschaft.
-Die Liebe ist bei ihr etwas Zentrales, und gerade darum ist sie nicht
-bloß inwendig, in Seelenkeuschheit Liebe; ihre Liebe ist immerwährend
-anwesend und allüberallher in ihrem Leibe verbreitet; bis in die Haut
-und jede Regung hinein ist sie lauter Liebe und Trieb; wenn sie alle in
-irgend einem Grad in ihre Netze zieht, so nur darum, weil sie selbst
-mit Haut und Haar im Netz, im Bann, im Dienst der Liebe steht. Ihre
-Unberechenbarkeit ist Schwäche; und diese Schwäche ist ihre Stärke über
-die Männer; sie ist eine tödlich Liebende, weil Liebe, das mörderische,
-schlangenhaft aussaugende, bebend rastlose Prinzip, ihr in Leib und
-Seele sitzt. Ergreifend schöner und dazu unbemäntelt wahrer kann man’s
-nicht ausdrücken, als es der Römer Enobarbus getan hat: ein Leben, das
-dem Tod entstammt und in jedem kleinsten Zeitteil vom Tode besetzt ist,
-führt sie; und dieser Tod ihrer Herkunft und ihres immer zitternd regen
-Daseins verwandelt sich ihr in geheimnisvollen Schauern und feurigen
-Wallungen wie zu Liebesakten. Fassen wir sie so, wie Enobarbus uns den
-Weg zu ihr weist, welche Achtung überkommt uns vor den Gegengewichten,
-die diese reiche Arme trotz all ihrer elementaren Natur in sich haben
-muß, vor ihrem Geist und ihrer Beherrschtheit, vor ihrer mit allem
-Hohen der Welt in Verbindung stehenden, königlichen Liebe zu den Großen
-der Erde, ja, sagen wir’s geradeheraus, so paradox es klingt, vor ihrer
-Treue in der Liebe! Wie hat sie die pochende, zuckende Ruhelosigkeit
-ihrer Natur in sanft und geräuschlos bewegte Grazie, wie hat sie ihre
-Schlangenhaftigkeit denn doch in die Wellenlinie berückender Anmut
-verwandelt, so oft nicht ihre lettene Ursprünglichkeit die Dämme der
-Sitte sprengt und in brutal-abscheulicher Gemeinheit loslegt!
-
-So wenig ich sonst geneigt bin, aus Shakespeares Dramen in sein
-Leben auszubrechen und aus diesen Gebilden Schlüsse auf des
-Dichters persönliche Existenz zu ziehen, so sehr bin ich hier davon
-durchdrungen, daß er diese wundervoll verführerische, gefährlich schöne
-Weibnatur im Leben kennen und als Mann verfluchen gelernt hat.
-
-Ich denke, wie es auch andern gegangen ist, wie es unausweichlich ist,
-an die schwarze Schönheit, die uns in mehreren Teilen, besonders am
-Schlusse seiner Sonettendichtung begegnet, an das Weib, in dem sich
-ihm zu unerhörter, unheimlicher Klage die Sinnenliebe, das Geschlecht,
-die Wollust verkörperte. Davon hören wir später im Zusammenhang, aber
-damit die Tragödie von Antonius und Cleopatra uns in unserer, uns in
-Shakespearischer Tiefe aufsucht, wird es uns gut tun, jetzt gleich
-das 129. Sonett zu hören; und da uns die Gedanken, das Gefühl und
-die Stimmung dieses Gedichts in all ihrer Schärfe treffen sollen,
-verbleibe der nie ganz mögliche Versuch einer dichterischen Wiedergabe
-der späteren Darstellung der Sonettendichtung in ihrem Zusammenhang;
-hier folge dieses Sonett in der unverwischten Klarheit, die es im
-Original in der rhythmisch gebannten Sprache mit der Schlagkraft der
-Reimverschränkung und der Hammerschläge des Schlusses, für uns aber
-nur in Prosa hat:
-
- Schändliche Vergeudung des Geistes ist Wollust in Ausübung; und
- bis dahin, vorher ist Wollust meineidig; mörderisch, blutig,
- schmachvoll, wild, unsäglich, roh, grausam, ohne Verlaß;
-
- Sobald genossen, stracks verachtet; sinnlos gejagt, und, sobald
- erlangt, sinnlos gehaßt; wie ein verschluckter Köder, der ausgelegt
- wurde, um den, der ihn zu sich nimmt, toll zu machen: toll in der
- Sucht und toll auch im Besitz; unsäglich, wenn man’s gehabt hat,
- hat und zu haben begehrt;
-
- Ein Segen, den man sucht; wahre Qual, die man gefunden; vorher:
- erhoffte Freude; nachher: ein Traum.
-
- Das weiß die Welt alles gar wohl; und doch weiß keiner den Himmel
- zu fliehen, der die Menschen in diese Hölle führt.
-
-So spricht, so klagt, so klagt an Shakespeare der Mann, der auch in
-dieser direkten Aussprache, wir hören’s noch, oft genug so tief und
-schön in der verstehenden, gestaltenden, umgestaltenden Phantasie des
-Dichters einkehrt, die Liebe, auch Liebe, himmlische Liebe heißt, daß
-er auch da die liebenswürdige Milde neben die grausame Aufdeckung
-der Wahrheit zu setzen vermag. Das aber ist die vollendetste Höhe
-des Dramatikers, daß er zugleich so erschreckend grausam und so
-anbetungswürdig milde und liebend in seiner Wahrheit ist. Keiner, kein
-einziger vor und neben und nach ihm hat ein solches Volumen der Seele
-wie er.
-
-Sehen wir nun von Anbeginn, wie’s die beiden, in deren Seelen der
-Zauberer diesmal hineingeschlüpft ist, mit einander treiben, wie es sie
-treibt.
-
-Sie noch mehr als er steht immer zitternd in Angst vor dem Alter;
-Cleopatra lebt in Reminiszenzen, in den großen Erinnerungen, wie
-hintereinander Julius Cäsar und Pompejus in ihren Banden waren.
-
-Und nun ist ihnen Antonius gefolgt, der Herr des dritten Teils der
-Welt, der ein so herrlicher Mann ist, daß er Kaiser der Welt sein
-sollte.
-
-Um es aber zu sein, müßte er fort von ihr, in Krieg und Gefahr, das
-wäre das wenigste, wiewohl sie, das Weibchen, so feige wie verwegen
-ist; aber sie braucht ihn bei sich; ihre Liebe, die immerwährendes
-allgemeines Verlangen ist, kann der Gegenwart des Geliebten nicht
-entraten; und überdies, ginge er zu seiner Aufgabe, so käme er zu ihrer
-größten Gefahr: zu Fulvia. Daß er ein Ehemann ist, auch innerlich, in
-einer edlen Region seines Wesens, an eine andre Frau, an eine kühlere
-Welt, an Italien gebunden, ist ewig ihr Stachel; sie plagt ihn mit
-Bosheit und Hohn, mit „Schelten, Lachen und Weinen“. Ist er traurig, so
-will sie tanzen; ist er vergnügt, so will sie, daß er sie krank glaubt.
-Will er reden, so läßt sie ihn nicht zu Wort kommen.
-
-Und wie er nun, gefaßt ruhig, zwischen ernstem Bedauern und großer
-Erleichterung, ihr mitteilt, Fulvia sei tot, da ist es für die Unselige
-wieder ein stechender Schmerz; denkt sie doch über alles andre hinweg
-vor allem an sich, ihr Geschick und ihre Liebe: so also geht es uns
-Frauen, wenn wir tot sind; so wird er einst sich über _ihren_ Tod
-mit einer andern trösten!
-
-Kaum aber ist er weg, so hat sie keinen andern Gedanken als ihn.
-
-So wie der Politiker Octavius täglich Boten allüberallhin entsendet, um
-mit allen Teilen des Reiches in Verbindung zu sein, so gehen täglich
-ihre Liebesboten zu Antonius und wieder zu ihr zurück.
-
-Seine rasche neue Ehe mit Octavia ist pure Politik: Mißtrauen und
-Kriegsbereitschaft sind bei Octavius aufs höchste gestiegen; der
-Stern Antons will sinken; es gibt für ihn nur dies eine Mittel, die
-Entscheidung hinauszuziehn.
-
-Sie aber gerät bei dieser Nachricht in fassungslose Wut. Da hat ihr
-Dichter wahrlich nichts schmeichlerisch bemäntelt; wie wir aber in
-einem Gemälde oder einer Skulptur die ganze Tiefe der Enthüllung mit
-einem Blick umfassen, so erfordert das Kunstwerk, das, wie Dichtung,
-Drama und Musik, in der Zeit verläuft, die Aufhebung der Zeit und das
-Erfassen von Anfang, Mitte und Ende in Einem durch das einzige Mittel,
-das sich bietet: durch unsre innige Vertrautheit mit dem Werk. Ich
-pflege, wenn ein junges Menschenkind zum ersten Mal die Bekanntschaft
-mit einer der Symphonien Beethovens gemacht hat, in ernsthaftem Scherz
-zu sagen: man dürfte sie gar nicht zum ersten Mal hören; und in der
-Tat ist das der Unterschied echter Zeitkunst von der Wirklichkeit:
-die Wirklichkeit bietet uns nie die Totalität, immer nur den linearen
-Verlauf in Hoffnung und Bangen; im Kunstwerk vermögen wir, immer noch
-in Harren und Furcht, geheimnisreich das runde Wissen ums Ganze zu
-haben und damit in aller Erdennot und Greuel himmlischen Trost. So
-dürfen, so sollen wir Cleopatras Liebreiz, ihre samtene Zartheit, ihr
-erhaben-liebliches Ende im Liebestod im Sinne haben, wenn wir dabei
-sind, wie sie besinnungslos den Boten schlägt und an den Haaren zerrt,
-der diese Nachricht bringt: Antonius wieder vermählt!
-
-Shakespeares gewaltige Kunst und Menschlichkeit, seine Menschen
-in all ihrer Mischung zu zeigen, tritt nirgends imponierender und
-rücksichtsloser, selbstgewisser heraus als in diesem Drama; das sind
-Gestalten, die jeder abstrakten Formel, jeder Typisierung spotten; sie
-sind nicht gut und nicht böse; und wollten wir diese Bezeichnungen auf
-sie anwenden, so müßten wir sagen, sie seien abwechselnd beides und
-manchmal sogar beides zugleich.
-
-Sein Antonius, wie er erst wieder römischen Boden unter den Füßen hat,
-ist guten Willens, Cleopatra zu vergessen; aber immerzu unterhält sie
-mit ihren Boten ihr frisches Gedächtnis, sie bringen ihm ihren Duft;
-und sein Verhältnis zu Octavius bleibt nicht gut, trotz der Schwester,
-die er geehelicht hat, und wird schlimmer; und wie er erst wieder
-griechische Luft atmet, weiß er, glaubt er: sein Heil ist -- politisch
-und menschlich -- im Osten.
-
-So flieht er zu Cleopatra und organisiert die Reiche des Ostens zum
-Krieg. Die Kunde wird Cäsar Octavius sofort übermittelt, und der
-Entscheidungskrieg ist da.
-
-Antonius, der Heraklide, ist, wo’s vor allem auf persönliche
-Tapferkeit ankommt, im Landkrieg, der erste Held seiner Zeit und fast
-unüberwindlich. Cleopatra aber mit ihrer schimmernden Flotte, mit ihrer
-verwegenen, verführerisch hemmungslosen Lust zum Gefährlichen und
-Verderblichen, lockt ihn auf ihr Element, das Wasser. Im Seekrieg aber
-entscheidet nicht die körperliche Tapferkeit, sondern die berechnende
-Klugheit und kühle Ruhe, deren Meister Octavius ist.
-
-So fängt’s bei Actium gleich unglücklich an und ist schnell zu Ende:
-Cleopatra, die aus Laune in den Krieg gegangen ist, das ängstlichste
-Menschenkind, flieht sofort, nachdem Octavius mit scharfem Ernst
-losgelegt hat, und alle Ägypterschiffe hinter ihrem Admiralschiff her;
-Antonius aber verliert den Kopf und folgt ihr mit seiner gesamten
-Flotte.
-
- Das größre Stück der Welt verloren!
- ... Länder und Reiche
- Sind weggeküßt.
-
-„Wie ein brünstiger Enterich“ ist Antonius hinter ihr her gesegelt:
-derlei Äußerungen fallen im Kreis der entsetzten, der wie mit kaltem
-Wasser begossenen Generale; sie sehen: ein Dämon waltet über Antonius,
-sein Schicksal erfüllt sich; einer nach dem andern rüsten sie sich, von
-ihm abzufallen.
-
-In Alexandria im Palast erst findet er sich wieder und schäumt vor
-Scham und Wut. Sie sieht und hört er erst gar nicht; dann fährt er
-ganz unbeherrscht, tobend gegen sie los. Sie aber ist rührend in ihrer
-weiblichen Schwachheit. In diesem Augenblick ganz ohne Sinn für Krieg
-und Politik, nicht einmal bewußt weiblicher Politik folgend und gerade
-dadurch ihn treffend, unköniglich, wie ein Zigeunermädchen beugt sie
-sich tief:
-
- O mein Herr,
- Mein Herr, vergib nur meinen zagen Segeln!
- Ich dacht’ nicht, daß du folgtest.
-
-Zart und geknickt kann sie nur immer um Verzeihung bitten, und wie die
-Tränen kommen, ist er besiegt. Es ist zu Ende, er weiß es; aber wer
-wird dran denken? Wein her, zum Mahl! zum Kuß! zur Liebe! zur Betäubung!
-
-Sie aber, der Lieben Leben und Leben Lieben ist, die feig wie eine
-Sklavin an Dasein und Wohlsein, an Lust und Üppigkeit hängt, der
-hintereinander die Beherrscher der Welt, Pompejus, Julius Cäsar,
-Antonius Geliebte waren, kommt jetzt in die größte Versuchung ihres
-Lebens.
-
-Schon liegt Octavius mit seinem Heer vor Alexandrien und sendet
-Botschaft: Antonius soll ausgeliefert werden; dann soll Cleopatra Gnade
-und Gunst finden.
-
-Seine Feldherrn haben Antonius fast alle verlassen; selbst der Treue,
-der ihn trotz allem Zynismus seines Gehabens fast anbetet, Enobarbus
-entschließt sich, von ihm zu gehen (um dann bald in Reue -- eine
-wundervolle Szene -- sich selbst zu töten): wo die Römer von ihrem
-Herrn und Meister abfallen, wo er verloren ist, was soll sie, die
-Ägypterin, sie, die Zigeunerin, Tod und Untergang vor Augen, tun?
-
-Wir wissen nur, daß sie den Boten des Octavius huldreich empfängt --
-ob sie weiter gegangen wäre? Wer weiß es? Der Dichter weiß nur, was er
-wissen will; die Unbestimmtheit und Frage ist sein Kunstmittel so gut
-wie die Sicherheit, je nach den Menschen und Lagen, die er behandelt;
-hier verrät er uns wieder einmal nichts; soviel er tut, seiner
-Cleopatra die schillernde Haut und das Innere zu beleuchten, sie ist
-ein Rätsel, soll es sein, und hier läßt er sie unaufgelöst.
-
-Antonius fährt dazwischen. Schon kommt wieder in der gefährlich labilen
-Seelenverfassung dieses Mannes an der Wende, der außen sich noch ans
-Leben klammert, während innen in ihm fortwährend etwas weiß, daß alles
-aus ist, schon kommt die grenzenlose Wut über ihn. Den Gesandten, der
-Cleopatras Hand hat küssen dürfen, läßt er peitschen.
-
-Nicht etwa, daß keiner sie berühren dürfte; kaum ein paar Stunden
-später, wo mit einem schönen Sieg Anmut und Würde wieder in ihm oben
-sind, verschafft er selbst seinem tapfern Feldherrn Scarus, der noch
-bei ihm ausharrt, diese höchste Gunst als Lohn: Cleopatra die Hand
-küssen zu dürfen. Aber hier ist es anders; er kommt von Octavius,
-der Hund! Und was brodelt da alles an Unausgesprochenem in dem
-Todbedrohten, der beerbt werden soll! In Haß und Härte bricht er nun
-gegen sie los. Kein Moderner hat unbarmherziger den Haß offenbart, in
-den die Wollust umschlagen kann; mit der blitzschnellen Raffiniertheit
-der Wut schreit er ihr das Schlimmste entgegen, was sich der Ärmsten
-sagen läßt:
-
- Ihr wart halb welk, als ich Euch kennen lernte!
-
-Und weiter:
-
- Als kaltgewordnen Bissen
- Fand ich Euch auf des toten Cäsars Teller;
- Ein Brocken ja von des Pompejus Tisch;
- Dazu noch was an schwülen Stunden, nur
- Vom Leumund unverzeichnet, Eure Wollust
- Sich auflas; denn gewiß, könnt Ihr auch ahnen,
- Was Keuschheit sollte sein, Ihr wißt nicht, was
- Sie ist.
-
-Kann wohl sein, daß sie, die von Moment zu Moment lebt, in jedem
-Augenblicke aber ganz, daß sie erst jetzt, wo seine zürnende Liebe
-so schamlos ausbricht und ihr solche Gewalt antut, daß sie, die
-Gepeitschte und Übergossene, erst durch diese Gewalttätigkeit wieder
-ins Gefühl ihrer unabänderlichen Schicksalsliebe zu ihm kommt.
-Jedenfalls beschwört sie nun ihre Liebe zu ihm mit so leidenschaftlich
-überzeugenden Worten, daß er wieder umschlägt: auf also in die
-Liebesnacht vor der letzten Schlacht!
-
-Das ist die nämliche Nacht, in der die Soldaten, die auf Posten stehn,
-eine seltsame unterirdische Musik vernehmen:
-
- ’s ist Herkules, der Gott, den er geliebt,
- Der jetzt Anton verläßt.
-
-Ein Mann war er, die verkörperte Männlichkeit, und zu Manneswerk
-bestimmt; und als Weiberknecht geht er zugrunde. Im unterirdischen
-Trauermarsch verläßt ihn sein guter Geist, der Gott der Männlichkeit.
-
-Wohl stammt dieser Zug, den Shakespeare hier für die Untergangsstimmung
-bringt, wie so manche Einzelzüge, von Plutarch: hier aber erst gewinnen
-sie Leben und Sinn und werden mehr als Anekdotenkram, wo sie eingefügt
-sind in dieses Gemälde der west-östlichen Leidenschaft im Rahmen großer
-geschichtlicher Katastrophe.
-
-An dem Morgen also, der dieser Nacht folgt, darf Antonius, der kämpft
-wie ein Löwe, noch einmal sich Sieger nennen; aber das Treffen ist von
-keiner Entscheidung und kann nichts mehr abwenden. Sein Stern sinkt;
-der Glaube an ihn verliert sich aus der Welt; am Tag darauf entspinnt
-sich wieder eine Schlacht zur See, und seine ganze Flotte übergibt sich
-dem Feind.
-
-Wer ist schuld? Auch hier will es der Dichter nicht wissen; es ist, wie
-wenn ein Elementares sich dem Antonius entzöge. Wir wissen nur, daß
-Antonius sofort wieder Cleopatra des Verrats bezichtigt.
-
-An Treue der Liebenden glaubt er nicht und kann nicht dran glauben;
-so ist die Welt nicht mehr, so sind seine Erfahrungen nicht, und so
-ist vor allem seine Natur und die Lebensart nicht, die er wählte. Zeit
-seines Lebens war er, wenn es die Selbstbehauptung gegen die Welt
-und die Verfolgung seiner Ziele galt, ein Komödiant; sein schnell
-teilnehmendes Gefühl, seine menschliche Wärme, seine kindliche
-Hingabe, die alle als echte Gabe natürlich in ihm lebten, hat er in den
-Dienst politischer Zwecke gestellt; aus seiner Stärke wie aus seinen
-Schwächen hat er Mittel gemacht; wie Enobarbus, der ihn am besten
-kennt, einmal daran erinnert wird, wie Antonius bei Cäsars und auch
-wieder bei Brutus’ Tod Tränen vergossen habe, da meint der trocken:
-
- Jawohl, in jenem Jahr plagt’ ihn der Schnupfen;
- Was willig er zerstören half, darüber
- Vergoß er Tränen.
-
-Und vor allem, wie könnte er, der seinen Frauen hintereinander die
-Treue gebrochen hat, an treue Liebe zu ihm glauben?
-
-An Treue zu glauben war er gewohnt; an seinen Kriegskameraden, an
-seinen Soldaten hat er sie gekannt; an Freundschaft und bewundernde
-Ergebenheit hat er geglaubt; aber selbst die verlassen ihn jetzt eben.
-
-An Liebe glaubt er und hat sie genossen, hat sich leidenschaftlich in
-sie hineingewühlt und sich in sie begraben und um ihretwillen Welt
-und Treue und Ehre vergessen und verraten. So ist ihm Cleopatra jetzt
-wieder die Schlange, das falsche ägyptische Herz, das Zigeunerweib, --
-jetzt hat sie ihm den Rest gegeben, hat ihn dem „jungen Römerknaben“
-verkauft, die Hexe!
-
-Vor seiner Wut flüchtet sie in ihr Grabmonument wie in eine Festung und
-läßt ihm, in Angst und damit seine Stimmung umschlage -- sie kennt ihn
-wie sich selbst --, sagen, sie sei gestorben.
-
-Das aber ist sein Ende. Seine politische Rolle ist ausgespielt; es ist
-nichts mehr zu hoffen, der kühle Knabe hat gesiegt. Und nun ist ihm,
-wähnt er, Cleopatra im Tod vorangegangen, ist um seinetwillen, ist um
-ihn gestorben! Er hat genug; die römische Tradition lebt noch in ihm:
-ein Freigelassener soll ihm zum Sterben verhelfen. Er selbst glaubt’s
-nicht zu vermögen. Der aber -- Eros heißt er schon bei Plutarch --
-treu bis zum Tod, stürzt sich lieber selber ins Schwert.
-
-Da nimmt sich Anton ein Beispiel; aber er ist doch kein ganzer Römer
-mehr, es gelingt ihm nur, sich schwer zu verwunden; und da erfährt
-er, daß es eine falsche Botschaft gewesen, was ihn in die letzte
-Verzweiflung brachte; daß Cleopatra noch lebt! So läßt er sich zu ihr
-tragen.
-
-Sie aber inzwischen: in welcher Not der Reue und Angst ist sie! Oh, was
-hat sie getan! Schon ehe er gebracht wird, weiß sie: diesmal hat sie in
-ihrer Angst die Saite zu stark gespannt. Er hält sie für tot! für so,
-um seinet-, um seines Zorns willen den Liebestod gestorben; das wird
-er, sowieso schon zum Äußersten gebracht, nicht überleben!
-
-Rührend ist ihr Abschied; er stirbt im Kuß, wahrlich, kein Romeo! aber
-ein Mensch, ein Mann, ein Liebender trotz allem, ein Einziger -- Marcus
-Antonius!
-
-Sie aber fühlt sich neben diesem Leichnam, wie sie aus der Ohnmacht
-erwacht, die sie sofort umfangen hat, wie Asche: es rieselt wie Alter
-an ihr herab; der Königintraum, der Kaisertraum ist ausgeträumt; sie
-ist nichts Besseres als ein armes, schwaches Weib, eine Magd, die
-zurückgelassen ist: ihr Herr ist tot. Das Öl ist ausgebrannt.
-
-Eine bessere Erkenntnis, als sie je gehabt, steigt jetzt in ihr auf,
-eine ganz nächtige, die Erkenntnis all derer, die der Macht und dem
-Genuß nachgetrachtet haben, deren innere Unbefriedigung, Ungenügsamkeit
-und Sucht an der Welt und an sich selber gefrevelt hat, die Erkenntnis,
-zu der auch jener so ganz andere, darin aber zum Kreis der Holden
-gehörige, der unholde Mann Macbeth gekommen ist: der Nihilismus; das
-Leben, _das_ Leben ist -- nichts.
-
- Aus meinem öden Leid beginnt zu sprießen
- Ein beßres Leben. Cäsar sein, wie nichtig!
- Fortuna ist er nicht, nur Sklav’ Fortunens,
- Ein Diener ihres Willens; aber groß ist’s,
- _Die_ Tat zu tun, die alles Tun beschließt,
- Den Zufall bändigt und den Wechsel sperrt,
- Sich schlafen legt und nie den Kot mehr kostet,
- Der Bettler nährt und Cäsar.
-
-Und doch -- wahrlich, sie ist keine Julia! und auch nicht Portia, die
-Römerin -- die Wetterwendische, das Kind des Augenblicks, das von ihrem
-Zentralen her schillernde Oberfläche ist, wie der Opal, dessen äußerer
-Schlangenhautglanz seine Tiefe ist, -- wer weiß, ob sie nicht doch
-noch weiterleben könnte? Aber sie vernimmt, daß der kalte Octavius --
-der erste Imperator und Cäsar, über den sie keine Macht hat -- nichts
-andres sinnt, als sie gefangen im Triumph nach Rom zu führen -- und oh,
-das wäre das Schrecklichste für sie!
-
-Die alberne, eiskalte Octavia, die angetraute Gattin ihres geliebten
-Toten, ihres Gemahls, soll höhnend auf sie blicken? Der jauchzende
-Pöbel in Rom soll ihr entgegenschreien? Auf der Vorstadtbühne soll
-irgend ein junger Schauspielerlaffe sie als Hure vom Nil darstellen?
-Nein. Nun ist’s aus; sie ist entschlossen. Unzählige Male hat sie
-ihrer Lebtag mit dem freigewählten Tod gespielt; das hat zu ihrem
-hingegebenen, krampfhaften Leben gehört. Jetzt wird’s Ernst. Längst
-kennt sie die sanfteste Todesart: in ihr schönstes Kleid läßt sie
-sich schmücken; sie gedenkt des Tages, wo sie Marc Anton auf dem Fluß
-strahlend als junge Liebesgöttin entgegenfuhr, -- und dann, nun, wo
-sie tapfer frei in den Tod geht, ist sie nicht mehr die feige Sklavin,
-die in scheu geduckter Liebe zu ihrem Herrn, dem Gatten einer andern,
-emporsieht --
-
- Ich komm’, _Gemahl_:
- Jetzt gibt mein Mut mir Recht zu diesem Namen!
- Ich bin ganz Feuer und Luft; was sonst in mir,
- Geb’ ich dem niedern Leben.
-
-„Was sonst in mir“, im Original aber: ~my other elements~: das
-Element des Wassers, dem die tränenreiche Nixe vom Nil angehört hatte,
-das Element des Erdenkots, dem sie bis dahin nie hatte entrinnen
-können, die sollen nun mit ihrem Leichnam, der zurückbleibt, zu den
-Stoffen gehn, deren Teil sie von je gewesen waren; Cleopatra steigt in
-ihrem edlen leichten Teil, als Feuer und Luft, in ihre Ewigkeit.
-
-Noch einmal haben wir hier der Sonettendichtung zu gedenken, wo der
-Dichter klagt, daß wir Menschenkinder nicht ganz und gar Geist sind,
-daß wir in die „dumpfe Substanz des Fleisches“ gestopft sind. Da wird
-auch von dem bittern Naß des Wassers und von der Erde gesprochen, von
-diesem Elementaren, das uns an die Natur klebt; unser Leib und unsre
-Tränen, das sind Erde und Wasser in uns. Die beiden andern Elemente
-aber, die Luft ist Geist in uns, und das Feuer ist ~desire~, ist der
-Wille des Excelsior und himmlische Sehnsucht.
-
-So darf Shakespeares Cleopatra sich zu ihrer Apotheose rüsten. Von
-einer Schlange, die ein Bäuerlein bringt, läßt sie sich töten.
-
- Stille, still!
- Siehst du mein Kindlein nicht an meiner Brust
- In Schlaf die Amme saugen?
-
-Sanft und süß, unmerklich sacht holt die Schlange der Schlange
-das Leben aus der Brust und träufelt den Tod hinein; im reinsten
-aller Geschlechtsgefühle des Weibes, in unwirklich-phantastischer
-Mütterlichkeit verscheidet die liebliche Buhlerin.
-
-Aber noch im Sterben bäumt sich die alte Isis in ihr auf, die alte Eva:
-sie freut sich noch, durch ihren Tod den klugen dummen Cäsar, der sie
-hatte fangen wollen, um seine Beute zu prellen!
-
-Treue findet auch sie bis in den Tod: ihre Frauen, die ihr Leben
-geteilt haben und ihr ganz ähnlich geworden sind, sterben mit ihr:
-die eine setzt sich die Schlange an wie die Herrin; die andre war ihr
-einen Augenblick im Tod vorangegangen. Enobarbus’ scherzhaftes Wort vom
-schnellen Tod dieser Kammerfrauen ist Ernst geworden: ohne daß man
-eine Ursache erkannte, fiel sie tot hin, als Cleopatra, die Schlange
-schon am Busen, sie zum Abschied küßte, auch sie ein Weib, für das Tod
-und Liebesakt in seltsamem Rapport stehen.
-
-So endet dieses Drama, eine Liebestragödie wie Romeo und Julia,
-eine Römertragödie wie Julius Cäsar, ein Pamphlet auch gegen die
-Geschlechtsliebe wie Troilus und Cressida. Dies alles ist es und ist
-es nicht; daß es aber -- und ähnliches war für das sehr ernste Spiel
-von den Helden des Trojanischen Kriegs zu sagen -- nicht eine Komödie,
-wozu sein scharfes Auge den Dichter bei diesem Stoff so leicht hätte
-verführen können, sondern trotz allem eine innig liebevolle Tragödie
-wurde, das ist das beste. Es ist die besondere Tragödie dieses
-besonderen reifen, überreifen, zeitlebens unreifen, zwischen Jugend und
-Alter stehenden Menschenpaares Antonius und Cleopatra in dem großen
-geschichtlichen Moment, wo die Antike reif, überreif, unreif zwischen
-Jugend und Alter, vor dem Ende steht.
-
-Liebe und Politik gehören in diesem Drama so zusammen, wie in der
-wahren Geschichte der Völker privates und öffentliches Leben nicht zu
-trennen sind. Die prachtvollen politischen Szenen des Stückes stehen
-darum mit seinem Sinn in so naher Berührung wie die Liebesszenen: das
-Staatsgespräch, wie Antonius und Octavius sich zuerst wieder begegnen,
-das in seiner kühlen Überlegtheit seinesgleichen nur in den politischen
-Szenen des Egmont hat; die Bankettszene auf dem Schiff des Pompejus, wo
-mitten in römisch-traditionelle, aber nicht mehr durchweg festgehaltene
-Würde süditalienische Seeräubertücke und griechisch-orientalischer
-Tanztaumel kommt, wo Antonius und Octavius einander scharf
-gegenüberstehen, der eine mit seinem lässig-nachgebenden Trinkspruch
-
- Schickt euch in die Zeit!
-
-der andre mit dem kühl gebietenden
-
- Sei Herr der Zeit!
-
-Da haben wir ein Drama, das fast unergründlich in die Tiefe der Seelen,
-fast unermeßlich und farbenschimmernd in die Breite des geschichtlichen
-Raums, in die Weite der Zeiten geht; ein Drama nur für reife Menschen
--- das gilt für den ganzen Shakespeare, aber für dies Stück besonders
---, das man lieber gewinnt und mehr bestaunt, je öfter man es liest,
-das aber noch niemand in seiner umwerfenden und aufrichtenden,
-schüttelnden und streckenden Größe ganz kennt, weil es die Gestalt,
-nach der es verlangt, die Gestalt auf der Bühne noch nicht gefunden hat.
-
-Diese Tragödie braucht für wichtige Szenen nach Shakespeares Anordnung,
-ich meine, auch zur Einleitung und mancher Überleitung, Musik feiner
-und starker Art, wie sie der Egmont gefunden hat, und braucht eine
-Stimmung und ein Tempo, eine Zugleichheit von schneller Folge, saftiger
-Breite und streng seelenvoller Tiefe, wie wenn ein Rubens und Rembrandt
-als einziger Meister ans Werk ginge.
-
-
-
-
-Timon
-
-
-Der Punkt ist erreicht, wo es kaum mehr möglich ist, von Shakespeares
-Schaffen zu reden, ohne auf sein Leben zurückzugreifen. Nicht zwar
-auf das Leben, von dem uns Gewährsmänner oder Dokumente berichten;
-kurz gesagt, auf den Menschen vielmehr, wie ich genötigt bin, ihn mir
-vorzustellen. Denen, die meiner Auffassung widerstreben, räume ich gern
-das Recht ein, mir einzuwenden, ich stütze eine Hypothese mit einer
-Hypothese. Ich, indem ich zugebe, daß hier die Phantasie am Werke ist,
-ohne die ich nicht auskomme, drücke es lieber so aus, daß ich sage:
-den Menschen Shakespeare und das Werk seiner letzten Zeit sehe ich
-in einem Zusammenhang, in dem allein ich dieses Werk verstehen kann
-und gegen den mir weder psychologische Erwägungen noch tatsächliche
-Überlieferungen sprechen, von welch letztern im Gegenteil einige meine
-Deutung unterstützen.
-
-Ich brauche einen Rückblick. Das scheint das Besondere der ganz
-großen Dramen Shakespeares zu sein: Menschen und Handlung werden so
-mit einander zur Entwicklung gebracht, daß die Menschen von innen her
-sichtbar werden, daß sie einander gegenseitig erhellen, wobei zu ihrer
-äußern Gegensätzlichkeit und Hilfeleistung noch innerer Kontrast und
-Verwandtschaft treten, und daß sich uns so das innerste Leben, die
-tiefste Wahrheit, das verborgenste Geheimnis dieser Naturen offenbart.
-
-Ob diese Dramen mit ihren äußeren Geschehnissen im Altertum, in
-sagenhafter Zeit, in geschichtlich christlichen Jahrhunderten spielen,
-wird für diesen ihren seelischen Gehalt von minderer Bedeutung; die
-Gestalten scheinen den Bann von Zeiten und Räumen, die strengen
-Grenzen des Vorgangs, in den sie eingesperrt sind, zu sprengen und
-untereinander einen Zyklus, einen Reigen und Verein ohnegleichen zu
-bilden; nicht nur Shylock und Porzia, Prinz Heinz und Percy, auch
-Richard III. und Jago, der Bastard Faulconbridge und der Bastard
-Edmund, Julia und Desdemona, Brutus und Hektor, Hamlet und Falstaff
-stehen in geheimem Gespräch, in Dialektik zu einander. Es geht um
-Menschen und ihre Schicksale; es geht um den Menschen in gröbsten
-Gegensätzen und feinsten Tönungen; es geht um Kraft, die als Hoheit
-und als Gemeinheit erscheint; um große Leidenschaft, Wildheit,
-Tapferkeit, Kühnheit; um Bekenntnis zu sich und um Hader mit sich; um
-geniales oder dämonisches Denken und Wollen; um holde Innigkeit, um
-heroische Hingabe an Freiheit oder Gerechtigkeit oder Liebe; und um
-wie viele Erscheinungsformen für diese Allgemeinheiten! um wie viel
-Zwischenstufen und Entgegensetzungen!
-
-Es sind keine Charaktermasken, keine Typen; besondere Vertreter
-eines Typus, eines Schicksals sind sie; es ist Unnennbarkeit, ist
-Abgrund, ist Unendlichkeit in ihnen wie im Leben; Shakespeares
-Kraft des Gestaltens ist seiner Kraft des Schauens nichts schuldig
-geblieben; dem Bild gegenüber, das aus ihren Reden und Handlungen in
-uns entsteht, haben diese Reden selbst, die der Dichter geformt, und
-diese Handlungen, die der Dramatiker ins Werk gesetzt hat, fast nur
-die Bedeutung technischer Behelfe, die uns zum Ungesprochenen und
-Unsichtbaren leiten.
-
-Wie also steht es mit dem, was wir den Charakter dieser Gestalten
-nennen? Ist es so, daß sie in ihrem Wesen unverändert die bleiben, die
-sie sind, oder wachsen sie, verändern sie sich mit ihrem Schicksal?
-Beides; sie stehen unentrinnbar, wie im Ewigen, in ihrem Wesen; dieses
-ihr Sein aber offenbart sich uns in Bewegung; im Werden, im Wachstum,
-in der Entfaltung. Was wir an ihnen Charakter, Natur, Wesen nennen,
-kommt aus den tiefsten Gründen ihrer innern Notwendigkeit, ihrer
-Möglichkeit, ihrer Anlage herauf, so aber, wie es gerufen wird von
-ihren Begegnungen mit dem Schicksal. Was da also in die Erscheinung
-tritt, ist nicht das Wesen im Abgrund, nicht die unsägliche, nur im
-Unendlichen, im Grenzenlosen völlig für die Erscheinung ausgeschöpfte
-Ewigkeitstotalität, wie sie der Dichter in der ungeformten Konzeption,
-in Stille oder Aufruhr, im Moment oder im zuckenden Ringen geschaut
-hat; es sind die Teile, die Strahlungen des Wesens, die von außen, von
-Erlebnissen gerufen, der Umgebung und dem Träger dieses Wesens selbst
-abgerissen bekannt werden.
-
-So ein Mensch ist immer er selbst, und ist eben um dieses Selbst
-willen, eben darum, weil so ein Selbst für die Erfahrung der andern
-wie für das eigene Bewußtsein seines Trägers unergründlich bleibt,
-nicht immer derselbe. Lear, als er herrisch und launisch zum ersten Mal
-vor uns trat, war er selbst, so wie er sich auf Grund der Bedingungen
-seines bisherigen Lebens den andern und sich geben konnte; und am Ende
-ist er dieser nämliche Mensch, wie er sich in furchtbaren Erlebnissen,
-die wir mitgelitten haben, tiefer heraufgeholt, reiner offenbart hat:
-nicht bloß für uns Zuschauer, auch für seine Nächsten und vor allem
-für sich selber hat er sich durch seine ungemeinen Schicksale noch in
-seinen hohen Jahren entwickelt; Dinge sind durch diese gewaltsamen
-Erschütterungen und Eingriffe herausgekommen, von denen niemand geahnt
-hatte, daß sie in ihm sind. Es ist also wahr und Shakespeare bestätigt
-es, daß man einen Charakter nicht lernen und erwerben, daß man seine
-Natur nicht verändern kann; es ist aber ebenso wahr und ebenso von
-Shakespeare gezeigt, daß der Quell, der als unser Leben zu Tage tritt,
-im Unterirdischen unerschöpflich ist und daß dieses Leben seine Grenze
-nur findet in Zahl und Art der Schicksale, die uns begegnen, und in der
-Zahl unserer Jahre.
-
-Was also aus Lear, aus Herrn Angelo und so manchem andern, was
-pathologisch aus Ophelia im Schluß hervorbricht, das war alles von
-Anfang an da, aber verborgen, latent, potentiell, als Möglichkeit,
-als Bereitschaft, als Spannung, und war der Erfahrung der andern wie
-dem eignen Selbstbewußtsein unzugänglich, bis es allmählich oder
-überraschend gerufen wurde.
-
-So ist der Mensch, wie ihn Shakespeare in diesen Meisterwerken
-darstellt, nie eine starre Charaktermaske, aber immer fest von den
-Schranken seiner besonderen Bedingungen umgrenzt; seine Beharrung wie
-seine Wandlungen sind glaubhaft; immer haben wir in diesen Stücken das
-Gefühl der Sicherheit von dem Eindruck her, daß Charakter und Schicksal
-einander gegenseitig bedingen, daß der Mensch nicht um der dramatischen
-Zwecke des Dichters willen plötzlich aus seinem Wesen gerückt wird.
-
-Diese Enthüllung und Offenbarung des Innern für uns Zuschauer,
-diese Entwicklung und Herausgestaltung für die Personen selbst und
-ihre Umgebung ist uns an Shakespeares großen Dramen dieser Art der
-wesentliche Zug. Daß diese Dichtungen Dramen, Fortgang, Handlung,
-Gegenspiel, gegenseitige Bedingnis sind, liegt tief schon in dem
-Widerstreit begründet, in dem Schicksal und Charakter einander vorwärts
-bringen und die Wage halten: die Handlung ergibt sich aus den Naturen
-und aus ihrem Gegensatz nicht nur zu einander, sondern auch zu den
-Aufgaben, vor die jede einzelne von jedem Stadium ihres Geschicks sich
-gestellt sieht; und die Naturen werden von den Vorgängen zu ihren
-Äußerungen und Wandlungen gereizt. Dieses Wachstum, diese Variabilität
-der Naturen im Zusammenhang mit der äußern Handlung ist es, was
-Shakespeares Drama nebst dem, daß es uns ein wundervolles Abenteuer
-zeigt, daß es ein entzückendes oder ergreifendes Spiel ist, zu noch
-mehr macht: zu einer Sichtbarmachung des innersten, des wahrsten Lebens
-bis in den Schlund hinein, wo im Ungrund das Nichtmehrsichtbare wogt.
-Wie Stifters Jüngling nach der Aufführung des König Lear empfindet:
-
- Das hatte ich nicht geahnt, von einem Schauspiel war schon längst
- keine Rede mehr, das war die wirklichste Wirklichkeit vor mir,
-
-so ist das, was diese Erschütterung erzeugte, ein wesentliches Element
-in all diesen großen Menschenenthüllungen Shakespeares. In der äußern
-Wirklichkeit mancher dieser Dramen ist manches uns fremd geworden,
-fast so fremd manchmal wie in den Tragödien und Komödien der Antike;
-aber die Offenbarung des inneren Menschentums bleibt ein immer frisch
-ergreifendes, durchschüttelndes, reinigendes und vorwärts, aufwärts
-drängendes Wunder der Lebendigkeit und trotzt der Zeit. ~Tua res
-agitur~, deine Sache wird da verhandelt, das ist die Grund- und
-Zielempfindung, von der aus diese Dichtungen zu unserm Denken und
-Wollen gehn und imstande sind, unser Leben zu wandeln.
-
-Dieses aber nun, was Shakespeares Neues, Gewaltiges, Eigenes, Größtes
-war, womit er nicht nur die Genialischen unter seinen Zeitgenossen,
-sondern alles dramatische Genie, das vor ihm und nach ihm war,
-übertraf, diese Verbindung von Charakter und Schicksal, von Gestalt
-und Handlung, diese Offenbarung des geheimsten Lebens, diese Beziehung
-zur Wirklichkeit des Menschenlebens, der Natur, der Weltordnung, all
-das, was ihn zu mehr macht als einem bloßen Dichter, was ihn zur
-Philosophie, zur Religion, zur Kritik und Umgestaltung, zu Erneuerung
-und Wiedergeburt in Beziehung setzt, -- dieses sein Größtes ist
-offenbar auch sein Schwerstes gewesen.
-
-Die Produktivität geht immer irgendwie über die Kraft; sie ist immer
-mit Angst, mit Abwehr, mit der Unlust, die auch mit der Wollust gepaart
-ist, mit Müssen und Sträuben verbunden; je größer der Genius, um so
-mehr fürchtet sein Leibliches, der Komplex seiner normalen Funktionen,
-von dieser dämonischen Übergewalt zerbrochen zu werden. Kein Genie,
-das über die Jugendjahre hinaus in die Meisterschaft gerät, das sich
-nicht, damit der Normale in ihm das Zusammenhausen mit dem Abnormen
-erträgt, irgend eine besondere Lebensdiät zulegen müßte; was gibt es
-da für mannigfache Stufen! Man sollte einmal den Versuch machen, die
-Geschichte der Kunst nicht in zeitliche Perioden, sondern nach dieser
-Modalität, nach diesem Lebensstil einzuteilen. Welch ein Unterschied
-zum Beispiel zwischen einem Rückert, der Anlage nach einem der größten
-Geister, der seinen Geist nur so ertrug, daß er das Genie zum Talent
-hinabebnete und das Leben der Produktion in den stillen Bahnen des
-privaten Lebens weise verlaufen ließ, und einem Beethoven, der das
-Privatleben aller Würde entsinken ließ, nur um dem Schaffen keine
-Fesseln anzulegen. Nur von hier aus wird das Rätsel der Deutschen,
-Goethe, der Mensch nicht nur und der Geheimerat, sondern der Dichter
-einmal seine Lösung finden: seine Schöpfungen und das Verhältnis
-seiner Mannes- und Altersproduktion zu den Jugendverheißungen versteht
-man, wenn man das Kompromiß versteht, das der Genius und der Normale
-in Krisen und in dem unaufhörlichen Ausgleich, der Leben heißt, mit
-einander schließen müssen, um es mit einander auszuhalten. Zweie sind
-in dem produktiven Menschen stets beisammen, die sich einander bequemen
-müssen; es ist ein immerwährendes Ringen, Ausweichen, Pausieren; und
-nicht geringeren Grades ist diese Dualität, als wir sie in dem Bilde
-des Langschläfers und Morgenfaulen haben, der nie aufstehen würde, wenn
-der andre, der mit ihm unter einer Decke und einer Haut liegt, ihm
-nicht jeden Morgen die Bettdecke wegzöge.
-
-Jedes Genie nun, wir können es uns nicht dringend genug vorstellen,
-ist ein Kind seiner Zeit; alles Schöpferische geht in dieser Welt aus
-dem Geschaffenen hervor. Immer wieder muß sich der Produktive dem
-Üblichen, dem er entstammt, das auch von ihm erwartet und verlangt
-wird, entringen; er will immer wieder zurücksinken, wie Goethe in den
-Großkophta, den Bürgergeneral, die Singspiele und so vieles der Art
-sank; er steht in einem Kampf, der oft entsetzlich, dämonisch, der
-manchmal ermattend und manchmal beflügelnd ist.
-
-Jeder Besondere kennt den Wunsch und die Notwendigkeit, zwischenhinein
-gewöhnlich zu sein, gleichviel, wie viele seiner Gaben er in
-die Gewöhnlichkeit mitnimmt; und so verstehe ich es als völlige
-Notwendigkeit, daß auch Shakespeare hie und da und in besonderen Krisen
-der Umgebung und sich selbst hat nachgeben müssen.
-
-Wir haben sein Neues, Besonderes, Großes gesehen; auch läßt sich
-zeigen, wie es aus der Art und Mode seiner Zeit und gegen sie entstand.
-Die Art der Zeit war Leidenschaftlichkeit, Üppigkeit, Bilder- und
-Witzesfülle der Rede und Charakteristik großen Zuges im Sinne einer
-rationalen, allgemeine Typen setzenden Psychologie; prachtvolle Muster
-dieser Dichtung seiner Zeit sind die beiden glänzenden Gedichte seiner
-Jugend, Venus und Adonis und Der Raub der Lucrezia, um derentwillen
-er sofort ein gefeierter Dichter wurde. Glänzendes Talent, in der Art
-der größten Dramatiker seiner Zeit zu dichten, zeigt sich im Titus
-Andronikus; und wie wundersam und abgestuft die Sprach- und Metapher-
-und Witzkunst, die Sprache der Empfindung und des Geistes in der
-Verlornen Liebesmüh! Wie er dann aber mit seinem Eigenen, Wesentlichen
-einsetzt, in der Gestalt des Proteus in den Zwei Edelleuten von Verona,
-da ist er ein Anfänger, der den Übergang von der starren Charaktermaske
-zur Beweglichkeit des lebendigen Menschen noch nicht zu finden weiß und
-aus dem Ernst ins Spiel zurückbiegt, um nur einen Abschluß anzuflicken.
-
-Zu solchen Vor- und Entwicklungsstufen ist Shakespeare aber während
-seiner ganzen Produktion hie und da zurückgekehrt, wenn ihn Bedürfnis
-oder Lust überkam, sich’s zwischenhinein leichter zu machen. Da hat
-er derbe, rasch gezimmerte Possen geliefert wie Der Widerspenstigen
-Zähmung und dergleichen; oder leichte Spiele; in einer ernsteren
-Komposition hat er wohl die Charaktere entweder nicht zur Entwicklung
-gebracht oder hat sie umgekehrt plötzlich, gegen alle Glaubhaftigkeit,
-umfallen lassen; oder er hat nicht seine letzte Kraft aufgeboten und
-hat Großes in der skizzenhaften Anlage stehen lassen. Ganz besonders
-lag ihm schon immer nahe, sein Größtes und Schwerstes, das, womit
-er maßlos fremd in seiner Zeit stand, die Entwicklung menschlicher
-Seelen, wie er sie in immer tieferen Abgrund hinein verfolgte, fallen
-zu lassen und dafür zweierlei zu bringen: einmal in dramatisierten
-Novellen, Romanen, Märchen das buntbewegte romantische Abenteuer, nach
-dem die Zeit in allen Völkern und in allen Schichten der Bevölkerung
-viel hungriger begierig war als nach der Offenbarung des menschlichen
-Innern; und dann die leidenschaftliche, grimmige, weise, satirische
-oder polemische Rede. Sonst, wenn er in seiner ganzen Gewalt stand
-und das Äußerste von seiner Produktion verlangte, ließ er diese Rede
-sublim aus dem tief Menschlichen heraufquellen; war er aber genötigt
-oder gewillt, es sich leichter zu machen, so gelang es einem solchen
-Virtuosen auch, sie unmittelbar, unterhaltend und geißelnd, zum
-Mitgefühl wie zum Nachdenken stimmend, aus den äußern Vorgängen allein
-abzuleiten.
-
-In seiner letzten Arbeitszeit nun tritt sein Eigenstes, die Verbindung
-von Handlung und Seelenenthüllung, ganz besonders zurück; keineswegs
-verschwindet es ganz und gar; aber irgendwie -- so deute ich dieses
-sehr Schwere und will jetzt nicht mehr davon sagen; wie ich es
-möglicherweise meine, werde ich erst in den letzten dieser Vorträge
-anzudeuten wagen -- irgendwie setzt die höchste und gefährlichste, die
-verzehrendste Kraft seiner Produktivität aus. Denken wir einstweilen
-nur an das, was hier von dem Dualismus und der Diät und den Krisen der
-produktiven Menschen gesagt worden ist; denken wir daran, wie Goethe
-eine gewisse zauberhafte, kraftvolle, über Schönheit, Weisheit und
-Literatur hinausbrechende zeugungsmächtige Energie der Gestaltung,
-wie sie seine Jugendproduktion hatte, früh verloren und nie wieder
-erhalten, wie er dafür freilich anderes bekommen und erarbeitet hat,
-so werden wir uns nicht wundern, daß Shakespeare zum Ende hin, wiewohl
-er an Jahren nicht alt wurde, seine Stimmung und Weisheit, das Höchste
-seines Ergebnisses im Drama bringen und leuchten lassen wollte, ohne
-es erst so tief in Menschenseelen hineinzustecken, daß es den langen
-schweren Weg der Charaktertragödie gehn mußte, um in Fülle des Lebens
-wieder herauszubrechen.
-
-Von den Stücken, die wir noch vor uns haben, unternimmt Shakespeare nur
-noch in einem die Fahrt in den tiefen Schacht der Seelen hinein: in
-Coriolan; in den andern geht er in dem besondern Stil seiner letzten
-Periode, nicht zwar auf einem, sondern auf verschiedenen Pfaden,
-immer den Weg der Verbindung von romantischem Spiel und Weisheit, den
-er vollendet erstmals im Sommernachtstraum gegangen war. In dieser
-letzten Periode aber ist er auf der Suche nach einem neuen Stil; und
-über Zymbelin und Wintermärchen hinweg kommt er zu einer wunderschönen
-einsamen Höhe im Sturm.
-
-Ehe er indessen so weit war, in dieser Gattung, die die drei Elemente
-seines Dramas: Handlung, Seelenenthüllung und Sprache, in neuem
-Mischungsverhältnis brachte, ganz oben zu sein, erlaubte er sich,
-tastend oder schnell hinwerfend, zwei leichter gezimmerte Stücke, die
-sich sehr merkwürdig von all seinen andern unterscheiden: Perikles,
-Fürst von Tyrus und Timon von Athen. Auf ein drittes Gebilde ebenso
-und, meine ich, im selben Zusammenhang problematischer Art, König
-Heinrich VIII., sei hier nur hingewiesen.
-
-Perikles soll uns dazu dienen, das Rätsel Timon, soweit es möglich ist,
-zu erhellen; die Bedenklichkeit, ich muß beinahe selbst sagen, die
-Komik meines Versuchs liegt nur darin, daß die Entstehungsgeschichte
-des Perikles auch nicht gerade feststeht. Ziemlich einhellig zwar
-sind die Gelehrten jetzt darin, daß sie Shakespeare die Autorschaft
-nicht abstreiten; und auch darüber ist man im großen Ganzen einig, daß
-das Stück nicht seiner Frühzeit, sondern dieser recht späten Periode
-zugerechnet wird. Ich wüßte auch gar nicht, mit welchem Recht man es
-der Jugenddichtung zurechnen könnte; es sei denn, daß der Grundsatz
-gelte, was einem nicht behagt, sei entweder nicht von Shakespeare oder
-stamme aus seiner Jugend.
-
-Perikles, Fürst von Tyrus ist 1609 in einer Quartausgabe erschienen:
-„Das jüngste, viel bewunderte Schauspiel von William Shakespeare“. Ein
-Zeichen, daß das Stück beim Publikum großen Erfolg hatte, ist denn
-auch, daß rasch hintereinander vier solche Quartausgaben erschienen.
-Die große Nachlaßausgabe, die erste Folio aber brachte das Stück nicht;
-die zweite von 1632 auch nicht, aber die war auch nur ein Nachdruck
-der ersten; die dritte von 1664 nahm das Stück auf, zugleich mit einer
-Reihe anderer Stücke, die noch strittig sind, zu einem gewichtigen
-Teil aber auch heute mit gutem Grund Shakespeare zugeschrieben
-werden. An äußeren Zeugnissen kommen also nur in Betracht erstens
-die Quartausgaben, die für Shakespeares Verfasserschaft sprechen;
-das ist aber kein ganz durchschlagender Beweis; die Titel dieser
-Quartos vermeldeten auch manchmal Irrtümer oder Lügen; und zweitens
-die Weglassung des Stückes in der von Shakespeares Freunden besorgten
-ersten Folio. Daraus vermag ich aber auch nichts Sicheres gegen
-Shakespeares Autorschaft zu holen, so ernst es auch zu nehmen ist;
-diese negative Tatsache ist keine Antwort, sondern eine Frage. Haben
-die Herausgeber ihre oft bewährte Liederlichkeit und Willkür walten
-lassen? Wußten sie aus persönlichen Äußerungen, daß Shakespeare das
-Stück verwarf, nicht, weil er es nicht verfaßt hatte, sondern weil er
-sich seiner schämte?
-
-Durchschlagende Zeugnisse sind also keine da; weder für noch gegen
-Shakespeares Autorschaft. Ich entschließe mich -- mit den meisten
-Forschern -- Shakespeare für den Verfasser zu erklären, weil alles
-Sprachliche, wozu ich auch die Gedanken, die Satire, die Polemik,
-die Weisheit und die lyrische Betrachtung der Ereignisse rechne,
-völlig reifer Shakespeare ist; wir kennen niemanden sonst, der in
-Situationen der Höhe und der Gemeinheit seine Menschen so sprechen
-ließ. Kunsthistoriker helfen sich in solchen Fällen, wo ein Werk alle
-Kennzeichen des Pinsels eines Meisters trägt, ihnen aber seiner doch
-nicht ganz würdig scheint, damit, daß sie es seiner Schule zuschreiben.
-So ähnlich hat man auch für dieses Stück den Versuch gemacht, von einer
-bloßen Bearbeitung oder Mitarbeit Shakespeares zu reden. Dazu nun sehe
-ich gar keine Möglichkeit. Das Stück ist ganz einheitlich und aus
-einem Guß; es gehört nur eben einer völlig andern Gattung zu, als wir
-sie sonst von Shakespeare kennen. Das gilt auch für Goethe und seinen
-Großkophta zum Beispiel; Schlüsse, das Stück sei nicht von ihm, oder es
-stamme aus seiner Jugend, oder ein andrer habe es verfaßt und Goethe
-habe es nur überarbeitet, wären, wir wissen es zufällig, allzumal
-falsch. Daß Shakespeare hier, wie es öfter anzunehmen ist, ein eigenes
-Jugendwerk oder einen aus der Frühzeit stammenden Entwurf bearbeitet
-hat, ist wohl möglich; eine Bemerkung in einem Prolog Drydens, dem noch
-persönliche Erinnerungen, die auf Shakespeares Freunde zurückgingen,
-zugänglich waren, spricht dafür, ohne irgend Sicherheit zu geben.
-
-In diesem Perikles nämlich gehen die Handlung, das romantische
-Abenteuer, das Spinnen und Abreißen der Fäden in dem einmal erwählten
-Stil überaus sicher vor sich; nur ist freilich dieser Stil kindlich,
-holzschnittmäßig, fast nach Art der alten Moralitäten; die Leutchen
-bringen alle ihren fertigen Charakter mit in das Stück; von einer
-Entwicklung oder tiefern Erleuchtung ist gar keine Rede.
-
-Das Drama geht nicht auf Menschenforschung aus, sondern auf ein
-phantastisches Abenteuer, das gefühlvoll, musikalisch, lyrisch umwunden
-wird und vor allem Gelegenheit zu Weisheit, zu der Weisheit aber von
-Shakespeares unverkennbar besonderer Art gibt.
-
-In der Quellenüberlieferung heißt der Held dieser romantischen Sage
-sonst nicht Perikles, sondern von einem beliebten spätgriechischen
-Roman her Apollonius von Tyrus. In England hatte im 14. Jahrhundert
-John Gower die Geschichte behandelt; und so ist in unserm Drama
-Gower der Prolog, der von Akt zu Akt dazwischen liegende Teile des
-abenteuerlichen Seereiseromans erzählt. In den dramatisierten Vorgängen
-selbst bleibt alles marionettenhaftes Spiel; nun ist das Puppenhafte
-und Spielerische ein Element, von dem das Drama ausgeht und zu dem es
-immer wieder zurückkehrt; das gilt nicht bloß für die Geschichte des
-Dramas, sondern für die Entwicklung jedes einzelnen Dramatikers; jeder
-Künstler besinnt sich manchmal darauf, daß sein Amt nicht unmittelbare
-Arbeit an lebendigen Menschen, sondern Schnörkel, Arabeske und Spiel
-ist; und dieses Drama sieht so aus, wie wenn Dostojewskij, als er
-sich erholen wollte und der Psychologie müde war oder irgendwie das
-Tiefste nicht mehr oder zwischenhinein nicht konnte, so etwas wie den
-Grafen von Monte Christo geschrieben hätte, ihn aber mit reichlichen
-Blitzen seines Geistes und seiner Gesellschaftskritik durchzuckt hätte.
-Gerade das hat Dostojewskij ja nicht getan; aber wie er sich oft in
-andrer Art erholte, wie er seine genial verzerrende, das Übliche zur
-innern Wahrheit verzerrende Psychologie, mit der er als Fremder gegen
-seine Zeit stand, ließ und inzwischen Geschichten der kleinen Groteske
-hinwarf, wissen wir.
-
-Im Anschluß an den Roman läßt das Stück Perikles, den Fürsten von
-Tyrus, ein paar Jahrzehnte lang zwischen Antiochia, Tarsus, Pentapolis
-und Ephesus hin und her reisen; er verläßt die Prinzessin von
-Antiochien, weil sie in Blutschande mit ihrem Vater lebt; durch
-ritterlichen Kampf gewinnt er Thaisa, die Tochter des Königs von
-Pentapolis; auf der Meerfahrt in fürchterlichem Sturm kommt sie nieder,
-scheint tot, wird in einer Kiste ins Meer geworfen; sie hat ein
-Töchterchen geboren, das er später verliert; die Ärmste soll ermordet
-werden, wird geschont, aber von Räubern in ein Bordell verkauft; darin
-bleibt sie rein und gut. Später findet Perikles die Tochter wieder,
-und mit Hilfe der keuschen Diana wird ihm sogar auch die Frau wieder
-geschenkt, die von einem weisen, wundertätigen Arzt als Ertrunkene
-wieder ins Leben gerufen und Hohepriesterin in Ephesus geworden war.
-Das alles wird farbig und im äußern Vorgang lebendig dargestellt und
-könnte auch heute noch interessieren und leicht, spielerisch rühren.
-
-Tiefere Bedeutung erlangt das Stück immer wieder durch zündende
-Worte. Zur Kritik der Fürstengewalt, zur Weisheit der Staatslenkung,
-zur Kennzeichnung der Niedertracht wie der schlicht volksmäßigen
-Redlichkeit hat Shakespeare da ganz Treffliches gesagt. Und
-unübertroffen gut ist die Sphäre des Bordells, des Liebesgeschäfts
-dargestellt.
-
-Ich führe ein Beispiel an, wie der Dichter in seiner Kritik den
-absoluten Monarchen, den Tyrannen, und den rechten König, den Vater der
-Seinen, einander gegenüberstellt. Die Tyrannen trifft es, wenn gesagt
-wird:
-
- Die Könige
- Sind Erdengötter und im Laster schaffen
- Sie ein Gesetz aus ihrem Willen. Zeus
- Kann keiner strafen, wenn Zeus selber sündigt.
-
-Dagegen erhebt sich das Bild des rechten Königs in Perikles. Wie um
-seiner persönlichen Angelegenheiten willen Krieg mit Antiochien droht,
-ist er besorgt, seine armen Untertanen, die mit all den Wirren nichts
-zu tun hatten, könnten ganz unschuldig Gräßliches erleiden müssen:
-
- Ich sorg’ um sie,
- Denn mich bedaur’ ich nicht; ich bin nicht mehr
- Als wie die Wipfel, die der Bäume Wurzeln,
- Durch die sie wachsen, schützen.
-
-So wird die Handlung, außerdem, daß sie fesselndes und rührendes Spiel
-ist, immer wieder, bei jeder Gelegenheit, zu Sentenzen benutzt; nur
-freilich geht diese Weisheit nicht aus der innersten Not weder der
-Person noch der Situation hervor, und so bleibt unsere Stimmung wohlig,
-angenehm unterhalten, aber nichts berührt uns in der Tiefe.
-
-Ich sage nun, daß Timon von Athen, wiewohl dieses Drama in dem, was ich
-die Sprache oder die Rede nenne, zu weit bedeutenderer Höhe ansteigt,
-ein Stück ähnlicher Art ist: auch hier treten die Charaktere ganz
-fertig und schablonenhaft auf, sie sind keine Individuen, sondern in
-bestimmte Kostüme gekleidete Repräsentanten von Typen nach Art der
-klassischen und romanischen Komödie, der Komödie von Shakespeares
-Freund und gelehrtem Gegner Ben Jonson. Die Handlung ist diesmal nur
-ein übernommener, weitmaschig motivierter, Skizze gelassener Vorwand,
-ein Stramin, um Reden, Betrachtungen, leidenschaftliche Ausbrüche
-gegen Erbärmlichkeit und Verrat der Menschen hineinzusticken. Denken
-wir dagegen etwa an Hamlet! Gewiß wird auch da die Handlung immerzu zu
-Ausfällen und Betrachtungen benutzt; da erwachsen sie aber, wie mit
-innerem Zwang, aus dem Zusammentreffen von gereizter Menschenseele und
-Situation; sie gehören zu einem unsäglich reichen, quellenden Leben,
-zu einem Stück tragischer Wirklichkeit. Von den Kommentatoren wird
-nun allerdings meist behauptet, für einige Szenen des Timon gelte das
-ebenfalls, und sie seien nicht geringer an Rang als die Szenen höchster
-tragischer Gewalt, die wir von Shakespeare haben; Timons Ausbrüche des
-Menschenhasses werden den Wahnsinns- und Verzweiflungsszenen Lears an
-die Seite gestellt. Und dagegen findet man dann eine Reihe anderer
-Szenen so elend, so stümperhaft hingehudelt, so des Dichters unwürdig,
-daß man sagt: sie können nicht von Shakespeare sein.
-
-Man hat noch viel zu geringe Ehrfurcht und Ergriffenheit vor dem
-großen Tragiker Shakespeare, wenn man die prachtvollen Sprachkatarakte
-Timons nicht tief unterscheidet von dem Einblick ins Innerste der
-Menschenseelen, wie ihn uns die großen Tragödien des Dichters gewähren.
-Was er im Timon als höchstes zuwege gebracht hat, tragische Redegewalt,
-das hat er auch, aus unmöglichen Situationen heraus, im Titus
-Andronikus, das haben auch Marlowe und andere Zeitgenossen vermocht.
-Auch ich finde den Abstand gewisser Szenengruppen im Timon von einander
-außerordentlich groß; aber er ist nicht unüberbrückbar und nicht so
-sehr viel größer als im Perikles zwischen der Art, wie die Handlung
-geführt wird, und wie die Weisheit und Satire sich äußert.
-
-Das nämlich dünkt mich der springende Punkt: wo es im Timon um Polemik,
-Satire, Erfahrung, Weisheit geht, um die groß pathetische Rede, da
-ist die Sprache prachtvoll, stark und wenn nicht gewaltig, so doch
-gewalttätig groß. Aber innerste Glut, Hervorbrechen des schlechthin
-Notwendigen, so daß man mit hingenommener Seele bei einer Eröffnung
-des Lebens ist, ist auch sie nicht, nie in diesem Stück, nicht einmal
-in den höchsten Momenten: immer prasselt da eine gewisse kalte,
-virtuosenhafte Pracht auf uns hernieder; immer ist dieses Feuerwerk
-Sprache und also Rhetorik, tief empfundene Rede Shakespeares, die
-aber den Gestalten und Situationen der Handlung nur so aufgebunden
-ist, wie der Redner sich der Bildersprache bedient; immer hat man
-den Eindruck wie einer Wiederholung von etwas, was einstens ganz
-echt und ursprünglich und dramatisch war, weil der Dichter sich in
-seinen Gestalten verlor, während er es jetzt, blendend, bezaubernd und
-subjektiv, wie er sich äußert, fast nicht der Mühe wert zu finden
-scheint, seinen letzten Ernst auf das zu verwenden, was ihm nur noch
-Einkleidung ist.
-
-Eine Notwendigkeit, die verbreitete Annahme zu teilen, daß etliche
-Szenen, in denen die äußere Handlung vom Flecke gebracht wird und
-die in der Tat auf einem sehr niedrigen Niveau stehen, nicht von
-Shakespeare stammen, sehe ich also nicht; was für Teilhaberschaften
-kämen dabei heraus, wenn man jedesmal eine Szene, die einem
-minderwertig erscheint, dem großen Dichter absprechen wollte! Man hat
-die bedeutenden Szenen Timons überschätzt und zu sehr gerühmt; auch
-sie stammen zwar von Shakespeare, aber auch sie nicht von dem ganz
-echten, sondern von einem schlaffen, schwankenden, müden, vor allem der
-Gestaltung und Seelenergründung müden, von einem Geiste, der wieder
-einmal zugleich ruhend und suchend geworden war.
-
-Es findet sich aber freilich in der Schlußszene des Stückes eine
-Stelle, wo man wirklich meint, sagen zu müssen: das ist so unsäglich
-jammervoll, nein das kann nicht von Shakespeare stammen! Und müßte
-man auch nur das kleinste Stückchen des Textes einem andern abtreten,
-so wäre ein Mitarbeiter, ein Überarbeiter oder Überarbeiteter da,
-und weitergehende Vermutungen hätten sichern Grund. Diese Stelle ist
-die Inschrift, die Timon auf seinen Grabstein gemeißelt hat; sie ist
-nach Ton wie Inhalt im Original genau so elend wie in der folgenden
-Übersetzung:
-
- Hier ruht ein müder Leib, die müde Seel’ entschwebt:
- Forscht nach dem Namen nicht; die Pest euch Schurken, die ihr lebt!
- Hier lieg’ ich, Timon, der im Leben Lebendes gehaßt;
- Fluch’, Wandrer, wie du willst, nur halt’ hier keine Rast!
-
-„Forscht nach dem Namen nicht!“ und „Hier lieg ich, Timon,“ -- das
-erinnert doch gar zu sehr an die Legende von dem hilfreichen Mann, der
-sich von der armen Frau mit den Worten verabschiedete: „Meinen Namen
-werdet Ihr nie erfahren; ich bin der Kaiser Josef“, als daß wir eine so
-überhomerische Schläfrigkeit Shakespeare zutrauen dürften. Indessen
-ist die Textgestaltung, die wir haben, uns nicht von Shakespeare selbst
-vorgelegt; je zwei von diesen vier Versen bilden eine in sich fertige
-Grabschrift, die beide Male nichts vorher und nichts nachher erfordern;
-es besteht also die Wahrscheinlichkeit, daß zwei Fassungen überliefert
-waren, die von den Herausgebern der Folio törichterweise beide
-gedruckt wurden. Allerdings brauchte man sich mit dieser Abweisung
-noch nicht zufrieden zu geben, könnte vielmehr sagen, auch wenn man
-die Grabschrift halbiere, bleibe doch jede, die zur Auswahl stehe,
-ein gleichermaßen elend versifiziertes Sprüchlein, das in seltsam
-kindlichem Widerspruch stehe zu der sprühenden Geist- und Sprachgewalt
-Timons. Ist ein so kümmerliches Gemächte Shakespeare als Krönung eines
-Stückes, in dem in den Hauptszenen eine so prachtvoll starke Sprache
-geredet wird, zuzutrauen? Darauf aber kann ich nicht ohne weiteres
-glatt Nein sagen; ein sehr seltsamer Umstand macht mich betroffen.
-Wir haben eine andere Grabschrift, von der eine gut beglaubigte und
-nicht leicht zu verachtende Tradition behauptet, Shakespeare habe sie
-gedichtet oder zum wenigsten bestimmt: Shakespeares eigene nämlich, wie
-sie sich auf seinem Grab in der Pfarrkirche zu Stratford befindet. Die
-ist nicht nur gerade so kläglich, sondern auch in der nämlichen Art
-elend: in weinerlichem Bänkelsängerton gehalten, der, wenn er nicht
-Persiflage ist, gewiß mehr an Jahrmärkte erinnert als an die hohe freie
-Würde und Ausdrucksgewalt Shakespeares. Und dabei können wir uns daran
-erinnern, daß dieser volkstümliche und kindlich einfältige Leierton,
-wie er auch von Gower in den Prologen zu Perikles gesprochen wird,
-auch sonst manchmal von Shakespeare zur Zusammenfassung an solchen
-Stellen gewählt wird, wo das Ernste und Furchtbare aus der Form des
-Spielerischen nicht hinausfallen soll, zum Beispiel in Verschen, die in
-Maß für Maß der Herzog zu sprechen hat.
-
-Ich bleibe also dabei: man kann das Rätsel Timon teils lösen,
-teils, weil es sich mit anderm Rätselhaften in Shakespeares letzten
-Lebensjahren eng berührt, Rätsel lassen, ohne einen zweiten Verfasser
-zu bemühen.
-
-Um die äußern Daten der Textüberlieferung steht es sehr einfach: wie
-viele andre Stücke ist Timon für uns erstmals in der ersten Folio von
-1623, und zwar als vierte der Tragödien gedruckt worden. Wann das Stück
-zuerst auf der Bühne erschien, ob es bei Shakespeares Lebzeiten auch
-schon erschien, wissen wir nicht. Ein andres Stück Timon in der Art
-gelehrter Schulkomödien, das aus dem Jahr 1600 stammt, ist bekannt; es
-hat gar keinen Berührungspunkt mit unserm Drama.
-
-Von Timon muß Shakespeare eine Erwähnung in Plutarchs
-Antoniusbiographie gelesen haben; da findet sich auch der Name des
-Zynikers Apemantus. Dann ist der Stoff von William Paynter, den
-Shakespeare auch sonst benutzt hat, als Erzählung behandelt worden.
-Einige Züge stammen -- gleichviel, wie sie auf Shakespeare kamen -- aus
-den Dialogen Lucians.
-
-Das Stück zerfällt in zwei parallele Teile, deren erster den
-reichen und mächtigen, der zweite den durch seine verschwenderische
-Freigebigkeit verarmten Timon zeigt. Die Erfahrungen, die Timon
-macht, sowie er arm wird, stürzen ihn nun ganz plötzlich, ohne
-jede Vorbereitung oder Überleitung, in grimmigsten, schimpfenden
-Menschenhaß, er geht in die Einöde, in Wald und Höhle, und hat auch
-für die, die ihm treu geblieben sind oder nichts zu Leide getan haben,
-keine rechte, keine schöpferische Liebe mehr.
-
-Man erhält gar sehr den Eindruck, daß das übrige Stück nur rasch
-und leicht hingeworfen ist um der maßlos ausschweifenden Haß- und
-Schimpfreden Timons gegen das Menschengeschlecht willen. Daneben
-geht noch eine locker und schlecht mit der Haupthandlung vernestelte
-Kontrasthandlung: die Athener zeigen sich auch gegen ihren Feldherrn
-Alkibiades undankbar; der aber flieht sie nicht, sondern führt Krieg
-gegen sie und besiegt sie.
-
-Alle ziehen sie aus dem reichen Timon, der nur so drauf los schenkt und
-übrigens auch geistig einer aus der Zunft von der „schenkenden Tugend“
-ist, da er sich durch weisen Rat ums Vaterland verdient macht, ihren
-Vorteil: Staatslenker, Hausfreunde, Wucherer, Tellerlecker, Juweliere,
-Maler, Dichter; alle umschmeicheln ihn und er merkt keine Falschheit,
-lebt vielmehr in Freude und Harmonie, weil er Gutes tun und beglücken
-kann:
-
- Wozu wären uns Freunde nötig, wenn wir sie niemals in der Tat nötig
- hätten?... Ja, ich habe mich oft ärmer gewünscht, um euch näher zu
- kommen. Wir sind geboren, Gutes zu tun, und was nennen wir wohl
- besser und eigentlicher das unsrige als die Reichtümer unsrer
- Freunde?
-
-Diese Freunde beschenken ihn denn auch in der Tat sehr reichlich; er
-merkt bloß nicht, daß sie es lediglich tun, weil sie sicher sind, noch
-mehr von ihm zurückzuerhalten.
-
-Er ist ein Mann, der Vertrauen zu vielen, fast zu einer ganzen Stadt
-hat; er glaubt an Gemeinschaft und Gegenseitigkeit. So kennt er nichts
-Köstlicheres als Geselligkeit. Drum will er auch von dem Zyniker
-Apemantus nichts wissen, der mit berufsmäßiger Galle in alle Häuser
-geht und alles höhere Leben, alle Lebensfreude schmäht, ohne daß er je
-böse Erfahrungen mit den Menschen gemacht hätte. Man ahnt hier einen
-fein angelegten Gegensatz zwischen dem Gewohnheitspessimisten, der in
-seinem Handwerk, besser gesagt, Mundwerk des Schlechtmachens eigentlich
-immer guter Dinge ist, und unserm Timon, den das Leben, ein gehäuftes
-Bündel furchtbarer Erfahrungen erst zur echten Verzweiflung und dann
-zum Tode bringt. Im zweiten Teil kommt denn auch dieser Gegensatz
-ausführlich zur Sprache; aber so recht lebendig, wie der große
-Shakespeare gerade den Kontrast äußerlich ähnlicher Naturen sichtbar zu
-machen imstande war, tritt er nicht hervor.
-
-Dann also stellt sich heraus: Timon ist in jedem Betracht ein
-Verschwender gewesen. Nun ist er am Bettelstab und verschuldet. Erst
-verzweifelt er darüber gar nicht; er erwartet sich jetzt die Freude,
-die er sich schon immer gewünscht hatte; der Augenblick ist gekommen,
-wo die Freunde sich erproben werden. Zu seinem treu teilnehmenden
-Haushofmeister meint er dann:
-
- Du sollst sehen, wie du
- Mein Glück verkennst; reich bin ich, reich in Freunden.
-
-In ein paar typischen Komödienbeispielen sehen wir dann aber, wie diese
-Freunde ihrerseits nur reich an Ausreden sind. Und über Timon kommt,
-besinnungraubend, umwerfend und umwälzend, die Wut. Noch einmal ladet
-er zu einer großen Gesellschaft ein. Schon glauben die Stammgäste
-seines Hauses, er hätte sie bloß prüfen wollen, und sein Reichtum sei
-gar nicht verschwunden; aber in den Schüsseln kommt bloß warmes Wasser
-auf den Tisch,
-
- Deckt auf, ihr Hunde, und leckt!
-
-Nichts mehr als Grimm und Bosheit ist in ihm:
-
- Dampf und lauwarm Wasser
- Ist ganz euer Ebenbild.
-
-Leidenschaftlich schmähend wirft er die Schüsseln nach ihnen und eilt
-verzweifelt hinaus.
-
-Es folgt nun der vierte Akt, um deswillen allein fast das
-Stück geschrieben scheint: eine barocke Ausschweifung wilder,
-leidenschaftlicher Sprache der Verachtung fast ohne gleichen. Der
-Akt bringt vier große Monologe Timons des Einsamen und vier große
-Gespräche: mit Alkibiades und seinen Hetären; mit dem Zyniker
-Apemantus; mit den Dieben und mit dem treuen Hausverwalter Flavius.
-Aber er bringt mit alledem keine Entwicklung, keine Steigerung; und
-selbst das famose Motiv, daß Timon draußen, fern von den Menschen, in
-der wilden Natur einen Goldschatz findet und wieder reich sein könnte,
-wenn er nur wollte, wird nur äußerlich aufgesetzt und führt nicht zu
-einer inneren Krönung, findet Anwendung nicht auf ein Menschenleben
-und dient nicht wahrhafter Seelenerschütterung, sondern nur einer
-allerdings grandiosen Rhetorik, die im üppig wallenden Mantel der
-Leidenschaft auftritt.
-
-Shakespeare kommt es hier nur auf das eine Thema an, das er virtuos
-variiert: die Gemeinheit der Menschen in ihrer Beziehung zum Geld,
-wie sie jetzt von Timon erkannt und mit seinem Fluch auf das
-Menschengeschlecht und alle Stände bezahlt wird. Durch diese ihre eigne
-Gemeinheit sollen die einzelnen Berufsklassen diesen Fluch an einander
-zur Erfüllung bringen, soll jeder den andern verletzen, bestehlen,
-betrügen, verwunden, umbringen. Die Leibeigenen sollen nur dreist
-stehlen, ihre „strengen Herrn“ sind ja selbst „langarmige Räuber“;
-
- Magd, in des Herren Bett!
- Die Frau ist im Bordell!
-
-Im Wald, mit dem Wild zusammen will er leben, das nicht so wild ist wie
-die Menschenbrut. Dabei ist er aber doch nicht in der Rousseauschen
-Stimmung, der Mensch sei böse geworden, die Natur sei gut. Für ihn, wie
-er jetzt in die Welt blickt, gibt es gar keinen Trost; denn den Urgrund
-für die Niedrigkeit der Menschen findet er in der Fehlerhaftigkeit
-der Weltordnung. Es ist in der Natur so eingerichtet, daß es Leben
-nur gibt durch Raub des Lebens; was da lebt, muß andre lebendige
-Wesen vernichten, um leben zu können. Und gar eine Erhöhung, eine
-Bereicherung kann es in der Welt nur geben durch Beraubung eines
-andern. Aber er sieht tief und schnell; ja nicht soll man nun nach dem
-Äußern urteilen und den Entbehrenden und Beraubten für den bessern
-Menschen halten. Der Bettler darf sich nicht besser dünken als der
-reiche Senator: mögen sie nur die Plätze tauschen, gleich benimmt sich
-der Bettler wie der Reiche.
-
- Schief ist alles;
- Nichts grad’ in unserm fluchbeladnen Wesen, --
- Als zielbewußte Schurkerei. Ein Abscheu
- Sind alle Feste, Volksgewühl, Gesellschaft!
- Timon haßt seinesgleichen; ja, sich selbst.
- Vernichtung wetz’ die Hauer auf die Menschheit!
-
-Die Menschen sind denn doch in der ganzen übeln Natur die schlimmsten.
-Wie so mancher Menschenfeind wendet Shakespeares Timon die
-Liebesmöglichkeit, die noch in ihm ist, dem Hunde zu, nicht in der Tat
-freilich, nur wieder im Sprachbild, wenn er zu Alkibiades sagt:
-
- Ich bin Misanthropos und hass’ die Menschheit.
- Doch du, ich wollt’, du wärst ein Hund, daß ich
- Ein wenig dich noch lieben könnt’.
-
-Was ist er denn jetzt, als Mensch, dieser Feldherr? Ein Kriegsmann, ein
-Menschenschlächter.
-
- Fort, der Trommel nach!
- Bemal’ mit Menschenblut den Grund rot, rot!
-
-Aber auch der Krieg ist noch entschuldigt; ist denn nicht alles,
-was Menschen tun, Zerstörung? Den Krieg nimmt er in seiner grimmig
-anschaulichen Art personifiziert, als ein Vorhandenes, Lebendiges, das
-sein Wesen erfüllen und sein Daseinsrecht ausüben muß; und da fragt er:
-
- Grausam sind göttlich Recht und Menschensatzung;
- Was soll denn Krieg sein? Deine Hure da
- Hegt in sich mehr Zerstörung als dein Schwert,
- Trotz ihrem Engelblick.
-
-Sie nämlich, die feile Dirne, hat diese Kraft der Verderbnis in
-Verbindung mit dem Zerstörungsmittel, das in der menschlichen
-Gesellschaft aufgekommen ist und das von allen das schlimmste ist: das
-ist das Geld!
-
-Daß er, der sich von allem abgewandt hat und nichts mehr will, beim
-Wurzelgraben einen Schatz findet, ist ihm nur ein Hohn. Immer neue
-Ausdrücke wirft er dem Geld entgegen: gelben Sklaven nennt er es,
-verdammte Erde,
-
- Der Menschheit allgemeine Hure, die du
- Unter der Rotte der Nationen Krieg
- Und Zwietracht stiftest;
-
-einen starken Dieb schilt er es, der davonläuft, wenn sein Herr schwach
-auf den Beinen wird und nicht mehr aufrecht bleiben kann.
-
-Und nun -- was alles mehr in der Art der allegorischen Gedichte
-ist, deren Meister Spenser war und denen Leidenschaft und Wucht
-des Ausdrucks und Bildes keineswegs fehlte, als in der Art der
-Wirklichkeits- und Herzenstragödie Shakespeares -- nun wandelt sich
-mittels des Schatzfundes Timons Klage und Schimpf in aktive Verfolgung.
-Er behält in seinem Haß so viel von dem Schatz, der für die Fristung
-seines Lebens, wie er sich’s jetzt eingerichtet hat, ganz wertlos
-geworden ist, daß er damit die Menschen, zumal die Athener, verderben
-kann. Dem Alkibiades gibt er Geld, damit er Krieg führe gegen diese
-Athener, die ihm das Urbild lasterhaft zivilisierter Menschheit sind.
-Das ist ein Anlaß nicht zu einem Fortgang der Handlung, sondern zu
-einer neuen Variation der Rede. Ein fürchterlicher Ausbruch des
-Menschenhasses knüpft sich daran; grauenhaft wird das Bild des
-Vernichtungskriegs entworfen, und bei all diesen Schreckensbildern
-findet Timon in wütigem Grimm, daß die Menschen alle, bis auf den
-Säugling herunter, mit Recht auszutilgen sind:
-
- Sei wie Planetenpest, wenn Zeus sein Gift
- In kranker Luft auf städtischen Lasterpfuhl
- Herab läßt tauen; keinen schon’ dein Schwert!...
- Fluch allen Wesen!
- Säe Vernichtung; hast du ausgetobt,
- So treffe dich Vernichtung!
-
-Den Dirnen gibt er Gold, um sie recht verführerisch geschmückt auf die
-Männer loszulassen.
-
- Auszehrung säet
- Ins hohle Mannsgebein!
-
-Und wie malt er sich’s nun aus! Und wie hätte ein andrer Shakespeare
-dieses hämisch, schmatzend vorwegnehmende Genießen der Rache zu
-Timons Charakteristik, zur Fortführung der Seelenentwicklung und
-äußern Handlung benutzt; hier aber bleibt alles grandiose Strafrede,
-ein dramatisch eingekleidetes Gedicht, das aus dem Abgrund einer
-leidenschaftlichen Weltempfindung herausschlagende Wetter gegen Gott
-und die Welt losplatzen läßt. Der Anwalt soll durch den Umgang mit
-diesen Weibern die Stimme verlieren; dem Priester, der lügnerisch gegen
-die Schwäche des Fleisches zetert und doch zu diesen Weibern geht, soll
-der Aussatz die Nase aus dem Gesicht fressen; der Kriegsbramarbas, der
-keine Wunden hat, soll durch sie kennen lernen, was Schmerzen sind.
-
- Verpestet alles, daß
- Die Quelle aller Zeugung durch euer Wirken
- Ausdörre und ersticke.
-
-Das Furchtbare an dieser Haß- und Fluchgewalt der Rede ist
-denn doch ihre Wahrheit, die in der Beziehung zur Wirklichkeit
-liegt: die ausschweifendste, gierigst suchende Phantasie des
-Würgengelvernichtungswillens kann keine Plagen ausmalen und wünschen,
-die mehr wären als Vervollständigung und eine Art systematische Ordnung
-der Schrecknisse, die in Natur und Menschenwelt da sind.
-
-Die Allegorie nimmt wieder eine neue Wendung. Nun, wo es sich
-herumgesprochen hat, daß zu Timon wieder Geld gerollt ist, bekommt er
-einen Besuch nach dem andern. Und so suchen ihn auch die Diebe auf. Die
-aber behandelt er mit Auszeichnung und erklärt sie im Gegensatz zu den
-andern, den sonst geachteten Klassen der Gesellschaft, für ehrliche
-Diebe; sie treiben ja das Stehlen als ihr erklärtes Handwerk:
-
- Ich weiß euch Dank,
- Daß ihr als Diebe euch bekennt, euer Treiben
- In frommen Schein nicht hüllt; Diebe sind alle,
- Zu welchem Stand sich jeder auch bekennt.
-
-Es ist ja, in der ganzen Natur, alles Dieberei: Sonne, Mond, Wasser und
-Erde, -- eins bestiehlt das andre. Aber -- wir kennen das Schema schon
--- wie viel ärger ist’s gar unter den Menschen!
-
- Dieb ist alles:
- Selbst das Gesetz, das euch in Zaum und Fron legt,
- Übt straflos und in roher Willkür Diebstahl.
-
-Wir kennen das Schema schon: in der Tat, legt man den formalen Maßstab
-an, fragt man, ob das ein Drama sei, ob da Menschen, ob seelische
-Gewalten einander gegenübergestellt werden, so kommt man immer wieder
-darauf, daß hier nicht die Sprache dem Ereignis und das Ereignis dem
-Geheimnis des Innersten dient, sondern daß die Vorgänge ein Zubehör der
-Sprache sind; die dramatische Begleitung der Rede ist wie die ~Biblia
-pauperum~ Bildersprache. Sehen wir aber davon ab und wenden uns der
-geistigen Bedeutung der Erkenntnisse zu, die Shakespeare mit solchen
-Mitteln zum Ausdruck bringt, so ist zu sagen, daß Shakespeare hier
-mit klaren Worten und Begriffen die radikale Kritik unsrer auf dem
-Eigentum beruhenden Rechtsordnung, unsrer vom Rechtswesen gesicherten
-Eigentumsordnung, die sozialistische Kritik Proudhons und seinen
-zusammenfassenden Satz: Eigentum ist Diebstahl vorweggenommen hat.
-Und was so in Worten erklärt wurde, wird dann auch mit der Handlung
-illustriert, so daß wir als in einem Notwendigkeitszusammenhang die
-beiden sehr verschiedenen und doch, solange Menschen Menschen sind,
-zusammengehörigen Seiten der Anarchie beisammen haben: Timon beschenkt
-die Diebe reichlich und schickt sie, die nunmehr besser für ihr
-Handwerk ausgerüstet sind, nach Athen:
-
- Brecht Läden auf; ihr könnt nichts stehlen, was
- Ein Dieb nicht vorher stahl.
-
-Köstlich ist nun aber, und das beste Stückchen der Handlung, obwohl
-auch das nicht wahrhaft ins Menschliche verfolgt ist, sondern nur den
-Entwurf eines Menschentums anlegt, wie es hinter aller Berufsteilung
-des Lebens und Typenteilung der Komödie steckt, köstlich trotzdem und
-ein herrlicher Gipfel in der sozialen Erkenntnis, die hier stufenweise
-zu Wort kommt, wie Timons Reden und Geschenke auf die Diebe wirken:
-sie, die Ausgestoßenen, verstehen die Herkunft seines Menschenhasses,
-erkennen hinter all dem geifernden Grimm den reinen, edeln Idealismus,
-sie schämen sich und wollen ehrlich werden!
-
-Nun aber kommt der Mann zu Timon in die Einöde zu Gast, der von Anfang
-an treu und redlich gegen ihn war: Flavius, sein Hausverwalter. Der ist
-so traurig, daß er selber ganz nah am Menschenhaß ist:
-
- Wie herrlich das auf unsre Zeiten paßt,
- Wenn uns gelehrt wird: Liebt den, der euch haßt!
- Fürwahr, eh lieb ich meinen offnen Feind
- Als den, der feindlich ist und freundlich scheint.
-
-Da bekommen wir eine ganz überraschende, kecke Umdeutung des
-Christuswortes: Liebet eure Feinde; die neue, bissige Version lautet:
-Liebet jedenfalls eher die Feinde als die sogenannten Freunde! Die
-Keckheit beruht darin, daß formal das erhabene Gebot beibehalten ist:
-Liebt den, der euch haßt! daß aber doch fast eine Umkehrung daraus
-wird: Liebe ist Lüge; im Haß ist Wahrheit!
-
-Diesem Getreuen gegenüber wird Timon weich; ihn beschenkt er, weil er
-es verdient; nicht, um ihn mit dem Gold oder die Menschen mit seiner
-Hilfe zu verderben; aber er knüpft eine arge Bedingung an das Geschenk,
-das ohne sie auch widerspruchsvoll wäre:
-
- Bau’ von Menschen fern;
- Hass’ alle, fluche allen, tröste keinen!
-
-Flavius, der untergeordnete Angestellte, wird hier -- trotz der
-Erkenntnis, die Timon zu Wort gebracht hat, daß auch der Arme
-nichts taugt -- den unabhängigen Reichen so als besserer Mensch
-gegenübergestellt, wie die Diebe den Besitzern. Aber schon vorher
-konnten wir in der Dienerszene sehen, wie diese armen Domestiken
-alle treu und liebevoll zu Timon und zu einander hielten; wie sie
-fortwährend die liebreiche Anrede ~fellow~, Kamerad, untereinander
-austauschten; und Flavius, der sein Letztes unter ihnen geteilt hat,
-gründet unter ihnen eine Art Timon-Orden:
-
- Wo wir uns wiedersehn, laßt Timons halber
- Uns Kameraden sein.
-
-Auch das greift indessen nicht weiter in die Handlung ein: innerlich
-ist diesem Stück keine Entwicklung vergönnt. Äußerlich freilich,
-rhetorisch wieder, ist es ein famoser, glänzender Komödien-, noch
-besser gesagt, Anekdotenschluß, wie nun in der Reihe der Gäste
-die Senatoren kommen, um schamlos oder patriotisch in der Not des
-Vaterlandes den, der voll Ekel vor ihnen geflohen ist, gegen Alkibiades
-und sein Heer zu Hilfe zu rufen, wie er sie in langer Ironie täuscht
-und hinhält und ihnen ein Mittel, ein unfehlbares, verspricht, durch
-das sie aller Gefahr entrinnen können:
-
- Es wächst ein Baum in meinem Waldbezirk,
- Den nächstens ich zu eigenem Gebrauch
- Umhauen muß. Sagt’s meinen Freunden an,
- Sagt’s in Athen, in jeder Abstufung
- Vom ersten bis zum letzten: Wer da wünscht,
- Sein Leid zu enden, solcher komme spornstreichs
- Hierher, eh noch mein Baum die Axt gespürt,
- Und häng’ sich auf. -- Bestellt recht schönen Gruß.
-
-Wir wissen, das ist mehr als böser, plagender Spaß. Weltschmerz,
-ja, Weltwut äußert sich so, die keine andre Erlösung weiß, als dem
-Leben ein Ende zu machen. So ist es einer der stärksten dichterischen
-Züge dieses Stückes, daß Timon in diesen Worten, mit denen er
-den verachteten Athenern, die seinen Rat begehren, den Rat gibt,
-sich aufzuhängen -- so wie Shakespeares Coriolan sich den Römern
-gegenüber die Redensart angewöhnt hat: Hängt sie! --, daß Timon
-da ein paar Wörtchen einfließen läßt, in denen er seinen eignen
-Freitod ankündigt. Nächstens, sagt er, werde er den Baum, an dem er
-am liebsten die Athener gehängt sähe, zu eigenem Gebrauch umhauen
-müssen. Wir erfahren es bald, zu welchem Zweck: um sein Grab zu
-bauen. In seinen ungeheuren Gewaltreden hat er sich ganz ausgegeben;
-es gibt für ihn so wenig wie für die Tragödie, die von ihm handelt,
-einen innern Fortgang; er hat nichts mehr auf der Erde, nichts auf
-der Bühne zu suchen: er verkriecht sich und stirbt, ohne daß wir
-dabei sind, ohne daß der Dichter darauf ausgeht, uns mit diesem
-Sterben in der Verlassenheit menschlich zu erschüttern. Goethe hat
-schon recht: Molière, der große Komödiendichter, hat aus seinem
-Menschenfeind den Helden einer Tragödie, Shakespeare, der größte aller
-tragischen Dichter, hat aus Timon eine Molièrekomödie, allerdings mit
-Shakespearischer Sprachgewalt, gemacht, und Timons Tod sogar ist eine
-Art epigrammatisches Auftrumpfen, ein Komödienschluß.
-
-Von diesem Helden einer fast allegorisch zu nennenden, dramatisch nur
-eingekleideten vehementen Predigt, in der die Übergangsszenen der
-Handlung lässig und unlustig hingeworfen sind, von diesem Menschenfeind
-und Feind seines Volkes und von seiner Ergänzung Alkibiades, der
-den Krieg seinem eignen Volk ins Land trägt, gehen wir nun in der
-nächsten Betrachtung zu jenem andern Adelsmann über, der eben schon
-genannt wurde, zu dem Verbannten, Volksfeind und Kämpfer gegen sein
-Vaterland Coriolan. Wie anders wird der zuinnerst und in der Art, wie
-er steht und geht, lebendig werden als Timon; wie wird Coriolan ein
-Mann und ein Mensch sein, wo Timon ein Exempel ist; was werden ihn in
-mannigfaltiger Abstufung für Römer und Römerinnen umgeben gegen die
-Puppen von Athenern, die wir hier finden! Einmal noch, zum letzten
-Mal also, werden wir da den Shakespeare zu uns sprechen lassen, der
-uns mit der Geschichte der Seele die Seele der Geschichte gibt. Dann,
-nachher, wollen wir sehen, wie der Shakespeare, der die Moralität von
-den wunderbaren Reisen des Perikles und die Satire von Glanz und Wut
-Timons des Menschenfeindes gedichtet hat, auch in diesem Stil noch
-wieder aufwärts steigt zu reiner Höhe der Milde, der Heiterkeit, der
-Weisheit, in dem Drama von Imogen, im Wintermärchen, im Sturm. Die
-Märchen- und Meeres- und Sphärenmusik des Sturm klingt schon in den
-Reisen des Perikles an, wie auch Miranda in manchem an Marina, die
-Tochter des Perikles, erinnert; aber der letzte Aufwärtsweg, den wir
-mit Shakespeare machen, ist noch weit, so weit wie von der gequälten
-Wut Timons des Menschenfeindes zu der Überlegenheit Prosperos, der das
-innerste Grauen der Welt kennt und den unrettbar verworfenen Caliban im
-Urgrund der Welt und des Menschengeschlechts finden muß und dennoch,
-heiter in Düsterkeit, Ruhe und Liebe nicht aufgibt.
-
-
-
-
-Coriolan
-
-
-Coriolan ist das dritte und letzte Stück, das Shakespeare nach Plutarch
-aus der römischen Geschichte behandelt hat. Über die Zeit der Abfassung
-oder der ersten Aufführung liegt uns kein Bericht vor; auch sonst
-fehlen äußere Merkmale, aus denen etwas zu schließen wäre. Ich folge
-denen, die auf Grund der Sprache und der Verstechnik die Jahre zwischen
-1608 und 1610 als Zeit der Abfassung annehmen: ich möchte glauben, daß
-Antonius und Cleopatra und auch Timon von Athen vorher gedichtet sind.
-Man könnte aber nicht leicht drei Stücke eines Verfassers nennen, die
-sich nach Aufbau, Stimmung, seelischer und poetischer Technik radikaler
-von einander unterschieden als diese; Shakespeare war gerade in seiner
-letzten Periode zu mehreren, sehr verschiedenen Darstellungsarten
-geneigt und war vielleicht jetzt mehr ein Suchender als je.
-
-Zu Plutarch steht Shakespeare bei diesem Stück eher noch freier
-als die beiden andern Male: wohl dankt er ihm viele Einzelzüge,
-folgt ihm auch im Aufbau der einen oder andern Rede; aber er nimmt
-Abweichungen wichtiger Art auch in der äußern Handlung, vor allem
-Zusammenziehungen vor. Die Vorgänge, die den Stoff der beiden Tragödien
-aus dem Beginn der Kaiserzeit lieferten, waren und sind ein Stück der
-eignen Geschichte auch unsrer Völker; es geht um Entscheidungen, die
-Shakespeares Zeitgenossen angingen, wie sie auch für uns noch bedeutend
-sind; der Krieg zwischen Römern und Volskern und alles, was damit
-zusammenhing, hat als äußerer Verlauf keine solche Aktualität; es kommt
-alles nur auf das geschichtliche Beispiel für immerdar wirksame Kräfte,
-Tendenzen und Gegensätze und auf das innere Leben der Gestalten an.
-Die spontane Lebendigkeit aber der inneren Antriebe, das Feuer, von
-dem diese Menschen erfüllt sind, das ist ebenso völlig auch diesmal
-Shakespeares Eigentum wie die geschichtliche Weite, zu der sich das
-Ereignis ausdehnt.
-
-Coriolan gehört zu den Stücken Shakespeares, die besonders sorgsam
-komponiert, straff gebaut, rund vollendet sind; keines übertrifft es
-in diesem Betracht; wenige, wie Macbeth und Othello, können ihm darin
-gleichkommen.
-
-Welch ein Abstand aber in jeder Hinsicht, wenn man von Timon kommt!
-Nicht einmal die Hauptperson ist da wahrhaft individualisiert und
-im Innersten ergriffen; die Nebengestalten aber sind allesamt
-schablonenhaft; der Timon zielt ganz auf das Wort, auf die Rede
-ab; große, herrliche Reden bringt wahrlich auch der Coriolan, aber
-alle stehen sie im Zusammenhang der ergreifenden, lebendigen Aktion
-und dienen der Erhellung der Seelen; und jede Gestalt bis zur
-kleinsten Nebenperson herunter ist individuell behandelt, und nun
-gar die Hauptgestalten! Neben Coriolan Menenius Agrippa, die beiden
-Volkstribunen, Tullus Aufidius der Volskerheld, Coriolans Mutter, seine
-Frau und das Volk.
-
-Eine sehr bezeichnende Abweichung Shakespeares von Plutarch bringt
-eine Bestätigung für etwas, was schon früher gesagt wurde, und deutet
-zugleich das Bereich, in das uns der Coriolan führt. Es hat wahrlich
-seinen tiefen Grund, warum die Natur einen zum Dichter und nicht zum
-Philosophen oder Forscher geschaffen hat. Ein Dichter, ein Dramatiker
-wie Shakespeare _kann_ sich nicht nur in die verschiedensten
-Naturen, Temperamente und Weltanschauungen einfühlen; er muß es, weil
-seine Natur ihre herrliche, stramme Sicherheit und Eindeutigkeit
-nicht in _einem_ System, sondern in einer Vielheit von Bildern
-findet; immer macht der Künstler aus der Not eine Tugend; und eben aus
-dieser Entbehrung an eng begrenzter Festigkeit macht der Dramatiker
-den Reichtum seiner Gestalten, Sphären und innern Verfassungen. Der
-Dichter lebt in Einem Himmel, der durch alle Reiche waltet; er kniet
-nicht vor Einem Gott. Diese Proteusnatur des Dichters bringt es mit
-sich, daß er mit einer Kraft und Eindringlichkeit, die nur von
-eigener Übereinstimmung zu kommen scheint, in das Denken und Fühlen
-eines Menschen eingeht, daß er ihn von innen gestaltet, als wäre er es
-selbst, daß er ganz mit ihm und in ihm ist, daß er dann aber wieder
-hinausschlüpft und ebenso untrennbar sich mit einem wesentlich andern
-zu decken scheint.
-
-Damit dünkt mich nun zusammenzuhängen, daß die Sphäre eines jeden
-der Stücke, gleichviel ob sie weit oder eng ist, in jedem Fall ihre
-begrenzte Bestimmtheit hat und in Abhängigkeit von dem Trieb oder der
-Weltanschauung der Person oder des Kreises von Personen steht, um die
-als Mitte das Stück sich bewegt. So finden wir in solchen Stücken,
-in deren Mitte die Macht steht, die als Gier zu herrschen und auch
-sonst als Lebensgier erscheint, als Sphäre eine wilde, ungezügelte
-Natur, Aufruhr und Gärung der Elemente, dämonisches Eingreifen der
-Schicksalsmächte, Zeichen und Wunder. So geht es im Macbeth zu, so
-auch im Lear und ebenso auch in den beiden Römerdramen, in denen der
-Republikanismus abgelöst wird von der Herrschgier, im Julius Cäsar
-und in Antonius und Cleopatra. Überaus bezeichnend aber, daß es in
-der besonderen Welt des Brutus nicht nur die Zeichen und Wunder des
-Cäsarismus nicht gibt, sondern daß auch der fürchterliche Wettersturm
-da nicht zu toben scheint; wir sind bei ihm in der furchtbaren Nacht
-in seinem Garten; aber wovon er auf Grund seiner Natur und seiner
-Situation nichts merkt, das umgibt auch uns nicht; und ein pedantisch
-aufmerksamer Regisseur könnte nichts Verkehrteres tun, als uns in
-dieser Fortsetzung der Nacht von dem Aufruhr aller Elemente, in dem wir
-eben bei Cassius auf der Straße waren und von dem nachher gleich Cäsar
-wieder ins Wanken gebracht wird, im Garten des Brutus das kleinste
-Donnerchen rollen zu lassen. Wovon ich hier spreche, geht aber positiv
-und negativ durch Shakespeares ganzes Werk: es ist völlig unmöglich,
-sich in solchen Stücken, in deren Mitte ein gemäßigter, gezügelter
-oder gar harmonischer Mann steht, wie zum Beispiel Heinrich IV.
-oder Heinrich V., um diesen Helden eine wilde Natur oder ein
-Eingreifen von Geistermächten zu denken. Welch ein Unterschied herrscht
-vielmehr im gesamten Ton, in der Stimmung, der Atmosphäre, wenn man
-die beiden Heinrichsdramen und ihre behaglichen, niederländischen
-Einlagen besonders der Falstaffszenen mit Richard III. und
-seinen schweren Träumen und Geistererscheinungen vergleicht. Ich
-übersehe nicht, daß Richard III. noch der Jugendperiode und der
-Abhängigkeit von Marlowe und ähnlichen Gewalttätigen angehört; aber ich
-will ja nur zeigen, warum solche begleitende Elementarstimmung in den
-Heinrichsdramen nicht sein kann. Warum aber im Lear das Wetter tobt,
-im Hamlet das Gespenst erscheint, im Julius Cäsar Zeichen und Wunder
-geschehen und in Antonius und Cleopatra Herkules der Gott unterirdische
-Musik machen darf, all dieses Elementare und Dämonische steht in
-Zusammenhang mit den Elementartrieben und dämonischen Leidenschaften,
-um die das Stück sich dreht; Hamlet, in dessen Weltanschauung und
-Neigung, das Leben zu führen, die Wiederkunft und das handelnde
-Eingreifen eines Gestorbenen ursprünglich so wenig paßt wie in die
-Horatios, hätte das Gespenst nie mit Augen gesehen, wenn er nicht der
-Erbe eines Geschlechts der Wut wäre, wenn er nicht im Dunstkreis seines
-Oheims stünde.
-
-Wenn dem aber so ist, können wir, was im Verlauf dieser Vorträge zu
-Shakespeares Weltanschauung gesagt worden ist, noch um eine Stufe
-fortzuführen versuchen. Es ist gesagt worden, es gehe nicht leicht an,
-aus den Dramen Schlüsse auf Shakespeares Religion, Philosophie und
-Naturbetrachtung zu ziehen, weil nicht nur die Äußerungen der Personen,
-so sentenziös und überzeugt sie auch herauskommen mögen, von ihrem
-Charakter und ihrer Aufgabe im Stück, sondern sogar die Naturelemente,
-die Kräfte, die Geister, die der Dichter selbst leibhaft vorführt,
-von der innern Beschaffenheit der jeweils in dem Stück zentralen
-Personen, also wiederum nicht von den Gedanken des Dichters abhängen.
-Es ist dann weiter versucht worden zu sagen, der Dichter mit seiner
-Künstlernatur sei Weltanschauungen gegenüber sehr labil, er könne
-darum seine Menschen so fest, so innig an einem Glauben oder einer
-Auffassung hängen lassen, weil für ihn, dem alles zum Gleichnis und
-Bilde wird, an jeder lebendig ergriffenen Deutung der Welt etwas Wahres
-sei. Wenn es indessen so ist, daß Hexen, Naturdämonen, Gespenster,
-Zeichen und Wunder von Shakespeare immer nur als gemäßer Ausdruck in
-solche Stücke aufgenommen werden, in deren Mitte Menschen der Gier,
-des wilden Triebs, der Genuß- und Machtaffekte stehen, daß er dagegen
-Menschen, die er mit besonderer Liebe behandelte und denen er als die
-Triebe beherrschende hohe Kraft Vernunft, Gemeinsinn, Gerechtigkeit,
-Maß, Harmonie mitgab, in einer unsrer Naturanschauung entsprechenden
-heitern, stillen und wunderlosen Welt leben ließ, so ist das am Ende,
-besonders wenn wir dazu nehmen, daß in seinen subjektiven Äußerungen
-in den Sonetten nur offenbares Spiel mit mythologischen Vorstellungen,
-aber keinerlei Befangenheit in Dämonen- und Vorbedeutungsglauben
-vorkommt, ein Kriterium dafür, daß die Vernunftüberlegung Shakespeares
-so rationalistisch war wie die Anschauungen etwa Horatios und Bruder
-Lorenzos.
-
-Man wird einwenden wollen, ob so ein Motiv der Naturdämonie verwendet
-werde oder nicht, sei in erster Linie von dem in den Quellen
-überlieferten Stoff abhängig. Aber gerade darauf will ich ja hinaus.
-Diesmal nämlich ist es nicht so. Der gesprächige und etwas wohlweise
-Plutarch berichtet in der Biographie Coriolans genau so wie in der
-Cäsars und Antonius’ von Zeichen und Wundern; aber dieser ganzen
-Überlieferung von schreckhaften Vorbedeutungen, Wahrträumen und
-Wahrsagern schenkt Shakespeare diesmal keine Beachtung. Nichts von
-dieser Atmosphäre kann er für dieses Rom und für diesen Römer brauchen.
-
-Wir sind nicht in der gärenden Zersetzung der Republik, sondern in
-ihrer Frühzeit; und die Seele Coriolans ist von nichts weniger erfüllt
-als von Machtgier.
-
-Das klingt nun vielleicht erstaunlich; man wird sagen wollen: er sei
-aber doch der Typus des Aristokraten, des Adligen, des Herrschenden;
-er sei doch der Führer in dem Kampf des Adels gegen das Volk, der
-Patrizier gegen die Plebejer; und bei all diesem Streit zwischen
-Kleinen und Großen, Volkstribunen und Senatoren drehe sich alles um die
-Macht. Man darf sich aber von Worten, die für sehr verschiedene Sachen
-gleich lauten, nicht verführen lassen. Das Spezifische, das ich hier
-Macht nenne, ist eine Selbstherrlichkeit, die alles von sich abzuleiten
-und auf sich zu beziehen geneigt ist, ist ein Absolutismus, der mit
-dem Gefühl der Majestät, der Gottähnlichkeit, des Übermenschentums
-oder aber mit dem wild dämonischen, verzehrend teuflischen Drang der
-Niedrigkeit, Herr zu sein, verbunden ist, und das gibt es nur in der
-Form der Tyrannei, der unumschränkten Königsgewalt.
-
-Hier bei Coriolan aber sind wir in einer ganz andern Welt, eben in
-der, deren Idee Brutus noch rein in sich fand und für die Umwelt
-wiederherstellen wollte: in der ständisch gegliederten, ritterlichen
-Republik.
-
-In dieser römischen Stadtrepublik, die nur erst einen kleinen Teil des
-benachbarten Landes in ihr Bereich eingezogen hat, herrscht in noch
-engerem Bezirk dieselbe Staatsverfassung, dasselbe Staatsideal, wie es
-Shakespeares Ulysses für die frühe griechische Welt aufgestellt hatte,
-und wie es ganz ähnlich in der Welt des ritterlichen Königs, zu dem
-Prinz Heinz geworden ist, Heinrichs V. gilt:
-
- Denn wie kann ein Verein,
- Der Schulen Stufen, Brüderschaft in Städten,
- Ein friedlicher Verkehr entfernter Küsten,
- Das Erstgeburts_recht_, _Pflichten_ der Geburt,
- Vorrecht des Alters, Thrones, Zepters, Lorbeers
- An ihrer rechten Stelle anders stehen
- Als durch die _Gliederung_?
-
-So hatten wir’s von Ulysses für kleine Königreiche gehört, in denen
-Rangordnung, Gliederung, ständische Verfassung herrscht und sie so der
-Republik nicht minder annähert, wie andrerseits die aristokratische
-Republik im frühen Rom die Ordnung und Sicherheit gewährte, die man
-gern als Vorzug der Monarchie bezeichnet.
-
-Und von Ulysses hören wir in derselben großen Rede zweierlei über die
-Auflösung von ständischer Gliederung und Ordnung. Einmal gerade das
-nämliche, was wir jetzt eben über den Zusammenhang von Naturdämonie und
-Machtwillkür bei Shakespeare wahrgenommen haben:
-
- Irren
- In unheilvoller Kreuzung die Planeten,
- Welch Schreckenszeichen dann, welch Seuchen, Gärung,
- Welch Erderschütterungen, Meerestoben,
- Aufruhr der Luft, Umsturz, Entsetzen, Graus
- Zerteilt, zerreißt, erschüttert und entwurzelt
- Jedweden Zustand eheruhigen Friedens
- Bis auf den Grund! Wenn Stufenordnung wankte,
- Zu jedem hohen Ziel die einzige Leiter,
- Dann krankt die Unternehmung!
-
-In warnender Rede also, die ihren prophetisch eindringlichen Ton gewiß
-nicht bloß von der Lage der Griechen vor Troja nimmt, stellt Ulysses
-die Auflösung des organisch Gegliederten ins wüst Elementare zusammen
-mit unheilvollen Naturkatastrophen derselben Herkunft. Dann aber fährt
-er unmittelbar fort und stellt den Zusammenhang her zwischen der
-Auflösung der festgegliederten, sich gegenseitig auspendelnden Ordnung
-und der Willkürgewalt der Despotennatur:
-
- Nimm Gliedrung weg, mach’ diese Saite stumm,
- Und ach, welch Mißton folgt! Die Dinge stoßen
- In ew’gem Streite sich: es schwillt der Busen
- Der eingedämmten Flut, des Strandes spottend,
- Bis sie dies feste Rund auflöst in Schlamm;
- Zum Herrn der Schwäche wirft sich auf die Kraft;
- Der rohe Sohn schlägt seinen Vater tot;
- Gewalt wird Recht, nein, vielmehr: Recht und Unrecht
- -- Die ew’gen Feinde, von Gerechtigkeit
- Beherrscht -- verlieren samt der Herrscherin
- Dann ihren Namen. Alles wird Gewalt,
- Gewalt wird Willkür, Willkür zur Begier,
- Und die Begier, ein allgemeiner Wolf
- Mit ihrem Dienerpaar Gewalt und Willkür,
- Nährt sich vom allgemeinen Raub und frißt
- Zuletzt sich selbst auf.
-
-Es war nötig und gut, daß wir diese entscheidende Stelle, in der
-Ulysses das politische Gewalthabertum auf die Seelenverfassung des
-gierigen Einzelmenschen und diese wiederum auf die Auflösung einer
-festgegliederten Ordnung der Gegenseitigkeit zurückführt und so die
-Gemeinschaft oder Wechselwirkung feststellt, in der sich öffentliche
-Zustände und inneres Leben der Individuen immerzu einander bedingend
-und steigernd bewegen, hier noch einmal vernahmen. Denn die Warnung,
-sofern sie nicht vor Troja, sondern vor den europäischen Völkern zu
-Beginn des 17. Jahrhunderts ausgesprochen wurde, hat nichts verhütet,
-hat nur vorausgekündet; der Prophet hat in den Wind gesprochen, dessen
-Wehen er schon spürte, und der Wind ist zum Sturm geworden. Und wir
-heutigen Tags sind an den so vorausgesagten Zustand der Auflösung,
-in dem wir seit langem darin sind, derart gewöhnt, daß wir uns erst
-historisch zurückversetzen müssen in eine Zeit, wo das, was heute
-spukender, zerfetzter Rest und dabei Willkürgewalt ist, in seiner
-Gesundheit, seinem Rechte und seinem Amte stand, in eine Zeit, wo Adel
-und Rittertum ihre Aufgabe der Landesverteidigung und des Regiments
-mit gutem Gewissen als Recht und als Pflicht betrachteten. Nichts ist
-uns heute selbstverständlicher als die Forderung oder demokratische
-Tatsache, daß der Bauer, der Handwerker, der Arbeitsmann seine Arbeit
-und private Muße abbricht, um sich über Gesetzgebung, Verordnungen,
-Verhandlungen aller Art erst zu unterrichten und dann zu beraten und
-schlüssig zu machen; wir denken gar nicht daran, daß dieser Zustand,
-in dem die Angelegenheiten des Gemeinwesens nicht besonders Berufenen,
-Geschulten, Geübten anvertraut bleiben, sondern dem allgemeinen
-Dilettantismus überlassen sind, daher kommen könnte, daß die Erben der
-einst Berufenen des Vertrauens unwürdige Usurpatoren und dazu noch
-Pfuscher geworden sind. Shakespeare aber lebt, äußerlich schon am
-Rande, seiner Gesinnung nach noch inmitten dieser Welt der ständischen
-Ordnung, so wie selbst Goethe zwar an und sogar hinter ihrem Ende, aber
-für sein Wollen und Denken noch und schon wieder in ihr gelebt hat.
-
-Und in dieser Welt der ständischen Ordnung, eines Vorrechts, das nicht
-ein Privileg mit dem Stempel des Unrechts, sondern ein Rang mit der
-Aufgabe der Lenkung und Führung war, lebt Coriolan, im Kampf gegen die
-Tendenzen der Auflösung.
-
-Sehen wir uns seine politische Ethik, seine Anschauung vom Verhältnis
-der Individuen zur Gemeinschaft, von der Aufgabe des Adels zunächst an.
-Und zugleich damit seine und seiner Freunde Stellung zum niedern Volk,
-zu den Massen der einzelnen.
-
-Denn dies vor allem: es geht um ein Ganzes, das ist die Polis, die
-Politeia, die Stadt, der Staat; die Massen aber sind einzelne, die wild
-durcheinander wimmeln und toben und einander auffressen würden, wenn
-nicht das Regiment wäre, das sie zusammenhält und einem Ziele zulenkt.
-In dieser Zeit, wo das patrizische Regiment von der Auflösung bedroht
-ist und sich zur Wehr setzen muß, besteht ihm die Menge aus lauter
-Vertretern des Typus,
-
- der nicht herrschen _kann_
- Und nicht gehorchen _will_.
-
-Man kann es etwa auch so ausdrücken: die Machtgierigen, die Tyrannen
-und Usurpatoren, zu denen Coriolanus keineswegs gehört, betrachten sich
-als Gottähnliche, als Übermenschen; Coriolan sieht sich und die echten
-Adligen als eigentliche, rechte Menschen an; die Massen, die weder
-Klarheit der Einsicht noch Bestimmtheit des Willens haben, sind für ihn
-Menschen wohl in ihrem Haus und Handwerk -- da achtet er sie durchaus
---, aber nicht im Staat; von dem verstehen sie nichts und sollen sich
-also auch nicht drum kümmern, weil sonst die Auflösung, mit ihr die
-Gier und die Tyrannei der Willkür kommt. In dieser Rolle der Führenden,
-Regierenden, Befehlenden, der Vormünder für Unmündige -- unmündig
-nur in Sachen des Gemeinwesens, das in hoher Sonderung für sich
-verwaltet sein muß, nicht in die private Ökonomie und den Werkeltag
-biederer Handwerker vermantscht werden darf -- hat dieser Adel ein
-gutes Gewissen, soll es haben, so beschwört sie Coriolan. Ordnung und
-Unterordnung muß sein:
-
- Seid ihr gelehrt,
- Tut nicht wie blöde Toren; seid ihr’s nicht,
- Setzt _sie_ [die Plebejer] auf Polstern euch zur Seit’!
- _Ihr_ seid Plebejer,
- Wenn Senatoren sie...
-
-Der Staat muß einheitlich sein; er muß die Macht haben, das Gute und
-Rechte zu tun. Jetzt aber, wo die Patrizier den Plebejern Rechte
-eingeräumt haben, sie am Staatsleben teilnehmen lassen, sieht er
-Schlimmes voraus; es besteht eine
-
- Doppelherrschaft,
- Wo stolz ein Teil mit Grund, frech ohne Recht
- Der andere; wo Klugheit, Rang, Geburt
- Nichts machen kann, als nach dem Ja und Nein
- Des unverständ’gen Schwarms...
-
-Demgegenüber verfechten die Volkstribunen die modern demokratischen
-Ideen; für sie ist das Ganze nichts andres als die Summe der einzelnen,
-und das Staatswohl identisch mit dem Wohl der Massen.
-
-Dagegen aber empört sich gerade die Staatsgesinnung; und in der Tat,
-wäre Rom -- die Stadt -- wäre sie Rom geworden, das gewaltige römische
-Reich, das heute noch lebt in all unsern Staaten, in allen, gleichviel
-wie sie heißen, wenn es zu irgend einer Zeit nur oder hauptsächlich auf
-das Wohl der gerade lebenden einzelnen in den Massen angekommen wäre?
-Auf diese Demokratenfrage
-
- Was ist die Stadt sonst als das Volk?
-
-erwidert darum auch der Konsul Cominius, Coriolans Freund und
-Parteigenosse:
-
- Das ist der Weg, zu schleifen unsre Stadt,
- Das Dach herabzubringen an den Grund
- Und alles, was noch Rang hat, zu begraben
- In aufgehäuften Trümmern.
-
-Nein, so empfinden sie alle, diese Ritter, Adligen, Vornehmen, nein,
-das ist nicht der Zweck des Lebens, nicht die Bestimmung ihrer heiligen
-Stadt, lediglich die Masse, das „Tier mit vielen Häuptern“, zu ernähren
-und zu befriedigen. Sie, die Adligen, sie haben ihre besondere
-Bildung, Ausbildung, Lebensart, sie haben Muße; sie bleiben für Ehe
-und Nachkommenschaft streng innerhalb ihres Standes; auf den Wegen der
-Natur und der Gesellschaft sind sie Auslese geworden: darum sind sie
-die von Geburt Vornehmen, Ausgenommenen, privilegiert nicht zum Genuß,
-sondern, wohl auch vom Genuß des Lebens her, privilegiert zu ihrer
-Aufgabe.
-
-Was Nietzsche, von Jakob Burckhardt geleitet, in der Renaissance
--- Shakespeares Zeitalter noch -- gefunden hat und was er darum
-und sowieso in der Form der Vermischung von Adelsordnung und
-ausbrechender Willkürtyrannei brachte, das hätte er nirgends
-in so reiner, vollendeter Gestalt finden können wie in diesem
-aristokratisch-republikanischen Drama Shakespeares.
-
-Wohl aber zu beachten: das ist Coriolan, ist der vollendete Typus des
-Adelsideals, es ist nicht, nicht ganz und gar Shakespeare. Wir haben
-in dem schimmernden Ritterkönig Heinrich V. eine nach Gesinnung
-und Stellung ähnliche Gestalt gesehen, der Shakespeares Bewunderung und
-Wunsch freilich wohl auch am nächsten stand; aber aus Sehnsucht -- für
-sich und die Menschheit -- baut der Dichter die Gestalten, an denen
-sein Herz hängt und die uns zu Mahnern aus großer Zeit, zu Führern oder
-zum Ziele auf unserm Wege zu werden vermögen; er baut damit auch an
-seinem Leben, seiner Wandlung, seinem Sichfinden; was alles jedoch in
-der Unendlichkeit der Vorwelt und Umwelt hat schon früher entscheidend
-an ihm, dem Menschen, der so dichtet, gebaut? So lebt in Shakespeare
-auch schon das Neue, die Gärung, die Zersetzung; sonst hätte er nie
-einen Hamlet schreiben können, die Tragödie dieses Prinzen, der die
-gesunkene und in Stücke gebrochene Ordnungswelt weder einzurenken noch
-zu lenken vermag, sie aber, gleich uns andern Plebejern, drunten oder
-abseits scharf und erschütternd kritisieren muß und darf.
-
-Shakespeares Kunst -- o nein, das ist nicht bloß Kunst, die
-unvergleichliche Größe seiner Persönlichkeit ist, daß er jedesmal in
-jedem Drama um seinen Helden herum eine solche Sphäre der Sicherheit,
-eine so weltweite Atmosphäre, die von seinem, dieses Helden Wesen ganz
-gesättigt ist, legt, daß wir lange keinen andern Atem schöpfen als die
-Luft dieses Wesens. In der Welt Coriolans vergessen wir alles, was
-heutigen Tags auch noch solche Namen führt wie Adel, Herrenkaste,
-Kriegertum, Staat; wir vergessen, daß inzwischen die Auflösung, die
-Coriolan bekämpft hat, so Herr geworden ist, daß sie Besitz von allen,
-auch von unsern Hirnen ergriffen hat; wir vergessen, daß heutigen Tags
-die Losungen, die einstmals bindende und im Keil vorwärts führende
-Wahrheit gewesen sind, wir vergessen, daß dieser herrliche Wahn
-inzwischen zu Gewaltdruck, Gierverkleidung und Lüge geworden ist;
-wir vergessen die Durchgangszeit, welche die unsre ist; vergessen,
-daß wir so auseinandergefallen, so in Rückfall geraten sind, daß
-unsre Verneinungen das einzig Positive sind, das wir haben, und daß
-darum kein Staat uns mehr einen Geist, dem wir uns fügen, vorstellt,
-der irgend ein Ziel gegen das Wohl der einzelnen verfolgt; wir
-vergessen die Zeit und den Tag; all das Trompetengeschmetter, all der
-soldatisch-kriegerische Adel jener Welt ist uns nicht eine Erinnerung
-an Äußerliches, das heute in der Welt just noch ein bißchen herrschen
-will und bei seinem gewaltigen Todesgetöse sich mit den heiligen
-Worten und Geschmeiden längst vergangener wahrer Geltung ziert: diese
-aggressive Lust ist uns ein Sinnbild alles Großen, Gebietenden,
-Tapfern, Edeln in unsern Seelen, das sich inzwischen in ganz andern
-Gebieten angesiedelt hat, so daß es geschehen mag, daß unser Herz bei
-Coriolans Kriegsrufen jauchzt, weil dabei die Saiten mitschwingen,
-auf denen wir bereit sind, tapfer in starken Tönen das Lied von der
-Friedensordnung der Menschheit und der endgültigen Vernichtung aller
-feudalen Reste zu spielen.
-
-So bannt uns Shakespeare in den Geist hinein, der sein Drama vom
-Helden aus erfüllt, und wenn wir ganz drin sind, kann es kommen, kommt
-es auch bei diesem Stück, daß irgendwo drunten eine ganz andre, eine
-entgegengesetzte Gesinnung und Menschenart so erschütternd für einen
-Augenblick ihre Lage und ihre Seele ausspricht, daß über all unsrer
-ruhig-gesicherten Festigkeit wieder wogend die Allseitigkeit, die
-Beidseitigkeit, der Übergang und die Auflösung zusammenschlägt. Und
-sehen wir uns dann, wenn auf einen stolzen Gipfel, den der Dichter
-gebaut hat, ein Gipfelchen fast mitleidig und verachtend herabblickt,
-das auch dieser Dichter gebaut hat und das er auch gelten lassen
-will, sehen wir uns nach diesem Dichter dann nochmals um und wollen
-versuchen, den Dramatiker, der so erstaunlich gerecht zu sein vermag,
-zu verstehen, so wissen wir nicht, ob wir diese Gabe harte Stärke oder
-weiche Schmiegsamkeit nennen sollen; es wird eine weiche, wandelbare,
-allem leicht hingegebene und von allem gefärbte Seele sein, der die
-Ausdrucksgewalt eines starken Geistes dient.
-
-Einer aus dem Herrengeschlecht und der Kriegerkaste also ist der Mann,
-der Coriolan heißen wird; er hat die Eigenschaften, um derentwillen er
-sich und seinesgleichen als Geschlecht der Regierenden berufen fühlt,
-die typischen Eigenschaften, die ihn zum Führenden bestimmen; dazu aber
-noch die besonderen, die ihn zum tragischen Sturze bringen.
-
-Die Bürger und Volkstribunen, die von ihm reden, haben die
-Allgemeinempfindung, daß er ihnen unerträglich zur Last sei; „er hat
-der Fehler mehr als zuviel“, ruft einer, als man ihn auffordert, sie
-zu nennen; er weiß ihrer keinen als immer den einen: Stolz. Das merkt
-jeder gleich: stolz über die Maßen ist dieser Mann. Ja, das ist er;
-aber er hat auch die nötige Ergänzung: einen Stolz, der kein Lob hören
-kann, der bescheiden ist; denn den Stolz und seinen Grund hält Coriolan
-für Eigenschaften jedes echten Menschen; eine Sprödigkeit hat er, die
-mädchenhaft ist wie die Cordelias, der Adelstochter.
-
-Und ein andrer Bürger, der ihm wohlgesinnt ist, erwidert ein
-nachdenkliches Wort:
-
- Was ihm nun einmal so im Blut liegt, daraus macht
- ihr ihm ein Laster.
-
-~What he cannot help in his nature~...: er ist nichts
-Nachträgliches, nichts Aufgeklebtes, dieser Stolz, ist kein
-Zierat: er kann’s nicht ändern, es ist so seine Natur: seine
-Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit. Er ist, wie er öfter von
-Freunden und Bewunderern angeredet wird, „ein edles Blut“.
-
-Im Krieg, der in der Zeit des Rittertums, in der wir hier stehen,
-ein anderes Ding war, als was sich heute in der Zeit der Technik so
-nennt, zeigt sich sein Adel besonders. Er kann befehlen und Menschen in
-Mengen in Kampf und Tod treiben, er kann die Plebejer als feige Memmen
-verachten, weil er selbst jeden Augenblick, von nichts getrieben als
-von seiner Tapferkeit, die ihm Natur ist, bereit ist, das Leben fürs
-Vaterland zu wagen.
-
-Allein, ohne daß die Truppen ihm folgen, und ohne daß er fragt, ob sie
-ihm folgen, dringt er den Feinden nach in die Festung Corioli; das Tor
-wird hinter ihm geschlossen, aber er, allein unter Feinden, schlägt
-sich durch und hält sich, bis die andern nachkommen. Und er ist kein
-homerischer Held, an dessen Seite unsichtbar oder sichtbar in der
-größten Gefahr die Götter kämpfen; kein Siegfried, der von Drachenblut
-eine unverwundbare Hornhaut hat; es geht alles ganz menschlich zu:
-er ist ein Held von Natur, der die Kultur und die Gesinnung seiner
-Natur hat. Wenn er nicht von Zorn und Heftigkeit, die seine Erbfehler
-sind, übermannt ist, hat er etwas sehr angenehm Urbanes an sich; sein
-Heldentum hat gar nichts ländlich Ungeschlachtes, Raufboldiges, sein
-Kämpfen steht immer mit seiner Gesinnung in Verbindung; immer lebt die
-Urbs, die Stadt Rom in ihm.
-
-Wie er dann seine Soldaten in kurzer, feuriger Ansprache auffordert,
-ihm in den Kampf zu folgen, da faßt er wohlgesetzt zusammen, was sein
-ritterliches Wesen ausmacht. Der soll ihm folgen,
-
- der glaubt,
- Ein edler Tod wieg’ auf ein ruhmlos Leben
- Und höher hält sein Vaterland als sich.
-
-Man fürchtet wohl manchmal, solche Gesinnung der Todbereitschaft,
-der völligen Unterordnung der Person unter ein überindividuelles
-Gebilde, unter eine Zusammenraffung, einen schimmernden Namen wie die
-Nation, raube dem Menschen die Individualität und mache ihn zu einem
-bloßen Teilchen. Mag sein, daß die Zeiten sich geändert haben: noch
-wahrscheinlicher, daß es Ausnahmemenschen und Dutzendmenschen allezeit
-gegeben hat und daß man gar wohl zwischen dem inneren Zwang, der
-Freiheit ist, Freiheit nicht nur der eigenen Entscheidung, sondern auch
-des Denkens, und jener kläglichen Unterordnung unter eine von Jugend
-auf eingetrichterte Losung unterscheiden muß, die mit Unfähigkeit
-zu eigenem Denken und eigener Entscheidung und mit Unkenntnis der
-Tatsachen, mit abergläubischer Geducktheit und dem Schlendrian des
-unabänderlichen Heute wie immer in genauer Verbindung steht. Coriolan
-jedenfalls zieht seine tapfere Todesverachtung im Gegenteil aus
-seinem stolzen, eifersüchtigen Individualismus. Ganz wirft er, wenn’s
-sein soll, das Leben hin, gerade weil er, solange er lebt, auf seine
-Selbständigkeit und Eigenheit bedacht ist, so sehr, daß er einen Zug
-seines Wesens bezeichnet, wenn er einmal ausruft:
-
- Ich wäre lieber Knecht nach meiner Art
- Als Herr mit ihnen nach der ihren.
-
-Aufgerufen sein, frei über sein Leben zu verfügen, kann nur der Freie.
-Aber das ist ein sehr kompliziertes Verhältnis, diese Beziehung des
-Individuums zur Gemeinschaft, wo man dem Ganzen nur richtig dient,
-wenn man ganz ein eigenes Selbst, wenn man ein Ganzer ist; und wo man
-wiederum ein Eigener nur ist, wenn man ganz in der Sache aufgeht,
-unverbrüchlich sachlich ist; und sachlich heißt: hingegeben bis zur
-Vernichtung.
-
-Coriolan weiß das, weiß, daß durch ihn hindurch die Sache wirkt; daß
-sie aber den Weg durch ihn nur recht nimmt, wenn er zusammengerafft,
-abgesondert, stolz er selbst ist; ist aber dann die Tat, die die Sache
-gewollt und durch ihn getan hat, vorbei, will der Gedanke, das Wort,
-die Lobrede sie an ihn, der das erkorene Werkzeug war, ankleben, dann
-empfindet er das, als nehme man ihn nicht für voll, als halte man es
-doch für eine Art Zufall, was er getan und was er am Ende auch hätte
-lassen können; als rühre man seine tiefe Verbundenheit mit der Sache
-auseinander; er wird rot, er läuft weg:
-
- Eh’r lass’ ich mir den Kopf kraun an der Sonne,
- Wenn man zum Angriff bläst, als müßig hören,
- Wie man mein Nichts zum Wunder schwellt.
-
-Lohn oder besondern Anteil an der Beute schlägt er aus; nichts der Art
-freut ihn; das aber erquickt ihn, daß seine Tat ihm einen Namen gemacht
-hat und daß er jetzt zugleich nach sich und der Sache heißt, Cajus
-Marcius nicht mehr allein, sondern Cajus Marcius Coriolanus.
-
-Seine Verachtung gegen die Plebejer hängt auch zusammen mit der
-Abneigung seiner Natur gegen jeden Schachersinn, jede Kleinlichkeit
-und Erwerbsgier. Zumal, wenn dieser niedrige Erwerbssinn sich auf
-dem Gebiet der Ritterlichkeit, im Kriege zeigt, wenn die römischen
-Plebejer, als Soldaten nur wie maskiert, den Kampf unterbrechen, um
-gierig Beute zu machen, bricht sein Zorn los.
-
- Die Beute stieß er weg
- Und sah auf Kleinodien, als wären sie
- Verworfner Unrat. Weniger begehrt er,
- Als Geiz selbst gäbe; Lohn genug der Tat
- Hat er am Tun...
-
-Die Senatoren, der Konsul Cominius, der kluge Menenius Agrippa, sie
-alle da oben sind ganz seiner Gesinnung; aber sie haben nicht seine
-unnachgiebige Natur; sie sehen, wie die Zeiten sich gewandelt haben,
-sehen wohl gar ein gewisses Recht auch auf der andern Seite, so sind
-sie politisch, bedächtig, manchmal fast -- so dünkt es ihn -- feige.
-
-Er aber -- seine Mutter sagt es, die ihn am besten kennt, weil sie ihm
-am meisten gleicht --, er will und muß die soldatisch kriegerischen
-Tugenden auch auf die Dinge des Friedens, der Politik übertragen; er
-ist immer geradeheraus, offen, rücksichtslos:
-
- Sein Wesen ist zu edel für die Welt,
-
-meint der alte Menenius,
-
- Sein Herz ist auch sein Mund,
- Was seine Brust denkt, sagt die Zung’ heraus,
- Und aufgebracht vergißt er, daß er je
- Den Namen Tod gehört.
-
-Im Kampf ist er sofort der Führer, weil er eben der Vorderste ist; er
-ist von Natur der Fürst, wie eins die erste Zahl ist, aus der sich
-alle andern kumulieren; und wie der First das Oberste vom Haus ist,
-weil er nicht drunten sein kann, so ist er der Oberst, wenn’s auf
-tapfre Tat ankommt; er denkt gar nicht daran, ob man ihn auch formell
-zum Feldherrn ernannt hat. So hat er im Krieg gegen die Volsker seine
-Vorgesetzten und ehrt sie; wo’s aber das Einsetzen der Person gilt,
-da ist er der erste, gleichviel, welchen Titel er führt und wo er zu
-Anfang stand.
-
-Daß das aber so ist, daß die andern, die zu ihm gehören und
-seinesgleichen sein sollten, es nicht sind, das weiß er wohl; er kann
-es nicht übersehen; sachlich ist er bescheiden, unsachlich wüßte er
-nicht, warum, und zeigt den ungescheutesten Stolz und Anspruch. Er
-weiß, daß er der Edelste in Rom ist; er ist der echte Vertreter des
-jetzt bedrohten Adels, er ist der berufene Führer der Gemeinschaft.
-Gar keinen unedeln, persönlichen Trieb hat er, wenn er in großartiger
-Haltung und Selbstverständlichkeit sich seiner Aufgabe nicht entziehen
-und also Consul der Republik werden will.
-
-Und da fängt er an, sich selbst untreu zu werden, sich gegen seine
-Natur zu vergehen. Die Situation ist so, daß seine Natur die Stellung,
-die sie zu ihrem Wirken in der Welt braucht, nur erlangen kann,
-wenn sie nicht ist, was sie ist. Für ihn, der keine Anpassung, keine
-Klugheit und Berechnung kennt, gibt es den Grundsatz nicht: Der Zweck
-heiligt die Mittel. Womit gesagt ist: er ist kein Politiker, wie es
-sein alter Freund Menenius Agrippa, wie es auch seine starkgeistige
-Mutter Volumnia ist, die es in einer andern Mischung der Gaben vermag,
-hoheitsvoll und doch klug zu sein.
-
-Der Consul muß gewählt werden, und der Kandidat hat ein gewisses
-Zeremoniell zu erfüllen. Unter äußerster Selbstüberwindung fügt er
-sich dem Brauch, die Bürger um ihre Stimmen zu bitten, ihnen gar
-seine Narben zu zeigen; denn nur der kann Consul werden in diesem
-Kriegerstaat, der dem Vaterland im Krieg mit persönlicher Tapferkeit
-gedient hat; und wer’s werden will, muß sich persönlich zu dem Volk
-bemühen, das auch einmal etwas vom Herrentum schmecken will. Sein
-Werben aber, seine Wahlreden klingen mehr wie knirschender Hohn als wie
-ein demütiges Bitten.
-
-Zwei stehen ihm immerzu gegenüber, deren persönliche Berufung so
-wenig wie ihre Amtsbefugnis er anzuerkennen vermag; die beiden
-Volkstribunen, die der Individualisierungskünstler Shakespeare genau
-so ununterscheidbar paarweise auftreten läßt, wie Rosenkranz und
-Güldenstern, die Höflinge mit den deutschen Namen, im Hamlet; und beide
-Male zeigt dieses Verhältnis des Einzigen zum Paarigen die Stellung
-des Genies gegenüber der Herde: denn Coriolan ist ein Genie der Tat,
-wie Hamlet eines der grübelnd bohrenden Phantasie; alle beide sind
-Repräsentanten der Vornehmheit, der adligen Seele, die in dieser Welt
-vereinsamt ist.
-
-Wie aber Hamlet bei all der Vornehmheit seiner Natur mit Polemik,
-Bosheit, derbem oder stechendem Witz, hie und da sogar mit Zoten gegen
-die Welt reagieren muß, so kocht es in Coriolans adliger Seele immer
-über, und wenn er nach Rom auf die Straßen muß, läuft er mit rotem
-Kopf und Zorn herum. Er ist grob und er schimpft über die Maßen. Wie
-die andern Patrizier sich nur so anpassen können, begreift er nicht. Da
-fehlt es in Rom an Korn, die Plebejer treten in Aufruhr und geben den
-Patriziern die Schuld. Menenius Agrippa ist erfolgreich daran, sie mit
-einer sinnreichen Parabel zu beruhigen; er redet dabei recht vorsichtig
-und in liebevollem Ton mit ihnen, nennt sie Landsleute, Bürger,
-Nachbarn, liebe Freunde; daß er freilich innerlich nicht anders über
-sie denkt wie Marcius, merkt man in dem Augenblick, wo er den Schritt
-des Kühnen auf dem Pflaster hört; da fängt er auf einmal an, mit Wicht
-und Lumpenhund um sich zu werfen. Nicht zu leugnen, daß das der Ton
-ist, auf den Cajus Marcius seit langem seinen Umgang mit den Leuten
-gestimmt hat. Er fühlt sich gehaßt, und er macht es nicht wie jener
-General, der nach der Besichtigung und Kritik sich von den stumm sich
-verbeugenden Offizieren mit den Worten verabschiedet: „Mich auch“ -- er
-redet deutlicher. „Hängt sie!“ hat er sich so als Redensart angewöhnt,
-wie andre „Na ja“ sagen; und im übrigen nennt er sie Hunde. Fast das
-Herz will es ihm brechen, wie man, um ihren Aufruhr zu unterdrücken,
-ihnen eine ihrer Hauptforderungen zugesteht und ihnen die Volkstribunen
-bewilligt, die sie als Vertreter ihrer Interessen selbst wählen dürfen.
-Fünf sind sie an Zahl; der kluge Dichter läßt immer nur das Paar
-auftreten.
-
-Mit dieser neuen Einrichtung ist ihm das Vaterland und die alte
-Verfassung entscheidend von innen bedroht. Aber wie er so herumläuft
-und wütet, bekommen wir den Eindruck: gäb’s keine triftigen Gründe
-für seinen Zorn, er müßte sie sich schaffen, solange sich seiner
-Angriffslust kein Ziel bietet; er braucht die große Tat; der Krieg um
-Corioli war darum wie eine Erlösung für ihn. Wie er nun das Vaterland
-gerettet hat und als Coriolanus, mit dem Eichenkranz gekrönt,
-zurückkehrt, da merkt auch das römische Volk, da merken selbst seine
-ärgsten Feinde, daß das nicht der eigentliche Marcius war, der Mann,
-der wie ein ärgerlicher Wüterich, wie ein nach Taten hungriger Wolf mit
-starken Schritten zornig über ihre Straßen gegangen war. Jetzt tritt er
-auf, wie einer der Volkstribunen zugestehn muß,
-
- Als hätt’ der Gott, sein Lenker, wer’s auch sei,
- Sich leis’ in seine Menschheit eingeschlichen
- Und gäb’ ihm edle Hoheit.
-
-Und wie nun das römische Volk, das von furchtbaren Ängsten befreit
-ist, in ihm nicht mehr den Feind, sondern den Retter und berufenen
-Führer erblickt, wie sie ihn als ihren populärsten Mann beim Einzug
-umjubeln, davon, da solche Szene in ihrem innern Wert auf der Bühne
-nicht sichtbar zu machen ist und da Shakespeare aus äußerlichem Theater
-sich nichts macht, erhalten wir eine Beschreibung aus dem Munde des
-neidischen Ärgers. Der Volkstribun berichtet:
-
- ... Die geschwätz’ge Amme
- In Seelentzückung läßt den Säugling schrein
- Und schnakt von ihm; die Küchenschlampe steckt
- Den besten Fetzen um den rußigen Hals
- Und klettert auf den Wall, ihn zu begucken;
- Gestopft sind Buden, Erker, Fenster; Giebel
- Und Dach von allerlei Gestalt beritten...
-
-Und in diesem über alles günstigen Augenblick soll Coriolan Consul
-werden; der Feind draußen ist besiegt, Rom ist gesichert; nun soll,
-wenn’s nach seinem Willen geht, der alte Zustand wiederhergestellt
-werden, sollen die Patrizier ungeschmälert das Amt ausüben, zu dem
-sie berufen sind. Der Senat versammelt sich in feierlicher Sitzung;
-den Bericht über seine Taten, den der alte Consul zu erstatten hat
-und der -- Coriolan weiß es -- eine Lobrede werden muß, kann er nicht
-anhören und läuft weg; wie er dann aber wiederkommt und der Senat ihm
-die einzige Ehre erweist, die für ihn eine ist, und ihn zum Consul
-ernennt, nimmt er hochgemut an. Hier steht er vor seinesgleichen, ein
-stolzer Mann, der so fröhlich sein könnte, wenn die Zeiten danach
-wären; und warum soll der Senat in diesem Augenblick nicht das Rechte
-tun, damit alles gut wird? Da bittet er herzhaft: ihr habt mich nun zum
-Consul gemacht; die Bettelei beim Volk ist ein schnöder Brauch ohne
-Bedeutung; erspart mir’s! Das, einen Brauch aufzugeben, hätte auch
-in andern Zeiten schwer gehalten; jetzt aber sind die Volksvertreter
-da, die ihre neue Macht zeigen wollen; der Brauch soll mit einem
-Mal verhaßte Bedeutung gewinnen; der Consul soll nunmehr vom Senat
-vorgeschlagen, vom Volk aber in vollem Ernst gewählt werden. So muß er
-sich nicht nur dem Brauch fügen, der Brauch soll parteimäßig ausgenutzt
-werden; schon organisieren und bearbeiten die Tribunen ihre Truppen und
-lauern auf die Gelegenheit, ihn zu Fall zu bringen.
-
-So muß er sich, da er sein Ziel erreichen will, zu einer Komödie
-bequemen, die ganz gegen seine Natur geht und für ihn Erniedrigung
-ist. Er könnte es nie auch nur versuchen, wenn’s die neue Einrichtung
-wäre; aber zunächst sind’s die Formen des alten Brauchs. Trüppchenweise
-stehn die Bürger beisammen; jedem soll er sein Verdienst nennen
-und seine Wunden weisen. Er versucht’s; es wird die sonderbarste
-Bewerbung, die Rom je gesehen hat; in ihm kämpfen Wut, Lachen und
-stolzes Aufbäumen. Was ihn hergebracht habe? fragt da so einer. Mein
-eignes Verdienst! gibt er zur Antwort und fügt hinzu: Soll ich denn
-etwa arme Leute anbetteln? Seine Wunden verspricht er zu zeigen,
-wenn er mit dem einen oder andern einmal allein ist. Und dann geht
-er weiter und knirscht etwas von Almosen zwischen den Zähnen. Die
-Bürgersleute sind so bestürzt und stehn zugleich noch so unter dem
-Eindruck seiner Rettertat, daß sie ihm -- es ist ja keine Wahl
-zwischen mehreren, ist ja ein Zeremoniell -- die Stimmen eben geben;
-schon darf er sich für den Consul halten; da kommen die Tribunen
-dazwischen. Nichtwählen, einen andern wählen, das war nicht möglich;
-diese Einrichtung, solches Volksrecht besteht nicht; aber jetzt, wo
-die Bürger mit ihren Klagen kommen, wie sie behandelt wurden, läßt
-sich alles noch wenden: das Staunen und die beleidigten Gefühle werden
-demagogisch zur Wut zusammengeballt, werden von den alten Glatzköpfen,
-den politischen Volkstribunen gegängelt; tumultuarisch protestiert
-das Volk gegen die Wahl, nimmt sie zurück; und es kommt zunächst zu
-dem großen Zusammenstoß zwischen Coriolan und den Tribunen. Die ganze
-Aufruhrstimmung, die durch die Einsetzung der Volksvertreter und dann
-durch den Krieg gedämpft worden war, lebt wieder auf, Coriolan spricht
-rückhaltlos, leidenschaftlich seine Meinung, seine Absichten aus, und
-keiner der klug bedenkenden Adligen tritt ihm zur Seite. Für ihn aber
-geht’s nun gar nicht mehr um den neuen Konflikt; er will gründlich
-Wandel schaffen, er wühlt das Alte wieder auf, die neue Einrichtung
-besteht ihm nicht zu Recht, das echte Rom ist ihm in seinem edeln
-Kern bedroht. Im Aufruhr sind die Tribunen eingesetzt worden; jetzt
-ist bessre Zeit, ruft er auf dem Marktplatz aus, jetzt muß ihre
-Macht wieder zertrümmert werden. Die Situation ist die, daß in dem
-Augenblick, wo es gälte, eine sehr demagogische und in ihrem Recht
-zweifelhafte, wiewohl von Coriolan herausfordernd ermöglichte Anwendung
-der neuen Macht der Tribunen abzuwenden, Coriolan Öl ins Feuer gießt
-und, was die Revolution errungen und der Senat bestätigt hatte, nach
-siegreichem Krieg durch eine Gegenrevolution wieder abzuschaffen
-vorschlägt. So sieht es aus; er aber platzt damit ganz als einzelner,
-in der schwierigsten Lage, in der er schon sowieso ist, ohne Verbindung
-mit seinen Standes- und Parteigenossen heraus. Er steht ganz allein;
-und nun soll er auf Befehl der Volkstribunen, da er sie in ihrem Amt
-angetastet und zum Staatsstreich aufgerufen hat, verhaftet werden,
-er soll, nach dem alten Recht, als Hochverräter behandelt werden.
-Freilich ist die Situation gänzlich neu, anständigerweise könnte das
-alte Recht hier nicht angewandt werden; aber die Volkstribunen haben
-ja die Szene mit demagogischen Künsten vorbereitet; sie haben ja
-Coriolans Zorn und Heftigkeit im voraus in ihre Rechnung gestellt,
-sie haben gehetzt und geschürt, und es ist noch viel besser für sie
-gekommen, als sie erwarten konnten; nun wollen sie den Moment eiligst
-ausnutzen: Coriolan, eben noch der Held und Retter, soll als Feind des
-Vaterlands, als Volksfeind vom Tarpejischen Felsen gestürzt werden. Es
-sind welche unter den Patriziern, die ganz wie er denken, die ihn im
-stillen bewundern; aber keiner will jetzt den Kampf, zu dem Coriolan
-mit gezogenem Schwert herausfordert; das Höchste, was sie für ihn tun
-können, ist, daß sie ihm zur Flucht in sein Haus verhelfen und nun
-allseitig zu begütigen, zu vermitteln versuchen.
-
-Und nun kommt es, auf einer viel höheren Stufe, in einer weit
-gefährlicheren Lage, zu demselben Versuch Coriolans noch einmal, seine
-Natur zu vergewaltigen. Die Mutter, die im Innern ganz zu ihm steht,
-ihn bewundert und seine Gesinnung völlig teilt, eine Frau, tapfer wie
-ein Mann und klug wie eine Römerin, die den Taten der Männer und ihrem
-Treiben lange zugesehen hat, überredet ihn, sich zu verstellen und
-gute Worte zu geben. Um der Sache willen soll er es tun. Die Szene,
-in der ihr dem Festen, Geraden, Tapfern, Zornerfüllten gegenüber
-diese unglaubliche und äußerste Umstimmung für den Augenblick des
-Entschlusses gelingt, ist so groß, daß auch wir überzeugt werden: ja,
-er darf es tun, er vergibt sich nichts.
-
-Wie baut sie sich auf, diese Szene! Coriolan hat schon mit der
-Mutter geredet und ist zu seinem Staunen bei ihr auf Kummer und
-Unzufriedenheit gestoßen. Jetzt kommt sie wiederum zu ihm; kaum im
-Glauben, daß noch zu helfen sei, aber mit Entschluß gewappnet, ihr
-Ganzes aufzubieten. Das ist ihr Kummer: was er toll in die Welt gerufen
-hat, hätte er tun sollen, und dazu hätte er die Macht gebraucht, und
-darum hätte er jetzt schweigen sollen!
-
-Und eminent reif ist, was sie dem Wilden sagt:
-
- Ihr konntet ganz der Mann sein, der Ihr seid,
- Bei mindrem Eifer, es zu sein.
-
-Wie es überaus klug und doch schon leicht greisenhaft drollig ist, wenn
-der gute Menenius, der dazukommt, meint:
-
- Nun, nun, Ihr wart zu rauh, etwas zu rauh;
- Kehrt um und macht es gut.
-
-Daß die Sache besser nicht geschehen wäre, sieht Coriolan allenfalls
-ein, aber es ist eben so gekommen, und er weiß nichts andres, als
-sich dreinzufinden; hängt sie! Nun, wenn der Mann nur erst einsieht,
-daß etwas besser hätte gemacht werden können; den Weg, es wieder
-gutzumachen, wird die Frau schon finden. So geht sie einen kühnen
-Schritt weiter in der Klugheit und erinnert ihn daran, wie er selbst
-auf dem Gebiet seiner Meisterschaft immer gesagt habe, die Kriegslist
-sei erlaubt. Warum nicht auch die List im Frieden? Und nun nimmt sie
-ihn ganz als ihr Kind, das sie zu unterrichten hat, und gibt ihm genaue
-Unterweisung, bis auf Gebärden und Mienen, wie er um Verzeihung zu
-bitten habe. Menenius ist ganz entzückt; er kostet gern voraus, der
-Psycholog und Feinschmecker; er kennt doch seine Römer; nichts macht
-sie glücklicher, als wenn man bittender Weise zu ihnen spricht; und nun
-gar, wenn Coriolan, der ihr Kriegsheld und ihr Schimpfheld ist, sich
-vor ihnen demütigt! Coriolan steht schweigend da und kämpft den letzten
-Kampf mit sich; sein Verstand ist überzeugt. Und wie dann Cominius dazu
-kommt und die Gefahr schildert, und wie die andern zu dem reden, als
-sei Coriolan schon gefügig, und wie Cominius zeigt, daß er an diese
-Möglichkeit nie geglaubt, nie gedacht hätte, da gibt Coriolan gerade
-nach; er sieht ein, er ist hier der Vertreter der guten Sache; damit
-er tun kann, was er geredet hat, muß er seine Rede zurücknehmen.
-
- Wohl, ich tu’s.
- Wär’ nur dies Stück Mensch hier bedroht, der Kloß,
- Der Marcius heißt, sie möchten mich zerreiben
- Und in die Winde streu’n.
-
-Aber die Sache will’s, und so preßt er sich zusammen und will das
-Unmögliche vollbringen.
-
-Aber es graut uns, wenn wir mit ansehen, was es ihn kostet, wie er sich
-quält und sich krümmt und sich beschimpft und im ehrlichen Versuch, das
-Allerschwerste einzustudieren, fast groteske Gesichter schneidet; wie
-er schließlich nur noch als folgsames Kind zur Mutter redet:
-
- Sei ruhig, Mutter.
- Ich geh’ schon auf den Markt; schilt nicht mehr, Mutter.
-
-Und nun, in schneidendster Kürze die furchtbare Wendung. Wie hat sie
-bitten, beschwören, begründen können, wie hat sie die ganze Autorität
-einer römischen Mutter geltend gemacht, solange er ungebärdig vor ihr
-stand, als einer, der die große Sache seines Lebens verdorben hatte,
-so daß sie nichts mehr vor sich sah als dies eine Mittel. Schimpfliche
-Verstellung und Demütigung für einen Augenblick; nun sei’s drum! Der
-Verstand ist so gern bereit, zum Letzten hinzustreben und aus einem
-Berg, der dazwischen trotzt, eine Stufe zu machen. Aber jetzt, wo er
-ganz nachgibt und gar nicht mehr widerstrebt, empfindet sie ein solches
-Leid in ihm, daß sie innerlich zusammenbricht und an alles nicht mehr
-glaubt, was sie gesagt hat. Sie kennt doch ihren Sohn! Weiß, wie es
-ist, wie es wird, wenn er sich Gewalt antut. Sie kann nichts mehr
-sagen: „Tu, was du willst“, bringt sie noch heraus und geht.
-
-Sie sieht in der Einsamkeit, in die sie sich zurückzieht, gewiß voraus,
-was nun auf dem Marktplatz der Männer vor sich geht. Inzwischen haben
-die Volkstribunen nicht geruht, haben die Zünfte organisiert, um
-ihren nun bevorstehenden endgültigen Richterspruch zu einmütiger
-Annahme und sofortiger Vollstreckung zu bringen. Es soll Coriolan,
-dem Volksverächter, den Hals kosten, und das Mittel, jede freundliche
-Wendung zu verhindern, kennen die Gewitzten: ihr Feind hat dafür
-gesorgt, daß seine schwache Stelle nicht unbekannt blieb:
-
- Reizt ihn sogleich zum Zorn...
- ... Braust er erst auf,
- So bringt ihn nichts zur Mäßigung.
-
-Coriolan kommt, von den Getreuen geleitet; sehr unruhig redet Menenius
-immer auf ihn ein, vor allem ruhig zu sein. Er kommt denn auch ganz
-in der beschlossenen Haltung sanfter Nachgiebigkeit. Wenn nur der
-wohlmeinende alte Menenius, um’s vollends gutzumachen, nicht anfinge,
-von seinen Heldentaten und Wunden zu den Bürgern zu reden! Da kommt
-doch sofort der Zorn wieder über ihn; vor denen da, jetzt, davon
-Rühmens machen! Wenn nur überhaupt Augen und Ohren nicht wären! Aber
-was nützt aller Vorsatz des Verstandes, wenn diese Volkstribunen auf
-seine Sinne wirken, wenn er sie nicht riechen kann? Und schon richtet
-er sich auf und stellt sie zur Rede: Was? ihn erst zum Consul wählen
-und ihm dann das Amt nehmen? Das ist aber nur ein Augenblick des
-Vergessens; sowie ihm bedeutet wird, er habe jetzt Rede zu stehen, fügt
-er sich wieder in die vorgesetzte Rolle. Und so beginnt die Anklage
-gegen ihn; und er hört das Wort Verräter. Da geht es ihm genau wie
-Sir Launcelot in Malorys englischem Artusroman; wie hat der seinen
-König schonen und sogar feig scheinen können, der Held; aber sowie
-er das Wort Verräter hört, muß er sich wappnen und kämpfen. Coriolan
-wollte mild, versöhnlich, bittender Weise reden; aber nun ist’s aus.
-Er hat sich ja nicht vorgestellt, wie es sein wird. Sagen hätte er
-schließlich alles gekonnt, sich selber zwingen; aber mit anhören, sich
-gefallen lassen? Ein Edler geht, ohne Fesseln, freiwillig, in Ruhe und
-Fügsamkeit zum Schaffot; aber wenn ihm der Henker die Hand auf die
-Schulter legt, zuckt er. Jetzt schreit Coriolan alles, alles hinaus;
-und die Erinnerung an das Versprechen, das er der Mutter gegeben hat,
-hilft nun nichts mehr. Das Wort Verräter in den Ohren zu haben, diese
-Gesellen als Richter vor sich zu haben, reißt alle Dämme ein; er bricht
-aufs furchtbarste los:
-
- Ich will nichts weiter wissen.
- Ihr Urteil sei Tod vom Tarpejischen Felsen,
- Landflüchtig Elend, Schinden, Qual im Kerker,
- Bei einem Korn des Tags, -- nicht wollt’ ich mir
- Erkaufen ihre Gnade um ein gut Wort
- Noch hemmen meinen Trotz um all ihr Gut,
- Kriegt ich’s um einen Gruß zum guten Morgen.
-
-Nein, er ist nicht der Mann dazu, jetzt ist nicht die Zeit dazu,
-planvoll zu leben; es gilt nur der Augenblick. Wer ein Ganzer ist, kann
-nicht an der einen Stelle einen Lenker, einen Vergewaltiger haben,
-der den andern in ihm mit Prinzipien und Vorsätzen beim Kragen nimmt
-und vorwärts schiebt. Das Vaterland ist zerrissen; nicht mehr ein
-einiger Stand herrscht, sondern Parteien mit ihrem Geschwätz ringen
-mit einander. Er allein ist noch ein Ganzer; er ist allein: ihn, den
-man Verräter zu nennen wagt, hat man verraten, als man dem Aufruhr
-nachgegeben hat.
-
-So wird ihm denn das Urteil gesprochen, diesmal nicht tobend gebrüllt,
-sondern in politischer Erwägung vorbereitet: Verbannung. Er aber
-steht, fortgerissen vom Zorn, von einem Zorn aber, der in nichts aus
-den Gierwünschen einer Person, der nur aus einer Gesinnung hervorgeht,
-fortgerissen und unerschüttert da. Bei diesem Anblick, empfinde ich,
-geht es uns gar nicht mehr um den großen geschichtlichen Moment, um
-den entscheidenden politischen Gegensatz, noch weniger um politische
-Analogien zwischen damals und heute, die falsch wären; es geht um den
-ewigen Streit der vereinzelten tapfern Hoheit gegen die massenhafte
-Niedrigkeit, der so alt ist wie die Welt steht. Unser Herz jauchzt
-bei seiner herrlich kühnen Antwort, wir begreifen wie zum ersten Mal,
-daß für gewisse Augenblicke der liebe Gott unsrer Zunge die Fülle
-der Schimpfworte, die zugleich zorniger Angriff und humoristisches
-Spiel, Ausgleichung der Tat und Gleichnis des Geistes sind, zur
-Entladung gegeben hat, wir sind dankbar, daß Shakespeares Sprache diese
-Barocküppigkeit der alles überschwemmenden Flut zur Verfügung hat; denn
-dieser Katarakt Coriolans kommt doch aus einer tieferen Seelenfülle als
-das Wasserleitungsplatzen des Badearztes Stockmann, des Volksfeindes
-Ibsens; sie haben den Bann über ihn ausgesprochen und nun biegt er sich
-langgereckt zu ihnen vor und spricht:
-
- Ihr bellend Hundepack! des Hauch ich hasse
- Wie fauler Moore Stank,...
- ich verbann’ euch!
- _Hier bleibt_ mit eurem zagen Hin und Her!
- Beim leisesten Gerücht beb’ euer Herz!...
- Bleib euch nur stets die Macht,
- Den, der euch schirmt, zu bannen, bis zuletzt
- Euer stumpfer Sinn, der nicht glaubt, bis er fühlt,
- Nicht einen übrig läßt als nur euch selbst,
- Die eure eignen Feinde!...
-
-Rom, dieses Rom, ist in sich selbst gebannt; Coriolan hat das Gefühl,
-nur das, was ist, ausgesprochen zu haben; und er, der einzige, der
-zum echten Rom steht, um das zu leben es sich lohnt, wandert nun in
-die Fremde. Er geht, und sie jauchzen hinter ihm her: Der Volksfeind
-ist fort, ist fort! Verbannt haben wir unsern Feind, er ist fort! Die
-Mützen fliegen in die Höhe; daß sie vor kurzem ihm als dem Befreier aus
-höchster Not zugejubelt haben, wissen sie nicht mehr.
-
-Shakespeare wäre aber nicht Shakespeare, wenn wir das Verhältnis der
-Patrizier zu den Plebejern nur von dieser einen Seite kennen lernten,
-nur so, wie der Repräsentant des Patriziats, der Patrizier, wie sie
-sein sollten, es auffaßt. Wohl steht der Held auch für die innere
-Handlung in der Mitte; von ihm aus sind die Vorgänge gesehen, die
-Geschehnisse und die Gestalten gruppiert, von ihm aus die Stimmung und
-Sympathie gewoben; dann aber zuckt unten aus dem Dunkel der namenlosen
-Menge einmal ein Licht auf, und wir sehen in andrer Beleuchtung die
-Dinge, die Coriolan nicht sieht, und hören die uralte Klage der Armen.
-Unter den Aufrührern will einer eine Rede halten und hebt zu den
-Plebejern an: „Ein Wort, gute Bürger“, da ruft einer aus der Menge
-grell dazwischen: „Wir gelten für arme Bürger, die Patrizier für gute!“
-Reichtum macht gut! Und die da droben wissen es auch gar wohl: unsere
-Armut brauchen sie nicht bloß, weil sie Überfluß brauchen; sie brauchen
-sie als Gegenstück, um ihres Selbstbewußtseins willen; sie haben die
-Distanz nötig. Wären sie grade so reich, wie sie jetzt sind, gäbe es
-aber dabei uns Arme nicht, was hätten sie dann von ihrem Reichtum?
-
- „Die Magerkeit, die uns drückt, das Bild unsres Elends ist für sie
- ein Inventarium aller einzelnen Stücke ihres Überflusses; unser
- Leiden ist ein Gewinn für sie.“
-
-Was das Opfer leidet, das ist der Gewinn und die Wonne der andern --
-haben wir so etwas nicht schon einmal, in ganz anderm Zusammenhang
-gehört? Ist das nicht der gerade in der Barockdichtung, wo das feste
-Dogma seelenhaft spielerisch von der Empfindung umrankt und umjauchzt
-wird, immer wiederkehrende Ausdruck für die Heilswahrheit des
-Christentums? Sind nicht die Armen dieses Opferlamm und ihr Blut und
-Wunden ein Hochgewinn für die Reichen?
-
-Aber auch abgesehen von so abgründlich feiner Psychologie, die mit
-einem raschen Griff das letzte Geheimnis des Privilegs entblößt, kommen
-die rein sozialen Klagen der Unterdrückten so stark heraus, daß wir
-wieder einmal merken: so ein Dramatiker sieht und empfindet zweiseitig;
-würde er von allem Anfang an und immer Licht und Schatten gerecht
-verteilen, so wäre es nicht im entferntesten so berückend als wie
-er’s macht: mit ganzer Inbrunst, wie ein tief Befangener, der einen
-Seite verschrieben, und dann, mit einem Mal, und nur immer für einen
-Augenblick, drüben, drunten, bei den andern.
-
-Als Menenius Agrippa die Plebejer besänftigt und ihnen sagt, wie
-wohlwollend die Patrizier Sorge für sie tragen, da erwidert einer
-aus dem Volk in Worten, -- nun, der Zensor behütet uns heute davor,
-entsprechende zu lesen oder zu vernehmen:
-
- „Für uns Sorge tragen! -- Ja, fürwahr! -- Sie haben noch niemals
- für uns gesorgt: sie leiden es, daß wir verhungern, wenn ihre
- Speicher vollgepfropft sind von Getreide; geben Gesetze wegen des
- Wuchers, mit denen sie den Wucherern auf die Sprünge helfen; heben
- täglich eine heilsame Einrichtung gegen die Reichen auf und setzen
- täglich mehr lästige Verordnungen fest, um die Armen zu fesseln und
- zu hemmen. Wenn uns der Krieg nicht aufzehrt, so werden sie’s tun.
- -- Und das ist die ganze Liebe, die sie für uns haben.“
-
-Ich weiß, was ich tue, wenn ich immer wieder den Blick von der Sache
-selbst auf ihren Urheber, wenn ich ihn hier von der Tragödie Coriolans
-auf ihren Dichter ablenke; denn ich möchte dieses mein Staunen auf
-alle, die mich hören, übertragen: woher hat der Unergründliche das
-alles gewußt? Über Rom wie über unsre Zustände verrät er uns Dinge,
-enthüllt er uns verborgene Zusammenhänge, die wir erst seit, erst im
-Gefolge der französischen Revolution zu wissen anfangen. Und wenn
-zum Beispiel Mommsen imstande war, uns ein Bild der Kämpfe zwischen
-Patriziern und Plebejern zu geben, das eine gewisse Farbigkeit,
-Lebendigkeit und Glaubhaftigkeit hat, so haben ihn eben die Kämpfe
-der modernen Demokratie dazu in Stand gesetzt; für diesen Anblick hat
-er aber ein gehöriges Lösegeld zahlen müssen: für das Wesentliche,
-eben für das, was Shakespeare als Tragödie dargestellt hat, hat er
-keinen Blick gehabt: er hat nicht gewußt, daß der Kriegs- und Adels-
-und Herrschergeist einmal ein Amt, eine Aufgabe, eine Würde und eine
-Hoheit gehabt hat; er hat die hohe Sendung, den seelischen Rang und das
-gute Gewissen dieser ritterlichen Zeiten nicht gekannt; und so hat er
-gräßlich banal von dem Kampf Coriolans in seiner Vaterstadt und gegen
-sie liberalisierend gemeint, diese Geschichte öffne den Einblick „in
-die tiefe sittliche und politische Schändlichkeit dieser ständischen
-Kämpfe“. Das ist, wie wenn man das Rittertum nach den Raubrittern,
-den Raubritter Götz nach dem Schinderhannes und den Schinderhannes
-nach irgend einem Dutzendmenschen aus unsrer großstädtischen
-Verbrecherklasse beurteilen wollte. Jakob Burckhardt und Nietzsche
-haben kommen müssen, um den Zusammenhang zwischen der politischen und
-sozialen und der Geistesgeschichte erst wieder herzustellen. Was sie
-aber aus der Betrachtung der Renaissance, indem sie Kunst, Geist,
-privates und öffentliches Leben zusammen nahmen, gelernt haben, das hat
-Shakespeare der Renaissancemensch lebendig gewußt: daß, was heutigen
-Tags -- auch für ihn schon genugsam heutigen Tags -- in Verfall und
-Entwürdigung Rest, Gespenst und Schmach ist, einst groß, würdig,
-geweiht und notwendig war.
-
-In der ganzen modernen Geschichte weiß ich keinen, der Shakespeares
-Coriolan in dem tiefen Grunde, wo das Wesen sich aus dem Elementaren
-aufbaut, so nah käme wie ein Mann, der einer der größten Revolutionäre
-aller Zeiten war, der Vertreter der Plebejer, obwohl ein Mann des Adels
-in jeder Hinsicht, der Graf Mirabeau, der tolle leidenschaftliche
-Feuerkopf, der doch zugleich -- wie Coriolan der größte Soldat -- so
-er der größte Politiker seines Volkes ist. Von äußerlichen Analogien
-stimmt nichts; die Zeiten und die Lagerung der sozialen und der
-psychischen Schichten zu einander haben sich geändert; die Ähnlichkeit
-liegt im elementar Wesentlichen: eine Leidenschaft so starker Art, wie
-sie sonst den Menschen verzerrt und verzettelt; hier aber der Ausdruck
-nur der unabänderlichen Festigkeit eines Kernes; ein Temperament, wie
-es sonst die persönlich Gierigen haben, hier aber Sprache und Gewand
-der Gesinnung und Sachlichkeit. Die entgegengesetzte Stellung, die die
-beiden zu haben scheinen, darf uns gar nicht täuschen: schon dieses
-Coriolan nächster Bruder, Shakespeares Cassius, hat sich in einen
-Revolutionär und zugleich Politiker gewandelt. Alle drei, Coriolan,
-Cassius und Mirabeau sind innerlich und in der explosiven Art ihrer
-Äußerung geeint: sie gehören, wie Mirabeau es einmal ausdrückt,
-zu den „starken Seelen, welche die Freiheit im Naturzustand wild
-und im zivilisierten stolz macht“, und immer wieder kommt es zu
-solchen Gegensätzen ihrer stolzen Natur zur Umgebung, daß sie in den
-Naturzustand zurückfallen und wild werden. Und die beiden, die hier
-zusammengestellt werden, Coriolan und Mirabeau, gehen doch auch in
-ihren äußeren Schicksalen einen guten Schritt zusammen; nicht bloß
-die großen Menschen, auch die Zeiten und die politischen und sozialen
-Zustände ändern zwar die Gewänder und Masken, bleiben sich im Kern aber
-gleich. Auch Mirabeau, abgesehen davon, daß er als tief Unsittlicher
-gilt -- die Heuchelei und Verbannung auf _diesem_ Gebiet ist
-eine moderne Neuerung --, und daß von seiner Nötigung, die unbändige
-Kraft der Seele und des Leibes in Geschlecht und Erotik zu üben und
-zu verschwenden, Coriolan, der Sohn einer keuschen und harten Welt,
-keinen Zug hat, auch Mirabeau ist bis auf den heutigen Tag, gerade bei
-denen, deren politischer Führer er heute noch sein müßte, als Landes-
-und Volksverräter, als Verräter seiner Sache in Acht und Bann getan wie
-Coriolan.
-
-Nun aber geht die Parallele nicht weiter, denn Coriolan erlebte seine
-Verbannung und sollte weiter leben. Er war ein politischer Feind der
-Zustände, die die Plebejer durch Aufruhr ertrotzt und die Patrizier
-in Nachgiebigkeit zugestanden hatten; er stand allein zwischen den
-Parteien, niemand wagte es, in diesem Augenblick ihm zur Seite zu
-treten und den Kampf aufzunehmen; und so benutzten seine Todfeinde, die
-Volkstribunen, ihre Macht und verwiesen ihn als Verräter des Landes.
-Nun aber, nach seiner Verbannung, macht er sich äußerlich ohne Zweifel
-wirklich zum Verräter, zum Feind seines Landes. Wie zeigt ihn uns
-Shakespeare in dieser Situation? Warum geht er zu den Volskern und
-zieht mit ihnen kriegerisch vor die Tore Roms?
-
-Wenn dieser Mann Coriolan sein Leben überblickt, dann war es seit
-langen Jahren immer so, daß er zwei Feinde hatte, mit deren einem er in
-einer Gemeinschaft des Zorns und Ekels zusammen wohnen mußte, während
-er den andern ritterlich auf Tod und Leben bekämpfte. Für die Idee
-Roms hat er dies beides getan: mit den zufälligen, in mannigfacher
-Abstufung erbärmlichen Menschenexemplaren, die sich Römer nannten,
-nicht bloß zusammengehaust, sondern sie immer wieder geführt und fast
-gewalttätig mit seinem kriegerischen Feuer erfüllt und in den Kampf
-getrieben, in den Kampf eben gegen Tullus Aufidius und seine Mannen.
-Den aber, Tullus Aufidius, den Feldherrn der Volsker, darf er achten,
-indem er mit ihm ficht, er sieht ihn als einen Ebenbürtigen, als
-den Ebenbürtigen an, als seinen Zweiten in der Welt; sie gehören zu
-feindlichen Völkern und stehn im Wettstreit um den Heldenruhm: ihrer
-Natur nach Zusammengehörige, die von den Verhältnissen zur Feindschaft
-bestimmt sind; Coriolan und die Bewohner Roms sind ihrer Natur nach
-tief Getrennte, die von den Verhältnissen zum Zusammenhalten bestimmt
-sind. Nun sind diese Bande zerrissen worden, von den Römern selbst; und
-ihre Verbindung mit der Idee Roms, die nur durch Coriolan geschlossen
-wurde, in dem sie verkörpert ist, haben sie auch gesprengt.
-
-Tief drunten, in Coriolans innerster Notwendigkeit also ruht der
-Seelenzwang, um der Idee Roms willen Krieg zu führen gegen die Römer.
-Aber Menschen von Coriolans Art, die sich so stolz auf sich selber
-verlassen und so aus dem Grunde leben, in denen alles Geistige zur
-Natur und wie zum Trieb geworden ist, leben ihr Leben, sie leben
-nicht ihre Motive. Sie handeln nicht nach Prinzipien, mit Plänen, zu
-Zielen; sie stehen im Augenblick. Daß er für Rom kämpft, wo er auch
-kämpft, ob er auch gegen die Römer kämpft, das weiß der Zornige jetzt
-nicht. Er weiß nur, daß Rom ihn ausgestoßen hat, daß Rom sein Feind
-ist, gegen den er äußersten Krieg zu führen hat, und daß einer, den
-er achtet, einer seinesgleichen gerade schon wieder angefangen hat,
-den kaum erloschenen Krieg gegen Rom aufzunehmen. Die Römer haben
-ihren Feldherrn vertrieben, obwohl der große Feldherr Tullus Aufidius
-ihnen droht; nun sollen sie sehen, diese führerlose Herde, wie sie
-allein fertig werden, wenn zwei Helden gegen sie anrücken. Coriolan
-ist mit den Wurzeln aus seinem Boden gerissen worden; da er voller
-Kraft und Zorn und Leben ist, bleibt nur übrig, zu sterben oder diesem
-Leben einen neuen Sinn zu schaffen. Seine Stadt hat mit ihm Ehre und
-Ruhm verstoßen und hat das Regiment den Krämern, den Pfuschern und
-Neidlingen ausgeliefert; er geht zu Roms Feind, zu Tullus Aufidius.
-Rache muß geübt werden; die, die ihn strafen und vernichten wollten,
-müssen gestraft und unschädlich gemacht werden; daran hängt jetzt sein
-Leben, daß er über die triumphiert, die ihn wie einen räudigen Hund
-fortgejagt haben -- die Hunde! hängt sie! --, daß er als Sieger Rom zu
-seinen Füßen sieht.
-
-Es gibt eine schöne Erzählung von Aaron Bernstein, die von dem
-Schicksal eines starken, heldischen Jünglings in der jüdischen Enge
-eines Landstädtchens berichtet. Da kommt ein wohlweiser Schwätzer vor,
-der gern zu allem seine talmudisch zugespitzten Sprüchlein macht; und
-in einer bestimmten Situation gibt er seinem Publikum das Rätsel
-auf: Warum ist Mendel Gibbor, der starke Mendel, so traurig? Aber
-siehe da, wie der Starke sich wieder sehen läßt, ist er wider Erwarten
-gar nicht traurig: es ist fast so etwas wie Lustigkeit in ihm; diese
-starken Naturen sind unberechenbar. So ähnlich könnte es uns gehn,
-wenn wir jetzt Coriolan nach allem, was wir gesehen und über seine
-Verfassung und Lage gesagt haben, nach der Ausstoßung beim Abschied
-von der Mutter, der Frau, den Freunden sehen. Er ist gar nicht zornig,
-der Zornige! Irgendwo in ihm ruht der Zorn und nährt sich; was in die
-Erscheinung tritt, ist gefaßte Gemächlichkeit und liebevoller Trost
-an die Teilnehmenden! Er hat sich ausgetobt und ist ruhig, mit einem
-liebenswürdigen Anflug von Humor; und vor allem: wie kann er zornig
-sein, da es nun seine Mutter an seiner Statt ist und da er überdies
-den Schmerz seines zarten, zagen Weibes sieht! Mutter Volumnia weiß
-gar nichts mehr davon, daß sie je mit ihrem Sohn unzufrieden war; es
-ist alles so gekommen, wie es ihre Klugheit widerraten, wie es eine
-tiefere Stimme in ihr aber unabweisbar vorhergesagt hat. Ihr ganzer
-Zorn gilt denen, die ihren edeln Sohn, auf den sie nie so stolz war,
-wie in diesem Augenblick, vertreiben. Coriolan hat nichts zu tun, als
-sie zu beruhigen. Für sich braucht er nichts mehr, keinen Zuspruch,
-keine Hilfe, kein Wüten und vor allem keine Begleitung. Er ist ganz
-gefaßt; etwas in ihm hat schon den Entschluß gefaßt. Daß er frische,
-ungebrochene Kraft in sich spürt, spricht er aus; und im übrigen:
-
- Solang ich atm’ in dieser Welt, sollt ihr
- Stets von mir hören, und nie andrer Art,
- Als je mir eigen war.
-
-Wie er aber nun weg ist, wie die beiden Frauen durch die Straßen
-Roms zurückgehen, und die beiden Tribunen ihnen, sehr gegen ihren
-Willen, in die Arme laufen, da wird auch Virginia, Coriolans stilles,
-ängstlich-schüchternes Weib, tapfer; den armen zurückgelassenen Frauen
-bleibt nichts als die Zunge; aber mit ihren leidenschaftlichen Worten
-und Wünschen sagen sie triumphierend voraus, was dann geschieht: daß
-Coriolan mit dem Schwert in der Hand seine römischen Feinde zu strafen
-kommt. Wie anders wird diesen Frauen die Wirklichkeit aussehen als ihr
-Wunsch! Sie können nur ohnmächtig und ohne Vorstellungskraft wünschen,
-Coriolans Feinde möchten gestraft werden; er aber wird’s tun, auf dem
-Wege, den die Wirklichkeit bietet, auf keinem andern; und mehr und
-mehr wird auch der Zorn, der jetzt noch schlummert, in ihm gegen die
-erwachen und wachsen, die hätten mannhaft zu ihm stehen sollen und ihn
-allein gelassen haben.
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-Als armer Mann verkleidet tritt er in Antium in das Haus seines
-Todfeindes Aufidius. Jeder Einwohner dieser Stadt hat Grund, ihn
-niederzuschlagen. Aber er fürchtet nichts; alle Gefühle hat er tief
-drunten geborgen, oben in ihm lebt nur die Verwunderung über diese
-seltsame Welt und ihre Wandlungen:
-
- Ich hasse meine Wiege, liebe nun
- Die Feindesstadt!
-
-Für ihn gibt’s nun nichts zu tun; es ist fast, als ob bloß sein Körper
-da wäre; nachdem er seinen Entschluß, es zu wagen, gefaßt hat, ist
-alles Tullus Aufidius anheimgegeben; er selber ist in der Sache nichts
-weiter wert. Schlägt der ihn gleich nieder, so hat er recht; kann er im
-Vaterlandsfeind aber den Ebenbürtigen erkennen, ist da in Antium eine
-solche Stätte des Adels und des verstehenden Edelmuts, daß Platz für
-zwei solche Gleiche ist, dann ist er, wo er jetzt hingehört: dann dient
-er entschlossen den Volskern gegen Rom.
-
-Einen Gentleman, einen Adelsmann nennt er sich, wie der Diener den
-Zerlumpten fragt, wer er sei; und es ist so, wie der Diener höhnisch
-hinzufügt: „aber ein armer“! Auch in Lumpen ein Adliger, auch als
-Landesverräter ein Ritter, das ist Coriolan.
-
-Und dann steht er dem Feind gegenüber und offenbart sich ihm kühn.
-In diesem Augenblick kommt, für uns wie für ihn, zum ersten Mal klar
-heraus, was ihn über diese Schwelle gebracht hat: er spielt ~Va
-banque~. Irgendwie weiterleben und warten, bis die etwa da drinnen
-in Rom sich anders besinnen und ihn gnädig zurückberufen, das kann er
-nicht. Entweder -- oder. Entweder ist Tullus Aufidius zu dem Großen,
-Herrlichen imstande, dessen er sich von ihm versieht; dann auf zur
-Rache! Oder er, der Heimatlose, ist allein und waffenlos in die Stadt,
-in das Lager, in das Haus des Todfeinds gegangen: dann hat er den Tod
-gefunden, den er sucht.
-
-Der Römer bietet sich dem Feinde seines Vaterlands als Bundesgenossen
-an: Coriolan übt Verrat! Die Worte klingen, als bezeichneten sie
-eine ärgste, eine viel schlimmere Vergewaltigung des Edlen gegen
-sich selbst, als er sie früher zweimal versucht hat; zuerst, als er
-Consul werden wollte, das war fast harmlos gegen das Zweite, das sich
-daraus ergab, den furchtbar gescheiterten Versuch, den reuigen Sünder
-vorzustellen und Verachteten Achtung vorzumachen. Das hat ihn in die
-Verbannung getrieben; ist er jetzt bei der dritten, der äußersten
-Gewalttat gegen sich selbst? Sicher ist, damals litt er gräßlich
-darunter, daß er sich anders geben sollte, als er ist; jetzt ist er
-seinem eignen Gefühl von sich selbst nach in höchster Lust mit sich
-eins. Das offenbart sich uns in der Ruhe, der Größe, der Freiheit
-seiner Rede. Wer so dasteht, wie der Mann in diesem Moment, und sich
-Aug in Auge dem Tode stellt, wer Tage und Nächte einsam gewandert
-ist, mit keinem andern Gedanken als diesem Ziele zu, vor dem er jetzt
-steht, dem ist Rom, Vaterland und alles, was Namen führt, wie Kleid und
-Schuppen abgefallen, er steht nackt da in der Natur seines Heldentums
-und seiner ungebrochenen Kampflust, als einer, der voller Leben ist und
-zu sterben bereit ist. Ja, in diesem Augenblick lebt kein Rom in ihm,
-hat keine Mutter ihn geboren; er hat kein Vaterland, ist losgelöst von
-allem, wovon der Mensch sich nur freimachen kann, ohne aufzuhören, er
-selbst zu sein; und wüßten wir das nur, daß alles andre als eines, dem
-wir uns ergeben, in jedem Augenblick frei von uns gewählt und ergriffen
-wird, wie viel inniger, wie viel mehr wir selbst würden wir unsrer
-Sache uns hingeben! Er hat nur noch dies eine: seine heldische Natur;
-ein Schwert hat er und weiß einen Feind. So steht er vor dem Mann, der
-ihm zum Tod oder zu seiner allein noch gebliebenen Bestimmung helfen
-soll, und spricht:
-
- Nicht in der Hoffnung,
- -- Verkenn mich nicht -- mein Leben zu erhalten;
- Scheut’ ich den Tod, wohl keinen in der Welt
- Hätt’ ich geflohn wie dich; nein, bloß aus Trotz,
- Um völlig quitt zu sein mit den Verbannern,
- Steh’ ich vor dir nun da...
- Denn -- ich kämpfe gegen
- Mein krankes Vaterland mit der Erbittrung
- Von allen Höllengeistern. Doch wofern
- Du es nicht wagst und, mehr das Glück zu proben,
- Satt bist, so hör’s mit einem Wort: auch ich
- Bin fortzuleben herzlich müd und biete
- Die Kehle dir und deinem alten Grimm...
-
-Man braucht gar noch nicht in Betracht zu ziehen, daß Aufidius und sein
-Volk ein hohes Interesse daran haben, ihren furchtbaren Feind in ihren
-Dienst zu ziehen, Roms Helden und den Führer der gekränkten und auf
-ihre Stunde harrenden Adelspartei als Feldherrn im Kampf gegen Rom zu
-gewinnen; all solche Erwägungen kommen später entscheidend zur Geltung;
-für jetzt ist Aufidius von diesem tragischen Geschick und dieser
-tragischen Größe menschlich erschüttert:
-
- Mein Marcius --
- bricht er aus --
- Und hätten wir nichts gegen Rom, als daß
- Es dich verbannt, wir wollten alle mustern
- Vom zwölften Jahr zum siebzigsten und wütend
- Ins tiefste Mark des undankbaren Roms
- Wie kühne Flut einbrechen.
-
-Wie wäre es gegangen, wenn nicht die hohe Erschütterung, wenn die
-niedrigen Elemente die Entscheidung hätten treffen sollen und wider
-einander gestritten hätten: kluge Politik und eingefressener Haß?
-Keine leichte Wahl; und so sind denn auch diesmal die Interesse- und
-Haßpolitiker in Rom, die beiden Volkstribunen beim ersten Eintreffen
-der Nachricht nicht gleich einig. Der eine meint: sehr wahrscheinlich;
-das leuchtet ihm erschrecklich ein; der andre aber glaubt’s nicht; er
-glaubt nicht daran, daß die Klugheit über den Haß gesiegt habe:
-
- Er und Aufidius sind nicht mehr versöhnbar,
- Als wie der ungeheu’rste Widerspruch.
-
-Was da in Antium zwischen den beiden Helden vorging, war nicht das
-Wahrscheinliche, wie die Niedrigkeit nachrechnete, und war nicht das
-Unmögliche, das die andere Niedrigkeit aus dem eigenen Hasse erschloß;
-es war das Überwältigende.
-
-Und schon kommt Coriolan wie ein Wetterstrahl schnell und zündend
-bis vor die Tore Roms, ganz in Rache eingehüllt, er weiß von nichts
-anderm mehr, hat keinen Gedanken, kein Ziel, keine Vorstellung des
-Nachher; „eine Art von Nichts“ nennt er sich, und damit wissen wir
-schon, wie er sich bei den Volskern vereinsamt, unter Feinden und ganz
-fehl am Ort vorkommen würde, wenn er zur Besinnung käme. Nicht einmal
-einen Namen hat er mehr; Cajus Marcius? er darf nicht daran denken,
-zu welchem Geschlecht er gehört, wo er gegen die Stadt seiner Väter,
-seiner Mutter, seiner Frau und seines Sohnes zieht; Coriolan? das ist
-der Name, der Schimpf und Hohn für seine, ach ja, für seine Freunde in
-sich birgt. So fühlt er sich als einen aus der Menschheit Gestoßenen,
-Namenlosen,
-
- Bis er sich selbst geschmiedet einen Namen
- Im Brande Roms.
-
-Rom, die Stadt der Plebejer und der feigen Patrizier, die zugesehen
-haben, wie sein Held und Retter ausgetrieben wurde, soll brennen.
-
-Wie haben da inzwischen die Stimmungen gewechselt; wie sieht’s da jetzt
-aus! Wie die Boten die furchtbaren Nachrichten immer bedrohlicher
-bringen, ist die erste Wirkung eine innerpolitische: wie erheben die
-Patrizier, die sich ehrlich für Coriolans Freunde halten, deren Sache
-er geführt hat, die ihn aus Politik allein gelassen hatten, wie erheben
-sie das Haupt; was für eine kühne Sprache findet nun der bedächtige
-Menenius Agrippa! Ihr habt’s schön gemacht! Ihr seid schuld! Derlei
-bekommen nun die Tribunen mit derbem Schimpf und Spott zu hören. Und
-die Volkstribunen lassen die Ohren hängen und werden immer kleinlauter;
-und das Volk kommt in Angst; dem ist jetzt, als ob es gleich sehr
-ungern in Coriolans Verbannung gewilligt hätte. Coriolans Fluch, der
-den innern Zustand des Volks und seiner politischen Führer beschrieben
-hatte, will äußerlich in Erfüllung gehen. Aber dann, wie die Gefahr
-immer entsetzlicher wird, klingt aus den bösen, aufgebrachten Reden
-der Patrizier doch auch schon die Angst durch, und es kommt dahin,
-daß angesichts der Gefahr der Parteistreit zurücktritt: die Stadt
-muß gerettet werden. Aber wie? Zu verteidigen ist da nichts, wenn
-Coriolan vor den Toren steht, statt als Schützer auf den Wällen. Er
-muß zurückgerufen werden; er muß gebeten werden, abzuziehen; er muß um
-Schonung angefleht werden.
-
-Der Konsul Cominius versucht’s; umsonst. Coriolan weiß nichts andres
-als: Rom muß brennen. Hängt sie! hatte er, wie gewohnt, einmal unwillig
-vor sich hingebrummt; und die Mutter, um ihn freundschaftlich mahnend
-zur Besinnung zu bringen, hatte ironisch fortgesetzt: Und brennt sie!
-Nun soll Ernst daraus werden; Coriolan hat den roten Blick und sieht
-nichts mehr vor sich als Flammen. Cominius erinnert ihn wohl an seine
-nächsten Freunde und Angehörigen; er aber ist in der Verfassung des
-Würgengels, der keine Schonung, keine Unterscheidung mehr kennt:
-
- Torheit
- Wär’s, kränkenden Gestank nicht zu verbrennen
- Um ein, zwei Körner willen.
-
-Und der alte Menenius ächzt, wie er das hört: Eins von den Körnern bin
-ich; und seine Mutter, sein Weib, sein Kind! Für diese Volkstribunen
-sollen wir mitverbrannt werden!
-
-Er will’s aber, auch weil diese alten Männer, die Volksvertreter,
-jetzt so verschüchtert und manierlich bitten können, versuchen, ob ihm
-nicht glückt, was der Feldherr Cominius nicht über Coriolan vermocht
-hat. Er ist ein Pfiffiger, der alte Mann, und eitel dazu, und mit so
-einer Art physiologischer Psychologie redet er sich ein, man müsse nur
-den rechten Augenblick wählen, vielleicht habe Coriolan nüchtern vor
-dem Frühstück abgelehnt, was er ihm nach dem Mittagessen gutgelaunt
-bewilligen würde.
-
-Aber da urteilt die kleine feine Klugheit -- oder die Angst, die sich
-etwas einreden möchte, woran sie selbst nicht glaubt; die vehemente
-Glut des ungestümen Mannes Coriolan zwingt noch mehr unter sich als die
-Funktionen des Leibs. Er hat ein für allemal den Befehl gegeben, keinen
-aus Rom mehr vorzulassen; die da drin -- alle! -- sind schuld, daß er
-nun nicht mehr kann, wie er will, selbst wenn er umkehren wollte. Jetzt
-geht’s nicht mehr bloß um die Rache; die Ehre verlangt’s, daß er denen
-Treue hält, in deren Dienst er getreten ist. So schickt er auch den
-Menenius heim, der trotz aller Abweisung nicht weichen wollte und dem
-er in den Weg gelaufen ist:
-
- Weib, Mutter, Kind, sind fremd mir. Meine Pflicht
- Ist andern dienstbar. Hab’ ich schon zur Rache
- Besondres Recht, liegt die Vergebung doch
- Im Volskerherzen.
-
-Da ist der Zwiespalt; darum kann er nicht denken, sich nicht zureden
-lassen; das ist jetzt seine Härte. Er ist nie ein Mann des Triebs und
-der Laune gewesen; so sehr ihn die Leidenschaft verdüstern, umdunkeln
-kann, sie ist nie ohne Gesinnung in ihm; aber haben sie ihn nicht
-vaterlandslos und zum Landsknecht, zu fremden Landes Knecht gemacht? Er
-kann nicht mehr wie er -- gar nicht will -- -- sie sollen’s büßen.
-
-Eine so hohe Stimmung, die aus der erhabenen Öde gänzlicher
-Beziehungslosigkeit kam, wie Coriolan, als er zuerst vor Aufidius
-stand, sie hatte, kann nicht dauern, wenn der Mann erst, sei’s auch
-um dieser Stimmung willen, in die mannigfachen Bindungen des Lebens
-wieder eingegangen ist. Jetzt zerfällt Coriolan schon lange wieder in
-die obern und untern Bezirke, in das, was er denkt und sagt, um bei dem
-zu verharren, was er als den neuen Coriolan in die Welt getrotzt hat,
-und in jenes andre, was von innen erwacht, von außen alt und neu ihn
-mit vertrauten Stimmen ruft und was er, solange es irgend geht, nicht
-hochkommen läßt.
-
-Daß das kein Zustand ist, in dem der Edle bleiben kann, daß seine
-Verhärtung wegschmelzen muß, sowie gegen die künstliche Macht der
-Soldatentreue eine natürliche und ideale Macht ausrückt und unsäglich
-seelenvoll zu ihm spricht, das fühlen wir voraus.
-
-Und so sind wir bereitet zu einer der strahlendsten, innigsten,
-höchsten Szenen der gesamten dramatischen Literatur. Die Frauen
-kommen: seine Mutter; sein zartes, unkriegerisches Weib, sein „holdes
-Schweigen“, Virgilia die Sanfte, die neben ihm, dem Rauhen steht, wie
-Desdemona neben Othello; und den Knaben bringen sie mit, der sein
-Ebenbild ist. Und dazu bringen sie ihm, was mit Cominius dem Feldherrn
-und dem klugen Staatsmann Menenius Agrippa nicht mitgekommen war: das
-Vaterland.
-
-Sie kommen in Trauergewändern. Sie beugen sich, sie blicken zum
-Erbarmen auf ihn; sie knien hin; sie kommen näher. Sonst wohl, wenn
-einer aufs tiefste erschüttert ist, braucht bloß das Wort, das das
-Erlebnis ausdrückt, noch dazuzukommen, und schon fließen unhemmbar die
-Tränen. Der starke Coriolan macht’s umgekehrt; er klammert sich an
-Aufidius, der bei ihm im Zelt ist, und wiederholt dem und sich selbst
-alles in Worten, was seine Sinne gewahren, was auf sein Herz eindringen
-will; die Worte der Beschreibung sollen sich verbinden mit Worten des
-Gelöbnisses -- vor sich selbst und dem Oberfeldherrn der Volsker --,
-sollen ihn binden: nein, er wird nicht nachgeben. Und schnell, die
-Sprache ist dazu da, verwandelt er alles, was wie Trotz, Eigensinn,
-Gebundenheit aussehen könnte, in Gesinnung, in Freiheit, in das Prinzip
-der völlig ungebundenen, individualistischen Selbstherrlichkeit;
-gewaltsam, mit Worten, will er sich an den Ursprung des neuen Coriolan,
-des Namenlosen, an die Stimmung der weltverneinenden Öde anbinden; was
-geht ihn noch das Vaterland an? muß er, ein Mann, ein Ausgetriebener,
-ein vom Schicksal Adoptierter, noch Weib und Mutter kennen?
-
- Laß die Volsker
- Rom pflügen und Italien eggen, nie
- Folg’ ich wie’n Gänslein dem Instinkt; ich stehe,
- Als wär’ der Mensch Urheber seiner selbst
- Und keinem sonst verwandt.
-
-Aber dann klingt die Stimme seines Weibs: Mein Herr und Gatte! und
-die Mutter blickt ihn stumm an; da will er zwar im Öffentlichen ganz
-unnachgiebig bleiben; aber dies holde, lang entbehrte Weib wird er
-doch küssen dürfen; der Mutter den Gruß der Ehrerbietung zollen? Das
-erlaubt die Sache; und Aufidius geht’s ja wohl nichts an. Er preßt
-Virgilia ans Herz; er beugt das Knie vor der Mutter.
-
-Da heißt sie ihn aufstehn. Und dann beugt sie die stolzen, steifen
-Knie, und kniet vor ihm hin auf dem harten Stein, und spricht dabei
-bitter, scharf, mit einer Stimme, die noch härter als Stein ist, von
-der „Huldigung neuer Art“,
-
- die bisher ganz falsch verteilt
- War zwischen Kind und Eltern.
-
-Die Welt ist ja verkehrt worden; man muß sich danach richten und
-muß auf seine alten Tage umlernen: der Römer kämpft jetzt gegen die
-eigne Stadt, die Weib, Kind und Mutter birgt; so ist ja wohl auch das
-Grundprinzip der Republik, die Familie und die Oberherrschaft der
-Eltern aufgehoben: die Mutter, die den frühverstorbenen Vater vertritt,
-bittet das Kind!
-
-Wie ist diese große Frau immer dieselbe, und wie wechseln die
-Situationen und damit ihre äußere Stellung zum Sohn! Das erste Mal die
-herbe Unzufriedenheit, mit Angst gepaart, und die klug unbedenklichen
-Ratschläge, an deren Befolgung sie im geheimsten nicht zu glauben
-vermag; dann, wie er in der Tat gegen all ihren Rat und Unterricht
-und gegen seinen Vorsatz dem Willen seiner Seele gefolgt ist und
-schrankenlos seine Wahrheit herausgerufen hat, der Stolz, die Liebe,
-der Haß gegen seine Feinde in Rom, der Wunsch, er möchte sie ausrotten;
-und jetzt der letzte Versuch, die Stadt vor seinem tauben Grimm zu
-retten. Und immer um Roms, immer zugleich um seinetwillen, in dem Rom
-sich verkörpern soll!
-
-Und sie hebt zu bitten an; dem Inhalt nicht nur, auch der Disposition
-nach getreu nach dem Bericht Plutarchs; wer aber Shakespeares Seelen-
-und Sprachgewalt an einem ganz großen, wunderbaren Beispiel kennen
-lernen will, der soll diese Rede Volumnias in Plutarchs und in
-Shakespeares Fassung neben einander halten.
-
-Sie hält ihm, auf ihre Trauerkleider weisend, die Situation vor, die
-er kennt; das ist ihre stärkste Waffe, daß sie ihm nichts sagt, was er
-sich nicht selbst sagt. Vorhin hat er sich noch stark machen können,
-indem er, was seine gerührten Blicke sahen, in Worte versteckte;
-jetzt wickeln ihm die Worte einer Stärkeren, Redegewaltigeren nicht
-bloß seine Eindrücke wieder aus der Umhüllung aus, sie drehen ihm das
-Herz in der Brust herum. Was wird das Los dieser Frauen sein, wie die
-mörderische Schlacht auch ausgehe? Wenn er besiegt als Gefangener nach
-Rom kommt? Wenn er Rom in Trümmer gelegt hat? Und Frau, Kind und Mutter
-in den Tod getrieben? Ja, in den Tod!
-
- Denn ich, ich, Sohn, denk’ nicht zu warten, bis
- Der Krieg entschieden -- --
-
-über den Leib seiner Mutter hinweg wird er zum Angriff auf Rom
-schreiten müssen.
-
-Und Virgilia, die schon früher gezeigt hat, wie ihr im Augenblick der
-Entscheidung Sprache und Tapferkeit kommt, fällt ein und erklärt für
-sich, schnell, kurz, eh’ die Tränen quellen, dasselbe; und der kleine
-Bursch, sein Sohn, redet drein:
-
- Mich soll er nicht treten;
- Ich lauf’ fort, bis ich größer bin, dann fecht’ ich!
-
-Das soll ein Mensch mit anhören, von Mutter, Frau und Kind? Er
-steht auf und will gehn. Die alte Römerin aber hält ihn fest. Die
-Mutter hat gesprochen und hat nichts mehr zu sagen. Sie hat ihm die
-Naturnotwendigkeit der Umkehr gemeldet; jetzt spricht die Politikerin
-und zeigt ihm die Möglichkeit, den Ausweg. Römer und Volsker sollen
-einen dauernden Frieden schließen; das soll sein großer Ruhm sein: die
-beiden Völker zu versöhnen. -- Und das Höchste und Letzte, was auf
-einen edeln Mann wirkt, fügt sie hinzu:
-
- Hältst du es ehrenhaft für einen Edlen,
- Der Kränkung stets zu denken?
-
-Er schweigt, schweigt immer noch, er kehrt sich ab, er kämpft furchtbar.
-
-Und wiederum knien die Frauen. Und nun umtönt ihn nur noch ein Wort, in
-immer neuen Wendungen: Rom!
-
-Und endlich hat die Mutter, hat die Sprecherin des Vaterlands, das mehr
-und andres ist als die zufällig gerade lebenden und sich vergehenden
-Einwohner, als alle Gemeinheit einer beliebigen Summe, sie hat gesiegt.
-
- O Mutter, Mutter!
-
-Mit diesem Wehruf gibt er nach. Was dann fieberhaft aus ihm redet, zu
-Aufidius, daß der’s doch einsehen müsse, daß es nun zu einem günstigen
-Frieden kommen werde, und alle Ausrufe der Erregung und Entzückung, das
-ist nicht er selbst. Einer in ihm kennt sein Geschick, ahnt gar den Weg
-schon, auf dem es kommen kann.
-
-Es kommt durch Aufidius. Einmal, als der Mann sich dem Manne gestellt,
-zu Tod oder Blutbrüderschaft, war über den die große Überwältigung
-gekommen. Zu mehr, zu einer Wiederholung und Umkehrung ist er nicht
-imstande. Zudem war das Verhältnis nicht so geworden, wie er sich’s
-gedacht: neben dieser überragenden Natur, neben Cajus Marcius
-Coriolanus ist er für seine eignen Landsleute immer nur der Zweite
-gewesen, und die Eifersucht hat schon an ihm genagt. Was da gekommen
-ist, was diesen „Coriolan“, der nun alles wieder vergessen und Römer
-werden will, so ergreift, was geht’s ihn an? Zu ihm hat Rom nicht
-gesprochen; seine Mutter ist Volumnia nicht. Verschärft ist da, was in
-Jahren des Krieges zwischen ihnen war: Feindschaft auf Leben und Tod.
-Es ist kein Krieg; aber der Feind ist in seiner Gewalt.
-
-Es fällt ihm leicht, gegen den „zwiefachen Verräter“ eine Verschwörung
-zustandezubringen. In dem aber, den sie so nennen, ist kein Funke böses
-Gewissen und kein Hader mit sich selbst. Seltsame Stille ist in ihm
-eingezogen. Nicht die unheimlich auf einen Punkt gespannte Gefaßtheit
-von ehedem; eine fast wohlige Entspannung scheint es zu sein. Wie
-süß ist es, zumal für diesen adligen Mann, in dem Unbändigkeit und
-Sachlichkeit so persönlich beisammen sind, sich überwinden zu lassen,
-sich gefangen zu geben; wie verwunderlich wieder, daß sich noch einmal
-alles umgekehrt hat und daß er, der Kriegsmann, jetzt die beiden
-Völker, denen er nun beiden angehört, zu einer dauernden, zu einer
-neuen Art Frieden bringen soll. Wie traumbefangen, wie einer, der
-leise auftritt, um das Schicksal und sich selbst nicht zu wecken,
-tut er alles, was die neue Pflicht ihm auferlegt. Die Zeit des Zorns
-scheint ganz für ihn vorbei; er geht vor, als könne noch alles sehr
-gut werden. Er verläßt die Volsker nicht; er denkt nicht daran,
-sich in Rom vor ihnen zu bergen; keineswegs verrät er sie im groben
-Sinne; er verhandelt mit den Römern als der Mann, der zur Vermittlung
-berufen ist, aber er geht davon aus, daß Rom wehrlos und daß er der
-Volskergeneral ist: was er den Volskern bringt, ist eine Demütigung
-Roms, freilich nicht die Vernichtung; es ist ein Vergleich, der Frieden
-für immer stiften soll. Er ist nicht mehr ein Kind seiner Zeit; er
-geht vor, als sehe er Möglichkeiten, an die sonst keiner glaubt; aber
-es sind nicht seine Gesichte, es ist ihm von sanftem, festem Zwang
-auferlegt worden wie in tiefe Schlafbetäubung hinein; er bewegt sich
-wie in seliger Zeitlosigkeit oder wie in ferner Zukunft wiedergeboren
-oder wie einer, der schon im Schatten des Todes steht. Es geht zu Ende
-mit ihm: sein Schicksal war entschieden, als er sich Roms Feinden
-verbündet und, ohne daß er’s wußte, sein Herz in Rom gelassen hatte.
-Damals hatte er sich Tullus Aufidius zum Tode gestellt; Aufidius und
-der Tod sind jetzt da.
-
-Volumnia konnte als Retterin und Erlöserin Roms, als Mutter Coriolans,
-von Jubelrufen umbraust, in Rom einziehen; bald darauf wird Coriolan
-bei den Volskern, denen er den Friedensvertrag gebracht hat, von der
-Schar der Verschworenen, die Tullus Aufidius führt, ermordet. Er
-war ihnen zu gefährlich, war auch ihnen zu groß, stand unter ihnen
-erst recht als ein Fremder da. Er war aus Rom und damit aus der Welt
-gebannt; als einer, den die Welt gebraucht hätte, den die Welt nicht
-dulden konnte, liegt er nun tot zu Boden. Sowie er nicht mehr auf den
-Füßen steht, sowie sein Schritt ihnen nicht mehr in den Ohren weh tut
-und seine stolze Sprache, sowie sie in dem Leichnam, der da liegt,
-nur das Bildnis des Helden vor sich haben, dieses adligen, stolzen,
-wunderschönen Mannes, da erkennen sie, daß ein Großer gefallen, der
-Kleinheit dieser Welt zum Opfer gefallen ist. Unter den Klängen
-eines strahlenden Totenmarsches wird sein Leichnam aufgehoben und
-fortgetragen.
-
-Diese Totenmusik, das Heldenleben, wie es Shakespeare gestaltet
-hat, ist wirklich zu Rhythmen und Melodien geworden in der
-Coriolan-Ouvertüre Beethovens, die freilich durch äußern Zufall zu
-irgend einem andern Drama Coriolan komponiert wurde, in Wahrheit aber
-ganz Geist vom Geiste Shakespeares ist, der in diesem Römerdrama -- ich
-wiederhole die Worte -- in die Seele der Geschichte hineingeleuchtet
-hat, indem er die Geschichte einer Seele gab.
-
-
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-König Zymbelin und Das Wintermärchen
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-Gewiß würde jedes der beiden Stücke, die ich hier zusammenstelle, eine
-besondere und eingehende Behandlung verdienen, das reichverzweigte und
-an seltsamen Schönheiten reiche Drama, dem König Zymbelin den Namen
-gegeben hat, und erst recht das tiefe und entzückende Wintermärchen;
-aber sie sollen gemeinsam behandelt werden, weil mir daran liegt, die
-Betrachtung fortzusetzen, die ich im Anschluß an Perikles und Timon
-begonnen habe. Zu einer solchen Zusammen- und Gegenüberstellung der
-beiden Stücke laden schon die Herausgeber der ersten Folioausgabe ein:
-sie haben Zymbelin an den Schluß der Tragödien und das Wintermärchen
-an den Schluß der Komödien gestellt; zu was für Betrachtungen kann
-dieses Verfahren schon an der Schwelle Veranlassung bieten! Denn die
-Stücke sind alle beide nicht einzuordnen; die Herausgeber betätigten
-aber in ihrer Reihenfolge auch diesmal einen feinen Sinn; Zymbelin ist
-eher eine Tragödie, das Wintermärchen eher eine Komödie zu nennen.
-Zymbelin aber ist aus zwei Stoffen zusammengesetzt, die der weniger
-seltsame frühere Shakespeare alle beide in der Komödie behandelt hätte:
-die Gegenüberstellung des verderbten Hoftreibens und des romantisch
-natürlichen Hausens in Wald und Höhle, wie sie so ähnlich in Wie es
-euch gefällt behandelt wurde; und andrerseits die Charakterkomödie
-von dem Ehemann, der mit der Wette über die Treue seiner Frau in
-mannigfachem Sinn sich selbst betrügt. Dagegen mutet die Haupthandlung
-des Wintermärchens ganz wie die Vorlage zu der großen Tragödie der
-Eifersucht an; und doch ist es wahr, daß der Dichter aus diesem
-düsteren, schneidenden Stoff das gemacht hat, was schon der Titel
-uns an Stimmung vermittelt: ein Wintermärchen, ein Spiel, das schwer
-lastende Umstände mit Heiterkeit überwindet.
-
-Zymbelin steht nach Sprache, Ernst der Durcharbeitung und Anlage der
-Charaktere, nach der Menge auch der rund gesehenen Gestalten weit
-über Timon (von Perikles gar nicht zu reden); aber dennoch ist es mir
-das bedeutendste und dazu seltsamste der Stücke, in denen Shakespeare
-eine Ergründung des inneren Lebens, der geheimen Menschlichkeit, des
-Seelenwesens der Gestalten höchstens begonnen, angelegt, skizziert,
-aber nicht vollendet hat.
-
-Ferner gehört dieses Drama wie Perikles und Timon in die Reihe der
-späten Stücke, in denen die Handlung besonders stark als Gelegenheit
-zur Weisheit benutzt wird: hier dient sie fortwährend zu herrlich
-tiefen und scharfen Reden und Aussprüchen über das Verhältnis von Natur
-und Hof als dem Gipfel von Unwahrheit, Künstlichkeit und Entartung,
-zu Satire und Polemik, wie zum Lob der Einfachheit, des Land- und
-Hirtenlebens.
-
-Wie Perikles (nicht wie Timon) hat überdies Zymbelin eine reiche,
-romantische und romanhafte, dramatisch kaum zu bewältigende, epische,
-märchenhafte, bunte Handlung; an die Stelle der Intensität der
-Seelenergründung ist die Extensität des geradezu fabelhaften Reichtums
-der Motive, die angeschlagen werden, getreten.
-
-Diese Art Stücke, und keines so wie Zymbelin, geben überdies
-dem Schauspieler gerade dadurch, daß das innere Wesen angelegt,
-aber nicht ausgeführt ist, Gelegenheit, durch eigene Erfüllung
-die Skizze des Dichters zum vollen Menschenbild zu ergänzen. Die
-Gedächtnisschwierigkeiten, die dieses Stück dem Leser und seiner
-unsinnlich arbeitenden Phantasie bietet, sind auf der Bühne, wenn der
-Regisseur mit scharf herausgearbeiteten Masken, Redeweisen, Kostümen,
-Schauplätzen seine Schuldigkeit tut, gar nicht vorhanden; und so
-könnte und müßte das Stück, wenn nur unsre Bühnen nicht mit Feigheit,
-Trägheit, Schlendrian und neuerdings sogar Glauben an den Philologen
-behaftet wären, eine ganz ungeheure Theaterwirkung tun und überdies
-Seeleninnigkeit wie Leidenschaftsgewalt wie stark eindringlichen
-Gegensatz der Sphären und Naturen in einer tollen Folge von Szenen, für
-die der Stil zu finden wäre, wundervoll zur Geltung bringen.
-
-Das Wintermärchen dagegen ist -- wenn wir vom Sturm als etwas einzigem
-absehen -- das Stück, das mit dem späten Stil Shakespeares, mit
-der seltsamen Verbindung von Sinnenschmaus und Sinnspiel, mit der
-Verwandlung der Tragödie in Spiel und romantische Ironie und mit
-der Weisheit und Polemik des Elements, das ich Sprache nenne, eine
-in Knappheit und Sicherheit unerhörte, ganz genialische Kunst der
-tiefen Charakteristik verbindet. In einem Teil der Handlung werden
-dabei aber die letzten Konsequenzen dieser Seelenenthüllung nicht so
-gezogen, wie es sonst Shakespeares Art ist: für einen früheren Stil
-Shakespeares hätte die Art, wie der Charakter des Königs Leontes
-angelegt ist, unweigerlich den äußern Untergang als Ausdruck der
-innern Unmöglichkeit, das Leben weiterzuführen, bedungen. In diesem
-tiefsinnigen Märchenspiel aber sehen wir den neuen Ausdruck der
-Tragik, von dem wir schon gesprochen haben und zu dem Shakespeare
-überleitet, in einer vollendeten Gestalt ausgebildet. König Leontes
-stirbt in der Tat, stirbt, wie seine Frau Hermione von ihm unschuldig
-in den Tod geschickt wurde, und ist tot, solange sie ihm und der Welt
-tot ist; er ist der Welt abgestorben; aber dieser Tod ist ein Tod
-im Leben, ist Erneuerung, ist Buße, ist Wachstum und Umkehr. Hier
-ist für Shakespeare der Weg vollendet, auf dem er die Gattung seiner
-eigenen großen Tragödie überwand und durch die starre, schon aus der
-Antike überlieferte Schablone eine Bresche schlug und Freiheit für
-die Dichter unsrer und der künftigen Zeiten schuf. Mit Ende gut,
-alles gut, mit Maß für Maß, mit Perikles, ja schon mit dem Kaufmann
-von Venedig und auch mit Troilus und Cressida hatte er diesen Weg
-beschritten: die Tragik ihren Gipfel und ihre Überwindung nicht in
-dem von der Antike überlieferten gewaltsamen Tod, sondern in der
-Erneuerung und Steigerung des Lebens finden zu lassen. Der Sturm ist
-diesem neuen Shakespearedrama, ist dem ganzen Werk Shakespeares die
-Krönung und Verklärung. Aber nicht nur einen Wesenszug der alten
-Tragödie, eine Gattung der Dichtung und Kunst erschüttert und wandelt
-Shakespeare mit diesen Werken; mit ihnen hebt er eine Reformation an,
-die größer ist als sein Werk und größer auch als das Werk Luthers, das
-wir die Reformation nennen. Er beginnt das Werk, das unsre deutschen
-Frühromantiker mit allzu schwachen Kräften als Shakespeareepigonen
-aufnehmen wollten: auf den Wegen der Kunst und des Spiels, mit dem, was
-romantische Ironie heißt, die Stellung des Menschen zum individuellen
-Leben umzugestalten. Das war es, was einen der Kunst und dem Spiel so
-fernen, so abgründlich ernsten Mann wie Fichte in engste Beziehung und
-Bundesgenossenschaft zur Romantik brachte: die Leugnung des Ich als
-einer ans Leben gebundenen, vom Tod zerstörbaren Substanz. Auf dem Weg
-zu einer neuen Religion, einer neuen Praktik, einer neuen Gestaltung
-des Lebens, der einzelnen wie der Gesellschaften, eines neuen Lebens
-der Menschheit, für deren Empfinden der Tod von Individuen eine
-nebensächliche Angelegenheit geworden ist, bedeutet dieser Romantiker
-Shakespeare eine wichtige Etappe.
-
-Eine vollendete Gestalt für den neuen Ausdruck oder die Überwindung
-der Tragik habe ich das Wintermärchen genannt, werde ich den Sturm
-nennen können. Das war Shakespeares Vollendung auf diesem Weg; die
-Kunst aber kennt allewege mehr als einen Gipfel der Vollkommenheit. Die
-Reihe Stücke, die ich genannt habe und die Shakespeare über mancherlei
-schwache Stellen und Irrpfade so hoch und rein hinauf geführt haben,
-sind, so viel Herrlichkeiten sie bergen, doch nur Anfänge und
-Verheißungen. Sie geben uns die Gewähr, daß -- gleichviel wann, in ein
-paar hundert oder ein paar tausend Jahren -- noch einmal ein Dramatiker
-kommen kann, der so Shakespeare hinter sich läßt, wie der bis jetzt
-der größte aller Dramatiker ist, die der griechischen Antike nicht
-ausgenommen. Fragen wir im lebendigen Gefühl, was Shakespeare ist,
-welche Kraft der Seele ihn zu dem gemacht hat, was er wurde, dann muß
-uns schwindlig werden, wenn wir an die Freiheit und Ausdrucksgewalt,
-an die Kühnheit des Mannes denken, der einst Shakespeare zum Zweiten
-machen soll.
-
-Shakespeare ist der Genius der Freiheit. Messen wir nicht an den
-verklärten Freien, die überwunden haben und die uns mehr Gestalten
-als Menschen sind, an Jesus oder Buddha, gedenken wir der Freiheit,
-die ringend und körperhaft dem Leben angehört und ihm entsteigt,
-so weiß ich keinen auf keinem Gebiet, nicht einmal Michelangelo,
-der so repräsentativ der Gestalter der Freiheit zu nennen wäre wie
-Shakespeare. Und mit seinem letzten Werk, auf dem Weg, dem Zymbelin und
-Wintermärchen Stufen sind, hat er, indem er noch einmal ein Beginnender
-wurde und das Werk der Tragik verließ, das er so glänzend abschloß,
-schon seinen Nachfolger und Überwinder vorbereitet, der höher steigen,
-tiefer wühlen, kühner befreien wird als er.
-
-
-Von Zymbelin kennen wir zwar keinen früheren Druck als den der Folio
-von 1623, aber aus einer Notiz im Tagebuch eines Zeitgenossen erfahren
-wir, daß das Stück 1610 oder 1611 aufgeführt wurde; um diese Zeit herum
-ist es gewiß auch entstanden.
-
-Das Datum des Wintermärchens können wir auf Grund äußerer Tatsachen
-mit Sicherheit zwischen zwei Grenzen festsetzen: das Stück kann nicht
-vor Herbst 1610 und nicht nach Mai 1611 entstanden sein. Beide Stücke
-gehören also, wie es auch aus inneren Gründen wahrscheinlich ist, der
-nämlichen Zeit an.
-
-Der Britenkönig Zymbelin und seine Söhne sind historische Gestalten,
-die in der Tat zur Zeit der Kaiser Augustus und Claudius gelebt und
-wegen der Tributzahlung Konflikte mit Rom gehabt haben. Wir wissen das
-aus Erwähnungen bei römischen Historikern und Dichtern, die Shakespeare
-kaum gekannt haben kann; seine Quelle für diese Teile kann Holinsheds
-Chronik gewesen sein.
-
-Der Teil der Handlung, der bei Shakespeare zwischen Posthumus Leonatus,
-Imogen und Jachimo spielt, stammt aus einem altfranzösischen Roman,
-von dem es eine Reihe Bearbeitungen gibt, die auch zu einer Novelle
-Boccaccios Veranlassung gegeben haben. Die Namen aber, die Shakespeare
-diesen Gestalten gibt, finden sich in keiner dieser Bearbeitungen,
-und ebensowenig die geringste Verbindung dieser Abenteuer mit der
-Geschichte des Königs Zymbelin.
-
-Ein Seitensproß dieses Handlungsteils, das Verhältnis Imogens zu
-ihrer Stiefmutter und deren Gift, ihr Scheintod bei seltsam von
-der Menschheit abgeschiedenen Höhlenbewohnern im Wald, kann an
-Schneewittchen und ähnliche Märchen gemahnen.
-
-Der alte Edelmann Belarius und sein Prinzenraub stellen einen ferneren
-Teil der Handlung dar, der an eine andere Novelle des Boccaccio
-erinnert.
-
-All solche Erinnerungen, zumal bei märchenhaften Novellenmotiven,
-die durch alle Völker und Zeiten wandern, beweisen aber gar nichts
-dafür, daß wir mit diesen Überlieferungen Shakespeares wirkliche
-Vorlagen haben. Die Annahme vielmehr, Shakespeare selbst habe diese
-ganz verschiedenen Geschichten zu einer fabelhaft bunten, gestopft
-vollen Handlungsgemeinschaft aufs kunstvollste verbunden, ist mir
-sehr zweifelhaft. Vielmehr erinnert das Ganze, wie es beisammen ist,
-so auffallend an die Geschichten von Geschichten mit immer neu sich
-hebenden Schleiern und immer neuen unerwarteten Wendungen, wie wir
-sie aus den orientalischen Märchen etwa von Tausendundeine Nacht,
-aus altfranzösischen, altitalienischen, spanischen Erzählungen und
-den deutschen Volksbüchern kennen, daß es mich sehr wahrscheinlich
-dünkt, daß diese Verknüpfung schon vorher in einer jetzt nicht mehr
-vorhandenen Erzählung dagewesen ist. Wesentliche Änderungen in der
-Motivierung, eine Menge Einzelzüge und vor allem das ganz fabelhafte
-Unternehmen, diese buntgedrängte Fülle der Gesichte in der Form
-des leibhaft für alle Sinne dargestellten Dramas, die fabulierte
-Unwirklichkeit, die Märchenhaftigkeit in Gestalt lebendig bewegter
-Wirklichkeit vorzuführen, dieses vorher wie nachher Unerhörte schreibe
-ich Shakespeare zu. Diese Märchen, Volksbücher und Abenteuerromane,
-die alle richtige Lese- und Schmökerbücher sind, haben es an sich, daß
-in ihnen nicht Bestimmtheit, Festigkeit, unverwischbare Einprägsamkeit
-ist, sondern in aller nüchtern sachlichen, nur Tatsachen referierenden
-Erzählung eine Art traumhaft musikalisches, wiegendes Weitergleiten,
-wo man ganz süchtig dem Erzähler hingegeben ist und es einem das
-wichtigste ist, daß immer neue Bilder, Überraschungen, Erregungen,
-Spannungen und Stimmungen auftauchen. Man will nicht eine Sache
-erfahren und diese dann stehen lassen, wie sie ist; sondern will
-sich der bunt wechselnden Dingwelt bedienen, um gerührt, betroffen,
-gestreichelt, gekitzelt zu werden; eine sehr objektive, chronikalische
-Darstellung ist das Mittel zu völliger Subjektivität schmachtender,
-lechzender Gefühle. Diese Art Roman ist bei uns aus doppelter Auflösung
-entstanden: aus der Auflösung der christlich ritterlichen Erotik ins
-Bürgerliche und aus der Auflösung der festen, rhythmisch gebannten
-epischen und episch-lyrischen Form in Prosa. Es ist beides dasselbe:
-Sehnsucht, die mit Dogma, Sitte und Form beschränkt und bemeistert war,
-ist in Schrankenlosigkeit zerflossen. Mit alledem hängt es zusammen,
-daß man diese Geschichten nur vernehmen und schlürfen, nicht behalten
-will; sie tragen Vergessenheit in sich: immer wieder Vergessen des
-Stofflichen wie Selbstvergessen des Hörers oder Lesers; man hat das
-Bedürfnis, diese Geschichten wie Musikstücke, die mehr als faßliche
-Melodie, die außen strömende und wallende Harmonie sind, immer wieder
-zu genießen.
-
-Das ganz Eigentümliche an Shakespeares romantischem Bühnenspiel ist
-nun, daß er solch ein völlig romanhaftes Gebilde zum Drama gemacht
-hat, daß das Unfeste, Schwimmende, Schimmernde der buntbewegten
-Abenteuerfolge zugleich mit der Bestimmtheit von Gestalten, die vor
-unsern Sinnen stehen, auf uns eindringt.
-
-Weder kann ich nun die lebendige Kenntnis der Handlung voraussetzen --
-sie ist ebenso bunt und vielfältig und abenteuerlich und im Romanhaften
-zerronnen, daß man sie immer wieder vergißt -- noch kann es meine
-Aufgabe sein, sie hier ausführlich zu erzählen. Ich will nur an die
-Hauptpunkte erinnern, vorher aber noch einmal darauf hinweisen, daß,
-was fürs Gedächtnis des Lesers schwer zu behalten ist, dem Zuschauer
-ohne weiteres sinnenmäßig eingeht: das ist Shakespeares eigene Größe,
-daß seine Dramen zugleich im Bühnenmäßigen und im Sprachlichen gipfeln,
-daß sie lebendigste Natur und höchster Geist, daß sie Sinn und
-Sinnlichkeit sind.
-
-Das Stück heißt König Zymbelin, wie es Shakespeare immer liebt,
-getreu dem Prinzip der Gliederung oder Rangordnung -- ~ab Jove
-principium~ -- seine Darstellung eines großen Zusammenhangs nach dem
-Herrschenden zu benennen. Die Gestalt aber, die von innen her in dem
-Stücke herrscht, die die Einheit herstellt, um die sich alles dreht
-und die die verschiedenen Kreise mit einander in Berührung bringt, ist
-dieses Königs Tochter Imogen.
-
-Die Kompliziertheit der Handlung ergibt sich schon aus der ersten
-Personalangabe: König Zymbelin ist in zweiter Ehe mit einer Witwe
-verheiratet. Seine Söhne erster Ehe sind vor langer Zeit rätselhaft
-verloren gegangen; seine Tochter erster Ehe hat zu seinem Zorn einen
-Edelmann unter ihrem Stande geheiratet; die Ehe soll aufgelöst
-werden, sie soll den Sohn, den die zweite Frau aus einer früheren Ehe
-mitgebracht hat, Cloten, heiraten. Der Mann, Posthumus Leonatus, wird
-verbannt; er fährt nach Italien. In einer internationalen Gesellschaft
-wird er mit dem Italiener Jachimo bekannt und geht mit ihm eine
-gefährliche Wette ein: seine Frau, die Königstochter Imogen, sei rein
-und treu; jede Verführung müsse an ihr zuschanden werden. Hier sei
-gleich darauf hingewiesen, wie Shakespeare in Märchenstücken dieser
-Art mit voller Absicht und auch mit vollem Recht die Kulturelemente
-mischt: der Kaiser Augustus des Volksbuchs ist ein ganz anderer als der
-des Plutarch; und der Verfasser von Antonius und Cleopatra wußte, was
-er tat, als er diesmal zur Zeit des sogenannten Cäsar Augustus moderne
-Franzosen und Italiener einführte.
-
-Jachimo reist nach England; sein kecker Versuch, Posthumus zu
-verleumden, Imogen zu verführen, mißlingt. Nun verleitet ihn
-Gewinngier, Eigensinn, Ehrgeiz dazu, die Wette durch Betrug zu
-gewinnen: in einer Kiste, die er von innen öffnen kann, läßt er
-sich in Imogens Schlafzimmer tragen; er prägt sich die Einrichtung
-dieses Gemachs und intime Merkmale an Imogens Körper ein. Mit dieser
-Wissenschaft reist er nach Italien zurück; so überzeugt er schließlich
-Leonatus; die Wette war eigentlich darum gegangen, ob es Ehre und
-Treue beim Weibe überhaupt gebe; Posthumus war in der galanten
-Männergesellschaft mit seinem Glauben allein gestanden, der ihm jetzt
-zusammenbricht; Imogen ist ein Weib. Sein Vertrauter Pisanio soll sie
-ermorden; der rettet sie; als Knabe verkleidet kommt sie in Wales in
-eine Waldhöhle zu einem alten Mann und seinen zwei Söhnen; sofort
-entsteht seltsame Sympathie der drei jungen Menschenkinder zu einander;
-es sind ihre Brüder, die der Alte in ihrer Kindheit aus Rache und zum
-Pfand gestohlen hatte; Cloten in den Kleidern des Leonatus -- sie hatte
-einmal gesagt, ein Rock ihres Mannes wäre ihr lieber als der ganze
-Dümmling Cloten -- kommt sie zu suchen und gewaltsam an sich zu reißen;
-der eine Bruder gerät in Streit mit ihm, tötet ihn und schlägt ihm den
-Kopf ab. Derweile ist Imogen von all ihrem Leid krank geworden; sie
-trinkt eine Arznei, die sie von ihrer Stiefmutter erhalten hat; die
-Königin hält den Trank für Gift; der Arzt, der es gut meint, hat ihr
-aber nur ein Betäubungsmittel gemischt. Die Brüder halten den geliebten
-Jüngling Fidele -- ihre Schwester Imogen -- für tot, den Rumpf Clotens
-wollen sie fromm neben Fidele bestatten; die Leichenfeier halten sie
-ab; sie entfernen sich. Imogen erwacht; neben sich erblickt sie den
-Toten ohne Kopf in den Kleidern ihres Manns; sie ist verzweifelt; der
-Feldherr der Römer, der gerade im Kampf mit Zymbelin des Wegs zieht,
-nimmt Imogen-Fidele als Pagen mit.
-
-Derweile ist Leonatus in tiefer Reue über das, was er -- vermeintlich
--- getan hat. Als römischer Offizier kommt er nach Britannien,
-hilft aber, als Bauer verkleidet, die Schlacht zugunsten seines
-Vaterlands entscheiden. In diesen Entscheidungskampf zur Rettung der
-Unabhängigkeit Britanniens greifen ebenso der Alte -- der verbannte
-Edelmann Belarius -- und die Söhne Zymbelins unerkannt ein.
-
-Mit dem Feldherrn der Römer kommt Imogen gefangen an des Vaters Hof,
-und so löst sich alles: Leonatus und seine Frau finden sich wieder,
-die beide einander als tot beweint hatten; Zymbelin erhält seine Söhne
-zurück; der reuige Betrüger Jachimo wird begnadigt.
-
-Hat man sich so den Gang der Handlung im groben vergegenwärtigt, wobei
-noch viele Episoden unerwähnt geblieben sind, so muß man wahrlich noch
-einmal ausrufen: Welch erstaunliches Drama! Wie begreift man jetzt,
-daß Shakespeare auch der Verfasser des dramatisierten Reiseromans
-Perikles ist, der nur eine leichte Vorarbeit zu diesem dramatisierten
-Volksbuch zu sein scheint. Gar nicht zu leugnen, daß dieses Stück
-nicht minder wie etwa Kleists Käthchen von Heilbronn in gewissen
-Teilen zum Gebiet der Schauerromantik gehört und daß die schnelle
-Aufeinanderfolge der immer auf Irrtümern und Verwechslungen beruhenden
-Verzweiflungsausbrüche das Kino vorwegnimmt. Es sieht aus, als habe
-es Shakespeare gereizt, eben das Fürchterlichste und Schaurigste
-immer noch ins Spiel der Romantik und des bloßen Scheins abzubiegen,
-die Tragik immer wieder auf die Schwelle treten zu lassen und ihr
-jedesmal den Eintritt zu verweigern. Überdies aber bot der Stoff eine
-Fülle von Gelegenheiten, in der Handlung und in dem aus ihr fließenden
-gesprochenen Wort die Zusammenhänge und Gegensätzlichkeiten zu
-behandeln, die dem Dichter besonders am Herzen lagen.
-
-Eines dieser Themen ist das allgemeine Mißtrauen der Geschlechter
-gegen einander, zumal des Manns, der sich als Herrn betrachtet,
-gegen die Frau. Entsprechend der Mode der Zeit, wie sie in der
-internationalen Novellenliteratur zum Ausdruck kommt, wird in den
-Kreisen, in die Leonatus in Italien kommt, als Regel vorausgesetzt,
-daß die Frau den abwesenden Ehemann betrügt. Und Hahnrei sein ist
-nicht bloß und nicht einmal in erster Linie ein privater Schmerz,
-sondern, wenn es bekannt und nicht gerächt wird, eine gesellschaftliche
-Schande: die List der Frau erweist sich dann stärker als die
-Herrengewalt des Mannes. Bei solchen Ehebrüchen trifft die Entehrung
-nur den Ehemann; der überwiesene Einbrecher verliert nichts an
-seiner gesellschaftlichen Geltung. Aus solcher Modegesellschaft und
-Konvention der Leichtfertigkeit heben sich nun Leonatus und Imogen als
-Ausnahmemenschen der Reinheit und des Adels; sie sind in Vertrauen
-und hohem Geist geeint. In der Entfernung aber, wie der Betrug ihm
-handgreifliche Beweise liefert, verzweifelt er und glaubt, Imogen sei,
-wie die Weiber alle sind; da kommt es zu einem ungeheuren Ausbruch der
-Verachtung gegen das weibliche Geschlecht. Die Situation, in der sich
-Leonatus da findet, ist in der örtlichen Entfernung von seinem Weibe
-genau dieselbe wie die Othellos, der mit Desdemona zusammen und doch
-so vielfach von ihr geschieden ist: Leonatus lebt nicht mehr in der
-Sicherheit des Wissens vom Innern dieses fremden Menschen, der dem
-andern, dem ewig unbekannten Geschlecht angehört; und die Verstrickung
-durch die Lüge ist so, daß Imogen überführt ist; denn wie kann
-Leonatus annehmen, daß ein geachteter Mann, gegen den nichts vorliegt
-und der keinen Grund hat, ihn zu hassen, um einer Wette willen ihn
-so raffiniert umgarnt! Es ist wieder die Wahl, ob der Ehemann einem
-ehrlichen Mann oder der Frau, die er nur durch seine Liebe kennt,
-glauben soll; und wieder fällt die Entscheidung gegen die Frau aus.
-Eine sonderbare Vorstellung von dem Dichter Shakespeare würde man sich
-nun machen, wenn man nicht annähme, er habe bei diesen Teilen der
-Handlung und bei den entsprechenden im Wintermärchen ebenso an seinen
-Othello gedacht, wie wir es tun. Beide Male entscheidet der Mann wie
-Othello: das Weib muß sterben; und beide Male glaubt der Mann, die Tat
-der Rache auszuführen. Beide Male aber geschieht diese Ausführung im
-Wahn; der Mann überlebt seine Tat, bereut sie, wünscht sie sehnlichst
-ungeschehen; und zum Schluß zeigt sich: es war alles nur wie verzerrter
-Traum und Fieber; die Tat ist in der Ausführung ins Reich des Spieles
-gefallen; die Umkehr des Ehemanns und sogar des Betrügers steht nicht
-im normalen Kausalzusammenhang mit der Rettung der verleumdeten
-Unschuld: das Schicksal hat auf abenteuerlichen, wunderbaren Wegen
-eingegriffen, und Natur und Gottheit haben wieder gutgemacht, was die
-schnelle Rachetat schon vollendet glauben mußte und was die Reue nicht
-mehr wenden konnte.
-
-Das üppige Gedränge der Geschehnisse läßt dem Dichter gar nicht
-den Raum, das Innere seiner Gestalten so zu eröffnen und sie so in
-schaudernder Wirklichkeit aus Seelengrund heraus leben zu lassen, wie
-in seinen Tragödien des früheren Stils; Leonatus lebt uns nicht wie
-Othello, und Jachimo nicht wie Jago; und auch Imogen, obwohl ihr des
-Dichters besondere Liebe gilt, ist uns keine Desdemona: die Charaktere
-sind nicht ausgeführt, und wir brauchen die Erinnerung an jene andern
-Stücke Shakespeares, wenn wir die Lücken in der Seelenenthüllung, die
-skizzenhaft bleibt, ausfüllen wollen. Auch Cloten, der Dümmlingsprinz,
-steht nicht fest in seinem Charakter; je nachdem die Handlung eine
-Gelegenheit zu Weisheit und Polemik bietet, läßt der Dichter ihn
-manchmal erstaunlich kluge Sätze der Erfahrung sprechen. Es ist aber
-offenbar Shakespeare bewußt, daß er es diesmal anders macht; wenn
-uns seine Offenbarungen aus dem Reich der Affekte unendlich wertvoll
-sind, so ist doch deutlich zu erkennen, daß er in diesen Stücken
-gerade dieses Gebietes überdrüssig war: er hatte genug von Haß, Rache,
-Mordwut, Umdunkelung und Gier; in seinem Timon ließ er einen Menschen
-in Haß und Grimm losbrüllen; was er aber haßte, war die Gemeinheit
-der ichsüchtigen Menschen; für sich wollte er nichts; Rache übte er
-im Namen der verratenen Menschheit an eben dieser verräterischen
-Menschheit; und seine Rache kam so grotesk übertrieben heraus, daß sie
-ganz unwirklich und nur Bildersprache eines Phantasiemenschen wurde;
-und was der Dichter so überwunden hatte und wessen Überwindung durch
-eine nicht den Dämonen unterworfene, sondern geisterfüllte, göttliche
-Natur und Vorsehung er gerade zeigen wollte, das wollte oder konnte er
-auch nicht mehr mit intensiver, erbarmungsloser Kraft darstellen. Nicht
-zu leugnen, daß diese Teile im Zymbelin, zum Beispiel des Leonatus
-Posthumus Monolog, in dem die Wut gegen das ganze weibliche Geschlecht
-ihn übermannt, von dem virtuosen Dichter aus Erinnerungen an früher aus
-dem Tiefsten geschöpfte Ausbrüche gespeist werden. Um so wunderbarer,
-wie er im Wintermärchen in einigen Szenen noch einmal mit voller
-Kraft zur Tragödie zurückkehrt, um dann die Szenen des Spiels, der
-Heiterkeit, der Überwindung sich ganz rein und leicht dagegen abheben
-zu lassen. Im Zymbelin ist eines ins andre gemischt, und Shakespeare
-rettet sich da vor der Tragik, die ihm Unlust und Qual zu bereiten
-scheint, vor allem in die äußerliche Romantik der sich überstürzenden
-und aller Wirklichkeit spottenden Abenteuer- und Wunderhandlung, die
-freilich das Element des Spiels und vor allem der in starken Gegensatz
-zur Zivilisationsverderbnis gestellten reinen und unschuldigen Natur
-schon in sich birgt.
-
-Ganz entzückend sind die Szenen im Walde, wie Imogen, die sich schon
-immer vom Hofe weg in ein Leben der Einfachheit und Natur gewünscht
-hatte, auf der Flucht in Knabentracht zu ihren jungen Brüdern und dem
-alten Mann kommt, der die Knaben dem Hof geraubt und in der rauhen,
-gesunden Wildnis hat aufwachsen lassen. Dreierlei kommt da teils zur
-Sprache, teils zur Gestaltung: der Gegensatz zwischen der Einfachheit
-und Redlichkeit der Natur und der höfischen Lüge; der angeborene Adel
-und heldenhafte Sinn, das Königsblut, das sich in den beiden Prinzen
-meldet, obwohl sie nichts von ihrer Herkunft wissen; und schließlich
-die Stimme des Bluts, das die Geschwister in sofortiger, zwingender
-Liebe zu einander zieht, wiewohl sie sich nicht kennen.
-
-In diese Szenen hat der Dichter eine Fülle der Kraft, der Polemik,
-der Weisheit und der Zartheit gestreut. In all den Stücken dieser
-Art bekommt man den Eindruck, Shakespeare habe seine Werke vor allem
-für die jungen Herren vom Adel aufgeführt und es habe ihm Freude
-gemacht, ihnen immer wieder anschauliche Lehren zu erteilen. Sofort
-zu Beginn dieses Teils, mit dem eine ganz neue Handlung einsetzt,
-wird das niedrige Tor der Höhle mit den hohen prächtigen Türen in
-Königsschlössern verglichen:
-
- Bückt euch, ihr Knaben:
- Das Tor lehrt euch den Himmel ehren, gebeugt
- Zu frommem Frühdienst. Königstore sind
- So hoch gewölbt, daß Riesen durchstolzierten
- Samt ihrem frechen Turban, ohne Gruß
- Der Morgensonne. -- Heil dir, schöner Himmel!
- Wir hausen hier im Fels, doch wir begegnen
- Dir nicht so hart, als die in Schlössern wohnen.
-
-Und wie dann der Alte die Knaben auf die Jagd den Berg hinauf schickt,
-gibt er ihnen sofort wieder eine Lehre:
-
- Ich bleib’ im Tal. Seht ihr von oben mich
- Wie eine Krähe, denkt, der Platz nur macht
- Uns klein und groß; bedenkt, was ich erzählt
- Von Höfen, Fürsten und von Kriegeslist.
-
-Die Jungen aber wollen in die Welt; sie wollen sich nicht mit
-Erzählungen belehrend moralischer Art und Warnungen abspeisen lassen;
-sie wollen selber ihre Erfahrungen machen, um auch einmal so ein weiser
-Alter zu werden. Da bietet sich dann gleich wieder Gelegenheit zu
-einer Beschreibung der argen Welt: Wucher in den Städten; künstliches,
-geschmeidiges Treiben am Hof; Bevorzugung des Schlechten und Unechten
-auch im Kriegswesen.
-
-Wie nun Imogen als Knabe Fidele dazu kommt, verbindet sich mit dieser
-Reinheit des Naturlebens, die auch sie sofort als Gegensatz zum Hof
-empfindet, der Zug der Liebessympathie: die drei jungen Menschen nennen
-sich, ohne zu ahnen, wie wahr es ist, unter einander Bruder, und Imogen
-erweitert diese Liebe zum Wunsch allgemeiner Menschenverbrüderung:
-
- „Sind wir nicht Brüder?“
- Mensch und Mensch sollt’s sein!
- Doch sieht der Lehm in Würden stolz auf Lehm
- Herab und ist doch all ein Staub!
-
-Wunderschön, groß und rein ist dann, wie nach dem vermeintlichen Tod
-Fideles da tief im Waldesinnern das Natur-Requiem angestimmt wird;
-und auch hier wieder wählt Shakespeare den seltsamen Weg, Tragik in
-Spiel zu wandeln, daß er uns vorher wissen läßt, die Trauer sei echt
-und rein, doch Grund zu ihr sei nicht da: was da als tot beklagt wird,
-lebt noch! Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit verkündet dieses
-Natur-Requiem als Lehre der idyllischen Natur und des nivellierenden
-Todes, eines Todes, der nur Schein und Maske tötet, aber nicht das
-Wesen: der Tod macht frei; der Tod macht alles gleich; vor dem Tod sind
-wir Brüder:
-
- Scheu nicht mehr das Machtgebot;
- Fern von des Tyrannen Streich,
- Sorg nicht mehr um Kleid und Brot,
- Dir ist Schilf und Eiche gleich.
- Zepter, Weisheit, Heilkunst werden
- All auf einem Weg zu Erden.
-
-Vieles im Wintermärchen erinnert an Zymbelin: auch da in der Mitte
-eine adlige, seelenvolle Frauengestalt; unbegründete, jäh ausbrechende
-Eifersucht des Mannes gegen sie; das allgemeine Milieu wieder die
-Hahnrei-Mode und Frauenverachtung, Frauendienstbarkeit; der Gegensatz
-von Hirtenleben und Hof; die märchenhafte, romantisch abenteuerliche
-Sphäre der Handlung. Aber es darf nicht geleugnet oder verschwiegen
-werden, daß das Wintermärchen das Werk eines Meisters, König Zymbelin
-aber trotz wunderbar schönen und tiefen Einzelzügen das Werk eines
-wirren oder müden Suchenden und in elenden und gänzlich mißratenen
-Einzelzügen das Werk eines Pfuschers ist. Der Unterschied zwischen den
-beiden zeitlich und stofflich so benachbarten Werken ist viel größer
-als der zwischen Clavigo und Götz; er ist so groß wie zwischen dem
-Großkophta und dem Egmont oder zwischen Claudine von Villabella und
-Iphigenie. Damit aber, daß ich an diese ungeheuere Verschiedenheit
-im Werk Goethes erinnere, verfolge ich noch einen Nebenzweck. Goethes
-Leben ist historisch, ist von Tag zu Tag bekannt; Shakespeares Leben
-ist mythisch; von ihm als Menschen wissen wir eigentlich, wenn unter
-Wissen völlige Sicherheit zu verstehen ist, nichts. So wenig aber,
-wie eine Möglichkeit vorliegt, Goethe ein Werk darum abzusprechen,
-weil es seines Idealbildes nicht würdig ist, weil es tief unter seinem
-Besten zurückbleibt, so wenig dürften wir Shakespeare für unfähig
-halten, sich hie und da recht von Herzen oder herzlos gehen zu lassen
-oder in die Irre zu gehen oder auch etwas zu schreiben, was durch
-geheimnisvolle vergängliche Beziehungen, die wir nicht mehr nachfühlen
-können, seiner Zeit viel bedeutete, uns aber zu großem Teil nichts
-als abstrus ist. Daß Zymbelin von Shakespeare stammt, ist freilich
-noch nie bezweifelt worden; aber auch bei diesem Werk hat man, obwohl
-nichts dafür und alles dagegen spricht, von einer Bearbeitung einer
-Jugenddichtung reden wollen und hat auch da wieder den Versuch gehabt,
-solche Teile, die einem besonders mißfielen, flugs für Einfügungen
-von andern zu erklären, obwohl in Wahrheit die Handlungsteile und
-selbst die Intermezzi so alle mit einander verzahnt sind, daß sich gar
-nichts herausnehmen läßt. Daß doch die Leute immer einen Normaltypus
-brauchen! Da sie Shakespeare zum Durchschnittsmenschen nicht machen
-können, muß er der unentwegt Große und Fehlerlose sein. Er war aber
-weder der betrunkene Wilde, als den ihn die französischen Kunstrichter
-sahen, noch wird je die Sorte Klassiker aus ihm werden, zu dem ihn die
-Klassenlehrer machen wollen. Ich glaube das Große, Neue zu ahnen, zu
-dem Shakespeare mit König Zymbelin unterwegs war, und habe versucht, es
-auszusprechen; wie der Schluß, den wir heute von Goethes Faust haben,
-auf dem Wege der Resignation entstand, weil der Dichter ungeheuer viel
-Größeres, von dem wir Proben in den Paralipomenen haben, nicht hat
-bewältigen können, so ist das Wintermärchen im Vergleich zum Zymbelin
-darum wieder meisterlich, weil Shakespeare sich da in seinem Suchen
-nach dem neuen Ausdruck einer neuen Lebensstimmung beschränkt hat: er
-hat im einen Teil die alten bewährten Methoden seiner großen Tragödie,
-und im andern Teil die gleichfalls bewährten Methoden des romantischen
-Lust- und Schäferspiels angewandt und hat das Schwerste des Schweren,
-die Verbindung dieses Zweierlei zu einem neuen Stil, wozu er im
-Zymbelin und im Timon und im Perikles lauter verschiedene und im großen
-Ganzen nicht gelungene Anläufe genommen hatte, aufgegeben. Auf dem Wege
-über die Zweiteilung des Wintermärchens ist ihm dann zwar nicht das
-Ungeheure, unaussprechlich Neue, nach dem er gerungen hat, aber doch
-eine edle, reife Einheit gelungen in seinem Schwanengesang, dem Sturm.
-
-~The Winter’s Tale~ heißt in der Tat das Wintermärchen; die
-Übersetzung ist ganz richtig. Die Erklärung findet sich in der
-entzückend lieblichen Szene, wo der junge Prinz, Leontes’ und Hermiones
-Sohn, in der traulichen Frauenstube von den Hofdamen verhätschelt wird
-und nun anfängt, seiner Mutter und den jungen Damen ein Märchen zu
-erzählen. Traurig soll es sein, meint er:
-
- Ein traurig Märchen
- Paßt besser für den Winter.
-
-Das Schöne ist nun, daß wir hier in diesem traurig ernsten Drama ganz
-im Märchen und dabei ganz im Menschlichen sind; das Märchenhafte wird
-nicht mit den üblichen Mitteln und Requisiten hergestellt. Der Prinz
-wollte ein Märchen von Gespenstern und Kobolden erzählen; in dem Stück
-aber greift, wenn man von dem nebensächlichen Orakel von Delphos (die
-Insel Delos ist gemeint) absieht, gar keine Geistermacht ein. Das
-Märchenhafte liegt ganz in der Stimmung des Ganzen, in dem, was die
-Romantiker im feinsten, duftigsten Sinne Ironie genannt haben: in
-aller menschlichen Ergriffenheit verlieren wir nie das Gefühl: es ist
-ein Spiel. Und gelenkt wird das Spiel von einer Frau, die zugleich die
-böse und die gute Fee ist, von Paulina, der Freundin Hermiones: sie
-rächt die Frau am Zorneswahn des eifersüchtigen Mannes.
-
-Das Wintermärchen ist nächst dem Porzia-Stück, das Der Kaufmann von
-Venedig heißt, das frauenhafteste Drama Shakespeares: Hermione, Paulina
-und Perdita sind in ihren verschiedenen Tönungen die Vertreterinnen
-lieblich ernster, natürlicher, fein gebildeter, denkender Unschuld. Und
-Paulina ist so herzhaft, tapfer, konsequent bis zur Unerbittlichkeit,
-so stark und scharf in ihren Reden, man fühlt so lebhaft, wie sie --
-so sagt man ja wohl -- „ihren Mann steht“, daß man -- es ist ja doch
-ein Spiel, ein Spiel mit dem bösen Popanz von Mann, und ein anmutig
-tiefsinniges Spiel mit uns Zuschauern -- daß man den Bericht von
-Hermiones Leben in Verborgenheit und den sechzehn Jahren, die sie so
-zur Strafe für den Wüterich fern war und für tot galt, gern hinnimmt:
-daß diese Flucht aus der Ehe und aus dem Leben psychologisch so
-trefflich aus der tiefgekränkten Seele der Frau heraus motiviert ist,
-ist uns wichtiger als die Frage nach der äußern Wahrscheinlichkeit;
-ja wir sind sogar lächelnd bereit zu helfen und sagen -- es ist ein
-Märchen, sechzehn Jahre sind’s, damit Perdita inzwischen heranwächst;
-im übrigen mag’s wohl kürzer dauern.
-
-Was sonst die Anachronismen und geographischen Freiheiten angeht,
-so ist das Nötige darüber schon vorhin bei Gelegenheit von Zymbelin
-gesagt worden: der Dichter braucht diese Aufhebung der von Zeiten,
-geographischen Wirklichkeiten und Kulturen gesteckten Grenzen für
-die Märchenstimmung. Und überdies haben die rechtes Unglück, die
-aus so einem Fabelland wie dem am Meer gelegenen Königreich Böhmen
-Shakespeares Unbildung beziehen wollen: diese und ähnliche Angaben
-übernahm Shakespeare aus seiner Quelle, einer Novelle von Greene, der
-ein akademisch graduiertes gelehrtes Haus war.
-
-Die zwei Teile des Märchens werden von der Zeit, die dazwischen als
-Chorus auftritt, getrennt; der erste Teil besteht aus drei Akten,
-die aber zusammen kürzer sind als die beiden letzten, und die ersten
-zwei sind besonders kurz; durch ein überhitztes Fiebertempo müssen
-sie noch zu besonders raschem Verlauf gebracht werden, während
-die beiden letzten mit den Schäfer-, Spitzbuben-, Liebes- und
-Erwartungssehnsuchtsszenen breit, behaglich und dann wieder schmachtend
-ausladen müssen. Dieser zweite Teil mutet an wie eine Verbindung von
-niederländischer Malerei und Romantik; wie wenn auf einer Kirmeß von
-Teniers eine sehnsuchtsvolle Musik, die nicht enden will, gespielt
-würde.
-
-So falsch es ist, in Othello den Vertreter der Eifersucht zu sehen,
-so wahr ist, daß König Leontes an typischer Eifersucht, an Eifersucht
-als Gewohnheit und Wesenszug erkrankt ist. Wie er im Grunde ist, wenn
-diese Wahnsinnswut ihn nicht umklammert, sehen wir ihn erst spät;
-beim ersten Auftreten, beim ersten Wort ist verzehrende Eifersucht
-in ihm. Der Grund ist einmal, was wir vorhin bei Zymbelin sahen, die
-allgemeine Mißachtung der Frau, die gesellschaftliche Bereitschaft,
-ihr nicht zu trauen. Der Kampf der Geschlechter wird nicht aufhören,
-solange die Welt steht; kennt kein Mensch mit ganzer Sicherheit den
-andern Menschen, so noch weniger je ein Mann eine Frau und die Frau
-den Mann; die Ehe also ist ein Bund besonderer Vertrautheit auf dem
-Grunde besonderer Fremdheit. Kommt dazu das männisch-befehlshaberische
-Regiment im Formalen des Hauses und Staates und die Lockerung der
-Zügel im tatsächlichen Leben der Zivilisation, so daß Frauenanmut und
-Frauenwitz öffentlich hervortreten, so bilden sich die Zustände in
-der Gesellschaft aus, die diesen Stücken die Voraussetzung liefern.
-Überdies aber kennt der König etwas nicht, was in solcher Zivilisation
-der Renaissance sich frei an die Öffentlichkeit traut und was Hermione
-in wundervoller Unbefangenheit kennt und übt: Freundschaft zwischen
-Mann und Frau. Sie gesteht, unvorsichtig genug, frei und groß, daß
-sie den Jugendfreund ihres Mannes, den König Polirenes von Böhmen,
-liebe, wie es ihr Recht und ihre Pflicht sei. Ausdrücklich läßt
-Shakespeare sie diese Freundschaft Liebe, ~love~ nennen, obwohl nicht
-die leiseste Spur Begier oder Sexualität darin ist; Shakespeare weiß
-aus ernstem und tiefem Freundschaftsleben, aus seiner ganzen starken
-innigen Menschlichkeit, daß der Eros, aber darum noch lange nicht die
-Geschlechtlichkeit, überall ist, wo Menschen sich in Sympathie zu
-einander neigen und finden.
-
- Ich liebt’ ihn, wie sein Wert es forderte,
- Mit solcher Art von Lieb’, als einer Frau
- Wie mir geziemte.
-
-Auch Desdemona, wiewohl sie noch ganz ein Mädchen und von Natur und
-Liebe aus viel mehr zur Unterwürfigkeit geneigt ist als die reife,
-selbstbewußte Hermione, die ihren Gatten nicht mehr ehrt als sich
-selbst, hatte ihren Trotz und ihre Unschuld darein gesetzt, Cassio
-freundschaftlich zugetan zu sein und es ihrem Mann und aller Welt zu
-zeigen; Hermione geht weiter und macht geradezu zur Bedingung ihrer
-Ehe und ihres Lebens, daß sie in der Freiheit und freien Äußerung
-ihres Gefühls nicht beschränkt werde. Er aber, der eifersüchtige
-Narr, beobachtet unter Qualen jedes Lächeln und gar den Händedruck,
-das Streicheln und dann den Erfolg ihrer liebreichen Bitten, zu denen
-er selbst sie veranlaßt hat, der Freund möge noch bleiben. Es ist
-wahr, daß Hermione sehr weit, bis an die äußerste Grenze geht und die
-Mißdeutung nicht scheut; es ist wahr, daß ihr Verhalten eine Probe und
-eine Prüfung für den Gemahl ist.
-
-Daß ihre Reinheit ihr dazu aber das Recht gibt, das sehen wir daran,
-daß der König -- wie ganz anders als in dem Stück von Othello und
-Jago! -- keinen einzigen Menschen findet, der seinen Wahnsinn teilt
-oder begünstigt: alle ehren sie die wundervolle Frau; Camillo,
-sein treuer Minister, tritt dem Herrn scharf entgegen und verrät
-ihn schließlich lieber, als daß er im Dienst seiner Narrheit dem
-unschuldigen König von Böhmen ans Leben geht. Nur Leontes -- vielleicht
-im Gefühl, daß er sie nicht verdient -- hat kein Vertrauen mehr; es
-bohrt und wühlt in ihm, bis die volle Wut ausbricht; nun war sie von
-allem Anbeginn an niedrig und treulos: sein Sohn ist nicht von ihm, und
-das im Gefängnis neugeborene Mädchen gewiß nicht: die Zeichen treffen
-ein, neun Monate gerade ist der König von Böhmen in Sizilien zu Gast.
-
-Wie er dann anfängt zu toben -- wir haben es kommen sehen, es hat sich
-lange genug vorbereitet, hat sich so lange in ihm eingedrückt und ihn
-wie eine Feder zusammengepreßt, daß er mit einem Mal losbrechen muß
---, wieder der Frau, der Hochschwangeren den schlimmsten Schimpf ins
-Gesicht sagt, da ist es himmlisch, wie sie, aufs tiefste verletzt, fest
-und mild erwidert. Kaum versteht sie, was er Fürchterliches meint, so
-denkt sie schon an ihn:
-
- Wie wird Euch dieses schmerzen,
- Wenn Ihr zu hell’rer Einsicht kommt, daß Ihr
- Mich also habt beschimpft! -- Liebster Gemahl,
- Ihr könnt mir kaum genug tun, sagt Ihr dann,
- Daß Ihr Euch irrtet.
-
-Sehr zu beachten ist aber, daß sie, die beschimpft und tödlich
-beleidigt ist, die das Vertrauen ihres Gemahls verloren hat, die ins
-Gefängnis abgeführt wird und gerichtet werden soll, nicht da getroffen
-wird, wo Seele und Körper an einander grenzen: sie ist nicht gebrochen
-oder außer sich; es kommen ihr, und sie weist selbst darauf hin, keine
-Tränen; so himmlisch mild ist sie nicht von der Sphäre des Naturtriebs
-und des Körpergefühls her; in ihr lebt der göttliche Funke des Geistes;
-ihre Milde kommt daher, daß sie das Wesen des gepeinigten Mannes mit
-einem weiten Blick übersieht; der Überblick über den Zusammenhang
-macht es ihr möglich, den schweren Fehler dessen, über den dieser
-Zusammenhang bis zur Verblendung und Betäubung zusammenschlägt,
-übersehen, nachsehen zu können; nur für solche geistige Naturen ist im
-Verstehen das Verzeihen inbegriffen.
-
-Zum Verzeihen ist sie im voraus geneigt für den Zeitpunkt, wo er wieder
-zu sich, wo er zur Erkenntnis kommt; mit dem, der er jetzt ist, zu
-leben ist ihrer Würde unmöglich. Bis dahin übernimmt die Führung ihre
-kluge, resolute Freundin Paulina, die Verstand, Mutterwitz in hohem
-Maße, aber nicht diesen schon fast nicht mehr menschlichen Geist der
-verzeihenden Milde besitzt. Sie läuft vor allen Dingen zum König; ihm
-muß die Meinung gesagt, muß der Kopf zurechtgesetzt werden. Solch ein
-Narr! Solch ein Wüterich! In all ihrer Herzhaftigkeit hat sie etwas
-entschieden Humoristisches, den Durchschnittsmenschen gegenüber lustig
-Überlegenes an sich. Diese Höflinge! Was für Mannesseelen! Wie sie
-sich den Mund selber verbinden, wie sie brav schlucken können, diese
-armen Schlucker! Muß erst eine Frau kommen und tapfer die Wahrheit
-heraussagen? Wir finden Antigonus, ihren Mann, und die andern Herren
-vom Hof verhältnismäßig tapfer, im Verhältnis nämlich zu dem wütenden
-Tyrannen, zu dem die Eifersucht diesen König macht. Paulina aber, in
-zärtlicher Bewunderung für die herrliche Frau und innigem Mitgefühl,
-hat nur Sinn für das Verhältnis zur Reinheit und Hoheit Hermiones.
-Wie es dann zu der abscheulichen Gerichtsfarce kommt, noch mehr, wie
-das Kindlein ausgesetzt wird und ihr eigener schwacher Mann sich dazu
-hergibt, dies Entsetzliche zu besorgen, wie die Königin in tiefer
-Ohnmacht totengleich daliegt, da ist Paulina entschlossen: mit diesem
-Mann, für diese Untat muß die Männerwelt bestraft werden, die eine
-Hermione nicht verdient.
-
-In ihr leben kann auch Hermione nicht mehr; für ihre Ehre ist sie
-in großer Haltung, tapfer auf Freiheit und Menschenrecht bestehend
-eingetreten, solange es not tat; nun die Ehre durch den Orakelspruch
-des Gottes gerettet ist, muß sie tun, was ihre Seele schon immer
-begehrte: sich zurückziehen aus dieser Welt. Ihr Sohn, der Erbe
-ihres Geistes, dieses phantasievolle Kind, ist, weil er sich die
-Kränkung seiner Mutter und den Riß, der seine Eltern trennte, zu
-lebhaft vorstellte, gestorben; ihr neugeborenes Mädchen ist in der
-Wildnis ausgesetzt worden; sie hat keine Wirklichkeit mehr, nur noch
-die Hoffnung auf das Wunder, daß dieses Kind irgendwo lebt und ihr
-wiederkehrt; das ist das einzige, was sie im Leben hält.
-
-So der Abgeschiedenheit geweiht ist aber von nun an auch Leontes,
-ihr Gemahl. Jetzt, wo er sich in einer nicht wütigen, in einer ganz
-stillen Reue verzehrt, wo er die Frau für tot, an ihm gestorben halten
-muß, erkennen wir ihn erst in seinem wahren Wesen. Aber wir ahnen das
-beinahe nur; das tragische Schattenspiel verschwindet; die alte Welt
-dämmert in ihrem Todleben dahin; wir leben mit der neuen Generation.
-
-Der Übergang ist, wie es dem Sinnspiel taugt, märchenhaft: Antigonus,
-der das Kind in einer Wüste aussetzen sollte, wird mit dem Schiff
-an Böhmens Küste verschlagen, im Traum naht sich ihm die Gestalt
-Hermiones, die er, da er wohl von Gespenstererscheinungen, aber nichts
-davon weiß, daß der Geist einer Mutter aus ihrem Körper steigen und
-in Angst und Sorge dem Kinde nachgehn kann, für tot halten muß; die
-Frau, die, als ihr Gemahl sie bitter kränkte, ob diesem Einsturz des
-gesellschaftlichen Gefüges, der Ehe nicht hat weinen können, vergießt
-jetzt, wie sie um die Frucht ihres Leibes sich härmt, strömende Tränen;
-sie fordert, daß Antigonus das Kind in Böhmen lasse, und gibt dieser
-Tochter den Namen Perdita. Dann verschwindet die Erscheinung; bleibe
-es ganz dahingestellt, ob Shakespeare hier ein Märchen gedichtet
-oder mit vielen Denkenden unter unsern Zeitgenossen an eine solche
-Fernkraft und Reisegabe der Seele geglaubt hat. Das Schiff, das das
-Kind hergebracht hat, scheitert und geht unter; Antigonus wird von
-einem Bären zerrissen; Perdita von einem Schäfer in Pflege genommen.
-Nun räumt die Zeit die sechzehn Jahre weg: wenn der Vorhang sich wieder
-öffnet, ist in der neuen Generation aus der edeln Freundschaftsliebe
-zwischen Sizilien und Böhmen die echte innige Liebe zwischen Mann und
-Weib geworden, wo Naturtrieb, Seeleninnigkeit und geistige Achtung in
-einem beisammen sind: Perdita, die Schäferin, und Florizel, der Sohn
-des Königs von Böhmen, haben sich in Liebe gefunden.
-
-Nun entsteht aufs feinste und natürlichste, so daß es nicht eigentlich
-in die Aufmerksamkeit unsres Verstandes, nur in unsre Ahnung und unsre
-Lust eingeht, in allem, was in Böhmen geschieht, ein Gegenstück zu dem,
-was vordem auf Sizilien vor sich ging.
-
-Hier in Böhmen sind wir in der freien Natur, im ländlichen Leben, in
-Spiel und Tanz; wieder, wie einst am Königshof, kommt die Wut und
-stört die Liebe; die Wut des Königs von Böhmen ist es diesmal gegen
-den Prinzen Florizel, seinen Sohn, der eine Schäferstochter liebt und
-heimlich heiraten will; wie aber im ersten Teil Konvention, Pathos und
-Tragik walten, so hier durchaus Freiheit, Heiterkeit und Komik. Wir
-wissen von Anfang an, daß diesmal Natur und Adel vereint sind, daß
-Perdita die vermeintliche Schäferstochter ihrem Geliebten ebenbürtig
-ist; wir wissen, daß die Wut diesmal nicht zu tragischem Konflikt
-führen kann.
-
-Es ist diesen Stücken eigentümlich, daß Maske und Verkleidung gewählt
-wird, um gewagten Ernst aussprechen zu lassen. Im Zymbelin wird das
-gesunde Bauerntum den verderbten Höflingen gegenübergestellt, und
-die Bauern sind es, die das Vaterland retten; schließlich aber waren
-es doch nur verkleidete Bauern, waren es Ebenbürtige, war alles nur
-warnendes Spiel. Hier im Wintermärchen wird jede Gelegenheit benutzt,
-um von dem alten Schäfer und seinem Sohn in treuherzigem Ernst, von
-dem lustigen Spitzbuben Autolykus in überlegenem Spott, von Perdita in
-natürlichem Selbstgefühl am Hof und seiner Überhebung Kritik üben zu
-lassen. Stolz und freimütig ist dieses Naturkind Perdita; kaum kann sie
-sich enthalten, dem König ins Gesicht zu sagen,
-
- Die selbe Sonn’, die seinen Hof bestrahlt,
- Verberg’ ihr Antlitz unsrer Hütte nicht,
- Nein, schau’ auf beide;
-
-aber sie ist damit das echte Kind ihrer Mutter; es kommt nicht zum
-wahren Gegensatz und zur wahren Ebenbürtigkeit der Bäuerin und des
-Fürsten; darf in diesen Dramen nur in Maske und Spiel Rousseausche
-Naturstimmung nicht zu Ereignis, bloß zu Wort kommen? Zu starkem,
-innigem und leidenschaftlichem Wort freilich; auch die Handlung
-läßt sich so an, als ob die Natur über die Standesunterschiede
-hinwegschritte, bis dann die letzte Wendung kommt. Der Prinz ist
-bereit, um seiner Liebe willen auf alle Vorrechte zu verzichten, es
-genügt ihm, sein Liebesgefühl zu erben und weiter nichts; der Minister
-Camillo ist gewillt, ihm zur Ehe mit dem Schäferkind zu verhelfen.
-
-In der Tat ist für Shakespeare der Adel, der Geblüt heißt, und der
-Vorrang, der diesem Geblüt zukommt, nicht bloß eine gesellschaftliche,
-sondern eine Naturtatsache. Dieser Adel, diese natürliche Auszeichnung
-vererbt und kumuliert sich, kann also nicht ohne weiteres für
-nichts, für bloße Konvention erachtet werden. Die ganze Schärfe
-von Shakespeares Kritik richtet sich gegen die Vertreter des Adels
-und Fürstentums, die nicht erwerben wollen oder können, was sie
-als Vätererbe besitzen; in den Waldszenen Zymbelins und verwandter
-Stücke, in den Dorfszenen des Wintermärchens kritisiert er nicht den
-Adel als Vererbung, sondern den Adel als Milieu, zeigt er, wie Leben
-und Erziehung in Natur und ländlicher Einfachheit so unsäglich viel
-gedeihlicher ist als in der Verderbtheit des Hofes. Manche seiner
-Gestalten gehen weiter und sind zu der Anschauung bereit, daß diese
-Verderbnis schon erblich, schon Verfall geworden ist, daß also der
-angeborene Adel Ausgenommener, Vornehmer nicht mehr in der Natur
-existiert; der Dichter selbst tut diesen Schritt noch nicht; vielleicht
-mußte er auch nur von späteren Generationen getan werden, weil das
-Leben des Adels, gegen das der Dichter seine Polemik richtete, in der
-Folgezeit nicht besser, nur schlimmer wurde und den natürlichen Vorzug
-der Privilegierten, der einmal Wirklichkeit war, allmählich in diesen
-Jahrhunderten vernichtete.
-
-Da der Geburtsadel in Shakespeares Zeit noch etwas anderes war als
-in unserer, da die Rückwirkung des Lebens auf den Keim noch nicht
-so verderbend gewirkt hatte, bot dieses Stück Natur ihm auch noch
-Probleme, die wir nicht ganz mehr so lebendig erfassen wie seine
-Zeit. Da ist vor allem das Problem der Auffrischung des Adels durch
-Volksblut, das Problem der Bastards, das Shakespeare immer wieder
-gereizt hat. Hier im Wintermärchen ist es wunderfeine Ironie, wie
-der, der bald zum Wüterich gegen seinen Sohn werden soll, König
-Polixenes, dem Landmädchen, das, ohne es zu wissen, eine Fürstin ist,
-von dem er aber demnächst vermeinen muß, sie verführe seinen Sohn den
-Prinzen zu einer unadligen Vermischung, Unterricht über den Wert der
-Bastardierung erteilt. In Perdita wie in den Söhnen Zymbelins bricht
-das fürstliche Blut immer durch; sie weiß nur nicht, was es ist, und
-nimmt es für Natur schlechtweg. Ihr vermeintlicher Vater, der alte
-Schäfer, schilt sie aus über ihre vornehmen Manieren; und wie sie sich
-dann entschließt, bei dem Fest und der Bedienung der Gäste mitzuhelfen,
-wählt sie die adlige Weise: sie begrüßt die Gäste mit Blumen. Da kommt
-nun die Rede auf eine Blume, die sie in ihrem Garten nicht duldet: der
-gestreifte Sommerveiel, den manche, sagt sie, auch den Bastard der
-Natur nennen:
-
- Ich hörte,
- Nicht bloß die große schaffende Natur,
- Auch Kunst hab’ Teil an ihrer Buntheit.
-
-Da belehrt er sie:
-
- Immer bleibt
- Die Kunst, von der Ihr sagt, sie woll’ Natur
- Verbessern, von Natur geschaffne Kunst.
- Ihr seht, holdselig Mädchen, wir vermählen
- Ein mild’res Pfropfreis mit dem wilden Stamm,
- Befruchten eine Rinde schlechter Art
- Durch edle Knospen. Dies ist eine Kunst,
- Die die Natur verbessert, nein, verändert;
- Doch diese Kunst ist selbst Natur.
-
-Solche Blumen, solche Züchtungen, ermahnt er, solle sie nicht Bastarde
-nennen. Vielleicht müssen wir uns selbst mit unserer Phantasie einer
-vergangenen Zeit aufpfropfen, um den ganzen holden Liebreiz dieser
-Szene zu empfinden, wo derselbe Mann die Bastardierung rühmt, der dann,
-wo’s ihm und seinem Geschlecht ans Blut geht, wütend aufbegehrt, und wo
-wir doch als Eingeweihte im voraus wissen, daß die, die er mit Auge und
-Herz erst so hold und dann mit Konvention und Verstand so verächtlich
-findet, in jedem Betracht eine adlige Natur ist: dem Geblüt nach adlig
-und nicht vom verderbten Adelsleben, sondern von der Natur erzogen.
-Vielleicht aber wird es uns auf unserm Weg zur Zukunft hin gut tun,
-wenn wir uns lebendig auf diesen Standpunkt Shakespeares versetzen?
-Vielleicht ist unsre Zeit, die nichts von Züchtung und Erlesenheit
-weiß, nur ein Übergang und eine Zwischenstufe?
-
-Will die Aufführung mit der Wiedergabe dieses zweiten Teils dem
-Sinn der Dichtung gerecht werden, so ist es nicht genug, in diesem
-vierten Akt, in den Szenen der weltunerfahrenen Bauern, des gerissenen
-Spitzbuben, des holden Liebespaars Anmut, Derbheit und Lustigkeit
-zu vereinigen und darüber dann die Wolke der Königswut streichen zu
-lassen. Es muß vielmehr, wie es fortwährend in Worten geschieht,
-so auch in der Stimmung dieser Szenen der Gegensatz zwischen der
-natürlichen Freiheit, die hier waltet, zu der gepreßten Hofluft des
-ersten Teils enthalten sein. Wir müssen nachträglich spüren, daß
-zwischen der konventionellen Hahnrei- und Despotenwut des Königs
-Leontes und den konventionellen Lastern des Hofes ein Zusammenhang
-besteht. Wir müssen begreifen, warum es Prinz Florizel auch am
-Hof seines Vaters nicht aushält und zu den Schäfern gegangen ist,
-warum Autolykus, der einst eine gute Stellung am Hofe und seine
-wohlgekleidete und -genährte Sicherheit hatte, lieber durchs Land
-streicht und sich mit Gaunereien durchhilft, als seine Freiheit und
-Heiterkeit wieder einzubüßen. Die Teile dürfen nicht von einander
-getrennt sein; der Dichter hat zwischen allen einen Zusammenhang
-hergestellt; es hat seinen guten Grund, warum Autolykus der freie
-Vagabund den Prinzen, der dem Hof entflieht und den Menschenadel in der
-reinen Natur sucht, lieb hat und seine Schelmenstreiche nur für ihn,
-nicht gegen ihn anlegt.
-
-Kommen wir von dem Gebiet der Freiheit, in dem Perditia und Florizel
-sich fanden, zum Hof des Königs Leontes zurück, so mutet uns die
-Wandlung, die dort, die vor allem in der Seele dieses Königs
-vorgegangen ist, an, als ob sie dieser Natur und Heiterkeit, von der
-wir herkommen, verwandt wäre. Indem wir, nach der argen Pressung in
-der wütigen Gewalttätigkeit, jetzt bei Tanz und Lied und Spiel und
-derber Schelmerei und Ironie waren, erlebten wir in der erleichterten
-Behaglichkeit, die in uns einzog, etwas, was der Befreiung des
-Konventions- und Affektsklaven entspricht, die in all der Zwischenzeit
-in unsrer Abwesenheit geschah. Wir glauben an sie, weil wir selbst in
-derselben Richtung entspannt wurden; weil die Freiheit der Natur das
-äußere Bild und die Vertretung der moralischen Freiheit ist. So löst
-sich nun alles: der Minister Camillo, einer der seltenen Ehrenmänner,
-die am Hofe aufrecht und selbständig bleiben, und Autolykus, der das
-Intrigieren, das er am Hofe gelernt hat, gern in Freiheit besorgt,
-bringen die Handlung in Gang: das Liebespaar flieht nach Sizilien, der
-König folgt ihm nach, und dort wird Perdita an den Gegenständen, die
-ihr Pflegevater bewahrt hat, und vor allem an der Ähnlichkeit mit der
-Mutter erkannt. So ist denn das Wunder geschehen, um dessentwillen
-Hermione in Abgeschiedenheit, ohne an einem Leben teilzunehmen, am
-Leben geblieben war: das Kind ist da, eine neue Zeit ist gekommen, eine
-neue Generation, eine neue Art Fürst, der den Adel in der natürlichen
-Freiheit aufgerichtet hat, und von innen, von Reue und Liebe und
-Vernunft her, ist Erneuerung und Befreiung auch über den König,
-ihren Gemahl gekommen. Der hat gelernt: der Jugendfreund, dem seine
-Eifersuchtswut galt, ist ihm jetzt der Bruder; und wie nun Hermione,
-von den liebenden Blicken dieses Freundes zuerst als lebendig erkannt,
-sich aus der Starrheit der Statue löst, da ruft Leontes, selbst wie ein
-aus langem, bösem Zauber Erlöster, den beiden, seiner Frau und seinem
-Freunde, zu:
-
- O vergebt,
- Daß zwischen eure heil’gen Blicke je
- Ich schnöden Argwohn warf.
-
-Hermione aber scheint Blicke und Sprache nur noch für eines zu haben:
-für ihr Kind, auf das sie geharrt hat, das ihr aus der Freiheit
-geschenkt wird und in der Freiheit den Geliebten fand. Was immer auch
-dieser Verlorenen, dieser Perdita das Leben bringen wird: sie wird
-ein Weib sein, das, in sich den ererbten Keim des Adels tragend, in
-Freiheit aufgewachsen, von der Natur erzogen, ebenbürtig neben ihrem
-Gemahl stehen wird; in dieser Generation gibt es beim Mann nicht die
-Knechtschaft unter rohe Triebgewalt und Konvention, beim Weibe nicht
-die Versklavung unter den Mann; Mann und Weib, ein Paar in Natur,
-Freiheit, Adel.
-
-Das Märchen, das uns diese Dinge anschaulich und in Stimmung und in
-manchem Wort der Weisheit und Polemik zeigt, ohne je der Abstraktion
-oder Allegorie zu verfallen, das Wintermärchen ist zu Ende; mit kaltem
-Grauen hat es begonnen, mit Frühlingshoffnungen, durch die noch ernste
-Trauer webt, schließt es: das Märchen von Männerwut, Frauenheiligkeit,
-Frauengeist, Frauenklugheit und Frauengericht; das Märchen von den
-Sklaven der Affekte und Satzungen und von den Freien der Natur und des
-Adels. Es ist uns nicht im entferntesten so ausgelassen zumut wie dem
-frech gemeinen Klassenlosen und Enterbten Autolykus; aber das spüren
-wir doch, wie er’s beim ersten Auftreten fast im Jubel gesungen hat: es
-sprießt wieder unterm Schnee, die Liebe und die süße Zeit wollen wieder
-ins Land kommen, und das rote Blut herrscht allmächtig in der Blässe
-des Winters.
-
-
-
-
-Der Sturm
-
-
-Mehr als einmal in diesen Betrachtungen habe ich Grund gehabt,
-Übersetzungen Schlegels als ungenügend oder falsch zu bezeichnen; oft
-habe ich auch stillschweigend bei ihm wie bei andern den Text von
-Stellen, die anzuführen waren, selbständig oder durch Aushilfe bei
-andern Übersetzern verbessert. All die Ungenauigkeiten, Irrtümer,
-Lässigkeiten und Abschwächungen, die man bei Schlegel gefunden hat
-und noch findet, ändern aber nichts daran, daß er der größte, daß
-er der wundervolle Übersetzer Shakespeares in die deutsche Sprache
-ist. Es bleibt ein noch immer unersetzter Verlust, daß er nicht alle
-Stücke Shakespeares übersetzt hat; lange schon haben wir ihn vermißt;
-in der Folge von Stücken, die hier behandelt werden, war Hamlet das
-letzte, dessen deutsche Fassung von ihm stammt. Der Sturm aber ist
-wieder von Schlegel übersetzt, und in den entscheidenden Höhepunkten
-wenigstens ist diese Nachdichtung ganz so trefflich wie seine andern
-Übersetzungen; in den lyrischen Partien freilich fehlt dem deutschen
-Ausdruck manchmal die Sicherheit und Notwendigkeit, der feste Sitz des
-Bildes und der Stimmung im Rhythmus. Aber selbst wenn diese oder sonst
-eine deutsche Fassung so gut wäre, wie sie irgend sein kann, sollte
-jeder, der dazu imstande ist, mit oder ohne daneben gelegte Übersetzung
-den Sturm im Original lesen: diese Mischung von Zartheit und Derbheit,
-Roheit und Lieblichkeit, Feinheit und Gemeinheit, Naturgewalt und
-Geistesschärfe, inniger Lyrik, plumper Prosa und schließlich noch
-dämonisch elementarer Schlechtigkeit im hohen Ton der Verssprache ist
-ganz unnachahmlich.
-
-Die Tradition sagt, der Sturm sei Shakespeares letztes Stück; es
-spricht nichts dagegen, unser Wunsch spricht dafür, beweisen läßt es
-sich nicht; der Zymbelin, das Wintermärchen, auch Heinrich VIII.
-stammen aus derselben Zeit, den Jahren zwischen 1610 und 1612. Die
-Herausgeber der Gesamtausgabe von 1623 haben den Sturm als erste in
-der Reihe der Komödien gebracht und damit an die Spitze der ganzen
-Ausgabe gestellt; auch diesen Umstand können wir, da das Gedicht in der
-Fassung, in der es uns einzig vorliegt, ein ganz spätes Stück sein muß,
-so deuten, als hätten Shakespeares Freunde diese erste Gesamtausgabe
-mit seinem letzten Drama als seinem Vermächtnis und einem weihevollen
-und tief persönlichen Dokument beginnen wollen.
-
-Was unser Wissen auf Grund von äußeren Tatsachen angeht, so steht
-eigentlich nur fest, daß der Sturm im Jahre 1613 schon vorgelegen
-ist: da wird er von Ben Jonson polemisch erwähnt. Daß Shakespeare
-wahrscheinlich eine Stelle in Montaignes Essays benutzt hat,
-deren englische Übersetzung 1603 erschienen ist, sagt uns für die
-Abfassungszeit so gut wie nichts; und daß er den Bericht Silvester
-Jourdans über eine Entdeckung der Bermudas, sonst die Teufelsinseln
-genannt, vorher gekannt habe und nicht vor 1610, wo er im Druck
-erschien, gekannt haben könne, ist eben auch nur wahrscheinlich. Und
-gewisse Dokumente, die Nachrichten über Aufführungen bei Hof 1611 und
--- zur Hochzeit des Winterkönigs -- 1613 bringen, stehn im Verdacht der
-Fälschung.
-
-Wir wissen gar nichts davon, wo Shakespeare den Stoff her hat. Aber
-es besteht eine Ähnlichkeit, die nicht zufällig sein kann, zwischen
-Handlungsteilen des Sturm und der „Komödia von der schönen Sidea“ des
-im Jahre 1605 schon gestorbenen deutschen Dramatikers Jakob Ayrer. Was
-uns von der Handlung dieser Komödie angeht, ist folgendes: Der Fürst
-in Littau, Sideas Vater, ist vom Fürsten in der Wiltau seines Reichs
-beraubt und in die Wildnis getrieben worden. Mit einem Zauberstab bannt
-er den Teufel Runcifall, der ihm prophezeit, er werde dadurch wieder
-zur Macht gelangen, daß er den Sohn seines Feindes gefangennehme.
-Dies geschieht denn auch mit Hilfe des Zauberstabs; der gefangene
-Sohn des Feindes wird streng gehalten, muß Klötze schleppen und Holz
-hacken; Sidea ist seine Wärterin, die bald Mitleid mit ihm empfindet
-und sich von ihm entführen läßt. Nach allerlei Abenteuern, die mit
-Shakespeares Stück keine Berührung haben, werden sie vermählt; es
-kommt zur Versöhnung und zur Wiedereinsetzung von Sideas Vater in sein
-Reich. Das Stück enthält sonst noch eine Menge meist komische Dinge,
-die nichts mit dem Sturm zu tun haben. Daß Shakespeare nun dieses
-Stück gekannt und daraus den Stoff zu seinem Gedicht bezogen habe,
-ist sehr unwahrscheinlich; der Weg eines Dramas, und gar eines noch
-ungedruckten -- erst 1618 erschienen Ayrers Theaterstücke im Druck
--- von Deutschland nach England war bedeutend weiter als von England
-nach Deutschland. Überdies gibt es eine Novelle in einer Sammlung des
-Spaniers Antonio de Eslava, die ähnliche wunderbare und zauberhafte
-Vorfälle an den Streit eines Königs von Bulgarien und eines Kaisers von
-Konstantinopel anknüpft; diese Erzählung wurde 1609 oder 1610 gedruckt,
-und insofern spräche nichts dagegen, daß Shakespeare, Ayrer und dieser
-Spanier aus einer gemeinsamen Quelle, einer uns unbekannten Novelle
-geschöpft haben. Den Schauplatz und den Namen der Fürstenhäuser bei
-einer solchen Benutzung einer Vorlage jedesmal zu verändern, war in der
-Zeit bei Dichtern und Handwerkern allgemein üblich.
-
-Nun spricht mir aber einiges dafür, daß der Zusammenhang noch
-komplizierter ist. Ich möchte mich einer Vermutung anschließen, die
-Tieck geäußert hat: daß der Nürnberger Ratsschreiber Jakob Ayrer
-von einem aus England stammenden Stück angeregt wurde, das er von
-den sogenannten englischen Komödianten in deutscher Sprache gehört
-haben kann. Der Teufel, der bei Ayrer in den Dienst des Zauberfürsten
-gezwungen wird, heißt Runcifall, und dieser Name weist auf englische
-Herkunft hin: Runcival, von Ronceval aus der Rolandsage stammend,
-heißt im Englischen Riese; und Ayrers Teufel hat nichts Geistiges oder
-Ätherisches an sich wie Ariel, sondern ist ein ungeschlachter Kerl mit
-Riesenkräften.
-
-Sind wir aber von Ayrers Stück her erst auf die Vermutung geführt
-worden, daß es vor unserm Sturm ein englisches Stück gab, das die
-nämliche Hauptfabel behandelte, so können wir der Annahme nicht wohl
-ausweichen, daß nicht bloß der Deutsche Ayrer, sondern vor allem der
-englische Schauspieler und Theaterdichter Shakespeare mit diesem
-früheren Zauberstück etwas zu tun hatte. Wir reden da freilich nur
-von Möglichkeiten, und mit jeder weiteren Vermutung, die wir auf
-eine Vermutung bauen, wird unser Weg luftiger. Nachdem ich das
-aber gesagt habe, darf ich den Mut haben, noch weiter zu muten:
-für ganz ausgeschlossen kann ich’s nicht halten, daß das Stück,
-dessen Bearbeitung Ayrer vielleicht kennen gelernt hat, ein verloren
-gegangenes Stück des jungen Shakespeare war, daß also unser Sturm die
-reife Bearbeitung eines Jugendwerks wäre. Was mich dazu bringt, mit
-dieser Möglichkeit zu spielen, ist einmal das Stück, das Meres 1598 in
-seiner „Palladis Tamia“ neben zwölf andern, darunter der Verlorenen
-Liebesmüh’ als eine von Shakespeares Komödien rühmt: ~Love’s labour’s
-won~, Gewonnene Liebesmüh’. Dieser Titel würde für eine jugendliche
-Behandlung des Zaubermärchens ausgezeichnet passen; und die Versuche
-der meisten Ausleger, ihn einem der vorhandenen Lustspiele Shakespeares
-zuzuschreiben, das der Dichter später anders benannt hätte, wollen mir
-nicht recht einleuchten; Titel wie Wie es euch gefällt oder Ende gut,
-alles gut oder Viel Lärm um nichts deuten darauf hin, daß Shakespeare
-sich für Stücke dieser Art gern mit einem Namen begnügte, auch wenn
-er nicht viel besagte; wenn zum Beispiel, wie meist angenommen wird,
-Ende gut, alles gut früher Gewonnene Liebesmüh’ geheißen hätte,
-würde ich nicht recht einsehen, was Shakespeare dazu gebracht haben
-könnte, diesen ausgezeichneten Titel, unter dem sein Stück schon so
-früh Berühmtheit gefunden hätte, wieder aufzugeben. Dagegen wäre mit
-meiner Annahme durchaus erklärt, warum das schon 1598 berühmte Stück
-Gewonnene Liebesmüh’ von dem Herausgeber der Gesamtausgabe nicht
-aufgenommen wurde: weil es nur eine unvollkommene erste Fassung eines
-so vollendeten Stückes wie Der Sturm wäre. Überdies aber finde ich
-in unserm Sturm eine Stelle, über die ich nur mit Hilfe der Annahme
-hinwegkomme, daß sie ein Rest aus einer früheren Fassung ist.
-
-Es ist sehr wahrscheinlich, daß in der Vorlage, nach der Ayrer
-arbeitete, die beiden Fürsten, deren einer den andern entthronte, keine
-Brüder waren; der biedere Mann hätte gewiß eine solche Steigerung
-des Konfliktes, wenn er sie vorgefunden hätte, nicht getilgt; sowohl
-bei ihm wie bei dem spanischen Erzähler handelt es sich um einfache,
-nicht durch Verwandtschaft und besondere Ruchlosigkeit komplizierte
-Feindschaft. Die Stelle, die ich meine, deutet mir nun darauf hin,
-daß erst der reife Shakespeare diese Änderung der äußern Handlung
-vorgenommen hat und sich so die Gelegenheit verschafft hat, nochmals
-auf das Rachethema seines Hamlet zurückzukommen, und daß in seinem
-eigenen Stück die Feinde anfangs keine Brüder waren. Jetzt ist es so,
-daß an der ruchlosen Entthronung und Aussetzung Prosperos, des Herzogs
-von Mailand, zwei Fürsten beteiligt sind: sein Bruder Antonio und
-Alonso, der König von Neapel. Dieser Alonso hat einen Sohn Ferdinand,
-und dieser bringt mit seiner von Prospero geförderten Liebe zu
-Miranda die Feindschaft zur Aufhebung und Versöhnung und brüderliche
-Menschenliebe zum Sieg. Sowie Shakespeare die Feinde zu Brüdern machte,
-konnte der Jüngling, der beim ersten Blick in Liebe zu Miranda fiel,
-nicht mehr der Sohn des Usurpators von Mailand sein, weil er sonst der
-blutsverwandte Vetter seiner Geliebten gewesen wäre, und das ging nicht
-an; der Sohn des Feindes wiederum mußte er aber sein, und so mußte ein
-zweiter Feind in Gestalt des Königs von Neapel erfunden werden, unter
-dessen Lehnsoberhoheit der Usurpator Mailand verräterisch gebracht
-hatte. Diese Entwicklung der Fabel folgere ich aus der Tatsache,
-daß nur bei Shakespeare von Bruderfeinden die Rede ist, und aus der
-einzigen Stelle, die ich jetzt zu nennen habe. Wie Ferdinand zum
-ersten Mal vor Prospero erscheint, erwähnt er in dem Bericht von dem
-Schiffbruch, den er erstattet, einen Sohn des Herzogs von Mailand, der
-auch mit untergegangen wäre:
-
- Der Herzog Mailands und sein guter Sohn
- Auch unter dieser Zahl, --
-
-worauf Prospero, der nur sich als echten Herzog von Mailand anerkennt,
-beiseite bemerkt:
-
- Der Herzog Mailands
- Und seine beßre Tochter könnten leicht
- Dich widerlegen -- --
-
-Wir wissen aber, daß in Wahrheit niemand untergegangen ist; feierlich
-versichert Prospero seinem Kind von vornherein,
-
- Daß keine Seele, nein, kein Haar gekrümmt
- Ist irgend einer Kreatur im Schiff --.
-
-Wo ist aber dann dieser Sohn des Usurpators von Mailand, dieser Neffe
-Prosperos hingekommen? Nur dies einzige Mal wird er erwähnt; wir
-finden ihn nicht bei den Gestrandeten, er existiert gar nicht, die
-Stelle ist nur aus Versehen stehen geblieben. Sie zeigt mir aber, daß
-Shakespeares Fabel zuerst so aussah wie die Ayrers: zwei Feinde, nicht
-verwandt, der eine hat einen Sohn, der andre eine Tochter, die zwei
-werden mit Hilfe mächtigen Zaubers ein Liebespaar. Als dann die Feinde
-Brüder wurden, mußte ein neuer Sohn und zu ihm, da er durchaus der Sohn
-eines Feindes sein mußte, ein neuer Feind als Vater erfunden werden;
-der ursprüngliche Sohn blieb zuerst auch noch im Stück; späterhin
-aber -- vielleicht, als aus wichtigem inneren Grund noch ein neuer
-Bruder, der Bruder des Königs von Neapel, Sebastian eingeführt wurde
--- konnte Shakespeare mit dem ersten Sohn nichts mehr anfangen, und so
-existiert er nur noch in dieser einen Erwähnung, die merkwürdigerweise
-aus dem Munde des andern Sohnes kommt, der ihn verdrängt hat. Ist
-aber diese meine Erklärung der rätselhaften Stelle richtig, wie mich
-wahrscheinlich dünkt, weil sie die Veränderung, die Shakespeare mit der
-überlieferten Fabel vornahm, auf Gründe innerer Handlung zurückführt,
-so muß man annehmen, daß Shakespeares Stück auf einer früheren Stufe
-eine Handlung hatte, die der von Ayrer behandelten einfacheren Fabel
-entsprach, und so findet die Annahme, Ayrers Vorlage könnte ein Stück
-des jüngeren Shakespeare gewesen sein, eine Stütze.
-
-Ich wiederhole: von alledem wissen wir nichts. Es kann so sein, und
-es ist sogar einer der ausphantasierten Zusammenhänge, in die ich ein
-wenig verliebt bin; aber würden irgendwelche bestimmte Daten entdeckt,
-so wäre die plausible Phantasie vielleicht widerlegt. Denkt man aber
-daran, wie allgemein üblich es in der Shakespearephilologie ist, auf
-eine nicht ganz sichere Vermutung oder nicht ganz eindeutige Tatsache
-ganze Häuser zu bauen, so möge man meine mit geziemender Vorsicht
-vorgebrachte Hypothese, wenn man nicht an sie glaubt, wenigstens zur
-Erschütterung anderer Hypothesen benutzen, die nicht besser begründet
-sind.
-
-Daß der Geist dieses Stückes nur von Shakespeare, und nur vom
-reifen Shakespeare stammt, ist sicher, und so gut wie sicher, daß
-viele Einzelzüge der äußern Handlung, die zur Motivierung und zur
-Gegenüberstellung der drei Reiche dienen, wie die Gestalten Calibans
-und Ariels, die Repräsentanten der niedern Sphäre Trinkulo und
-Stefano, der Rat Gonzalo, der neue Brudermordversuch, von ihm gedichtet
-sind.
-
-Immer hat man in dieser Komödie etwas besonders Weihevolles und
-eine tiefere Bedeutung gefunden; hat man schon Hamlet mit Goethes
-Faust verglichen, so hat man, wozu sehr viel Grund besteht, den
-Sturm wiederum mit Hamlet und auch mit Faust in Parallele gesetzt;
-Strindberg, dem der Sturm mit seinem Geist der Vergebung und Versöhnung
-in seiner letzten Zeit besonders nah gehen mußte, hat sogar daran
-erinnert, daß der Name Prospero eine ähnliche Bedeutung hat wie
-Faustus: der Begünstigte, der Götterliebling, der Gedeihliche.
-
-Immer hat man bei diesem Geistesfürsten auch an eine besondere
-Beziehung zu Shakespeare dem Dichter und zu seinem Abschied von der
-Produktion gedacht; und auch dazu besteht Grund genug. In der Tat darf
-man sich bei dem Drama von Prospero, dem Fürsten der Geister, der sein
-letztes und höchstes Werk, das Werk der Versöhnung anstatt der Rache
-tut, an Shakespeare und die Werke seiner letzten Periode gemahnen
-lassen, an die alles verzeihende Milde am Schluß des Zymbelin, an das
-Wintermärchen, an die Gestalt Katharinas in Heinrich VIII.; an
-Shakespeare bei dem Geisterkönig, der nun den Zauberstab in die Erde
-versenken und sich zur letzten Ruhe bereiten will. Und man darf noch
-weitergehn, man darf im allgemeinen bei dem Stück im Sinne haben, daß
-dieser Dichter in seinem Denken, Wollen, Phantasieren, im Gefühl seines
-Könnens und seiner Berufung immer mit den Dingen des Regiments, der
-Ordnung, der Gesellschaft, des Staats zu tun hatte und daß ihm doch
-so gut wie jede tatsächliche Einwirkung, jede Stellung gebieterischer
-Art genommen war. Dichten ist immer Resignation, das Phantasieland
-immer ein Exil, Form immer Beschränkung, Metrum der Verse und Maß
-der Gesinnung beim genialen Menschen immer nur der Maßlosigkeit
-abgerungen, und Shakespeare, wie jeder überragend große Mann des
-Geistes, fühlte sich von seinen Zeitgenossen, von den Gewalthabern
-der Öffentlichkeit in die Einsamkeit verbannt und wie auf eine Insel
-gestoßen. Von dieser seiner von Wildheit umbrandeten Insel des Geistes
-aus hat er dann, wie mit Zaubermitteln, die aus der Entfernung wirken,
-alle Elemente der Natur und alle Geistermacht in Bewegung gesetzt und
-dann doch noch, tief in die Seelen hinein gewirkt; ohne irgend welche
-physische, tödliche Macht, nur durch die Gewalt des Worts, durch
-eine geistige Magie ohnegleichen hat er gezwickt, geplagt, geneckt,
-bloßgestellt, entlarvt, vergolten und gestraft: und nun, ganz reif,
-ruhig, friedfertig, müde geworden hat er nur noch Werke der Liebe,
-der Versöhnung, des zauberischen Spiels getan, um schließlich den
-Zauberstab niederzulegen, sich von allem zurückzuziehen und zum Sterben
-zu gehen.
-
-All das darf und soll uns das Stück in seinen Höhepunkten immer wieder
-umschweben, darf die seltsamen Vorgänge mit Weiterem, Tieferem, dessen
-Zeichen und Ausdruck sie sind, in Verbindung bringen; doch mehr auch
-nicht. Abgesehen von einer kleinen festlich-lyrisch-mythologischen
-Einlage, in der sich Shakespeare dem Zeitgeschmack anbequemt, ist
-er auch in diesem mit Bedeutung geladenen Drama keineswegs ein
-Allegoriker; die Vorgänge enthalten die Bedeutung in sich; sie weisen
-nicht auf Bedeutungen hin, die irgendwo draußen wären. Keineswegs
-dürfen wir meinen, es seien Rätsel oder Chiffern zu raten, und Ariel,
-Miranda, der Liebesbund, Caliban usw. bedeuteten das und das. Diese
-Gestalten und Vorgänge bedeuten sich selbst; die gesamte Handlung,
-die äußere wie die innere, erleben wir in aller Märchenhaftigkeit als
-Wirklichkeit und gewahren so mit allen Sinnen, im Gemüt und im Denken
-ein sinnvolles Spiel von der Überwindung und Rache für Gewalttat nicht
-durch Blut und Mord, sondern durch Geistesmacht, der die Natur mit all
-ihrem Bösen und Guten dienstbar ist.
-
-Und so viel wir uns durch eine allegorische Deutung nehmen,
-beeinträchtigen, fälschen würden, so verkehrt wäre auch der Versuch
-einer rationalistischen Erklärung. Zu solcher natürlichen Erklärung der
-Wunder dieses Schauspiels gäbe sich mancherlei her: verhärtete Leute,
-die schlimme Dinge auf dem Gewissen haben, sind, könnte man sagen,
-an einer Fieberinsel gestrandet; in der Krankheit kommen allerlei
-Wahnvorstellungen und Besessenheiten über sie, die alten Sünden
-erwachen und nehmen die Form von Halluzinationen an. Auch hier ist es
-so, daß wir all dessen gedenken, daß uns solche Begleitvorstellungen
-auftauchen dürfen; die Welt der Seele ist in allen Formen und
-Verkleidungen, seien sie Musik oder Begriffssprache oder Märchen oder
-Krankengeschichten, dieselbe; aber Shakespeares Ganzes und Echtes haben
-wir nur, wenn wir ins Land seiner Dichtung gehen und diese Zauberwelt
-drei Stunden lang als Wirklichkeit nehmen.
-
-Auch darnach brauchen wir, hier so wenig wie anderswo bei Shakespeare,
-viel zu fragen, wie weit er an solche Geister und Dämonen geglaubt
-hat. Daß er in Glaubensvorstellungen irgendwelcher bestimmten
-Einkleidung nicht befangen, daß er nicht ihr Sklave war, daß sein die
-Religion als Kunst war, die unsre Romantiker als Ironie begründen
-wollten, geht daraus hervor, daß Vorstellungen abergläubischer Art
-sich ihm niemals da einschlichen, wo sie nicht hingehörten. So war es
-für seine Ausdrucksgewalt, für den Reichtum seiner Motive, für die
-Selbstverständlichkeit, mit der er sich in den Mythologien der Antike,
-der Christenheit, der Naturvölker und niederen Stände bewegte, ein
-bedeutender Vorteil, daß solche Vorstellungen zu seiner Zeit im Volk
-wie in der gelehrten Literatur völlig lebendig waren; der Zeitgeist
-im allgemeinen glaubte an Hexen, Teufel, Geister, Elfen, magische
-Bücher und Beschwörungsformeln und an die ausnahmsweise Möglichkeit
-des Verkehrs zwischen Menschen und dämonischen Mächten. Ich habe
-schon früher gezeigt, wie dieser Glaube mit der Naturwissenschaft,
-mit dem Versuch, das neue Wissen zu einem ungeheuern Können zu
-steigern, die Religion durch die Wissenschaft zu erneuern und zur
-übergewaltigen Macht des Geistes zu erheben, in engster Beziehung
-stand; es darf hinzugefügt werden, daß unsre strenge, kahle, logische
-Scheidung zwischen einer berichteten Tatsache, an die man glaubt, und
-der tieferen Bedeutung, dem Sinn, den ein solcher Bericht, etwa ein
-heiliges Dogma ausdrückt und der diese geglaubten Tatsachen von den
-Gefühlen unendlichen Hinüberlangens, Ausgreifens und Aufschwebens
-begleiten läßt, so daß ein Jauchzen und eine Gewißheit, die selige
-Schau der Wahrheit in uns ist, -- daß diese Scheidung und dieses
-Unvermögen zum Mythos dem Zeitalter des Glaubens, dem die Renaissance
-gerade noch angehört, so fremd waren, wie uns in Wahrheit dieser echte
-Glaube fremd geworden ist: wir kennen nicht mehr die Erschütterung
-und Durchdrungenheit durch das Epische, durch die Erzählung von
-Geschehnissen, in der sich der Sinn und die Hinweisung auf ewige, über
-die Sinnenwelt hinausführende Bedeutung birgt. Shakespeare steht dieser
-Welt des Mythus, des Dogmas, des Kultus als ein Bewältiger gegenüber,
-der gerade noch fähig ist, sich überwältigen zu lassen; als ein Heller,
-der, wie im Licht, so noch in der Flamme steht; als ein Freier, der
-die Ehrfurcht noch nicht verlernt hat; als ein Weiser schließlich,
-der noch ein Kind sein kann. Er steht der Zeit noch nahe, in der in
-Deutschland jener Georgius Sabellicus durchs Land zog, der sich den
-jüngeren Faustus nannte; und sein Zeitgenosse war Giordano Bruno, --
-mit dem er in jungen Jahren sogar persönlich verkehrt haben könnte.
-Wie in der Luther- und Faust- und Hamletstadt Wittenberg, so auch in
-London hat der italienische Genius des Lichts und der Flamme längere
-Zeit gelebt; der junge Shakespeare war damals schon in London, und es
-spricht gar nichts dagegen, daß Bruno, der dem Philipp Sidney ein Buch
-gewidmet hat, den jungen Dichtersmann persönlich kennen gelernt haben
-könnte. In ihm wäre Shakespeare dem genialsten Vertreter des Typus, der
-zugleich Ketzer und Magier, Gläubiger und Naturforscher, Philosoph und
-Mystiker war und dem das Element des Geistes mit Spiel und Neckerei
-und satirischer Plage der Bösen und Dummen in engster Beziehung stand,
-nahe getreten; dem Vertreter des Typus, der mit Faust und Prospero zur
-dichterischen Mythusgestalt erhoben worden ist.
-
-Eines aber bringt Shakespeares Sturm und die Stellung seines Prospero
-in Gegensatz wie zu der Rolle der Geister und Elementardämonen in
-Macbeth und Sommernachtstraum so zur Faustsage noch in ihrer letzten,
-höchsten Gestalt bei Goethe.
-
-Im Macbeth und im Sommernachtstraum kommt es zu keinem Bunde der
-Geisterwelt mit den Menschen, zu keiner Dienstbarkeit: was innen in
-den Menschen schon dämonisch, lockend, verführerisch, irreführend da
-ist, scheint draußen in der Natur noch einmal, parallel, wie eine
-Spiegelung, zu leben; das Reich der Geister ist dem Seelenleben des
-Menschen wie eine Verstärkung oder wie das Quellgebiet, aus dem all
-seine wilden Triebe zu fließen scheinen. Im Sommernachtstraum halten
-sich die Geister in kühler Ferne; sie greifen wohl ein, necken, hetzen,
-plagen oder begünstigen; aber der Mensch hat keinen Einfluß auf sie
-und keine unmittelbare Kenntnis von ihnen; sie sind, was bei ihrem
-schwebenden, flitzenden Wesen ganz gut zusammengeht, so scheu, wie
-sie zudringlich sind. Daß Macbeth hinwiederum sich mit ihnen einläßt,
-ist ein Sinken, hinab in das höllische Reich, das auch drunten in ihm
-wohnt. Die Hexen und ihre Meisterin führen ihr Werk durch; der Mensch,
-der ihnen verfallen ist, erfährt nicht mehr von ihnen, als sie wollen;
-er hat keine Macht über sie.
-
-Faust und Prospero haben Macht über die Geister; die sind ihre
-Diener. Faust aber ist nur dadurch Herr über dämonische Gewalten
-und ihre einzelnen Leistungen, die sie ihm für bestimmte Frist
-gewähren, daß er der Teufelsmacht von einem bestimmten Punkt ab ein
-für allemal verfallen ist; er darf ihr eine Weile gebieten, weil er
-ihr ewig untertan sein soll. So wäre es für Fausts Bewußtsein selbst
-noch bei Goethe, wenn man es so genau nähme, wie man es für diese
-Gesamtdichtung freilich nicht darf; man muß sie läßlich nehmen, wenn
-man nicht Unbestimmtheiten und Schwankungen finden will statt der
-Einheit, die Goethe meinte, als er sich entschloß, ein Werk doch noch
-zu vollenden, dessen erster Teil ihm fremd geworden war; daß der
-Böse, der dem Menschen dient, damit wieder Gottes Plänen mit dieser
-Menschen-Entelechie hilft und sie zur Gnade und in ihre Steigerung
-hinein reizt, geht in Fausts eigenes Gefühl von seinem Verhältnis zu
-Mephisto nicht eigentlich ein.
-
-Prospero allein hat seine volle Menschenfreiheit bewahrt und durch
-seinen Zwang über die Geister gesteigert; er hat sich zu nichts
-verpflichtet, ist in nichts untertan oder angetastet; es ist keine
-Rede von Höllendienst oder schwarzer Magie; was uns alle in Lüften
-umspielt und doch in seiner ungebundenen Freiheit, von uns unbehelligt
-und ungewahrt bleibt, hat er erkannt und eingefangen, so wie der Müller
-den Wassergeist fängt und seine Mühle treiben läßt oder wie wir sonst
-Naturkräfte zähmen; ihm, dem Mann des überlegenen Denkens, dient die
-Natur mit ihren schöpferischen, ihren bösen und guten Kräften nach
-seiner Bestimmung, so wie wir den Blitz eingefangen haben und zu
-stillem Leuchten und rastloser Arbeit bringen; er lenkt die Geister,
-wohin er will; er zwingt sie, beherrscht sie, ist Fürst über sie. Er
-hat gelernt, sich der Mittel zu bedienen, diese Kräfte zu rufen; er
-tut es, solange und wie er will, als einer, der es darf, weil er dazu
-berufen ist; und er läßt es dann wieder, ganz freiwillig; niemandem
-verantwortlich als sich allein. Freilich ist er in dieser gesteigerten
-Sphäre genau so irgendwie beschränkt, wie der Mensch immer; bis zu
-einer bestimmten Grenze reicht seine Macht, nicht weiter; bestimmte
-Geister dienen ihm, andre existieren nicht für ihn, er kann sie nicht
-rufen. Und er muß die Dämonen in ihrer eigenen Sphäre und Begrenzung
-lassen und sich ihrer Natur anpassen, wenn er sie nutzen will; muß
-leicht und wie fliegend und lieblich schmeichlerisch kosend mit Ariel
-umgehen und hat ein tragisches Erlebnis mit Caliban, weil er sich
-unterfängt, ihn erziehen und heben zu wollen; aber die Strafe, die
-ihn darnach trifft, ist eben die natürliche Folge dessen, was er tut:
-Enttäuschung und Rückschlag; in dieser Übernatur geht alles natürlich
-zu, und dieser Übermensch steigt oder fällt nie aus dem Menschlichen.
-Er muß geduldig sich in die Bedingungen seiner Existenz fügen, muß
-auch die Gelegenheit zu seiner Vergeltung in Ruhe abwarten: er ist ein
-erhöhter Mensch, aber in keinem Punkte ein Unbedingter.
-
-Hier also sind die Elementardämonen, der luftig neckische, feenhafte
-Geist wie das Wüsteste und Böseste in den untern Bezirken der Natur,
-in den Dienst des überlegenen, freien Menschengeistes gezwungen.
-Die Menschenkraft, die Kraft des Geistes, Kraft der Vernunft wie
-des Gemüts, ist sieghaft oben; keinerlei Sünde oder Frevel, keine
-Verschuldung, kein Zugeständnis an feindliche Mächte ist für den
-Magier mit seinem Tun verbunden; es ist alles hell, heiter; der
-Sproß eines Teufels und einer Hexe wird ohne Gnade in den Dienst
-gezwungen und, soweit es nur irgend geht, unschädlich gemacht und
-vom Menschlichen überwunden; Sprengstoff wird immer zerstörerisch
-bleiben, und vergeblich wäre ein erzieherisches Bemühen, ihn etwa in
-Pflanzensamen zu verwandeln; aber der Mensch kann die zerstörende Kraft
-zu den Zwecken seines Bauens verwenden. So übt Prospero die Macht des
-Menschlichen über die von Geist und Kraft durchflutete Natur; nicht
-zu Werken der Technik oder irgend eines Genusses; die Gleichnisse aus
-diesen Bereichen waren Gleichnisse, nichts weiter; er lebt auf seiner
-verlorenen Insel mit seinem Kinde das Dasein einfacher Menschen; er
-läßt sich keinen Palast bauen und keine Schätze herbeischleppen,
-sondern Brennholz in seine Hütte, damit sie nicht frieren; all sein
-Sinnen und herrschendes Walten gilt nur der Seelentat, sich und
-seinem Kinde durch Geisteskraft das Leben zu wahren, das er nach
-menschlichem Alltagsermessen verwirkt hatte, und die rohe Gewalt der
-Menschenniedertracht, die ihn überwältigt und wie ermordet hatte,
-durch den Geist und, wenn’s zum Letzten kommt, durch die Liebe zu
-besiegen; durchaus verdient Prospero den Namen, den Goethe in seinen
-„Geheimnissen“ einem so höchst wunderbaren Mann des Geistes geben
-wollte, den Namen Humanus. In seinem Faust hat Goethe das herrliche
-Wunderwerk vollbracht, in dem himmlischen Zusammenhang, der vom
-Prolog bis zum Epilog im Himmel geht, die Gottesmacht zu entteufeln,
-zu entmenschen, zu entchristen; Shakespeare in seinem Prospero hat
-den Menschen entchristet und hat einen Mann geformt, der ein Freier,
-in Reinheit, in Adel, in Schönheit, mit gutem Gewissen, weil in Güte
-herrlich den Elementen gebietet. Was für eine unsägliche, was für eine
-das Menschenleben von Generationen und Generationen für Jahrtausende
-vorwegnehmende Tragik liegt aber darin, daß dieser Reinste und Größte
-und Höchste und Mächtigste der Sterblichen, nachdem er seiner Seele
-Genugtuung geschaffen und an die Stelle des Hasses die Liebe gesetzt
-hat, am Leben, an der Natur, am Geiste für seine Person genug hat, zur
-Seite geht und sich zum Verstummen und Verscheiden rüstet. Das ist für
-mich der Gipfel der Renaissance und damit der bisher erreichte Gipfel
-unsrer neueren Menschheit: der vollendet zur Herrlichkeit gediehene
-Personalismus, der in seiner Glorie resigniert; ganz und gar das
-Gegenbild zu dem Christus, der vom Marterholz zum Himmel emporsteigt.
-Prosperos gebietende Gestalt und Apotheose im Abscheiden steht mir da
-wie ein Werk von einem bildenden Künstler, der bisher nicht gekommen
-ist, wie von einem, der Michelangelo und Rembrandt ins Raffaelische
-vereinigte; oder -- das nämliche in anderm Bilde gesagt: wie eines der
-ganz hohen Werke Beethovens, wie das Quartett mit dem Dankgebet eines
-Genesenden. Weiß man, wer dieser Genesende ist? Es ist Sokrates, der
-dem Asklepios für die Genesung dankt, indem er der Welt den Rücken
-kehrt; es ist Prospero, der die Natur und den Haß bezwingt und die
-Liebe gründet und aus all seiner Herrlichkeit tritt und zur Seite geht
-und sich zum Tode bereitet; es ist Shakespeare, der uns noch den Sturm
-gibt und dann das Schweigen wählt und dahinstirbt.
-
-Wir bemerken oft, zumal bei leidenschaftlichen Dichtern, wie das, was
-auf ihrer Höhe herausbricht, schon früh da ist oder sich wenigstens
-vorbereitet und in starken Spuren zeigt, wie sie selbst aber von einem
-gewissen Zeitpunkt der Krise an von dieser ganzen Vergangenheit nichts
-mehr wissen wollen und sich als völlig Erneuerte fühlen. So ist es in
-unserer Zeit Tolstoi und Strindberg gegangen. Auch Shakespeare scheint
-mir zu bestimmter Zeit bei einer Wende angelangt zu sein, wo er die
-Form, in der er früher die Triebe und Leidenschaften der Menschen mit
-einer Wahrheit ohnegleichen darstellte, wie ein eigenes Versinken
-in diesem Pfuhl der Affekte nicht mehr ertrug. So hat er nach neuen
-Formen gesucht, und fast jedes einzelne der Stücke aus dieser letzten
-Zeit ist ein neuer Weg, in dramatischer Aktion zur Überlegenheit,
-zum Spielerischen, zur Polemik und Weisheit, zur Ironie zu kommen.
-Im Zymbelin und im Wintermärchen und im Timon und im Perikles hatte
-Shakespeare es jedesmal mit einer neuen dramatischen Form versucht,
-die er jedesmal wieder aufgab. Der Sturm nun ist wiederum in einer
-für Shakespeare ganz neuen Art gebaut und ist für dieses Suchen nach
-dem neuen Stil der Gipfel und die Krönung. Die Form aber, der sich
-Shakespeare diesmal und, wenn wir recht vermuten, zu guter Letzt
-zuwendet, ist nicht etwa eine neu ausgeheckte, sondern die für seine
-Zeitgenossen zugleich ehrwürdigste und modernste, und seine gelehrten
-Kritiker hatten sie ihm schon immer tadelnd als Muster vorgehalten. Die
-gelehrten klassizistischen Dramatiker, die neben Shakespeare standen
-und die nicht von der Überlieferung des Volksdramas herkamen, sondern
-in der Tragödie Seneca, in der Komödie Plautus nachstrebten, legten
-viel Wert auf die Einheit des Orts und vor allem der Zeit. Schon früher
-manchmal hat Shakespeare gezeigt, daß er das auch konnte, wenn es dem,
-was er an Inhalt und Stimmung geben wollte, entsprach; nie hat er sich
-pedantisch nach einer Schulregel gerichtet, aber der Sommernachtstraum
-verläuft in aller Tollheit in einer Nacht und einem Walde; im Othello,
-der auch sonst dem bürgerlichen Trauerspiel am nächsten kommt, geht,
-abgesehen von dem Prolog des ersten Aktes, alles auf der Insel Zypern
-in einer fast ununterbrochenen zeitlichen Folge weniger Tage vor sich.
-Hier aber im Sturm ist er dem klassischen Muster am nächsten: nicht nur
-dem geistigen Gehalt nach, sondern auch formal ist die Dichtung ein
-Epilog. Eine lange, bewegte, leidenschaftliche Handlung wird in einem
-bei Shakespeare ganz ungewohnten erzählten Bericht in die Vorgeschichte
-verlegt; das Stück selbst bringt, in der Art wie bei Sophokles zum
-Beispiel im Ödipus, nur die Auflösung des Konflikts; hatte das
-Wintermärchen uns eine Handlung von sechzehn Jahren und in ihr zwei
-Generationen auf die Bühne gebracht, so geht es auch im Sturm um zwölf
-Jahre und wieder um die scharfe Gegenüberstellung von zwei Generationen
-und um ein Paar, das durch die Liebe dem Haß der Väter Versöhnung
-schafft: aber die Handlung, in der wir all das erfahren und erleben,
-läuft hintereinander in drei Stunden ab, von etwa zwei Uhr bis fünf
-Uhr an einem Nachmittag, so daß das klassizistische Ideal erfüllt ist:
-die Handlung, die in dem Stück verläuft, erfordert ungefähr dieselbe
-Zeitdauer wie das Stück selbst, und innerhalb dieser Handlung erfahren
-wir von den Vorbedingungen und Geschehnissen früherer Zeiten durch
-Berichte und Gespräche.
-
-Keineswegs dürfen wir annehmen, Shakespeare habe sich diesmal der
-Modeform anbequemt, um Gegnern oder Freunden wie Ben Jonson zu zeigen,
-daß er das auch konnte. Der Grund ist vielmehr offenbar der, daß
-Shakespeare gemerkt hat: das Wesentliche, worauf er in dieser letzten
-Schaffensperiode ausging, konnte er mit dieser Technik erreichen.
-Dieses Wesentliche ist, das, was in seinen großen Tragödien Mitte
-und Hebel war, die elementare Kraft der Triebe und Leidenschaften,
-das menschlich Wilde, Gewalttätige, den Schrei des Zorns und der
-Rache, die Gewaltgier und Brunft, was alles ihm seit langem steigend
-widerwärtig und schließlich unerträglich geworden war, zurücktreten
-zu lassen und dafür das Element des Spiels, der Abgeklärtheit, des
-romantischen Zaubers und der tieferen Bedeutung, der Versöhnung
-oder Polemik, in jedem Fall der Weisheit und Rede sich ausbreiten
-zu lassen. Der Dichter, zumal der dramatische, empfindet bei seiner
-Arbeit viel stärker als wir Leser oder Hörer sein völliges Darinsein
-in den Gestalten, die er mit so seelischer, plastischer, dynamischer
-Kraft ins Leben setzt; wir empfinden, wenn Othello rast und die
-Unschuld ermordet, die in des Dichters Gestaltung so volles Leben
-gewonnen hat, den Dichter selbst viel mehr in Desdemona als in dem
-Mohren und entsprechend mehr in Macduff als in Macbeth; der Dichter
-aber weiß, wie viel nicht bloß von zehrender Kraft, sondern auch
-von eigenen Wesenszügen in all diesen Ausbrüchen der Wut und der
-Bestialität enthalten ist. Hätte er, als er den Hamlet dichtete,
-schon die Möglichkeit zu Prosperos Überwindung und Überlegenheit in
-sich getragen, so hätte er dem Dänenprinzen nicht in der Art seine
-Unbewußtheit, sein Nichtauskennen in den eigenen Motiven auf den Weg
-geben können. Indem Shakespeare dem Timon zwar noch die gewaltigsten
-Reden der Wut und Verachtung aus dem Mund strömen lassen kann,
-aber nicht mehr imstande ist, weil es ihn sonst umgebracht hätte,
-diesen Mann dazu noch lebendig als Individuum zu gestalten; indem
-er das innere Seelenleben des durch Selbstbetrug betrogenen Gatten
-im Zymbelin durch eine gewaltige Maschinerie einer ungeheuerlichen
-Handlungsfülle von sich schiebt, im Wintermärchen nur genial skizziert
-und dann von frei heiterem Spiel, das zur Tragik der früheren
-Generation in Gegensatz steht, ablösen läßt, mit alledem verrät er
-etwas, was man auf zweierlei Art ausdrücken kann, weil beides nur
-verschiedene Ausdrucksform für ein und dieselbe Wandlung ist. Man
-kann sagen, daß er nicht mehr robust genug für die unerbittlich
-realistische Darstellung der von der Leidenschaft geschüttelten und
-gepeitschten Menschen war; man kann sagen, daß er eine Stufe höher
-gestiegen war und diese Darstellung nicht mehr brauchte. In jedem Fall
-hatte er in dem Augenblick, wo er für das Neue, das er suchte, die
-vollendete Form gefunden hatte, seine Bahn ausgelaufen. Der junge, der
-leidenschaftliche, der wilde Shakespeare mußte den Schrei der Wut und
-Verzweiflung immer wieder, in den mannigfachsten Verkleidungen, wie
-sie Geschichte, Sage und Novelle als Abbild der eigenen Innerlichkeit
-boten, ausstoßen; der mild und reif gewordene Shakespeare suchte nach
-dem Ausdruck der Resignation und des Verzichtes in Überlegenheit und
-Heiterkeit und verstummte, als er ihn gefunden hatte. Er fand ihn aber
-in dem Inhalt und der Stimmung und der Form seines Sturm. Diese Form
-erlaubte ihm, aus dem, was nun Vorgeschichte war, nicht nur, sondern
-auch aus dem, was in den drei Stunden der Handlung geschieht, alles
-von den sichtbaren Vorgängen auf der Bühne zu verbannen, was in die
-Abgründe der inneren Dämonie der Menschen geführt hätte: nicht nur
-bleibt die Gewalttat des Bruders gegen den Bruder aus schnödester
-Machtgier in der Vorgeschichte; dieser Bruder selbst tritt mit seinem
-fessellosen inneren Wesen nie mit voller Entladung heraus; meist steht
-er wie ein Angeketteter, dem die Zunge in Bann getan ist, im Schatten.
-Über ihn, über Alonso von Neapel, über dessen Bruder Sebastian wird
-der Wahnsinn verhängt, der Wahnsinn der Reue und Gewissensqual, der
-rasenden Tollheit: nichts davon wird gezeigt; Ariel berichtet kühl
-überlegen darüber, ohne auch nur den Versuch zu einer Schilderung.
-
-Recht gut hat sich Tieck, der in all diesem neuen, letzten Stil das
-Urbild seiner romantischen Ironie gefunden hat, darüber, schon 1793,
-geäußert: „Im ganzen Stücke hat der Dichter sorgfältig alle hohen
-Grade, alle Extreme der Leidenschaften vermieden... Er läßt die
-Affekte nie einen sehr hohen Grad erreichen, er will uns in keiner
-Situation tief rühren oder erschüttern, keine Person soll unser Mitleid
-erregen...“ Was Tieck da sagt, ist ganz richtig, wenn man diese
-Rührung und Erschütterung, dieses Mitleid als Affekt, als Qual, als
-das betrachtet, was Goethe manchmal das Pathologische genannt hat. An
-all diese tiermenschlichen Grundtriebe wendet sich hier Shakespeare
-nicht mehr. Unser Mitleiden beim Anblick der von Leidenschaften
-fortgerissenen und zerfetzten Menschen ist selbst leidenschaftlicher
-Art, wie sich hinwiederum, wir haben es früher gesehen, die wilde,
-kochende Hitze der Brunstmenschen mit schneidender Kälte berechnenden
-und verderbenden Verstandes gatten kann. Von dieser Sklaverei der
-Sinne, in der der Verstand, so hell er auch war, dem modrigen Dunkel
-diente, ist Shakespeare, mit Spinoza wieder zu reden, über die Stufen
-der Vernunft weg aufgestiegen zur intuitiven, überlegenen Gelassenheit
-des Geistes, der in der Freiheit wohnt. Und so bringt auf der Höhe
-der Sturmdichtung das warme Gefühl, das innige Erbarmen, die schöne
-Ergriffenheit, die der Dichter wohl erregt, unser Seelenleben nicht
-mehr mit den tierisch elementaren, dämonischen Qualtrieben, sondern mit
-Geist, Vernunft und Klarheit in Verbindung. Unser Mitgefühl entstammt
-nicht mehr dem Bezirk der Venus, sondern des platonischen Eros, nicht
-mehr dem Reich der Furien, sondern des Friedens. Wiewohl ich selbst
-zu gewahren glaube, daß diese Steigerung Shakespeares zum Himmlischen
-mit einem Zustand seiner Leiblichkeit und Geistigkeit zusammenhing, wo
-Nichtmehrkönnen und Nichtmehrwollen fast ununterscheidbar an einander
-grenzten, -- wie viel kräftiger und seelenvoller ist Shakespeare doch
-noch nahe der Entrücktheit und Auflösung als Tieck und Romantiker
-seines Schlages in ihrem Beginn, in dem schon das Ende war; wie schnell
-verirrten sich diese Nachfahren, die die Lust zur allergrößten Wandlung
-und zur neuen Religion nach rasch versprühender Jugend höchstens
-noch als eine Art intellektuellen Kitzels in sich spürten, aus dem
-Ätherreich beseelten Geistes zu bloßer Spielerei des Witzes und krauser
-Arabeske! Seine Verwandtschaft aber zu dem Shakespeare, wie er vom
-Sommernachtstraum über Wie es euch gefällt zum Sturm kam, hat Tieck
-recht empfunden, und so zeigt er in dieser jugendlichen Äußerung gut,
-wie der Dichter des Sturm Gelegenheit zu Verzweiflungsausbrüchen,
-Martern aller Art, Hunger- und Entsetzenswahnsinn gehabt hätte, wie
-er aber all die Darstellung des wild und triebhaft Ausbrechenden --
-vor kurzem, man denke an Lear, noch seine größte Stärke -- vermieden
-hat. So also erklärt sich mir die dramatische Technik, die Shakespeare
-dieses Mal erwählt hat: er zeigt nicht ein von Gewalt und Untaten
-erfülltes Leben, sondern als zauber- und musikerfülltes Spiel in
-raschem Ablauf nur die Auflösung, die Vollendung, den Gipfel: nicht wie
-die Leidenschaft zu ihrem Gipfel ansteigt, sondern wie sie von einem,
-der in sich nach oben gekommen ist und Selbstbeherrschung gelernt hat,
-überwunden und gedemütigt wird. Nach einer gewaltigen, stürmischen
-Introduktion, durch die aber auch schon das Mildernde, Kauzige,
-beruhigend Spielerische hindurchgeht, kommen wir immer mehr in die ganz
-eigene Mischung von Abgeklärtheit, Humor, Neckerei, Sanftmut, innig
-Friedlichem, koboldig Polterndem, ungefährlich Bellendem und Heulendem
-bis zur Verklärung. Versucht man, diese Stimmung, dieses Tempo, diese
-Variationen und Auflösungen des Dramas sich als musikalisches Gebilde
-vorzustellen -- und man ist dazu eingeladen, da das ganze Werk wie
-in Musik getaucht ist und die Musik Ariels und seiner Geister in den
-Lüften keine Begleitung und Zutat, sondern ein Stück der Handlung ist
---, so versteht man, meine ich, ausnehmend gut die Antwort Beethovens
-auf die Frage nach der Bedeutung seiner Gespenstersonate: „Lesen Sie
-nur Shakespeares Sturm.“
-
-Die dümmste Versündigung, die aber vom Ende des 17. Jahrhunderts bis
-auf den heutigen Tag nicht auszurotten scheint, an diesem leichten,
-luftigen, zarten Traumspiel, in dem die Hoffnung und das Gelöbnis
-eines Dichters unserer Zeit, Georg Kaisers, erfüllt ist, daß das
-Schauspiel zum Denkspiel aufsteige, und das die Erdenschwere nur als
-derb burleskes Scherzo und schon himmlische Schwermut kennt, begeht die
-Bühne, wenn man es als Ausstattungs- und Spektakelstück gibt.
-
-Ich habe schon angedeutet: auch die schreckliche Erhabenheit zu
-Beginn, der Sturm, der zum Schiffbruch und zum Schein rettungslosen
-Untergangs führt, wird noch in dieser ersten Szene selbst durch
-komischen Gegensatz und durch die Verschiebung der Perspektive
-gemildert: nicht die Personen erster Geltung, von deren Wesen,
-Vergangenheit und Reisezweck wir vorerst nicht das Mindeste erfahren,
-sondern eine Nebengestalt, der Bootsmann, ein prachtvoll geschauter
-Zyniker, steht im Vordergrund des Interesses. Das ist ein Galgenvogel
-nach Art des frevelhaft und lustig überlegenen Mörders Bernardin in
-Maß für Maß; im Angesicht des Todes flucht und wettert er ohne jede
-Angst und verrichtet mit einem derben und hohnvollen Vergnügen seine
-Schuldigkeit inmitten der äußersten Not und Bangnis als ein sachliches,
-roh vertrautes Geschäft. Für die Todesangst der andern ist er ganz
-gefühllos; er wird schon alles besorgen, was not tut; er will sich ja
-selber auch retten. Brauchst du mir erst zu sagen, daß der König an
-Bord ist? Hab ich ihn denn lieber als mich? Und
-
- Fragt der Sturm nach dem Namen König?
-
-Oder er wendet sich etwa zu dem edeln, alten, aber in Wohlredenheit und
-Klugheit leicht komischen Rat Gonzalo: Na, du bist ja Rat, übe du doch
-dein Amt wie ich meins, vielleicht hilft’s: gib doch den Elementen den
-Rat, sich zu besänftigen! Er hat nur ein paar Worte durch den Orkan
-zu brüllen, der Mann, aber die ganze Wut und Verachtung gegen die
-brutale Natur, mit der er zeitlebens brutal sein mußte, und gegen die
-brutale Gesellschaftsordnung wettert aus seiner heisern Kehle; und daß
-er größte Nichtachtung und unbewegte Gleichgültigkeit auch den Großen
-gegenüber hat, die seinem Schiff anvertraut sind, bleibt uns nicht
-verborgen.
-
-Dann stehen sie alle -- in der ersten Szene dieser Komödie -- vor dem
-sichern Tod; die Matrosen, der König und sein Sohn beten; der Usurpator
-von Mailand und der Bruder des Königs, in dem auch Usurpatorträume
-schlummern, fluchen; Gonzalo behält sanften Humor und überlegene,
-stille Ruhe; der Bootsmann lacht:
-
- Was? müssen wir ins kalte Bad?
-
-So haben wir, ohne noch das geringste vom Zusammenhang zu ahnen, nicht
-die Stimmung des gewalttätigen Untergangs, den wir vor Augen sehen,
-nicht Furcht und Mitleid für die, die sich fürchten und leiden,
-sondern eine Art Staunen im Denken, wie im tobenden Aufruhr der Natur
-und im Angesicht des Todes die Menschen so verschieden, im Adel und
-Vorrecht klein oder mäßig, in Gemeinheit groß sein können.
-
-Und ganz schnell verwandelt sich die Szene: das Schiff scheint unter
-die Wellen zu tauchen, das Meer tobt, der Sturm heult, dickes,
-ziehendes, tief herab hängendes Gewölk droht und wird hin und her
-gefetzt; da steigt vor unsern Blicken eine kleine Insel auf, die
-aus den brandenden Wassern emportaucht, auf ihr, wie in der Mitte
-des kleinen Rundes, in gebietender Haltung der Ruhe der Zauberer in
-dem langen Mantel des Magiers und mit dem Zauberstab; bei ihm ein
-liebliches, fünfzehnjähriges Mädchen, das nun mit einem Mal, so daß
-wir aus all dem Graus zu seligem Lächeln verklärt werden, die wild
-natürliche Situation in eine Geistersphäre rückt mit den Worten, mit
-denen diese zweite Szene anhob:
-
- Wenn _Eure_ Kunst, mein liebster Vater, so
- Die wilden Wasser toben hieß, so stillt sie.
-
-Es ist eine sehr ernste Beschämung, nicht nur für unsre Bühnen, für
-den Zusammenhang vielmehr zwischen unsrer Geistesverfassung und unsern
-Zuständen, daß die liebliche Größe, die hebende, erlösende Wonne dieses
-Übergangs und dieser Szenengemeinschaft unserm Erleben noch immer nicht
-vertraute Wirklichkeit geworden ist. Wie das Kind beim starken Gewitter
-meint, der liebe Gott sei zornig, so erleben wir hier sinnenkräftig,
-als lebendiges Bild, daß es so ist, wie das Mädchenkind Miranda mit
-ihren ersten Worten uns bedeutet: Er, Prospero, hat den tollen Aufruhr
-der Lüfte und Gewässer mit Hilfe seines Ariel erregt: der Tag der
-Vergeltung, der Entscheidung, wir merken bald, der Versöhnung und
-Heimkehr ist da.
-
-Ein zartes, reines, liebliches Kind, eben zum Fraulichen erknospend
-ist diese Miranda, die Wunderbare; ganz des Vaters Geschöpf; seit
-ihrem dritten Lebensjahr ist sie auf dieser Insel und hat außer ihrem
-Vater nie einen Menschen gesehen; nur das Ungetüm Caliban und Prosperos
-Geister. Er muß sie nur beruhigen, sie ist außer sich, daß ihr Vater
-so Böses zu tun imstande scheint; so hat sie ihn in all der Zeit nicht
-kennen lernen; sie weiß aus seinem Unterricht, daß ein Schiff Menschen
-über den Ozean trägt, und Menschen sind, glaubt sie, gute und herrliche
-Wesen wie ihr Vater.
-
-Die Stunde ist gekommen, wo er ihr die Menschenwelt anders zeigen muß;
-aber ehe er noch daran geht, sie über ihre Herkunft, über seine düstere
-Geschichte, über die Art, wie es draußen bei den Menschen zugeht,
-aufzuklären, beruhigt er sie und uns: keinem soll ein Leid geschehen;
-kein Haar soll gekrümmt werden; durch die Macht des Geistes, nicht
-durch Gewalt soll Wiedergutmachung erfolgen.
-
-Und nun erzählt er, erstmals, wer er ist, was ihm und ihr angetan
-worden ist, und deutet im voraus an, was jetzt kommen soll, welche
-Männer er auf ihrer Fahrt gebieterisch angehalten hat. Der Mann, der
-da sein Leiden berichtet, ist uns erst als der zaubermächtige Meister
-gezeigt worden; so haben wir bei diesem langen Bericht, der die
-Vorgeschichte bringt, nicht das Gefühl des Stillstands, sondern des
-bewegten Geschehens. Er erzählt, wie ihn sein eigener Bruder Antonio --
-wie Claudius den König Hamlet -- vom Thron gestürzt und im Bunde mit
-Alonso dem König von Neapel ihn und das noch nicht dreijährige Kind
-nach menschlichem Ermessen ermordet hat: kein Mensch zu Hause kann
-etwas anderes meinen, als daß sie gewaltsam getötet sind und längst
-auf dem Meeresgrund verfault. Aber dieser Ermordete kehrt nicht ins
-Reich des Lebens als Geist zurück, um einen Sohn zur Rache zu rufen;
-er herrscht über die Geistermächte, wohl auch, um über die Feinde zu
-triumphieren, aber durch Beschämung soll es geschehn, dadurch, daß
-sie in all ihrer Unwürde machtlos und geschlagen dastehn: der Sohn
-aber seines mächtigsten Feindes und die eigene Tochter sollen in Liebe
-vereint werden.
-
-Was für ein Bericht ist das! Er steht als Meister und Lehrer vor ihr
-und erzählt ihr in stark eindrucksvoller Haltung und Rede, fesselt ihre
-ganze Aufmerksamkeit, so daß sie mit großen Augen zu ihm aufblickt
-und wie vom Traum umfangen wird, da nun zum ersten Mal das wogende,
-gefahrvolle Leben, wie es draußen unter Menschen ist, sich vor ihr
-auftut, daß sie in den seltsamen Zustand gerät, sich vor Benommenheit,
-Staunen und Entsetzen in plötzlichen Schlaf flüchten zu müssen; wir
-leben ganz in dieser Situation zwischen dem Vater und dem Kind auf
-der Insel, und zugleich öffnet sich die Vergangenheit vor uns und wir
-erleben Prosperos Schicksal und Wesen. Was für ein Mann! Er war der
-Herzog von Mailand, hatte aber seinem Bruder das weltlich-politische
-Geschäft überlassen, weil er selbst „in geheimes Forschen verzückt und
-hingerissen“ war: in Stille versunken lebte er der Erhöhung seiner
-Seele und, von Büchern umgeben, in tief geheimem Forschen. Von seiner
-Verborgenheit aus wirkte er aber mit seinem Geist und Gemüt tief ins
-Volk hinein, das ihn verehrte und liebte. Und nun der Bruder! Nichts
-ergreifender, als wie Prospero, der seit so vielen Jahren den Fall
-bedacht hat und jetzt die Gelegenheit zu seiner Vergeltung magisch
-ergriffen hat, ihm gerecht werden will und ihn, soweit es irgend geht,
-entschuldigt. Der Bruder, sagt er, gewöhnte sich in seine Rolle des
-Befehlens, das ihm in Stellvertretung anvertraut war, so hinein, daß
-er sich als Herzog fühlen lernte und fast nichts anderes wußte, als
-daß er es war, zumal er den gelehrten Bruder in der Verachtung des
-Ungebildeten und Rohen für ganz ungeeignet zur Regierung hielt. So
-riß er ihn, verbündet mit dem König von Neapel, dem er Mailand als
-Vasallenstaat überantwortete, vom Thron und setzte den Bruder, da er
-ihn, den Allbeliebten, wegräumen mußte, öffentlich umzubringen aber
-nicht wagte, mit dem dreijährigen Kind zusammen in einem morschen
-Boot, das nicht Segel noch Masten hatte, aufs hohe Meer aus: er
-sollte unweigerlich zugrund gehen, ohne daß jemand von der Mordtat
-erfuhr, so wie der Usurpator Claudius seinen Bruder eines natürlichen
-Todes sterben ließ. Der Rat Gonzalo gab Prospero aber aus Mitgefühl
-heimlich Kleider, ein bißchen Hausrat und vor allem Bücher mit auf die
-Schreckensfahrt, und so rettete der Ausgestoßene sich und das Kind
-auf diese kleine Insel, die wir uns -- nach späteren Erwähnungen --
-irgendwo zwischen Neapel und Tunis zu denken haben. Ohne sein Wissen
-hätte er das nicht vermocht; denn dieses Wissen ist, das ungebildete
-Volk ahnt es, sein obenhin polierter, bevorrechteter Bruder freilich
-weiß nichts davon -- dieses Wissen ist, was jedes Wissen sein sollte,
-Macht, nicht zur Unterdrückung von Menschen, sondern ein Schlüssel zu
-Kräften der Natur. Oder anders gesagt, in der Sprache der Welt, in der
-wir gläubig für drei Stunden sind: er hat Zaubermacht über Geister.
-
-Mit zwei Geistern oder wenigstens Außermenschen sehr entgegengesetzter
-Art bekam er es auf der sonst unbewohnten Insel zu tun: mit Caliban,
-einem elementaren Scheusal, dem Kind der Hexe Sykorax und eines
-Teufels; und mit Ariel, einem mächtigen und doch zarten Luftgeist, den
-die Hexe durch bösen Zauber seines Elements der Freiheit beraubt und in
-den Spalt einer Fichte geklemmt hatte und den er befreite.
-
-Caliban, der Erdkloß, die am Boden kriechende Schildkröte, der
-dienende, schnöde Sklave für die grobe Arbeit, repräsentiert die
-brutale, hundsgemeine Materie; den durch nichts gemilderten Lebens- das
-heißt Freßtrieb des Tiers, eines Tiers, das ein Höllenhund ist und dazu
-noch -- durch Prosperos Schuld -- sprechen und denken gelernt hat. Der
-Meister hat sich mit dem wilden Höllenkind gläubig pädagogische Mühe
-gegeben; durch Bildung wollte er es zu einer Seele bringen und vergaß,
-daß man nur ausbilden kann, was da ist, daß aber ins leere Nichts
-Hineinbildenwollen eben das ist und das bewirkt, was unsre Sprache
-Einbildung nennt: wozu keine Anlage da war, das konnte von außen
-nicht eingegossen werden, und etwas wie Mitgefühl selbst mit dieser
-Personifikation des Unrats ruft der Dichter hervor, wenn er diesen
-Unerlösten und Unerlösbaren ausrufen läßt:
-
- Ihr lehrtet Sprache mir, und mein Gewinn
- Ist, daß ich fluchen kann. Die Pest hol’ Euch,
- Daß Ihr mich reden lehrtet!
-
-Eine Satire ingrimmigster Art aber ist es, wie Shakespeare uns
-zeigt, welchen Gebrauch dieser Wechselbalg der Hölle von dem Geist
-macht, der ihm nicht zukam, und wie er Calibans Sprache mit der
-Redeweise niedriger Menschen aus der Sphäre der oberen Scheinbildung
-kontrastiert. Es geht um ein fürchterliches Thema: um die Ermordung
-eines schlafenden Menschen. Shakespeare hat es mehrfach behandelt,
-und nicht ein Mal wie das andre. Der edle Mohr von Venedig weckt
-Desdemona, und in aller Wut heißt er sie doch in würdigen Worten sich
-auf den Tod vorbereiten. König Claudius tötet seinen schlafenden Bruder
-in Einsamkeit, sprachlos; wir haben nicht anzunehmen, daß er sich
-vorher mit seiner Buhlin darüber beraten habe. Macbeth braucht solche
-Beratung; wir kennen alle das heiße Gespräch des liebenden Mörderpaars
-vor der Tat. Die beiden Berufsmörder in Richard III., die
-Clarence aus der Welt zu schaffen haben, bringen es nicht zustande, den
-Schlafenden zu erstechen; sie disputieren so lange über den Fall, bis
-ihr Opfer erwacht, und auch dann müssen sie erst in langem Gespräch ein
-Verhältnis zu ihm herstellen, bis ihnen aus bewegter Sprache heraus die
-altbewährte Gebärde des Zustechens geschenkt wird. Sie sind nicht das
-übliche Paar von Gleichen, sondern gegen einander fein differenziert;
-ihre Szene indessen, so liebevoll sie gebaut ist, ist in dem Drama,
-dem sie angehört, nur eine Episode. Hier im Sturm aber bildet ein
-solcher Kontrast ein wichtiges Element der Handlung. Der Dichter stellt
-einander die Art gegenüber, wie der Mensch Antonio, der Brudermörder
-und Fürst, einen andern zum Meuchelmord an einem Schlafenden überredet,
-und wie das sprechende Ungeheuer Caliban das nämliche tut.
-
-Was ist das bei Antonio, wie er Sebastian dazu verführt, seinen
-Bruder Alonso, den König von Neapel, der in tiefer Schlafbetäubung
-daliegt, zu ermorden, für ein langes vorsichtiges Ausholen, ein Tasten,
-ein Andeuten, wie wird die Sprache, indem sie den Plan der Untat
-ausspricht, zugleich dazu benutzt, das Schwarze schön zu färben, das
-Widrige zu bemänteln und die Gedanken zu verhüllen. Der Mensch, zumal
-in der politischen Sphäre, deren Vertreter der Usurpator von Mailand
-ist, hat es gelernt, Rauben Selbstbestimmung und Morden Wohltat zu
-nennen; die Sprache zugleich als Mittel und Vorbereitung zur Tat und
-zum Weglügen der Tat zu benutzen. Indem Shakespeare uns den Menschen
-von dieser Seite vorführt, wählt er, und erhöht damit die Gewalt seiner
-entlarvenden Offenbarung, ein Exemplar, das der brutalste, verhärtetste
-aller Menschen und einer Regung wie Reue oder Skrupel ganz unzugänglich
-ist. Gewissen? Davon weiß er nichts; er liebt Tatsachen, so was wie
-Gewissen aber ist für ihn ein Wort ohne Sinn:
-
- Ei, Herr, wo sitzt das? Wär’s der Frost im Fuß,
- Müßt’ ich in Schlappen gehn; allein ich fühle
- In meinem Busen so ’ne Gottheit nicht.
-
-Gewissen hat er nicht, aber da er ein sprechender Mensch ist, hat er
-Lüge und Heuchelei. Den Sebastian will er dazu bringen, seinen Bruder
-zu ermorden, um dann den Brudermörder, dessen Untat er kannte, zu
-beherrschen; aber nur in langsamem Ausholen, in wiederholtem Ansetzen,
-in Tasten, Drumherumreden, Umschreiben und Andeuten nähert er sich
-seinem Ziel.
-
- ’s gibt Leute, die Neapel
- So gut, wie der hier schläft, regierten...
- Hättet Ihr
- Doch meinen Sinn! Was für ein Schlaf wär’ dies
- Für Eure Standserhöhung. Ihr versteht mich?
-
-Ja, er versteht ihn, sie verstehen sich. Das war sein deutlichstes
-Wort; und doch, wie euphemistisch, wie keineswegs roh im Wortlaut,
-wie harmlos und gesittet ist ein solcher Satz, mit dem sich die zwei
-Sprecher adliger Sprache darüber verständigen, den Schlaf zu ermorden.
-
-Wie aber ein paar Szenen darauf das bestialische Ungeheuer, das von
-Prosperos und des Dichters Gnaden die Gabe empfangen hat, sein Wesen
-und Wollen auszusprechen, dasselbe Unnennbare an Prospero tun will, wie
-prachtvoll geradlinig, wie wahr, wie unbemäntelt sagt Caliban da, was
-er will, ganz ohne Moral, ganz ohne Wohlklang, ganz ohne Heuchelei,
-ganz sachlich, kein Wort zu viel:
-
- Ich liefr’ ihn dir im Schlaf,
- Wo du ihm seinen Kopf durchnageln kannst.
-
-Oder wenn seinem Partner, der ja immerhin ein Mensch und also
-bedenklich und wählerisch ist, dieses gerade Verfahren nicht paßt, weiß
-er noch andre Methoden, die ebenso gut sind, zum Beispiel:
-
- Du kannst ihn würgen,...
- mit ’nem Klotz
- Den Schädel ihm zerschlagen, oder ihn
- Mit einem Pfahl ausweiden, oder auch
- Mit deinem Messer ihm die Kehl’ abschneiden.
-
-Man sieht, Gemüt hat ihm die Sprache nicht gegeben, aber -- auch
-diesem Höllenungetüm! -- eine Steigerung des der Freßsucht dienenden
-Tierverstandes durch Mitteilung, Werkzeuganwendung, Berechnung.
-
-Wie zum Mord, genau so steht er zu allem: er arbeitet unweigerlich,
-wenn er so lange gezwickt und geplagt wird, daß er’s nicht mehr
-aushält, sonst zieht dieser Sohn einer Hexe und eines Teufels, nicht
-anders als die Masse verderbter Menschenkinder, das Fressen und
-Schlafen vor.
-
-Nur in einem Fall kann das froschkalte Tier hitzig werden: wenn der
-Geschlechtstrieb sich regt. Als der zuerst in Caliban erwachte,
-stürzte er sich eben auf Miranda das Kind, das der Vater gerade noch
-retten konnte, wofür alle Sklaven des Triebs dem jungen Kerl dringende
-Entschuldigung gewähren müssen: dies Kind war das einzige weibliche
-Wesen auf der Insel. Von Liebe weiß er weiter nichts, als daß so ein
-Trieb unweigerlicher Art in uns ist und befriedigt sein will, und daß
-ein gesundes schönes Weib „wackere Brut bringt“, -- und da weiß er in
-Wahrheit ein gut Teil mehr als eine Masse Menschenpöbel im Lande der
-Bildung; denn wenn wir calibanisch die Wahrheit sagen wollen: denken
-denn die, denen kannibalisch wohl ist „als wie fünfhundert Säuen“,
-in ihrer Wollust an die Brut, an die Kinder? Höchstens mit Unbehagen
-und mit Angst vor der Plage und den Alimenten! Möge sich doch -- ich
-glaube hier nicht abzuschweifen, ich glaube, daß Shakespeare uns diesen
-Zusammenhang zwischen Caliban und uns vor Augen stellt, den ich hier
-mit seinen und meinen Worten ausdrücke -- möge sich der alimentäre
-Mensch nicht gar zu stolz über das elementare Ungeheuer erheben!
-
-Im Zusammenhang Calibans mit den zwei köstlich gemeinen Kerlen, die
-auf dem Schiff waren, den Trunkenbolden Trinkulo und Stefano, führt
-Shakespeare sein Thema noch eine Stufe höher hinauf.
-
-Vorhin, als ich von den beiden Bewohnern der Insel, die Prospero
-zuerst da vorfand, sprechen wollte, war ich in Verlegenheit um
-eine Gesamtbezeichnung. Ariel ist ein Geist und steht jenseits der
-menschlichen Gesellschaft; aber Caliban? Dieses sprechende Tierwesen
-hat alle Bedürfnisse des Menschen, und da er gewillt ist, sich mit
-einer Menschin zu paaren, und überdies aus Gründen, die uns näher
-angehen, dürfen wir diesen Sproß der Hexe und des Teufels, dies unser
-Zerrspiegelbild nicht verleugnen: er wird schon so was wie ein Mensch
-sein. So dürfen wir sagen, daß Shakespeare uns in diesem Stück die
-menschliche Gesellschaft in drei Stufen vorführt und ihrer jede in
-drei Vertretern: unten in der unverfälschten Roheit Caliban, Stefano
-und Trinkulo; dann in der durch Bildung verfälschten Niedrigkeit der
-herrschenden Kaste: Alonso, Antonio und Sebastian; oben im Reich
-beseelten Geistes Prospero und das junge Paar, das in der Liebe die
-Tierleiblichkeit und den Geist vereinigt und versöhnt: Miranda und
-Ferdinand.
-
-Man sollte meinen, ein widerlicheres, scheußlicheres Ungetüm als
-Caliban wäre nicht möglich. Er ist die verkörperte, die wahrhaft
-von der innern Niedertracht her Körper und bewegter Organismus
-gewordene Häßlichkeit. Und doch hat Caliban etwas an sich, was uns zu
-Versöhnung und fast zu Rührung stimmen könnte. Er ist das Zerrbild
-des Menschen, ist aber insofern kein Mensch, als er wie ein Tier ist,
-dem der göttliche Funke nicht erloschen ist, sondern von Geburts
-wegen fehlt. Man kann ihn nicht mehr schuldig nennen als eine Hyäne
-oder eine Schlange; er trägt die Urschuld oder Erbsünde der gesamten
-Schöpfung, nicht mehr, nicht weniger; er ist ein Unerlöster, wie die
-tierischen Kreaturen alle, deren trauernde Augen wie Fenster vor
-dunkeln Kerkern sind. Könnte man sich vorstellen, daß mit all dieser
-ursprünglichen, völlig unwillkürlichen Niedertracht einer Bestie,
-die die Verstandessprache erlernt hat, auch noch die Lumperei eines
-von Haus aus mit Gemüt begnadeten und für sich verantwortlichen
-Menschen, der von sich in tiefsten Schmutz gefallen ist, leibhaft und
-unabtrennbar verbunden wäre, so wäre Calibans Ekelhaftigkeit noch weit
-übertroffen. Und gerade so ein zusammengewachsenes Doppelscheusal zeigt
-uns Shakespeare auch noch in einer der lustigsten Grotesken, die er
-geschrieben hat, wo wir in allem zwerchfellerschütternden Lachen, das
-uns überfällt, empfinden, Allerbösestes swiftisch vor Augen geführt
-zu bekommen. Ich spreche von der zweiten Szene des zweiten Aktes, wo
-es der genialste aller Szeniker auf die ungezwungenste Art zuwege
-bringt, diese lebendige Maschinerie, den Knäuel nämlich von Caliban
-und Trinkulo, vor unsern Augen aufzubauen. Caliban fürchtet sich vor
-Trinkulo, den er für einen der Plagegeister Prosperos hält, und wirft
-sich platt auf den Boden; Trinkulo, in aller gemeinen Liederlichkeit
-ein feiger, schwächlicher Wicht, flüchtet sich vor dem Gewitter unter
-den Mantel des Scheusals, ganz dicht an ihn heran gedrückt, denn er
-ist gesunken genug, um die Berührung mit dem Widerwärtigsten nicht
-so zu fürchten, wie die Drohung des Wetters; Stefano, ein verwegener
-Kerl mit einer Art von rohem, beherztem Rationalismus, findet das
-Doppelungeheuer mit vier Beinen und zwei Köpfen und denkt vor allem
-daran, was für ein Geschäft er machen kann, wenn er diese unerhört
-wunderbare Mißgeburt vor den Potentaten Europas produzieren wird.
-Und so gießt er, um das redende Monstrum von dem Fieber zu heilen,
-von dem es befallen scheint, in die beiden Mäuler Schnaps aus seiner
-Flasche, die er aus dem Schiffbruch gerettet hat. Trinkulo läßt sich
-herauswickeln und begrüßt seinen Zechbruder; Caliban aber ist zum
-ersten Mal in seinem armen Leben in Seligkeit und Verzückung. Denn
-die Bestie hat nun eine wundersame Menschenerfindung kennen gelernt,
-mit der wir auch sonst die Naturkinder in wilden Ländern, die keine
-Calibans waren, beglückt haben: den Alkohol. Prospero hatte den ganz
-vergeblichen, verderblichen Versuch gemacht, ihm in seine Leere Geist
-einzutrichtern; nun aber ist ihm der wahre Geist aus Stefanos Flasche
-eingegossen worden! Wer den Göttertrank spendet, der ihm wie Wonne und
-Verwandlung durch alle Glieder rieselt, der muß ein noch mächtigerer
-Geisterfürst sein als Prospero, der gegen ihn in Wahrheit, wie wir
-das Elementare in der Natur nur mit Gewalt in unsern Dienst zwingen,
-nichts üben kann als harten Zwang. Sofort betet drum Caliban den Lumpen
-Stefano als König an. Gegen Prosperos Herrschaft, der ihm vornehm,
-unfaßbar als Wesen andrer Art gegenüberstand, hat er sich, wie es
-Naturnotwendigkeit war, gewehrt, hat sie als Unterdrückung empfunden;
-jetzt, wo er dem dienen darf, den er als einen zu ihm Gehörigen, der
-ihm hilft, der ihn niederträchtig glücklich macht, als Herrn anerkennt,
-fühlt er sich frei. Und wiederum, und für diese Stelle der Dichtung
-noch nachdrücklicher sage ich: es ist innig ergreifend und zugleich
-tiefsinnig und grandios grotesk, wie dieses arme Untier, das von
-dem edlen Prospero nur mit Zwicken und Prügeln zur Arbeit gebracht
-worden war, jetzt zu den niedrigsten Diensten willfährig ist, wie es
-aus Religion, wenn’s auch nur die Religion des Schnapses ist, ein
-freiwilliger Sklave wird, wie es „Freiheit! Freiheit!“ und Jubelrufe
-brüllt und ihm aus dieser Freiheitsstimmung und Begeisterung die Gabe
-des Liedes zuwächst. Aus dieser Situation heraus, in dieser Bedeutung,
-die sich aus dem anschaulich gestalteten Sinn des Dramas für unser
-erlebendes Gefühl ergibt, kann es kein lyrisches Stück geben, das
-zugleich so lustig, so abstoßend, so lehrreich, so gewaltig und so
-rührend wäre wie Calibans Lied, das dieses „heulende Monstrum, trunkene
-Monstrum“ wild energisch in besoffener Courage und in schrecklichen
-Tönen, die so Musik sind, wie Häßlichkeit Schönheit ist, dem Prospero
-zusingt, dessen verhaßte Herrengestalt vor seiner Phantasie ersteht:
-
- Will nicht mehr Fischfänger sein,
- Noch Feurung holen,
- Wie’s befohlen;
- Noch die Teller scheuern rein!
- Ban, ban, Cacaliban
- Hat zum Herrn einen andern Mann!
- Schaff einen andern Diener dir an!
-
-Auch hier, im Letzten, der ganz große, der Dramatiker, das heißt der
-Gerechte Shakespeare: der höchste und der niederste Mensch stehen sich
-gegenüber, von einander ewig getrennt wie der römische Plebejer von
-Coriolan, wie Thersites von Hektor, und doch jeder in seinem Recht.
-Bei uns ist aus Gerechtigkeit Toleranz und Unsicherheit geworden,
-und so ist der moderne Dramatiker wacklig und schwankt auch mit
-seinen Sympathien hin und her; das Erstaunliche, das Umfängliche
-an Shakespeare ist, daß er nicht ins Periphere bebt, sondern einen
-ursicheren Mittelpunkt hat, in dem er bei seinem Helden steht. Und
-von da aus dann mit einem Mal das Licht auf die tief Beschatteten
-im dunkeln Winkel fallen zu lassen, vom entschlossen erwählten und
-festgehaltenen Adel aus der Niedertracht ihre eigne Stimme aus
-dem Tiefsten hervorzuholen, das ist Shakespeares Gerechtigkeit,
-Stufenordnung und dramatische Kunst.
-
-Nach Freiheit begehrt auch das Naturwesen, das zwischen Erde und Himmel
-flattert, Ariel der Luftgeist. Er gehört im beseelten Reich der Natur
-zu Blüten, die sich im Winde wiegen, zu Schmetterlingen und Schwalben,
-aber nicht zu Menschen. Und nur durch zartesten, schmeichlerischen,
-liebevollen Umgang, dadurch, daß er selbst sich frei, neckisch, heiter,
-schwingend seinem dienenden Freund anpaßt, kann Prospero in Güte und
-Herzensnähe mit dem ätherischen, zarten und doch -- im menschlichen
-Sinne -- seelenlosen Geistwesen leben. Nichts entzückender als dieses
-herrenmäßig ergebene immerwährende Kosen von Prospero zu diesem
-lebendig bewegten Stück Natur hin, das immer wieder fliehen will wie
-der Wind und sich doch immer wieder für eine Weile festhalten läßt; wir
-haben immer den Eindruck, daß kein Mensch außer Prospero diesen Freien,
-Beweglichen, der sich nie ganz gefangen gibt, an sich bannen könnte.
-Und wir haben den Eindruck: hat schon Prospero Caliban nicht erziehen
-können, Ariels in aller Naturschrecklichkeit natursanftes Wesen hat
-den Menschen Prospero, der als Anlage alles in sich trägt, in seinem
-Besten bestärkt und gehoben.
-
-Ariel gibt allem, was in der Dichtung geschieht, den luftigen,
-heiteren, dem Geist der Schwere entronnenen Charakter; er ist
-die Kraft, die vor unsern Augen und im Hintergrund die Handlung
-mit wunderbarsten Mitteln, mit Sturm und Flammen und Liedern und
-Trommelschlag vorwärts bringt. Er ganz allein hat Sturm und Meereswut
-und Blitz und Brand auf dem Schiff hervorgebracht, und diese seine
-bloße Erzählung von dem Sturm und Feuer, wie es als Sinnenschein
-aus ihm, der geeinten Naturkraft hervorging, muß in der rechten
-Aufführung, die in diesem Stück noch weniger als sonst bei Shakespeare
-aufs Dekorative, noch mehr auf die Greifbarkeit des Geistes ausgehen
-muß, gewaltiger wirken als das Gewitter der ersten Szene; durch die
-Geteiltheit unsrer Sinne hindurch vernehmen und gewahren wir in
-Ariels Darstellung eine höhere Region der Naturwelt, Fechners drittes
-Reich, wo das, was Platon die Idee genannt hat, der Zusammenhang, das
-Schöpferische waltet:
-
- Ich enterte das Schiff
- Des Königs; jetzt am Schnabel, jetzt im Bauch,
- Auf dem Verdeck, in jeglicher Kajüte
- Flammt’ ich Entsetzen; bald zerteilt ich mich
- Und brannt’ an vielen Stellen; auf dem Mast,
- An Stang’ und Bugspriet flammt’ ich abgesondert,
- Floß dann in eins...
-
-Und so hat er den Schein und die volle Wirkung eines fürchterlichen
-Schiffsbrands und Untergangs im schrecklichsten Sturm erregt, und
-alle Reisenden sprangen im Entsetzen ins Meer, wo sie dann zu ihrem
-Staunen unbeschädigt an den ganz nahen Strand gespült wurden. Zu dem
-rüden Bootsmann aber und seinem Schiffsvolk können wir, wenn wir gut
-aufmerken, nachträglich verstärkte Sympathie fassen: sie alle sind
-in Ausübung ihrer Pflicht bis zuletzt auf dem Schiff geblieben und
-liegen jetzt durch Ariels Zauber im untersten Schiffsraum in tiefem
-Schlaf. Die schuldigen Fürsten und ihr Gefolge sind vorerst heil auf
-einem entfernteren Teil der Insel; nur der Sohn und Erbe des Königs
-von Neapel ist verloren gegangen und wird von dem trauernden Vater und
-frohlockenden Schelmen für tot gehalten. Der junge Prinz Ferdinand
-aber lebt; es geschieht alles, wie der Meister es bestimmt hat; Ariel
-führt ihn Prospero zu, der ihn -- zur Prüfung -- gefangen nimmt, zu
-Knechtschaftsdiensten verdammt und so in Mirandas Gesellschaft bringt.
-
-Wir sind auf Wundersames vorbereitet, denn wir wissen: es ist außer
-ihrem Vater der erste Mann, den das Mädchen erblickt. Entzückend,
-wie die Ausschließlichkeit der Liebe auf den ersten Blick, die sonst
-den Erwählten aus der Schar aller andern herausgreift, hier die Form
-annimmt: er ist der erste und einzige, den ich je gesehen; nun denn,
-ich brauche keinen andern! Was die Bestie Caliban nicht kennt, die
-wählende, unentrinnbare Liebe, die Paargemeinschaft zwischen dem einen
-Mann und dem einen Mädchen, die Verklärung des Geschlechtstriebs durch
-seelische Innigkeit, erblüht ihr in dieser Ausnahmelage, daß sie nicht
-vergleichen kann:
-
- So hat in Demut denn
- Mein Herz gewählt; ich hege keinen Ehrgeiz,
- Einen schönern Mann zu sehn.
-
-Und dies Kind der Natur und des Geistes kennt die Heuchelei der
-Gesellschaft gar nicht, wiewohl die natürliche Keuschheit gar sehr:
-sofort bekennt sie sich, dem Vater, dem Geliebten selbst ihre Liebe:
-
- Ich bin Eu’r Weib, wenn Ihr mich haben wollt,
- Sonst sterb ich Eure Magd; Ihr könnt mir’s weigern,
- Gefährtin Euch zu sein, doch Dienerin
- Will ich Euch sein, Ihr wollet oder nicht.
-
-Das ist eine Stelle, die Strindberg ganz besonders wohl im Herzen
-tut, und er spricht sie gegen den Noramann, wie er Ibsen nennt, und
-alle Vorkämpfer der Frauenemanzipation aus; aber für einseitige und
-willkürliche Tendenzen wird man bei Shakespeare nur Unterstützung
-finden, wenn man unachtsam oder gewalttätig ist; dieses Gefühl, dem
-die Freiheit der Liebe Hingabe bis zur Dienstbarkeit ist, wird von
-Ferdinand dem Jüngling sofort für sich gerade so ausgesprochen, wie
-von dem Mädchen. Beide geloben einander die Ehe als gegenseitige
-Dienstbarkeit, welche der Liebe, das heißt der Freiheit entstammt.
-Es ist nicht zu übersehen, daß dieses Verhältnis zwischen Freiheit
-und treuem Dienst eines der Themen ist, die durch die ganze Dichtung
-hindurchgehn. Wir haben gesehen, wie Caliban ein geplagter Sklave
-ist, weil er in den Dienst des Guten gewaltsam eingespannt wird, und
-daß ausgelassener Jubel über ihn kommt, sowie ihm der Schnaps einen
-Herrn gebracht hat, den er in Freiheit verehrt. Und das haarfeine, in
-jedem Augenblick gewagte, gefährdete und wieder geknüpfte Verhältnis
-zwischen Prospero und Ariel haben wir kennen gelernt: Prospero, der
-Ariel aus schmählichster und ärgster Gefangenschaft befreit und ihn bei
-der Gelegenheit in seinen Dienst gezwungen hat, ist keinen Augenblick
-seiner sicher, da mächtiger noch als der Zauberbann und das gegebene
-Wort der Freiheitsdrang dem flüchtigen Geiste in der Natur sitzt; aber
-etwas, was zwischen dem Menschen und dem Elf gar nicht möglich scheint
-und keinem als dem Herrscher im Reich der Phantasie Prospero erreichbar
-ist, die Liebe ruft Ariel immer wieder aus der Flucht in den Dienst
-zurück, bis Prospero dem Liebling, dem Herzensariel freiwillig die
-Freiheit schenkt. All das, was Shakespeare uns da zur Letze gegeben
-hat, ist ein heiliges Vermächtnis für das Miteinanderleben der Menschen
-in Familie, Bünden und Gesellschaften und liegt als totes Gut unberührt
-da; all das ist uns Frevlern der Trägheit nur Literatur, Lektüre und
-Schauspiel; wir bleiben unsern Meistern, ob sie Shakespeare oder
-Goethe oder Beethoven heißen, die Religion schuldig, die sie uns
-geliehen haben, damit wir mit ihr wuchern.
-
-Wir haben Shakespeare gegenüber eine Entschuldigung: er spricht
-nicht zu uns, nicht bloß, weil wir nicht hören, sondern, weil er ein
-Stummer ist. Nie hat die Erde einen getragen, dem das Schweigen,
-das Nichtredenkönnen mehr Gebot war als diesem Menschen. Das klingt
-erstaunlichst, denn nie auch hat einer größere Gewalt über die Sprache
-besessen und geübt, als er. All diese strömende Fülle aber hat er
-immer nur den Leidenschaften und krausen Einfällen, den Ergüssen und
-Repliken seiner Gestalten geliehen; den Sinn dessen, was zwischen
-diesen Gestalten waltet, den Geist seiner Dichtungen hat er szenisch
-gebaut, hat ihn gezeigt, hat ihn sichtbar gemacht und zwischen den
-Worten aufleuchten lassen; er hat nie vermocht, einer seiner Gestalten
-in den Mund zu legen oder sonst irgend voll und gerade heraus zu sagen,
-was das Drama, was auch nur eine Gestalt bedeutet. Darum aber auch,
-weil diese Sprachwerke in ihrem Eigentlichen weit über die Sprache
-hinausgehn, weil sie nie abstrakte Lösungen, sondern immer Aufgaben
-für uns sind, weil sie nie fertig sind, sondern immer auf Empfängliche
-und Berufene stoßen müssen, die sie in Empfindung und Verständnis
-vollenden, darum sind sie heute noch jung und neu wie am ersten Tag und
-sind jedem neuen Geschlecht der Erdenbürger von neuem eine unbekannte
-Küste, zu der wir Entdeckungsfahrten machen.
-
-Auch das Verhältnis Prosperos zu seinem Bruder empfängt von dem
-Standpunkt aus, zu dem wir hier gekommen sind, neues Licht. Seine Frau,
-Mirandas Mutter, ist früh, bald nach der Geburt gestorben (dies Unglück
-trifft auffallend viele von Shakespeares Vätern; so nebenher, wenn er
-nicht gerade das Eheverhältnis selbst darzustellen hat, weiß er mit
-Ehefrauen selten etwas anzufangen); Prosperos ganze Liebe galt nun dem
-Kind und -- er sagt es ausdrücklich -- dem Bruder. Damals und noch
-lange hin, er bewährte es später bei dem Versuch, Caliban zu erziehen,
-war er noch ein Gläubiger, der die Menschen nach seinem Bilde sah und
-ihnen unbegrenztes Vertrauen entgegenbrachte. Nichts schmerzt und
-erzürnt ihn bei der Rückerinnerung mehr, als „daß ein Bruder so treulos
-sein kann“.
-
-Treulos aber war dieser gemütlos Gierige nicht bloß gegen den Bruder,
-genau so gegen das Volk von Mailand, dem er die Freiheit raubte, das er
-unter fremdes Joch brachte, um selbst den Herrscher zu spielen und die
-Staatseinkünfte zu genießen. Wir erhalten ein großes Gegensatzbild: wie
-Antonio der Usurpator sich eifrig und nach außen tätig im politischen
-Betrieb übt, die Bureaukratie und andre Interessenten an sich fesselt
-und vor lauter Egoismus so betriebsam ist, daß er kein eigenes Leben
-lebt, während Prospero, der sich zu völliger Einsamkeit zurückgezogen
-hat, fern von allen Staatsgeschäften nur seiner Seele lebt und eben
-damit dem Volke dient und sich als echter Herzog fühlt. Er, den das
-Volk über alles liebte, der ein Fürst unter den Menschen war, weil er
-ein Fürst im Reich des Geistes war, hat dann, während, vom Verräter
-hineingelassen, der Feind in Mailands Tore einzog, ausgesetzt in
-morschem Boot hilflos im Meer treiben müssen, und nur das Lächeln
-seines Kindes, in dem etwas Ewiges zu ihm sprach und ihm die Zuversicht
-gab, man brauche an den Menschen trotz allem nicht zu verzweifeln,
-gab ihm die Kraft, noch leben zu wollen. Damals, wie er, den Wellen
-und Winden preisgegeben, ein aus der Menschheit Verstoßener, vom
-nächsten Menschen Verratener, ziellos mit dem lächelnden Kind übers
-Meer hintrieb, mag dem innigen Mann zuerst die Vision erschienen sein,
-wie dieses Kind einst über Gier und Haß hinweg im Land seiner Feinde
-den Bund der Liebe gründen würde. Und nun ist es durch eine wunderbare
-Fügung des Schicksals so weit: jetzt kommen, von Tunis heimgekehrt, wo
-die Tochter des Königs von Neapel eine verhaßte Heirat schloß, zu der
-sie die Staatsraison ihres Vaters zwang, die Feinde in stolzer Fahrt
-über dasselbe Meer, das einst Prosperos elenden Kahn wiegte; sie sind
-in seiner Hand. Ferdinand, der Jüngling, fast ein Knabe noch, dessen
-Reinheit der Geisterfürst ahnt, wird von den andern getrennt; er allein
-von allen, die sich ins Wasser stürzten, kämpft kühn mit dem Element;
-so kommt er an Prosperos Strand, zu seiner Prüfung und seiner Liebe.
-Wir sehen, wie beglückt Prospero, wie dankbar er der Naturmacht Ariel
-ist, daß dieser erwünschte Bund nun wunderbar zustande kommen soll.
-Die andern aber, die Mörder, die sollen erst durch Wahnwitz hindurch,
-sollen wie im Alptraum ihre längst vergessene Schuld an Prospero
-empfinden, um in Herzensleid zu büßen und, wenn sie’s vermögen, zu
-reinem Leben zu kommen.
-
-Bei einem, dem mindest Schuldigen, dem König von Neapel gelingt es;
-noch ehe Ariel in Gestalt der Harpyie ihnen gemeldet hat, daß sie um
-ihres Verbrechens gegen Prospero willen leiden und nur durch Umkehr
-von innen heraus sich aus dem Bann befreien können, noch ehe ihnen der
-Geist so verkündet, was sie in all der langen Zeit nicht gewußt hatten,
-daß der Frevel nämlich eine Wirklichkeit ist nicht nur für den, gegen
-den er sich richtet, sondern auch für die Täter, eine Wirklichkeit,
-die lebt und zehrt, solange die Buße nicht ihr noch stärkeres Leben
-und Reinigen anhebt, schon vorher, gleich nach der Landung auf der
-Insel und beim Verlust des Sohns ist tiefe Schwermut und dumpfes Brüten
-über ihn gekommen; all die Einfälle, Witzreden und geistreichen oder
-gewagten Gespräche seiner Umgebung vermögen ihn nicht aufzuheitern und
-dienen von der Technik des Dichters aus nur dazu, uns immerfort das
-Schweigen dieses Mannes, der sich immer tiefer verliert und findet,
-vernehmlich zu machen. Die andern Schuldigen, Prosperos eigener Bruder
-und der Bruder des Königs, die jetzt eben wieder Brudermordpläne
-schmieden, welche nur von Ariel vereitelt werden, bleiben verstockt
-bis zuletzt, und keine Erinnerung, keine Musik, kein Wahnwitz, keine
-Mahnung kann ihnen Erneuerung bringen.
-
-Aber Prospero will die Prüfung und Plage nicht länger hinziehn; er hat
-sich genug getan, daß er die Macht des Geistes und der Natur gegen die
-aus der Gesellschaft geborene Schlechtigkeit verderbten Menschentriebs
-zum Sieg geführt hat; die Natur solcher ererbten, verderbten
-Gemütsart kann er doch nicht ändern; die Kruste, die in ihnen das
-Gute überwachsen hat, ist so hart geworden, daß der, der es noch bei
-ihren Lebzeiten wachrufen will, einem Nichts, einem unerreichbar
-Verschütteten gegenübersteht; und gegen das Nichts gibt es nicht Rat
-noch Tat; der resignierte Lehrer Calibans weiß es nur zu gut.
-
-Zur Milde und letztgiltigen Verzeihung stimmt ihn vor allem, in einer
-himmlisch schönen, verklärten Szene Ariel. Der spricht -- ohne weitere
-Schilderung -- von dem plötzlichen Wahnsinn, den er über die drei armen
-Sünder vom Thron verhängt hat, und von dem Eindruck, den diese grausige
-Verwandlung ihrer Fürsten auf die Herren vom Hof, vor allem auf den
-guten alten Gonzalo gemacht hat,
-
- Daß, wenn Ihr jetzt sie sähet, Eu’r Gemüt
- Erweichte sich.
-
-Prospero fragt sinnend oder prüfend:
-
- Glaubst du das wirklich, Geist?
-
-und Ariel erwidert in tiefem Ernst:
-
- Meins würd’ es, wär’ ich Mensch.
-
-Da ist Prospero entschieden und bricht in inniger Ergriffenheit aus:
-
- Auch meines soll’s.
- Hast du, der Luft nur ist, Gefühl und Regung
- Von ihrer Not? und sollte nicht ich selbst,
- Ein Wesen ihrer Art, gleich scharf empfindend,
- Leidend wie sie, mich milder rühren lassen?...
-
- Der Tugend Übung
- Ist höher als der Rache... Geh, befrei’ sie.
- Ich brech’ den Zauber, löse ihre Sinne:
- Sie soll’n sie selbst nun sein.
-
-Ich weiß nichts, was rückwirkend eine bessere Erklärung für Hamlet
-wäre, als diese Wendung, wie sie der Sturm bringt. Wir werden nie wagen
-dürfen, zu entscheiden, wie weit die Unklarheit Hamlets über seine
-Motive und seinen heimlichen Willen eine Unklarheit des Dichters noch
-war, die jetzt der Klarheit gewichen ist; zu solchem Rätselraten hat
-sich Shakespeare zu tief in seinen Gestalten geborgen. Aber sicher
-ist, daß Hamlet, als er, die Hand am Schwert, um es zu ziehen, und
-zugleich an seinem Rachetrieb, um ihn nicht loszulassen, unentschieden
-dastand und darüber sann, wie er das Schwert schrecklicher zücken
-könne, auf der Suche nach dem war, was Prospero gefunden hat. Sehr
-seltsam dünkt mich das Verhältnis unsrer Empfindung zu den raschen
-Instinktuntaten, wie sie etwa Othello oder auch Hamlet begehen,
-und zu den wohlerwogenen, milden, kurzen Plagen, die Prospero über
-seine frevlerischen Feinde verhängt. Wir scheinen geneigt, mit jenen
-Ausbrüchen der Wut wie mit etwas Natürlichem mitzugehn, uns an den
-Strafen Prosperos, ja sogar an seinem rationellen Plageverfahren
-gegen den unbezähmbaren Wilden Caliban als etwas sehr Hartem zu
-stoßen. Das kommt, meine ich, daher, daß wir selbst die Bereitschaft
-zu jeder blutigen Gewalttat in uns locker genug finden, wenn wir in
-unsrer Triebnatur stehen, daß wir es aber, sowie wir zur Vernunft, zur
-Beherrschtheit, zur Abgeklärtheit übergetreten sind, nicht ertragen,
-irgendein lebendes und nun gar menschliches oder menschenähnliches
-Wesen als Mittel, ja sogar, ein Stadium seines Daseins als Mittel zu
-einem künftigen benutzt zu sehen. Wir haben beides als Möglichkeit
-in uns, den Affekt und die Vernunft; wir gehen aber in unbeirrtem
-Mitgefühl mit dem Triebmenschen, während wir beim Überlegenen jeden,
-auch den kleinsten Rest aus der tierisch-sinnlichen Sphäre als
-unangenehm empfinden.
-
-Im Hamlet hat eine Geisterstimme den Sohn, der seiner ganzen Anlage
-nach so ein Geistiger, so ein Dichter zu sein berufen ist wie
-Prospero, zur Rache aufgerufen; zu blutig mörderischer Tat drängt’s
-ihn unterirdisch von außen, unterirdisch in ihm selbst; von seiner
-inneren Höhe aber, von seinem besten Wesen ruft es ihn zur Gewalt
-der gestaltenden Rede, des strafenden, bannenden Worts, zu dem jetzt
-Prospero mit tiefem Atemzug ausholt. Und zu diesem Verzicht auf
-jegliche Strafe und Plage ermuntert hat ihn Ariel der Geist, dem Grazie
-und spielerische Leichtigkeit und holde Anmut etwas verleihen, was
-wie eine natürlich gewachsene Nachbildung des sanftesten Teils unsres
-menschlichen Gemüts ist, wo es von der Stille der Vernunft, wo Seele
-von Geist, Gefühl von Denken nicht mehr zu trennen ist.
-
-Wozu auch, sagt sich Prospero, wozu strafen, verletzen, töten, Leben
-zerstören? Ist ja doch alles Leben nur ein seltsames Spiel, das mit uns
-getrieben wird, und so unwirklich und vergänglich, wie der Geisterspuk
-und Hokuspokus, den er selbst schmerzlos entstehen und vergehen läßt.
-Schmerzlos! Das ist der Unterschied zwischen dem Leben der Gestalten,
-die der Phantast in die Lüfte zaubert, und derer, die das dunkle
-Schicksal aus den Elementen ins Dasein bannt. Darum tut Milde und
-inniges Mitleid not, auch gegen die Schlechten: das Leben, an dem die
-dämonischen, erdenschweren Naturkräfte hämmern und zerren, ist mit
-Gefühlen, mit Schmerzen verbunden, gleichviel ob einer gut oder schlimm
-geraten ist, während Prosperos luftiger Trug nur Spiel und bunter,
-flimmernder schmerzloser Geistertraum ist. Sonst aber freilich, was ist
-Leben, was ist Erde, was ist Welt andres als Traum und Spiel?
-
- Unsre Spieler,
- Wie ich Euch sagte, waren Geister und
- Sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft.
- Wie dieses Scheines lockrer Bau, so werden
- Die wolkenhohen Türme, die Paläste,
- Die hehren Tempel, selbst der große Ball,
- Ja, was daran nur teilhat, untergehn
- Und, wie dies leere Schaugepräng erblaßt,
- Spurlos verschwinden. So ein Stoff sind wir,
- Wie der, aus dem man Träume macht; ein Schlaf
- Hält unser Stückchen Leben rings umgürtet.
-
-Man hat gezeigt, daß diese Worte Ähnlichkeit mit einigen Verszeilen
-haben, die sich in einer 1603 erschienenen Tragödie des Lord Stirling
-finden. Das ist nicht wichtig. Wichtiger ist mir, daß das ganze
-modische Maskenspiel, das Prospero vor Ferdinand und Miranda von
-seiner kleinen Geistertruppe in den Lüften aufführen läßt, eben um
-dieser Worte willen, die daran anknüpfen, hauptsächlich veranstaltet
-scheint. Derart ist Shakespeares Technik in dieser Zeit; wir haben
-Ähnliches vorhin bei Gelegenheit der Dialoge gesehen, die Alonsos
-Schweigsamkeit umklingen. Ein wenig kann bei der Maske, die aufgeführt
-wird, mitbeabsichtigt sein, noch einmal die bräutliche Beherrschung des
-Geschlechtstriebs hervorzuheben, die Prospero dem jungen Menschenpaar,
-fast noch zwei Kindern, auferlegt hat. Das steht mit dem Sinn des
-Dramas, der Überwindung des Triebs durch den Geist, wohl aber auch
-in seiner fast etwas schrullenhaften Gestalt mit unauslöschlichen
-persönlichen Erfahrungen Shakespeares aus der Jugendzeit in Verbindung.
-
-Wir hören es aus den Worten von der Vergänglichkeit, die Prospero zu
-Ferdinand spricht: die Heiterkeit, zu der der Herrscher im Geistland
-schließlich gelangt ist, ruht auf schwerster Melancholie; und seine
-Güte zu den Menschen ist mit Lebensmüdigkeit und Menschenverachtung
-verbunden; und dieser Stimmung widerspricht nichts in dem Stück; die
-Utopie eines goldnen Zeitalters in Kommunismus und südlichem ~dolce
-far niente~, die Gonzalo nach Montaigne vorträgt, kommt nur als
-Erheiterung für den Trübsinn des Königs, als schönes Bild, als Scherz,
-keineswegs gläubig heraus; und wenn Prospero nicht Geisterfüllte,
-Seelenvolle, wenn er nicht Ausnahmen und seines Gleichen kennte, wenn
-er nicht seine Hoffnung auf das junge liebende Paar und damit auf die
-kommenden Geschlechter setzte, wäre ihm Welt und Leben nicht mehr zu
-ertragen.
-
-Schön ist es, daß diese Worte von der Vergänglichkeit aller Dinge der
-Welt, von der Traumhaftigkeit und Schlafumgürtung des Menschenlebens
-ihren Platz am Sockel von Shakespeares Denkmal in der Westminsterabtei
-gefunden haben.
-
-Wie das Leben von Schlaf und Traum, so ist dieses Vermächtnisdrama
-Shakespeares von Musik umringt. Wir hören es gleich noch, wie jetzt für
-Prospero-Shakespeare an Stelle der dämonisch leidenschaftlichen Magie
-die heilende, lösende Musik der neue, der luftgleiche, verschwebende,
-leicht sich wiegende, spielerische, immaterielle Zauber sein soll.
-Was es mit dieser Musik, der nämlichen, von der schon Lorenzo im
-Kaufmann von Venedig so feierlich sprach, auf sich hat, sagt uns der
-Dichter auch mit dem entzückenden Orpheuslied, das er um dieselbe Zeit,
-in der er den Sturm dichtete, in seinem Heinrich VIII. der
-unglücklichen Königin Katharina vorsingen läßt:
-
- Orpheus beugt der Bäume Wipfel,
- Und der Berge eisige Gipfel
- Seiner Leier süß Getön.
- Blum’ und Pflanze blüht entgegen,
- Gleich als blüht’ in Sonn’ und Regen
- Junger Frühling, ewig schön.
- Sanft zum Wellenspiel sich lösen
- Sturmesfluten, alle Wesen
- Lauschen seines Sangs Gebot.
- Solche Macht ward süßen Klängen;
- Sorg und Weh, die uns bedrängen,
- Wiegen sie in sanften Tod.
-
-Durch Geistermusik läßt Prospero die Besessenen von dem auferlegten
-Wahnsinn einer kurzen Stunde wieder heilen, läßt sie vor sich treten,
-gibt sich ihnen noch in den Taumelschlaf hinein zu erkennen und
-spricht, da er die Hauptschuldigen von der Schlechtigkeit, von der sie
-besessen sind, nicht erlösen kann, mit der verachtungsvollen Milde, die
-jetzt für ihn die äußerste Strenge ist, die der Geist zu üben hat, zu
-dem Brudermörder:
-
- Fleisch und Blut,
- Mein Bruder du, der Ehrgeiz hegte, austrieb
- Gewissen und Natur, der mit Sebastian
- -- Des inn’re Pein deshalb die stärkste -- hier
- Den König wollte morden, -- ich verzeih’ dir,
- Bist du schon unnatürlich!
-
-Der Bruder Antonio findet in der ganzen langen Szene erst gegen den
-Schluß hin ein einziges Mal, wie ihn sein Kumpan Sebastian direkt
-anredet, ein paar Wörtchen; die beiden rohen Bemerkungen, die die
-zwei Gesellen austauschen, zeigen genugsam, daß ihre Gemeinheit auch
-von diesem Erlebnis, das für König Alonso die zermalmende und neu
-aufbauende Erschütterung war, nicht umzubringen ist. Aber im Verhältnis
-zu allen andern, die bei dem Vorgang sind, stehen die beiden wie
-fortgeschoben und entehrt zur Seite. Der Usurpator ist von nichts, für
-ihn nichts, von bloßen Worten überwunden; er ist zu nichts geworden und
-hat sein Herzogtum eingebüßt und wird im Leben nicht fassen, daß eine
-andere Macht ihn besiegt hat als die, die er versteht und übt: rohe
-Gewalt.
-
-Der Geisterfürst ist wieder Herzog von Mailand; bald aber wird das
-junge Paar an seiner Stelle herrschen; denn Prospero will nur mit nach
-Italien segeln, um seine „Herzgeliebten“ zu vermählen und dann nach
-Mailand zu ziehen; dort soll „jeder dritte Gedanke dem Grab gelten“.
-
-Seine Geister aber hat er schon hier, auf der Zauberinsel, auf der
-er ihre Kraft an sich gefesselt hat, entlassen; er ist nun am Ziel
-und will als ein gewöhnlicher, sterblicher, sterbender Mensch in die
-Heimat zurückkehren; die Kraft der Magie, mit der er Feuer aufrührte
-und Stürme entfesselte, ist zu Ende, und auch am luftig leichten
-Arielspiele will er fürder keine Lust mehr haben. Wir, die wir uns
-Shakespeares Werk in feiner Gesamtheit, Einheit und Entwicklung
-vergegenwärtigt haben, müßten verhärteten Herzens sein, wenn wir bei
-diesen Worten Prosperos nicht im ganzen und im einzelnen in wundersamer
-Gemeinschaft den gewaltig erhabenen, fast unbegreiflichen, wonnevollen
-Stolz und die leidvollste, die wahrhaft abscheidende Resignation
-William Shakespeares vernähmen:
-
- Ihr Geister alle,
- Mit deren Hilfe ich am Mittage
- Die Sonn’ umhüllt, aufrühr’sche Wind’ entboten,
- Die grüne See mit der azurnen Wölbung
- In lauten Kampf gefetzt, den furchtbarn Donner
- Mit Feuer bewehrt und Jovis Baum gespalten
- Mit seinem eignen Keil, des Vorgebirgs
- Grundfest’ erschüttert, ausgerauft am Knorren
- Die Ficht’ und Zeder; Grüft’, auf mein Geheiß,
- Erweckten ihre Toten, sprangen auf
- Und ließen sie heraus, durch meiner Kunst
- Gewalt’gen Zwang: all dieses grause Zaubern
- Schwör’ ich hier ab; und hab’ ich erst -- wie jetzt
- Ich’s tue -- himmlische Musik gefordert,
- Zu wandeln ihre Sinne, wie die luft’ge
- Magie es soll: so brech’ ich meinen Stab,
- Begrab’ ihn manche Klafter in die Erde,
- Und tiefer, als ein Senkblei je geforscht,
- Will ich mein Buch ertränken.
-
-Dies ist das letzte Drama Shakespeares, das hier zu besprechen war. Es
-bleibt noch seine persönliche Lyrik, in der wir schon seinem inständig
-schweren Leben, seiner Innerlichkeit und Persönlichkeit ganz nahe
-treten. Nach 1612 wissen wir von keinerlei dichterischer Tätigkeit
-Shakespeares mehr, von 1613 an ist er in seiner Vaterstadt Stratford,
-und 1616 ist er dort gestorben: ein König ohne Land, ein Verbannter
-und vom Geist Gezeichneter und wahrhaft Ausgesetzter, ein Zauberer und
-Geistesfürst ohnegleichen, ein Herrscher über Natur und Geist, dem
-nichts Menschliches fremd war und der darum sein Leben lang ein Fremder
-war unter den Menschen.
-
-
-
-
-Die Sonette
-
-
-Ich sage etwas voraus, was nicht gesagt zu werden brauchte, aber ich
-sage es: Daß Shakespeares Sonette da sind und zu uns sprechen, daß wir
-über sie reden dürfen, ist eine Ehre, die wir durch ganz unbedenkliche
-Freiheit und Würde zu verdienen haben. Ich werde also frei sagen, was
-die Sache verlangt; der Genius der Freiheit hat diese Gedichte gezeugt.
-Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß viele Leute diesen Sonetten
-gegenüber verlegen und verschämt werden; und solange das Publikum es
-nicht verwehrt, dürfen auch solche sich als Kritiker auftun; aber sowie
-sie dann etwas anderes sagen, als daß diese Sonette sie in Verlegenheit
-setzen, sowie sie ihren offenbaren Sinn fälschen wollen oder etwa
-sagen, diese Gedichte hätten keinen großen Wert, wären langweilig
-und dergleichen, so muß man ihnen bedeuten, daß es zu weit geht,
-aus der Verlegenheit die Verlogenheit und aus der Verschämtheit die
-Unverschämtheit zu machen.
-
-„Shakespeares Sonette, bisher noch nie gedruckt“, erschienen 1609, um
-die Zeit also etwa von Troilus und Cressida, Antonius und Cleopatra
-und Coriolan. Als Verleger war T. T. genannt, das ist Thomas Thorpe.
-Als Anhang folgt in dieser Ausgabe die Romanze Der Liebenden Klage.
-Manche haben dieses Gedicht aus einem triftigen Grund, der oft
-vorhalten muß, weil es nämlich manchen nicht gefiel oder nicht paßte,
-Shakespeare absprechen wollen; sonst gibt es für diesen Versuch keinen
-Grund. Übrigens ist es in der Einkleidung schwach und modisch, in der
-Form vollendet, so wie die beiden großen episch-lyrischen Gedichte
-Shakespeares, an die es auch sonst erinnert. Ich schließe mich der
-Meinung, die öfter geäußert wurde, durchaus an, daß dies Gedicht, das
-nach Art und Form nichts mit den Sonetten zu tun hat, beigefügt wurde,
-weil es ein Porträt des in den Sonetten besungenen Freundes bringt und
-also inhaltlich sehr viel mit ihnen zu tun hat.
-
-Daß die Veröffentlichung dieses Buches mit Shakespeares Wissen und
-Zustimmung geschah, ist sehr wahrscheinlich. Daß die überaus kunstvolle
-Anordnung vom Dichter selbst stammt, ist so wenig zu bezweifeln, wie
-daß Goethe seine Gedichte selbst geordnet hat.
-
-Daß diese 1609 veröffentlichten Sonette mindestens zu beträchtlichem
-Teil einer weitaus früheren Zeit entstammen, ist sicher. Erwähnt hat
-sie -- für uns -- zuerst 1598 in Shakespeares 34. Lebensjahr Francis
-Meres in dem Lob Shakespeares, das hier öfter erwähnt wurde; da spricht
-er von Shakespeares „zuckersüßen Sonetten unter seinen privaten
-Freunden“ und vergleicht diese Gedichte mit Ovid; in dem Ausdruck
-zuckersüß darf man nur Lob hören, keinerlei ironische Nebenbedeutung.
-Im Jahr darauf, 1599 erschien dann eine Sammlung von Gedichten, die
-Shakespeares Namen trug: Der verliebte Pilger; es ist kaum möglich
-zu entscheiden, ob diese Gedichte -- zwanzig an der Zahl -- alle
-Shakespeare zugehören, da einige sich auch in Sammlungen anderer
-Dichter finden; aber zwei Sonette, die auch in der endgültigen Sammlung
-von 1609 stehen, zwei sehr wichtige, um die sich dem Sinne nach andre
-gruppieren, sind schon da 1599 veröffentlicht.
-
-Es gibt Übereinstimmungen gedanklicher und formaler Art, die von dieser
-Sonettendichtung zu Shakespeares beiden großen Gedichten aus den Jahren
-1593 und 1594 leiten, und ebenso zu den frühen Liebesspielen, besonders
-den beiden Veronesern und der Verlornen Liebesmüh.
-
-Wir haben also anzunehmen, daß die Sonettenproduktion und das zu Grunde
-liegende Erlebnis oder, vorsichtig gesagt, ein zu Grunde liegendes
-Erlebnis schon in den neunziger Jahren einsetzen.
-
-Andere von diesen Gedichten aber wieder sind nach Inhalt, Stimmung und
-Form so anders, so reif, düster, streng, daß eine spätere Zeit der
-Abfassung, bis gegen 1605 hin mindestens anzunehmen ist. Ich lasse
-mich dabei nicht von der Strenge, Festigkeit und Geschlossenheit,
-der Neigung zur Antithese, zum Witz, zum Geist täuschen, die schon
-die Form des Shakespearesonetts mit sich bringt; über das, was all
-diesen Sonetten gemeinsam ist, hinaus, wachsen einige ins besonders
-Herbe, Abgewandte und Furchtbare; sprechen überdies von Erfahrungen,
-die der jüngere Shakespeare nicht haben konnte. Über etwa ein Dutzend
-Jahre also kann sich sehr wohl die Entstehung dieser Sonettendichtung
-erstreckt haben.
-
-T. T. der Verleger hat dem Buch eine Widmung mitgegeben, der ich so
-wörtlich wie möglich hier eine deutsche Fassung zu geben suche:
-
- Dem einzigen Erbringer dieser nachfolgenden Sonette Herrn W. H.
- alles Glück und jene von unserm immerlebenden Dichter verheißene
- Ewigkeit wünscht der wohlwünschende Abenteurer beim Auslaufen. T. T.
-
-Bei der Übertragung der Schlußwendung (~the wellwishing adventurer
-in setting forth~) habe ich mir von dem trefflichen Sprachenmeister
-Regis helfen lassen; ich glaube in der Tat, daß der Mann T. T. in
-seiner geschraubten Sprache, in der sich Modeton und kleinbürgerliche
-Unbeholfenheit treffen, seine Empfindung, daß er als Verleger ein
-Wagnis begehe, mit diesem aus der Schiffersprache genommenen Bild hat
-ausdrücken wollen. Mit dem gedrechselten Wort Erbringer versuche ich
-~begetter~ wiederzugeben. Damit steht es so. Die einen sagen,
-es heiße hier, was der gewöhnlichen Bedeutung von ~to beget~
-entspricht: Erzeuger. Die andern beziehen sich auf eine seltenere
-Bedeutung des Zeitworts und sagen: Nein, es ist Beschaffer gemeint; der
-nämlich, der dem Verleger das Manuskript verschafft hat. Nach Prüfung
-der beiderseitigen Argumente finde ich, daß alle beide recht haben,
-und glaube, daß der Verleger dieses beides mit der einen Bezeichnung
-in verschwommener Wortgemeinschaft hat ausdrücken wollen: Du bist
-der Mann, an den diese Sonette sich richten, dem der Dichter die
-Unsterblichkeit verheißen hat, welche ihm selbst nicht fehlen wird,
-und dir verdanke ich die Möglichkeit, daß ich sie herausgeben darf;
-ich bescheidener Mann will dir dasselbe wünschen, was dir der Dichter
-gelobt hat. Sicher ist, daß der Dichter in diesen Sonetten die Ewigkeit
-nur dem Freund verheißen hat, an den sie sich richten; und dem und
-keinem andern widmet der Verleger das Buch. Daß er den aber auch in
-dem anderen Sinn den ~begetter~ der hier folgenden Sonette nennt,
-ist sehr wohl möglich. Wir wissen nichts weiter, und es bleibe jedem
-überlassen, wie er sich dieses Beschaffen vorstellen will: ob dadurch,
-daß er ihm eine Abschrift der Sammlung verschaffte, oder so, daß er
-die Erlaubnis oder die Anregung zum Druck gab. Ich denke, bei näherer
-Bekanntschaft mit den Tatsachen wird jeder zugeben müssen, daß auch
-der waghalsigste Abenteurer nicht ohne Zustimmung des Objekts dieser
-Gedichte das Buch veröffentlicht hätte, es sei denn, man nehme an, der
-Besungene sei schon tot gewesen, wofür nichts spricht. Ich halte für
-wohl möglich, daß der Mann, den T. T. Herrn W. H. nennt, veranlaßt
-hat, daß das Dichtwerk erschien; daß für ihn darin höchstes Lob,
-Anzweifelung und bitterer Tadel vereint zu finden war, beirrt mich
-durchaus nicht; es gibt solche Männer, die für ein solches Verhältnis
-zu einem großen Künstler eine Mischung von Geheimnis und Öffentlichkeit
-brauchen, und W. H. könnte ein solcher gewesen sein.
-
-Wer ist dieser Mr. W. H.? An wen richten sich diese Sonette?
-
-Man hat viel herumgeraten, ist sogar auf William Himself, William
-(Shakespeare) in Person und auf die Königin Elisabeth geraten, und
-hat sich, wie in fast allen Shakespearefragen, nur ganz selten
-zu dem Geständnis bequemt, man wisse es nicht und es gebe keine
-Möglichkeit, es aus dem Material, das uns vorliegt, herauszubekommen.
-In England stehen in der Gegenwart zwei Parteien einander gegenüber,
-von denen die zweite im Vordringen ist: die erste entscheidet sich
-für Henry Wriothesley Graf von Southampton, die zweite für William
-Herbert Earl von Pembroke. In Deutschland nehmen es die meisten für
-selbstverständlich, daß die Sonette dem Gönner und Patron Shakespeares
-galten, womit Graf Southampton gemeint ist.
-
-Beide Parteien arbeiten viel mit gewissen Anspielungen auf
-Zeitereignisse, die sich in den Sonetten finden und die nach ihrer
-Behauptung nur auf den Mann deuten können, auf den sie gewettet haben.
-In Wahrheit sind die Stellen, die man anführt, viel zu unbestimmt,
-vieldeutig, allgemein, als daß man sie auf etwas Bestimmtes beziehen
-könnte.
-
-Ich habe nun zu sagen, was ich weiß und was ich nicht weiß.
-
-Die Abkürzung Mr., Master, woraus dann Mister geworden ist, ist
-lediglich die Anrede für Bürgersleute. Wenn aber -- wie wir noch sehen
-werden -- etwas mit Sicherheit aus dem Inhalt der Sonette hervorgeht,
-so ist es zuvörderst das, daß der Angeredete der höchsten Aristokratie
-angehörte. Es liegt also, wie zu erwarten war, in der Widmung eine
-Mystifikation, die sich, meine ich, der Herausgeber nicht ohne
-Zustimmung des Betroffenen erlauben durfte. Ist das aber so, dann wäre
-es nicht unbedingt nötig, daß die Buchstaben Mr. W. H. etwas mit den
-Anfangsbuchstaben seines Namens zu tun haben. Die Southamptonisten
-sagen: es ist eine Umstellung von Henry Wriothesley, oder auch: es ist
-Wriothesley Hampton, oder auch: es ist bloß irgendein unbekannter,
-gleichgültiger Beschaffer des Manuskripts; die Herbertisten haben es
-leichter: William Herbert.
-
-Ich kann aber noch einen Schritt weiter gehn und sage: trotz aller
-Einschränkung der Verläßlichkeit der beiden Buchstaben W. H. durch
-das unzutreffende Mr. haben wir doch wieder Grund, sie beide für eine
-Namensbezeichnung zu halten, weil das W sicher zutrifft. Gar kein
-Zweifel darf für jeden, der die Sprache der Sonette kennt, bestehen,
-daß der Vorname des Freundes uns mitgeteilt ist: er heißt William. In
-drei Sonetten findet sich das anmutige Spiel mit „Will“ als dem Willen
-der launisch tyrannischen Geliebten und dem Namen William für die
-Liebenden alle beide: durch dieses dreifache Will wird das seltsame
-Verhältnis der drei Menschen zu einander ausgedrückt.
-
-Das also wissen wir: der Freund war ein Jüngling aus hohem Adel und hat
-wie Shakespeare William geheißen.
-
-Auf Hypothesen baue ich nichts; um Tatsachen komme ich nicht herum.
-Solange man nicht auf Grund irgendeiner Tatsache wahrscheinlich macht,
-daß der Graf Southampton außer seinem Taufnamen den Rufnamen William
-gehabt hätte, kommt er mir für die Sonette nicht mehr in Betracht. Was
-sonst für ihn angeführt wird, ist nicht durchgreifend: Shakespeare hat
-ihm 1593 devot und im üblichen unausstehlichen Dedikationston Venus
-und Adonis gewidmet; er hat ihm im Jahr darauf schon in herzlicher
-Vertraulichkeit, wiewohl immer noch in gezierter Modesprache die
-Lucretia gewidmet. Das könnte aber nur etwas beweisen, wenn man zeigte,
-daß Shakespeare mit keinem andern jungen Adligen vertraut sein konnte,
-wozu keinerlei Möglichkeit ist. Statt dessen aber weiß man, daß es
-geradezu Mode war, dem Grafen Southampton in Herzlichkeit und Verehrung
-Werke zu widmen; wir kennen eine große Zahl solcher Widmungen;
-Chapman, der Homerübersetzer, nennt ihn nicht etwa den Gönner des
-Einzigen, sondern den „Auserwählten _aller_ edlen Geister unsres
-Vaterlands“, und Nash begrüßt ihn in einer Widmung als einen „teuren
-Freund und Begünstiger sowohl der Dichter-Freunde als der Dichter
-selbst“. Da kann man sich von seinem vielseitigen Mäcenatentum ein Bild
-machen; und ich habe nichts dagegen, daß man ihn sich als Begünstiger
-des Freundschaftsbundes zwischen William Shakespeare und dem andern
-William vorstellt.
-
-Für William Herbert Earl von Pembroke steht die Sache viel besser; er
-hat den großen Vorzug, daß er William, daß er W. H. heißt. Die Widmung
-der beiden Gedichtbände an Southampton wird dadurch wettgemacht, daß
-Shakespeares Freunde Heminge und Condell die Gesamtausgabe eben diesem
-William Herbert und seinem Bruder Philipp gewidmet haben und diesem
-„adligsten und unvergleichlichsten Bruderpaar“ nachrühmten, sie hätten
-den Stücken Shakespeares und ihm selbst bei seinen Lebzeiten viel Gunst
-erwiesen.
-
-Wäre William Herbert der Freund der Sonette, so könnten die frühesten
-dieser Sonette, die zu dem Zyklus vereinigt sind, nicht wohl vor 1598
-geschrieben sein; da kam der junge Adelsmann als Achtzehnjähriger
-nach London. Das nehme ich nicht gern an; aber es könnte sein. Meres
-könnte, als er 1598 von Sonetten Shakespeares sprach, die unter seinen
-privaten Freunden kursierten, gerade einige der ersten kennen gelernt
-haben, ganz abgesehen davon, daß, was er kannte und rühmte, auch solche
-Sonette gewesen sein können, die gar nicht auf uns gekommen sind.
-Und es spricht nicht gegen die Herberttheorie, daß 1599 der Verleger
-Jaggard zwei von den Sonetten, die unserem Dichtwerk angehören, in den
-Verliebten Pilger aufnehmen konnte.
-
-Aber was in aller Welt zwingt oder berechtigt uns denn, aus der
-Möglichkeit eine Notwendigkeit zu machen? Wäre das Geheimnis so
-durchsichtig gewesen, daß wir, die wir eigentlich gar nichts wissen,
-die sichere Lösung finden, warum haben dann weder Shakespeares
-Zeitgenossen noch die ersten Forscher, die Nachrichten aus seinem Leben
-zusammentrugen, etwas davon berichtet? Ja, wenn die Sache so auf der
-Hand liegt, so aus den Sonetten selbst herauszulesen ist, wie jede
-der beiden Parteien behauptet, warum zierte dann der wackere Thorpe
-sein Buch nicht einfach mit dem Namen des Freundes? Denn lesen konnten
-Shakespeares Zeitgenossen auch; und Anspielungen auf Zeitumstände, die
-wir mit ausschließlicher Sicherheit deuten können, mußten für sie gar
-ganz handgreiflich sein.
-
-Mit alledem ist es aber nichts; nichts ist bewiesen, als daß die
-Sonette sich an einen Adligen richten, der William hieß. Und es schadet
-gar nichts, daß wir weiter nichts wissen. Weder die Southamptonisten
-noch die Herbertisten haben zu dem Verhältnis, wie es in den Gedichten
-steht, aus anderweitiger Kenntnis das allergeringste dazugebracht. Wir
-wissen davon auf jeden Fall, was in den Gedichten steht, und überdies
-nichts.
-
-Das Gedichtwerk besteht im ganzen aus 154 Sonetten. Davon stehen die
-letzten beiden, die eigentlich nur eines in zwei Fassungen sind, für
-sich; ein Epigramm aus der griechischen Anthologie -- von dem es
-lateinische Übersetzungen gab -- wird nachgebildet und fortgeführt;
-und es steht da als sinnvoller, vom Persönlichen ins Allgemeine
-verflößender, besänftigender Abschluß des ganzen Zyklus: das Feuer der
-Liebe durchdringt alles; nicht einmal Wasser löscht es aus, das Wasser
-selbst wird feurig und kocht; und dieses von Liebe durchglühte Wasser
--- der heiße Sprudel -- kann wohl Krankheiten des Leibes heilen, aber
-kein Wasser kann die Liebe kühlen, die Liebeskrankheit heilen. Dieses
-letzte Motiv, mit dem die ganze Sonettenfolge schließt, daß der von der
-Liebe Geschlagene vergebens im Heilbad Heilung von der Liebeskrankheit
-sucht, findet sich in der antiken Vorlage nicht.
-
-Die übrig bleibenden 152 Sonette bilden einen Zusammenhang, der sich
-zunächst wieder in eine große und eine kleine Abteilung spaltet:
-1-126 und 127-152. Da ich annehme, daß Shakespeare das Buch, wie es
-uns vorliegt, komponiert hat, brauche ich die Teilung in 126 und
-dann 26 für keinen Zufall zu halten; ein bißchen mit Zahlen spielen
-die Dichter alle gern; das ist wie ein spielerisches Ausruhen vom
-bannenden Spiel des Rhythmus; und der Dichter hat gewiß das Werk aus
-einem größeren Vorrat zusammengestellt und manches weggelassen. Die
-kleine, als Anhang folgende Abteilung der 26 Sonette richtet sich an
-die schwarzäugige, auch sonst schwarze Geliebte -- möge diese Wendung,
-die ihr Recht hat, nur keiner nach Art von Wilhelm Jordan verstehen,
-der diese Frau in allem Ernst mit abgeschmacktesten Deutungen und
-Deutlichkeiten für eine Negerin erklärt hat! Dieser kleine Zyklus
-steht in engster Verbindung mit dem vorhergehenden großen, in dem die
-nämliche Frau schon ihre Rolle spielt.
-
-Die Sonette 1-126 richten sich unmittelbar an den Freund. Daß diese
-Gedichte der Liebe im ganzen einem Freund und nicht einer Geliebten
-gelten, ist längst solchen, die es nicht haben wollten, aus einzelnen
-Stellen zwingend bewiesen worden. Das tut heute nicht mehr not;
-die Wahrheit ist durchgedrungen. Aber da auch neueste Erklärer den
-unwürdigen Versuch machen, wo nur die allgemeingültige Sprache der
-Liebe es zuläßt, wieder einzelne Steine aus dem Bau herauszubrechen
-und Shakespeare vor dem Verdacht, er habe dem Freund leidenschaftliche
-Worte der Anbetung gewidmet, zu retten, ist die seltsam beschämende
-Geschichte, die diese Gedichte im Urteil der Kunstrichter erlebt haben,
-immer noch nicht veraltet.
-
-In die Gesamtausgabe haben Shakespeares Freunde 1623 nur die
-Bühnenwerke aufgenommen, keins von den Gedichten. Die Sonette wurden
-nach der ersten Ausgabe von 1609 erst im Jahre 1640, zusammen mit den
-andern Gedichten, wiedergedruckt; der Herausgeber zerstörte -- wie
-später bei uns Bodenstedt -- die wundervolle und notwendige Anordnung
-und ließ eine Reihe Sonette fort. Als einheitliches Gedichtwerk
-kamen sie erst wieder 1710 heraus, ein Jahrhundert nach ihrem ersten
-Erscheinen; und der Herausgeber erklärte, sie seien alle miteinander
-dem Lobe der Geliebten gewidmet. Damit war eine Losung ausgegeben, bei
-der es bis 1780 blieb; da sprachen erst Malone und die andern Forscher,
-die ihm beim Kommentieren halfen, die klare Wahrheit aus. Chalmers
-versuchte es mit der Theorie des Mannweibs, der Königin Elisabeth
-nämlich, konnte aber kein Glück mehr damit haben. Die Gelehrsamkeit
-half sich jetzt anders; Drake 1817 und noch später berühmte Forscher
-wie Dyce, Charles Knight und Nicolaus Delius erklärten, hinter diesen
-Gedichten stünden im allgemeinen gar keine Erlebnisse; es handle sich
-um eine warnende Darstellung unerlaubter Liebe, meinte der eine; um ein
-bloßes Spiel der Phantasie, sagten so ungefähr die andern.
-
-Daran nun läßt sich immerhin eine ernsthafte Frage knüpfen. Ist es
-denn sicher, darf gefragt werden, ob diese Gedichte alle an einen und
-den nämlichen Mann gerichtet sind, und ob die Folge dieser Gedichte
-etwa die zeitliche Folge eines einheitlich in sich zusammenhängenden
-Erlebnisses darstellt?
-
-Wir müssen immer unterscheiden zwischen biographischen Tatsachen, auf
-die wir aus dem Buche schließen wollen, und dem Dichtwerk, wie es uns
-der Dichter gegeben hat, auf daß wir es ganz für sich nehmen sollen.
-Was die Tatsachen aus Shakespeares Leben angeht, so wissen wir davon
-außerhalb des Buches gar nichts. Es ist aber kein Zweifel, daß die
-Ordnung der Gedichte künstlich und künstlerisch ist. Viele, je zwei
-und mehrere, haken in einander ein, so daß ein Gedicht aus Gedichten
-entsteht; die einzelnen Sonette sind nur wie Strophen; niemand kann
-entscheiden, ob jedesmal die Gedichte von vornherein so im Zusammenhang
-entstanden, ob manchmal dieses Ineinandergreifen erst vom Ordner
-hergestellt wurde. Auch wie sich das Herausströmen des Gefühls aus den
-Notwendigkeiten der Unwillkürlichkeit und das gebietende, komponierende
-Schaffen zu einander verhalten, kann man nicht sagen. Keinem aber,
-der aus eigenem Erleben heraus für die Dichtung empfänglich ist,
-kann in Zweifel stehen, daß diese Sonette Gelegenheitsgedichte im
-Sinne Goethes, daß sie erlebt sind und daß auch ihr Zusammenhang dem
-Zusammenhang eines Erlebnisses entspricht. Der so dieses Dichtwerk
-empfängt, wird nicht zweifeln, daß die meisten, die zyklischen
-dieser Gedichte im Leben des Dichters an eine und die nämliche
-Person gerichtet wurden, so wie es gewiß ist, daß nach dem Plan des
-zusammenhängenden Dichtwerks der Dichter William von Anfang bis zu
-Ende zu einem einzigen jüngeren Freund, dem Adelsjüngling William
-spricht. Alles Wesentliche, das gewiß ist, aus dem Wirklichkeitsleben
-eines so auserwählten Mannes wie Shakespeare muß uns bedeutend sein;
-und der Empfindungen, die hier Gestalt geworden sind, können wir gewiß
-sein. Diese Empfindungen aber leben uns in dem Kunstgebilde, und an
-diesem haben wir für unser Mitfühlen den einzig sicheren Halt. Die
-Wege der Dichterseele sind dunkel; selbst bei Goethe, von dem wir
-so viel wissen, können wir nicht sagen, ob das oder jenes Gedicht
-Christiane oder Marianne oder sonst einem Weibe galt, oder ein andres
-Bettine oder Minna Herzlieb oder beiden zugleich; daß diese Gedichte
-aber der Liebe gelten und welche Stelle sie in den gedichteten
-Zusammenhängen einnehmen, in die sie der Dichter gestellt hat, wissen
-wir. Und so ist in allem Wesentlichen klar, wie der Roman in Sonetten,
-den Shakespeare uns gab, für sich zu deuten ist; und dahin, zur
-geschaffenen Kunstgestalt, zum Bild der Empfindungen sollen wir immer
-wieder von unsern Abweichungen ins Originäre, ins Nebelland der wirren
-Entstehung der Empfindungen zurückkehren. Wahres Leben ist gestaltetes,
-gemeistertes Leben; wahres Leben Shakespeares finden wir in seinen
-Werken.
-
-Ich will nun, ehe ich von dem Dichtwerk und seinem Gehalt rede, etwas
-von der Sprache und Form und dann von den Übersetzungen sagen.
-
-Sonette wurden um diese Zeit in England vielfach gedichtet; auch die
-besondere Form des Shakespearesonetts haben vor ihm und neben ihm
-andere angewandt. Dieses Shakespearesonett besteht aus 14 Zeilen wie
-das echte; das echte aber besteht aus zwei Abteilungen, deren erste 2 ×
-4, deren zweite 2 × 3 Verse hat, und das Band der Reime in ihm ist so,
-daß in der ersten Abteilung zwei Reime, in der zweiten drei durchgehen.
-Das Shakespearesonett hat dagegen 3 Strophen zu 4 Versen, denen dann
-rasch 2 Verse als Abschluß folgen: 3 Quatrains und 1 Couplet. Jedes
-Quatrain hat seine zwei besondern, in einander verschränkten Reime,
-so daß die Strophen nicht formal in einander geschlungen sind; das
-Couplet hat seinen Schlagreim für sich. Im Rhythmischen aber und in
-der formalen Behandlung des Inhalts ist der Charakter des Sonetts,
-die Geschlossenheit eines Gefüges, dessen Teile gleichermaßen
-selbständig und an einander gebunden sind, streng gewahrt; nur daß
-das abschließende Couplet zu dieser Strenge und Unnahbarkeit, zu
-dieser geschmiedeten Klammer um die Gefühle, daß sie nicht zuchtlos
-zerfließen, noch ein anderes Mittel gegen Gärung und unreine
-Verworrenheit fügt: Witz, Geist, Leichtigkeit, Spiel, immerwährende
-Rückkehr zum Grundthema: Huldigung für den Freund.
-
-Formvollendet sind auch viele andre Sonette, die wir von Shakespeares
-Zeitgenossen haben; aber sie besagen meist wenig, weil sie selten
-aus einer Persönlichkeit gekommen sind, weil keine Not vorlag,
-Überfließendes zu bändigen; so sind sie inhaltlich meist allegorisch,
-mythologisch, schwülstig oder sonstwie rhetorisch oder gekünstelt.
-Bei Shakespeares Sonetten steht die Sprache in den vollendetsten,
-deren es viele sind, in geradem Gegensatz zu der Geschwollenheit
-und pathetisch barocken Gleichnisverstiegenheit, die in seiner Zeit
-Mode war und auf die er sich selbst in einigen Dramen und in den
-episch-lyrischen Gedichten so bis zum Grotesken grandios verstanden
-hatte. In den Sonetten aber haben wir, wie es diesen Gebilden
-entspricht, eine Annäherung der Sprache in Ausdruck und Syntax an
-die Prosa, welche dann durch die Geschlossenheit der Form, das hohe
-rhythmische Gleichmaß, die Parallele der Reimpaare zu einer Poesie
-erhoben wird, in der das Sprachgebilde nie Rhetorik oder Tirade, immer
-aber, zugleich in einem, Plastik und Musik wird. Und Shakespeare,
-der von jenem schäumenden Schwulst herkam, der von seiner Natur, der
-Art jeder Jugend und einer Mode bedingt war, in der sich Pathos,
-Bilderfülle, Wahl des seltenen Ausdrucks und also Gesuchtheit und
-Geziertheit, Antithese und Witz seltsam mengten und selten einander
-wahrhaft die Wage hielten, konnte keinen bessern Zuchtmeister brauchen
-als das Sonett, und das entzückende Spiel Verlorne Liebesmüh ist das
-Denkmal, das er dieser Reinigung seines Stils und seines Gefühlslebens
-gesetzt hat. Wie er dann zu seiner Reife kam und leidenschaftlichen
-Schmerz, unauslöschlichen Gram und wilde Weltwut mit der Strenge des
-Sonetts meisterte, nicht, indem er zum Zierlichen und zum Spiel ausbog,
-sondern, indem er sein Stärkstes und seine ganze Vehemenz in diese
-Form goß, da ist dieser Anblick: Shakespeare im Sonett! mir unsäglich
-wunderbar und ergreifend, ein Sinnbild für das, was in seinen eigenen
-Worten „Reif sein ist alles“, in Goethes Worten „In der Beschränkung
-zeigt sich erst der Meister“ heißt; ein Bild noch höherer, weil
-unheimlicherer Art als Goethe, wie er das Erlebnis seines Werther in
-die marmorglühende Form des Tasso bannt, nur vergleichbar mit Spinoza,
-wie er das, was seine Ethik in Ursprung und Springkraft ist, in die
-geometrische Form preßt.
-
-Die Vollkommenheit und Unnachahmlichkeit dieser leuchtenden klingenden
-Gebilde ist zurückzuführen einmal auf die englische Sprache und dann
-auf Shakespeare. Es verhält sich mit diesen Sonetten entsprechend wie
-mit Dantes Göttlicher Komödie: da die englische Sprache mit weniger
-Silben dasselbe sagen kann wie die deutsche, da überdies ihr Reichtum
-an Reimen, vor allem einsilbigen, männlichen Reimen viel größer ist
-als im Deutschen, wäre eine vollkommene Nachbildung im selben Versmaß
-nur dann erreichbar, wenn Shakespeare die Möglichkeiten seiner Sprache
-nicht vollkommen ausgenutzt hätte. Das hat er aber ganz wunderbar
-getan: mit einer zauberischen, oft wie fliegenden, spielerischen
-Leichtigkeit, oder mit einem sicher, fest, selbstverständlich
-fortschreitenden Ton, wo die Schlagkraft und der Verbindungsring der
-Reime wie eine logische, sachliche Notwendigkeit eintritt, hat er diese
-Gedichte gebaut. Es ergibt sich daraus, daß bei den allermeisten dieser
-Gestaltungen der deutsche Dichter, wenn er sie übersetzt, irgend etwas
-fallen lassen oder schwer, dunkel, gedrängt sein muß, wo Shakespeare
-sich mit Leichtigkeit und Klarheit und Freiheit bewegt. Bei der
-Verssprache der Dramen, in denen Shakespeare die Möglichkeiten seiner
-Sprache so bis zum letzten ausmünzt, ist eine Aushilfe möglich, deren
-sich die besten Übersetzer in rühmlichem, rührendem, aber der Sache
-schädlichem Eigensinn noch zu wenig bedient haben: für den Bau einer
-Szene ist es in Wahrheit nebensächlich, ob sie 200 oder 210 Blankverse
-hat, und ebenso ändert es am Gehalt und der Komposition einer Replik
-oft nichts irgend Wesentliches, wenn sie statt 5 Versen 5½ hat. Bei
-diesen Gedichten aber steht die Zahl der Verse, das Metrum und damit
-die Zahl der Silben fest; auch ist es keineswegs gleichgültig, wenn
-an die Stelle eines männlichen ein weiblicher Reim tritt und damit
-Charakter, Stimmung und Zeitdauer des Ausdrucks geändert wird. Der
-Übersetzer wird es bald da, bald dort, im Inhaltlichen, im Formalen
--- was beides doch wie in der Musik hier gar nicht zu trennen ist --
-anders und schlechter machen müssen als Shakespeare; und seine Kunst
-wird sich darin zeigen, zu welcher der verschiedenen Möglichkeiten
-er sich jedesmal entschließt, wie er jeweils aus der Not eine Tugend
-macht.
-
-Die meisten Deutschen aber werden trotzdem auf Übertragungen angewiesen
-sein; auch wer sonst sehr gut englisch kann, braucht sie. Ein großer
-Teil der Ausdrücke und Wendungen gehören in dem Sinn oder den Nuancen,
-in denen die Sonette sie gebrauchen, der heute lebendigen englischen
-Sprache nicht mehr an, so daß die Verschmelzung zwischen Gedicht und
-Empfangendem, die wir mit den gleichermaßen elenden Worten Genuß oder
-Verständnis der Dichtung bezeichnen, nicht unmittelbar möglich ist,
-sondern erst einer ernsten Vorarbeit bedarf, welche nicht immer gelingt.
-
-Deutsche Übersetzungen gibt es in großer Zahl; ich kenne die von Regis,
-Wilhelm Jordan, Bodenstedt, Gildemeister, Eduard Sänger, Stefan George
-und Ludwig Fulda.
-
-Wilhelm Jordan beherrschte die Sprache mit ungewöhnlicher Leichtigkeit
-und war darum zum Übersetzen berufen; wo es auf Respekt vor
-dem Original nicht gar zu sehr ankam, wie zum Beispiel bei den
-lyrisch-epischen Gedichten Shakespeares, hat er die englischen Strophen
-durch treffliche deutsche ersetzt, wenn er auch fast durchweg an die
-Stelle der pathetisch starken oder lyrisch weichen Bildersprache und
-metaphorischen Ausschweifung, die im Begriff und an der Grenze ist,
-in den Witz umzuschlagen, den schon fertigen und platt geschlagenen
-Witz gesetzt hat. Für die Sonette aber hat es ihm an Ehrerbietung
-gefehlt und an der Fähigkeit, sich in einen Mann, der zugleich
-leidenschaftliche Natur und gehaltene Fassung war, zu versetzen. Er
-ist zu leichtsinnig und keck ans Werk gegangen, was schon aus seiner
-kuriosen Entschuldigung, er habe doch schließlich durchschnittlich
-nur vier Sonette auf den Tag zustande gebracht, und aus seinem Rezept
-hervorgeht, wie diese Sonette deutsch ebenso gut oder gar besser zu
-verfertigen seien wie die Originale: Shakespeare habe für die zehn
-oder elf Silben seines Verses bei der Knappheit der englischen Sprache
-nicht genug zu sagen gehabt, und so müsse man nur die Watte aus den
-Gebilden herausnehmen und habe dann auch deutsch Sprachstoff genug für
-die Nachbildung! So ist er auch hier zu witzig, zu unlyrisch geworden;
-und schließlich ist nur eine oft sehr geschickte Mimikry von Poesie
-entstanden, hinter der sich Abgeschmacktheit und Fadheit verbirgt.
-Shakespeares Hoheit, Haltung, Tragik und süße Lieblichkeit ist nicht
-mehr da.
-
-Bodenstedt und Gildemeister haben ebenfalls ansprechende deutsche
-Gedichte gemacht; aber an die Stelle des Wesentlichen, des Ernstes, des
-formalen Schauers Shakespeares, des heroischen und graziösen Tons des
-Renaissancedichters haben sie modern oberflächliche Gesprächigkeit oder
-Empfindsamkeit gesetzt.
-
-Fulda gar verbindet eine ganz ungewöhnliche Gelenkigkeit der Sprache
-mit einer betrüblich gewöhnlichen Unvornehmheit des Tons und der
-Gesinnung. Er spricht Berlin ~W~; auch an Schlegel und Tieck wird
-man manchmal erinnert; nur leider nicht an die edeln Übertragungswerke,
-die von ihnen herrühren, sondern an die ordinären Quartiere, die
-schändlicherweise in Berlin ~N~ nach ihnen benannt sind.
-
-Gottlob Regis hat seine Übersetzung des Sonettenwerks 1836 in seinem
-Shakespeare-Almanach veröffentlicht. Er hat Sinn für den echten
-Ton Shakespeares und für seine feste, tragisch-heldenhafte Haltung
-und steht in dieser wie jeder Hinsicht weit über den Nachfolgern,
-die ich bisher behandelt habe. Es gelingt ihm, einem der größten
-Übersetzungsmeister, die wir Deutsche haben, im Inhalt sehr getreu zu
-sein, und oft ist er wundervoll sprachschöpferisch. Nur kann leider
-die genialste Kraft, in bewußter Suche schöpferisch die Sprache zu
-meistern, noch keinen Dichter machen; und so vollendet er Rabelais’
-und Swifts Prosa nachbildete, so fehlt ihm doch für diese Sonette
-das Lyrische, der Rhythmus, die Musik. Die Härte des Mannes, der sie
-weicher Zerflossenheit abgerungen hat, ist etwas ganz anderes, als
-die Sprödigkeit des Gelehrten, der sich angelegentlich bemüht, seine
-Sprache weicher und geschmeidiger zu machen. Aber es sollte ein Dichter
-über diese sehr respektable Übersetzung kommen und sie neu bearbeitet
-herausgeben. Wir können der Übersetzungen dieser Geschmeide nicht genug
-haben.
-
-Dem Willen und auch der Dichterkraft nach bei weitem am höchsten steht
-Stefan George; er hat den Geist und die Musik, hat das Formprinzip
-dieser Kunstwerke nicht nur erfaßt, sondern in sich; überdies ringt
-er ergreifend und fast tragisch um Treue, selbst wo es sich um das in
-diesem Fall Schwerste, um das Vorwiegen des männlichen Reims handelt;
-aber nur selten ist ihm ein ganzes Sonett geglückt; um der treuen
-Nachbildung der Form willen vergewaltigt er die Möglichkeiten der
-deutschen Sprache oft unerträglich; so wird aus der Not die spezifisch
-Georgesche Tugend, mit der der adlig-volksmäßige Shakespeare nichts
-gemein hat: das Hieratische, Esoterische, das an die Stelle des Volks
-und der natürlichen Vornehmheit, die unsrer Zeit alle beide fehlen, den
-Klüngel setzt; und zum Verständnis und Genuß seiner Übersetzung -- ich
-übertreibe nicht -- braucht man immer wieder das Original.
-
-Nach der Zahl der gelungenen oder wenigstens erträglichen Sonette
-ist Sänger der beste: aber wie viele Spitzen bricht er ab; wie viel
-ebnet er; wie viel Erklärungen, Auffassungen, Deutungen bringt er in
-den Text hinein; aus Unbestimmtheiten macht er Bestimmtheiten und aus
-Bestimmtheiten Unbestimmtheiten; er trivialisiert das Gehobene und,
-was schlimmer ist, er bringt eine gewisse bürgerliche Feierlichkeit
-und Selbstbewunderung in Äußerungen hinein, die der Dichter wie eine
-unverrückbare Wirklichkeit sich allerschlichtest und natürlich hat
-aussprechen lassen.
-
-In den Zitaten, die ich im folgenden mitzuteilen habe, habe ich alle
-Übersetzungen, die mir etwas boten, benutzt, kombiniert und nach
-Bedarf und eigenem Vermögen verändert und zur Einheit gebracht. Ich
-glaube, daß dadurch für diese einzelnen Stücke und Bruchstücke etwas
-Rechtes herausgekommen ist, und ersuche berufene Leser um Prüfung;
-dies um einer wichtigen Sache willen, denn es ist in all solchen
-Fällen, wo kombinierte Kraft und gleichzeitige oder zeitlich getrennte
-Gesellschaftsarbeit etwas Rechtes zustande bringen, ein scharfer und
-unnachgiebiger Kampf gegen die verruchte Monopolform, die das geistige
-Eigentum in unsrer Zeit angenommen hat, zu führen.
-
-Zu wünschen wäre, unter Beiseitesetzung aller Vornehmtuerei, für
-deutsche Leser, die des Englischen mächtig sind, eine Ausgabe
-des Originals mit deutscher Prosa-Übersetzung und sachlichen und
-sprachlichen Erklärungen. Denn man kann sich dieser Sonette nur in
-derselben Art bemächtigen, wie der Göttlichen Komödie und des Don
-Quijote, und für die, die keine Erklärungen mehr brauchen, gibt es
-Ausgaben würdiger Ausstattung, in denen niemand dem Dichter dreinredet,
-genug.
-
-Was drücken nun diese Sonette insgesamt aus, wenn ich den Versuch
-mache, ihren Gehalt, wie sie ihn von Inhalt, Stimmung und Form
-bekommen, fast wie in einem einzigen Satz auszudrücken? Und was
-bedeuten sie im Gesamtwerk des Dichters?
-
-Von diesem letzten zuerst zu reden und mit dem Äußerlichsten zu
-beginnen: diese Sonette beziehen sich nur fortlaufend auf einander,
-auf nichts anderes; der Dichter, der da von sich spricht, ist nur der
-Dichter dieser Sonette, man dürfte sagen: ihr gedichteter Dichter.
-Wären sie uns erhalten, aber nicht unter Shakespeares Namen, so wäre
-ihr Verfasser für uns, so wie der Dichter des herrlichen Dramas Eduard
-III., der doch wohl nicht Shakespeare ist und von dem wir
-dann gar nichts wissen, ein unsterblicher Dichter der Weltliteratur;
-in einem Teil der Sonette würden wir wohl an Spiele wie Die beiden
-Veroneser erinnert; in einem andern käme uns eine Gesinnung zum
-Ausdruck, die uns überaus stark an die Stimmung von Troilus und
-Cressida, Hamlet, Timon und Verwandtem erinnerte, aber wenn ich
-diesen Dichter, wie ich für möglich halte und hoffe, mit Shakespeare
-identifizierte, ist kein Zweifel, daß ich hinzufügen würde: bewiesen
-ist es nicht. Er erwähnt seine Dramen nie; auch in keiner allgemeinen
-und unbestimmten Wendung weist er irgend auf sie hin; Anspielungen sehr
-dunkler Art sind wir geneigt, auf seinen Schauspielerberuf zu beziehen;
-ob wir darin recht haben, steht dahin; sicher ist, daß wir keine
-Möglichkeit dazu hätten, wenn wir ihn nicht als Verfasser kennten.
-
-Der Ton dieser Sonette ist: es äußert sich eine überschwängliche,
-innige, hingenommene, knieend verehrende Empfindung ganz unrhetorisch,
-sachlich, so wie das Wirkliche sich äußert. Es wird nicht begeistert
-über die Sache geredet; sondern die Sache selbst spricht sich aus, und
-diese Sache ist Innerlichkeit, ist Seelenabgrund und Geisteshöhe.
-
-Es gibt für den Dichter dieser Sonette nur die Welt, nur die Erde, nur
-Menschliches. Mythologie tritt selbst als Schmuck der Rede nur ganz
-selten hervor; viel seltener als in fast jedem der Bühnenwerke; und von
-Befangenheit in Vorstellungen der Religion, des Dämonenglaubens oder
-irgendeines Aberglaubens ist nichts zu finden.
-
-Keinerlei Interesse an den Dingen der Macht, an Politik oder nationalen
-Gegensätzen oder Kriegen oder Zeitfragen irgendeiner Art tritt in
-dieser direkten Aussprache des großen Dramatikers zutage. Einige Male
-im Gegenteil die Abneigung gegen Politik und Herrentum:
-
- Stünd’ es mir an, den Baldachin zu tragen,
- Dem äußern Schein die äußre Ehr’ zu geben?
- An Türmen bau’n, die in die Zukunft ragen
- Und Umsturz und Verfall nicht überleben?
- ... Nein, laß mich nur in deinem Herzen fronen,
- Und nimm du meine Gabe, arm, doch frei,
- Sie kennt kein Arg, du brauchst sie nicht zu lohnen,
- Nur daß die Liebe unser Austausch sei.
-
-Der Dichter tritt auf als Hingegebener, als Gefangener, als Anbeter der
-Schönheit. Nicht der Schönheit in abstrakter Gestalt oder allegorischer
-Einkleidung; er -- der Dichter dieser Gesamtdichtung, wie sie uns
-komponiert vorliegt -- ist Einem Menschen, einem Manne, der jünger
-ist als er, rettungslos verfallen: dieser Jüngling repräsentiert ihm
-nach Gestalt, Ausdruck, Grazie, Würde den schönen, den adligen, den
-seelenvollen, den herrlichen Menschen. Er repräsentiert ihm, was er
-anbetet; das heißt, und er drückt es nicht anders aus: diesen Menschen,
-diesen Mann liebt er. Wir dürfen nicht weniger, wir dürfen nicht mehr
-sagen. Hinzuzufügen haben wir, daß der Sprachgebrauch, das heißt, das
-Denken und Empfinden der Zeit, für innige Freundschaft, die die Seelen
-erfüllt und nicht von einander läßt, die Worte lieben und Liebender
-nicht vermeiden kann und will. Wir haben dafür Beispiele bei andern so
-gut wie bei Shakespeare. Wir wissen, wie Hermione sich von ihrem Mann
-das Recht nicht nehmen läßt und ihm frei und unschuldig heraussagt,
-daß sie seinen Jugendfreund, der auch ihr Freund geworden ist, liebe;
-der alte Menenius gebraucht von Coriolan den Ausdruck ~my lover~,
-mein Liebster, um damit seine eigne Freundschaft zu ihm zu bezeichnen;
-wenn Porzia von Antonio sagt, er sei der ~bosom lover~ ihres Herrn
-und Gemahls, so findet sie das so recht und in Ordnung, wie wenn wir
-vom Busenfreund sprechen. Und weiter haben wir zu sagen, daß in der
-Handlung, in der Geschichte dieser Liebe ein Fortschritt ist: immer
-mehr tritt die Anbetung der äußern Form, der Schönheit der Gestalt in
-unlösliche Verbindung mit der Liebe zum Innern, zur Seele, zum Gut- und
-Adligsein; immer mehr wird dann aus dieser Verbindung der Gegensatz:
-Leib und Seele; und der Leib ist Tod und Vergehen; die Seele ist
-Unvergänglichkeit; Leib und Tod finden den Ausdruck ihrer Lebensgier
-und ihres Vernichtungsdranges im Geschlecht; die Seele macht sich frei
-in der Freundschaftsliebe zur Verehrung des Ewigen.
-
-Ein neues Moment ist also hinzugetreten, ein dramatisches: der Kampf,
-den der Dichter in sich, gegen sich mit der Geschlechtsliebe einer
-gewissen Art, mit der Wollust zu führen hat.
-
-Diesen Kampf zwischen Venus und Eros hatte Shakespeare schon einmal
-darzustellen unternommen: in seinem Gedicht Venus und Adonis, das
-er 1593 herausgab und das ihn sofort zum berühmten Dichter machte.
-Es ist fast unbestrittene Gewohnheit geworden, mit der größten
-Verachtung über dieses Gedicht und die bald folgende Lucretia, die
-zur nämlichen Gattung gehört, rasch wegzugehn, mit einer Verachtung,
-die dem Stil wie der sogenannten Unsittlichkeit gilt. Der Stil
-ist, daß nicht Menschen und Situationen aus der Wirklichkeit
-geschildert werden, sondern allgemeine Kategorien von Trieb- oder
-Geisteskomplexen, leidenschafterfüllte Allegorien, und Situationen
-nicht real-individueller, sondern gattungsmäßig allgemeiner Art.
-So wird die Klage der Lucretia über ihre Schändung benutzt zur
-Darstellung der Nacht in sechs, der Gelegenheit in sieben, der Zeit
-in elf Strophen, immer aber aus der Glut und Wut der menschlichen
-Situation heraus, immer in Metaphern, die sich steigern, überhitzen,
-überspitzen und dem Witz so bewußt und gewollt nah getrieben werden
-wie bei Ariost. Ich finde, daß wir uns in diesen Stil hineinfinden
-können, daß auch in diesem Barockstil sehr viel Starkes und Liebliches
-zu finden ist, und daß Shakespeare die Form ganz vollendet gemeistert
-hat. Es fällt mir nicht im entferntesten ein zu leugnen, daß gräßliche
-Verstiegenheiten, Abgeschmacktheiten, Gesuchtheiten da sind; darüber
-sind aber wundervolle Schönheiten und Bilder von prachtvoller Kraft und
-Sicherheit wie zarter Feinheit nicht zu übersehen. Ganz und gar leugne
-ich aber die Unsittlichkeit. Mit der Kühnheit und Freiheit, die alle
-Kunst der Zeit zum Ausdruck des Äußersten trieb und die in Shakespeare
-zu einem Gipfel emporstieg, werden die äußere Gestalt und die innere
-Verfassung der als Menschen personifizierten ungeheuren Trieb- und
-Seelengewalten und die leidenschaftlichen Situationen, in die sie mit
-einander geraten, geschildert; wenn man aber diesen jugendlichen Werken
-Shakespeares etwas auf diesem Gebiet vorwerfen könnte, dann wäre es die
-zu direkt sich aussprechende Moral.
-
-Die Art aber, wie -- in beiden Gedichten -- die Wollust sich ausspricht
-und die Seele ihre Klage über sie anstimmt, ist der Sonettendichtung
-schon nah verwandt.
-
- Gen Himmel ist die Liebe längst entwichen,
- Seit stinkend Lust in ihrem Namen steckt;
- Die kommt zur Schönheit, so vermummt, geschlichen,
- Und was sie nicht verzehrt, das ist befleckt.
-
-Oder:
-
- Die Lieb’ ist wahr und mäßig; Wollust praßt
- Und wird erstickt von ihrer Lügen Last.
-
-Und wie großer Art ist die Schlußrede der Venus, ihre Klage um Adonis,
-der der Welt verloren ging, und ihr Fluch auf die Liebe:
-
-Weil Eros nicht mehr da ist, soll sich nun, muß sich nun Leid und
-Eifersucht, Qual und Gift und Treulosigkeit mit der Liebe verbinden;
-Krieg und Feindschaft zwischen Nächstverwandten wird sie hervorrufen,
-in allem Bösen sich einnisten, alles Gute untergraben.
-
-Oder wie groß, wie stark, wie eindringlich ist die Darstellung von
-Tarquins Ernüchterung, nachdem die Wollust ihn zur Notzucht getrieben
-hat; wie findet das menschlich Wahre im Allegorischen leidenschaftlich
-innigen Ausdruck, wenn das Gierverlangen nun wie ein bankrotter Bettler
-matt und elend geworden ist, und seine Seele nun klagend zu ihm spricht:
-
- Lebend’ger Tod und ew’ges Leid
- Sind nun mein Los; empörte Knechte haben
- Mein Heiligtum zertrümmert und entweiht;
- Die Sünden meiner Sterblichkeit begraben
- Im Schutt der Schande die Unsterblichkeit;
- Das alles hab’ ich klar vorher gewußt
- Und wurde doch das Opfer dieser Lust!
-
-Der Shakespeare dieser Gedichte darf sich getrost in der Gesellschaft
-sehen lassen, in die er mit ihnen gehört und in der er Genosse der
-Schar ist, die von Ariost, Edmund Spenser, Victor Hugo und Swinburne
-angeführt wird, nicht ihr Erster, aber auch keineswegs ihr Letzter.
-Neben dem großen Spenser steht der beginnende Shakespeare nicht anders
-da, als etwa Goethe mit seinen ausgezeichneten, wiewohl noch nicht
-goethischen Mitschuldigen neben Molière.
-
-Wie er aber mit seinen dramatischen Werken trotz den Großen, die
-neben ihm standen und nach ihm kamen, der Einzige ist, als den ihn
-Goethe gepriesen hat, so mit seinem Sonettenwerk, in dem er das Thema
-der allegorischen Gedichte in einer so völlig andern, so einzig
-vollendeten, so in schlichter Menschlichkeit ungeheuren Gestalt aufnahm.
-
-Hier verbinden sich nun die beiden Teile innerer Handlung, die der
-Dichter schon in jenen epischen Gedichten einander gegenübergestellt
-hatte, die Wollust und die geistige Liebe, zu einer seltsam
-geschlossenen einheitlichen äußern Handlung: er, der Dichter, der
-den Freund liebt, hat, so heftig er widerstrebt, so sehr er ringt,
-loszukommen von dieser unwürdigen, verzehrenden Begehrlichkeit, eine
-Geliebte, offenbar, deutlich genug ist’s gesagt, eine verheiratete
-Frau; und nun schließt sich der Ring: Geschlechtsliebe entsteht auch
-zwischen dem Freund, dem andern William, und dieser dunklen Schönheit,
-die dem Dichter gehört.
-
-Da ist nun vor allen Dingen zu sagen, daß ähnliche Motive in der
-Literatur der Zeit auch sonst behandelt wurden, besonders in den
-berühmten Moderomanen John Lylys.
-
-Ich gebe hier in den kurz zusammengedrängten Worten Conrad Henses
-den Inhalt des 1579 erschienenen Romans „Euphues, die Anatomie des
-Witzes“: „Euphues ist ein junger Athener, der nach Neapel kommt, hier
-einen Freund, Philautus, gewinnt, durch seine witzige Beredsamkeit die
-Geliebte desselben, Lucilla, zur Untreue verleitet, selbst die Untreue
-der Lucilla erfährt, mit dem getäuschten Freunde sich wieder versöhnt,
-und zuletzt sich wieder nach Athen zurückzieht.“
-
-Außerdem ist zu beachten, daß Shakespeare selbst das Motiv in seiner
-Komödie Die beiden Veroneser behandelt hat. Die Entstehungszeit
-dieses Stückes kennen wir nicht; aber es wirkt sehr jugendlich, und
-ich zweifle nicht, daß es vor dem Sommernachtstraum und vor Venus
-und Adonis, in die Gegend der Verlornen Liebesmüh, vielleicht noch
-etwas früher, etwa um 1590 also zu setzen ist. Daß Shakespeare die
-Einkleidung der Handlung irgendwo gefunden hat, daß er also nicht
-lediglich ein eigenes Erlebnis maskiert hat, ist gar nicht zu
-bezweifeln. Es sind Anklänge an einen spanischen Roman da, und einiges
-spricht sogar dafür, daß ein älteres Drama ihm Vorlage war, das wir
-nicht haben.
-
-Der große Reiz, den dieses Spiel hat, ist sein schwebendes Wesen. Die
-Personen sind nicht so recht feste Gestalten, weil der Dichter es noch
-nicht vermag, einmalige Menschen von innen her kraftvoll zu beleben,
-und weil er über dieses Ziel hinüberspringt und sich gar nicht bei ihm
-aufhalten will: es soll alles in eine Sphäre der Unwirklichkeit, des
-zierlichen Scheins hinüber. Und doch ist es wieder so, als wäre bei
-diesem Sprung aus dem Nochnichtmenschlichen ins Nichtmehrmenschliche
-gar manches Menschliche, psychologisch Feine und Tiefe an den Gestalten
-hängen geblieben. Auch in dem andern als dem psychologischen Sinn
-ist das Menschliche dieser Dichtung, wie es, wenn auch nicht so
-stark wie in der Verlornen Liebesmüh, überall, nicht nur in der
-prächtigen Gestalt des Dieners Lanz -- der im ganzen und einzelnen
-Lessings Vorbild für den Just gewesen sein könnte -- hervortritt, sehr
-erquickend. Der verräterische Freund, Proteus mit Namen, ist treulos
-nicht nur gegen seinen Herzensfreund, dem er seine Geliebte nehmen
-will, sondern auch gegen die eigne Geliebte, die er zurückläßt und die,
-als Page verkleidet, in die Welt reist, um ihn zu suchen. So sind zwei
-liebende Frauen in dem Stück, die alle beide nichts Wetterwendisches
-oder von der Wollust Verderbtes an sich haben, sondern im Gegenteil von
-einem sehr liebevoll, schwärmerisch das Weibliche verehrenden Dichter
-gezeichnet sind. Der Schluß ist, auch wenn man das Stück noch so sehr
-fast wie ein Marionettenspiel auffassen möchte, ganz mißraten: kindisch
-unvermittelt folgt auf Valentins tiefe Klage:
-
- O Proteus,
- Es schmerzt mich tief, ich darf dir nimmer trauen
- Und bin der Welt entfremdet deinethalb.
- Die Wund’ ist tief, die uns im Innern trifft. O Welt,
- Wo sich als Freund der schlimmste Feind verstellt!
-
-unvermittelt folgt darauf ein Sätzchen tiefster Reue des Proteus, der
-kurz vorher frevlerisch gerufen hat:
-
- Wen, der liebt,
- Kümmert noch Freundschaft?
-
-nun aber, eine Minute darauf seine Liebe zu Silvia vergessen hat; die
-Freunde versöhnen sich; Proteus liebt wieder Julia, und so ist auch
-für die zwei Liebespaare alles in Ordnung. Erst an diesem Schluß aber
-wird dieser Proteus ein grotesker Proteus; vorher sollte gerade er
-psychologisch vertieft betrachtet werden.
-
-Was also dieses Spiel vom Freund, der dem Freund die Geliebte nehmen
-will, angeht, so sehe ich ihm durchaus nicht an, daß damals, als es
-entstand, der Dichter ähnliches erlebt habe; das Gegenteil scheint
-mir eher aus der leichtherzigen Unbefangenheit, mit der das Motiv
-behandelt ist, hervorzugehn. Dagegen könnte es leicht sein, daß
-Shakespeare um diese Zeit herum das weibliche Wesen, das in dem
-Sonettenwerk so unheilvoll hervortritt, schon gekannt und von ihr
-ein Liebesglück empfangen hat, das vielleicht stürmisch und durch
-ihre Koketterie beeinträchtigt, aber noch nicht vom Freunde gestört
-oder von Shakespeare als tragisch empfunden war. Die Schilderung
-Rosalinens in der Verlornen Liebesmüh, dieser geistvollen,
-schlagfertigen, unberechenbaren Schönen mit den schwarzen Augen und
-der dunkeln Haut, nicht nur diese ihre Leibesbeschaffenheit, sondern
-die etwas empfindliche und leidenschaftlich verteidigende Art, wie
-sie geschildert wird, klingt mir ganz so, als ob ein Urbild dieser
-reizenden Gestalt die nämliche Frau gewesen wäre, aus der, als der
-Dichter ein unsäglich höherer Mensch und unsäglich tiefer in ihre Seele
-hinabgestiegen war und als er diese Geschlechtsliebe mit seinem ärgsten
-Weltschmerz in Verbindung gebracht hatte, Cleopatra die Schlange vom
-Nil wurde.
-
-Ich habe also auf die Frage, um derentwillen ich von Lylys Roman und
-von den beiden Veronesern sprach, schon Antwort gegeben. Ja, es ist
-wahr, daß das Motiv der Handlung, das in der Mitte des Sonettenwerks
-steht, ein beliebtes Thema der damaligen Literatur war und daß
-Shakespeare selbst es jugendlich, spielerisch, unbefangen behandelt
-hat; aber nein, es ist unmöglich, daß es sich in der Sonettendichtung
-auch bloß um Literatur, nicht um tiefstes Erlebnis handle. Es steckt
-eine Wahrheit in der These, die Oscar Wilde so ernst wie entzückend
-spielerisch behandelt hat, daß die Dichtung dem Leben mit den Motiven
-vorhergehe und auf das Leben abfärbe; gar vieles in den Sitten und
-Moden ist von den Dichtern geschaffen worden; und mehr, als mancher
-glaubt, hängt das außerordentlichste Erleben selbst solcher Menschen,
-die nicht in Reih und Glied stehen, mit Sitten und sozialen Moden
-zusammen. So sehr ich also immer wieder selbst betone, daß das
-Sonettenwerk eine Dichtung und daß auch der Mann, der darin Ich sagt,
-eine Dichtergestalt ist, so gewiß ist doch, daß die Empfindungen und
-Erlebnisse dieser Dichtung echt und gelebt sind. Wo es nur geht, wenn
-es sich um äußere Tatsachen handelt, weise ich die Beweisführung aus
-innern Gründen ab und sage, auch wenn mir etwas sehr wahrscheinlich
-ist: es steht nicht fest. Empfindende Menschen, die das Recht haben,
-Poesie aufzunehmen, verstehen sich aber unmittelbar und zweifellos auf
-die Sprache der Lyrik, auf Echtheit oder Unechtheit der Empfindungen,
-und so sage ich: so gewiß es ist, daß Günthers Leonoren gelebt haben
-und Goethes Liebesgedichte keine Erfindungen sind, so gewiß hat
-Shakespeare empfunden, was ihm die dunkle Geliebte, was ihm der Freund
-angetan hat. Das ändert nichts daran, daß alles, noch viel mehr als
-im Westöstlichen Divan, Gestalt geworden ist; der Dramatiker hat sich
-auch in diesem lyrischen Werk nicht verleugnet; und dem Umstand, daß
-es diesem Menschen, der Unsägliches lebte, von seiner Natur verwehrt
-war, sich unmittelbar auszusprechen, daß er auch für die Gestaltung
-seiner Gefühle erst in eine Rolle hinein mußte, schreibe ich es zu,
-daß wir in diesem Werk mit einer fast fanatischen Ausschließlichkeit
-nur den Freund und den Liebenden kennen lernen. Will Shakespeare
-sich über den Staat äußern, so muß er Ulyß oder Hektor oder Coriolan
-werden; will er Gesellschaftskritik üben, so wird er Falstaff oder
-Hamlet oder Thersites; hier ist er der Freund, ist er der Liebende,
-und alles von seinem Wesen, was mit diesen wesenhaften Empfindungen
-in Verbindung steht, kommt zum Ausdruck; nichts aber, was nur Rolle
-in der Gesellschaft, nur Maske und Gewand ist, es sei denn, damit es
-fortgewiesen werde.
-
-An der Spitze des Dichtwerks stehen 17 zusammengehörige Sonette, die
-gewiß in der Tat der frühen Zeit des Freundschaftsbundes angehören.
-Sie gelten alle in mannigfacher Variation einem Thema, das manche,
-die von pseudowissenschaftlicher Behandlung der Freundschaftsliebe
-herkommen, überraschen könnte; das Thema ist: Freund, deine Schönheit
-darf nicht mit dir untergehn; die Natur tötet alles Einmalige, das ihr
-gelungen ist, alles Individuelle, Persönliche; sie hat nur einen Weg,
-es in neuer Gestalt zu erhalten, zu vererben: Ehe und Kind.
-
- Verschwender du! dein Vater war ein Mann:
- Sorg’, daß dein Sohn das Gleiche sagen kann.
-
- Nichts schirmt dich vor dem Sensenhieb der Zeit
- Als Sprößlinge: durch sie bist du gefeit.
-
-Es sind aber diesem siebzehnmal wiederholten Zuruf zwei Sonette
-beigefügt, die etwas andres sagen, etwas, wovon der Dichter auch sonst
-immer wieder in hohem Selbstbewußtsein spricht: Unsterblich bist du
-Schöner, Guter, Edler in jedem Falle:
-
- Solange Menschen atmen, Augen sehn,
- Lebt mein Gedicht, in ihm wirst du bestehn.
-
-Ganz nüchtern glaube ich, daß das buchstäblich wahr ist: solange
-Menschen leben und lesen, werden diese Gedichte geliebt werden und
-mit ihnen ~the love~, der geliebte Freund ihres Dichters. Um so schöner
-dünkt es mich, daß nichts weiter von ihm lebt; der Unbekannte lebt nur
-in dieser Dichtung; nichts wissen wir von seiner Nachkommenschaft;
-vielleicht nicht auf dem Weg der Natur, ganz gewiß durch das Mittel des
-Geistes ist er unsterblich geworden.
-
-Diese Vorstellung, er der Dichter werde den bewunderten Freund zur
-Unsterblichkeit erheben, tritt auch im weitern Verlauf kräftig
-hervor. Vielleicht entspringt diese häufige Betonung aber vor allem
-dem Bedürfnis der Selbstbehauptung und also einer Schüchternheit,
-die dann in den Stolz umschlägt. Denn zu Beginn des Verhältnisses
-äußert sich dem adligen Jüngling gegenüber eine Demut, die keineswegs
-bloß den inneren Grund der Verehrung hat. Die Ungleichheit der
-gesellschaftlichen Stellung tritt scharf heraus; und im Anfang scheint
-der Dichter, von seiner Anbetung getrieben, eine selbstquälerische
-Lust darin zu finden, diese Unterordnung eifrig zu betonen. Für seine
-Hingebung, seine Rolle in dem Verhältnis, seine demütig bettelnde
-Liebe wie für den äußern Rangunterschied, den er zu einem freiwillig
-erwählten macht -- die Schweizer Mundart sagt im Sinne von demütig:
-niederträchtig, das ist ursprünglich einer, der sich aus innerem
-Bedürfnis niederbeugt -- ist es bezeichnend, wie er sich den Sklaven
-des Freundes nennt, dem er geduldig aufwartet; der andre mag tun, was
-er will, der Dichter wird nicht murren, bis der Souverän Zeit für ihn
-hat. Er ist sein Vasall und wird ihm -- Gott verhüte es! -- seine
-lustigen Stunden nicht nachrechnen:
-
- Zum Warten bin ich da, der Höllenglut,
- Und gönn’ dir deine Lust, ob bös ob gut.
-
-So scheint es auch zunächst kaum möglich zu sein, daß sie unbefangen
-einander besuchen und zusammen sind, wie es unter Freunden Brauch ist;
-der Dichter freut sich auf besondere Gelegenheiten, auf Feste, wo er
-den Freund sehen und im selben Raum mit ihm zusammen sein kann. Das
-muß später anders geworden sein, und die Stellung des Dichters zum
-Freund muß sich auch in äußerer Hinsicht gehoben haben. Aus andern
-Sonettenkreisen geht hervor, daß sie Zeiten hintereinander sich Tag um
-Tag trafen und daß ihr Beisammensein nur durch Reisen des einen oder
-des andern unterbrochen wurde.
-
-Vor dieser von äußern Verhältnissen und innerer Ergebenheit befohlenen
-Demut flüchtet sich das Selbstgefühl des Dichters in Beobachtungen
-über die Zeit, als die Vernichterin alles Materiellen und Natürlichen,
-und die Unvergänglichkeit des Geistes. Ringt er nach Bildern und
-Wendungen, um die Gestalt des Freundes zu formen, so kommt ihm
-vielleicht ein altes Buch zu Hilfe, wo ein längst verblichener Dichter
-aus der Zeit der Anfänge der Schrift diese nämliche Mannesgestalt
-schon dargestellt hat. Jugend und Schönheit gehen dahin, das Wort des
-Dichters bleibt:
-
- Und dennoch hält mein Lied der Zukunft stand
- Und singt dein Lob trotz ihrer grausen Hand.
-
-Daran befestigt sich sein Stolz immer wieder: er kann dem Freund, der
-ihm so viel durch sein Dasein gibt, dieses eine durch seine Kunst
-leisten, daß er ihn in die Reihe der Unsterblichen hebt. In späten
-Sonetten überwiegt dieses Gefühl manchmal so stark, daß er gegenüber
-dieser seiner Dichtertat die Hinfälligkeit alles Äußern betonen kann:
-
- Nicht Marmor, nicht das Gold von Fürstenmalen
- Wird überleben mein gewaltig Lied,
- Du wirst in diesen Zeilen heller strahlen
- Als stumpfer Stein, den Moder überzieht.
-
- Der wüste Krieg wirft Säulen wohl zusammen,
- Der Aufruhr macht des Maurers Kunst zunichte;
- Doch nicht das Schwert des Mars, nicht Krieges Flammen
- Vertilgen deine lebende Geschichte.
-
-Nach dem Gedicht Der Liebenden Klage, das in der Originalausgabe den
-Sonetten folgt und ihnen in allen folgen sollte -- es geschieht aber
-fast nie --, wollen wir uns ein Bild dieses Jünglings machen; es ist
-nicht unwichtig, von Shakespeare zu erfahren, wie sein geliebter
-Freund, als er ihm zuerst nahe trat, ausgesehen hat und mit welchen
-Augen er ihn damals und später betrachtet hat; damit steht uns William
-Shakespeare nicht nur dem Freund gegenüber, sondern auch in der
-Bedingtheit seiner Zeit und seiner Natur in klaren Linien da.
-
-In braunen Locken hingen dem Freund demnach die Haare bis auf die
-Schultern. „Wie ungeschorner Samt“ sproßten um sein Kinn die ersten
-Spuren des Bartes:
-
- Er läßt gerade noch dem Zweifel Raum,
- Ob voller Bartwuchs oder weiße Glätte
- Die Schönheit dieses Kinns gesteigert hätte.
-
-Schön wie seine Gestalt war das Wesen, das in seinen Äußerungen zur
-Geltung kam: sanft wie von einem Mädchen war seine Art zu sprechen
-und also frei vom Herzen; aber im Männerstreit konnte dieses weiche,
-warme Organ so seltsam anwachsen wie der Föhnwind zum lauen Sturm.
-Saß er zu Pferd, so war es ein schöner, lieblicher Anblick: wenn das
-Roß sich stolz tummelte und herumschwenkte und in langen Sätzen unter
-ihm sprang, wußte man erst nicht, ob dieser Stolz und diese Anmut dem
-Reiter von dem Tier oder dem Tier von seinem Reiter kam. Dann aber fand
-man schon heraus:
-
- Der Quell der Anmut ist sein innres Leben.
-
-Wie beherrschte er die Menschen mit seiner Dialektik, wie stand ihm die
-rasche, sichere Rede zu Gebote; er brachte Weinende zum Lachen, Lacher
-zum Weinen, „er hatte die Mundart und feinste Unterscheidungskunst, um
-alle Regungen nach seinem Willen hervorzulocken“. So war er Herrscher
-über Junge und Alte, Männer und Frauen; alle Herzen flogen ihm zu, wie
-von einem Zauberer gebannt, und taten ihm seinen Willen.
-
- Gar viele schafften sich sein Bildnis an,
- Das Auge sah’s, das Herz vergaß es nie --
-
-und manches Weib bildete sich ein, er neige sich zu ihr, auch wenn er
-nie ihre Hand berührte.
-
-Obwohl, was nun folgt, zur Handlung des Gedichts gehört, glaube ich
-doch, glaube es nach dem, was uns spätere Sonette selbst sagen, daß es
-zu William Unbekannts Bildnis dazu gehört, wie es William Shakespeare
-wenigstens in Stunden des Schmerzes und Unmuts sah: falsch konnte er
-sein und all seine organische Sanftheit und Weichheit, seine milde,
-tugendreiche Rede zum Fang der Herzen, zum Berücken der Frauen benutzen:
-
- Er ist ein Inbegriff von feinen Stoffen,
- Die sich in jede Form beliebig fügen;
- Bald wild und kühn, bald blaß und wie betroffen,
- Bald schlau versteckt, bald ungestüm und offen,
- Versteht er stets, aufs beste zu betrügen.
- Ihm stehen Schamrot, Ohnmacht, bleicher Schreck
- Sogleich zu Diensten, je nach seinem Zweck.
-
- Und wenn sein Herz der Wollust Glut verzehrt,
- So spricht er von der Keuschheit hohem Wert.
-
-Stimmungen, die dieser bösen genau entsprechen, werden wir aus den
-Sonetten noch ertönen hören; zu Beginn der Handlung, der Treulosigkeit,
-des Verrats, den der Freund, der Geliebte an der Liebe beging, kommt
-noch eine verwandte und doch ganz andere, eine rührend ergebene zu Wort.
-
-Der Freund -- der Geliebte -- die Liebe: ~the love~; da haben wir
-noch eine Schwierigkeit für die Übersetzung und das Verständnis: ~the
-love~, die Liebe, bedeutet in diesen Gedichten fast nie das Gefühl
-der Liebe von einem Menschen zu einem andern Menschen hin, sondern
-den Gegenstand der Liebe: nicht die Liebe zwischen zwei Menschen,
-sondern den Geliebten und manchmal, selten, auch die Geliebte. In einer
-gewissen Zahl Gedichte, auf die ich schon deutete und von der jetzt zu
-sprechen ist, haben wir nun gar das Wort im Wortspiel einer zugleich
-dreifachen Bedeutung: Liebe -- Geliebter -- Geliebte.
-
-Es kann nie wahrhaft gelingen, aus dem folgenden 40. Sonett, das für
-dieses Thema entscheidend wichtig ist, ein anderes als ein plumpes und
-halb unverständliches deutsches Gedicht zu machen; es ist aber gerade
-sein Wesen, daß es in seiner ungemeinen Gewagtheit so in der Form glatt
-und ohne Anstoß dahinfließt wie die allerüblichste Sache:
-
- ~Take all my loves, my love,~ Nimm all meine Liebsten
- ~yea, take them all;~ (Lieben), Liebster, ja,
- nimm sie alle,
-
- ~What hast thou then more~ Was hast du da mehr, als
- ~than thou hadst before?~ du vorher hattest?
-
- ~No love, my love, that thou~ Keine Liebe, mein Lieb, die
- ~mayst true love call;~ du wahre Liebe nennen
- kannst;
-
- ~All mine was thine before~ Alles Meine war dein, ehe
- ~thou hadst this more.~ du das noch dazu hattest.
-
- ~Then, if for my love thou~ Wenn du dann statt meiner
- ~my love receivest,~ Liebe (zu dir) meine Liebe
- (die Liebste) nimmst,
-
- ~I cannot blame thee, for my~ Kann ich dich nicht tadeln,
- ~love thou usest;~ denn du gebrauchst meine
- Liebe (meine Liebste);
-
- ~But yet be blam’d, if thou~ Und doch sei getadelt, insofern
- ~thyself deceivest~ du dich selbst betrügst
-
- ~By wilful taste of what~ Und launisch kostest, was dir
- ~thyself refusest.~ selbst widersteht.
-
- ~I do forgive thy robbery,~ Ich verzeihe dir deinen Raub,
- ~gentle thief,~ adliger Dieb,
-
- ~Although thou steal thee~ Obschon du dir meine ganze
- ~all my poverty;~ Armut stiehlst;
-
- ~And yet, love knows, it is~ Und doch, weiß die Liebe!
- ~a greater grief~ ist’s ein größerer Gram,
-
- ~To bear love’s wrong than~ Das Unrecht der Liebe (des
- ~hate’s known injury.~ Liebsten) zu tragen als des
- Hasses vertraute Kränkung.
-
- ~Lascivious grace, in whom~ Lüsterner feiner Gesell, dem
- ~all ill well shows,~ alles Schlechte gut steht,
-
- ~Kill me with spites; yet we~ Töte mich mit Unbill; aber
- ~must not be foes.~ wir dürfen nicht Feinde
- werden.
-
-Wie ist das nicht bloß im Sprachlichen, auch im Ton fast unnachahmlich;
-was für eine Einheit von Wehmut und Schelmerei! Da wird das Kleine
-klein und leicht und doch ganz zugleich und im gleichen das
-Schmerzliche so schmerzlich genommen. Da ist wirklich in ~the love~
-alles Hohe und Niedrige beisammen; und so ist auch dieses Gedicht in
-allem Bedenklichen adlig; es wird mehr der Makel im Freund beklagt als
-der Verlust der Geliebten, nur daß die Sprache es hergibt, das, was im
-Geschehnis geeint ist, auch mit demselben Sprachausdruck zu bezeichnen:
-der Makel des Freunds ist die Verführung der Geliebten. Über das, was
-den Menschen gemeiniglich das Wirkliche und Wichtige ist, ist dieser
-vom Freund und der Geliebten betrogene Dichter erhaben; so sehr wir von
-hier aus neu verstehen, welche Rolle Umdunkelung und Vernichtungswut
-des Hahnreis in Shakespeares Rachedramen spielen, so sehr dürfen wir
-ganz selig und leicht und frei hier erleben, daß es für den Dichter
-dieser Gedichte kein Hahnreitum gibt. Die Phantasieliebe wird zum
-wahren Leben; des Lebens Notdurft wird zum Spiel. Das empfinden wir
-noch mehr, wenn wir die innere Handlung dieses Vorgangs in den beiden
-unmittelbar anschließenden Sonetten 41 und 42 noch weiter verfolgen.
-
- Die art’gen Sünden, die der Leichtsinn tut,
- Wenn manchmal ich von deinem Herzen fern,
- Stehn deiner Schönheit, deinen Jahren gut,
- Denn wo du bist, folgt die Versuchung gern.
-
- Adlig bist du, und deshalb zu gewinnen,
- Schön bist du, deshalb geht um dich der Krieg,
- Und welches Weibes Sohn, wenn Weiber minnen,
- Verließe mürrisch sie vor ihrem Sieg?
-
- Ach! solltest doch wohl mein Gehege fliehn
- Und deiner Schönheit fluchen und der Lust,
- Die dich im Jugendtaumel dahin ziehn,
- Wo du zwiefach die Treue brechen mußt:
-
- Ihre, die deine Schönheit lockt zu dir,
- Deine, weil deine Schönheit falsch an mir.
-
-Und nun im nächsten das Höchste in Einem an Scherz, an Schmerz, an
-herzlicher Wonne im Weh:
-
- Daß du sie hast, das schmerzt mich nicht so stark,
- Und doch ist’s wahr, ich liebte sie gar herzlich.
- Daß sie dich hat, das frißt mir recht ins Mark,
- Der Liebeskummer trifft mich wahrhaft schmerzlich.
-
- Doch weiß ich Mildrung euch, ihr Liebessünder:
- Du liebst sie, weil du weißt: ich bin ihr gut,
- Und meinethalb betrügt sie mich nicht minder
- Und duldet, was mein Freund ihr meinthalb tut.
-
- Verlier’ ich dich, so hat mein Lieb Gewinn,
- Geht sie verloren, macht mein Freund den Fund;
- Zwei finden sich, zwei fahren mir dahin,
- Und beide richten meinthalb mich zu Grund.
-
- Ach, freu dich! wir sind Eins, mein Freund und ich;
- O holder Wahn! so liebt sie doch nur mich!
-
-Denken wir von hier aus an solche Stücke wie Die beiden Veroneser,
-Wie es euch gefällt, Was ihr wollt, wo immer auf Shakespeares Bühne
-der junge Schauspieler, der die jugendliche Liebhaberin zu spielen
-hat, sich noch einmal als Mann zurückverkleidet und so, während ein
-Weib sich in ihn verliebt, der Freund eines Mannes wird, der sich in
-erotischer Sympathie zu ihm hingezogen fühlt: aus dem, was Shakespeares
-Lyrik uns über seine Erlebnisse und die Art, wie er sie nahm, enthüllt,
-verstehen wir die leichte, neckische und doch innige Grazie jener
-Szenen besser. Bei aller Innigkeit und Gewalt der Schmerzen hat er so
-viel überlegene Heiterkeit, daß er mit einer gewissen mathematischen
-Kombinationsfreude, wie sie sich gerade der Form des Sonetts so
-wundervoll anschmiegt, die innern und äußern Möglichkeiten des Dreiecks
-abwandelt.
-
-Mit der sehr ernsten Aufgabe, vor die die Art, wie Shakespeare dieses
-Erlebnis hier in die freie Luft des Spiels und damit der Reinheit
-gehoben hat, uns stellt, sind wir noch lange nicht fertig; und so
-ist zu sagen, daß es nichts Moderneres, nichts, was uns mehr angeht,
-gibt als diese Sonettenfolge. Die Liebe abwechselnd, wie es die Natur
-verlangt, gewaltig ernst, und dann wieder, wie es der Geist rät, ganz
-leicht und heiter, immer aber frei nehmen scheint mir in der Tat
-eine Aufgabe, die Shakespeare besser verstanden hat als wir. Auch in
-diesem zarten Punkt stehen unsre frühen Romantiker, Novalis, Friedrich
-Schlegel, Schleiermacher in naher Beziehung zu ihm. Shakespeare aber
-hatte es leichter als sie und wir, weil er in andern Sitten oder Moden
-stand als wir.
-
-Lebendig genug im England seiner Zeit war noch die höfische Sitte der
-Ritterliebe, wie wir sie aus den Artusromanen und ähnlichen Dichtungen,
-aus der Minnepoesie, aus dem Leben Ulrichs von Liechtenstein kennen:
-in all den Büchern dieser Art, wie sie in dem Jahrhundert nach
-Einführung des Buchdrucks in den Kreisen des Adels, des Bürgertums
-und des Volks begehrt waren und verschlungen wurden, gehörte es sich
-und war Mode, daß der -- übrigens verheiratete -- Ritter eine Dame
-hatte, der er seine Phantasieliebe widmete. Es gehörte sich, daß in
-der Liebesdichtung von allem eher die Rede war als von der Hausfrau,
-der Mutter der Kinder. Es gehörte sich, mit einem gesagt, daß der
-seelenvolle Sänger und ritterliche Kämpfer, unabhängig von seiner
-Häuslichkeit, seine Sehnsucht, seine Romantik hatte, die ihn, wie
-die gotischen Münstertürme aus muffigen Bürgergäßchen in die freie,
-frische, blaue Luft nach oben wuchsen, aus der Enge in die weite Welt
-führte.
-
-Zu dieser Verzauberung und Verklärung des Lebens aus dem Mittelalter
-kamen nun noch die hohe, heroische Seelenstimmung des erotischen
-Freundschaftsbundes in der Renaissance und die Einflüsse aus der
-Antike; Plato war der Abgott der Kreise, aus denen Giordano Bruno
-herkam, und die Schriften der griechischen und der neuen italienischen
-Platoniker, in denen die Liebe des Sokrates ins Erhabene gerückt und
-als heitere, die Menschen frei und unverzerrt an einander bindende
-Religiosität erfaßt war, wurden durch den Druck verbreitet. Die „Minne“
-fing in diesem Zeitalter des Don Quijote und der Cressida gerade an,
-auf die Stufe des holden, flatterhaften, irdischen Liebchens zu sinken;
-die Geschlechtsliebe wurde analysiert und also angetastet und von der
-verklärenden und steigernden Phantasie abgeschnitten. Shakespeare,
-dessen Volumen daher rührt, daß er an der Wende der Zeiten in beiden
-Lagern stand, war auch auf diesem Gebiet nach beiden Seiten zum
-Höchsten imstande: keiner hat wie er die Liebe zwischen Mann und Weib
-von der Phantasie ins Himmlische heben lassen, keiner hat wie er solche
-Liebe mit inniger Qual und zäher Energie untersucht und zergliedert.
-Die Art Geschlechtlichkeit und Wollust, die den Mann nicht zur Freiheit
-steigert, sondern ins Gemeine bannt und unter seine Würde hinabzerrt,
-hat er mit dem großen Fluch der Menschheit belegt, und gegen sie hat er
-das Ideal der männlichen Gesellschaft, der Männerfreundschaft erhoben
-und hat diesem Gegensatz Troilus und Cressida gewidmet.
-
-Das Heroische und Erhabene, nicht mehr lechzen und verlangen, ins Tier
-hineinschlüpfen, der Natur sich unterwerfen, sondern die Kühnheit,
-die freie Bahn des sich selbst bestimmenden Geistes kommt in dieser
-Liebesfreundschaft zum Ausdruck. Die Augen haben einen andern Blick;
-Sehnsucht, Habenwollen, Entbehrung, Leid und Qual und Wonne: all
-das ist da, aber alles nicht der Venus, dem finstern Leibestrieb
-unterworfen, sondern frei als ernstes, strenges Geschick erwählt.
-
-Noch einmal sei in dieser Vortragsfolge Rembrandt genannt. Den
-Gegensatz der Welt des Rubens und des Rembrandt, der Sinnenlust
-und der magischen Geistesfreude erkenne ich in Geschlechtstrieb
-und Liebesfreundschaft, wie sie Shakespeare in den Sonetten und in
-den eng zu ihrem Höhepunkt gehörigen Bühnenwerken, Antonius und
-Cleopatra und Troilus und Cressida darstellt. Wie ich das meine,
-möge das Sonett zeigen, das gleich auf die Reihe der Sonette von
-den drei Menschen folgt, deren jeder jedem Liebesgefühle zuträgt
-und deren einer verlassen erleben muß, wie zwei ihm doppelt treulos
-sind. Erstaunlicherweise zwar will Brandl in der Abhandlung, die er
-Fuldas Übersetzung beigibt, dieses wie so manches andre Gedicht, in
-dem die Freundschaftsliebe einen besonders gewaltigen, passionellen
-Ausdruck findet, auf die Liebe zu dem Weibe beziehen, -- aber überall,
-wo es aus inhaltlichen und sprachlichen Gründen sicher ist, daß
-der Dichter von ihr spricht, sind ganz andre Töne zu hören, und zu
-solcher Umbiegung hat keiner ein Recht. Shakespeare bedarf keiner
-Entschuldigung; sein ganzes Herz hängt an seinem Freunde; und warum
-etwa nicht? Weil die Freundschaft aus der Mode gekommen ist? Weil die
-meisten, wenn sie von ihr hören, den Eros mit dem Sexus verwechseln
-und von einer Hingerissenheit nichts wissen, die nur der Seele und dem
-Geist entstammt? Weil man nur immer an solche ins Drollige mißratene
-Verhältnisse verzweifelt Täppischer und Phantasieloser denkt, die in
-ihrem Unterbewußtsein Verwechselungen begehen und irgendein Glied
-ihrer Notdurft in einen Bund hineintragen, der schmutzig, lasterhaft
-oder komisch ist, wenn er nicht ein Bund der Freiheit ist? Weil man
-nur immer faulige oder pervers triebhafte Nebenregungen mit dieser
-Freundschaft in Verbindung bringt oder sich gar von einer im Dumpfen
-ausgebrüteten Pseudowissenschaft sagen läßt, solche Freundschaft müsse
-mit einem fruchtlosen Mißbrauch der zur Kindererzeugung bestimmten
-Organe des Leibes verbunden sein? Weil die Phantasielosigkeit nirgends
-komischere Triumphe feiert als auf dem Gebiet der Liebe jeglicher
-Art? und weil die meisten gott- und liebeverlassenen Leute mehr von
-einem Wind, der in ihrem Leibe spaziert, zu begehrender Begeisterung
-gebracht werden als vom Anblick der Seelenschönheit? Äußerung braucht
-die Freundschaft, wenn sie innen in jedem von zwei Menschen da ist
-und zwischen zwei Menschen weben will; der Vermittelung bedarf die
-Seele der zwei, die eins werden will, der Vermittelung durch den
-Leib, weil es andre Wege des Verkehrs für uns unter dem Himmel nicht
-gibt; aber auch die Sprache, auch die Musik, auch die Kunst gehört
-zu dieser leiblichen Vermittelung, und die Nuance ist auf diesem
-Gebiet der unphysiologischen, der Phantasieliebe alles; von dem Talent
-und der Übung zum Verkehr der Geister wird es bei den Menschen, die
-zusammenstreben, abhängen, ob ihr Umgang grotesk oder schön sein wird.
-Sie wird wieder Mode werden, die Freundschaft; ohne gefühlvollste
-Untrennbarkeit zueinander gezogener und gebannter Menschen auch
-über die Familiengruppe hinaus kommt es zu keiner Erneuerung der
-Menschengesellschaft; die Kameradschaft, wie sie Whitman verkündet
-hat, wird die Bünde schaffen, die nicht wie die Familien und Nationen
-gemeinsamer Notdurft der Natur, sondern der freien Wahl des Geistes
-entstammen, und die nicht aus der Wut des Geblüts zu blutigen Kriegen,
-sondern zu hell freudigem Wettkampf schöpferischer Kräfte führen. Dann
-wird ein Gedicht wie das 43. Sonett Shakespeares, das Rembrandt-Sonett
-den Menschen ein Labsal und wie eine weihevolle Inschrift sein, die
-ihr öffentliches Leben mit der glühenden Innigkeit ihres intimsten und
-geheimen Lebens befeuert:
-
- Geschloßnes Auge dient am besten mir,
- Da es sich tags an nichtige Dinge wendet,
- Doch wenn im Schlaf ich träume, ist’s nach dir
- Und nächtig hell, hell in die Nacht gesendet.
-
- Denn du, deß Schatten Schatten leuchten macht,
- Was gäb’ dein leibhaft Bild für holde Schau
- Dem lichten Tag mit deiner lichtren Pracht,
- Deß Schattenbild erstrahlt in Schlummers Grau!
-
- Wie, sag’ ich, wär’ des Auges Glück erst groß,
- Wenn es dich sähe im lebendigen Tag,
- Da hell in toter Nacht dein Schatten bloß
- Durch schweren Schlaf vor blinde Augen trat.
-
- Nachtgleich die Tage all’, wo du nicht hier,
- Und taghell nachts, führt dich der Traum zu mir.
-
-Ich denke an Rembrandt nicht bloß wegen des ~darkly bright, bright
-in dark~, wegen des Helldunkels, sondern weil dieses Licht, das auf
-die Nacht flammt, bei beiden dieselbe Magie der düster klaren, des
-Geschicks bewußten Freiheit, Haltung und Entschlossenheit des Geistes,
-der sich von den Banden des Triebs losmacht und selig gefaßt in der
-Phantasie lebt, zum Ausdruck bringt. Dieser entschlossene, zu Tod wie
-Leben bereite, rationelle und doch tragische, helle und doch nächtige
-Geist, wie ihn dieses Sonett, wie ihn in den Dramen am schönsten
-Brutus und Hektor und Macduff und Prospero zum Ausdruck bringen, und
-hinwiederum die andre Gestalt des Geistes, die die Tierwildheit durch
-Witz, Ironie, Spiel, Heiterkeit überwindet, das sind die beiden Pole,
-denen die schönsten Dramen Shakespeares ebenso wie diese Sonette
-wechselseitig zustreben. Und wie braucht der Geist die Abwechselung
-zwischen diesen Standpunkten und Arten des Verfahrens, wie muß er in
-dieser Welt sich so schwer durchs Leben winden, um sich zu behaupten,
-da wir, so klagt das nun folgende Sonett in derselben Stimmung und mit
-ähnlichen Worten wie der junge Prinz Hamlet, nicht ganz und gar Geist,
-sondern in die „dumpfe Substanz des Fleisches“ gestopft sind! Wie wäre
-der Raum, der die Trennung und den Schmerz schafft, überwunden, wenn
-wir ganz Geist wären! Aber „dieser Gedanke ist tödlich, daß ich nicht
-Gedanke bin“. Wir sind elementar -- und in der Trennung leiht uns der
-schwere Stoff unsres Fleisches keinen leichten Flug der Überwindung
-aller Schranken des Raums, der Zeit, sondern nur die Mischung aus
-luftgleicher Seele und „allzu festem Fleisch“: das Naß der Tränen.
-
-Da haben wir die elementare Chemie dieses Tragikers, der wir in
-Antonius und Cleopatra schon begegnet waren: Zwei Elemente, Erde und
-Wasser, unser Leib und unsre Tränen binden uns an die Natur. Mit den
-Tränen unsrer Schmerzen aber, mit der Empfindung aber geht die Fahrt
-schon aufwärts, da steigt der Leib hinauf in die Seele. Wie gut erst,
-daß wir auch der beiden andern Elemente teilhaftig sind, von denen das
-unmittelbar anschließende 45. Sonett spricht: die Luft, unser Denken;
-das Feuer, unser Wollen und Sehnen: ~desire~. Mit dieser Ausdeutung
-der Elemente als Symbole für die Urprinzipien der Welt berührt sich
-Shakespeare mit der ältesten griechischen Philosophie, ohne daß wir
-sagen können, ob diese Einkleidung seiner Gedanken und Stimmungen aus
-philosophischen Gesprächen im Freundeskreis, etwa mit Jüngern der
-italienischen Neuplatoniker, oder aus Büchern zu ihm kam. Das Erlebnis
-aber mit dem Leib und den Schmerzen, die ihn flutend durchgeistigten,
-hatte Shakespeare sehr leibhaft in der Wirklichkeit; er vielleicht
-mehr als irgendein anderer Sterblicher. Denn er hatte ein unheimliches
-Erlebnis mit seiner Körperlichkeit, das, ich muß es nach langer Prüfung
-glauben, irgendwie mit den immer wiederholten Klagen über Makel und
-Flecken in seinem Leben, über Schmach und Scham zusammenhängen muß,
-welche Klagen keineswegs durchgängig mit seinem Schauspielerdasein
-erklärt werden können. In den dreißiger Jahren seines Lebens beginnen
-die erschütternden Klagen, daß er alt, müde, verbraucht werde, und
-werden immer grimmiger und schärfer; im Jahre 1599, aus dem wir die
-ersten noch gemäßigten Klagen dieser Art (im Verliebten Pilger) im
-Druck haben, war er 35 Jahre alt, und diese Sonette könnten sogar noch
-ein paar Jahre älter sein. Wer sich damit helfen kann, zu erklären,
-diese Klänge wären Versspielereien ohne Wirklichkeit, dem sei’s
-überlassen; ich glaube ein Ohr für Lebensechtheit der Empfindungen zu
-haben und vermag es nicht.
-
-Obwohl Shakespeare alt nicht geworden ist und ganz gewiß kaum vierzig
-vorbei war, als die ganz bittern dieser Sonette entstanden, redet er
-scharf und bitter von dem Bild, das ihm sein Spiegel zeigt: die Jahre
-haben ihn wie mit Lohe gegerbt, rissig gemacht, zerquetscht. Gewiß
-haben wir da die Übertreibung in Betracht zu ziehen, eine doppelte
-sogar, die eine, die zur melancholischen Gemütsart gehört und die
-das, was sie anfangs übertreibt, bald genug selber herstellen hilft
-und immer ärger macht; dann auch die andre, künstlerische, die einen
-dunklen Hintergrund braucht, von dem sich das strahlende Bild des
-Freundes abheben soll. Aber alles zusammengenommen, und erwogen, daß
-so übergroße geistige Macht nicht geschenkt wird, daß die Natur, die
-in Eines Menschen Leib solch zehrendes Feuer goß, ohne Ausgleich
-nicht auskommt, daß jede Genialität sich irgendwie, am Körper, an der
-Lebensführung, am schwierigen Umgang mit Menschen rächt und daß nur
-noch etwa einer der Zufälle, die draußen als Dämonen immer lauern, dazu
-treten muß, um eine Katastrophe herbeizuführen, so müssen wir sagen:
-die Äußerungen und fast schon Schreie, zu denen Shakespeare zuletzt in
-den Sonetten kommt, entsprechen dem Bild, das wir uns auch sonst von
-diesem gewaltig Lebenden machen müssen: seine Leibeskräfte, gleichviel,
-was von außen antastend und zehrend dazu gekommen war, waren früh
-verbraucht; er war alt lange vor der Zeit; die Leiblichkeit hielt dem
-innern Sturm auf die Dauer nicht stand. Und in dieser Stimmung nun, die
-da über ihn gekommen ist, malt er sich bis in alle Einzelheiten aus,
-wie einst die Zeit auch mit dem Freund umgehen wird: auch der wird alt
-werden; auch der dahingehn; Türme zerfallen, Erz und Stein sind nicht
-für die Ewigkeit; Meer und Land vernichten sich gegenseitig; die Vision
-und Bildersprache für dieses Untergangsgefühl ist dieselbe, wie sie,
-ein paar Jahre später wohl, aus Prosperos Mund kommen wird; auch die
-Schönheit muß welken und in den Kot sinken wie eine Blume. Da gibt es
-nur immer den einen Trost -- denn der Gedanke an die Unsterblichkeit
-durch die Nachkommenschaft, wie er in manchmal noch naiver Form sich im
-Beginn der Sonettendichtung ausgesprochen hat und wie ihn der Dichter
-schließlich in Gestalt einer Erbfolge des Geistes in dem Verhältnis
-Prosperos zu Miranda und Ferdinand fassen wird, taucht an dieser Stelle
-der Sonette nicht auf -- den einen Trost kennt der Dichter hier nur,
-daß die Liebe in den schwarzen Lettern dieser Gedichte erhalten bleibt.
-
-Daran schließen sich dann Gedichte von einer ungeheuren Bitterkeit
-und Weltverachtung und einem Lebensüberdruß ohnegleichen, die auch
-in Ton und Form von einer geschmiedeten Wucht sind, allen voran das
-66. Sonett, das der nämlichen Stimmung Ausdruck gibt wie der Hamlet,
-der Lear, der Timon, der Coriolan: O pfui, o nein, was für eine Welt,
-lieber nicht leben! Zehnmal hintereinander fängt von den vierzehn
-Zeilen jede mit „Und“ an; der Dichter kann sich nicht genug tun in der
-Aufzählung der Häßlichkeiten und Erbärmlichkeiten der Welt:
-
- _Dies_ alles müd schrei’ ich nach Todesrast:
- Verdienst zu sehn als Bettelmann geboren,
- Und dürftiges Nichts in Herrlichkeit gefaßt,
- Und reinste Treu’ zum Jammer auserkoren,
-
- Und goldne Ehre, die den Falschen krönt,
- Und jungfräuliche Tugend roh geschändet,
- Und echte Hoheit ungerecht verpönt,
- Und Kraft von lahmer Tyrannei entwendet,
-
- Und Kunst geknebelt von der Obrigkeit,
- Und Geist vorm Doktor Narrheit ohne Recht,
- Und dumm befunden schlichte Redlichkeit,
- Und Sklave Gut im Dienst beim Herren Schlecht:
-
- Dies alles müd möcht’ ich begraben sein,
- Ließ ich nicht sterbend, Liebster, dich allein.
-
-Seltsam allmählich wendet sich dieser Überdruß an der Welt, wie sie
-jetzt ist, gegen den Freund, der bei allem doch, wir hören’s in
-dieser furchtbaren Klage, wenn nicht sein Trost, so doch sein Grund
-ist, in der Welt bleiben zu wollen. Die Natur scheint wie bankerott
-zu erliegen; sie hat kein Blut mehr, das durch lebendige Adern zu
-rinnen vermag. Und steht nicht in diesem Untergang der Freund als
-einziger Besitz der echten Natur inmitten der Falschheit? Aber schon
-klingt es uns, als färbe die unnennbare Bitterkeit dieser Schilderung
-auch auf den Freund selbst ab; er wird geschildert als einer, der
-inmitten der Verpestung lebt; die Ruchlosigkeit begnadet er mit
-seiner Gegenwart, die Sünde darf sich mit seiner Gesellschaft zieren.
-Und von geschminkten Wangen und falschen Locken ist viel die Rede,
-die man in diesen lügnerischen Zeiten den Gräbern stiehlt, damit
-sie auf einem zweiten Kopf ein zweites Leben führen; wir wissen,
-wie Shakespeare seinem Ekel vor solcher Fälschung der Attribute der
-Schönheit auch sonst, zum Beispiel in Bassanios Rede, Ausdruck gegeben
-hat; Schönheit war ihm nicht Äußerlichkeit, sondern Ausdruck, und sie
-außen aufzukleben und vorzutäuschen keine geringere Heuchelei als die
-moralische. Der Freund, an den er sich klammert, ist dem Dichter der
-Sonette das letzte Bild der Echtheit in dieser Zeit; er macht nicht
-aus andrer Grün einen künstlichen Sommer, er möge der falschen Kunst
-zeigen, was einstens allerwege die Schönheit war.
-
-Und nun spricht er sich im weitern noch deutlicher aus, wenn auch
-keineswegs so deutlich, wie es manche Übersetzer gemacht haben. Was
-die Welt an dir sehen kann, Freund, dein Äußeres ist ohne Fehl; und
-künstliche Mittel wendest du nicht an; Freund und Feind müssen gestehn:
-schön bist du. Aber ist diese Schönheit deines Leibes wahrhaft Ausdruck
-deines Wesens? Bist du nicht ein Beispiel für das Furchtbare, daß
-Schönheit, Liebreiz, adlig gewinnendes Wesen selbst täuschender Schein
-sein können? Wenn man tiefer in dich eindringen will, hinter den
-entzückenden Schein und Schimmer deiner Erscheinung, woran anders soll
-man die Schönheit deiner Seele prüfen als an deinen Taten? Schon öfter
-hat der Dichter in diesen Sonetten an den Blumen die schönen Farben
-als den holden Schein und aber den Duft als den Ausdruck des Innern
-unterschieden; jetzt sagt er von dem Freund, seine Blüte sei schön zu
-schauen, aber sie dufte ~rank~, das heißt geil, scharf stinkend.
-Und warum, du Blume kommt dein Duft nicht deinem Anblick gleich?
-
- ~The soil is this, that thou dost common grow.~
-
-Das ist ein wundersames, rein formal genommen, wundervolles Wortspiel,
-eine Doppelbedeutung, mit der sehr viel gesagt ist. Es kann heißen:
-
- Der Grund ist der, daß du gemein wirst.
-
-Aber im Zusammenhang mit dem Bild der Pflanze soll eher der Sinn
-herauskommen:
-
- Der Grund ist der, daß du in Gesellschaft wächst, wie das Unkraut,
-
-der Grund ist der Umgang, in dem du dir gefällst und dich gemein machst.
-
-Aber jedenfalls sehen wir: das Verhältnis hat sich geändert, hat sich
-beinahe umgekehrt. Früher war es der Dichter, der sich vor der reinen
-Erhabenheit des Jünglings, des Adligen fast verkrochen hat. Adel ist
-ihm Naturerbe, ist ihm ein Vorzug des Geblüts, echt und berechtigt
-wie der Anspruch der Schönheit. Und immerhin möglich ist es und
-manche Wendung deutet in der Tat darauf hin, daß er, wie er in dem
-Adel und der Schönheit des Freundes, wenn diesen Zeichen das Innere
-entspricht, eine Gabe der Natur erblickt, seinen Schauspielerberuf als
-etwas ansieht, das sein Wesen tief nach innen und unaustilgbar gefärbt
-habe, wie das Färben die Hand des Färbers; daß er diesen Beruf wie ein
-schimpfliches öffentliches Gewerbe betrachtet, und von ihm in Wendungen
-spricht, wie Schmach und Schuld und Flecken und Makel, die sonst nur
-innere Eigenschaften bezeichnen. Fortuna nennt er die „schuldige
-Göttin seiner qualvollen Taten“. Ist diese Deutung so richtig,
-wie sie allgemein akzeptiert ist, so dürfen wir, auf dieses Leben
-zurückblickend, wohl ausrufen: was muß der junge Shakespeare schon für
-eine Persönlichkeit gehabt haben, um aus solcher Stellung heraus zu
-diesem Verhältnis zu so einem verwöhnten Jüngling aus höchstem Adel zu
-kommen! Wie dem auch sei, jetzt redet der Dichter überlegen von oben,
-scheu und behutsam immer noch, aber nur aus schonender Liebe, die
-glauben will; denn um Verdacht schlimmster Art geht es. Verdacht: das
-ist das Thema eines dieser Sonette. Der beweist freilich noch nichts;
-Verleumdung tastet grade das Edelste an, und die Krähe fliegt in der
-holdesten Himmelsluft; Verdacht ist geradezu die Auszeichnung der
-Schönheit:
-
- ~The ornament of beauty is suspect.~
-
-Sollte der Freund, der die Jugend und ihre schlimmen Gefahren hinter
-sich hat und entweder gar nicht angegriffen wurde oder als Sieger
-hervorging, nicht seine Unschuld bewahrt haben, sollte er nicht gut
-geblieben sein? Die Frage bleibt zunächst offen:
-
- Verhüllte nicht der Argwohn deinen Ruhm,
- Du hättest aller Herzen Königtum.
-
-In den Zusammenhang dieser Sonette 67-70 und der später folgenden
-Reihe 92-95, die das Motiv verstärkt aufnimmt, stellt sich mir aber
-die böse Stelle aus der Klage der Liebenden, von der ich früher gesagt
-habe, daß sie mir nicht bloß zur Handlung der Romanze, sondern auch
-des Sonettenwerks gehört. Und in diesem Zusammenhang gedenke ich eines
-Dichters unsrer Zeit, den man den natürlichen Sohn dieser Sonette
-nennen könnte. Ich meine Oskar Wilde, der in diesen Gedichten und
-ihrer Vorstellungs- und Empfindungswelt gelebt und geatmet hat. Von
-dem amüsanten und doch schließlich betrüblichen Büchlein „Das Porträt
-des Herrn W. H.“ will ich weniger reden als von einem andern Bildnis.
-In dem Büchlein hat er eine verführerische Theorie über den Mann, an
-den die Sonette sich richten, mit welcher er lange kokettiert haben
-mag, schließlich in einer Novelle beigesetzt. W. H. sollte nach dieser
-Erklärung der junge Schauspieler sein, der in Shakespeares Truppe die
-jugendlichen Mädchengestalten spielte. Das läßt sich nicht halten;
-daß der Mann, dem die Sonette gelten, ein Aristokrat in vornehmster
-Stellung war, geht aus vielem hervor. Aber wichtiger ist es, von
-einer der bestkomponierten Romandichtungen unsrer Zeit, vom Bildnis
-Dorian Grays in diesem Zusammenhang zu reden. Mir ist, als wäre diese
-Dichtung aus Shakespeares Sonetten und besonders aus dem Teil, der uns
-jetzt beschäftigt, entstanden; und Die Klage der Liebenden könnte das
-Vorbild zur kläglichen letzten Liebe Dorian Grays abgegeben haben. Die
-Motive der Sonette 67-70 sind in der Tat die Grundmotive des Romans:
-alle, so klingt es uns hier wie dort entgegen, alle werden vom Alter
-angefressen; du allein strahlst in unvergänglicher Schönheit. Aber --
-wie steht’s um deine Seele! Wenn man die sehen könnte --! Gut ist’s
-nicht damit bestellt, wenn man nach deinem Rufe, gut auch nicht, wenn
-man nach deiner Gesellschaft urteilt. Und dieser Eindruck verstärkt
-sich noch in den Sonetten 92-95. Ist es nicht wie ein Motto zu Dorian
-Gray, wenn wir da hören:
-
- Doch Gott beschloß an deinem Schöpfungstag:
- Nie soll die Liebe dir vom Antlitz schwinden,
- Was auch dein Geist, dein Herz ersinnen mag,
- Dein Blick soll immer Holdes nur verkünden.
-
-Bei diesem Bilde der zum Staunen unvergänglichen Anmut und
-Liebenswürdigkeit wie nun bei der Schilderung, die den Prinzen
-Wunderhold mit einem Mal unverhüllt in seiner innern Beschaffenheit
-zeigt, haben wir ganz das Porträt, das die verratene Liebste in
-der Romanze am Schluß des Sonettenwerks von dem bezaubernden Manne
-entwirft; wenn es etwa im 95. Sonett heißt:
-
- O welch ein Schloß das Laster sich erkor,
- Als es in dir zu wohnen sich entschied!
- Jedweden Makel deckt der Schönheit Flor,
- Und schön wird alles, was das Auge sieht.
-
-In tiefster Schwermut wendet sich dann der Dichter von den Zweifeln
-an dem immer geliebten Freund, dem er ein Mal für alle verfallen ist,
-weg zur Betrachtung des Todes, dem er sich immer näher fühlt. Eine
-entsetzliche Vorstellung aber ist ihm jeder Gedanke an die Auflösung,
--- so grauenhaft wie uns allen, nur daß wir nicht hinblicken, nicht den
-Schädel unsres guten Freundes aus der Knabenzeit in der Hand wiegen
-und dabei empfinden, es sei unser eignes kahl gefressenes Gebein. Den
-Dichter aber lockt es unbezwinglich hinzublicken auf dieses Unfaßbare;
-und sich, wie er jetzt ist, empfindet er in tiefstem Schauder als
-denselben, der er bald sein wird, ein maßlos Erniedrigter. Dem
-Freund ruft er, wie schon mit Grabesstimme zu: Nicht länger klage
-um mich, als die Totenglocke schallt! Lies meine Verse, aber denke
-nicht mehr an den Menschen, der sie geschrieben hat! Nenne meinen
-Namen nicht mehr, liebe mich nicht mehr, wenn ich weg bin! In der
-Niedrigkeit war ich in dieser Welt, zu allerniedrigsten Würmern geh’
-ich, wenn ich ihr entronnen bin. Und noch stärker wird diese ganz
-und gar düstere Stimmung, in die gar kein Licht fällt, ausgedrückt.
-Ich werde dieses dunkle Rätsel nicht lösen, aber ich werde es nicht
-verhehlen: dieser Dichter, ganz weltlich, ganz ohne jede Beimischung
-etwa religiös-asketischer Umkehr, im Gegenteil, indem er die ganze
-Welt lichtlos, freudlos, hoffnungslos, sinnlos sieht, nimmt aus dieser
-Stimmung auch sich den Lebenden und sein Werk nicht aus. Was er getan,
-geleistet hat, mißt er in dieser Verfassung der Krise offenbar an
-einem Wollen ganz andrer Art, ganz andren Zieles, das vielleicht auch
-ganz andern Gebieten angehört; was da ist, ist nichts und schlimmer
-als nichts. Da, in der direkteren Aussprache dieser Lyrik, ist nicht
-die in Bitterkeit noch milde Resignation, mit der Prospero seinem Werk
-und Leben entsagt; da ist Verzweiflung. Wie er in jüngern Jahren von
-Verschuldung und von Flecken gesprochen hat, so nennt er jetzt seine
-Leistung Schmach und Schande. Ich habe zugegeben, man kann jene starken
-Ausdrücke auf sein Schauspielerdasein beziehen, aber will man für
-jetzt, wo er auf der Höhe seiner dramatischen Produktion steht, auch
-noch sagen, mit dieser entschlossenen, finstern Verachtung rede er nur
-von seiner äußern Stellung als Schauspieler und Dramatiker? Nichts
-unglaublicher als das! Nirgends sind wir im ganzen und einzelnen der
-Stimmung und dem innersten Wesen von Shakespeares reifsten Dramen so
-nah wie in diesem Teil der Sonette; nirgends aber in den Bühnenwerken
-spricht sich uns die Abkehr und Verzweiflung an sich selbst so namenlos
-schrecklich aus wie hier. Ich habe für diese Äußerungen, für diese in
-Entschlossenheit gefaßten Ausbrüche keine andre Erklärung als die
-einer oft fast völligen Umdüsterung, fast müßte man sagen: Umnachtung.
-
-Er verfügt in einem Tone wie letztwillig: sein Name solle vom Freunde
-da begraben werden, wo sein Leichnam liegen werde, und solle nicht
-länger am Leben bleiben und ihn und den Freund in Schmach bringen.
-
- Denn ich schäme mich dessen, was ich hervorbringe, und du solltest
- dich schämen, Dinge zu lieben, die nichts wert sind.
-
-Doch solange er lebt, soll der Freund ihn lieben! Das bringt
-uns vielleicht doch der Lösung des Rätsels noch etwas näher.
-Diese Düsterkeit steht in untrennbarer Verbindung mit den
-Verfallserscheinungen seiner Körperlichkeit -- er ist höchstens ein
-früher Vierziger --, mit der Todesnähe, auf die er immer wieder zu
-sprechen kommt und die -- vergessen wir das doch nicht! -- Wirklichkeit
-ist. Wir wissen nicht, an welcher Krankheit Shakespeare jung starb, --
-aber wir wissen, daß er sich mindestens acht bis zehn Jahre vorher vom
-Tode gezeichnet fühlte.
-
-Da redet er -- und es ist sicher dieselbe Zeit, in der über den
-Dramatiker vom tiefst Menschlichen her zuerst die Krise gekommen war,
-die wir kennen gelernt haben -- den Freund an:
-
- In mir siehst du den Herbst! Gelbe Blätter, oder keine, oder ein
- paar hängen in frierenden Zweigen, und man kann bei diesem Anblick
- an einen eingestürzten Chor denken, in dem einst die süßen Vögel
- sangen.
-
-Daß sich dieses Bild auf seine Produktion bezieht, daß er diesmal ein
-Jetzt, wo ihm alles mißraten scheint, mit einem früheren Reichtum
-vergleicht, wie mit einem Strom, während seinem Gefühl nach jetzt
-Stocken und Versiegen gekommen ist, hören wir aus dieser Stelle
-deutlich:
-
- In mir siehst du in Zwielicht düstern Tag,
- Der nach Sonnuntergang gen Abend bleicht,
- Den schwarze Nacht gar bald entführen mag,
- Des Todes Schatten, der von hinnen scheucht.
-
- In mir siehst du das Glimmen einer Glut,
- Die auf der Asche ihrer Jugend endet,
- Als ihrem Todbett, und bald völlig ruht,
- Verzehrt von dem, was Nahrung ihr gespendet.
-
-Wir haben gehört, was das für ein Feuer ist; ~desire~ -- die
-Sehnsucht, das unbändige Wollen, die Leidenschaft; von innerem Feuer
-ist dieses Dichterlebens Feuer allzu rasch, allzu glühend verzehrt
-worden. Man sagt, die gewaltigsten, verzehrendsten Waldbrände könnten
-nur durch Feuer gelöscht werden, das man gegen sie treibt. So will
-das Feuer dieses Dichters erlöschen: von Flammen verschlungen; und
-er unterscheidet gut genug den guten und den bösen Engel, das reine
-Feuer der Seele und der Dichtung und der Schönheitsliebe und aber das
-brennende, sündhafte Feuer der Triebe. Und -- ich wollte die Feder
-verstauchen und nicht mehr zur Hand nehmen, wenn sie nicht alles heraus
-ließe, was gesagt werden kann und gesagt sein muß; und ich möchte sie
-nicht mehr führen, wenn sie nicht zart vom Unnennbaren reden könnte
--- und ich empfinde, wie der Dichter mit diesem bösen Feuer, das sein
-reines verzehrt, mit dieser sinnlichen Leidenschaft und Wollust seine
-Krankheit, seine steigende Kraftlosigkeit und frühes Alter und die
-Todesnähe in Verbindung bringt; und ich empfinde die Verzweiflung und
-der Umnachtung nahe Verdüsterung als die nicht bloß seelische, sondern
-leibliche Folge und Begleiterscheinung des Leidens, das ihn aufrieb.
-Wie Ekel ist ihm sein Leib, als ob schon jetzt der Tod daran fräße;
-kein Gedanke soll ihm, diesem Naturding mehr gelten, wenn der Tod
-sein Werk getan hat. Die Stimmung des Gequälten schwankt; jetzt ist
-dem Dichter dieser Sonette sein Werk wieder der Grund, auf den er die
-Unsterblichkeit baut:
-
- Doch sei getrost: wenn jener grimme Spruch
- Ohn’ allen Aufschub mich von hinnen treibt,
- So trägt mein Leben Frucht in diesem Buch,
- Das zum Gedächtnis dann noch bei dir bleibt.
-
-Die Erde soll Erde bekommen, der Geist bleibt dein; nur die Hefe, der
-Bodensatz des Lebens wird Würmerspeise; der Tod ist ein kläglicher
-Wicht, der mit seiner Hippe Wertloses an sich reißt und das Beste nicht
-treffen kann.
-
-Es ist mir, ich möchte beinahe sagen, ein Dogma oder Axiom, daß jeder
-Dichter im privaten Leben, wie er es von Natur, Körperlichkeit und
-Menschenumwelt wegen führen muß, die eine Seite seines Wesens zeigt
-und in seiner Dichtung die andre, und daß man von der einen so wenig
-wie von der andern ausschließend sagen kann, sie sei die wahre. Es
-ist wahr, wir haben in der Gesamtheit seiner Dichtungen Shakespeares
-innerstes Wesen, haben es aber im Höchsten dieser Werke und in den
-Gestalten, bei denen die Sympathie des Dichters steht, nicht, wie
-er als Mensch unter Menschen sein kann, sondern wie er, ein anderer
-Mensch in andrer Umgebung, sein zu können sich sehnt. Ich glaube, die
-Gelähmtheit Hamlets, die grausig zum Ausdruck kommende Todesfurcht
-des Sklaven der Sinnenliebe Claudio in Maß für Maß und die zwischen
-Selbstbewußtsein und schüchterner Demut schwankende, zur Selbstanklage
-immer bereite Gemütsverfassung des Sonettendichters deuten auf Züge,
-wie sie der lebendige Shakespeare in jäher Unvermitteltheit neben
-kühnen und strahlenden von früh auf gehabt haben mag.
-
-
-Von alledem, was ich hier und früher über Shakespeares Persönlichkeit
-gesagt habe, habe ich nichts gesucht; ob ich mich sträubte oder willig
-war, ich habe es alles bei der Begegnung zwischen mir, wie ich bin und
-auffasse, und diesen Dichtungen, wie sie unverrückbar sind, gefunden.
-Ich war bereit, den Sonettendichter als Helden dieses Gedichtwerks so
-von William Shakespeare zu trennen, wie Romeo oder Brutus oder Herr
-Angelo von ihm zu trennen ist; aber die Lohe des Persönlichen und
-zutiefst Erlebten schlug immer wieder in das gebändigte Maß der Form
-und die entrückte Gestaltung hinein. Diese Gedichte sind reinste Lyrik,
-in demselben Sinne, in dem wir Deutsche diese Gattung von den Großen
-und Echten unsrer Minnedichter her, von den Dichtern des Volkslieds,
-von Andreas Gryphius und Paul Fleming, von Günther und Goethe, von
-Claudius und Hölderlin her kennen: Leben der eigenen Empfindung in
-Verbindung mit dem eigenen Schicksal, zur Gestalt erhoben und zur Form
-geprägt.
-
-So haben uns die Sonette schon in das Thema hineingeführt, das
-uns jetzt zum allerletzten Schluß obliegt: William Shakespeares
-Persönlichkeit, seine Stellung im Leben. Und ich will von dem letzten
-Teil der Sonettendichtung, der dem Weibe gilt, das in Shakespeares
-Leben eine so verhängnisvolle Rolle gespielt hat, von dem Teil, der
-auch das Endgültige dieses Mannes zur Frage des Lebens, des Leibes,
-der Seele sagt, nur im Zusammenhang mit seiner persönlichen Existenz
-sprechen.
-
-Nie mit der geringsten Hinweisung ist in diesen Sonetten von
-Shakespeares Familie, von seiner Frau, von seinen Kindern die Rede. Sie
-haben nirgends in seiner Dichtung auch nur das kleinste Plätzchen. Sei
-auch von ihnen gesagt, was allenfalls zu sagen ist, wenn wir nun vom
-Schlußteil der Sonette aus den unheimlichen Weg vom Dichter Shakespeare
-zu William Shakespeare dem Menschen weiterzugehen wagen.
-
-
-
-
-Shakespeares Persönlichkeit
-
-(Aufzeichnungen zum Schlußvortrag)
-
-
-Was hier noch gesagt wird, ist ein Nachtrag und eine Zusammenfassung.
-Vom Leben und der Persönlichkeit des Dichters habe ich schon immer und
-immer mehr gesprochen, je näher wir dem Ende kamen.
-
-
-Shakespeares Persönlichkeit: wir wollen also aus seinen Werken uns ein
-Bild seines Wesens machen, im Zusammenhang mit den Umständen seiner
-Zeit und seiner Lebensführung.
-
-
-Vor allem also müssen wir die Identität des Verfassers der Gedichte,
-der Sonette, der Dramen mit William Shakespeare aus Stratford,
-Schauspieler am Globe- oder Blackfriars-Theater in London feststellen.
-
-
-Denn gleich stellt sich uns die Behauptung in den Weg: Shakespeare sei
-nicht Shakespeare; ein anderer hätte die Werke verfaßt.
-
-Über diesen andern sind die Vertreter dieser Theorie nicht mehr einig.
-Außer Lord Bacon werden noch andre genannt.
-
-
-Mit den Beweisen für diese Theorie sieht es nun so aus: sie sind
-jedesmal durchschlagend; aber sie haben kein langes Leben; sie lösen
-einander ab.
-
-Zum Beispiel: Wenn wirklich in der Folio-Ausgabe in Chiffredruck
-mitgeteilt ist, daß Francis Bacon der Verfasser ist, so ist der Beweis
-geliefert.
-
-Aber -- nach einiger Zeit läßt man diese unerhört freche und dumme
-Behauptung fallen und -- behauptet etwas andres.
-
-Oder: wenn wirklich ein Notizenheft in Bacons eigener Handschrift da
-ist, wo er zu einer Zeit, wo die entsprechenden Dramen Shakespeares
-noch nicht verfaßt sein konnten, sich Wendungen, Bilder, Gleichnisse,
-Redensarten notierte, die dann etwa in Romeo und Julia und andern
-Dramen genau so verwandt sind, so ist der Beweis geliefert.
-
-Aber -- die Voraussetzungen treffen alle nicht zu; beim ganz
-Verblüffenden handelt es sich um Fälschungen einer armen Irrsinnigen
--- -- und nach einiger Zeit wird es von diesem Beweisstück wieder ganz
-still.
-
-Und so geht es durchweg: es ist wie bei einem Indizienbeweis gegen
-einen Unschuldigen, wo lauter Einzelheiten, die entweder nichts
-beweisen oder falsch sind, als Gesamtheit eine gewisse Stimmung
-erzeugen.
-
-
-Fragen wir jetzt im ganzen: ist die Theorie nötig? -- ist sie möglich?
-
-
-Nötig ist sie denen, denen Shakespeare der Stratforder zu ungebildet
-ist. Sie meinen, diese Dichtungen müßten einen Aristokraten, einen
-Gelehrten, einen Akademiker zum Verfasser haben. Ein greuliches
-Überschätzen der Bildung schulmäßiger Art tritt zu Tage.
-
-Die meisten aber gehen noch weiter und sagen: gewisse gemeine,
-pöbelhafte, volkstümliche, komische Elemente in den Stücken stammten
-von Shakespeare dem Schauspieler; die edlen Teile hätte der Lord und
-Gelehrte verfaßt.
-
-Damit ist aber dem Dichter Shakespeare Wesentliches genommen,
-nicht bloß seine zeitliche Bedingtheit, seine Konzessionen an den
-Zeitgeschmack, seine Müdigkeit und Lässigkeit, die Derbheit, die ihn
-mit der Zeit verbindet -- worauf ich aber auch keineswegs verzichten
-möchte -- sondern seine Allseitigkeit, sein Aufsteigen, seine
-gegensätzliche Art zu charakterisieren und den innern Sinn der Handlung
-herauszuarbeiten.
-
-Und wo soll man da, wenn man ihm die Clown-, die Wirtshaus-, die
-Bordellszenen nehmen will, anfangen und aufhören?
-
-Und wozu? Das ist eine ganz blaustrumpfmäßige Art, den „Tichtēr“
-aufzufassen.
-
-Jetzt aber das Entscheidende: die Frage nach der Möglichkeit der
-Theorie.
-
-Sie ist nicht möglich. Die Zeugnisse für die Identität des Dichters mit
-dem in London lebenden, aus Stratford stammenden William Shakespeare
-sind zahlreich und unumstößlich.
-
-Der Dichter William Shakespeare hat seine Gedichtbücher Venus und
-Adonis und Der Raub der Lucretia selbst herausgegeben und -- was ohne
-des Grafen Erlaubnis nicht möglich war -- dem Grafen Southampton
-gewidmet. Und grade die sind mit glänzendem Verstalent, mit
-Anschauungen und Wendungen, wie sie in den Dramen wiederkehren, in der
-modischen, gelehrtenhaften, klassisch eingekleideten Art verfaßt.
-
-Nach William Shakespeares Tod in Stratford haben seine
-Schauspielerkollegen Heminge und Condell 1623 die Gesamtausgabe
-besorgt; sein Porträt beigegeben; von seinen Handschriften in der
-Vorrede gesprochen, in denen sich fast keine Korrekturen fänden.
-
-Die und die andern Schauspieler, darunter der große Künstler Richard
-Burbage, haben mit Shakespeare zusammen die Stücke einstudiert, gegeben.
-
-Ben Jonson, eine bedeutende Persönlichkeit, ein Dichter und Gelehrter,
-mit Shakespeare nachweislich und selbstverständlich persönlich bekannt,
-der sich immer wieder an ihm rieb und gerade sein volkstümlich
-Unregelmäßiges tadelte, gab der Gesamtausgabe seine Ode bei, mit der
-Überschrift
-
-„Zur Erinnerung an meinen geliebten William Shakespeare.“
-
- Nicht daß dein Name uns erwecke Neid,
- Mein Shakespeare, preis’ ich deine Herrlichkeit,
- Denn wie man dich auch rühmen mag und preisen,
- Zu hohen Ruhm kann keiner dir erweisen.
-
- * * * * *
-
- Du Seele unsrer Zeit, kamst sie zu schmücken
- Als unsrer Bühne Wunder und Entzücken!
-
- * * * * *
-
- Und wußtest du auch wenig nur Latein,
- Noch weniger Griechisch, war doch Größe dein,
- Davor sich selbst der donnernde Äschylus,
- Euripides, Sophokles beugen muß -- -- --
- Voll Stolz war Rom, voll Übermut Athen,
- Sie haben deinesgleichen nicht gesehn!
-
- * * * * *
-
- Doch darf ich der Natur nicht alles geben,
- Auch deine Kunst, Shakespeare, muß ich erheben;
- Denn ist auch Stoff des Kunstwerks die Natur,
- Wird Stoff zum Kunstwerk durch die Form doch nur.
-
- * * * * *
-
- O säh’n wir dich aufs neue, süßer Schwan
- Vom Avon, ziehn auf deiner stolzen Bahn!
- Säh’n wir, der so Elisabeth erfreute
- Und Jakob, deinen hohen Flug noch heute
- Am Themsestrand! -- -- --
-
-Wie will man denn um dieses Zeugnis eines Zeitgenossen, eines
-vertrauten Bekannten, einer großen Persönlichkeit, die Urteil und
-Schärfe und Bosheit hatte, herumkommen!
-
-Der hat dem Schauspieler Shakespeare, mit dem er Umgang pflog, diese
-Werke zugetraut.
-
-Was für Narren wären wir, wenn wir bloß darum daran zweifelten, weil
-unsre Kenntnis der Person Shakespeares weniger intim ist als seine!
-
-Diese Zeugnisse könnten aber nun gehäuft werden.
-
-Im Anfang von Shakespeares Londoner Laufbahn erscheint eine Schrift aus
-dem Nachlaß des Dramatikers Robert Greene, eines Gelehrten: darin warnt
-er in bittern Worten vor den Schauspielern, die sich jetzt auch als
-Dramatiker auftun; mit einem deutlichen Hinweis auf Shakespeare, der
-„in dem Wahne lebe, der einzige ~Shake-scene~, Bühnenerschütterer
-im Lande zu sein“.
-
-Ein paar Monate darauf erklärt der Herausgeber dieser Schrift, Henry
-Chettle, sein Bedauern über diesen Angriff auf Shakespeare: „ich habe
-mich persönlich davon überzeugt, daß seine höflichen Umgangsformen
-seinen Vorzügen, die ihn in seinem Berufe auszeichnen, in nichts
-nachstehn. Überdies wissen einige angesehene Persönlichkeiten von
-seiner rechtschaffenen Handlungsweise -- als Beweis für seine
-Ehrenhaftigkeit -- und von der glücklichen Anmut seines Stils -- als
-Beweis für seine Kunst -- zu erzählen.“
-
-Genug, zu viel schon davon: ob es uns lieb ist oder leid: der Verfasser
-der gewaltigen Dichtungen ist 1564 in Stratford geboren und 1616 dort
-gestorben und war zwischenhinein Schauspieler in London.
-
-
-Sind wir nun so weit, so möchten wir uns gern ein Bild von seiner
-äußern Gestalt, seiner Leiblichkeit, seinem Gesicht machen; das ist uns
-für die Persönlichkeit sehr wichtig. Aber da hapert es sehr, -- wie
-es mit all diesem Persönlichen, was Überlieferung von Tatsächlichem
-angeht, fast in allen Stücken hapert.
-
-Der elegante Mann mit dem schönen Bart, wie er vor den meisten
-Shakespeare-Ausgaben steht, oder wie man ihn, im Hofgewand und mit
-einer begeistert-anmutigen Gebärde vor der Königin Elisabeth -- man
-tut’s nicht billiger -- auf Ölgemälden und Stahlstichen vorlesen sieht,
--- diese Gestalt mit diesem nichtssagend glatten Gesicht geht auf
-das sogenannte Chandos-Porträt zurück, das in London in der National
-Portrait Gallery hängt und erst lange nach Shakespeares Tod gemacht
-ist. Es spricht gar nichts für diese Ähnlichkeit, -- denn es ist sehr
-unähnlich den beiden Abbildungen, in denen seine Bekannten ihn doch
-wenigstens irgendwie erkannten und die untereinander übereinstimmen.
-
-Das ist einmal die Büste in der Stratforder Kirche, nicht weit vom
-Grab, ein paar Jahre nach dem Tod von der Familie aufgestellt: ein
-elendes Machwerk, fabriziert von dem holländischen ~tomb-maker~
-Jansen, der sein Geschäft in London betrieb. Immerhin wird er
-Shakespeare gekannt haben, vielleicht hat er gar nach einer Totenmaske
-gearbeitet; und die Familie wird ja wohl zufrieden gewesen sein.
-
-Hier sei gleich gesagt, daß der tote Shakespeare in Stratford und von
-seiner Familie nach Verdienst gewürdigt wurde, wenn auch wie alles, was
-von dieser Seite kam, abgeschmackt. Unter der Büste stehen schlechte
-lateinische und wenig bessere englische Verse, die lauten:
-
- „Nestors Einsicht, des Sokrates Geist und die Künste Vergils
- Decket die Erde, betrauert das Volk, hat der Olymp.“
-
-Und englisch:
-
- „Steh, Wandrer, warum willst du so schnell vorbei?
- Lies, wenn du kannst, wen der neidische Tod hier gebettet,
- In diesem Grabmal Shakespeare, mit dem die flinke Natur starb,
- Dessen Name dies Monument mehr schmückt als der Kostenaufwand,
- Denn alles, was er schrieb, läßt die überlebende Kunst zurück
- Wie einen Pagen, sein Genie zu bedienen.“
-
-Das andre Bild steht als Kupfer vor der Folioausgabe, rührt wiederum
-von einem Holländer, Martin Droeshout, her und ist ein kümmerliches
-Machwerk.
-
-Aber eine äußere Ähnlichkeit mit der Stratforder Büste kann
-herausgefunden werden, und überdies hat es Ben Jonson gelobt.
-
-Wir haben nun zwar seit 1892 auch ein Ölgemälde, das in Stratford
-entdeckt wurde, und das die Jahreszahl 1609 trägt: gleichviel, wie
-es entstanden ist, jedenfalls gibt es nur in nicht viel besserer
-Handwerksmanier dasselbe Gesicht wieder, wie der Stich vor der
-Gesamtausgabe.
-
-Man kann aber, wenn man sich in eines dieser Machwerke, die offenbar
-eine gewisse äußere Ähnlichkeit haben, versenkt, sie von innen heraus
-beleben und dann einen Augenblick lang einen Eindruck wie von einem
-großen Lebenden haben.
-
-Dazu helfen kann nun die wunderschöne sogenannte Darmstädter Totenmaske
-oder eine Abbildung von ihr. Die ist in den 40er Jahren in Darmstadt
-aufgetaucht und befindet sich noch da in Privatbesitz. Die Ähnlichkeit
-besonders mit der Stratforder Büste ist groß, außerordentlich: während
-die aber leer und albern dreinblickt, hat die Maske einen wunderbar
-ernsten großen Ausdruck. Ich halte sie für ein Meisterwerk -- wie die
-Tiara des Saitaphernes; womit ich schon sage, daß ich sie für eine
-großartige Fälschung halte (Herman Grimm und andere sind begeistert für
-die Echtheit eingetreten).
-
-Aber so stelle ich mir Shakespeare vor, weil diesen Ausdruck auch die
-authentischen Bilder annehmen, wenn man sie zu beleben versucht.
-
-
-Zu Shakespeares Leben und zur Shakespeare-Biographie: -- das ist nicht
-das nämliche!
-
-Vier Elemente bezeichnen Shakespeares Leben: Leidenschaft oder
-Trieb -- Innigkeit oder Seele -- überlegener Geist oder Verstand --
-Menschenfreundlichkeit (~humane gentleness~).
-
-Vier Elemente ganz andrer Art bezeichnen die Shakespeare-Biographie:
-Dürre oder Leere -- Hypothese -- Komik -- und Langeweile.
-
-Wie viele solcher dickleibigen Werke gibt es, in einem oder zwei
-Bänden, die alle so aussehen:
-
-Eine Schilderung der Zeit -- Beschreibung der Lage Stratfords -- des
-Lebens in solchen Städten -- sehr Ausführliches über die damaligen
-Theaterverhältnisse -- eine Abhandlung über den Modestil des Euphuismus
--- ausführliche Analysen sämtlicher Stücke Shakespeares -- und
-zwischenhinein gestreut die meist gänzlich unwichtigen zufälligen
-Dokumente, die sich auf Shakespeare und seine Familie beziehen, ein
-paar dürre Nachrichten, und Vermutungen über Vermutungen, Behauptungen
-über Behauptungen!
-
-Überall aber geht es so zu, wie es naiv genug einer der Biographen in
-seinem Vorwort bekennt:
-
-„Manche Behauptung stützt sich mehr auf Vermutung und Kombination
-als auf sicheren Beweis. Ich habe solche Angaben mit allem Vorbehalt
-gemacht, aber die Natur des Werkes bringt es mit sich, daß auf diesen
-nicht ganz zuverlässigen Steinen später weitergebaut werden mußte.“
-
-Ein paar Beispiele für dieses Verfahren, aus einem der kürzesten,
-tatsächlichsten dieser Art Bücher, das von Dowden verfaßt ist:
-
-„Shakespeare wurde sicherlich in die Stratforder Lateinfreischule
-geschickt.“ Das heißt: man weiß gar nichts davon. -- Der nächste Satz:
-„Dort lernte er nicht bloß Englisch, sondern auch etwas Latein und
-vielleicht ein klein wenig Griechisch.“ Ein paar Sätze weiter: „Daß er
-seine lateinische Grammatik auswendig konnte, kann fast mit Sicherheit
-angenommen werden.“
-
-So geht es durchweg: Schauspieler waren in Stratford -- der Vater mag
-den kleinen William mitgenommen haben; ein Fest in Kenilworth: „der
-Vater dürfte mit dem vor ihm auf dem Sattel sitzenden Buben hinüber
-geritten sein.“
-
-Aus der Schule, von der wir bloß nicht wissen, ob er je drin war,
-mußte Shakespeare sehr wahrscheinlich wegen des Vermögensverfalls
-herausgenommen werden, der indessen auch nicht feststeht.
-
-Wenn wir schon Tatsachen dichten wollen, was bindet uns denn z. B.
-an die armselige Lateinfreischule? Kann denn nicht ein gelehrter
-Pfarrer oder Gutsherr oder ein Mönch wie Pater Lorenzo, oder mehrere
-der Art hintereinander sich des Wunderkindes, des genialen Jünglings
-angenommen und ihn zu Büchern geleitet haben?
-
-Und so durchweg, das ganze Leben hindurch!
-
-
-Und nun will ich die gesicherten nackten Tatsachen aufstellen, die uns
-etwas angehn; zwischen diesen Grundpfeilern darf und soll die Phantasie
-arbeiten, die vom Dichter, seinen Werken aus fühlen, nicht aber
-Tatsachen erdichten soll.
-
-
-Eine kleine Landstadt -- Fluß, Felder, Wiesen, Wälder. Ländliches,
-zunftmäßiges Handwerk; die Gemeindeverfassung ganz mittelalterlich.
-
-Was der junge William trieb, wissen wir nicht. Gerüchte allerlei Art
-besagen nur, was wir uns sowieso denken müssen: daß eine glühende
-Jugendnatur in der Enge wild und schäumend wurde.
-
-Für das Gerücht von der Wilddieberei und den Konflikten mit dem
-Gutsherrn gibt es tatsächliche Anhaltspunkte: da muß etwas dran sein.
-
-Etwa 18½ Jahre alt heiratet William Shakespeare; eilig, mit nur
-einmaligem Aufgebot und besonderer Erlaubnis des Bischofs. Die erfolgt
-November 1582; Mai 1583 ist das erste Kind da, die Tochter Susanna.
-Shakespeares Frau, Anna Hathaway, ist acht Jahre älter als er: 18:26.
-
-Daß es da stürmisch, unregelmäßig herging, ist sicher.
-
-Zwei Jahre darauf, 1585, gibt es Zwillinge: der Sohn Hamnet, der dann
-als Elfjähriger in Stratford starb, die Tochter Judith.
-
-Von 1592 an ist Shakespeare in London als Schauspieler und
-Theaterdichter bekannt.
-
-Wann er dahin gekommen ist, ob er einfach ausgerissen ist, wann er mit
-Dichten anfing, wo er die Bildung her hatte, die sich von allem Anfang
-an zeigt: nichts von alledem wissen wir; in nichts ist unsre Phantasie
-behindert; keine Tatsächlichkeit stellt uns vor eine Unmöglichkeit oder
-Unwahrscheinlichkeit.
-
-Nicht die geringste Nachricht, daß seine Frau und die Kinder je in
-London gewesen wären.
-
-Dagegen wissen wir, daß Shakespeares Beziehungen zu Stratford nie
-abbrachen, daß er früh begann, dort Grundstücke zu erwerben.
-
-In den Sonetten sehen wir ihn manchmal -- schwermütig die Trennung vom
-Freund beklagend -- über Land reiten.
-
-1592 erscheint Heinrich VI., erster Teil auf der Bühne, 1593, 94
-erscheinen seine beiden Gedichtbände, von ihm selbst herausgegeben, von
-1597 an ununterbrochen hintereinander im Anschluß an Aufführungen die
-Quartbändchen, die seine Dramen drucken.
-
-1598 nennt ihn Meres als großen Dichter und zählt 12 seiner Stücke auf.
-
-1599 erlangt der alte Shakespeare das Recht, ein Wappen zu führen;
-damit gehören er und seine Nachkommen zur ~gentry~, einer Art
-niedern Adels oder erhöhten Bürgertums; in den Dokumenten erscheint
-der Dichter-Schauspieler jetzt als William Shakespeare, „Gentleman aus
-Stratford“.
-
-Er erwirbt ganz ansehnliche Grundstücke in Stratford; auch ein Haus in
-London.
-
-1607 heiratet seine Tochter Susanna, 24 Jahre alt, den Arzt John Hall,
-1608 kommt sein Enkelkind Elisabeth zur Welt († 1670, und damit war
-Shakespeares Nachkommenschaft zu Ende).
-
-Von 1612 an etwa -- der Tradition zufolge -- wird Shakespeare wieder
-seinen Wohnsitz in Stratford gehabt haben.
-
-Januar 1616 erster Entwurf des Testaments, das dann wieder weggelegt
-wird. Februar heiratet, 31 Jahre alt, die Tochter Judith einen
-Stratforder Weinhändler.
-
-Am 25. März: Testament.
-
-Am 23. April -- nach unserm Kalender 3. Mai -- starb er.
-
-Die Grabschrift auf dem Grabstein -- ich habe sie schon erwähnt -- wird
-von der Tradition auf ihn selbst zurückgeführt:
-
- „Um Jesu willen, Freund, laß ab,
- Den Staub zu stören hier im Grab.
- Gesegnet der, so schont die Stein’!
- Verflucht, wer rührt an mein Gebein!“
-
-Der Ton ist der übliche etwas bänkelsängerische Grabsteinton; die
-Stimmung entspricht den Gedanken, die wir aus den Sonetten kennen:
-
- Kümmert euch nicht um den Würmerfraß! laßt mich da drunten in Ruhe!
-
-In der Tat ist das Grab nie geöffnet worden, obwohl die
-Shakespeareforscher und Kuriosen immer wieder Lust dazu verspürten und
-die arme kranke Miß Bacon es jahrelang umkreiste und dort die Lösung
-des Rätsels suchte.
-
-
-Und nun, wo in diesen kahlen Umrissen eines Lebens so unendlich viel
-Platz ist, atmen wir einmal auf, denken wir einen Augenblick an den
-unsäglichen Reichtum von Lebendigkeit aus Zeiten und Schicksalen in den
-Werken dieses Dichters, hören wir eine Stimme aus einer der Tragödien.
-
-Bürger Roms, leidenschaftlich aufgepeitschte wollen wir sein, eben ist
-der große Cäsar ermordet worden, Antonius steht auf dem Forum über dem
-Leichnam und ruft in die Menge:
-
- „Seht hier dies Pergament mit Cäsars Siegel,
- Ich fand’s bei ihm, es ist sein letzter Wille.
- Vernähme nur das Volk dies Testament,
-
- * * * * *
-
- Sie gingen hin und küßten Cäsars Wunden -- --“
-
-Wie hat dieser Shakespeare die Größe, die Gehobenheit, die Erhabenheit
-des gebietenden, des über seinen Tod hinaus wirkenden Mannes immer
-wieder gedichtet, gepriesen!
-
-Wie hat er selbst, in der großen Stimmung, wenn er zu dem Freunde
-sprach, hie und da immer wieder sich der Unsterblichkeit seiner Zeilen
-versichert!
-
-Dürften wir nicht, wenn wir das Testament William Shakespeares
-vernehmen sollen, irgendwie ein Vermächtnis des großen Mannes, wenn
-nicht an die Menschheit, nicht an sein Volk, so doch an gleichstrebende
-Freunde erwarten? Eine Verfügung wenigstens über seine Schriften, seine
-Manuskripte? Oder doch -- wir werden schon ganz bescheiden -- über die
-Bücher seiner Bibliothek?
-
-Aber nichts, nichts von alledem hören wir.
-
-Ich gestehe aufrichtig, es überläuft mich jedesmal kalt, wenn ich an
-Shakespeares Testament denke.
-
-Die Echtheit ist nie bezweifelt worden, ist wohl auch nicht zu
-bezweifeln, obwohl es keine saubere Reinschrift ist, sondern nur eine
-erste Niederschrift mit Ausstreichungen und Einfügungen von seiten des
-Notars (nicht Geistlichen). Von Shakespeare geschrieben ist darin nur
-die sehr zittrige Unterschrift.
-
-(Diese und noch ein paar Unterschriften unter Aktenstücken: das ist
-alles, was wir von seiner Hand haben.)
-
-Sehen wir von dem, was nicht da steht, ab, und ebenso von einer
-kleinen nachträglich eingeschobenen Verfügung, so hat das Testament
-im positiven Inhalt gar nichts Befremdliches: verfügt man über
-wirtschaftliche Güter, so kann es sich nur um wirtschaftliche
-Zweckmäßigkeit handeln. Shakespeares Besitz bestand im wesentlichen aus
-Liegenschaften, und wie ein Bauer oder Edelmann hatte er den Wunsch,
-daß diese Besitzung ungeteilt beisammen blieb. Sohn war keiner mehr
-da; es sollten also die Häuser in Stratford und das in London und die
-Grundstücke in Stratfords Umgebung alle an die älteste Tochter fallen,
-von da nach dem Erstgeburtsrecht an Söhne; und gibt es in dieser
-Linie keine Söhne mehr, an Söhne aus der Linie der zweiten Tochter
-Judith. Die Linien starben aber beide schon in der nächsten Generation
-aus. Judith wird mit 300 Pfund abgefunden, das sind nach heutigem
-Geldwert etwa 48 000 Mark, die allmählich in Raten unter bestimmten
-Bedingungen zu zahlen sind. Das bewegliche Vermögen fällt ebenfalls in
-der Hauptsache der ersten Tochter anheim; dafür wird eben die zweite
-mit Geld abgefunden. Legate werden ausgesetzt: für Shakespeares einzige
-noch lebende Schwester, drei Schwestersöhne; zehn Pfund für die Armen
-Stratfords, etwa 1600 Mark also; etliche Bekannte in Stratford; ferner
-die drei ehemaligen Schauspielerkollegen Richard Burbage -- der die
-größten Gestalten Shakespeares verkörperte --, John Heminge und Henry
-Condell -- die dann die Werke herausgaben: die erhielten je 26 Shilling
-8 Pence, über 200 Mark, für Ringe, die sie zu seinem Gedächtnis tragen
-sollten; diese ~In-memoriam~-Ringe entsprachen einem Brauch der
-Zeit.
-
-In dem Entwurf, der dann Rechtskraft erlangte, ist nun ursprünglich
-Shakespeares Frau, die ihn um 7 Jahre überlebte, mit keiner Silbe
-erwähnt. Wäre sie unerwähnt geblieben, so könnten wir sagen, was die
-ängstlich aufs Normale bedachten Biographen sowieso stark betonen: sie
-war vor Not geschützt, sie hatte, woran kein Testament etwas ändern
-konnte, ihr gesetzliches Witwenausgedinge: ein Drittel aller Einkünfte.
-
-Schön: wer denkt an Not?
-
-Aber die Tochter Susanna und ihr Mann erhalten alle
-Einrichtungsgegenstände und Schmucksachen; deren Tochter Elisabeth
-alles Silbergeschirr; die Tochter Judith eine vergoldete Schale;
-Shakespeares Schwester seine sämtlichen Kleidungsstücke; seine Frau
-zuerst nichts und dann, in einem nachträglich eingeflickten Sätzchen --
-wer es nicht weiß, würde es nie erraten -- das zweitbeste Bett.
-
-Wir wissen nichts; wissen nicht, ob die Ehe ganz zerfallen war; ob die
-Frau krank, ganz siech oder gar schwachsinnig war, wissen auch nicht,
-wie es um Geist und Gemüt William Shakespeares jetzt am Rande des
-Todes, am Schluß eines körperlichen Verfalls, einer Zermürbtheit, die
-er schon lange in sich gespürt hat, bestellt war, -- -- all das, was
-ich hier sage, was ich kaum anzudeuten mich getraue, -- -- all das ist
-möglich; wir wissen nichts. Wir wissen bloß, daß dasteht: für die Frau
-das zweitbeste Bett, -- und daß das der Dichter des Lear, des Hamlet,
-des Macbeth verfügt hat, dieses ganze Testament, und weiter nichts,
-kein Wort. (Die christliche Eingangsphrase und die Versicherung... bei
-guter Gesundheit, ohne Bedeutung.)
-
-
-Ist das ein Rätsel? Halte ich mein Versprechen, daß ich wahrlich dieses
-Rätsel nicht lösen werde, wie dieser glühendste, wildeste und innigste
-aller Menschen -- ich sage nicht zu viel -- alles, worin er wahrhaft
-lebte, abbrach und sich irgendwie ins Bürgerliche verkroch, um da mit
-dem Leibe, am Ende gar noch vorher mit dem Geiste zu sterben?
-
-Wir lösen es nicht, aber wir erblicken das ganze schauerliche Rätsel,
-wenn wir unmittelbar nach diesem bürgerlichen Geschäftstestament das
-geistige, das franziskanische Testament Shakespeares hören:
-
- „Seele, o arme Seele, Kern im Kot,
- Im sündigen, des Aufruhrs frevelmächtig!
- Was quälst du dich im Innern, leidest Not.
- Und kleidest deine Außenwände prächtig?
- Was wendest du bei also kurzer Pacht
- So große Kosten auf dein eitles Haus?
- Daß einst der Wurm, der Erbe solcher Pracht,
- Die Last auffresse? Geht dein Leib so aus?
- Dann wag’s, auf Kosten dieses Knechts zu leben,
- Und laß ihn darben, daß dein Schatz sich mehre;
- Für Himmelsgut sollst Erdentand du geben,
- Sei außen fürder arm, dein Innres nähre!
- Den Menschenfresser Tod, o Mensch, verzehr!
- Ist Tod erst tot, dann gibt’s kein Sterben mehr.“
-
-Dieses 146. Sonett steht, in der letzten Abteilung der Sonette, mitten
-in der Auseinandersetzung des Dichters mit dem Weibe, mit seinem
-Weibe, der Art Weib, die ihm so arg zu schaffen machte.
-
-Von seiner Frau rede ich hier nicht, von der Geliebten in London, die
-die Frau eines andern gewesen war, der noch lebte.
-
-~Fair is foul, and foul is fair~: schön ist wüst, und wüst ist
-schön -- so haben wir es von den Hexen im Macbeth gehört.
-
-Und ganz ähnlich klingt’s in dem ersten dieser Weibsonette: Schwarz
-soll jetzt als Schönheit gelten, soll der Erbe der Schönheit sein, denn
-Schönheit muß sich wie ein Bastard verstecken.
-
-Jetzt, wo jede Hand künstlich die Kräfte der Natur anwendet und das
-Häßliche schön macht -- ~fairing the foul~ -- jetzt lebt Schönheit
-in Schmach und Verbannung.
-
-Drum sind die Augen der Geliebten schwarz: sie tragen Trauer um die,
-die, nicht schön geboren, doch der Schönheit nicht entbehren; doch
-in ihrer Trauer werden sie schön, durch das Seelische, das aus ihnen
-spricht.
-
-Es ist zweifelnde Liebe, unwillige Liebe: der Dichter ist gespalten in
-Trieb und Geist: oben wohnt einer, der sich wehrt; unten treibt etwas,
-und es kann sich nicht frei machen.
-
-Drum analysiert er sie, zerlegt ihre Reize.
-
-Was ist denn an ihr?
-
-Und -- fast gegen seinen Willen, so klingt es, so soll es klingen, denn
-es ist ein Kunstwerk -- entsteht aus der kritischen Prüfung ihrer Reize
-das Lob der Geliebten.
-
-In lauter Skepsis ist es doch ein entzückend kecker Einfall, so zu
-loben:
-
- Ihre roten Lippen -- Korallen sind eigentlich röter; Schnee strahlt
- doch noch heller als ihre Brüste... Ich hör’ sie gern reden, aber
- Musik klingt doch noch schöner; eine Göttin hab’ ich zwar nie
- wandeln sehen, aber den Boden berührt die Geliebte immerhin: --
-
- „Und dennoch ist mein Lieb so wohlgefügt,
- Wie irgendeins, von dem ein Dichter lügt.“
-
-Aber dann kommen die so ganz andern Töne, wo er nicht mehr zweifelnd
-spielt, sondern ingrimmig verzweifelt, wie wenn alles Heil verspielt
-wäre.
-
-Da ist das 129. Sonett, das ich Ihnen, als ich von Cleopatra sprach,
-in Prosa mitteilte, möge es jetzt, wennschon viel verloren geht,
-als Dichtung erklingen. Es wirkt noch stärker und schauriger, wenn
-wir das wissen, daß es unmittelbar solchem Spiel folgt und wieder
-vorhergeht. Solch ein Spiel mit kritischer Liebe, das nicht will,
-aber muß, hat mancher Dichter, etwa Heine, auch getrieben; aber dann
-diese irdisch-höllische Liebe in so wahrhaft biblisch-gewaltigen Tönen
-verfluchen, das finden wir nur bei Shakespeare. Das Spielerische, das
-Innige des Hohen Liedes ist da,
-
- Schwarz bin ich und doch lieblich,
- Ihr Töchter Jerusalems -- --,
-
-aber bei Shakespeare wendet sich die ganze glühende Leidenschaftsgewalt
-im selben Zusammenhang ebenso von der Liebe ab wie vorher und nachher
-der Liebe zu.
-
-Das ist die Notwendigkeit der Natur und des Geistes, wie er sie eben in
-diesem Sonett erklärt:
-
- „Geübte Wollust ist des Geists Verschwendung
- In wüste Schmach; Wollust ist bis zur Tat
- Meineidig, mördrisch, blutig, voll Verblendung,
- Roheit, Ausschweifung, Grausamkeit, Verrat.
- Genossen kaum, verachtet allsogleich,
- Sinnlos erjagt, und wenn ihr Ziel errungen,
- Sinnlos gehaßt, dem gift’gen Köder gleich,
- Gelegt, um toll zu machen, wenn verschlungen.
- Toll im Begehren, toll auch im Genuß;
- Gehabt, erlangt, verlangend -- ohne Zaum;
- Im Kosten Glück, gekostet Überdruß,
- Im Anfang Seligkeit, nachher -- ein Traum.
- Das alles weiß die Welt, doch keiner flieht
- Den Himmel, der uns so zur Hölle zieht.“
-
-Es muß im Ausdruck dieser Frau etwas bezaubernd Seelenvolles gewesen
-sein, was sich dann in ihrem Tun und Lassen nicht bewährte.
-
-Erinnern wir uns an das Bild, das er von Cleopatra, der hysterischen
-und eben darin zauberhaften Frau, entworfen hat; so ähnlichen Eindruck
-bekommen wir auch hier:
-
- „Euch Augen bin ich hold, die voll Bedauern,
- Derweil mich mit Verachtung quält dein Herz,
- In schwarzem Schleier liebend mich betrauern,
- Mit edlem Mitleid schauend meinen Schmerz.“
-
-Und dann kommt die Entwicklung der äußern Handlung auch in diesem Teil:
-bald spielerisch, bald in wild-vezweifelndem Ausbruch hören wir von dem
-Verhältnis der drei Menschen zu einander:
-
- „Kannst du dich nicht mit meiner Qual bescheiden,
- Muß auch mein Freund ein Knecht der Knechtschaft sein?“
-
-Und:
-
- „Er ging von mir; du hast statt Eines Zwei;
- Er zahlt das Spiel, und doch bin ich nicht frei.“
-
-Und wie Antonius im Wutausbruch die zweideutige Geliebte wie eine
-Dirne behandelt, so hören wir auch den Sonnettendichter Shakespeare
-selbst seine Liebste „~the wide world’s commonplace~“, den
-gemeinsam-gemeinen Jedermanns-Ort schelten.
-
-Dann aber wird dieses Zwiefache, in dem jeder der drei Menschen steht,
-wo sie zu dreien einen Reigen, einen Totentanz bilden, in dem jeder
-den andern an der Hand hält, und ihre Plätze immer neu tauschen, wie
-programmatisch auf die Höhe des ewigen Kriegs zwischen Seele und Leib,
-zwischen irdischer und himmlischer Liebe gehoben:
-
- „Zwei Lieben hab’ ich, die mein Trost und Bangen,
- Die wie zwei Geister üben ihre Macht.
- Der gute Geist ein Mann in Schönheitsprangen,
- Ein Weib der böse, dunkel wie die Nacht.
- Das weiblich Böse rüstet mich zur eil’gen
- Verdammnis, drum entführt sie mir den guten,
- Und wandelt’ gern zum Teufel meinen Heil’gen,
- Sein Herz umbuhlend mit verruchten Gluten.
- Ob er verwandelt, ob er rein geblieben,
- Vermuten kann ich’s, kann es nicht bestimmen;
- Doch weil die Zwei mich nicht, nur sich noch lieben,
- Wird einer in des andern Hölle glimmen.
- Allein mein Zweifel wird sich nimmer lösen,
- Bis einst mein Engel flieht, versengt vom Bösen.“
-
-Wahrhaftig, es gehört viel dazu, ein so arges, zweifelndes Trieb-
-und Liebeserlebnis nicht bloß mildernd und stillend zum Spiel
-hinabzustimmen, sondern es so, wie es hier geschieht, zur Höhe des
-Symbols zu erheben.
-
-Was ihm, ihm im wirklichen, persönlichen Leben das Schicksal bereitet
-hat, diese seine Freundschaftsliebe zu dem bestimmten hellen Mann,
-diese seine Brunstliebe zu der dunklen Frau, und daß nun die beiden
-sich zu einander, gegen einander wenden, das erlebt er als Gleichnis,
-mit der Düsterkeit seines Gemüts als Verheißung trostlosen Ausgangs:
-hat der böse Geist den guten ganz an sich gezogen, so ist sein, des
-Dichters Schicksal erfüllt: die böse Macht hat gesiegt.
-
-Hier empfindet er sein Leben und die Gewalten, die von außen in sein
-Leben eingreifen, so, wie er’s im Macbeth dargestellt hat: innen und
-außen -- es ist ein dämonischer Zusammenhang; wie der Träger der
-Wünschelrute ein metallisches Element in sich hat, das die Metalle im
-Erdinnern grüßt und lockt, so besteht eine geheime Kongruenz zwischen
-den Strömen in unserm Gemüt und den Kräften und Wesen draußen, zu denen
-es uns, die es zu einander von uns her hinzieht.
-
-
-Mehr als einmal im Lauf dieser Vorträge habe ich auf einen großen Mann
-des Geistes, einen Zeitgenossen und Landsmann Rembrandts, auf den
-spanisch-holländischen Juden Spinoza hinzuweisen gehabt, der 16 Jahre
-nach Shakespeares Tod geboren wurde.
-
-Was wir bei Shakespeare immer wieder als letzten Sinn der Dramen
-erleben, daß der Triebmensch, auch wenn er ein gebietender Fürst ist,
-ein Knecht, ein Sklave ist, daß der Geist aber frei macht, das haben
-wir jetzt eben wieder in den Sonetten gehört, in der Klage, die sich an
-die Wollust richtet:
-
- „Muß auch mein Freund ein Knecht der Knechtschaft sein?“
- „Und doch bin ich nicht frei.“
-
-Und so hat es Spinoza seiner Ethik zugrunde gelegt:
-
-„Die Ohnmacht des Menschen zur Mäßigung oder Hemmung seiner Affekte
-nenne ich Knechtschaft; denn der von seinen Affekten abhängige Mensch
-ist nicht Herr seiner selbst, sondern dem Schicksal untertan.“
-
-Nicht Herr seiner selbst, sondern dem Schicksal untertan -- das Thema
-der großen Charaktertragödien Shakespeares.
-
-Und dann folgt bei Spinoza eine Analyse der verschiedenen
-Erscheinungsformen der Knechtschaft, in der kühlen Begriffssprache so
-unerbittlich scharf, so vollendet und letztgiltig, wie Shakespeare
-diese Musterkarte in seinen Dramen in lebendiger Anschaulichkeit
-entworfen hat.
-
-Und haben wir nicht eben als höchsten Gipfel von Shakespeares Leben,
-als sein Vermächtnis, zu dem er in glühenden Kämpfen kaum für seine
-Wirklichkeit, nur für seine Sehnsucht, für seinen Glauben gekommen ist,
-die Botschaft von der Überwindung des Todes gehört?
-
-Wende nichts mehr an das Außen, nichts mehr an den Leib und seine
-Triebe, sei außen arm, nähre deine Seele!
-
-Entringe dich, so heißt das, der Knechtschaft der Triebe, du
-vernünftiger, du geistiger Mensch, sei frei!
-
-Genau so hören wir’s von Spinoza, der’s nicht, wie der Phantasie- und
-Leidenschaftsmensch, sich mit dem Leben erarbeiten mußte, bei ihm nicht
-als ersehnten Gipfel glühend eruptiven Lebens, sondern als stille Höhe
-der Weisheit:
-
- „Der freie Mensch denkt an nichts weniger als an den Tod, und seine
- Weisheit besteht im Nachdenken über das Leben und nicht über den
- Tod.“
-
-Das ist das Letzte und Höchste, wozu Shakespeare der Dichter gekommen
-ist. Das ist der Gipfel, die Krone seiner Persönlichkeit, wenn wir mit
-Fug und Recht als die Persönlichkeit eines Dichters, eines Künstlers
-nicht das nur nehmen, was äußerlich in die Welt hinein ragt, sondern
-was innen eine neue Welt, einen neuen Menschen schafft und in den
-Werken der Kunst verkörpert.
-
-
-Wir haben ja doch wahrlich heutigen Tags eine ganz andre biographische
-Neugier als Shakespeares Zeitgenossen, aber nehmen wir doch einmal ein
-Beispiel.
-
-Wie gräßlich unbegreiflich, was für ein widerwärtiges Rätsel wäre uns
-der große Vincent van Gogh in seinem persönlichen Leben, wenn wir für
-dieses Leben angewiesen wären auf die Berichte seiner Verwandten,
-Bekannten und Freunde, und auf die amtlichen Dokumente.
-
-Nur dadurch, daß wir die wundervollen Briefe dieses Mannes haben,
-kennen wir die heilige Glut seines reinen Innern; außen in dieser
-unsrer Welt wurde das Schöne wüst; gehen wir in ihn hinein, so wird das
-Wüste schön, wie in seinen Bildern.
-
-Und dasselbe gilt für Courbet, dasselbe für Verlaine, für Oscar Wilde,
-für so viele andre, für alle, die das Reine, das Hohe, das Göttliche
-nicht in der Ruhe des Denkens, sondern in der Glut der Gesichte, der
-Gestalten, des Lebens suchen mußten, die es sich erarbeiten mußten,
-indem sie sich durch das Leben, durch alle Triebe durcharbeiten mußten.
-
-Nicht wie eine Spinne im Netz konnte Shakespeare in Stille verweilen,
-bis ein Gewalträcher seiner Natur wie Richard III., ein
-adliger Wutmensch wie Othello, ein junger, stechender, unerbittlicher
-Umklammerer wie Jago, ein finsterer, nur auf Eines starrender, von
-Einem gebannter Machtmensch wie Macbeth, eine universell tändelnde,
-amoralische, berückende, geniale Machtnatur wie Antonius, bis all diese
-all-alle Männer- und Frauen-, Greisen- und Mädchengestalten in seinem
-Netz hängen blieben.
-
-Ich glaube nicht, daß er viel nach Modellen arbeiten konnte, die er
-kühl, unbeteiligt beobachtete; denn er entdeckte so bis ins letzte und
-tiefste ihre innerste, verräterische Wurzel, daß wir notwendig annehmen
-müssen: mit den Menschen, die er so kannte, hat er gelebt, mit ihnen
-hat er erlebt: die Phantasie, die ihm half, war glühendes Hineinbohren,
-gleichviel, ob Liebe oder Haß oder gar wohl auch einmal Neid: er hat
-sich so in ihre Seele, in ihre Lage versetzt, daß er lebte, als wenn er
-sie wäre.
-
-Wer das kann, wer das muß, -- nun, wundern wir uns nicht mehr, daß
-William Shakespeare, der Schauspieler, der Dramatiker, der Künstler in
-seinen Sonetten sich der Schmach und Sünde anklagt: wer so inständig
-Glut der Seelen und Flammen der lodernden Leidenschaft miterlebte,
-nacherlebte, vorerlebte, der war mehr als einmal, in Gedanken, in
-Wünschen, im Spiel, in Wirklichkeit, gleichviel, ein Verbrecher. Wilde,
-flammende, zehrende, vernichtende Leidenschaft, gebändigt durch Form,
-die Beschränkung und Verklärung ist, das war sein Wesen, das war sein
-Weg.
-
-Die Sonette sind die Briefe Shakespeares, die uns erhalten geblieben
-sind; Briefe nur an einen oder zwei bestimmte Adressaten, Briefe auch,
-die keine bloß persönlichen Dokumente, die Kunstwerke sind, aber von
-hier aus dringen wir in die Seele des Menschen, hier ist der Punkt, wo
-die Werke, die Dramen sich mit dem Menschen, mit der Persönlichkeit zu
-einem verbinden.
-
-
-Könige aller Sorten; Mörder, Säufer, Beutelschneider, Tunichtgute,
-Bordellwirte, -- sie alle haben uns keine Geständnisse gemacht, wie
-tief sie Shakespeare durchschaut hat.
-
-Wollen wir für dieses sein unbegreifliches, nie so erreichtes Talent,
-sich in Lagen, Tätigkeiten, Berufe bis ins einzelne zu versetzen,
-Zeugnisse haben, so müssen wir uns in ungefährlicheres Fahrwasser
-begeben.
-
-Niemals, in der weiten Welt, im Lauf aller uns bekannten Zeiten
-ist ein Dichter so einhellig von den Fachmännern bewundert worden
-wie Shakespeare: Die Juristen, besonders die Advokaten, die Jäger,
-besonders die von der Falkenbeize, die Ärzte, besonders die Irrenärzte,
-sagen, er müsse irgendwann in seinem Leben einmal einer der ihren
-gewesen sein. Zoologen, besonders Entomologen, Botaniker, Gärtner,
-Navigationskundige, Musiker, Maler, Buchdrucker, Physiologen, alle
-haben sie spezielle Bücher geschrieben, in denen sie aufzeigen, wie
-erstaunlich viel Shakespeare von ihrem Fach verstanden habe, und wie
-weit er darin seiner Zeit voraus gewesen sei.
-
-Er hat geologische Anschauungen geäußert, ehe es eine Wissenschaft der
-Geologie gab; er hat die Lehre von der Blutzirkulation gekannt, die
-Harvey erst bekanntgab, als Shakespeares Blut nicht mehr zirkulierte;
-er, der sich nichts draus machte, in Märchenstücken alle Zeiten und
-Kulturen durcheinanderzubringen und ein Nirgendwo am Meeresstrand
-Böhmen zu nennen, hat Verhältnisse und einzelne Umstände in Oberitalien
-so genau gekannt, daß manche Gelehrte drauf schwören, er müsse dort
-gewesen sein.
-
-Das, diese Kenntnisse, die Shakespeare an den Tag legt, bringt ja die
-Baconianer hauptsächlich dazu, einen Mann der Wissenschaft hinter dem
-Dichter zu suchen.
-
-Wie wenig ahnen sie von der Differenzierung des Geistes!
-
-Dieser Bacon, der noch nicht einmal das kleinste Gedicht
-zurechtstümpern konnte, war ein echter Mann der Forschung, der Kritik,
-der wissenschaftlichen und denkerischen Sprache.
-
-Shakespeares Wissen war völlig andrer Art; war immer mit Anschauung,
-immer mit Intuition, immer mit einer bestimmten Lebenssphäre verbunden,
-die es zu gestalten galt.
-
-Hätte ihm einer die Aufgabe gestellt, eine botanische Abhandlung
-über die Flora von Warwickshire oder eine über das Leben der Bienen
-zu schreiben, er hätte es keineswegs gekonnt oder, wenn’s hätte sein
-müssen, wäre es ganz armselig geworden.
-
-Im Zusammenhang aber von Erlebnissen, in Gemeinschaft mit Gefühlen und
-Leidenschaften strömten ihm als Gleichnisse die Erinnerungen zu, und
-verstand er es überdies, sich all das aus Büchern, aus Gesprächen, aus
-der Umschau, in der freien Natur und im Handwerk zu holen, was er im
-Zusammenhang seines Schaffens, seiner bestimmten Zwecke brauchte. Wenn
-etwas gewiß ist, so gerade das, daß Shakespeare gar nichts Lehrhaftes
-an sich hatte, daß es ihm nie auf die Verbreitung oder auch nur
-Behauptung einer Ansicht ankam; jede Anschauung, die er äußerte, stand
-immer im Zusammenhang mit einer bestimmten Seite des Menschenwesens,
-mit bestimmtem Erleben eines Charakters. Und so bleiben uns diese
-wissenschaftlichen, all diese Erkenntnis- und Beobachtungsäußerungen
-auch nur im Gedächtnis im Zusammenhang mit Gefühlen, Repliken,
-Ausbrüchen; wir empfinden es als völlig unshakespearisch, wenn die
-Gelehrten solche Äußerungen jede für sich aus ihrem Gefüge lösen und
-zusammenstellen.
-
-Auch Homer, den man am ehesten mit Shakespeare in einem Atem nennen
-darf, hat sich auf Wagenbau, auf Tischlerei, auf Waffenhandwerk, aufs
-Schmiedehandwerk, auf Obstbau, auf Schiffahrt, auf Schweinezucht
-trefflich verstanden, -- aber noch niemand ist auf die Idee gekommen,
-der Dichter Homer müsse mit dem Mann der Wissenschaft Pythagoras
-identisch sein.
-
-Bei ihm ist’s auch nicht nötig; er hat das Glück, daß man von seinem
-Leben gar nichts weiß; er lebt nur in seinen Gedichten.
-
-
-William Shakespeare wollte ich im ersten dieser Vorträge weniger in
-seine Zeit hineinstellen, als in seiner fast schreckhaft-starken
-Vereinzelung von seiner Zeit abheben; siebzehnmal habe ich dann in
-seine Werke geführt, und in Liebestragödien, in Liebesspielen, in
-Machthabertragödien haben wir seine Persönlichkeit gefunden, nie
-einseitig in einer Gestalt ausgeprägt, vielmehr immer allseitig,
-immer beidseitig, immer das Tier und die Hoheit, den Trieb und die
-Vernunft, den Mann der Gier und die adlige Frau, und das verderbliche
-Weib und den seelenvollen Mann, alle in ihrem Recht, der Ritterkönig
-und Falstaff, der herrliche Hektor und der gemein zausende, geifernd
-kritische Thersites; nie einer ein Typus bloß, immer ein einmaliger,
-ganz individueller Vertreter dieses Typischen.
-
-Im 19. der Vorträge habe ich Sie dann von den Werken, von der
-Sonettendichtung zur Person Shakespeare, heute aber schnell und fast
-scheu von der Person zurück den Weg zur Persönlichkeit führen wollen,
-wie sie sich in den Dichtungen offenbart.
-
-Ich für meine Person habe es in diesen Vorträgen wohl nicht immer
-vermieden, persönlich zu sein; und der furchtbare und für die
-Menschheit vielleicht entscheidend wichtige Zeitabschnitt, in dem wir
-stehen, hat, ich fühle es selbst, auf meine Art, Shakespeare zu sehen,
-bestimmend eingewirkt. Der Weg vom Trieb zum Geist hinauf, Shakespeares
-schwerer und gefahrvoller Weg ist auch der Weg vom Krieg zum Frieden,
-vom Tod zum Leben, -- ich glaube es, gleichviel, wie lang und gewunden
-dieser Weg noch sein mag.
-
-
-_Ende_
-
-
-
-
-
-End of Project Gutenberg's Shakespeare (Volume 2 of 2), by Gustav Landauer
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SHAKESPEARE (VOLUME 2 OF 2) ***
-
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-LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
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-generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
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-
-
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-
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-501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
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-Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
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-date contact information can be found at the Foundation's web site and
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-
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- The Project Gutenberg eBook of Shakespeare Dargestellt in Vorträgen, Zweiter Band, by Gustav Landauer.
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-<body>
-
-
-<pre>
-
-Project Gutenberg's Shakespeare (Volume 2 of 2), by Gustav Landauer
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-Title: Shakespeare (Volume 2 of 2)
- Dargestellt im Vorträgen
-
-Author: Gustav Landauer
-
-Editor: Martin Buber
-
-Release Date: May 6, 2016 [EBook #52013]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SHAKESPEARE (VOLUME 2 OF 2) ***
-
-
-
-
-Produced by Mark C. Orton, Itay Perl, Reiner Ruf, and the
-Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
-(This book was produced from scanned images of public
-domain material from the Google Books project.)
-
-
-
-
-
-
-</pre>
-
-
-<div class="section">
-
-<div class="transnote mtop3">
-
-<p class="s3 center"><b>Anmerkungen zur Transkription:</b></p>
-
-<p>Der vorliegende Text wurde anhand der 1922 erschienenen Buchausgabe
-so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Zeichensetzung
-und offensichtliche typographische Fehler wurden stillschweigend
-korrigiert bzw. ergänzt. Einige altertümliche Wortformen wurden vom
-Autor offenbar in illustrativer Absicht eingefügt; diese Begriffe
-wurden nicht verändert. Unterschiedliche Schreibweisen wurden nicht
-vereinheitlicht.</p>
-
-<p>Im Originaltext beginnen neue Absätze ohne Kennzeichnung durch
-Einrückungen oder vergrößerte Zeilenabstände. In einzelnen Fällen
-mussten daher vom Bearbeiter willkürliche, aber möglichst sinngemäße,
-Entscheidungen bezüglich des Beginns eines neuen Absatzes getroffen
-werden.</p>
-
-<p>Wie bei den meisten Frakturschriften üblich, kann auch im Original
-zwischen den Großbuchstaben ‚I‘ und ‚J‘ nicht unterschieden werden. Die
-Zuordnung erfolgte in einigen Fällen gezwungenermaßen rein willkürlich;
-obwohl beispielsweise die Schreibweisen ‚Iago‘ und ‚Jago‘, sowie
-‚Iachimo‘ und ‚Jachimo‘ gleichermaßen bekannt sind, wurden in diesem
-Text die Formen ‚Jago‘ bzw. ‚Jachimo‘ verwendet.</p>
-
-<p>Die Originalausgabe enthält am Ende des vorliegenden zweiten Teiles
-ein Inhaltsverzeichnis für beide Bände, welches in der elektronischen
-Fassung der Übersichtlichkeit halber vom Bearbeiter an den Beginn des
-Textes gestellt wurde. Die Links zu den entprechenden Seiten sind nur
-innerhalb des vorliegenden zweiten Bandes aktiv.</p>
-
-<p><span class="nohtml">Gesperrt gedruckte Passagen im Original werden hier
-<em class="gesperrt">in Fettdruck</em> hervorgehoben, </span> Antiquaschrift
-in der Buchausgabe wird <em>kursiv</em> wiedergegeben.</p>
-
-</div>
-
-</div>
-
-<div class="titelei ptop2 break-before">
-
-<p class="s2 center">Gustav Landauer</p>
-
-<h1>Shakespeare<br />
-
-<span class="s7">Dargestellt in Vorträgen</span></h1>
-
-<p class="s4 center ptop5">Zweiter Band</p>
-
-<p class="s4 center ptop5">1922</p>
-
-<hr class="r80" />
-
-<p class="s4 center">Literarische Anstalt Rütten &amp; Loening</p>
-<p class="s4 center">Frankfurt am Main</p>
-
-<p class="s5 center ptop2 break-before">Alle Rechte, besonders die der Übersetzung, vorbehalten</p>
-
-<p class="center"><i>Copyright 1920 Literarische Anstalt</i><br />
-<i>Rütten &amp; Loening, Frankfurt a. M.</i></p>
-
-<p class="center ptop5"><em class="gesperrt">6. bis 10. Tausend</em></p>
-
-<p class="s5 center ptop5">Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig</p>
-
-</div>
-
-<hr class="full" />
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="nobreak" id="Inhaltsverzeichnis">Inhaltsverzeichnis</h2>
-
-</div>
-
-<table class="toc" summary="Inhaltsverzeichnis">
- <tr>
- <td class="tdc s4" colspan="2">
- <em class="gesperrt">Erster Band</em>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="kap">
- &nbsp;
- </td>
- <td class="pag s5">
- Seite
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="kap">
- Vorwort
- </td>
- <td class="pag">
- V
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="kap">
- Romeo und Julia
- </td>
- <td class="pag">
- 1
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="kap">
- Der Kaufmann von Venedig
- </td>
- <td class="pag">
- 42
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="kap">
- König Johann
- </td>
- <td class="pag">
- 91
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="kap">
- Julius Cäsar
- </td>
- <td class="pag">
- 139
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="kap">
- Hamlet
- </td>
- <td class="pag">
- 189
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="kap">
- Troilus und Cressida
- </td>
- <td class="pag">
- 256
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="kap">
- Othello
- </td>
- <td class="pag">
- 303
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="tdc s4 ptop2" colspan="2">
- <em class="gesperrt">Zweiter Band</em>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="kap">
- Maß für Maß
- </td>
- <td class="pag">
- <a href="#Seite_1">1</a>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="kap">
- Macbeth
- </td>
- <td class="pag">
- <a href="#Seite_48">48</a>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="kap">
- König Lear
- </td>
- <td class="pag">
- <a href="#Seite_80">80</a>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="kap">
- Antonius und Cleopatra
- </td>
- <td class="pag">
- <a href="#Seite_130">130</a>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="kap">
- Timon
- </td>
- <td class="pag">
- <a href="#Seite_160">160</a>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="kap">
- Coriolan
- </td>
- <td class="pag">
- <a href="#Seite_189">189</a>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="kap">
- König Zymbelin und Das Wintermärchen
- </td>
- <td class="pag">
- <a href="#Seite_238">238</a>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="kap">
- Der Sturm
- </td>
- <td class="pag">
- <a href="#Seite_269">269</a>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="kap">
- Die Sonette
- </td>
- <td class="pag">
- <a href="#Seite_318">318</a>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="kap">
- Shakespeares Persönlichkeit
- </td>
- <td class="pag">
- <a href="#Seite_371">371</a>
- </td>
- </tr>
-</table>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_1" id="Seite_1">[S. 1]</a></span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Mass_fuer_Mass">Maß für Maß</h2>
-
-</div>
-
-<p class="initial">Von dem Augenblick an, wo ein Registrator sich auf den Himmelsthron
-setzt und mich als gebietender Gott zwingt, Shakespeares Stücke
-ordentlich auf die gehörigen Rubriken zu verteilen, werde ich
-Troilus und Cressida zu den ganz großen Tragödien, Maß für Maß aber
-unbedenklich als größte zu Shakespeares Komödien stellen. Eine Komödie
-größter Art ist dieses Stück gerade darum, weil es seinem Stoff nach
-durchaus tragisch ist; die Komik liegt nicht im entferntesten in den
-Geschehnissen, die zur Höhe der Handlung emporgeführt werden, nicht
-einmal eigentlich in der Art, wie der Dichter die Welt, in der diese
-Dinge geschehen, ansieht: die größte Schärfe des Blicks und Bitterkeit
-der Stimmung ist mit unsäglich liebender Innigkeit und verzeihender
-Milde verbunden, so daß ein Umfang der Empfindung von einer Weite
-und Höhe entsteht, die man Heiterkeit oder Humor nur nennen kann,
-wenn man jeglichen Beigeschmack von Vergnüglichkeit oder idyllisch
-kauziger Beschränktheit aus diesen Begriffen entfernt; die Komik
-liegt vor allem in der gleich von Anfang an vorbereiteten Wendung,
-die die Handlung auf ihrem Höhepunkt nimmt: ein geheimer Lenker,
-ein <em>deus</em> nicht <em>ex machina</em>, sondern <em>ex anima</em> ist da,
-der mit einer liebenswürdigen Grazie ohnegleichen wilde Wallungen
-besänftigt, schroffe Gegensätze ausgleicht und den pochenden Schmerz
-der Leidenschaften in sinnvollen Scherz und ernstes Spiel verwandelt.
-Wie wenn ein ironischer Gott die Menschen erschaffen hätte und nun
-als Zuschauer sie frei gewähren ließe, bis ihre Leidenschaften und
-Widersprüche zu solchen Verwicklungen und Konflikten geführt hätten,
-daß sie ohne sein Eingreifen verderben müßten, und dann käme er und
-lenkte sie mit sanfter Bestimmtheit, wohin er sie haben will, so
-erschafft der Herzog dieser Komödie einen Fürsten an seiner Statt
-mit dem Vorbehalt, ihm eine Weile zuzusehen, zur rechten Zeit aber
-einzuschreiten. Die Ironie weckt die Tragik und gestattet<span class="pagenum"><a name="Seite_2" id="Seite_2">[S. 2]</a></span> ihr ihre
-verzerrte Bahn, bis es der Pein und des Frevels genug und schon fast zu
-viel ist und die Ironie wieder die Herrschaft antritt.</p>
-
-<p>Shakespeares Lustspiele könnte man einteilen in die Spiele, in denen
-alle Erdenschwere in Ironie, Musik, Traum und Geisteszauber aufgelöst
-scheint; dahin gehören der Sommernachtstraum und der Sturm; auch der
-Kaufmann von Venedig, nur daß da das Geisterhafte ganz vom Menschlichen
-und Natürlichen bestritten wird; und in die Stücke, die zwar oft in
-dieses Reich hineinragen, deren Leichtigkeit und Spielerei aber zum
-Teil auch daher kommen, daß der Dichter in ihnen etwas auszuruhen
-scheint, nicht nur die Probleme, sondern auch die Durchführung leichter
-nimmt und sich eine Umbiegung der Charaktere je nach dem Erfordernis
-der Handlung und Bühnenwirkung keineswegs immer verbietet; Was ihr
-wollt, Wie es euch gefällt, Viel Lärm um nichts sind die vollendetsten
-Exemplare dieser Gattung. Aus diesem Bezirk ins Reich der großen,
-bitter ernsten Komödie hebt sich Ende gut, alles gut, ohne die letzte
-Vollendung zu erreichen. Diesem Schauspiel ist Maß für Maß in mehr
-als einem Punkte benachbart; hier aber ist die Vollendung erreicht,
-und die Wendung zum Sinnspiel bringt diese Dichtung wieder in die
-Nähe der Gattung menschlich-natürlicher Märchen, die Der Kaufmann von
-Venedig repräsentiert, nur daß im Kaufmann die Tragödie als alles
-überschattende Episode im Lustspiel steht, während in Maß für Maß die
-gesamte Handlung, in der alle Hauptpersonen stehn, zu tragischer Höhe
-ansteigt, bis vom Scheitelpunkt an die Tragik mählich gemildert und in
-Prüfung verwandelt wird.</p>
-
-<p>Der erste Druck, den wir von dem Stück haben, steht in der Folioausgabe
-von 1623. Nach einem Dokument, dessen Echtheit nicht völlig feststeht,
-wäre das Stück 1604 am Hof aufgeführt worden.</p>
-
-<p>Der Stoff findet sich zuerst in derselben Novellensammlung<span class="pagenum"><a name="Seite_3" id="Seite_3">[S. 3]</a></span>
-Hecatommithi von Giraldi Cinthio, in der sich auch die Novelle vom
-Mohren von Venedig findet; Shakespeare stützte sich aber überdies auf
-zwei Arbeiten von Georg Whetstone, die Komödie Promos und Kassandra
-(1578 gedruckt), und eine kurze Novelle, die er 1582 in der Sammlung
-<em>Heptameron of civil discourses</em> herausgab. Die ursprünglichen
-Namen und Schauplätze Cinthios haben sowohl Whetstone wie dann wieder
-Shakespeare verändert. Shakespeares Herzog Vincentio von Wien ist bei
-Cinthio Kaiser Maximilian in Innsbruck, bei Whetstone König Corvinus
-von Ungarn und Böhmen; der Statthalter heißt erst Juriste und dann
-Promos; unsre Isabella bei Cinthio Epitia, bei Whetstone Kassandra; in
-all diesen Fassungen vor Shakespeare muß dies Mädchen um der Rettung
-ihres Bruders willen sich tatsächlich dem Statthalter hingeben; und aus
-der Umgestaltung dieses Hauptmotivs, die Shakespeare vornahm, ergibt
-sich schon, wie er mit dem äußern Stoff und innern Sinn im Kleinen und
-Großen frei geschaltet hat.</p>
-
-<p>Maß für Maß hat sehr vielen, die über Shakespeare geschrieben haben,
-aus demselben Grund und im nämlichen Grad unangenehme Gefühle und
-Verlegenheit erzeugt, wie Troilus und Cressida. Man hat von berühmten,
-geachteten und anerkannten Männern Urteile gehört, wie: das Stück sei
-auf <em class="gesperrt">unsrer</em> Bühne nicht möglich; für <em class="gesperrt">unsern</em> Geschmack
-dürfe bei einem solchen Motiv von komischer Behandlung und Wirkung
-keine Rede sein; <em class="gesperrt">unser</em> sittliches Gefühl werde in unerträglicher
-Weise verletzt; und die üblichen Epitheta sind: peinlich, abstoßend,
-widerlich. Mit alledem zeigen, die so schreiben, nur, daß sie für
-Shakespeare nicht reif sind; und daß ihresgleichen in Ehren und nicht
-in verlachtem Schimpf stehen, ist kennzeichnend für unsre öffentlichen
-wie geheimen Zustände.</p>
-
-<p>Ich sage von vornherein, daß mir Maß für Maß zu Shakespeares
-vortrefflichst gebauten, schlagkräftigsten, spannendsten,
-bühnenwirksamsten, innigsten, reinsten und reifsten,<span class="pagenum"><a name="Seite_4" id="Seite_4">[S. 4]</a></span> freiesten und
-tiefsten Schöpfungen gehört. Kann es denn für eine Komödie, das heißt
-für eine solche Darstellung von Gegensätzlichkeiten, über die wir
-lachen dürfen, weil wir sie in uns und um uns zugleich kennen und nicht
-kennen, in unsrer erbärmlichen Wirklichkeit kennen, in unserm Glauben,
-Wünschen und Umschaffen nicht kennen, kann es tauglichere Motive geben,
-sowie wir die Komik ernst genug nehmen und mit ihr nicht Vergnügliches
-betrachten, sondern wollend in unsrer eignen Zwiespältigkeit eine
-Entscheidung treffen? Wer, der in Betracht kommen will, ist denn durch
-elende Lustigkeit, bei der die Gemeinheit mit der Gemeinheit lacht,
-oder gar durch Frohsinn, bei dem der Philister mit den Philistern
-vergnügt ist, so verdorben, daß er nicht weiß, daß das echte Lachen
-der Komik ebenso gegen die Niedrigkeit Partei ergreift, wie die
-Ergriffenheit der Tragik für die Hoheit und Innigkeit eintritt? Ich
-habe das Wort Tränen hier vermeiden müssen, weil die Rührung allermeist
-erbärmlich geworden ist und weil bei diesen edeln Tropfen nicht mehr
-die adligen Gefühle der Teilnahme am Großen und Reinen, das beschmutzt
-und zu Fall gebracht wird, von den Regungen der Tröpfe zu unterscheiden
-sind; genau so ins Gemenge und in die Menge gekommen ist das Lachen,
-das eine Steigerung sein sollte und allermeist eine Erniedrigung oder
-Plattheit geworden ist.</p>
-
-<p>Maß für Maß zeigt uns die Macht und den Mißbrauch der Macht; das
-Verhältnis des wahren Menschen zu der Rolle, die er im Amt spielt;
-die hohe richterliche Pose; zeigt uns den Mann, der in einem idealen
-Wortgebäude wohnt, welches einstürzt, sowie der Sturm der Triebe
-kommt; den Anspruch des Staates, regulierend und sittlichend ins
-Geschlechtsleben einzugreifen, wobei sich dann ergibt: was für eine
-Erfindung, vom Staat zu reden, als ob das ein Gebilde übermenschlicher
-Art für sich wäre, und ist doch nur ein Name für Menschen und
-Untermenschen! Einen Fürsten sehen wir, der wie Harun al Raschid im
-Verborgenen, verkleidet, die Vorgänge in seinem Staat beobachtet,
-Zeuge wird, die Fäden<span class="pagenum"><a name="Seite_5" id="Seite_5">[S. 5]</a></span> lenkt, alles zum Guten wendet, der Milde und
-Nachsicht, vor allem aber Wahrheit an die Stelle der Strenge, der
-Übergriffe, der Heuchelei setzt; dazu kommen die Probleme des Rechts,
-vor allem des Strafrechts und geradezu der Strafrechtstheorie; der
-Moral und Moraltheorie, der Gnade, der himmlischen und irdischen Liebe,
-des Lebens und des Todes.</p>
-
-<p>Dazu ist die Sprache dieses Dramas nach Form und Gefühls- wie
-Gedankengehalt rein, reich, voll, kräftig, knapp; sie bringt Bilder
-von wundervoller Ausdrucksgewalt; die Komposition ist glänzend und
-sicher; die Abwechslung zwischen Verssprache und Prosa ist besonders
-weise abgestuft; die Szenen der niederen Komik, diese burlesken
-Scherzo-Variationen sowohl des erotischen wie des Beamtenthemas, die es
-mit den entsprechenden in Viel Lärm um Nichts getrost aufnehmen können,
-sind lustig, reich an Einfällen, famos; und selbst in diesem untern
-Bezirk ist das höchste tragische Motiv mit Fug in eine keineswegs bloß
-das Zwerchfell erschütternde, in eine schlechtweg erschütternde Komik
-gewandt: da haben wir den Mörder und Räuber, der lustig leben und
-sterben will.</p>
-
-<p>Dies Stück, das, wie jedes von Shakespeares bedeutenden, seinen Sinn
-nicht irgendwie sentenziös ausspricht, sondern sich deiktisch verhält,
-ist darum auch nur denen voll zugänglich, die schauend, Gegensätze
-schauend, empfindend, in der Phantasiesphäre zu denken vermögen, die
-überdies das, was ihnen plastisch, als bewegtes, dissonierendes Leben,
-als Gegensätze der Sphären, der Regungen, der Charaktere entgegentritt,
-aufzulösen und zu vereinigen wissen in der Musik, die durch dieses
-Stück so waltet wie in Rembrandts Schöpfungen. Das hat sehr schön Hugo
-von Hofmannsthal gesehen und zum Ausdruck gebracht, und besonders gut
-weist er auch auf diese gegenseitige Ergänzung des oberen und unteren
-Bereichs hin: „Welche Lichter auf dem Finsteren, welches Leben des
-Schattens durch das Licht.“</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_6" id="Seite_6">[S. 6]</a></span></p>
-
-<p>Das Stück setzt, so wie der König Lear, in der Staatsszene, die den
-Eingang bildet, sofort mit einem Sprung in die Haupthandlung hinein:
-der Herzog entfernt sich aus Wien, seiner Hauptstadt, und übergibt aus
-besonderen Gründen dem jungen Angelo mit voller Statthalterhoheit das
-Regiment; einen alten, klugerfahrnen Mann, Escalus, der eigentlich das
-nächste Anrecht auf die Vertretung des Herzogs hätte, gibt er ihm nur
-als Gehilfen bei. Was sind das für Gründe besondrer Art? Was ist Angelo
-für ein Mann? Das merken wir, daß die besondern Gründe in ihm, in
-seiner Natur liegen; ihn selbst aber, wie er ist, zeigt uns der Dichter
-noch lange nicht; und auch, was der Herzog über ihn zu ihm selbst
-äußert, ist zwar von entscheidender Wichtigkeit, aber mit Absicht
-dunkel gehalten; so dunkel, daß die meisten Übersetzer, die ich habe
-prüfen können, &mdash; zumal der neueste und doch wohl allerschlechteste,
-Hans Olden &mdash; den Sinn verfehlt, oft ins Gegenteil verkehrt haben; der
-Herzog sagt:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft13">Angelo,</div>
- <div class="verse">Auf deinem Leben zeigt sich eine Prägung,</div>
- <div class="verse">Die dem, der aufmerkt, deinen Lebenslauf</div>
- <div class="verse">Völlig enthüllt. Du selbst und deine Gaben</div>
- <div class="verse">Sind nicht so ganz dein eigen, daß du dich</div>
- <div class="verse">An deine Tugenden, noch sie an dich</div>
- <div class="verse">Verschwenden darfst. Der Himmel macht’s mit uns,</div>
- <div class="verse">Wie wir’s mit Fackeln tun: um ihretwillen nicht</div>
- <div class="verse">Entzünden wir sie; wenn die Tugenden</div>
- <div class="verse">Aus uns heraus nicht flössen, wär’ es so,</div>
- <div class="verse">Als hätten wir sie nicht...</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Ein paar Szenen weiter, nachdem Angelo dem Rat, dem Gebot prompt
-gefolgt ist und schon begonnen hat, seine Tugenden in die Welt wirken
-zu lassen, hören wir vom Herzog in seinem Gespräch mit dem Bruder
-Thomas schon deutlicher, wie er’s gemeint hat: die scharfen Gesetze,
-über die das Land verfügt, hat dieser Fürst in den vierzehn Jahren
-seiner<span class="pagenum"><a name="Seite_7" id="Seite_7">[S. 7]</a></span> milden Regierung kaum zur Anwendung gebracht; so ist vielerlei
-Zügellosigkeit eingerissen,</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Die Freiheit zupft dem Rechte an der Nase;</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>würde er selbst jetzt mit einem Male auf die Gesetze zurückgreifen, die
-fast vergessen wurden, so wäre das eine Härte, die er geneigt wäre,
-Tyrannei zu nennen. Denn hatte er nicht selbst all die Schlechtigkeiten
-geradezu geboten?</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Denn wir gebieten’s,</div>
- <div class="verse">Wenn wir der Übeltat den Freipaß geben,</div>
- <div class="verse">Anstatt der Strafe.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Darum also soll Angelo,</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">ein Mann</div>
- <div class="verse">Der keuschen Selbstbeherrschung und der Strenge,</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>wie uns jetzt gesagt wird, den Gesetzen wieder Geltung verschaffen.
-Und mit den Worten, die wir vorhin hörten und die keineswegs bloß uns,
-die auch Angelo selbst dunkel bleiben sollen, hat er ihn dazu bringen
-wollen und dazu sofort dazu gebracht, aus sich herauszugehen und seine
-Tugenden &mdash; im Anschluß an die alten Gesetze &mdash; an die Anwendung zu
-lassen. Der Herzog hat aber, er deutet es Bruder Thomas schon an,
-noch einen geheimen Hintergedanken: nicht bloß sollen die Gesetze
-jetzt wieder zu Leben erweckt werden; diesen Statthalter, der nun auf
-öffentlichem Gebiet seine Tugenden ans Werk lassen soll, will er prüfen.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Herr Angelo ist genau</div>
- <div class="verse">Und sieht sich vor. Kaum, daß er zugibt, Blut</div>
- <div class="verse">Fließ’ ihm in Adern oder es gelüste</div>
- <div class="verse">Ihn mehr nach Brot als Stein; die Probe lehrt,</div>
- <div class="verse">Wie sich im Machtbesitz der Schein bewährt.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Nach diesen Worten sehen wir schon viel deutlicher in das Verhältnis
-des Herzogs zu dem jungen, begabten Mann, den er zu seinem Statthalter
-gemacht hat: etwas Strenges, Asketisches, Welt- und Wirkungscheues
-hat Angelo bisher an sich gehabt; drum hat der Herzog ihn ermahnt, er
-solle sein<span class="pagenum"><a name="Seite_8" id="Seite_8">[S. 8]</a></span> Licht der Welt leuchten lassen, solle seine Tugend auf die
-Menschen anwenden; und den weitesten Spielraum hat er ihm gelassen,
-überdies noch zu dem Versuch, in seinem Staat für Zucht und Ordnung zu
-sorgen. Bist du so tugendhaft, hier hast du Arbeit! Verschwende nicht
-deine Tugenden in dir, in sich selbst; gib ihnen entfesselte Freiheit,
-so wie in meinem Lande die bösen Triebe allzu lange diese Freiheit
-genossen haben.</p>
-
-<p>Das soll sich also nun zeigen; die Widersprüche der Menschennatur
-sollen an den Tag kommen; der Gegensatz von Schein und Wesen, vor allem
-von Reden und Handeln soll heraustreten. Ganze Systeme hat sich das
-Reden geschaffen: das System der Tugend oder die Moral; das System der
-Religion; das System des Rechts. Sie alle treten in diesem Stück auf
-und spielen ihre Rolle; und ihnen allen treten die leibhaften Tatsachen
-gegenüber und entlarven sie.</p>
-
-<p>Eine kleine Probe solcher Kritik bekommen wir gleich zu Beginn der
-zweiten Szene in einer kleinen episodischen Einlage. Der Herzog hat
-absichtlich seine Spuren verwischt; am Hof meint man, er sei in den
-Krieg gegen Ungarn gezogen; die Berufsoffiziere kennen aber seine
-milde, vernünftige Natur und fürchten, es könne zu einem Vergleich mit
-dem Feind kommen. Da seufzt einer den frommen Wunsch:</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>Der Himmel schenk’ uns Frieden; nur nicht mit dem
-König von Ungarn!</p></div>
-
-<p>Und ein andrer ruft Amen dazu. Da spottet der Edelmann Lucio mit seinem
-bösen Mundwerk:</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>Du amenst wie der andächtige Seeräuber, der sich mit den zehn
-Geboten einschiffte, aber eins davon von der Tafel auskratzte.</p></div>
-
-<p>Da lachen sie und wissen gleich, welches Gebot der Seeräuber nicht mit
-auf seine Berufsfahrt nahm: Du sollst nicht stehlen.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
-
- <div class="verse">Ja, das schabte er weg.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_9" id="Seite_9">[S. 9]</a></span></p>
-
-<p>Und einer der Offiziere macht sofort die aufrichtige Nutzanwendung:</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>Kein rechter Soldat ist unter uns, der im Tischgebet an der Bitte
-um Frieden Gefallen fände!</p></div>
-
-<p>So geht’s, das sehn wir sofort nach der kurzen feierlichen Einleitung
-der Übergabe des Regiments, in diesem Staat, in dieser Stadt Wien zu:
-es gibt gewisse allgemeine Normen, gewisse Lehren, die ihre Wortmacht
-üben, so daß man sie mit den Lippen bekennt; aber im vertrauten
-Kreis macht man kein Hehl daraus, daß dieses Allgemeine sich auf die
-besondern Stände und Interessen in Wirklichkeit gar nicht anwenden läßt.</p>
-
-<p>Und nun ist ein junger Mann ans Ruder gekommen, nicht durch Ehrgeiz
-oder Usurpation; er hatte sich’s, wir haben es wohl zu beachten, nie
-träumen lassen, so hoch hinauf zu kommen; und er muß ja auch von
-vornherein annehmen, daß es nur für eine Weile ist und daß er für
-alles, was er verfügt, Rechenschaft abzulegen haben wird; wir wissen
-zunächst weiter nichts von diesem Statthalter, als daß er ein strenger
-Idealist oder Ideologe sein soll. Wo wird er zunächst angreifen?
-Welches Gebiet liegt seinem Reform- und Reinigungseifer am nächsten?</p>
-
-<p>Noch ehe wir so weit sind, über Angelos Wesen, seine Sittenstrenge und
-Selbstbeherrschung aus dem Mund des Herzogs etwas zu erfahren, sehen
-wir, daß dies das Gebiet ist, auf dem der Rigorist vor allem eingreift:
-die Gesetze zur Aufrechterhaltung und Hebung der Sittlichkeit sind
-da &mdash; nicht von diesem Herzog, der sie kaum angewandt hat, gegeben,
-sondern von seinem Vorgänger &mdash; nun soll Ernst gemacht werden. Die
-Freudenhäuser in den Vorstädten sollen niedergelegt werden; den
-Kupplern und Kupplerinnen will Herr Angelo das Handwerk legen; ein
-junger Edelmann, Herr Claudio, der einem Mädchen &mdash; das er sogar zu
-heiraten gedenkt, nur aus Gründen der Mitgift ist der Akt verschoben
-worden &mdash; ein Kind gemacht hat, ist verhaftet<span class="pagenum"><a name="Seite_10" id="Seite_10">[S. 10]</a></span> worden; auf diesem
-Verbrechen steht nach dem Gesetz der Tod.</p>
-
-<p>An dem nämlichen Tag, an dem Claudio ins Gefängnis abgeführt wird,
-tritt seine Schwester Isabella ins Kloster ein, um da als Novizin ihre
-Probezeit durchzumachen. Aber sie wird ganz anders, als sie sich’s
-dachte, wird mitten in der Welt geprüft, wird in die Prüfung Herrn
-Angelos verwickelt. An sie wendet sich der Bruder durch Vermittlung
-eines Freundes: sie soll durch Freunde und vor allem persönlich beim
-Statthalter tun, was sie irgend kann, um ihren Bruder zu befreien. So
-widerwärtig dem reinen Mädchen, das in einem Zusammenhang, von dem wir
-nichts Äußeres wissen, im Begriffe steht, der Welt Valet zu sagen,
-ehe es sie aus Erfahrung kennt, diese Männergeschichten sind, so weiß
-sie doch, daß der Fall hier anders liegt, als der Anschein sagt: das
-Mädchen, das Mutter werden soll, ist ihre Freundin, sie hat schon immer
-gewünscht, daß ihr Bruder sich mit ihr vermähle. Und dann: der Tod!
-Tod, weil gegen die Ordnung des Staats, aber nach der Ordnung der Natur
-ein neuer Mensch geboren werden soll! Sie ist bereit, zur Rettung alles
-zu tun, was sie kann.</p>
-
-<p>Wie allmählich, wie zurückhaltend Shakespeare diesmal seine Motive
-bringt! Da haben wir, jetzt ganz im Hintergrund, den Herzog, den die
-Leute seiner Regierung und das Volk im fernen Polen glauben, der sich
-aber in einem Kloster verbirgt, um bald als Mönch zum Volk und zum
-Statthalter zu gehn, und zu sehen, wie die Dinge sich entwickeln. Da
-ist der junge Mann im Gefängnis, vom Tode bedroht, und seine fromme
-Schwester soll helfen. Und da ist der Herr über Leben und Tod, der
-stellvertretende Fürst, Herr Angelo, und noch wissen wir nichts von
-seinem innern Wesen, noch kennen wir ihn nur aus Amtshandlungen und
-Kennzeichnungen aus dem Munde andrer; von seinem privaten Leben sehen
-wir gar nichts. Können wir uns auf das verlassen, was die Leute so
-über ihn sagen, jetzt zum Beispiel Claudios<span class="pagenum"><a name="Seite_11" id="Seite_11">[S. 11]</a></span> mit dem Mundwerk so
-leichtfertiger Freund Lucio, der Herrn Angelo also schildert:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">... ein Mann, des Blut</div>
- <div class="verse">Zerlass’ner Schnee ist; einer, der der Sinne</div>
- <div class="verse">Begier und süßen Stachel niemals fühlt,</div>
- <div class="verse">Nein, stumpft und schwächt den Antrieb der Natur</div>
- <div class="verse">Durch Geistesarbeit, Fasten und Studieren.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Ist er so? Ist damit alles über ihn gesagt? Nicht sehr wahrscheinlich;
-Lucios Psychologie steht auf schwachen Beinen: die Heiligen und
-Anwärter zur Heiligkeit, die durch Fasten und Kasteien ihre Triebe im
-Zaum halten, spüren die Regungen und den Aufruhr der Sinnlichkeit nur
-allzu stark. Sollte das vielleicht der Fall des jungen, strengen Mannes
-sein, den der Herzog jetzt aus seiner Abgeschiedenheit holte und in die
-freie Welt, in die Welt des Befehls und der Verantwortung stellte?</p>
-
-<p>Mit solchen Fragen und auf wahre Innerlichkeit gespannten Erwartungen
-treten wir in den zweiten Akt ein, in dem nun sofort Angelo als
-Hauptperson dasteht.</p>
-
-<p>Bei einem Aufbau, wie ihn Shakespeare hier gewählt hat, daß eine
-Person inmitten des Dramas agiert, deren letztes Wesen und Geheimnis
-noch unbekannt bleibt und erst später enthüllt wird, könnte es eine
-Schwierigkeit für den darstellenden Künstler sein, daß er von allem
-Anfang an einen ganzen Menschen hinstellen muß, während wir nach der
-Absicht des Dichters noch im Unbestimmten bleiben, das Ganze noch gar
-nicht durchschauen sollen. Hier ist das keine ernste Schwierigkeit,
-weil Angelo, das sehen wir jetzt sofort und er sagt es überdies selbst,
-solange er’s irgend vermag, nicht in seiner privaten Menschlichkeit
-unter die Leute geht, sondern in der Rolle seines Amtes. Wie es mit
-ihm bestellt war, als er noch in seinem Wiener Palast sein strenges,
-privates Leben führte, ob auch da die Sittenstrenge ein Gewand war,
-das er aus Pflicht oder sonst einem Grund über seinen Menschen
-streifte und nicht auszog, das wissen wir nicht. Jetzt<span class="pagenum"><a name="Seite_12" id="Seite_12">[S. 12]</a></span> aber ist er
-vom Herzog mit dem Amtscharakter bekleidet worden; den trägt er, den
-hat er darzustellen, das ist seine Aufgabe im Staat, dagegen darf
-nichts aufkommen. Und das eben wird in dem Drama vorgeführt, wie der
-zurückgedrängte Mensch Sieger über die Rolle wird. Selbst wenn das
-nicht ein so wundervolles Motiv wäre, das unser aller Leben, das im
-Haus und das auf dem Markt, aufs nächste angeht, so wäre es immerhin
-erstaunlich, daß das Theater sich diesem Stück trotz manchen Versuchen
-in Wahrheit noch heute verschließt, einem Stück, in dessen Mitte das
-Problem steht, das den Schauspieler in seiner innersten Menschheit
-angeht: der Konflikt zwischen der Rolle, die ein Mensch annimmt,
-und dem von dieser Rolle unterdrückten Triebleben, das, während
-die Amtsperson ihre Rolle agiert, eben in der Betätigung des Amtes
-herausgekitzelt wird.</p>
-
-<p>Escalus, der alte weise Mann, den der Herzog Herrn Angelo als nächsten
-Berater unterstellt hat, bittet für den mit dem Tod bedrohten Claudio.
-Da der Fall ihm arg ans Herz greift &mdash; er hat Claudios und Isabellas
-Vater gekannt und verehrt &mdash;, wird er sehr warm, und es fügt sich
-natürlich, daß er Herrn Angelo sagt: Kein Zweifel gegen Eure strenge
-Tugend; aber bedenkt doch nur, um welches Vergehen es sich handelt,
-besinnt Euch auf Euch selbst; hätte sich die Gelegenheit günstig und
-verführerisch erwiesen, hättet Ihr nicht denselben Fehler begehn
-können? Das ist menschlich gefragt; was Herr Angelo zur Antwort gibt,
-ist in großer Art unmenschlich und heißt nichts anderes als: Richtet
-euch nach meinen Worten und nicht nach meinen Taten, und noch viel
-weniger nach Trieben, Gelüsten und Regungen meiner Natur.</p>
-
-<p>Was Angelo hier, in Vornehmheit und Amtswürde eingehüllt, ohne mit der
-Wimper zu zucken, ohne über seine Natur das geringste zu verraten,
-verkündet, ist weder Tartüfferie noch Heuchelei zu nennen. So viel ist
-jetzt schon sicher, wo wir den Mann immer noch von außen abtasten:
-eine solche vereinfachende Karikatur wie den Tartuffe hat Shakespeare<span class="pagenum"><a name="Seite_13" id="Seite_13">[S. 13]</a></span>
-mit diesem Herrn Angelo nicht dargestellt; eher könnten wir darauf
-gefaßt sein, daß das, was Molières elende Psychologie als Heuchelei
-des isolierten Individuums gegeben hat, von Shakespeare in seinen
-gesellschaftlichen Zusammenhang eingefügt wird. Angelos Erklärung,
-Recht müsse Recht bleiben, auch wenn unter den zwölf Geschworenen,
-die einen Dieb verurteilen, einer oder zwei sitzen, die ärgere Diebe
-seien als der Beschuldigte, seine Erklärung, der Richter habe das
-Gesetz anzuwenden, ohne an seine eigene Natur, an seine eigenen
-verbrecherischen Triebe auch nur zu denken, diese Losung, die wir
-nannten: Richtet euch nach meinen Worten und nicht nach meinen Taten,
-&mdash; das ist in Wirklichkeit die Losung jeglicher Kirche, worunter hier
-jede Organisation zu verstehen ist, in der fehlbare Menschen die
-Hüter und Rächer eines Idealismus sind. Es geht in dieser gewaltigen
-Komödie nicht um so eine vom primitiven, abkürzenden, verleumderischen
-Denken erfundene Figur wie den Tartuffe, mit der man die Lacher aller
-Stände mit Ausnahme des jeweils betroffenen immer auf seiner Seite
-hat, sondern es geht um dieses Grundproblem der Kirche, der Schule,
-des Staats und seiner Rechtsordnung, um ein Problem von unendlicher
-Erhabenheit und unendlicher Komik, um ein Problem, das immer wieder
-neu ersteht, solange der Pfarrer in der Sakristei den Talar über den
-bürgerlichen Anzug streift, unter dem sein nackter Leib sitzt, solange
-der Richter in der Robe sich zur Frühstückspause zurückzieht, solange
-es in unsern Menschengesellschaften Bacons Idole gibt, an welche man
-hier, ohne vor den törichten Schlußfolgerungen der Baconianer Angst zu
-haben, sachlich zu erinnern hat<a name="FNAnker_1_1" id="FNAnker_1_1"></a><a href="#Fussnote_1_1" class="fnanchor">[1]</a>. Ehe wir Herrn Angelo wegen der<span class="pagenum"><a name="Seite_14" id="Seite_14">[S. 14]</a></span>
-These, die er hier verficht, einen Heuchler nennen, wollen wir uns
-besinnen, ob wir nicht wie er in unsrer Maske stehn, wenn wir als Vater
-oder Mutter mit unsern Kindern, als Kaufmann mit unsern Kunden, als
-Offizier mit unsern Soldaten, als Arzt mit unsern Patienten, als Mann
-mit der Frau, als Mensch mit Menschen, ja sogar als einzelner mit uns
-selbst und unsern Bedürfnissen zu tun haben.</p>
-
-<p>Vielleicht verstehen wir jetzt besser, was es mit dem Problem auf
-sich hat, das Shakespeare hier behandelt, und mit der Behauptung
-der Prüderie, dieses Problem könne und dürfe bei uns nicht komisch
-behandelt werden, das Problem nämlich des Zusammenstoßes zwischen
-Geschlechtsleben und Rechtsordnung. Vielleicht verstehen wir jetzt
-besser, warum es grade die Grundnatur des Tiermenschen, das Geschlecht
-ist, mit dessen Regulierung sich hier der Fürst und oberste Richter zu
-beschäftigen hat. Vielleicht verstehen wir jetzt auch schon, warum in
-diesem Stück die niedrige Sphäre der Hurenwirte und Kuppelknechte einen
-so breiten Raum einnimmt, verstehen, warum hier auch der niedrigste
-Standpunkt der Kritik an diesen Regulierungen des Staates zu Wort
-kommt, so, wenn zum Beispiel der Kuppelknecht, der den pompösen Namen
-Pompejus führt, bei den neuen Maßnahmen und Verfolgungen erstaunt fragt:</p>
-
-<p>Soll die ganze Jugend in der Stadt kapaunt und wallacht werden?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_15" id="Seite_15">[S. 15]</a></span></p>
-
-<p>Und wie das verneint wird, begreift er gar nichts mehr; braucht man
-denn nicht Freudenhäuser oder so ähnliche Anstalten, solange es lockere
-Buben und liederliche Dirnen gibt?</p>
-
-<p>In der Tat ist das Geschlechtsleben von allen Grundtrieben des
-Menschen bei weitem der geeignetste, um auf der Bühne mit der Maske
-der Gerechtigkeit und Hoheit konfrontiert zu werden. Ein Zeichner kann
-eine komische Wirkung schon erzielen, wenn er einen Priester den Talar
-hochheben läßt, um, sagen wir, einen Floh zu fangen; oder wenn er einen
-Monarchen in seinem Ankleidezimmer im Hemd zwischen den Uniformen
-seiner verschiedenen Regimenter und Feldherrnstellen im In- und Ausland
-zeichnet; eminent komisch wirkt es, wenn wir etwa in einem Briefe
-Mirabeaus lesen, die Abgeordneten der Nationalversammlung hätten eine
-Sitzung in einem entscheidenden und kritischen Moment unterbrochen,
-weil sie das Bedürfnis verspürten, zu pissen; aber alle solche
-natürlichen Bedürfnisse und Verrichtungen, auch das Essen und Trinken,
-haben nicht annähernd eine so seelische Weite wie das Geschlecht,
-das in seiner Verbindung mit Wildheit, unbezwingbar Leiblichem und
-erschütterter Innigkeit das Tierische in uns mit der Phantasie und dem
-Geiste in nächste Beziehung bringt, das vor allen Dingen durch seine
-Polarität das Element des Dramatischen schon in sich trägt. So daß mich
-dünkt, Shakespeare hätte sich auf das, was aus dramatischen und eminent
-wichtigen ethischen und sozialen Gründen auf unsre Bühne gehört und in
-höchst bedeutendem Sinne komisch zu behandeln ist, besser verstanden
-als seine Kritiker.</p>
-
-<p>Irgend etwas muß in Angelo leben, was ihn zu der unnahbaren Pose des
-Monarchen, der die staatliche, schon fast die göttliche Gerechtigkeit
-zu repräsentieren hat, besonders geeignet macht; und der Herzog muß
-es bemerkt haben. Aber ein andres &mdash; oder ist es das selbe? &mdash; lebt
-noch dazu in ihm, was die Grenze der Strenge bis zur Härte, bis zu
-einer fast wilden Grausamkeit hin überschreitet. Von dem Verhör<span class="pagenum"><a name="Seite_16" id="Seite_16">[S. 16]</a></span> der
-armseligen Kupplergesellschaft wendet er sich schließlich wie ein
-Gelangweilter ab und kann den Wunsch nicht unterdrücken, es möchte
-sich Grund finden, alle miteinander auszupeitschen. Mild und klug, als
-ein Mann, der in seinen hohen Jahren es noch nicht aufgegeben hat, mit
-Warnungen, Verweisen, bedingter Strafandrohung zu arbeiten, zeigt sich
-dagegen Escalus. Aber er, so will es für diese Zwischenzeit der Prüfung
-der Herzog, darf der Gerechtigkeit, sagen wir besser, der Justiz, nur
-dienen; Angelo ist ihr Herr.</p>
-
-<p>Zu diesem Herrn des Rechts, der schon auf den nächsten Tag die
-Hinrichtung Claudios verfügt hat, kommt nun, um den Starren zu beugen,
-die angehende Nonne Isabella, des Verurteilten Schwester. Himmel
-und Welt treffen da auf einander, Welt in den beiderlei Formen von
-Staatsregiment und privatem Libertinismus. Furchtbar ist es diesem
-herben, keuschen Mädchen, daß sie für eine Sünde eintreten muß, die ihr
-vor allen verhaßt ist; so sind in diesem Zwiegespräch, das nun anhebt,
-die Rollen verteilt: Isabellas Natur sträubt sich gegen alles, was mit
-geschlechtlicher Unordentlichkeit im geringsten zu tun hat, sie hat
-aber, aus Liebe zu ihrem Bruder, das Amt übernommen, ihn zu erretten;
-Herr Angelo hat das Amt, ihn zum Gericht und zum Tode zu bringen; wie
-steht es mit seiner Natur? Was sagt die dazu?</p>
-
-<p>Isabella hebt damit an, daß sie bittet, die Schuld und den Schuldigen
-zu trennen; die Schuld soll verdammt werden, nicht ihr Bruder.
-Schwächer könnte sie’s nicht beginnen; aber auch nicht gefährlicher
-für sich selbst; denn was geht es den Hüter des Rechts an, daß der
-Verurteilte eine Schwester hat? Lenkt sie nicht in ihrer Verlegenheit,
-in ihrer Scham sofort den Blick auf sich? Und tut sie übrigens damit
-nicht das, was ihr verzweifelter Bruder und sein leichtfertiger Freund
-Lucio von ihr erwarteten? Wenn Claudio meinte:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Ihre Jugend</div>
- <div class="verse">Spricht sprachlos eine wirkungsvolle Mundart,</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>was kann er andres gewollt haben, als daß sie mit ihrem<span class="pagenum"><a name="Seite_17" id="Seite_17">[S. 17]</a></span> Persönlichen
-durch die starre, stachlige Hecke des Rechts hindurch auf die Person
-Herrn Angelos wirken solle? Wie schön wäre das, wenn die reine
-Menschlichkeit der Jungfrau alle Überzüge, Decken, Masken und Kostüme
-der Wortsysteme entfernte und zur reinen Menschlichkeit des Fürsten
-durchdränge? Aber ist das, in dieser Situation, unter Menschen, wo
-ein Menschliches ganz andrer Art dazwischen steht, zu erwarten? Wird
-es vielmehr nicht dahin kommen, daß Mensch von Mensch, wie sie jetzt
-getrennt sind durch das trotz allem ideale Gestrüpp des Rechts, nach
-dessen Entfernung noch viel tiefer getrennt sind durch das, was sich
-statt dessen zwischen ihnen erhebt und sie zusammenwerfen will? Das ist
-die Frage, vor die wir jetzt gestellt sind; und um dieser Frage willen
-ist das Stück so gebaut, daß wir Herrn Angelo nicht kennen, nichts von
-seinem Wesen, nichts von seinem Leben.</p>
-
-<p>Auf diese Anforderung Isabellas, die Schuld zu verdammen, aber nicht
-den Schuldigen, hat der Mann des Strafrechts leicht antworten. Die
-Schuld zu verdammen, einmal für alle, dazu ist das Gesetz da. Er hat
-gerade das Amt, das Gesetz anzuwenden, ohne Ansehen der Person, auf die
-Personen, die es übertreten. Isabella, der ihre Rolle über die Kraft,
-so ganz gegen die Natur geht, sieht es seufzend ein und will gehen.
-Lucio hält sie zurück, ermahnt sie, flehentlicher zu sprechen; erinnert
-sie, daß es ums Leben geht. Das bringt sie zu größerer Klarheit, was
-hier ihres Amtes ist; sie darf nicht mit dem Wahrer des Rechts rechten,
-sie hat um Gnade zu bitten. Das aber ist ein Punkt, wo irgend etwas in
-ihm ganz besonders empfindlich getroffen sein muß; er scheint sich noch
-fester in den Mantel der Justiz einzuhüllen, ehe er schroff zur Antwort
-gibt:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich will’s nicht tun.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Kaum, daß er als Mann, der sich eifrig, eifersüchtig an die
-Wahrheit hält, anderes sagen kann. Er ist ja nicht bloß der oberste
-Gerichtsherr; ihm ist in vollem Maße, ohne<span class="pagenum"><a name="Seite_18" id="Seite_18">[S. 18]</a></span> Einschränkung, auch die
-Gnade anvertraut worden. Das entnimmt sie, die, wir merken es mehr
-und mehr, eine der Frauen ist, die den Geist haben, der ihrer schönen
-Natur gewachsen ist, seiner kurzen Abweisung sofort; sie wird wärmer,
-weil sie nun am rechten Ort ist, und fragt, stellt fest, er könne also
-Gnade üben, wenn er nur wolle. Das rührt nun wieder an ein ungeheures
-Problem, an kein geringeres als das der Willensfreiheit. Herr Angelo
-hat in seinem Leben offenbar Gründe genug gehabt, sich mit ihm zu
-beschäftigen; und der Rigorist hat es in seiner Art gelöst:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Was ich nicht tun will, seht, das kann ich nicht.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Was hilft da alles Zureden? heißt diese Antwort, aller Versuch, ihn
-umzustimmen? Er kann doch den Willen nicht haben, den Schuldigen zu
-begnadigen. Während wir aber dieser Dialektik zuhören, achten wir noch
-auf etwas andres, kaum Merkliches. Der Mann, der da cäsarisch als Fürst
-steht, ist kurz, schneidend, schroff, sachlich in seinen Antworten bei
-dieser Audienz; er will seine Schuldigkeit tun, die Fürbitte zu hören,
-nichts weiter. Da fällt es auf, wie er allmählich ein ganz klein wenig
-weicher, wie auftauend wird; mal fügt er als Anrede das Wort „Mädchen“
-in eines seiner knappen Sätzchen ein; mal mildert er eine Schroffheit,
-indem er „<em>look</em>“, seht her, dazu sagt. Man könnte wohl einwenden,
-das seien kleine Flickworte des Versdichters; aber da kennte man
-den Shakespeare dieser Stufe schlecht! Bei einer solchen Szene ist
-jedes Wort erwogen und steht kein Wort umsonst; und so sind wir an
-dieser Stelle schon ahnungsvoll gespannt, was sich weiter mit seiner
-Menschlichkeit begeben wird.</p>
-
-<p>Und siehe da! Gleich bei seiner nächsten Replik ergibt sich zur
-Evidenz: der Mann ist verwirrt, er ist nicht mehr ganz verwachsen mit
-seiner Rolle, etwas in ihm fängt an, den Mann von dem Gewandträger
-loszulösen und einen Spalt zu eröffnen. Denn diese Antwort:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Er ist verurteilt; ’s ist zu spät,</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_19" id="Seite_19">[S. 19]</a></span></p>
-
-<p>hätte er in normaler Gemütsverfassung nie geben können; so weit kennen
-wir den gegen sich selbst viel mehr noch als gegen andre harten
-und gewalttätigen Mann nun schon aus Schilderungen und aus seinem
-eignen Auftreten. Von der Gnade ist jetzt die Rede; er kann es nicht
-vergessen haben; und für Gnade ist es niemals zu spät. Isabella merkt
-auch sofort, daß da so etwas wie eine nachgiebige Stelle ist; jetzt
-erst läßt sie ihre schöne Menschlichkeit in ihr bitteres Geschäft,
-sie wird warm, lebhaft beseelt. Sie weiß ja, fühlt ja im Innersten,
-daß die Gnade, die menschliche Nachsicht mit der wahren Menschheit,
-wie sie in ihr selber lebt, mehr zu tun hat als das starre Recht. Sie
-spricht als eine Liebende; Eros redet aus ihr; und sie, die Strenge,
-Züchtige, Herbe, beinahe schon Nonne, ahnt nicht, wie der Eros und das
-Geschlecht bei dem einen aufs feinste, bei dem andern aufs gröbste und
-leidenschaftlichste beieinander wohnen, sie ahnt nicht, was sie in
-dem Manne erweckt, dem sie mit ihren kühnen, beflügelten, erwärmenden
-Worten, mit der ganzen Bewegtheit ihrer Seele, die aus Augen und Mienen
-und Haltung zu ihm hinüberstrahlt, das Amtskleid herunterreißt! Sie
-will die Liebe, die Gnade darunter zeigen, wenn sie sagt:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Seid gewiß,</div>
- <div class="verse">Nicht festliches Gepräng’ und große Herrn,</div>
- <div class="verse">Nicht Königskrone noch Statthalterschwert,</div>
- <div class="verse">Des Marschalls Stab, des Richters Amtsgewand,</div>
- <div class="verse">Nicht geben die nur halb so schönen Schmuck,</div>
- <div class="verse">Wie Gnade gibt.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Irgendwie wird auch in ihr selbst in dem Grade und in der Art, wie
-es der keuschen Seele ziemt, damit, daß sie das so sagt, eine Hülle
-dünner, die das Geschlecht von dem Geiste des Eros in ihr trennt,
-und sofort findet sie die Brücke von ihrem Appell an die Gnade zu
-der Betrachtung: Wie bist du Mann denn eigentlich selbst in deinen
-Regungen?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_20" id="Seite_20">[S. 20]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wär’ er wie Ihr, und wäret Ihr wie er,</div>
- <div class="verse">Ihr wärt wie er gestrauchelt, doch nicht wär’ er</div>
- <div class="verse">Wie Ihr, so finster streng.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Das trifft; diese Betrachtungen liegen dem Mann des Determinismus nahe
-genug; und vielleicht hat er auch sonst in seinem Inwendigen Gründe zu
-solchen Erwägungen, der Heilige? Aber heute hat er ganz Ähnliches schon
-einmal gehört, von Escalus, und da hat er scharf und trefflich erwidern
-können, ganz in der Hoheit des Amtes und der Ideologie:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nicht dürft Ihr sein Vergehn drum schmälern, weil</div>
- <div class="verse">Auch ich ja fehlen könnt’, nein, lieber sagt mir,</div>
- <div class="verse">Wenn ich, der ihn bestraft, mich so vergehe,</div>
- <div class="verse">Mein eigner Spruch sei dann mein Todesurteil.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Was aber weiß er jetzt zu erwidern? Er sagt:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich bitt’ Euch, geht nun,</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>sagt es dumpf, als handle es sich um etwas für ihn Persönliches, was
-er fast nicht mehr aushalten könne. Sie aber wird davon, von diesem
-Hauch des Verstehens, der von ihm zu ihr geht, nur kühner, sie ist
-jetzt mit Feuereifer, mit Hingegebenheit, mit Größe bei ihrer Sache.
-Erst zeigt sie ihm, was sie für ein ganz andrer Richter an seiner Statt
-wäre, wenn er als Isabella vor ihr stände; sie kann nicht ahnen, was
-sie mit dieser Vertauschung in dem wüsten Manne anrichtet, der bei
-dieser Vorstellung fast zurückweicht; Lucio, der mit dem Kerkermeister
-dabei steht, merkt es wohl. Sie aber ist eine so reine himmlische
-Seele und lebt so in den innigsten Vorstellungen ihrer Religion, daß
-sie von diesem Gedanken, sie wäre Richter, sofort wieder zur Gnade
-übergeht, die seinen mechanisch stereotypen Einwand, das Gesetz habe
-gesprochen, fortweist. Und wieder, von noch höher oben, erinnert sie
-ihn: Bist nicht auch du ein Sünder? Ähnlich ihrer Schwester Porzia,
-aber christlicher getönt, wie es der Novizin natürlich ist, ruft sie
-ihm in die Seele hinein:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_21" id="Seite_21">[S. 21]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wie? Was an Seelen war, das war verfallen,</div>
- <div class="verse">Und er, dem Fug und Grund zur Strafe war,</div>
- <div class="verse">Fand noch Vermittlung. Was wohl würd’ aus Euch,</div>
- <div class="verse">Wollt’ er, der Allerhöchste des Gerichts,</div>
- <div class="verse">Euch richten, wie Ihr seid?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Während sie so sprach, dadurch, daß sie so sprach, ist viel, ist
-Großes, ist fast schon Entscheidendes in ihm vorgegangen. Irgend
-einer in ihm hat einer Stelle in ihm eine Erlaubnis gegeben; etwas
-ist losgelassen worden. Er wird aufgeräumt, zutraulich, freundlich,
-und &mdash; oh über uns seltsame Menschenkinder! über das absonderliche
-Verhältnis in uns zwischen Trieb und Geist! &mdash; gerade dadurch, daß er
-da drunten irgendwo den Mann der Erhabenheit, den Mann im Amtskleid
-verrät und dadurch freier wird, ein Erlöster in ganz anderm Sinn, als
-die Christin jetzt eben dies Wort an sein Ohr klingen läßt, grade
-dadurch kann er die Sache seines Amtes jetzt wieder besser, jetzt
-wieder mit trefflichen Gründen verteidigen. Er ist nicht mehr starr und
-zugeknöpft; „schönes Kind“ sagt er zu ihr, und wie sie denn wieder,
-jetzt gar nicht mehr widerstrebend, im Feuereifer ihrer Rolle, der
-sie so sehnsüchtig Erfolg wünscht, von den „Vielen“ spricht, die
-dasselbe getan wie ihr Bruder, da doziert er ihr mit offenbarer Freude,
-wohlgefällig und mit vorzüglicher Beherrschung der Sache seine Theorie
-des Strafrechts:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nicht tot war das Gesetz, wiewohl es schlief.</div>
- <div class="verse">Die ‚Vielen‘ hätten nicht gewagt den Frevel,</div>
- <div class="verse">Wenn gleich der erste, der die Vorschrift brach,</div>
- <div class="verse">Gebüßt hätt’ seine Tat.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und wie sie ihn von dem starren Recht abbringen will und sein Mitleid
-anruft, da fährt er gewandt, elegant, beredt und grausam fort, Mitleid
-erweise er am meisten, wenn er Gerechtigkeit erweise:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Denn Mitleid zeig’ ich dem, den ich nicht kenne,</div>
- <div class="verse">Den die erlaßne Schuld einst schäd’gen würde,</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_22" id="Seite_22">[S. 22]</a></span>
- <div class="verse">Und tu’ dem Recht, der, büßt er ein Vergehn,</div>
- <div class="verse">Ein zweites nicht erlebt...</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Das alles ist für Isabella, an der wir mit immer innigerer Freude
-die schöne, seelen- und geistvolle Natur entdecken, unbegreiflich
-unmenschliche Überhebung und Pose; so ein kleiner Mensch will den
-strafenden Gott spielen, wo Gott selber lieber für unsre Sünden den
-Martertod erlitt, als daß er strafte!</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Oh, es ist herrlich,</div>
- <div class="verse">Zu haben Riesenkraft; doch ist’s tyrannisch,</div>
- <div class="verse">Zu brauchen sie als Riese!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Sie fühlt sich ihm nun, ohne zu ahnen, wieso der Machthaber
-einschrumpfte und der Mensch vor ihr wie in Fesseln kam, überlegen; es
-kommt wie Glück, wie Heiterkeit über sie; und mit der Vorwegnahme des
-Gefühls, sie könne ihren Bruder retten, fällt von ihr das Christelnde
-ab; sie wird weltlich, witzig, heidnische Vorstellungen, in denen sie
-in der gebildeten Sphäre ihres edeln Vaters aufgewachsen ist, werden
-von Angelos Theorie des gestrengen Rechts, nach dem jeder für seine
-Taten büßen muß, damit andre sich von ihnen abschrecken lassen, erweckt:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">Wenn Große donnern könnten,</div>
- <div class="verse">Wie Zeus es selbst kann, Zeus fänd’ nimmer Ruhe,</div>
- <div class="verse">Denn jedes winzige Beamtlein würde</div>
- <div class="verse">Aus seinem Himmel donnern, nichts als donnern!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Sie erkennt, sie durchschaut den Mann, der jetzt selbst wie
-niedergedonnert kläglich vor ihr steht, wäre sie gleich erschrocken,
-wenn ihr einer von einem Wissen in ihr spräche, von dem sie in der
-obern, oberflächlichen Region unsres Geistes nichts weiß. Sie redet von
-dem Hochmut des Menschen; und in dem</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse"><em>man, proud man</em></div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>klingt noch etwas anderes, klingt das spezifisch Männische in dem
-herrschenden Menschen an; von der armseligen autoritären Gewalt redet
-sie, von der gläsernen Gebrechlichkeit<span class="pagenum"><a name="Seite_23" id="Seite_23">[S. 23]</a></span> dieses Herrschaftsmannes, der
-sich wie ein wütiger Affe aufspielt, &mdash; sie weiß und weiß nicht, was
-sie dem Manne da vor ihr, da unter ihr sagt. Er wird ganz verwirrt,
-weiß gar nichts mehr zu sagen, schweigt und stammelt schließlich
-beinahe die Frage, wozu sie ihn mit all den Worten überhäufe; und sie
-nimmt herzhaft ihre ganze Kühnheit zusammen und schneidet mit großem
-Zuruf den Würdenträger vom Menschen ab:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Greift in den Busen,</div>
- <div class="verse">Klopft an und fragt Euer Herz, ob nichts drin wohnt,</div>
- <div class="verse">Gleich meines Bruders Fehl. Wenn’s nur bekennt</div>
- <div class="verse">Natur<em class="gesperrt">trieb</em>, so zu sündigen wie er,</div>
- <div class="verse">So tön’ auf Eurer Zunge auch kein Laut</div>
- <div class="verse">Von meines Bruders Tod.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Nönnlein! Nönnlein! Nur allzu gut ist dir geglückt, was du da
-unternahmst! Isabella hat Herrn Angelo mit diesen Worten, mit all
-ihrem schönheitsvollen, seelenberauschten Wesen das Amtsgewand
-heruntergezogen; aber der Arme, der Gepeinigte, der Peiniger seiner
-selbst! Darunter ist, meint er, nicht die seelenvolle Güte und Gnade,
-sondern der nackte, pochende, fiebrig gierende Leib. Wir aber, die
-wir ihn besser kennen, als er sich selbst, dürfen vorwegnehmend
-sagen: der Mann, der so lange den kalten Juristen sich und der Welt
-vorgespielt hat, der strenge Mann, der sich selbst vergewaltigt, der
-seine Triebe unterdrückt hat, der vielleicht von einer Gewissensschuld
-erdrückt wird, die er weit aus dem Gedächtnis verbannt, der nimmt
-da etwas für Brunst, für wütende, unwiderstehliche Geilheit, was
-seelische Innigkeit, was Mitfreude wäre, wenn er seine gute Natur nicht
-verfälscht und verwandelt hätte. Kaum ist sie weg &mdash; denn sowie er die
-Sinnlichkeit deutlich in sich hochsteigen fühlt, schickt er sie eilends
-fort, morgen soll sie wiederkommen, er flieht vor ihr und vor sich
-selbst, indem er sie für heute entläßt, aber &mdash; wie vielfältig ist der
-Mensch! &mdash; heute sind auch Zeugen bei der Unterredung, morgen werden
-sie wohl allein sein &mdash; da bekennt er sich, da fragt er sich staunend:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_24" id="Seite_24">[S. 24]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Ist es möglich denn,</div>
- <div class="verse">Daß Sittsamkeit mehr unsre Sinne aufrührt</div>
- <div class="verse">Als Weiberlockung?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Es ist nur möglich bei Gewaltsmännern gleich ihm, die so anfällig sind,
-daß sich in ihnen die wunderzarte Erotik, die bei jeder Seelenfreude,
-Seelenbewegtheit auch das Geschlecht leise rege macht, in tobende Sucht
-verwandelt. Er wehrt sich, wehrt sich mit gewaltiger Anstrengung, hält
-sich ihre Reinheit, ihre Tugend, ihre Himmelsart vor, aber gerade
-damit, daß er ihre Seelenschönheit und den Ausdruck, den sie im
-bewegten Leibe findet, vor seine verwahrloste und verderbte Phantasie
-stellt, wird sein schmerzlich-begehrender Überwältigungstrieb zu diesem
-Weibe hin immer ärger.</p>
-
-<p>Dieses Gespräch zwischen Angelo und Isabella ist von dem zweiten,
-das, wir fühlen es voraus, entscheidend sein wird, nur durch eine
-kurze Szene getrennt, die uns in unsrer erwartungsvollen Erregung
-eine Trosteshoffnung bringt: der hinter alledem steht, der diese
-Zwischenzeit der Prüfung gewollt und so ähnliche Ereignisse vielleicht
-gar vorhergesehen hat, der Herzog ist als Mönch in dem Gefängnis
-eingetroffen, in dem der junge Claudio auf seinen Tod wartet, und
-versteht sich gut mit dem braven, menschenfreundlichen Kerkermeister.
-Und dann sind wir wieder bei Herrn Angelo. Er erwartet Isabella; er
-möchte beten, aber Isabellas Gestalt tritt zwischen ihn und Gott;
-er will sich an den Staat, dem sonst all seine Gedanken gelten,
-anklammern, aber mit einem Mal, zum ersten Mal, findet er diese
-Beschäftigung langweilig und abgedroschen. Sonst streckte er sich stolz
-in Amt und Würde hinein und stand aufrecht und &mdash; er bekennt es sich
-&mdash; eitel in dieser Figurine da; jetzt sieht er ein: Rang und Form sind
-äußre Schale und Gewand, doch</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Blut bleibt Blut!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Isabella, die nun bei dem Gepeinigten eintritt und gleich wieder
-als „schönes Mädchen“ begrüßt wird, hat am Tag zuvor alles gesagt,
-was sie irgend weiß; sie ist wieder herb<span class="pagenum"><a name="Seite_25" id="Seite_25">[S. 25]</a></span> und spröde geworden; und
-wie sie aus Angelos ersten, gepreßten Reden entnimmt, es müsse beim
-Todesurteil bleiben, wendet sie sich zum Gehen. Er hält sie aber auf,
-zunächst mit einem furchtbar heftigen Ausbruch, äußerlich gegen das
-Laster, das ihren Bruder zur Verdammung gebracht hat; er braucht aber
-diese leidenschaftlich aufwallende Rede, einmal, um seine eigne Glut
-irgendwie herauszulassen, dann, um mit dem Inhalt dessen, was er sagt,
-eben diese seine Wildheit in gewalttätiger Unterdrückung zu zähmen.
-So schäumt er gegen die unsaubere Lust, die das Standesamtsregister
-des Staates bastardiert, die Akten fälscht, das Leben der Neugebornen
-fälscht und in unheilvolle Bahnen lenkt; solche Zeugung ist nichts
-Bessres als Mord! Für staatsrechtliche und gesellschaftliche Argumente
-der Art, wie sie sein verzweifelter Kampf gegen sich selbst ihm aus
-dem bereiten Vorrat seiner Studien und Gesinnungen jetzt über die
-Lippen bringt, hat sie wenig Sinn; was ihr Bruder getan, ist ihr eine
-schwere Sünde vor Gott und eine Unordentlichkeit, die ihr widerwärtig
-ist; kein Verbrechen, das auf Erden, dem Staat gegenüber, mit dem Tode
-gesühnt werden müßte. Bei diesen ihren Worten jubelt es in ihm; sie
-wird also zu gewinnen sein, sagt er sich; er gibt den Kampf gegen sich
-auf und geht zum Kampf gegen sie, zu seiner Art der Werbung über. Ganz
-erbarmenswürdig, ganz erbärmlich geht er da vor; er denkt nicht daran,
-sein Begehren nach ihr nun vor allen Dingen loszulösen von dem Fall
-ihres Bruders; er denkt nicht daran und versteht es nicht, sich bei
-dieser Frau liebenswert zu machen; seine Gier kann er nicht trennen
-von der Situation, durch die sie ihm, wähnt er, verfallen ist. Haben,
-erobern, besitzen will er sie, da in ihm Gewalt des Triebs hämmert, mit
-Gewalt; die Gewalt des Triebs setzt sich bei diesem Mann, der darin
-geübt ist, den Trieb durch den Geist zu unterdrücken, jetzt, wo er ihn
-loslassen will, zur Vermittlung in Logik um. Das ist sein Instrument;
-raffinierte Manneslogik soll ihm zur Vergewaltigung, zu<span class="pagenum"><a name="Seite_26" id="Seite_26">[S. 26]</a></span> nicht viel
-Besserem als zur Notzucht dienen; in ein Dilemma, in diese gespreizte
-Gabel der Logik will er sie hineintreiben.</p>
-
-<p>So legt er ihr zunächst die Frage vor, was ihr lieber wäre: daß ihr
-Bruder stürbe oder daß sie ihren Leib derselben lustvollen Unsauberkeit
-hingäbe, wie jenes Weib, das ihr Bruder befleckte? Sie ahnt nicht im
-entferntesten, was der Mann, den sie nun als starren Theoretiker schon
-kennen gelernt hat, mit der Abschweifung will, und erwidert zerstreut,
-aus frommer Gewöhnung heraus, den Leib würde sie gewiß eher geben als
-die Seele. Er antwortet ungeduldig; mit greulich dummer Brutalität
-versteht er so, als meine sie, eine beseelte Liebe, die zu solcher
-Sünde führe, wäre ihr ärger als die Preisgabe des Leibes selbst; und zu
-ihrer Beruhigung sagt er, die Seele könne ganz aus dem Spiele bleiben;
-es handle sich um eine pure Zwangslage. Sie versteht nicht, und er will
-jetzt ganz deutlich werden:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Darauf nur gebt Antwort:</div>
- <div class="verse">Ich, jetzt der Mund des gült’gen Rechtes, fälle</div>
- <div class="verse">Ein Urteil über Eures Bruders Leben;</div>
- <div class="verse">Wär’ etwa nicht Barmherzigkeit die Sünde,</div>
- <div class="verse">Die Euren Bruder rettete?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Entzückend, wie sie nicht im entferntesten versteht, was er meint,
-ganz sicher aber ist, recht zu verstehen; ja, er will barmherzig sein!
-Und eifrig, beglückt versichert sie ihm, das wäre keine Sünde, solche
-Gnade sei nur Barmherzigkeit. So geht es nun noch eine Weile mit dem
-Mißverstehen hin und her; der elende Tropf wird ärgerlich und redet
-grob, wie er wohl in schlechter Laune als Untersuchungsrichter mit
-einer unlogischen oder schlauen Angeklagten umgegangen wäre; und so
-legt er ihr denn knappe, ganz klare Fragen vor, um ihr jeden Ausweg
-zu verrammeln. Der Bruder muß sterben; das Gesetz spricht klar dieses
-Urteil. Das muß sie zugeben. Nun aber, wo er ihr bedeuten will, wie
-der Bruder noch zu retten sei, hindert ihn doch die Scham, direkt
-heraus<span class="pagenum"><a name="Seite_27" id="Seite_27">[S. 27]</a></span>zureden; er setzt einen Fall, wie aus der Moralkasuistik.
-Gesetzt den Fall, der Bruder wäre vom Tod nur zu retten durch einen
-Mächtigen oder Einflußreichen; und „dieser Supponierte“ stellte zur
-Bedingung, daß sie, die Schwester, ihm ihren Leib preisgäbe; was würde
-sie tun?</p>
-
-<p>Die Frage ist nun klar; nur daß sie noch immer keine Ahnung hat, warum
-er so fragt. Sie zögert keinen Augenblick mit ihrer entschiedenen
-Antwort. Wo’s um die Tugend geht, die von Seele und Züchtigkeit geboten
-wird, ist sie so fest bis zur Härte, wie er’s bis vor kurzem war, wenn
-sich’s um die Tugend handelte, wie sie Staat und Gesetz vorschreiben.
-Nur daß in der edeln Frau die Tugend keine Idee, sondern zur Natur
-gewordene seelische Notwendigkeit ist, während im Mann &mdash; selbst wenn
-ihm, wie Herrn Angelo, Adel nicht fehlt &mdash; die Staatsidee immer eine
-kahle Sache der Überlegung und des Verstandes bleibt, die sich gegen
-ursprünglichen Naturtrieb niemals behaupten kann. Was sie tun würde?
-Qualvoll sterben würde sie lieber &mdash; für ihren Bruder wie um ihrer
-selbst willen &mdash;, ehe sie den Leib der Schmach gäbe.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Viel besser, daß ein Bruder einmal sterbe,</div>
- <div class="verse">Als daß, ihn frei zu kaufen, eine Schwester</div>
- <div class="verse">Auf ewig stürbe.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Er gibt es noch nicht auf, sie mit Theoretisieren zu fangen. Aber sie
-ist jetzt, in der Wallung des Zorns bei der bloßen Vorstellung solchen
-Schimpfs, wieder glühend geworden und repliziert schlagkräftig. Er
-möchte ihre Härte erweichen und meint grob aufmunternd:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Gebrechlich sind wir alle!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>sagt es aber nicht entschuldigend für Claudio, nicht einmal so recht
-für sich selber, sondern für die Weiber. Da gibt sie, und wundervoll
-wirkt in dieser Situation die unschuldige Lebhaftigkeit ihres Geistes,
-auf dieses sein Wort: Nein, auch die Weiber sind gebrechlich! zur
-Antwort:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_28" id="Seite_28">[S. 28]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, wie der Spiegel, drin sie sich beschaun,</div>
- <div class="verse">Der so leicht bricht, wie er Gestalten formt.</div>
- <div class="verse">Das Weib! &mdash; Weiß Gott, der Mann entwürdigt sich,</div>
- <div class="verse">Nutzt er <em class="gesperrt">den</em> Vorteil! Nennt uns zehnmal schwach,</div>
- <div class="verse">Denn wir sind sanft, so sanft wie unser Bau,</div>
- <div class="verse">Und trauen falscher Prägung.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Jetzt glaubt der Mann, den die Vermengung des Triebs mit entartetem,
-willfährigem Verstand zum bösen, verrannten Narren gemacht hat und den
-dazu noch gerade bei diesem Bilde des schwachen, leicht verführten
-Weibes eine persönliche Erinnerung ermuntern mag, sie zu haben. Sie
-redet der Schwäche der Frauen das Wort; nun &mdash; er faßt sich einen
-gewaltigen Mut &mdash; wir Männer sind auch nicht stärker. Sie soll nur ein
-Weib sein; mehr tut gar nicht not. Und er wird deutlich genug, daß sie
-endlich verstehen muß, was er ihr anträgt. Erst will sie immer noch
-annehmen, er wolle sie prüfen; wie er dann aber „auf Ehre“ erwidert, es
-sei ihm Ernst, muß sie’s glauben. Kaum einen Augenblick verweilt sie,
-deren Sittsamkeit so rein wie ihr Denken schnell ist, bei der Schmach,
-die dieser Antrag ihr antut; ihr liegt bei dem ganzen Gespräch nichts
-im Sinn wie ihr Bruder. Jetzt, glaubt sie, muß er gerettet sein: sie
-scheut die Erpressung gegen den elenden Machthaber nicht:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Gleich stell’ des Bruders Gnadenbrief mir aus,</div>
- <div class="verse">Sonst künd’ ich aller Welt aus lautem Hals,</div>
- <div class="verse">Was für ein Mann du bist.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Ihm aber, der die Schwelle der Schamlosigkeit überschritten hat, ist
-nun keine Wahl mehr geblieben. Er kann nicht, er will nicht zurück;
-seine Gier läßt sich so nicht abweisen. Ihre Drohung schreckt ihn
-nicht; wer wird ihr denn glauben, wenn er’s abschwört? Solche Anklage
-gegen ihn, den Vertreter des Fürsten, dessen Ruf fleckenlos ist, dessen
-strenges Leben die Welt kennt? Einen Tag noch gibt er ihr Frist; bis
-dahin muß sie nachgeben; sonst stirbt ihr Bruder nicht den einfachen
-jetzt mehr, den martervollen, schweren, langsamen Foltertod.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_29" id="Seite_29">[S. 29]</a></span></p>
-
-<p>Damit verläßt er sie. Und sofort sieht sie ein: ihr letzter Versuch
-ist gescheitert; sie kann die Gnade nicht erpressen. Ihr Bruder ist
-zum Tode verurteilt; jetzt auch von ihr; um ihrer Ehre willen muß er
-sterben. Sie geht zu ihm, um ihm das zu sagen: er stirbt nicht mehr
-bloß für sein heißes Blut; er stirbt für die Reinheit seiner Schwester.</p>
-
-<p>Wiewohl sich alles um die Rettung dieses Bruders drehte, galt unser
-Anteil bisher viel mehr Herrn Angelo und Claudios Schwester, die ihn
-nun beide verurteilt haben. Jetzt, wo Angelo für lange zurücktritt,
-lernen wir Claudio kennen; durch den Konflikt zwischen Angelo und
-Isabella, der fürs erste in der Schwebe bleibt, ist, wir sehen es
-voraus, ein Konflikt zwischen den Geschwistern reif geworden. In
-dem Moment, wo der dritte Akt beginnt, stehen wir zwischen der
-physischen Möglichkeit und der psychischen Unmöglichkeit mitten inne:
-Claudio kann durch Isabella gerettet werden; er kann nicht durch sie
-gerettet werden. Der Vorhang geht auf; wir sehen den Herzog-Mönch
-bei dem zum Tod Verurteilten und sagen uns noch stärker als zuvor:
-Der aber, der wahre Fürst, wird ihn retten! Der Mönch bereitet den
-Gefangenen indessen zum Tod vor und spendet ihm die Tröstung keineswegs
-christlicher Verheißung, sondern allerbitterster pessimistischer
-Philosophie. Der Mann, der sich in den Tod finden soll, erfährt von dem
-erfahrenen, leidgeprüften Pilger durch sein Reich, was das Leben ist.
-Claudio, dessen Gemüt rasch bewegt und dem Moment unterworfen ist, ist
-für den Augenblick ruhig:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Auf Leben hoff’ ich, bin gefaßt auf Tod.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Da sagt der Mönch, und diese große Rede, die weniger auf den Tod
-vorbereiten als den Tod im Leben, die Abgeschiedenheit, lehren will,
-wollen wir ausführlich vernehmen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Seid’s unbedingt auf Tod. Tod oder Leben</div>
- <div class="verse">Wird dadurch süßer. <em class="gesperrt">Redet so zum Leben</em>:</div>
- <div class="verse">Wenn ich dich lasse, lasse ich ein Ding,</div>
- <div class="verse">Dran nur ein Tor sich hängt. Ein Hauch bist du,</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_30" id="Seite_30">[S. 30]</a></span>
- <div class="verse">Abhängig jeder Änderung der Luft,</div>
- <div class="verse">Wie sie die Wohnung hier, in der du weilst,</div>
- <div class="verse">Stündlich bedroht. Du bist des Todes Narr;</div>
- <div class="verse">Durch deine Flucht strebst du ihm zu entgehn,</div>
- <div class="verse">Und rennst ihm stets doch zu. Du bist nicht edel;</div>
- <div class="verse">Denn alles Angenehme, was du hegst,</div>
- <div class="verse">Stammt aus Gemeinem. Du bist gar nicht tapfer;</div>
- <div class="verse">Denn dir macht Angst das schmale Züngelchen</div>
- <div class="verse">Des armen Wurms. Dein bestes Ruhn ist Schlaf,</div>
- <div class="verse">Den suchst du täglich, doch dich schreckt dein Tod,</div>
- <div class="verse">Der auch nichts mehr ist. Du bist nicht du selbst,</div>
- <div class="verse">Denn du bestehst durch Tausende von Körnern,</div>
- <div class="verse">Aus Staub entsprossen. Glücklich bist du nicht,</div>
- <div class="verse">Denn was du nicht hast, strebst du stets zu fassen</div>
- <div class="verse">Und gibst auf, was du hast. Du bist nicht stetig,</div>
- <div class="verse">Denn deine Farb’ ist launisch wandelbar,</div>
- <div class="verse">So wie der Mond... Nicht Jugend und nicht Alter</div>
- <div class="verse">Hast du, nur gleichsam den Nachmittagsschlaf,</div>
- <div class="verse">Der beides träumt; all deine selige Jugend</div>
- <div class="verse">Tut wie bejahrt und bettelt lahme Greise</div>
- <div class="verse">Um Gaben an. Und bist du alt und reich,</div>
- <div class="verse">So fehlt dir Glut und Trieb, Gelenk und Schönheit,</div>
- <div class="verse">Des Reichtums froh zu sein. Was ist doch dies?</div>
- <div class="verse">Das Leben heißen darf? Birgt doch dies Leben</div>
- <div class="verse">Viel tausend Tode, &mdash; und wir scheun den Tod,</div>
- <div class="verse">Der alles ausgleicht?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Erst ist Claudio davon wunderbar besänftigt; dann aber, wie zum Mönch
-der skeptischen Resignation mit frommem Friedensgruß die Nonne in
-dieses Gefängnis dazukommt, wie die Lichte aber nicht die Erlösung
-bringt, sondern den Zweifel, da kommt die Todesangst über ihn.</p>
-
-<p>Ihr ist es notwendig, ihm alles zu sagen; keineswegs um ihm die
-Entscheidung zu überlassen; so lieb sie ihn hat, so sehr wir ihr
-glauben, daß sie ihr Leben an seine Rettung setzen würde, in dieser
-Sache gibt es keine Beratung und<span class="pagenum"><a name="Seite_31" id="Seite_31">[S. 31]</a></span> keine Wahl für sie. Sie will aber,
-daß er sie stützt, daß er jeden Gedanken an ihr Opfer verwirft;
-daß sein Tod jetzt einen Sinn bekommt: er soll wissen, daß er für
-seine Schwester stirbt. Mit dieser Absicht ist sie gekommen; jetzt
-aber, wo sie seine weichen Züge sieht, bangt sie im voraus vor dem,
-was nicht ausbleibt. Erst, wie er’s vernimmt, ist er entsetzt, daß
-sein strenger Richter so dastehn soll; dann sieht er ein, daß sie
-sich nicht preisgeben darf, und will sich in den Tod, vor dem jetzt
-keine Rettung mehr ist, finden. Aber es regt sich ein Sinnen in ihm;
-also dieser erhabene weisheitsvolle Mann ist doch auch dem Trieb
-unterworfen! Claudio wagt nicht zu sagen, kaum auszudenken, wie ihm
-von dieser Vorstellung, daß die Lust doch mächtiger sei als alles, die
-Gedanken von Angelo zur Schwester, von der Schwester, die nun über sein
-Schicksal verfügt, zu seiner eigenen Lebenslust irren. O Isabella! Mehr
-vermag er noch nicht als diesen Ausruf; und dann, immer noch wieder
-gebändigt und bedächtig, sinnt er vor sich hin:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sterben ist schrecklich &mdash;</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Wie sie aber, schon in streng vestalischer Abwehrstellung, erwidert:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und schmachvoll Leben greulich,</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>da, wo für ihn auf der einen Seite das Leben, sein Leben, steht,
-auf der andern &mdash; ein Nichts, ein Wort, eine Tugend, von deren
-Notwendigkeit seine eigne Natur kein Wissen und keine Erfahrung
-hat, die ihm ein so kaltes Schema ist wie der Staatsgedanke, dem er
-geopfert werden soll, da wallt die Todesangst zu einem gewaltigen
-Ausbruch heraus. Vergessen auch alles, was der Mönch &mdash; der, ohne daß
-die beiden es wissen, alles mit anhört &mdash; Schlimmes an die Adresse
-des Lebens gesagt hat; nur leben, leben will Claudio, leben um
-jeden Preis! Er sieht das Grauen des Grabes vor sich, er ist in der
-Situation des Prinzen von Homburg, und ich zweifle nicht, daß Kleist,
-dem dieses Stück ja auch sonst so ganz besonders, so unsäglich nah
-gehn mußte, aus dieser<span class="pagenum"><a name="Seite_32" id="Seite_32">[S. 32]</a></span> Szene den Mut zur Fassungslosigkeit seines
-Prinzen geschöpft hat; geht Kleists Szene darin über Shakespeares
-hinaus, daß sein romantischer Prinz sonst von Natur und Gewöhnung in
-der Rolle des Helden steht, so ist wiederum Claudios Ausbruch insofern
-erschütternder, als dieser weiche Genießer nicht bloß die eigne Würde
-wegwirft, sondern die Schwester anbettelt, sie solle um seinetwillen
-sich in Schmach und Ekel stürzen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ja, aber sterben! gehn, wer weiß, wohin,</div>
- <div class="verse">Daliegen kalt und reglos starr und faulen,</div>
- <div class="verse">Aus sinnbegabter, warmer Regsamkeit</div>
- <div class="verse">Verschrumpft zum Kloß; der Geist, noch lebensfroh,</div>
- <div class="verse">Getaucht in Feuerwogen, hingebannt</div>
- <div class="verse">In schaudernde Gefilde ew’gen Eises;</div>
- <div class="verse">Im Kerker unsichtbarer Sturmgewalt</div>
- <div class="verse">Rastlos gejagt rund um die schwebende</div>
- <div class="verse">Weltkugel; ja, noch Schlimmres als das Schlimmste</div>
- <div class="verse">Von dem, was zügellose Phantasie</div>
- <div class="verse">Sich heulend ausmalt &mdash; gräßlich, schauderhaft!</div>
- <div class="verse">Die schwerste Last von Lebensmühsal hier,</div>
- <div class="verse">Was Alter, Armut, Schmerz, Einkerkerung</div>
- <div class="verse">Dem Menschen auferlegt, ist Paradies,</div>
- <div class="verse">Mit dem verglichen, was der Tod uns droht.</div>
- <div class="verse">&mdash; &mdash; &mdash;</div>
- <div class="verse mleft3">O Schwester! laß mich leben!</div>
- <div class="verse">Was für des Bruders Leben du auch tust,</div>
- <div class="verse">Oh, die Natur rechtfertigt es so sehr,</div>
- <div class="verse">Daß es zur Tugend wird.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Erst war die Schwester bei diesen apokalyptischen Bildern von den
-unausdenkbaren Schrecknissen, die der Seele im Tode warten, unnennbar
-erschüttert worden, ins Gewissen hinein; was kann den fühlenden
-Menschen schwerer treffen, als wenn er aktiv hilflos sein muß: wenn
-er physisch erretten könnte, aber angesichts bitterster Not in dem
-moralischen Entschluß steht, stehn muß, nichts zu tun? Wie Claudio
-dann<span class="pagenum"><a name="Seite_33" id="Seite_33">[S. 33]</a></span> aber seinen fassungslosen Jammer in diesen Anruf münden läßt, da
-schlägt all ihre Innigkeit in lodernde Empörung um. Über alle Grenzen
-setzt ihre Verachtung gegen diesen Wicht vor ihr, der um diesen Preis
-sein Leben erhandeln möchte. Sie spricht ihm endgültig das Todesurteil;
-sie kann ihn nicht retten; das wußte sie vorher; er verdient nicht zu
-leben; das empfindet sie jetzt und sagt es ihm.</p>
-
-<p>Da tritt der Herzog dazu. Was hat er gehört! Von all diesen
-Zusammenhängen, von seinem Statthalter Angelo!</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Die Probe lehrt,</div>
- <div class="verse">Wie sich im Machtbesitz der Schein bewährt.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Er hat’s geahnt, als er das sagte; diese drei, Angelo, Claudio und
-Isabella, sind geprüft worden und haben ihr Innerstes, ihr Äußerstes
-gezeigt; über ihre Grenze gegangen sind sie &mdash; alle drei. Nun ist’s
-höchste Zeit, einzugreifen, nach dem Rechten zu sehn und diese
-verirrten Menschenkinder zu ihrem Maß zurückzuführen. Angelo zwar &mdash;
-das muß noch näher untersucht, muß sehr behutsam behandelt werden. Die
-entfernte Möglichkeit, daß er das Mädchen nur prüfen wollte, liegt
-immerhin vor; und sehr wahrscheinlich ist es zum mindesten, daß er sich
-so ausreden würde.</p>
-
-<p>Das Drama ist in den drei Gestalten Angelo, Isabella, Claudio und ihren
-Erlebnissen an einander bis zur Tragik gediehen. Nur das Vorspiel, nur
-die Gewißheit, daß wir in einer Zwischenzeit der Prüfung sind, und die
-Gestalt des Herzogs haben uns immer getröstet. Wie er jetzt mitten
-in den exzentrischen Überschwang der todesbangen Lebenslust und der
-lustverächterischen Tugend dazwischentritt, wie in die zum Höchsten
-gesteigerte Verssprache seine kluge, sichere Prosa hineinredet, da
-werden wir ganz ruhig, da biegt der Konflikt der von der Leidenschaft
-Fortgerissenen in das überlegene Spiel eines Weisen, die Tragik in die
-Komik um.</p>
-
-<p>Wir wissen, der Herzog hat Angelo schon lange beobachtet und hat
-Mißtrauen gegen seine Tugend gehegt; aber wir<span class="pagenum"><a name="Seite_34" id="Seite_34">[S. 34]</a></span> wußten nicht, daß er
-mehr von ihm weiß, als wir bisher erfahren haben. Jetzt, so spät in
-diesem Stück, dessen ganze Technik von allem Anfang an darauf angelegt
-ist, Herrn Angelo sehr allmählich und immer mehr die Hüllen zu nehmen,
-erfahren wir aus dem Gespräch des Herzog-Mönchs mit Isabella, was
-Angelo noch auf dem Gewissen hat. Wir haben gesehen, wie dieser Jurist,
-dieser Staatsheilige es seinem Intellekt erlaubt hat, seit langem die
-Triebe und die Seele zu vergewaltigen; jetzt hören wir das Schlimmste,
-was er sich und vor allem einem andern Menschen angetan hat. Er hat
-eine Braut gehabt; hat es elenden Verstandesgründen erlaubt, die Liebe
-zu diesem Mädchen, die er hegte, in ihm zu ersticken; hat diese Mariana
-um einer verloren gegangenen Mitgift willen sitzen lassen. Jetzt
-vereint der kluge Herzog, der Philisterbedenken nicht kennt, vielmehr
-seiner herrlichen Losung folgt:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Tugend ist kühn und Güte niemals furchtsam,</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>der Mönch flicht Claudios Todesnot, Angelos Brunst, Isabellas tapfere
-Tugend, Marianas Liebessehnsucht in eines: Isabella soll Angelo ein
-kurzes nächtliches Liebesbeisammensein bewilligen; Angelo soll, ohne es
-zu ahnen, statt ihrer Mariana umarmen:</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>Damit ist Euer Bruder gerettet, Eure Ehre unbefleckt, die arme
-Mariana versorgt und der arge Statthalter entlarvt.</p></div>
-
-<p>Wären wir von vornherein in einem lustigen Spiel gewesen, wo dann
-aber von Anfang an Mariana dabei gewesen wäre, so wäre diese Lösung
-nichts weiter als ein höchst übermütiges Motiv. Nun aber, wo wir so
-zu teilnehmender Not hochgeführt worden sind, wo sich uns allmählich
-erst das Rätsel Angelo erschlossen hat, das für uns immer noch nicht
-ganz erklärt ist, von dem wir jetzt eben wieder Neues erfahren haben
-und auf dessen noch tiefere Ergründung wir gefaßt sind, nun ist uns
-diese plötzliche Wendung eine wahrhafte Erlösung. Der Dichter und sein
-fürstlicher Mönch schalten mit uns, als ob<span class="pagenum"><a name="Seite_35" id="Seite_35">[S. 35]</a></span> die strafende Rede, die
-dieser ans arge Leben gehalten hat, Wirkung getan hätte: das Leben
-ist in sich gegangen; seine bebende Not und Gefahr war nur Schein
-und Prüfung; alles, was wir da als Grauen erlebt zu haben glaubten,
-ist, wenn wir näher zusehen, gar keine Wirklichkeit, ist nur Spiel,
-sinnvolles Spiel, in dem sich die Bilder des Wesens tummeln. Und mit
-einem Sinnspruch in dem Bänkelsängerton, den Shakespeare liebt, wenn er
-die Naturgewalt der Tragik in das freie Spiel überleitet, faßt darum
-der Herzog-Mönch die vergangene und künftige Handlung zusammen und
-beschließt damit den dritten Akt.</p>
-
-<p>Und doch wäre es &mdash; mit Goethe zu reden &mdash; ein klattriges Motiv,
-welche Aushilfsrolle diese Mariana spielen soll, wenn der Dichter,
-der so meisterhaft von innen heraus komponiert, Mariana nicht bei
-ihrem ersten, späten Auftreten zu Beginn des vierten Aktes wie
-umlodert zeigte vom Feuermantel der Liebesglut, die, verschmäht, in
-sie zurückgeschlagen ist. Da verliert sich sofort der Eindruck, ein
-Menschenkind solle als Mittel dienen, dazu noch mit seinem Geschlecht;
-wir erleben, wie die Liebesvereinigung dieser Süchtigen eigenes,
-äußerstes Bedürfnis ist.</p>
-
-<p>Sie sitzt da, passiv, lechzend, wartend auf nichts; sie hört
-schmachtend zu, wie ein Knabe ihr ein Lied, ihr Lied, das Lied ihres
-brünstigen Verlangens und ihrer Verlassenheit vorsingt; eines der
-wunderbarsten Liebeslieder, in dem die ganze Wonne des Schmerzes, der
-ganze Schmerz der Brunst liegt; keine Übersetzung kann ihm Genüge tun:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Weg, o weg die Lippen dein,</div>
- <div class="verse">Die so süßen Meineid schworen;</div>
- <div class="verse">Weg dies Auge, Funkelschein,</div>
- <div class="verse">Licht, das mir die Nacht geboren.</div>
- <div class="verse">Nur die Küsse bring zurück, bring zurück,</div>
- <div class="verse">Liebessiegel, falsche Siegel falschem Glück, falschem Glück!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Es geschieht nun alles nach dem Plan des Herzogs. Aber der weise
-Dichter, der die Sensation, das bloße Sinnenbild,<span class="pagenum"><a name="Seite_36" id="Seite_36">[S. 36]</a></span> auch wenn es von
-zentraler Bedeutung ist, gerne im Hintergrund läßt, wenn es die innere
-Entwicklung nicht fördert und bloß die Erfüllung dessen zeigt, was wir
-in der Anlage miterlebt haben; und der die Sensation im gröberen Sinn
-des Wortes gewiß nicht auf die Bühne zieht, läßt nun alles, was wir
-im Entwurf schon kennen, im Hintergrund vor sich gehn: wir sind nicht
-bei Isabellas Gespräch mit Angelo, in dem sie ihm zusagt, sich ihm
-preiszugeben; nicht einmal bei der Einweihung Marianas in den Plan,
-und gewiß nicht bei Mariana-Isabellas nächtlicher Begegnung mit Herrn
-Angelo. Shakespeare mit seinem zarten Takt hat Bühne und Sichtbarkeit
-aufs feinste unterschieden: nichts, was geeignet war, das Menschenwesen
-zu ergründen, hat er, der freie Geist, der er war, von der Bühne
-verbannt; aber er hat auch gewußt, daß keusche Ohren in der Form der
-Sprache, welche durch die Verwandlung des Sinnlichen in Geist alles
-rein zu machen imstande ist, alles hören können, daß aber nicht alles
-in sinnlicher Erscheinung gezeigt werden kann. So ist es unsäglich
-weise, frei und witzig von ihm, daß er auf der Stufe der Handlung, wo
-unzüchtige Seelen, deren es unter seinem Publikum genau so gut gab
-wie unter seinen Kommentatoren späterer Jahrhunderte, Sinnenkitzel
-und angenehmes Ärgernis von den Vorgängen erwarteten, die Bühne statt
-dessen mit Szenen aus der niederen Welt der Kuppler und Verbrecher
-füllte, wo eben die Gemeinheit nicht vor Augen, sondern zu Sprache und
-robustem Spaß gebracht wird.</p>
-
-<p>Die Zusammenhänge von Brunst und Machtgier, wie sie von Shakespeare
-auch in andern Stücken aufgezeigt werden, stehen in der besondern Art
-in der Mitte dieses Dramas, daß der Machthaber ein rigoristischer
-Staatstyrann ist, solange er den Trieb zurückdrängt und ein Diener
-am Wort ist, daß er dann ganz schlecht, in jedem Sinn wortbrüchig,
-verräterisch und nur mehr auf seine Stellung und Sicherheit bedacht
-werden muß, sowie die Lust ihn überwunden hat.<span class="pagenum"><a name="Seite_37" id="Seite_37">[S. 37]</a></span> Wollust wie Tyrannei
-aber hat der Dichter diesmal noch in andre Verbindungen gebracht: wir
-wandern vom Palast des Tyrannen zum Gefängnis, zu den Verbrechern,
-zu den Henkern; von der Sinnengier des Mächtigen zu den Lieferanten
-der Genußbefriedigung und den leichtlebigen Genießern; und durch das
-alles geht noch das Verhältnis des Menschen zu der Instanz hindurch,
-die, sollte man meinen, ihm die Lebenslust am gründlichsten austreiben
-könnte: zum Tod. Wir sehen den prachtvollen Kerl, den Zigeunermörder
-Bernardin, den sein langjähriger Aufenthalt im Gefängnis so wenig wie
-der Gedanke an die seit vielen Jahren immer mal wieder bevorstehende
-Hinrichtung oder ans Jenseits vom lustigen Leben abbringen kann, den
-vollendeten Gegensatz in seiner zynisch robusten Gesundheit zu dem
-weich genießerischen Claudio und seiner Todesangst; und wir gewahren:
-nicht der Staat und nicht einmal der Tod mit ihrer Drohung von außen
-vermögen es, die Triebe im Zaum zu halten und die Menschen entscheidend
-auf neuen Weg zu bringen; nur zwei Menschen in diesem Drama, die vom
-innern Sinn bedeutungsvoll zusammengedrängt werden, haben vermocht, die
-Lust des Lebens, die übergreift und ausbricht, zu beschränken, mit dem
-Tod einzuschränken, den sie in ihr Leben aufgenommen haben, mit der
-Ordnung und Zucht, die nicht von außen auferlegt wird, sondern die das
-Bedürfnis ihrer Seelen ist: Isabella und der Herzog, die Nonne und der
-Mönch.</p>
-
-<p>Das ist die Sphäre dieses Stückes: von der liederlichen Gemeinheit
-und denen, die mit dem Geschlechtstrieb Handel treiben, zu dem
-Männerpaar Claudio und Angelo zunächst; der eine umgeht die Ehe und
-scheut sich nicht vor allerlei dunklem Schmutz für sich, seine Liebste
-und ihr Kind, weil er auf eine Mitgift wartet; der andre bricht
-das Ehegelöbnis, weil die Mitgift verloren ist; sitzt über seinen
-unsittlichen Bruder zu Gericht und schickt ihn in den Tod; drängt den
-Trieb zurück, bis er alle Schranken durchbricht und Geist und<span class="pagenum"><a name="Seite_38" id="Seite_38">[S. 38]</a></span> Macht
-als Werkzeuge der Vergewaltigung benutzt. Und eine Stufe höher Mariana,
-der die Sinnlichkeit des Leibes in die Seeleninnigkeit flammt; deren
-Sehnsucht und Wollust duftet, und tönt und von der sich Angelo, der
-ehrlich seinen Geist nüchtern und frei vom Trieb halten möchte &mdash; es
-wird genügend angedeutet &mdash;, vielleicht doch nicht bloß aus schnöden
-Besitzgründen getrennt hatte. Und hoch hinauf endlich zu den beiden,
-die uns lange vor dem schönen Schlusse, der sie zusammenfügt, als
-Paar zu einander gehören: zu dem Herzog und Isabella. Der Herzog,
-ein gereifter Mann, dem zwar um seiner Milde und der geheimnisvollen
-Geborgenheit willen, die dem ernsten Manne unter Menschen notwendig
-ist, die lästernde Liederlichkeit geheime Sünden nachredet, der aber
-in der Reinheit steht, bis er seine weibliche Ergänzung gefunden hat;
-Isabella, Marianas Gegenbild, die nicht wie der Herzog das Klosterkleid
-zu sinnvoller Vermummung bloß gewählt hatte, die einen Widerwillen
-gegen alle Sinnenlust im Herzen trug und voll verdammender Härte war;
-welche Wirren und Nöte erst, welche Kühnheit und Überschreitung der
-Grenzen mußten kommen, um ihren Geist zur Natur zu bringen, um ihre
-Seele zu vermögen, beruhigt, ohne Aufruhr und einverstanden im Leibe zu
-wohnen.</p>
-
-<p>Von unten nach oben, die Skala der Sinnlichkeit immer wieder berührend
-und kreuzend, geht’s auch im Bezirk der Macht. Ganz draußen bleiben
-die Wiener Lüstlinge, in deren Gesellschaft sich auch Claudio gefällt,
-Genießende, die im Schutz der Macht Bevorzugte sind, bis die Macht
-daran geht, sie als geile Schmarotzer auszurotten; ganz drunten steht
-Bernardin, der brutale Mörder; es folgen die Berufsoffiziere, die
-den Krieg um des Kriegs willen treiben und sich selbst mit Piraten
-vergleichen; der Konstabel Ellbogen, ein Duplikat Holzapfels aus
-Viel Lärm um nichts, eine der aus Dummheit, Brutalität, Gutmütigkeit
-und Aufgeblasenheit zusammengesetzten Volksgestalten, die es den<span class="pagenum"><a name="Seite_39" id="Seite_39">[S. 39]</a></span>
-studierten Beamten gleichtun möchten; der Henker Abhorson oder
-Grauserich, der mit gefühlloser Lust aus dem gesetzlichen Morden nicht
-bloß ein Gewerbe, sondern eine Technik und ein System gemacht hat; der
-Staatsmann und Jurist Angelo, der auf derselben Stufe stünde, wenn
-er nicht die weiten Gesichtspunkte, den Ernst und den Geist und die
-Bildung dazu brächte; und oben in reiner Höhe der gütige Kerkermeister
-und der nach milder Gerechtigkeit trachtende Herzog, der doch hart,
-stetig, ausdauernd, abwartend bis zur Peinigung sein kann, wenn er mit
-Menschen zu tun hat, denen es not tut und die es wert sind, erzogen zu
-werden.</p>
-
-<p>Ein solcher Mensch ist für ihn der junge Herr Angelo; ein solcher
-Mensch auch Isabella. Um sie beide zu ihrer guten, echten Natur zu
-bringen, scheut sich der Herzog nicht, Angelo die Gelegenheit zu
-schaffen, wo das Verkehrte in ihm sein Bösestes tun kann, wie ihn kein
-Mitleid hindert, Isabella, die in furchtbarer Tugendhärte ihrem Bruder
-den Tod gewünscht, seinen Tod als gerecht und verdient bezeichnet hat,
-diesen Tod, diese Hinrichtung des Bruders ganz erleben, den Bruder als
-tot betrauern zu lassen.</p>
-
-<p>Denn es geht nun keineswegs alles nach dem Plane des Herzog-Mönchs.
-Wohl hat Angelo &mdash; wie er meint &mdash; sein Gelüste an Isabella befriedigt,
-rauh, heimlich, nachts, seelenlos, brutal; wie er dann aber die Brunst
-gelöscht hat und von der ganzen Glut nichts mehr da ist als brennende,
-unauslöschliche Scham, erwägt er, daß gefährlicher als die Anzeige des
-geschändeten Mädchens Isabella, von der überdies kaum zu erwarten ist,
-daß sie ihre Entehrung kundgeben wird, die Rache des gepeinigten und
-um solchen Preis freigegebenen Bruders wäre; er muß den Weg der bösen
-Tat bis zu Ende gehen und verfügt die schleunige Hinrichtung Claudios.
-Die geschieht, für Angelo und alle Welt; auch Isabella wird nicht in
-das Geheimnis eingeweiht; Claudio wird in verborgener Haft gehalten;
-ohne sich ganz zu offenbaren, bringt der Mönch den guten Kerkermeister
-dazu,<span class="pagenum"><a name="Seite_40" id="Seite_40">[S. 40]</a></span> Angelo anzuführen und seinen Befehl zu mißachten: der Wackere
-weiß, der wahre Fürst wird nun zurückkommen. Wie die Verwirrung am
-größten ist, sagt der Herzog zu diesem Wächter der Gefangenen ein
-Wort, das in all seiner Leichtigkeit, mit der es uns nahe an traumhaft
-spielerische Märchenstimmung trägt, tief erhellend für das Ineinander
-äußerer und innerer Wirrnis in diesem tragischen Lustspiel ist:</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>Staunt und grübelt nicht darüber, wie dies alles zugeht. Alle
-schweren Dinge sind ganz leicht, wenn sie nur erst erkannt sind.</p></div>
-
-<p>Sie zur Erkenntnis zu bringen, in ihrer innern Beschaffenheit und
-ihrem Zusammenhang, ist die Bestimmung des fünften Akts. Innerlich
-ist für uns schon beruhigte Entspannung da; wir sehen in dieser einen
-Szene, in der Shakespeare, wie öfter, nach den verwandlungsreichen
-früheren Akten alle Verwirrungen zur vollen Höhe häuft, ehe er sie
-löst, guten Muts zu, wie die Personen des Stücks, zumal Angelo und
-Isabella, vom Herzog noch gehörig auf die Folter gespannt und dann mit
-Enthüllungen überrascht werden, mit denen allen wir vom weisen Dichter
-dieses Lustspiels schon lange bekannt gemacht worden sind. Angelo und
-Isabella! In ganz anderm Sinn, als der junge Wüterich meint, bilden
-auch sie denn doch ein Paar. In beiden ist die Tugendstrenge seltsam
-nach Art und Grad verschiedene Irrwege gegangen; die Nonne, die es bis
-zum wildesten Ausbruch der Unbarmherzigkeit bringt, ist eine adlige
-Seele trotzdem; der vom Herzog zur Probe zum Fürsten erhöhte, dadurch
-zum Tyrannen gewordene, zwischen Idealismus, Abstraktionshärte und
-ichsüchtiger Schnödigkeit hin und her irrende unfertige junge Mann
-ist, wir sollen’s nun erleben, nicht minder in seinem besten Wesen ein
-adliger Mensch.</p>
-
-<p>Der Herzog hat, ehe er in Wien wieder einzog, verkünden lassen, wer
-irgend sich über erlittene Unbill zu beschweren habe, solle es sofort
-bei seinem Einzug tun; unverzüglich,<span class="pagenum"><a name="Seite_41" id="Seite_41">[S. 41]</a></span> wenn der echte Herr das Regiment
-wieder antritt, soll reiner Tisch gemacht werden. Kaum hat er denn den
-Statthalter mit Worten höchster Achtung über seine gerechte Verwaltung
-des obersten Amtes beglückt, so tritt die trauernde Isabella auf und
-fordert, immer das eine Wort wiederholend, mit lauter Stimme, was in
-diesem Staat durch Angelo so streng durchgeführt worden sein sollte:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Recht, ja Recht, Recht, Recht!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Mariana, hat der Mönch ihr geraten, soll außer Spiel bleiben; so
-beschuldigt Isabella Herrn Angelo genau dessen, was er selbst glaubt,
-an ihr begangen zu haben. Was tut er, der hochgeehrt neben dem Herzog
-sitzt, auf diese entsetzliche, gegen einen Mann wie ihn jedoch höchst
-unglaubwürdige Anklage hin? Was wir alle täten, wenn wir erst Schritt
-für Schritt uns so mit dem Bösen eingelassen hätten: er leugnet alles,
-mit frecher Stirn, und erklärt, Isabellas Verstand habe seit dem
-Prozeß gegen ihren Bruder gelitten. Merken wir hier nur darauf: vor
-dem Buchstaben des Rechts hat Angelo kein andres Verbrechen begangen
-als das gegen Isabella, und das hat er, wir wissen es, nicht begangen;
-Claudio war dem Gesetz verfallen, und er hat’s dabei gelassen; es ist
-kein Recht gebeugt worden. Und da kommt nun eine und schreit hinaus,
-um ihren Bruder, wie es der Statthalter selbst bedungen hätte, zu
-retten, hätte sie dem ihre Ehre preisgegeben; aber der Bruder ist ja
-hingerichtet worden; wer wird solches wirre Zeug glauben? So scheint
-es ganz in Ordnung, daß der Herzog die Anklägerin bis zur weitern
-Prüfung der Sache ins Gefängnis abführen läßt; um wahnsinnig zu sein,
-redet sie wieder zu klar; es scheint eine Verschwörung gegen Herrn
-Angelo vorzuliegen, der von dem heillosen Schmutz, wie er da gegen
-ihn geworfen wird, so wenig berührt werden kann, daß der Herzog ihn
-auffordert, in dieser seiner eigenen Sache selbst Richter zu sein.</p>
-
-<p>Was für eine Verwirrung tritt aber nun ein, als von einem Vertrauten
-des Herzogs, dem Mönch Peter, geleitet, eine<span class="pagenum"><a name="Seite_42" id="Seite_42">[S. 42]</a></span> Zeugin auftritt, die
-Herrn Angelos Alibi auf die seltsamste Art beweisen soll: da stellt
-sich eine hin, die sich für weder verehlicht noch Mädchen noch Witwe
-und dann gar für des Statthalters Gattin erklärt und bezeugt: just zu
-der Stunde, wo Herr Angelo Isabella fleischlich beigewohnt haben solle,
-sei er in ihren Armen gelegen. Gegen diese Behauptung, gegen diese
-Anklage, die als Verteidigung auftritt, kann sich Angelo nun mit bestem
-Gewissen verwahren; und das hilft ihm, viel freier als zuvor, fast mit
-Lächeln über so viel Tollheit, alles zu leugnen, auf die Vermutung
-des Herzogs einzugehn und dies schamlose Auftreten zweier Weiber
-gegen ihn, der jetzt eben das Land von der Unzucht gereinigt, auf ein
-niederträchtiges Komplott zurückzuführen. Er ist auch klug genug, den
-Vorschlag des Herzogs, Richter in eigner Sache zu sein, in diesem
-Augenblick, wo die Sache für ihn so günstig steht, anzunehmen. So kann
-der Herzog, um seinem bisherigen Statthalter sein ganz besonderes
-Vertrauen zu bezeigen, sich von der Gerichtsstelle, zu der dieser freie
-Platz vor dem Tor geworden ist, entfernen, ohne daß es jemand auffällig
-finden darf. Welch köstliche Motivierungskunst in einer auch für den
-Dichter fast unmöglich scheinenden Situation; was für eine leichte,
-spielende Hand; wie ist das, womit motiviert wird, das Auskunftsmittel
-des Dichters, daß der Statthalter seinen Fall selbst zu richten
-bekommt, für den Gang der Handlung entscheidend wichtiger, als was zu
-motivieren notwendig ist: daß der Herzog fortgeht, damit er in Gestalt
-des geheimnisvollen Mönchs wieder erscheinen kann.</p>
-
-<p>Der Mönch erscheint und braucht stärkste Worte, erst gegen den Herzog
-&mdash; sich selbst &mdash;, der einen Schurken in eigner Sache richten läßt,
-dann gegen diesen Elenden nicht nur, der immer noch als oberster
-Richter auf dem Thron sitzen darf, sondern im allgemeinen gegen die
-Widersprüche zwischen dem Moral- und Gesetzsystem, das im Reich
-herrscht, und den wirklichen Zuständen. Er mußte sehen,</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_43" id="Seite_43">[S. 43]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft2">wie hier Entartung kocht und brodelt,</div>
- <div class="verse">Ja überschäumt; für jeden Fehl Gesetze,</div>
- <div class="verse">Doch Frevel so beschützt, daß die Verbote,</div>
- <div class="verse">Wie Sittensprüche in den Baderstuben,</div>
- <div class="verse">Indem sie Schmach verpönen, sich verhöhnen.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Das starke Auftreten dieses Mönchs gegen die Sitten der Wiener goldenen
-Jugend bringt den Vertreter dieser Gesellschaft, Herrn Lucio, der mit
-seiner dreist anmaßenden Geschwätzigkeit auch schon vorher dem Herzog
-lästig gefallen war, zum kecken Eingreifen: er will das Gesicht dieses
-Sittenpredigers sehen und reißt dem Mönch die Kapuze herunter: alle
-erkennen den Herzog. Sofort, noch ehe irgend ein Weiteres enthüllt ist,
-gesteht Angelo seine Schuld: er ist, sowie er vor Augen sieht, daß der
-Herzog schon lange mit dieser furchtbaren Sache zu tun hat und sein
-Tun beobachtet, wie von einem Strahl göttlicher Rache vernichtet: auf
-geheimnisvollste Weise, die er nicht begreift, ist einem Zusammenhang,
-den er selbst und dazu noch Vorfälle, die ihm rätselhaft sind, aufs
-verwirrteste versträhnt haben, die schlichte Klarheit, der wirkliche
-Kausalzusammenhang wiedergegeben. Wie eine Erleichterung überkommt es
-ihn, daß der Bau des Bösen und der Lüge, den er hat türmen müssen, weil
-in seinem Bau der starren Moral der Grundstein ins Rutschen gekommen
-war, auf einen Schlag eingestürzt ist: höchst würdig legt er sein
-Bekenntnis ab und erbittet sofortiges Gericht, sofortigen Tod.</p>
-
-<p>Gewiß hat der Herzog, der den Mann von allem Anfange an gekannt hat,
-nichts andres erwartet. „Alle schweren Dinge sind ganz leicht, wenn sie
-nur erst erkannt sind.“ Der Spruch bewährt sich bei der unglaublichen
-Verwirrung aller äußern Geschehnisse; er bewährt sich auch für Angelo.
-Eine schwere Last ist von ihm genommen, ein Druck, der seit langem sein
-Leben auf schiefe Bahn geschoben hat; mit der Reue, die überraschend
-wie der Blitzstrahl über ihn gekommen ist, ist ihm so ganz leicht
-geworden. Der Herzog aber<span class="pagenum"><a name="Seite_44" id="Seite_44">[S. 44]</a></span> macht keine Miene, ihn zu richten; erst tut
-andres not. Kurz stellt er fest, daß Angelo und Mariana rechtmäßig
-verlobt waren; stracks schickt er beide weg zu schleuniger Vermählung.
-Aus diesem Verfahren und dem entsprechenden, das er dann gegen den
-heillosen Liederjahn und Verleumder Lucio einschlägt, ergibt sich, daß
-in seiner Methode zur Verbesserung der Sitten die Ehe ungefähr die
-Rolle spielt, die in Herrn Angelos System Auspeitschung, Einkerkerung
-und Hinrichtung eingenommen haben.</p>
-
-<p>Dann erst, wie dies erste und vielleicht innerlich häßlichste Vergehen
-Angelos gut gemacht ist, soll zwischen ihm und Isabella gerichtet
-werden. Nun soll Angelo lernen, wie es mit seinem Grundsatz des
-starren, strengen, vorbeugenden Rechts bestellt ist: Gleiches mit
-Gleichem, Maß für Maß: mit welcherlei Maß ihr messet, so soll euch
-wieder gemessen werden! Gut denn; er hat sich das Urteil schon lange
-selbst gesprochen: sein Verbrechen ist das Claudios; was er noch
-viel Schlimmeres als dieser getan, kann ganz außer Betracht bleiben:
-wie Claudio hingerichtet wurde, so soll auch er dem Henker verfallen
-sein. Was für ein wahrhaft wonnevoller Gegensatz zwischen dem, was die
-Menschen auf der Bühne in diesem Augenblick empfinden und erleben, und
-dem, was wir beglückt, heiter, frei wissen: Claudio lebt, Angelo wird
-leben!</p>
-
-<p>So kommt es noch zu einem letzten Gipfel; Isabella, die Tugendstrenge,
-die nur mit äußerster Selbstüberwindung für ihren Bruder, dessen Fall
-so ganz milde zu betrachten war, eingetreten war, die ihn zum Tod
-verurteilte, als Lebensdurst und Todesangst ihn zum winselnden Tier
-erniedrigt hatten, Isabella, die diesen Bruder tot glauben muß, tot
-durch Schuld dieses Angelo, der ihn als Meineidiger in dem Augenblick
-wie ein unsträflicher, erhabener Richter dem Gesetz geopfert und auf
-den Richtblock geschickt hat, wo er selbst auf dem selben Gebiet nach
-seinem Willen weit Schlimmeres verbrochen hat, Isabella bittet um das
-Leben dieses Mannes,<span class="pagenum"><a name="Seite_45" id="Seite_45">[S. 45]</a></span> der Notzucht abscheulichster Art, Notzucht auf
-dem indirekten Weg des Seelenzwangs hat gegen sie begehen wollen; sie
-wirft sich vor dem Herzog auf die Knie und spricht:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Huldreichster Fürst,</div>
- <div class="verse">Betrachtet, fleh’ ich, diesen schuld’gen Mann,</div>
- <div class="verse">Als lebte noch mein Bruder. Fast ist mir,</div>
- <div class="verse">Als habe Ehrlichkeit sein Tun gelenkt,</div>
- <div class="verse">Bis er sein Aug’ auf mich warf. Ist dem so,</div>
- <div class="verse">Laßt ihn nicht sterben. Claudio starb nach Recht,</div>
- <div class="verse">Sofern er wirklich tat, wofür er starb.</div>
- <div class="verse">Doch Angelo &mdash; &mdash;</div>
- <div class="verse">Sein Tun kam nach ja nicht der bösen Absicht</div>
- <div class="verse">Und soll begraben sein als bloße Absicht,</div>
- <div class="verse">Die nicht ans Ziel gelangt. Denken ist frei,</div>
- <div class="verse">Und Absicht bloßes Denken.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Wie sieht man da voller Lust, Lust des Herzens wie auch des unbeschwert
-spielenden, rasch sich bewegenden, Ernstes bedenkenden Geistes: auch
-die Milde hat ihren scharfen Juristenverstand, &mdash; und wer weiß, ob
-diese Porzia-ähnliche Gestalt, diese Isabella, die vor unsern Augen
-so gewachsen und gereift und aus klösterlicher Enge zu Menschenweite
-und freiem Sinn sich erhoben hat, ob sie, die der reifsten Stufe des
-Dichters zugehört, nicht auch Shylock, dessen Untat ja auch beim
-Versuch geblieben ist, Gnade, volle erlösende Gnade erwiesen hätte?</p>
-
-<p>Angelo aber, der jetzt zum ersten Mal ganz und fest in seinem Adel
-steht &mdash; wie vielfältig ist der Mensch! und wie groß der Dichter,
-der uns die wahrhaft wundervolle Geräumigkeit im Schacht des
-Menscheninnern, die Wirklichkeit der Niedertracht wie der Seelengröße
-in diesem nämlichen Menschen erleben läßt &mdash; Angelo will den Tod
-erdulden:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Mich schmerzt’s, daß solche Schmerzen ich bereitet,</div>
- <div class="verse">Und Scham durchdringt so tief mein reuig Herz,</div>
- <div class="verse">Daß Tod mir lieber als die Gnade ist.</div>
- <div class="verse">Verdient so hab’ ich’s, laßt’s dabei bewenden.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_46" id="Seite_46">[S. 46]</a></span></p>
-
-<p>In diesem Augenblick kommt des Herzogs Ebenbild und Gehilfe aus dem
-einfachen Volk, der Kerkermeister, und bringt den vielfachen Mörder
-Bernardin und eine verhüllte Gestalt.</p>
-
-<p>Dem Mörder, der seit neun Jahren in unverwüstlicher Lebenslust im
-Gefängnis sitzt, wird von diesem Herzog, der immer noch in der Tracht
-des Mönchs seines Amtes waltet, Leben und Freiheit geschenkt, weil er
-keine Todesangst und keine Höllenangst kennt:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">He, Kerl, man sagt, du trägst ein störrisch Herz,</div>
- <div class="verse">Das Furcht vor nichts hat jenseits dieser Welt,</div>
- <div class="verse">Und lebest demgemäß. Du bist verurteilt,</div>
- <div class="verse">Doch deine Schuld auf Erden sei verziehn.</div>
- <div class="verse">Wend’ aber so die Gnad’ an, daß du denkst</div>
- <div class="verse">Auf bessre Zukunft.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><em>For better times to come</em>: der Fürst, der Harun al Raschid,
-der Geheimnis und Vermummung liebt, der Dichter, der sich in seinen
-Gestalten und in der schwebenden Rede hold vielsagender, duftig auf
-alles weisender Allgemeinheit verbirgt, sie überlassen es jedem, was
-er dabei empfinden und denken will: ein besseres Leben, das dieser der
-Freiheit wiedergegebene Mordskerl jetzt beginnen soll; bessere Zustände
-und Einrichtungen zwischen den Menschen; das dunkle Reich jenseits des
-Todes.</p>
-
-<p>Da steht noch ein Vermummter; er darf nun in die Klarheit treten:
-Claudio lebt! Und er, der genießende Phantasiemensch, der alle
-Gräßlichkeiten des Nichtmehrseins und des Jenseits voraus gekostet
-hat, hat wahrlich genug ausgestanden, um ferner Leben und Gesellschaft
-ernster zu nehmen als vordem: er bedarf keiner Strafe mehr.</p>
-
-<p>Was für ein Recht übt dieser Herzog, der vom Thron gestiegen war, damit
-der Statthalter Angelo die Gesetze wieder wirksam machen sollte! Ein
-Mörder wird völlig begnadigt; ein zu Unrecht dem Henker Gestohlener in
-die Freiheit geschickt! Und doch atmen wir alle, seit in diesem Reich
-er wieder die Lenkung hat, frei und beruhigt die Luft der Rein<span class="pagenum"><a name="Seite_47" id="Seite_47">[S. 47]</a></span>heit und
-spüren die Zucht und eine Ordnung, die nicht vom auferlegten Zwang, die
-von innen kommt und ein Band um geprüfte Menschen schlingt.</p>
-
-<p>Angelo ist nun mit dieser Erscheinung das milde Urteil gesprochen:
-da er kein Mann der Gnade ist und auch gegen sich selbst schließlich
-keine Gnade noch Barmherzigkeit geübt hat, da er hart und streng auch
-gegen sich gewesen ist, soll ihm sein Recht, nichts als sein Recht
-werden: Gleiches mit Gleichem, Maß für Maß: Claudios Schicksal, so
-war der Rechtsspruch ergangen, solle sein eigenes werden. So darf er
-leben und mit dem leidenschaftlichen Weib, das beglückt an ihm hängt,
-so glücklich sein, wie er nach dieser Prüfung, nach diesem Fall, nach
-dieser Erziehung vermag. Ein Wilder war er in dieser Welt, und seine
-angeborene Vornehmheit hatte die Verwilderung mit Starrheit und Strenge
-bändigen wollen; die Wildheit brach eruptiv durch und riß alle Dämme
-ein; wie wird er nun werden? wie leben? wie wirken? was wird aus
-seinem System? aus dem Wortgebäude, das er über der dunklen Schlucht
-des Triebs errichtet hatte? Er spricht von dem Augenblick an, wo in
-Claudios Gestalt die Gnade erschienen ist, kein Wort mehr. Der alte
-Angelo ist vernichtet; die Hoffnung meint zu schauen, er stehe in
-seiner Wiedergeburt.</p>
-
-<p>Und noch ein Menschenkind schweigt: Isabella. Ein wunderbar zarter Zug,
-von dem man nur ehrfürchtig reden kann, wie Shakespeare Angelo bei der
-Rettung und Isabella bei dem Anblick des wiedergeschenkten Bruders und
-bei der Werbung des Herzogs in wortloser Stille verharren läßt. Der
-Herzog selbst deutet in verehrender Scheu vor ihrer Menschennatur wie
-dem Schicksal, das er selber gelenkt, nur leise an, daß er sie bittet,
-die Seine zu werden; wir haben schon lange gefunden, daß die beiden,
-der Mehralsmönch und die zum Leben des Menschlichen herangereifte
-Nonne, ein edles Paar bilden und in ihrer Zusammengehörigkeit und
-Ergänzung, in Klugheit, Innigkeit, Entsagung und Ironie zu Herrschern
-in einem Reich milder Weltfrömmigkeit berufen sind.</p>
-
-<div class="footnotes">
-
-<div class="footnote">
-
-<p><a name="Fussnote_1_1" id="Fussnote_1_1"></a><a href="#FNAnker_1_1"><span class="label">[1]</span></a> Auf noch eine Verbindung dieses Stückes mit Bacon
-hinzuweisen will ich nicht unterlassen. Das juridische Grundmotiv
-sowohl unsres Dramas wie Einzelzüge erinnern in der Tat &mdash; man darf
-sagen, auffallend &mdash; an eine Ausführung in Bacons vorzüglichem Essay
-„Über Rechtsprechung“: „Wenn Strafgesetze lange in Schlaf gelegen
-haben oder wenn sie für die Gegenwart nicht mehr passen, sollten sie
-von klugen Richtern in der Anwendung eingeschränkt werden: <em>Judicis
-officium est, ut res, ita tempora rerum</em> usw. [Des Richters Amt
-erstreckt sich auf Dinge wie Zeiten der Dinge.] In Fällen, wo es um
-Leben und Tod geht, sollten die Richter in der Rechtspflege der Gnade
-gedenken und ein strenges Auge auf das Beispiel werfen, ein gnädiges
-aber auf die Person.“ Das sind in der Tat Gesichtspunkte, denen wir
-genau so beim Herzog und bei Isabella begegnen. &mdash; Ich für mein Teil
-erlaube mir daraus gar nichts zu folgern, &mdash; so wenig wie aus der
-Tatsache, daß der Staatsbeamte Lord Bacon von Verulam, Viscount von
-St. Albans in seiner Person (<em>persona</em> heißt Maske) etliche
-Ähnlichkeit mit Lord Angelo aufweist. Solche Indizien sind mir noch
-kein Beweis dafür, daß der gelehrte Whetstone Bacons Schriften verfaßt
-hat.</p></div>
-
-</div>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_48" id="Seite_48">[S. 48]</a></span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Macbeth">Macbeth</h2>
-
-</div>
-
-<p class="initial">Der Macbeth ist erst aus dem Nachlaß im Jahr 1623 in der Folioausgabe
-veröffentlicht worden; verfaßt wird er wohl in der Zeit zwischen 1606
-und 1608 sein; sicher ist, daß <em>Dr.</em> Forman ihn 1610 im Globetheater hat
-aufführen sehen.</p>
-
-<p>Den Stoff fand Shakespeare wie den des Hamlet, des Lear und manchen
-andern in Holinsheds Chronik. In diesem Geschichtswerk findet sich auch
-die Begegnung Macbeths mit den drei Zauberfrauen, die man, wie es an
-einer Stelle heißt, im Volk für die drei Göttinnen des Schicksals oder
-doch für Nymphen oder Feen hielt. Die Begegnung schildert Holinshed so,
-daß man schon einen großen, schaurigen Eindruck von der Szene gewinnen
-kann: „Macbeth und Banquo ritten zusammen ohne weitere Begleitung nach
-Fores, wo der König damals sein Lager hielt, und kamen durch Wälder und
-Felder, als ihnen plötzlich in der Mitte einer großen Heide drei Weiber
-von fremdem und seltsamem Aussehen begegneten, die Geschöpfen einer
-früheren Welt glichen.“ Im übrigen ist uns an dem Bericht der Chronik
-besonders das interessant, was Shakespeare nicht brauchen konnte oder
-irgendwie verwandeln mußte. Denn der Macbeth der Sagengeschichte,
-der siebzehn Jahre lang, von 1040 bis 1057 regierte und Banquo erst
-im zehnten Jahr seiner Regierung ermorden ließ, war trotz der Untat,
-durch die er auf den Thron kam, bis zu Banquos Ermordung ein guter
-Fürst: „Macbeth suchte nach der Abreise der beiden Prinzen sich die
-Gunst der schottischen Edlen und Ritter durch große Freigebigkeit zu
-gewinnen, und als er sich im friedlichen Besitze des Thrones sah,
-begann er die Gesetze zu reformieren und alle Unregelmäßigkeiten und
-Mißstände, die sich unter dem schwachen und trägen König Duncan in
-die Verwaltung eingeschlichen hatten, auszurotten. Er befreite das
-Land auf viele Jahre von allen Räubern und verfuhr hierbei so ohne
-Ansehen der Person, daß er selbst viele<span class="pagenum"><a name="Seite_49" id="Seite_49">[S. 49]</a></span> Thane, wie die von Cathnes,
-Sutherland, Stranaverne und Ros, und den Beherrscher von Galloway
-hinrichten ließ. Dagegen beschützte er die Kirche und die Geistlichen
-auf das sorgsamste und wurde, um kurz zu sein, wie der Verteidiger und
-Schild jedes Unschuldigen angesehn.“ Freilich, fügt Holinshed naiv
-genug hinzu, war das alles nur erheuchelt. Nach Banquos Ermordung trat
-dann seine Grausamkeit und Tyrannei klar zu Tage. Shakespeare, der
-auch hier verfährt wie immer und die Regierungszeit König Macbeths
-nicht nach irgend einer astronomischen Zeit, sondern nach dem inneren
-Verlauf seines Schicksals, nach dem Tempo seiner Lebenskraft und
-Intensität bemißt, und der nicht die Wirklichkeit, die Relativität und
-Gemischtheit der politischen Gesellschaft, sondern die Wahrheit der
-Grundtriebe im Individuum <em>sub specie aeternitatis</em> darstellt,
-kann diese lange Zwischenzeit zwischen Duncans und Banquos Ermordung
-und diese ganze zehnjährige Heuchelei oder Normalität nicht brauchen.
-Dagegen bleibt Banquo bei Holinshed ruhig in seinem Grabe; die
-Erscheinung des Toten ist Shakespeares Erfindung, und ebenso auch
-der Anteil der Lady an Macbeths Schicksal und Taten; bei Holinshed
-wird ihr Einfluß nur nebenbei einmal erwähnt. Sonst hat Shakespeare
-manche Einzelzüge und Szenen in treuem Anschluß übernommen; die drei
-Begrüßungen und die späteren drei Prophezeiungen der Hexen sind da,
-wenn auch freilich nicht in ihrem großartigen Zusammenhang; die
-Ermordung der Frau und der Kinder Macduffs und vor allem die Szene
-seiner Prüfung durch Prinz Malcolm, der sich verstellt, sind dieser
-Quelle entnommen.</p>
-
-<p>Soviel zur Herkunft der äußern Handlung. Welcher Quelle die innere
-entstammte, soll uns ein junger Dichtersmann sagen, Grillparzer, der im
-Jahr 1817 die folgende merkenswerte Niederschrift machte:</p>
-
-<p>„Vielleicht ist Macbeth das größte Werk Shakespeares, das wahrste
-ist es jedenfalls... Ich glaube, daß das Genie<span class="pagenum"><a name="Seite_50" id="Seite_50">[S. 50]</a></span> nichts geben kann,
-als was es in sich selbst gefunden, und daß es nie eine Leidenschaft
-oder Gesinnung schildern wird, als die es selbst als Mensch in seinem
-eigenen Busen trägt. Daher kommen die richtigen Blicke, die oft ein
-junger Mensch in das menschliche Herz tut, indes ein in der Welt
-Abgearbeiteter, selbst mit scharfem Beobachtungsgeist Ausgerüsteter
-nichts als hundertmal gesagte Dinge zusammenstoppelt. Also sollte
-Shakespeare ein Mörder, Dieb, Lügner, Verräter, Undankbarer,
-Wahnsinniger gewesen sein, weil er sie so meisterlich geschildert?
-Ja! Das heißt, er mußte zu dem allem Anlage in sich haben, obschon
-die vorherrschende Vernunft, das moralische Gefühl nichts davon zum
-Ausbruch kommen ließ. Nur ein Mensch mit ungeheuren Leidenschaften kann
-meiner Meinung nach dramatischer Dichter sein, ob sie gleich unter dem
-Zügel der Vernunft stehen müssen und daher im gemeinen Leben nicht zum
-Vorschein kommen.“ Von dieser Einsicht, die uns wichtig nicht nur für
-die Psychologie des Genies, sondern vor allem auch für die Beurteilung
-des Dramatikers Grillparzer sein muß und die überdies, wir erfahren
-es noch, in Shakespeares Selbstbekenntnissen, in seinen Sonetten
-ihre Bestätigung findet, war der junge Mann, der sie aufschrieb, so
-ergriffen, daß er den Ausruf hinzufügte: „Ich wollte, irgend ein
-Dichter läse das!“</p>
-
-<p>Darin jedenfalls haben inzwischen viele Grillparzer zugestimmt, daß
-auch sie den Macbeth für Shakespeares größtes Werk erklärt haben.
-Und darin sind fast alle Beurteiler einhellig, daß Macbeth seine
-klassischste, seine formvollendetste, seine der Antike geistig am
-nächsten kommende Tragödie ist. Und in der Tat, kann man vor den und
-jenen andern Werken Shakespeares wenigstens verstehen, wie der ganz
-falsche Eindruck, der so lange gespukt hat, entstehen konnte, als
-wäre er so eine Art Naturdichter, ein Volksdichter, der nachlässig
-und unbekümmert wie ein trunkener Wilder seine Einfälle vor uns
-ausschüttete, ein unbewußtes Genie, das sich um Überlegung, Berechnung,
-Komposition nicht viel kümmerte,<span class="pagenum"><a name="Seite_51" id="Seite_51">[S. 51]</a></span> so kann bei Macbeth keinem, der
-irgendwie aufzumerken imstande ist, im geringsten zweifelhaft sein,
-daß hier alles geplant, gebaut, gewußt, gewollt ist, alles, Aufbau,
-Szenenfolge, jede Rede und jedes Wort, was getan und gesagt und ebenso,
-was geschwiegen wird. Mit dieser straffen Komposition, die an nichts so
-sehr erinnert wie an die gespannten Muskeln in Macbeths Gesicht, wenn
-er von Dunsinans Turm Ausschau hält nach dem Schicksal, das ihm nichts
-anhaben soll; mit dieser festen Geschlossenheit, die ihres gleichen nur
-hat in Macbeths finsterer Entschlossenheit, sich zu behaupten, damit
-steht auch in Zusammenhang, daß das Stück die kürzeste aller Tragödien
-Shakespeares ist, wie Hamlet die längste; Hamlet hat 4000 und Macbeth
-nur 2100 Verse.</p>
-
-<p>Dämonische, sagen wir getrost teuflische Triebe im Innern des Menschen
-und reale, äußere dämonische Mächte, Abgesandte der Hölle begegnen
-einander: daß dieses Hereinragen der Geistersphäre diese Tragödie von
-andern abhebt, sehen wir sofort. Auch haben wir eben gehört, daß es
-so überliefert ist. Es liegt uns aber trotzdem die Frage ob: Wie ist
-das? Wie steht es hier um das Verhältnis von Glauben, Aberglauben und
-Wissen? Wie zumal ist das Verhältnis zu unsrer naturwissenschaftlichen
-Weltanschauung?</p>
-
-<p>Vor allem ist da zu beachten: Shakespeare der Weite und Vielfältige
-ist darum aus Notwendigkeit ein Dramatiker, weil er sein Geheimnis
-zu wahren hat, weil er die Einheit der Person, die eine <em class="gesperrt">Frage</em>
-ans Schicksal und ein Ringen mehr ist als eine Sicherheit, hinter
-der gespaltenen Vielheit der Gestalten versteckt. So entsprechen
-bei ihm Weltanschauung und geistige Stimmung, die in einem Stück
-walten, durchaus der Gesinnung und Charakterhaltung der Hauptperson
-oder den Tönungen und Bedingungen der Handlung, und es ist nicht
-zu viel gesagt, wenn geradeswegs ausgesprochen wird, daß bei einem
-Dichter wie Shakespeare die Weltanschauung viel mehr, als gewöhnlich
-beachtet wird, ein je nach Bedarf wechselndes formales Element ist.
-Was daher<span class="pagenum"><a name="Seite_52" id="Seite_52">[S. 52]</a></span> für ein besonderes Stück gilt, darf nie auf den ganzen
-Dichter und seine Gesamthaltung übertragen werden: so passen sich
-auch die Elementargeister, die Erscheinungen, die Gespenster immer
-der Stimmung der Dichtung, der Innerlichkeit der Träger der Handlung
-an: im Sommernachtstraum weht eine Renaissanceluft hell, neckisch,
-spöttisch wie bei Ariost, eine Romantik also, die der Ausdruck mehr
-des Rationalismus als irgendwie dumpfer Mystik ist; die Erscheinung
-von Julius Cäsars Genius hinwiederum in ihrer klaren, würdevollen
-Sprache steht ganz im Einklang mit der stoisch-republikanischen
-Selbstbestimmung edel-gebildeter römischer Bürger. Man denke sich die
-Hexen der schottischen Heide in dem Römerdrama, oder einen Kobold wie
-Puck, einen Geisterfürsten wie Oberon im Macbeth, &mdash; und man wird
-sofort merken, daß man mit einem souveränen Dichter zu tun hat und
-daß die Frage nach seiner Befangenheit in Glauben und Aberglauben von
-Seiten seiner Dramen kaum eine bündige Antwort finden wird.</p>
-
-<p>Für das Zeitalter Shakespeares und die Anschauungen, in denen die
-besten Geister dieser Zeit standen, ist zu sagen, daß das, was wir
-geneigt sind Aberglauben zu nennen, viel weniger Rückstände alter Zeit,
-als gerade Anfänge natürlicher Betrachtung sind. Die Wissenschaft hat
-sich nicht allmählich aus geringem und bescheidenem Keime zu uns herauf
-entwickelt; wenn sich etwas auf diesem Gebiete aus kleinsten Anfängen
-zu achtbarer Größe hinaufgesteigert hat, so ist es vielmehr gerade die
-Bescheidenheit und Resignation. Im Anfang, im Zeitalter Fausts, hat das
-Wissen im Glauben der Menschen die Gabe, Riesenkräfte zur theoretischen
-wie praktischen Bezwingung der Natur zu verleihen; und diese Natur wird
-nicht für harmlos und lediglich sachlichen Prinzipien oder gar nur
-mathematischen Formeln unterworfen angesehen, sondern als strotzender
-Kraftspeicher betrachtet. Man sieht die Natur ungeheuerlich, wozu eben
-auch gehört, daß es in ihr nicht geheuer ist; alles Ungeheuerliche aber
-wird<span class="pagenum"><a name="Seite_53" id="Seite_53">[S. 53]</a></span> als durchaus natürlich und unsrer bezwingenden Menschenkraft
-erkennbar und zugänglich aufgefaßt.</p>
-
-<p>In alledem, was wir heute überwunden haben und dem Aberglauben
-zuzuweisen geneigt sind, in der Alchemie und Astrologie, in dem
-Glauben an Vorbedeutungen und Offenbarungen durch Naturgeschehnisse,
-wie Erdbeben, Meteore, Finsternisse und dergleichen, steckt die
-wissenschaftliche Frage an die von den Banden des Dogmatismus befreite,
-seltsam, trächtig, gärend, chaotisch gewordene Welt: Ist hier nicht,
-ist nicht zwischen innen und außen, zwischen Menschenschicksal
-und Weltbewegung ein kausaler Zusammenhang? Die Frage gehört der
-Wissenschaft an, so betrüblich paradox im eigentlichen Wortsinn es
-auch klingen mag, eine Frage ein Wissen zu nennen, die Antwort aber,
-die jene Zeit fand, entstammt starker, gestaltender dichterischer
-Phantasie; wohl uns, wenn nach wiederum etlichen Jahrhunderten von
-unsern Antworten das Selbe gesagt werden kann!</p>
-
-<p>So steht’s nun auch um den Hexenglauben, der in dem Glaubenssystem der
-christlichen Zeit nie recht Platz fand, erst vom 14. Jahrhundert an ins
-Kraut schoß und im Zeitalter der sprossenden Wissenschaft sich sein
-System ausbildete, &mdash; woran sich Shakespeares gelehrter König Jakob in
-eifrig pedantischer Arbeit redlich beteiligte.</p>
-
-<p>Überall begegnen wir der Tendenz, der auch dieser Glaube angehört,
-nicht, das Geheimnis, das Grauen, den dunklen Zusammenhang zwischen
-Materie und Seele ins Mechanische aufzulösen und die Welt, die man als
-dämonisch erlebte, durch die Wissenschaft nüchtern zu machen, sondern
-umgekehrt das Materielle als beseelt, als vom Geiste durchdrungen
-und durchglüht zu erfassen. Das Göttliche und Teuflische war in die
-Natur aufgenommen; dem Verständnis und der gebietenden Gewalt, der
-Magie des Menschen sollte kein Gebiet mehr unerreichbar, mehr jenseits
-verbleiben. Männer wie Giordano Bruno und Jakob Böhme, Shakespeares
-Zeitgenossen, mit deren erstem er als junger<span class="pagenum"><a name="Seite_54" id="Seite_54">[S. 54]</a></span> Mensch sogar persönlich
-in London Verkehr gepflogen haben könnte, machten den Versuch, die
-symbolischen Heilswahrheiten der Religion naturwissenschaftlich zu
-deuten, eine Physik und Chemie des Christentums zu begründen. Und immer
-soll die Naturanschauung, soll die Einheit der Natur Geist und Materie
-umfassen. Zu der Bescheidung, um der Kausalität willen auf die Frage
-nach dem Zweck und dem Sinn, um der Wissenschaft willen auf das Suchen
-der Wahrheit zu verzichten, war man noch nicht gekommen.</p>
-
-<p>In dieses Gebiet also, auf diese Stufe der schöpferischen Kraft und
-Vehemenz des forschenden und ringenden Geistes gehört der Glaube von
-Shakespeares Zeitalter an den Verkehr zwischen Menschen und dämonischen
-Elementarwesen, die in die Stoffe und Kräfte der Natur gebannt sein
-sollten, gleichviel hier, wie weit Shakespeare diesen Glauben teilte,
-wie weit er als Dichter sich spielend, versuchend, versucherisch,
-tragisch, dämonisch in ihm erging.</p>
-
-<p>Das Gewaltige und Einzige in der Darstellung des Dichters, die uns
-hier beschäftigt, ist nun, daß Macbeth den Dämonen verfallen ist,
-ohne &mdash; wie Faust zum Beispiel im Volksbuch und bei Marlowe &mdash; ein
-ausdrückliches Bündnis mit ihnen einzugehen. Es ist ein Verhältnis wie
-Sympathie oder Fernwirkung: er ruft die höllischen Mächte nur dadurch,
-und sie, die uns allezeit unsichtbar umschweben, nehmen nur darum für
-ihn Sichtbarkeit an, weil seine Gedanken, seine Triebe, seine dunkeln
-Wünsche und undeutlichen Pläne ihnen verwandt sind. Welch eine Welt!
-Welch eine prästabilierte Harmonie der Hölle! Was in unserm tiefsten,
-finstersten Untergrund sich keimend regt und noch farblose, blasse
-Würzelchen unsicher tastend nach außen schickt, das sind zugleich
-Lockungen, die von draußen, vom Drunten nicht unsres Innern, sondern
-der allverbreiteten Unterwelt her uns suchend, Einlaß begehrend,
-unruhig schwirrend umkreisen und zu uns hinein wollen. Das ist hier
-auf Erden nicht nur eine Welt des Stoffwechsels, wo der Leib des<span class="pagenum"><a name="Seite_55" id="Seite_55">[S. 55]</a></span>
-Individuums in unausgesetztem Austauschverkehr mit der stofflichen Welt
-steht, sondern eine Welt, wo die Kräfte, die Seelchen, die Dämonen des
-Innern und Äußern im Wechselverhältnis stehen.</p>
-
-<p>Wir Laien, wir Normalen, wir Braven sagen so leichthin: Wo ein Wille
-ist, ist ein Weg. Man überlegt aber nicht, was für eine Wechselwirkung,
-was für eine geheimnisvolle Gemeinschaft damit zum Ausdruck gebracht
-ist. Schon wenn dieses Geistige in uns, das wir Willen nennen, nur den
-Finger rühren will und siehe da! es geschieht, schon da ist es so, wie
-wenn dem Gedanken Mächte, die im Elementaren der Materie auf unsern
-Befehl, auf unsre Bereitschaft warten, gehorchen und entgegenkommen.
-Das Kindchen will an der Mutterbrust saugen; will aber die Brust nicht
-auch geleert und befreit sein? Und wissen wir nicht, wenn nicht in der
-Naturwissenschaft, so doch gewiß in der Welt, die wir die moralische
-nennen, und das ist die, die den Dichter angeht, daß die Materie, die
-uns dient, die wir brauchen und begehren und einheimsen und formen, daß
-sie Herr über uns werden, daß sie uns mit Haut und Haaren verschlingen
-kann?</p>
-
-<p>Nichts an höllischer Einwirkung kommt zu Macbeth bloß von außen, ohne
-daß es von seiner innern Bereitschaft gerufen wäre; aber auch umgekehrt
-freilich, und das macht seine besondere Welt aus, das stellt diese
-der Sphäre der christlich-renaissancehaften Naturmagie zugehörige
-Tragödie neben die antike: nichts, was sich in seinem Innern gebiert,
-bleibt ohne dämonische Unterstützung, Weiterführung und Irreführung.
-Gott, mein Gott, was würde aus uns allen, wenn die Dämonen uns und
-unsern geheimen Regungen auch nur so hülfen, wie sie Macbeth zur Seite
-treten: mit Verkündungen, Verheißungen, feierlichen Begrüßungen! Und
-wenn nun gar wie hier diese Hilfe ein Beinstellen, die Verkündung
-eine Zweideutigkeit, die Verheißung eine Fopperei, die Begrüßung ein
-feindlicher Hohn wäre! Damit, daß wir<span class="pagenum"><a name="Seite_56" id="Seite_56">[S. 56]</a></span> das bedenken, haben wir, wie es
-für die innige Aufnahme der Tragödie not tut, aus Macbeth, was immer
-Entsetzliches er tue, den Bruder unsres Herzens gemacht, einen solchen
-aber, der in leibhafter Wirklichkeit auf gehobener Ebene verkörpert
-und erlebt, was uns in den Eingeweiden stecken bleibt. Nicht eine
-zufällig-äußerliche Wirklichkeit fabelhafter Ferne, sondern unsre
-nächste Gefahr, den Nachbarn all unsrer Emotionen und Begierden,
-die Wahrheit unsres Innern stellt Macbeth uns vor Augen. Er ist ein
-tragisch, ein dämonisch Auserwählter, ein übers menschliche Maß
-hinaus Gesteigerter und über Menschenkraft Gequälter wie unser Vater
-Prometheus, der zum Tisch der Götter zugelassen wurde, wie unser Bruder
-Ödipus, über den die Götter in dem Spiel, das sie da droben üben, schon
-vor der Geburt das Los warfen.</p>
-
-<p>Nun sollten wir bereitet sein, zu hören, was er ist, was er tut, was er
-leidet, was ihm geschieht.</p>
-
-<p>Er ist einer der Großen Schottlands, der Vetter des Königs Duncan.
-Solange Malcolm, der älteste Sohn des Königs, nicht für volljährig und
-thronberechtigt erklärt ist, darf Macbeth sich für den rechtmäßigen
-Thronerben halten. Auch in Schottland geht es so zu, wie damals fast
-überall: eine richtige Thronfolgeordnung besteht nicht zu Recht; es
-ist eine Mischung aus Wahlrecht der Stände und Erbkönigtum; keineswegs
-folgt immer der älteste Sohn, oft ein andres, nah oder fern verwandtes
-Glied des Königshauses, das sich durch Kraft oder Erfolg hervortut.</p>
-
-<p>Macbeth jedenfalls ist seit langem von keinem andern Gedanken erfüllt
-als diesem: König zu werden. Daran, wie lange das schon in ihm bohrt,
-erinnert ihn seine Frau in entscheidender Stunde. Und nun ist der
-Moment zugleich da und vorbei: in schwerem Kampf, wo er Wunder der
-Tapferkeit und Feldherrnkunst vollbracht hat, während der weiche König
-zugesehen hat, hat er mit Banquo zusammen den Aufruhr und den äußern
-Feind, den Norweger, nieder<span class="pagenum"><a name="Seite_57" id="Seite_57">[S. 57]</a></span>geschlagen. Der Thron hat gewankt, nun ist
-er befestigt: Macbeth wird reich belohnt, in Rang und Macht erhöht;
-aber unmittelbar nach der Schlacht, in Anwesenheit Macbeths und der
-andern vertrautesten Stützen des Throns, wird Malcolm vom König zum
-Erben des Reichs ernannt. Soll es dabei bleiben? Soll der Retter des
-Reichs, der so lange den Gedanken genährt, dereinst König zu sein, von
-Stund ab, von der Stunde seiner größten Leistung und Herrlichkeit an
-vom Thron ausgeschlossen sein?</p>
-
-<p>Jetzt ausgeschlossen, wo seine Berufung, sein geheimer Wunsch gerade
-eben, im Anschluß an die Schlacht, von den Dämonen bestätigt worden
-ist? Wir sind dabei gewesen, wie zum ersten Mal in seinem Leben die
-Welt des Geheimnisses nicht von innen, sondern real von außen zu ihm
-gesprochen hat; und daß diese drei Schicksalsschwestern, die ihm im
-Gewitter auf der öden Heide sichtbar wurden, nicht Einbildungen seiner
-erregten Phantasie, sondern Vertreter der Geisterwelt waren, dafür
-ist Feldherr Banquo der Zeuge, der dabei gewesen und auch mit ihnen
-gesprochen hat.</p>
-
-<p>„Heil dir, Macbeth, Than von Glamis! Heil dir, Macbeth, Than von
-Cawdor! Heil dir Macbeth, König demnächst!“ So begrüßen ihn die
-schrecklichen Weiber. Das erste ist er, aber noch nicht lange; das
-zweite scheint unmöglich, der Than von Cawdor lebt, und doch erfüllt es
-sich sofort aufs erstaunlichste; und das dritte? König demnächst? Die
-Hexen haben einmal gewußt, was noch kein Mensch wissen konnte; und nun?
-Wie weiter? O, es scheint schnell kommen zu sollen, dieses künftige
-Große; es scheint auf seine eigne Seele gelegt: der König will die
-Nacht in Inverneß, auf Macbeths Burg verbringen!</p>
-
-<p>Und nun, da unsre innere Bühne noch einen weiteren Schauplatz umfaßt
-als die Shakespeares, müssen wir, während der Abend sinkt, die
-Kavalkade über Hügel, Täler und Heiden reiten sehen, dahinsprengen
-hören. Der König und sein Gefolge in schnellem, fröhlichem Ritt,
-Macbeth aber weit<span class="pagenum"><a name="Seite_58" id="Seite_58">[S. 58]</a></span> voraus, um Quartier zu machen! Das muß Schickung
-sein; muß mit den Geistermächten zusammenhängen; welch eine
-Gelegenheit, die so nie wiederkehrt! Auf einmal der anerkannte Held des
-Landes geworden, geehrt und gefürchtet von allen, &mdash; und der König heut
-zur Nacht in Inverneß! Es muß alles vorbereitet werden; jetzt, jetzt
-muß es geschehen, muß ins Werk gesetzt werden, was kommen soll, was
-verkündigt ist &mdash; &mdash; der Gedanke läßt ihn keinen Augenblick.</p>
-
-<p>Und zu Hause sitzt ihm eine, die all sein Planen in ergebenster,
-mitreißender, befeuernder Gattenliebe teilt: sie muß vorbereitet
-werden, sie muß vorbereiten: und noch schneller als er sprengt ein Bote
-voraus, der die Nachricht bringt: der König kommt, kommt heute zur
-Nacht, trifft sofort ein!</p>
-
-<p>Fast zu Tod erschöpft steigt der Bote vom Pferd, außer Atem; er selbst
-kann in dem Zustand nicht vor die Herrin treten; ein Diener bringt ihr
-die Meldung. Das ist „große Zeitung“.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Selbst der Rab’ ist heiser,</div>
- <div class="verse">Der krächzt den Schicksalseintritt König Duncans</div>
- <div class="verse">In meine Mauern.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Wie wunderbar schnell das alles sich fügt! Jetzt eben erst &mdash; die
-beiden halten sich in steter Verbindung mit einander &mdash; hat sie
-den Brief gelesen, den ein früherer Bote gebracht hat, der ihr die
-Nachricht von Macbeths Sieg, von der Begegnung mit den Hexen und
-ihrer übermenschlichen Kunde und der sofortigen Erfüllung der ersten
-Prophezeiung gebracht hat. Schon war die Stimmung in ihr: es muß
-geschehen, es muß getan werden. Und nun, wo ihr die Gelegenheit ins
-Haus rennen soll, ist sie ganz gerüstet, ganz reif.</p>
-
-<p>Hier werfen wir erstmals einen Blick auf die seltsame Gleichheit und
-Ungleichheit dieses liebenden Ehepaars.</p>
-
-<p>Ihn belauschen wir in seinen innersten Gedanken, seinen dialektischen,
-die Vorfälle hin und her werfenden Erwägungen. Eine überirdische, eine
-metaphysische Verkündung und Lockung ist zu ihm gekommen; schlimm
-kann sie nicht sein, denn, sagt er sich, ein Pfand des Erfolgs ist
-ihm sofort in<span class="pagenum"><a name="Seite_59" id="Seite_59">[S. 59]</a></span> die Hand gegeben worden. Schlimm wäre also für ihn das
-Wesenlose, das Unwirkliche, das Lügenhafte. Aber gut? Gut kann diese
-Prophezeiung auch nicht sein; denn er vermag es nicht, ruhig, geduldig,
-vertrauend abzuwarten, bis sie eintrifft; Mord liegt ihm im Sinne; er
-bekennt sich’s sofort. Dann aber ruft ihm wieder eine Stimme zu, es
-müsse alles gut und in Ordnung sein; er solle sich doch nur beruhigen
-und still halten; diese Geister sagten ja die Wahrheit:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Will Glück mich König, möge Glück mich krönen</div>
- <div class="verse">Ohne mein Zutun.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Das aber ändert sich, sowie er vor den König getreten ist; da
-wird schon klar, wie’s gemeint war; da bietet sich die dringende
-Aufforderung: Prinz Malcolm ist nun zum Thronfolger ausersehen; ihm
-soll genommen werden, was ihm zukommt, was er will, was er braucht;
-aber es bietet sich auch die Gelegenheit: der König wird sein Gast. So
-also ist’s gemeint; auf ihn ist die Tat gelegt; hält er sich still,
-wird er nie König, er soll’s aber demnächst werden, er soll also
-mithelfen, jetzt oder nie ist die Gelegenheit. So deutet er sich den
-Zusammenhang aller innern und äußern Momente.</p>
-
-<p>Und doch schwankt er noch und will gerne schwanken; er ahnt: die
-Entscheidung findet sich, zu Hause, bei der Frau. Darum der Eilbote;
-darum sprengt er selber dem König voraus; er muß ihren Rat, ihre Stimme
-vorher hören.</p>
-
-<p>Sie ist die teuerste Gefährtin seiner Größe, wie er sie nennt; die
-Liebe dieses Paares, dem die Kinder weggestorben sind, ist ganz auf
-den großen Plan, auf das Kind seines Ehrgeizes gesammelt. Er denkt,
-noch schwankend, unbestimmt; was er aber brütend sinnt, das hält sie,
-nachdem er ihr’s gesagt hat, mit eifernder Hingebung fest. Sie ist
-weder ein Mannweib noch eine Furie, auch in der äußern Erscheinung ganz
-weiblich; wir wissen, wie klein ihre Hand ist, wie ihr Mann in der
-Mannigfaltigkeit kosender Anreden, die er im Brauche hat, „zarte Frau“,
-wohl auch einmal „liebes Täubchen“ zu ihr sagt.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_60" id="Seite_60">[S. 60]</a></span></p>
-
-<p>Der Unterschied zwischen den beiden ist der: der Abstand zwischen
-Unterbewußtsein und Oberbewußtsein funktioniert in ihnen verschieden;
-es sind in ihnen andre Pendelschwingungen zwischen Vorsatz,
-Vorstellung, Phantasie und Gefühl. Der Plan, die Idee: ich muß König
-werden, stammt sicher von ihm; es wird uns ausdrücklich gesagt. Sie
-nimmt ihn auf, folgt und geht dann voraus, da sich, was sie erst
-einmal eingesehen hat, hemmungslos mit ihrem Willen verbindet und da
-es Hindernisse für sie nicht geben darf; andre Gedanken können gegen
-seinen Königsgedanken nicht aufkommen; und das Gefühl bleibt tief
-drunten. „Du willst; also tu’s auch.“ Es gibt nichts Klareres.</p>
-
-<p>Er aber hat Hemmungen, die in seinem Oberbewußtsein, in seiner
-vernünftigen Sphäre, das Wort in umfassendem Sinn genommen, vor sich
-gehen; er hat die Moral, das Religiöse, das Bangen und Schwanken in
-Verbindung mit der vernünftigen Überlegung. Er hat von Haus aus Weite
-in seinem Kopf; sie ist darin ganz eng und darum unheimlich klar,
-scharf und bestimmt. Denken, Planen heißt für sie nichts andres als die
-Mittel für das Gewollte suchen. Da begreift sie kein Schwanken, kein
-Zögern; sie rüttelt an ihm und ist imstande, fast verächtlich von ihm
-und zu ihm zu reden.</p>
-
-<p>Sehr wahr ist etwas, worauf Grillparzer hinweist: „Shakespeare hat hier
-nicht bloß Macbeth und seine Gattin, er hat Mann und Weib überhaupt
-geschildert.“ Besser wäre zu sagen, daß der Dichter den ganz besonderen
-Mann Macbeth in seiner einmalig individuellen Situation nie aus dem
-Umkreis der Mannesart, das individuelle Weib, seine Frau, nie aus der
-Sphäre des Weiblichen entfernt. Und wenn Grillparzer dann weiter sagt,
-in Lady Macbeths Seele sei der Entschluß im ersten Augenblick reif, so
-ist das nur wahr, wenn man dazu sagt, daß es der Gedanke ihres Mannes
-ist, der in ihr sofort zum Entschluß erwächst und gesteifter Tatwille
-wird. Richtig ist jedenfalls, sie bestimmt ihn zu seiner Tat, feuert
-ihn an, hält ihn wie mit Klammern darin fest.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_61" id="Seite_61">[S. 61]</a></span></p>
-
-<p>Aber nun das sehr Richtige und Wichtige, was Grillparzer beobachtet
-hat: „Aber jetzt, da gehandelt werden soll, kehrt sich auf einmal
-das Verhältnis um. Macbeth schaudert, aber handelt; sein Weib, die
-Entmenschte, die Verlockerin, war vor ihm in Duncans Zimmer, sie hatte
-die Dolche in der Hand, &mdash;</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">‚hätt’ er nicht im Schlaf meinem Vater ähnlich gesehn,</div>
- <div class="verse">ich hätt’s getan!‘“</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und Grillparzer, der von Anfang an gewußt hat, wie das Genie nicht
-blind hinwirft, sondern sein Handwerk verstehn muß, fügt ganz
-begeistert hinzu: „Ich ärgere mich oft über mich selbst, daß ich die
-Idee, etwas zu schreiben, nicht aufgebe, wenn ich so was gelesen habe.“</p>
-
-<p>Sie also kann weder ursprünglich denken, noch letztgiltig handeln;
-da stellt sich ihr der Schauder in den Weg; aus dem Gebiet, das sie
-oben nicht kennt und nicht duldet, aus dem Gebiet der Erinnerungen,
-Assoziationen, Verwandtschaften und Träume, aus dem zu Gefühl
-gewordenen Leben der Vergangenheit herauf tritt etwas dazwischen und
-lähmt ihre Hand.</p>
-
-<p>Zunächst aber tritt viel mehr die Einigkeit des Paars als seine
-Getrenntheit zu Tage; das ist schauerlich wie das Eingreifen der
-Unterirdischen in das Werk der Menschen, wie diese zwei zu schnödestem
-Mordplan in ganz inniger Liebe verbunden sind. So stellen wir uns
-bewundernd und ohne Schauder einen Löwen und seine Löwin vor; nur
-daß wir hier doch von Anfang an wissen und fühlend miterleben: das
-Bluthandwerk ist nicht ihr Beruf; es sind trotz allem empfindende,
-phantasiebegabte, leidende und mitleidige Menschen!</p>
-
-<p>Zunächst aber spüren wir nur den frevlen Gegensatz zwischen ihrer Liebe
-zu einander und ihrer Unmenschlichkeit, und dazu den Gegensatz zwischen
-dem Vertrauen des Königs und ihrem Plan.</p>
-
-<p>Macbeth ist rasch vom Pferd gesprungen, ahnt die Königskavalkade dicht
-hinter sich, es ist nur Zeit für ein paar hastige Worte, aber sie
-verstehen sich sofort:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_62" id="Seite_62">[S. 62]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Geliebtes Weib,</div>
- <div class="verse">Der König ist heut’ Nacht bei uns.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>So tritt er in die Tür, und damit ist für sie in beschwörender
-Zärtlichkeit alles gesagt. Sie wendet sich sofort, in fest
-zusammengenommener, schneidender Kürze zum Praktischen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und geht?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Eine unwahrhaft zögernde, schwankende und doch vielsagende Antwort
-kommt von ihm:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Schon morgen, hat er vor.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Da, so sehr die Minute drängt, läßt sie sich Zeit zum Ausbruch, aber
-rasch, heiser, zwischen Flüstern und Schreien:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">O nimmer soll</div>
- <div class="verse">Die Sonne dieses Morgen sehn!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Der König kommt und fühlt sich ganz wohl: es ist der Abend nach der
-siegreichen Schlacht; ihm scheint eine Stimmung des Friedens und
-der Behaglichkeit in der Luft zu schweben. Und Banquo, dem allerlei
-Gedanken fürs Nächste und Entfernte durch den Kopf gehen mögen &mdash; er
-war dabei, wie dem Macbeth die Königskrone verheißen wurde, und hat
-ihn dabei gut im Auge gehabt, und ihm, Banquo, ist von den wissenden
-Schwestern verkündet worden, seine eigenen Nachkommen sollten einst
-Könige sein &mdash;, Banquo bestärkt den König in seinem harmlosen Vertrauen.</p>
-
-<p>So geht man zur Tafel. Macbeth ist noch keineswegs mit sich im reinen.
-Er nimmt keine Rücksicht darauf, daß es auffallen muß, wenn der Wirt
-seine Gäste allein läßt; er kann nicht still sitzen; er geht hinaus und
-erwägt. Es sollte schnell geschehen &mdash; aber die Folgen müssen bedacht
-werden. Wie wird’s die Welt ansehen? welches Mitleid wird aufsteigen?
-die Tat ist unerhört: der Untertan ermordet den König; der Vetter den
-Nahverwandten; der Wirt den Gast; bei Nacht den Vertrauenden; blutige
-Taten gegen ihn selbst können folgen.</p>
-
-<p>Die Frau kommt dazu; sie begreift von alledem nichts. Wozu jetzt dies
-auffällige Benehmen? Er hat’s doch schon lange<span class="pagenum"><a name="Seite_63" id="Seite_63">[S. 63]</a></span> beschlossen; jetzt ist
-die Gelegenheit, das kann er nicht leugnen; wie kann er schwanken? Er
-hat sich’s zugeschworen, hat’s ihr geschworen: König zu werden; was
-er geschworen hat, muß er tun. Nicht der entfernteste Gedanke kommt
-ihr, an welches Heilige und Unverbrüchliche gerade der Schwur des
-Menschen gebunden ist; sie versteht nichts andres in ihrem Hirn als
-dieses Festhalten am Wort; sie formalisiert ihn und nagelt ihn fest;
-eigensinnig, beschränkt wiederholt sie ihm, was er doch immer selbst
-gesagt; und um ihm vorzuhalten, was Konsequenz und was Mannhaftigkeit
-ist, zeigt sie ihm, und es verbindet sich dabei wahrhaft erhabenes
-Gefühl mit ihrer Vorstellung, was es doch heißen wolle, sich Wort zu
-halten und seinem Vorsatz treu und fest zu sein, sie zeigt ihm, was sie
-als Frau Gräßlichstes, Unnennbares zu tun imstande wäre, wenn sie’s nur
-erst sich vorgesetzt und sich und dem Gemahl geschworen hätte; sie sagt
-es und sie glaubt es:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Ich hab’ gestillt und weiß,</div>
- <div class="verse">Wie süß es ist, ein liebes Kind zu nähren, &mdash;</div>
- <div class="verse">Ich hätt’ ihm, wie es mir ins Auge lachte,</div>
- <div class="verse">Die Brust gerissen aus den weichen Kiefern,</div>
- <div class="verse">Sein Hirn zerschmettert, hätt’ ich’s so geschworen,</div>
- <div class="verse">Wie du geschworen hast!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Diese ihre Logik, Konsequenz, Entschlossenheit mit dem eiskalten
-Pathos des Willensgedankens sticht wie ein blitzender Dolch in das
-nächtige Dunkel, das wogend um ihn und in ihm braut. Der Mann täte
-die Tat, so glauben wir in dieser Stunde, niemals, wenn nicht diese
-dämonischen Mächte, dieses Teuflische wäre, wie es erst von den wüsten
-Weibern in feierlicher Begrüßung und jetzt von seiner schönen Frau
-mit seinen eignen Gedanken zu ihm spräche, wenn nicht das Ungeheure
-ihn wie überirdischer, wie Geist- und Liebeszauber anlockte. So tritt
-jetzt das Dämonische sichtbar, greifbar aus seinem Innern heraus;
-jetzt wohnen wir seiner ersten Halluzination bei: den Dolch, gerade so
-einen paßlichen für diese Tat, sieht er vor sich lockend in den Lüften
-schweben und den<span class="pagenum"><a name="Seite_64" id="Seite_64">[S. 64]</a></span> Weg weisen; nun ist er zur Tat entschlossen, wie
-einer, der unentrinnbarem Joch den Nacken beugt; er fühlt sich in die
-Geisterwelt aufgenommen, und es ist ihm, als wäre sein Mord so etwas
-wie das Tun eines Mondsüchtigen oder der Zwang, der einen Sklaven der
-Wollust auf seine Wege zieht. Er ist in den Zauberkreis getreten; der
-Bund mit den elementaren Mächten ist geschlossen; er tut, was er muß;
-ernst, schaudernd, wie ein hoffnungslos Bezeichneter.</p>
-
-<p>Derweile besorgt die Frau in umsichtiger Ruhe, was vorbereitet werden
-muß. Das kann sie gemächlich tun; was sollte sie dabei stören?
-Dieses Zubereiten des Schlaftrunks, dieses Berauschtmachen der
-Männer, das sind der äußern Erscheinung nach alles Hausfrauen- und
-Köchinnenangelegenheiten, und nichts Bildhaftes ist dabei, was aus
-ihrer Tiefe Unwillkürliches und Unbewußtes emporschnellen und ihr in
-den Weg wälzen könnte.</p>
-
-<p>So geschieht die Tat. Trunkenheit liegt über den Gästen, betäubender
-Schlaf über den Wächtern, die sie erst wie in Ausübung häuslicher
-Handwerkskunst mit Blut bemalt, er dann in raschem Entschluß tötet.</p>
-
-<p>Über Macbeth aber kommt sofort die Reuequal, das inständige Leiden.
-Stimmen tönen ihm durch die Nacht:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Schlaft nicht mehr!</div>
- <div class="verse">Macbeth mordet den Schlaf!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und er fühlt: von nun an wird er selbst nicht mehr schlafen können.</p>
-
-<p>Sie aber ist immer noch, noch lange, ganz besonnen; von Stimmen hört
-sie nur, was sie auf der Burg von Inverneß zu nächtlicher Stunde
-gewohnt ist: die Eule mit ihrem Schrei, das Heimchen mit seinem
-Gezirpe; das macht ihr nichts; sie ist in keine andre Welt eingetreten.
-Vielmehr redet sie ihm rationalistisch gut zu: über so was darf man
-nicht grübeln; man darf seine Tat nicht ansehn; ein bißchen Wasser
-wäscht das Blut von der Hand.</p>
-
-<p>Wie anders werden wir’s noch von ihr hören! Gerade das!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_65" id="Seite_65">[S. 65]</a></span></p>
-
-<p>Zunächst aber gelingt alles; das auffällige, das törichte Benehmen
-Macbeths sieht wie herausfordernde Verwegenheit des Mächtigen aus. Die
-Prinzen fliehn und bringen sich dadurch in Verdacht; so ergibt sich von
-selbst, daß Macbeth, der Erbberechtigte, der Mächtigste, König wird.
-Die Prophezeiung, die nur er und seine Frau und noch einer kennt, ist
-erfüllt; kein Verdacht wagt es, laut zu werden.</p>
-
-<p>Es schweigt vor allem &mdash; Banquo. Da scheint ein seltsam
-stillschweigendes Einverständnis zu herrschen; er ist eine Art
-Mitwisser und Mitschuldiger; er ist mit bei den Hexen gewesen. Er steht
-da wie einer, der seine Zeit abwartet. Und hat er nicht doppelt Grund
-dazu? Ist, zwar nicht ihm selbst, aber doch seinem Geschlecht, nicht
-die Nachfolge verheißen worden? Für ihn also und seine Erben soll
-Macbeth das Gräßliche getan haben? Nein; diesmal will Macbeth den Kampf
-mit dem Schicksal, mit der Vorbestimmung selbst aufnehmen; es soll
-nicht kommen, wie die Sprecherinnen des Schicksals verkündet haben:
-Banquo und dazu noch sein einziger Sohn, beide müssen sie fort aus der
-Welt. Er ist es dem Schicksal, seinem Schicksal, schuldig, sich der
-Verheißung, die einem andern zu Teil wurde, nicht zu fügen, sondern zu
-tun, was geboten ist.</p>
-
-<p>Das ist das Eigentümliche an diesem Macbeth, der sein Alles an Eines,
-an die Macht, gesetzt, der seine Phantasie nur nach diesem Einen hat
-fahren und an ihm scheitern lassen, daß er nun seinem Trieb und der
-Notwendigkeit seines Schicksals folgt wie einer Pflicht. Das hat Goethe
-gesehen: das Wollen wird in Macbeth zum Sollen. Seine Tat an Duncan hat
-er geleistet, weil er sie schuldig war, seinem Willen, dem Verhängnis,
-seiner pochenden Frau, und nun folgt Schuld auf Schuld: alles aber tut
-er finster, hart, in gepreßter Verzweiflung, wie ein Sklave.</p>
-
-<p>Daß er froh lachen oder lächeln könnte, solche Vorstellung ist uns
-unmöglich; ja später, wenn er noch eine Stufe weiter gekommen ist, wird
-er höhnisch auflachen können, wenn er<span class="pagenum"><a name="Seite_66" id="Seite_66">[S. 66]</a></span> an seine Unbesiegbarkeit und an
-die Hexenoffenbarungen denkt.</p>
-
-<p>Es wird immer einsamer um den lustlosen Mann. Noch ist er gut und
-sanft zur Königin; aber er zieht sie nicht mehr ins Vertrauen; er ist
-nicht mehr der Mann, der er früher war, wo er so gern und immer wieder
-ihr all sein Inneres eröffnete und seine Träume und Pläne mit ihr
-besprach. Er hat genug von den Folgen, die diese Vertraulichkeit gehabt
-hat; er zieht sich ins Schweigen zurück; damit schont er sie und sich
-selber. Die Ermordung Banquos, durch gedungene Mörder, die auch eigene
-Gründe zur Rache haben, entwirft er allein. Die Tat geschieht; ihr
-phantastisches Element, das dem verheißenen Schicksal entgegentreten
-sollte, mißlingt; Banquos Erbe entkommt; eine neue Bestätigung für
-die Wahrheit der Hexensprüche; aber Banquo, die Gefahr für des Königs
-Wirklichkeit, ist aus dem Wege geräumt.</p>
-
-<p>Nun aber tritt das Dämonische ganz gewaltsam aus seinem Innern heraus.
-Längst ja zwingt sich der unselige Mann zu Dingen, die über seine
-Kraft, über seine Natur gehen; in dem Augenblick, wo er da droben in
-der Bewußtseinswelt die Zunge mit seinem Willen zwingt, heuchlerisch zu
-reden und die Abwesenheit dessen zu bedauern, den er hat morden lassen,
-stellt ihm das Unterbewußtsein die Gestalt des Ermordeten, so blutig
-und entstellt, wie seine Phantasie drunten sie sich ausmalt, leibhaft
-vor Augen. Nur er sieht die Gestalt, keiner der Gäste beim Bankett,
-und ganz gewiß nicht die Lady, die uns hier noch einmal in ihrem
-Rationalismus gegenübertritt; sie versteht ganz gut, was geschehen ist;
-aber sie versteht nicht, wie man so sein kann; wollen und nicht wollen;
-überlegt tun und bereuen; wie seltsam!</p>
-
-<p>Banquos Erscheinung ist eine Halluzination der Angst und des Grauens;
-keiner hat sie gesehen, aber alle haben gehört, die fürchterlich
-verräterischen Worte ihres Königs gehört. Das Land weiß nun, daß der
-König durch greulichen Mord auf den Thron gekommen ist; seine eigne
-Zunge hat’s aus<span class="pagenum"><a name="Seite_67" id="Seite_67">[S. 67]</a></span>schwatzen müssen. Und er wiederum weiß, daß die
-andern ihn jetzt kennen: er fängt seine Schreckensherrschaft an; er
-muß. „Wir sind noch jung in solchen Taten.“ In furchtbarer Bitterkeit
-entschuldigt er sich für seine Empfindsamkeit. Er weiß: er muß
-fortfahren, wie er begonnen. Und nun <em class="gesperrt">sucht</em> er die, die einstmals
-von selbst, wie von selbst seinen Weg gekreuzt. Er weiß, hat es heute
-Abend durch Banquos Erscheinung wieder neu erfahren: mit ihm ist’s
-nicht wie mit andern Menschen. Er dient den Dämonen, sie sollen auch
-ihm dienen. Er will alles wissen, will sein Geschick ganz kennen; will
-alles tun, was das einmal Begonnene erfordert; und gälte es, weiter und
-immer weiter durch Blut zu waten. Zurück? Das ist unmöglich. Vorwärts
-also!</p>
-
-<p>Und so geht er streng entschlossen zu den Hexen in ihre Höhle. Aber sie
-sind nun, wo er selber kommt, nicht mehr die nämlichen. Die Wendung
-ist da; Hekate selbst, die Herrin und Göttin teuflischen Zaubers, hat
-eingegriffen; bisher haben die bösen Triebe und Gewalten ihm gedient
-und ihn hochgebracht; jetzt, wo er die schlimmste Mordtat begangen, wo
-er letztgiltig sein besseres Ich getötet und sich zum Weg des Unholds
-entschlossen hat, muß völlige Verblendung über ihn kommen: der Wahn,
-ein Cäsar, ein Gott, ein Unverletzlicher, ein Erkorener zu sein.</p>
-
-<p>So werden ihm in der Hexenküche die drei neuen Verkündigungen
-offenbart, die so sonderbar in einander greifen und die für ihn doch
-keinerlei Widerspruch enthalten.</p>
-
-<p>Zuerst wird er vor Macduff gewarnt. Nun, das ist gut und sicher
-ehrlich; dem hat er schon von selber nicht getraut; da soll abgeholfen
-werden. Und es wird ja auch wohl gelingen, ihn unschädlich zu machen;
-denn die zweite Verkündigung lautet, daß keiner, den ein Weib gebar,
-kein Mensch in der Welt also, ihm etwas anhaben kann; und die dritte,
-daß er unbesiegt bleibt, solange nicht der Wald von Birnam gegen seine
-Bergfestung Dunsinan anrückt! Ja ja, so schwungvoll<span class="pagenum"><a name="Seite_68" id="Seite_68">[S. 68]</a></span> in Bildersprache
-drücken sich diese phantastischen Geister aus, das kennt er schon;
-er aber, der jetzt genug hat von der Phantasie und nüchtern geworden
-ist, übersetzt es sich in unsre gemeine Menschensprache. Immer also,
-immer, sein Leben lang soll er unbesiegt bleiben! Kein Menschenkind
-soll ihn überwinden können! Jetzt hat er, was ihm einzig noch das Leben
-erträglich macht, was ihn auf einmal befreit von allen Ängsten; denn
-bei all seinen Anfällen war es ja immer die trügerische Ungewißheit,
-was ihn erschreckt hat, waren es ja vor allem die Folgen, die er
-gefürchtet hat. Aber jetzt hat er, was er braucht, was ihn festigt und
-feit, was ihn über alle andern Menschen weit erhebt: die Sicherheit!
-Eben die Sicherheit, die ihm Hekate als Höllenangebinde zugedacht hat.</p>
-
-<p>Er hat die Sicherheit, aber er ist nicht der Mann, sich in ihr zu
-wiegen; er hat nicht vergessen, womit es angehoben hat: daß die Geister
-den Spruch verkünden, und daß er selber das Amt hat, ihn auszuführen.
-Kaum einen Augenblick überläßt er sich dem Gefühl der Befriedigung;
-dann will er noch mehr wissen; sein Wille möchte übers Grab hinaus
-wirken; wird Banquos Nachkommenschaft je über Schottland herrschen?
-Und er sieht die ruhmreichen Könige vor Augen, die nicht seine, die
-Banquos Erben sein sollen. (Das empfanden Shakespeares Zeitgenossen
-nebenbei als eine Huldigung für König Jakob, der seinen Stammbaum auf
-Banquo zurückführte; uns geht das nichts an.) Macbeth hat genug von
-dem Hexenwesen; die Wut bäumt sich auf und weiß doch, daß sie gegen
-das Schicksal ohnmächtig ist; aber in Ausführung des Schicksals gilt
-es nun, grimmig im Lande zu wüten, zumal er sofort beim Verlassen der
-Höhle die bedenkliche Botschaft empfängt, daß Macduff nach England
-geflohen ist. Jetzt soll ein neues Regiment beginnen; hätte er gegen
-Macduff sofort so gehandelt, wie es sein Argwohn ihm eingab, so wäre
-das nicht geschehen. Nun ist er so weit, wie die Frau ihn hatte haben
-wollen: keine Lücke darf es<span class="pagenum"><a name="Seite_69" id="Seite_69">[S. 69]</a></span> geben zwischen Gedanken und Tat; ohne
-Besinnung, ohne Pause soll fürder ausgeführt werden, was er will, was
-er soll. Das ist von je sein Feind gewesen, das Grübeln, die Besinnung,
-die Betrachtung der Tat vor ihr und nach ihr. Jetzt hört das auf;
-er hat Sicherheit; Sicherheit vor allem über seine Aufgabe: wie ein
-Würgengel um seinen Thron zu mähen, auf daß er ungefährdet, unnahbar
-und erhaben in der Leere stünde. Macduff ist weg, der einzige, den er
-noch fürchten soll; da will er helfen, er braucht keine Geister dazu,
-will nie mehr mit ihnen zu tun haben, die ihm ein höllisches Leben
-bestimmen, aber keine Kinder und keine genießenden und entsühnenden
-Erben gewähren. Sofort soll Macduffs Burg überfallen, soll alles
-zerstört, sollen Weib und Kinder getötet werden.</p>
-
-<p>Und immer einsamer wird es um Macbeth. Auch von seinem Weib trennen ihn
-jetzt Schranken wie Tore der Hölle; da er nun geworden ist, wie sie ihn
-wollte, braucht er sie nicht mehr. Er braucht kein Gespräch mehr und
-keine Vertraute; er braucht sich nicht zu äußern und kann sich nicht
-äußern; die Tat ist seine Äußerung; er hat keine Gemeinschaft, hat
-keine Liebe, hat kein Geschlecht mehr. Er ist der Tyrann: lebendig an
-ihm sind nur seine Taten.</p>
-
-<p>So tritt er denn im Drama fürs erste in den Hintergrund, wie schon
-vorher die Lady; wir sehen seine Wirkungen. Persönlich tritt nun
-Macduff hervor, der Than von Fife, der Mann aus einer andern Welt,
-deren wir uns nun aufatmend versichern: er will nur den als König
-anerkennen, der auch die Tugenden des Herrschers hat; wundervoll ist
-diese Szene, wie Malcolm, der junge Prinz, zu dem er nach England
-kommt, ihn prüft, ob er kein Verräter, kein mörderischer Abgesandter
-Macbeths ist; wie der Prinz sich selber alle Laster zuschreibt; wie
-Macduff auf die Frage, ob so ein habgieriger, grausamer Lüstling zu
-herrschen verdiene, ausbricht:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Zu herrschen wert?</div>
- <div class="verse">Nein, nicht zu leben! &mdash; Unglücksel’ges Volk!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_70" id="Seite_70">[S. 70]</a></span></p>
-
-<p>Und gleich darauf trifft den edeln Macduff die Nachricht vom gräßlichen
-Untergang seines Hauses: von der Ermordung der Frau und der Kinder.</p>
-
-<p>Eine der innigsten Szenen Shakespeares ist das, wie der vom größten
-Leid Angesprungene kein Wort spricht, das Gesicht im Hut verbirgt und
-dann, als Worte kommen, als er im Bilde sieht, wie der Geier auf sein
-Nest losgestürzt ist, immer wieder fragt: Alle? Alle?</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">All meine lieben Küchlein? samt der Henne?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und wie er sich dann mannhaft faßt, den Schmerz um all seine Lieben
-zum Schmerz ums Vaterland, um das von einem Tyrannen gequälte Volk
-werden läßt, da kommt es in aller Ergriffenheit wie Glück über uns: wir
-haben einen Mann und Menschen gesehn, in dem Liebe, Innigkeit, Güte,
-Klarheit, Beherrschtheit in Harmonie stehen.</p>
-
-<p>Und unmittelbar &mdash; zum Beginn des Schlußakts &mdash; folgt dann die große
-Szene der Unharmonischen. Nun dürfen wir in Grauen miterleben, was
-alles in Lady Macbeth gelebt und empfunden hat, ohne daß sie’s hat
-hochkommen lassen, ohne daß sie’s gewußt hat.</p>
-
-<p>Bei dieser Szene, wo ein enger, aber gewaltig starker Verstand endlich,
-endlich überwältigt wird von der lange niedergedrückten Innerlichkeit,
-darf uns das entscheidende Wort in den Sinn kommen, das im Kaufmann von
-Venedig die Lösung gebracht hat, das Wort von dem Menschen,</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">der nicht Musik hat in ihm selbst, &mdash;</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>denn die Musik, die Harmonie war in diesem ärmsten Menschen, diesem
-bösen Weiblein gestört, und die Seelenkrankheit der Nachtwandlerin
-rührt uns nun zu Tränen beglückend wie die Auflösung einer Dissonanz.
-(Kein Wunder drum, daß diese Nachtwandelszene ganze Opern geboren hat.)
-Nun wäscht sie ohne Unterlaß und immer ohne Erfolg und ohne Ruhe die
-Flecken ab, von denen ihr Rationalismus so kühl gemeint hatte, ein
-Händewaschen genüge; nun stören Banquo und Lady Macduff ihren Schlaf,
-an deren beider Tod sie<span class="pagenum"><a name="Seite_71" id="Seite_71">[S. 71]</a></span> selbst keine unmittelbare Schuld trägt; nun
-seufzt und klagt sie aus dem Schlafe und zerstört sich von innen
-heraus. Was tief drunten in ihr verschüttet lag, hat alles, alles
-in sich gesammelt, was sie nicht des Aufmerkens für wert hielt; es
-war immer noch eine andre in ihr als die, die vor sich und der Welt
-die Rolle der Lady Macbeth spielte, &mdash; und nun ist sie gekommen, die
-Unterdrückte, und ringt gewaltig mit der bösen, falschen Tyrannin ihrer
-selbst. Man sagt später, „durch Gewalttat ihrer eignen Hände“ solle
-sie sich das Leben genommen haben &mdash; und das ist sicher wahr, für ihr
-Ende und für all die Jahre vorher, gleichviel, wie ihr äußeres Ende
-schließlich war.</p>
-
-<p>Diese Szene geht auf derselben festen Burg Dunsinan vor sich, in der
-der Tyrann haust, &mdash; aber haben wir nicht dabei immer das Gefühl,
-die beiden, die einst so nah und zärtlich beisammen waren wie ein
-Sittichpärchen, seien jetzt längst meilenweit getrennt? So wundert’s
-uns nicht, daß Macbeth, wie er mitten im letzten Verzweiflungskampf die
-Nachricht von ihrem Tod erhält, aus seiner versteinerten Öde heraus das
-Ding erst wie einen unwillkommenen Botenbericht von sich schieben will:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft2">Sie hätte später sterben sollen;</div>
- <div class="verse">Es wär’ wohl Zeit für solch ein Wort gekommen.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Dann aber kommt es doch, nicht wie Trauer um sein geliebtes Weib,
-um diesen besonderen Menschen, sondern wie eine Besinnung über die
-Sinnlosigkeit des ganzen Lebens über ihn. In diesem Augenblick, wo der
-Verblendete, der eiserne Mann der Sicherheit, sich zu besinnen anfängt,
-will auch in ihm wieder der alte Macbeth erwachen; auch für ihn ist
-diese Auferstehung die Ankündigung des Endes. Wie der Zugefrorene sich
-aber jetzt in der wüsten Welt, in seinem verwüsteten Leben umzusehen
-beginnt, was gewahrt er? Das Leben ist Kerzenlicht, das Narren ins
-modrige Grab leuchtet! Das Leben ist nichts als bewegter Schatten! Das
-Leben ist</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_72" id="Seite_72">[S. 72]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">ein armer Komödiant,</div>
- <div class="verse">Der auf der Bühn’ ein Stündlein lärmt und tobt</div>
- <div class="verse">Und dann nicht mehr gehört wird; ’s ist ein Märchen,</div>
- <div class="verse">Erzählt vom Irrsinn, voller Lärm und Wut,</div>
- <div class="verse">Dessen Bedeutung: nichts.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Nichts! &mdash; Der Systematiker des Nihilismus konnte es nicht deutlicher,
-nicht grimmiger sagen, &mdash; nichts bedeutet ihm mehr das Leben. Auch
-ist er gar nicht mehr ein Lebendiger, gar nicht mehr er selbst: nur
-noch der klapperdürre Träger eines Staatsgewandes, nur noch eine hohle
-Rolle, nur noch der Mann, der spielen muß, was die Dämonen aus ihm
-gemacht haben. Er selbst der Schauspieler, der den Tyrannen mimt, &mdash;
-aber er will, er muß ihn weiter spielen, den königlichen Herrn, der
-unbesiegbar ist. Er hat den erhabnen Wahn, den Cäsarenwahn, hat fast
-ein Gefühl, als könne er nicht sterben, &mdash; wo doch etwas irgendwo in
-ihm sich so längst nach Erlösung sehnt! Nach Erlösung aus dem Tode, den
-er als Leben führt.</p>
-
-<p>Jetzt aber kommt, woran er nicht glaubt, wogegen er sich versteinert,
-das Ende, die Nemesis, die Überwindung.</p>
-
-<p>Das Unmögliche richtet sich in seiner Welt der Tatsachenwirklichkeit
-auf &mdash; der Wald rückt gegen seine Burg heran!</p>
-
-<p>Das ist uns, auch wenn wir nichts von ähnlichen Sagen wüßten, wie
-ein Mythos: das grünende Leben empört sich gegen den Steinturm des
-Tyrannen, dem das Herz auch von Marmelstein ist.</p>
-
-<p>Wir kennen aber, aus einer deutschen Überlieferung, die Sage von dem
-König auf seiner festen Burg, gegen den am Maientag der König Grünewald
-angerückt kam, alle Krieger mit grünen Maien geschmückt; da rief die
-Königstochter:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Vater, gebt Euch gefangen,</div>
- <div class="verse">Der Grünewald kommt gegangen!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>So wird in der Sage der Winter vom Frühling besiegt. So wird auch der
-längst vereiste Macbeth von dem glühend reinen Prinzen Malcolm, von dem
-warmherzigen Macduff,<span class="pagenum"><a name="Seite_73" id="Seite_73">[S. 73]</a></span> von dem ehrenfesten alten Siward, dem weisen und
-beherrschten, überwunden.</p>
-
-<p>Die Orakel erfüllen sich und enthüllen sich in ihrer Zweideutigkeit;
-und wie um die tragische Ironie zu verdoppeln und den harten
-Tatsachenmenschen, den die Dämonie erzeugt hat, mit seinen eigenen
-Waffen zu schlagen, löst sich alles Dämonische und Zauberhafte ins
-Natürliche auf, und die Unmöglichkeit ist lange nicht so unmöglich,
-wie die gefeite Sicherheit und Majestät von Hexen Gnaden, die der
-besessene König für Wirklichkeit genommen hatte: der Wald kann freilich
-nie gegangen kommen, &mdash; aber Soldaten der Revolutionsarmee können
-Zweige tragen, um ihre große, überlegene Zahl dahinter zu bergen;
-kein vom Weibe Geborener sollte Macbeth je überwinden können, nun
-denn, Kleingläubiger, Ungläubiger, Wortgläubiger, Macduff hat aus dem
-Mutterleib geschnitten werden müssen.</p>
-
-<p>Und die Führer des Ständeheers, das den Sieg erlangt &mdash; der Jüngling,
-der Mann, der Greis &mdash; alle drei sind geprüfte Menschen der Harmonie;
-Trieb und Geist sind ausgeglichen in ihnen; ihr Fühlen, ihr Wollen, ihr
-Denken streben zur Einheit, ihr Unteres und ihr Oberes halten einander
-die Wage.</p>
-
-<p>Faust &mdash; der Faust jener Zeit &mdash; hat ein Bündnis mit dem Teufel
-geschlossen und wird am Ende vom Teufel geholt.</p>
-
-<p>In Macbeth haben sich die Teufel in der eignen Brust zusammengefunden
-mit den teuflischen Mächten der Welt; er war ein Besessener, der hoch
-kam und dem es glückte und der gebietend in der Macht stand wie mancher
-besessene Unhold; der kein Glück und keine Freude seitdem kannte; der
-wußte, daß er ein Fluch der Menschen war, und der, ohne zu wissen,
-wofür, ein Sklave der Pflicht, ein ganz hart und trocken gewordener
-Pflichtmensch, nur freilich dem Bösen verpflichtet, tapfer bis zum
-Schluß sein Dasein verteidigt, sein Nichts!</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich fechte, bis das Fleisch mir von den Knochen</div>
- <div class="verse">Gehackt ist.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_74" id="Seite_74">[S. 74]</a></span></p>
-
-<p>Daß er einst Gewissensbisse, Reue, Grauen, Angst vor Zusammenhängen und
-Folgen, Furcht vor den Menschen gekannt hat, ist ihm längst nur noch
-wie ein Märchen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Vergessen hab’ ich fast der Furcht Geschmack.</div>
- <div class="verse">Einst war die Zeit, wo meine Sinn’ erstarrten</div>
- <div class="verse">Beim nächtlichen Geschrei, wo sich mein Haar</div>
- <div class="verse">Bei einem Unglückswort erhob und sträubte,</div>
- <div class="verse">Als lebte es; ich aß mich satt an Grausen;</div>
- <div class="verse">Entsetzen, meinem blut’gen Sinn verwandt,</div>
- <div class="verse">Erstaunt mich nicht mehr.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>So wenig wie er mehr begreift, wozu man lebt, versteht er, wie man
-freiwillig dem Leben ein Ende machen, wie man dem Schicksal durch
-den Freitod entrinnen wollen kann. Nichts faßt er, was mit Freiheit
-zusammenhängt; es gibt kein vollendeteres Gegenbild des Brutus als
-diesen Zinspflichtigen des cäsarischen Dämons; wie in der letzten
-Schlacht die Not schon ans Äußerste geht, ruft er voller Hohn über so
-eine unmögliche Vorstellung:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Soll spielen ich den römischen Narren und</div>
- <div class="verse">Ins eigne Schwert mich stürzen?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>So ist dieser Tyrann, der dämonischer Ehrsucht gefröhnt hat, der Narr
-und leibeigene Knecht des Lebenstriebs, eines Lebens aber, das keinen
-andern Inhalt hat als Macht über andre, leere, ziellose Macht, die sich
-nur behaupten kann durch unausgesetzte Gewalttat und die einen Sinn,
-auch nur für ihren Träger selbst, so wenig hat wie einen Erben. Und
-&mdash; er hat es in einer Stunde, wo ihm mit dem einstmals Liebsten alles
-hinsinken und schwinden wollte, durchschaut &mdash; solch ein öder Wille zum
-Dasein und zur Macht ist Wille zum Nichts. Solange er Angst und Reue
-und Qual hatte, war er noch irgendwie im Reich der Lebenden gewesen;
-sowie ihm die Hölle ihre unbewegte Ruhe und Sicherheit gegeben hatte,
-gehörte er dem Reich der Leere, dem Nichts an und war nur noch ein
-bewegter Schatten, ein Bühnen<span class="pagenum"><a name="Seite_75" id="Seite_75">[S. 75]</a></span>held mit allerlei Lärm und Wut, der seine
-Rolle gut zu Ende führte und tapfer wie ein Held den Schlachtentod fand.</p>
-
-<p class="mtop2">Soviel ich weiß, können dem Dichter des Macbeth nur zwei spätere an die
-Seite gestellt werden. Den einen hat Otto Ludwig genannt: Goethe, den
-Dichter des Tasso. Für den andern halte ich Dostojewskij, den Dichter
-des Raskolnikoff und des Iwan Karamasoff.</p>
-
-<p>Wenn ich hier bei genialen Menschen, die zeitlich weit auseinander
-sind, von An-die-Seite-stellen rede, so kann ich damit nur meinen, daß
-ein Gleiches da ist und ein Trennendes, nenne man’s Fortschritt oder
-wie man wolle, es wird der Änderung im Geist der Zeit, aus dem oder
-gegen den der Künstler sich erheben muß, entsprechen.</p>
-
-<p>So auch, wenn wir von Shakespeare aus rückwärts gehn und in der
-Vergangenheit einen suchen, der seinesgleichen, der wie er also
-und anders war. Wir werden keinen eher nennen als Sophokles und
-werden erkennen: das Verhältnis des Menschen zu seinem Schicksal,
-das Verhältnis innerer und äußerer Dämonie ist in aller Gleichheit
-des Wesentlichen bei den beiden Dichtern ein anderes; die Macht der
-Vernunftsphäre, die Freiheit, in der der Mensch gegen das Verhängnis
-steht, die Macht des Individuums, sich zu wandeln und zu entwickeln,
-ist in Shakespeare größer geworden. Selbst an dem finstern, strengen
-und streng behandelten, aus der Bahn der Gewöhnlichkeit von den Mächten
-ins Reich metaphysischer Lockung und Verfolgung gehobenen Macbeth und
-in andrer Art an seiner Gefährtin erkennen wir die Möglichkeit des
-μετανοεῖν, der Buße, der Umkehr und Heimkehr ins wahre Wesen, das
-keinem Lebendigen in seinem Innern ganz und gar fehlen kann.</p>
-
-<p>Und dasselbe Verhältnis sehen wir fortschreitend zwischen Shakespeare
-und den beiden Dichtern, die nach ihm kamen. Das Gleiche in den
-Werken der drei Dichter, die ich nannte &mdash; Shakespeare, Goethe und
-Dostojewskij &mdash;, ist, daß in<span class="pagenum"><a name="Seite_76" id="Seite_76">[S. 76]</a></span> vollendeter Art der Charakter sich selber
-sein Schicksal baut, daß nicht hier die Tat ist und dort, nachher, von
-außen die Vergeltung kommt, sondern daß Tat und Leiden ein einziger
-Zusammenhang sind: in der Tat, im ursprünglichen Wesen, das die Tat aus
-sich entlassen hat, liegt das Leiden, die Strafe.</p>
-
-<p>Ödipus straft sich selbst für das, was die Götter dadurch taten, daß
-sie ihm sein Schicksal gaben.</p>
-
-<p>Diese Männer neuerer Zeit indessen sind vom Weltengeist gestraft, nicht
-mit äußerem Schicksal zunächst, sondern mit ihrem inneren Wesen. Und
-was von außen als Strafe über sie hereinbricht, ist in Wahrheit der
-Anfang der Erlösung: auch für Macbeth, der längst kein Lebendiger mehr
-ist, wenn der Tod ihn von seinem Posten abruft.</p>
-
-<p>Hier aber fängt gerade der Unterschied an zwischen den Dichtern unserer
-näheren Zeit und Shakespeare: Strafe, Sühne, tragischer Ausgang fällt
-für die modernen Tragiker nicht mehr so unbedingt mit dem Lebensausgang
-zusammen. Den Knalleffekt des gewaltsam aus dem Leben gerissenen und
-dann als Leiche daliegenden Menschen braucht unser Empfinden und unser
-Geist &mdash; denn die hohe Dichtung wendet sich keineswegs bloß an die
-Empfindung &mdash; nicht mehr. Tasso wie Macbeth, beide leben ihre Tragödie,
-solange sie leben; aber für Macbeth und seine Welt ist es so notwendig,
-daß er als einer, der gewaltsam gelebt hat, gewaltsam von hinnen geht,
-wie für Tasso, daß das Äußere, Plötzliche, Einmalige des Ausgangs ohne
-Bedeutung ist. Bei dieser Gestalt kommt alles nur darauf an, daß ihr
-Wesen und Leben nicht in die Umgebung, nicht in die Welt paßt.</p>
-
-<p>Und wieder einer andern Tönung des mit der Zeit und dem Volksschlag
-veränderlichen Teiles der Ausdrucksgestalt des Geistes gehören
-Dostojewskijs Gestalten an. Raskolnikoff und gewiß auch &mdash; das Werk ist
-unvollendet geblieben &mdash; Iwan Karamasoff, beides Mörder gleich Macbeth,
-Iwan ein indirekter, der durch Psychologie die Mordtat zustande<span class="pagenum"><a name="Seite_77" id="Seite_77">[S. 77]</a></span>
-bringt, sie beide überleben ihre Tragik, leben über sie hinaus,
-überwinden ihr So-tun-müssen, So-wollen-müssen, das ihre Qual bedingt
-hat.</p>
-
-<p>Ihre Tragik, ihr Aufruhr, ihr Nicht-in-die-Welt-passen und Zerfall mit
-sich selbst, mit Gott und der Welt, ist ein Krampf und Übergangszustand
-der Jugend.</p>
-
-<p>Da ist ein Neues, und Goethe der junge Dichter hat nicht gewußt, nicht
-gestaltet, was Goethe der Mensch langen Lebens würdevoll bewährt hat:
-daß Werther nämlich sich in Wahrheit nicht hat töten, sondern nur den
-Krampf der Jugend bei furchtbarem Zusammenprall mit der schnöden Welt
-hat überwinden müssen.</p>
-
-<p>Das aber gibt es bei diesen Gestalten Dostojewskijs: sie haben einen
-so starken Grad der Erkenntnis in die Zusammenhänge des Innen und
-Außen, ihres Wesens und der geschichtlich gewordenen Umgebung, daß
-ihre Leidenschaft, ihr Napoleons- und Mordtrieb und ihr Leiden nur ein
-Entwicklungsstadium in ihrem Leben bilden, daß sie durch Resignation
-und Hoffnung, Hoffnung nicht so sehr für sich wie für die Menschheit,
-gerettet werden.</p>
-
-<p>Etwas von dieser Entwicklung fängt gerade mit Shakespeare an: in
-seinen beiden modernsten Tragödiengestalten Troilus und Hamlet und in
-der Entwicklung des trotz allem nichttragischen Schauspiels Maß für
-Maß. Troilus der Jüngling wächst und reift während der Handlung; als
-Lebender sieht er am Ende des Dramas gefaßt und groß dem Untergang
-seines Volkes entgegen. Und Hamlet? Wie er leben mußte, in dieser Welt,
-das ist für uns seine Tragödie; daß er am Schluß gewaltsam stirbt,
-und die Art, wie dieser Tod herbeigeführt wird, das hat etwas fast
-Nebensächliches, ja sogar Ungemäßes und Konventionelles an sich.</p>
-
-<p>Und vielleicht darf ich hier sogar mit einer persönlichen Erinnerung
-kommen. Als ich ein junger Student war und mich viel mit Hamlet
-beschäftigte, konnte ich nicht anders: ich erklärte mir das ganze
-seltsame Wesen des Dänenprinzen,<span class="pagenum"><a name="Seite_78" id="Seite_78">[S. 78]</a></span> seine Nähe am Wahnsinn, sein
-furchtbares Leiden an sich und den Menschen &mdash; wovon allem wir an
-seinem Ort ausführlich gesprochen haben &mdash;, ich erklärte mir das alles
-mit der Pubertät, mit Jugend und Übergangszustand also.</p>
-
-<p>Kein Zweifel ist, daß auch in Hamlet potentiell eine Macht der Vernunft
-vorhanden ist, deren höchste und reinste Gestalt, die Harmonie zwischen
-Fühlen und Denken und Handeln, auch die höchste Tragik überwinden kann,
-weil kein Äußeres, auch der Himmel und sein Verhängnis nicht, mächtiger
-ist als der Mensch, der überwunden hat.</p>
-
-<p>Was da mit der Gesamthaltung des Sinnspiels Der Kaufmann von Venedig,
-mit dem Schicksal und der Läuterung des Angelo und Troilus beginnt,
-was im Vernunftwesen Hamlets angelegt ist, das wird auf Shakespeares
-letztem Gipfel zu weihevoller Höhe gehoben im Wintermärchen und zumal
-im Sturm, der, wie wir sehen wollen, von nichts anderm handelt als von
-dem Sieg des Geistes über den Trieb.</p>
-
-<p>Tragik aber bleibt immer das Teil derer, deren Wesen nicht nur im
-Triebhaften wurzelt &mdash; so sind wir alle beschaffen &mdash;, sondern aus
-denen der Trieb wie Blattwerk und Blüte und Flamme zehrend, zündend
-und verderbend nach oben schlägt. Auch sie haben Erkenntnis, manchmal
-hohe und starke; aber nur eine solche, die ihr Licht auf den Trieb
-wirft und dies Nächtige sichtbar macht, auch für sie selbst; nicht aber
-die Erkenntnis, die Macht über den Trieb ist und beherrschend mit ihm
-fertig wird.</p>
-
-<p>Ein solcher Triebmensch, ein Getriebener also, ein Bewirkter, Passiver,
-von Dämonen Gepackter, so sehr er sich zumal später, nach seiner
-Krise, einbildet, eine aktive Natur zu sein, ist Macbeth der König,
-ganz anders denn doch von seiner innern Bestimmtheit seinem Schicksal
-zugetrieben als König Ödipus, bei dem die Hybris und der Herrscherwahn
-nur eine Begleiterscheinung, eine Folge und Widerspiegelung des
-unbegreiflichen Beschlusses der Götter ist. Und als<span class="pagenum"><a name="Seite_79" id="Seite_79">[S. 79]</a></span> ein Triebmensch,
-diesmal aber einer, der zum Lernen, zur Entwicklung der Vernunft wie
-der Innigkeit noch im höchsten Greisenalter nicht zu alt ist, der vom
-Schicksal in die Schule genommen wird und bei der Natur, beim Volk, bei
-Narren und nicht zuletzt beim Unglück in die Lehre geht, wird sich uns
-auch ein ganz anderer König enthüllen &mdash; jeder Zoll ein König! &mdash; das
-nächste Mal &mdash;, König Lear.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_80" id="Seite_80">[S. 80]</a></span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Koenig_Lear">König Lear</h2>
-
-</div>
-
-<p class="initial">Im Jahre 1603 erschien ein Buch eines gewissen Harsnet „Entdeckung und
-Erklärung hervorragender papistischer Betrügereien“; darin findet sich
-ein großer Teil der seltsamen Teufelsnamen, die Edgar Gloster in seinem
-vorgegebenen Wahnsinn im Munde führt. Es ist also wahrscheinlich, daß
-Shakespeare das Werk für diese Einzelheit benutzt hat, woraus sich
-ergibt, daß der König Lear, wofür auch gar nichts spräche, nicht vor
-1603 verfaßt sein wird. Im Jahre 1605 erschien ein Schauspiel, „Die
-echte Chronikenhistorie von König Leir und seinen drei Töchtern“.
-Dieses Stück hat, vom Rohen der Handlung abgesehen, so gut wie keine
-Ähnlichkeit mit Shakespeares Stück und weist von seinem Geist so wenig
-wie von seiner Komposition und Sprache etwas auf. Da nichts sicherer
-ist, als daß dieses Stück nichts mit Shakespeare zu tun hat &mdash; außer
-Tieck, der bei all seinem beinahe tiefen Verstand eine wahre Sucht
-nach dem Verkehrten hatte, hat es, glaube ich, nur Simrock für möglich
-gehalten, der vom Volkstümlichen im allgemeinen wie von Shakespeares
-Volksart im besondern einen falschen Begriff hatte &mdash;, so kann man
-annehmen, daß hier ein älteres Stück rasch gedruckt und als das echte
-bezeichnet wurde, weil damals gerade Shakespeares Stück neu, noch nicht
-gedruckt, aber begehrt war. Sicher wissen wir, daß Shakespeares König
-Lear 1607 mit der Bemerkung ins Buchhändlerregister eingetragen wurde,
-das Stück sei Weihnachten 1606 aufgeführt worden; diese Aufführung,
-die vor dem König in Whitehall stattfand, braucht aber nicht die erste
-gewesen zu sein. 1608 erschienen dann tatsächlich zwei von einander
-abweichende Quartausgaben des Stückes. Der Text, den die Gesamtausgabe
-von 1623 bringt, ist in vielem einzelnen bedeutend besser; dafür
-fehlen ihm aber wichtigste Szenen, so vor allem die, wo Lear in
-Wahnsinnswut seine Töchter aus<span class="pagenum"><a name="Seite_81" id="Seite_81">[S. 81]</a></span> der Luft zusammenballt und vor die
-Richter stellt. Da diese Nachlaßausgabe trotz allem redlichen Willen
-der Herausgeber Liederlichkeiten genug begeht, da ihr Text nicht im
-entferntesten kanonische Geltung hat, da er so wenig von Shakespeare
-endgültig festgesetzt worden ist wie der, den die bei seinen Lebzeiten
-erschienenen Raubausgaben bringen, da man auf alle möglichen Gründe zur
-Erklärung der Auslassung raten kann, haben wir dem Schicksal lediglich
-dankbar zu sein, daß wir diese prachtvolle Hauptszene haben; sie aus
-dem Text wegzulassen und in den kritischen Apparat zu verbannen, blieb
-dem Tieck <em>redivivus</em> unserer Tage Gundolf vorbehalten.</p>
-
-<p>Die Geschichte vom König Lear war offenbar sehr bekannt und beliebt;
-ich nenne hier, ohne auf einzelnes einzugehen, die Quellen, die
-Shakespeare sicher bekannt waren: Mitte des 12. Jahrhunderts verfaßte
-der Bischof Galfried von Monmouth nach Überlieferungen in seiner
-Heimat Wales die „Geschichte der britischen Könige“, die 1508 in Paris
-lateinisch gedruckt erschien; darin berichtet er auch von Lear und
-seinen drei Töchtern. In allem Wesentlichen stützte sich Shakespeare
-aber wieder auf Holinsheds Chronik, deren zweite Ausgabe aus dem Jahr
-1587 stammt. Dichterische Bearbeitungen fand er in dem Lehrgedicht
-„Spiegel der Obrigkeiten“ von 1575 und in Spensers „Feenkönigin“ von
-1590. Das erwähnte Chronikendrama wird er doch wohl gekannt haben; eine
-der hölzernen Gestalten, die sich in Shakespeare zu seinem wundervollen
-Kent verwandelt haben kann, der in der sonstigen Überlieferung kein
-Vorbild hat, unterstützt die allgemeinen Erwägungen, die dafür
-sprechen. In allem übrigen aber hat er das biedere Ding, das so
-ungefähr auf dem Niveau von Hans Sachs steht, so gar nicht benutzt, daß
-keinerlei wirklicher Beweis dafür da ist, daß er es gekannt hat.</p>
-
-<p>Nun ist aber in der ganzen Überlieferung von den Vorfällen im Haus
-Gloster mit keinem Wort die Rede.<span class="pagenum"><a name="Seite_82" id="Seite_82">[S. 82]</a></span> Shakespeare flocht diese Tragödie
-kunstvoll in die Lear-Tragödie ein, indem er eine ganz andere Fabel,
-die Geschichte vom paphlagonischen König, die er in Sidneys „Arcadia“
-vom Jahr 1590 fand, benutzte.</p>
-
-<p>All diese Texte, die Shakespeare vorlagen, sind im Original
-und in guter deutscher Übersetzung in einem sehr hübschen und
-lehrreichen Büchlein zu finden, dem ersten Band einer Sammlung von
-„Shakespeares Quellen“, die Alois Brandl im Auftrag der Deutschen
-Shakespeare-Gesellschaft herausgibt.</p>
-
-<p>Seien nun zunächst die Grundelemente der überlieferten äußern Handlung
-und Shakespeares Abweichungen von den groben Zügen dieser Fabel
-zusammengestellt.</p>
-
-<p>Die Regierung des Britenkönigs Lear, der in noch älterer Gestalt
-der Sage ein keltischer Gott gewesen zu sein scheint, wird in eine
-fabelhafte Vorzeit verlegt; wir haben die Wahl, ob wir das Jahr 600
-oder gar 800 vor Christus nennen wollen. Immer ist er bei Beginn der
-merkwürdigen Geschehnisse sehr alt. Er hat drei Töchter, deren jüngste
-sich durch Schönheit und Klugheit auszeichnet und von ihm besonders
-geliebt wird; die beiden andern sind, wie wir im Märchen so häufig
-hören, böse und neidisch. Nun will er das Reich teilen und zugleich die
-Töchter verheiraten. Damit in Verbindung stellt er ihnen die Frage,
-welche von ihnen ihn am liebsten habe. Die bösen Töchter antworten
-schwülstig schmeichlerisch; Cordelia &mdash; die Überlieferung ist in der
-Deutung dieses schwierigen Charakters nicht ganz einig &mdash; spricht sich
-bald trocken, bald trotzig, bald keusch zurückhaltend aus; immer aber
-für ihn sehr unbefriedigend und überraschend. Sie wird enterbt; aber
-der König von Frankreich nimmt sie auch so, als armes Mädchen, zur
-Frau. Lear wird dann durch Goneril und Regan schlecht behandelt, sein
-Rittergefolge, das er sich ausbedungen hatte, immer mehr verkleinert.
-Zuletzt geht es ihm bei diesen vorgezogenen<span class="pagenum"><a name="Seite_83" id="Seite_83">[S. 83]</a></span> Töchtern so schlecht,
-daß er nach Frankreich flieht. Dort findet er am Hof die liebevollste
-Aufnahme. Es kommt zum Krieg; Frankreich siegt; Lear wird wieder
-König und lebt noch ein paar Jahre. Nach seinem Tod besteigt Cordelia
-den Thron. Etliche Jahre später aber erheben sich die Söhne ihrer
-Schwestern gegen die Herrschaft der Tante und erlangen den Sieg; sie
-wird gefangen gesetzt und erhängt sich im Gefängnis.</p>
-
-<p>Hier nun können wir Shakespeare sehr schön bei der Arbeit beobachten;
-wir sehen, wie er aus kompositorischen und inneren Gründen
-zusammengezogen und geändert hat, wie er aber dabei von den Elementen
-der Tradition in irgend einer Umgestaltung noch nimmt, was er irgend
-brauchen kann. Frankreich und Cordelia siegen in der Überlieferung;
-Lear wird wieder König; etliche Jahre später wird Cordelia in einem
-neuen Krieg besiegt. Diese Dehnung am Schluß konnte der Dichter nicht
-brauchen; ein Sieg Frankreichs über die Briten paßte also nicht zu
-seinem Schluß; er wird auch sonst keine Lust gehabt haben, ihn ohne Not
-auf die Bühne zu bringen. Aber daß Lear wieder König wird, entsteht,
-wenngleich nicht für Jahre, so doch für Augenblicke irgendwie vor
-unsrer Vorstellung: er wird wieder groß, königlich, gebieterisch, ehe
-er stirbt. Cordelia in der Überlieferung erhängt sich im Gefängnis nach
-ihrer Niederlage; bei Shakespeare wird sie gleich das erste Mal besiegt
-und von Edmund verräterisch ermordet; aber die Tat geschieht ebenfalls
-im Gefängnis und durch den Strick.</p>
-
-<p>Aber was hat Shakespeare sonst noch der dürren Fabel gegeben! Seine
-wichtigste Zutat ist Lears Wahnsinn, von dem die Überlieferung nichts
-weiß, und alles, was damit zusammenhängt; die Nachtszenen im Gewitter
-auf der Heide, in der Hütte, auf dem Pachtgut. Kents Widerspruch bei
-Lears Verstoßung Cordelias, seine Verbannung und Treue sind neu;
-wie gesagt, eine Spur davon bot das ältere Drama. Wie Cordelia zum
-König von Frankreich kommt, ist völlig<span class="pagenum"><a name="Seite_84" id="Seite_84">[S. 84]</a></span> verändert; da hat Shakespeare
-vor allem viel Liebesromantik, die ihm in dieses Stück nicht paßte,
-weggelassen; dafür hat er die Doppelwerbung Burgunds und Frankreichs
-erfunden, um Frankreichs edle Gesinnung in Kürze zu zeichnen.
-Wiederum Shakespeares Erfindung ist, daß die beiden Ehemänner der
-bösen Schwestern sich wesentlich unterscheiden; bei ihm ist Gonerils
-Gemahl Albanien ein edler, rechtschaffener Mann; das brauchte er im
-Zusammenhang der Glosterhandlung, brauchte es wohl auch zum Ersatz des
-Königs von Frankreich, der ganz in den Hintergrund trat. Der Narr ist
-völlig Shakespeares Erfindung. Und dann die ganze Glosterhandlung:
-Glosters Erlebnisse mit den beiden Söhnen, mit Regan und Cornwall; des
-Bastards Edmund Beziehungen zu Goneril und Regan; Edgars verstellter
-Wahnsinn und Zusammenhang mit Lear; Glosters Blendung und Erlebnisse
-mit dem Sohn und Lear; Edmunds entscheidendes Eingreifen in den Krieg
-und gegen Cordelia: all diese aufs engste verflochtenen Beziehungen der
-drei Gloster zu Lear und seinen Töchtern stammen ganz von Shakespeare,
-können natürlich auch in der Geschichte des paphlagonischen Königs
-nicht vorgebildet sein.</p>
-
-<p>Zwei sinnvoll nebeneinander laufende und aufs natürlichste ineinander
-verflochtene Handlungen, reichlich Stoff für ein großes Drama hätte
-Shakespeare in der ursprünglichen Überlieferung gehabt: Lears
-Erlebnisse mit den Töchtern; Cordelias und des Königs von Frankreich
-Liebesabenteuer. Das hätte ein Stück werden können, mit seinem
-Ineinander des triebhaft Wilden, Willkürlichen in der alten Generation
-und des freien Liebesspiels in der jungen, ganz anders als das hölzerne
-Chronikenspiel es machte, ganz shakespearisch, so wie Shakespeare eine
-ähnliche Doppelfabel in der Tat später im Wintermärchen behandelt
-hat. Aber daß es ihm diesmal auf ganz anderes ankam, zeigt eben die
-Tatsache, daß er das Liebesspiel unschuldiger Jugend in Wald und
-freier Natur, dem er sich sonst so oft zugewandt hat,<span class="pagenum"><a name="Seite_85" id="Seite_85">[S. 85]</a></span> radikal aus dem
-überlieferten Stoff austilgte und statt dessen mit der Glosterhandlung
-Ereignisse einfügte, die gegen Lears Geschichte sich nicht abheben,
-sondern das nämliche Thema verstärkt variieren und die Lears Erlebnis,
-das er selbst so überraschend in seinen Reden manchmal ins Sexuelle
-hinüberspielt, auch in der Handlung, die wir vor Augen haben, in
-den Vorgängen zwischen dem Bastard Edmund und Lears Töchtern, in
-Verbindung bringen nicht mit unschuldiger Liebe, sondern mit arger und
-frevelhafter Verkuppelung von Geschlechtstrieb und Machtgier.</p>
-
-<p>König Lear, wir sehen es mit seinem ersten Auftreten und blicken immer
-tiefer in seinen innern Zustand hinein, ist ein Mann des Triebs, der
-Willkür, gutartig dabei, aber jäh, ungezügelt. Ungeheuer stark prägt
-sich sein Königsbewußtsein aus; er ist eigensüchtig und eigensinnig,
-ist es von je gewesen und in seinem hohen Alter noch viel mehr
-geworden. Aber eine ganz besondere Spielart in Shakespeares Sammlung
-gebietender Triebmenschen stellt er vor. Ohne Frage hat Lear mit
-Macbeth, mit König Claudius, mit Richard III. Züge genug, entscheidende
-Züge gemeinsam; am ehesten aber wirkt er, wie ein in langer
-Regierungszeit von keiner Rebellion gestörter, alt gewordener Richard
-II.; eine unverwüstlich gute Anlage ist in ihm, und sein Schöpfer,
-so scharf er ihn ansieht, entzieht ihm niemals seine Sympathie. Auch
-insofern darf er mit König Leontes aus dem Wintermärchen verglichen
-werden. Der wird von der Raserei seines eingewurzelten Triebs, seiner
-Willkür und Tyrannei im Gang der Handlung, vor allem durch das
-Eingreifen einer resoluten Frau, die ihn in die Kur nimmt, geheilt.
-Die Gattin, der Gegenstand seiner Wut, wird ihm weggenommen; er
-glaubt, durch sein Gericht in den Tod; in Wahrheit durch Intrige vor
-ihm verborgen. So ist das Wintermärchen, obwohl es in einem Punkt
-bis ins Allerletzte der Seelenergründung geht, doch keine Tragödie
-und kein Lebensdrama geworden, sondern ein Spiel; darum<span class="pagenum"><a name="Seite_86" id="Seite_86">[S. 86]</a></span> auch hat in
-ihm die heitere Liebesepisode und so manche andre Erholung Platz,
-und die Heilung und Befreiung des Königs ist der Zeit anvertraut,
-die übersprungen wird. Wie anders im Lear! Da sind wir dabei, wie
-allmählich, Stufe um Stufe, auf seltsamstem Weg die neuen Umstände,
-die furchtbarsten Erfahrungen eine Wandlung und Läuterung von innen
-hervorbringen.</p>
-
-<p>Lear der König, der alte Mann, der Vater legt großen Wert auf
-die Liebe; aber &mdash; Strindberg hat gut darauf hingewiesen &mdash; der
-Eigenwillige, Heftige, Launische versteht unter Liebe vor allem: sich
-lieben lassen. Mildernd ist da allerdings zu sagen: er ist alt, fühlt
-sich hinfällig, hat, ohne daß er’s in seinem starken Verlangen nach
-majestätischem Auftreten zeigen will, das Bedürfnis, sich anzulehnen;
-sein starkes Reden, Pochen und Kopf-in-den-Nacken-werfen täuscht nicht
-darüber, er ist schon ein wenig weinerlich geworden; er blickt sich,
-nur soll man’s nicht merken, nach Liebe und Pflege um.</p>
-
-<p>Wie mag er früher gewesen sein, als er noch rüstig war, in der
-Manneszeit, in der Jugend? Auch da hat Strindberg etwas Interessantes,
-auch für ihn selbst Bezeichnendes gefragt: was hat König Lear
-eigentlich für eine Frau gehabt? Jetzt ist sie tot. Wie hat er mit
-ihr gelebt? Die Kinder dieser Ehe sind jedenfalls sehr ungleich
-ausgefallen, und ungleich werden wohl auch ihrer beider Naturen,
-untereinander und jede in sich, gewesen sein; ungleich etwa auch Art
-und Grad ihres Zusammenlebens. Erwähnt wird die Frau nur einmal. Wie
-Regan den Vater, der sich unzeitig bei ihr einquartieren will, mit kaum
-unterdrücktem Zorn begrüßt:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich freu’ mich, Euer Majestät zu sehn,</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>da erwidert er mißtrauisch:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Regan, ich denk’, du tust’s, und weiß den Grund,</div>
- <div class="verse">Warum ich’s denke: wärst du nicht erfreut,</div>
- <div class="verse">Ich schiede mich von deiner Mutter Grab,</div>
- <div class="verse">Weil’s eine Ehebrecherin verschlösse.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_87" id="Seite_87">[S. 87]</a></span></p>
-
-<p>Schließlich heißt das nur in einer etwas blühenden Gleichnissprache: Du
-bist mein echtes Kind nicht, wenn du dich nicht freust, deinen Vater
-zu sehen! Aber dies Stück stammt aus der Periode, wo Shakespeare schon
-lange nicht mehr die üppige Sprache mit sich, sondern höchstens mit
-den Personen davonlaufen läßt, für deren Charakter und Erleben sie
-kennzeichnend ist; und überdies dürfen wir glauben, daß dem reifen
-Dichter, als er Lear gerade so und nicht anders reden ließ, die Frage
-nach Lears Weib schon auch selber einfiel, und vor allem: wir werden
-noch hören, wie Lear später, wo mit der Tollheit die Erinnerungen
-farbig und brennend heraufgekommen sind, sich über den Zusammenhang von
-Machtwillkür und Weibsgemeinheit äußern wird. Ein gewisser Einblick
-in das frühere Leben und die Beschaffenheit der Ehe eröffnet sich da
-schon, und mehr als diese allgemeine Stimmung brauchen wir nicht; mehr
-hat auch der Dichter selbst nicht gewußt.</p>
-
-<p>Was die beiden ältesten Töchter über ihren Vater äußern, soll wohl
-vor allem ihre Lieblosigkeit kennzeichnen; der böse Blick aber sieht
-scharf, und was sie von den Schwächen, den Altersschwächen ihres
-Vaters sagen, finden wir im Sachlichen selbst bestätigt und glauben
-den Töchtern gern, daß das im Alter sich nur verstärkt hat, aber
-schon immer seine Manier war. Und wenn nun Goneril, das junge Weib,
-klagt, „die besten rüstigsten Jahre seines Lebens“ seien auch schon
-voll Übereilung gewesen, so finden wir das recht glaubhaft; sie wird
-sich aus ihrer Kinderzeit, etwa auch aus Erzählungen, an genug solche
-Auftritte erinnern. Er ist ein Mann, von dem ungestüme Launen, jähe
-Machtsprüche zu erwarten sind. Vielleicht ist aber doch die Szene,
-mit der die Handlung einsetzt, das tollste Stück, das er je geleistet
-hat. Die beiden ältesten Töchter sind schon verheiratet; um Cordelia,
-die jüngste, bewerben sich zwei hochansehnliche Freier. Das wurmt ihn
-innerlich schon, ohne daß er sich’s eingesteht, daß das jüngste und
-liebste Kind<span class="pagenum"><a name="Seite_88" id="Seite_88">[S. 88]</a></span> ihn nun auch noch verlassen, einem andern in Liebe folgen
-soll:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sie war mein liebstes Kind; des Alters Trost</div>
- <div class="verse">Hofft’ ich von ihrer Pflege.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Sie hätte ganz bei ihm bleiben sollen; er ist nicht der Mann zu
-begreifen, wie man einen andern lieb haben kann; und nun soll sie
-gar so weit weg; zwei Ausländer, man könnte fast Schlimmeres sagen,
-Landesfeinde bewerben sich um sie; die beiden älteren Töchter haben
-wenigstens Herzöge Britanniens zu Männern genommen. Nun wird sie wohl
-gar, wenn er ihr schon ein Drittel des Landes gibt, die meiste Zeit
-fort, drüben in Frankreich oder Burgund sein. Auf jeden Fall will er
-sich’s jetzt bequem machen, will die Last der Regierung auf seine alten
-Tage los sein, aber ein reiches, üppiges, königlich gebieterisches
-Leben mit Jagden und Festen und Ritterfahrten weiter führen. Diesen
-seinen Entschluß betrachtet er als einen edelmütig liebevollen
-Verzicht, als Großmut; er hält es für selbstverständlich, daß die
-Töchter und der Hof ihn so nehmen müssen; und da ist es, meint er,
-das wenigste, daß sie ihm dafür jetzt, in feierlicher Staatssitzung
-versichern, wie lieb sie ihn haben, das heißt, wie gut er ist.</p>
-
-<p>Und gerade das kann Cordelia nicht! Ihre beiden Schwestern nehmen die
-Sache politisch; wenn Paris eine Messe wert ist, sind sie ja wohl keine
-Teufelinnen aus der Hölle, sondern bloß Fürstinnen durchschnittlicher
-Art, wenn sie für ein Drittel Britanniens ihrem despotischen Vater mit
-schönen Redensarten um den Bart gehen. Wie man Shakespearephilologie
-von seiner übrigen Gesinnung trennen kann, verstehe ich nicht,
-aufrichtig gesagt; ich habe in der Tat gar nichts dagegen und sehr
-viel dafür, wenn man sich auf den wunderschönen Standpunkt Cordelias
-stellt; aber damit, daß man ihre Haltung bewundert und die der
-andern Schwestern als etwas abgründlich Schlechtes, als schnöde
-Heuchelei verdammt, ist es nicht getan. Unser ganzes öffentliches,
-gesell<span class="pagenum"><a name="Seite_89" id="Seite_89">[S. 89]</a></span>schaftliches und Familienleben wird radikal umgestaltet, wenn
-man auf Cordelias Boden tritt. Goneril und Regan benehmen sich höchst
-abscheulich und ganz nach der Regel. In Cordelia, die bisher ein Kind
-war und nun vielleicht zum ersten Mal berufen ist, vorzutreten und ihr
-Inneres zu offenbaren, tritt diesem herrischen, eigensüchtigen, an
-Liebedienerei gewöhnten König zum ersten Mal ein Ausnahmemensch, zum
-ersten Mal jemand entgegen, dem das Gebot des Herzens wichtiger ist als
-alles andre in der Welt. Und das ist sein eignes, sein liebstes Kind!
-Keine Frage, er weiß es bloß nicht, darum liebt er sie vor allen, weil
-ihre Innigkeit, ihre Menschlichkeit, ihre Echtheit ihm wohltut; weil
-sich die Übereinstimmung von Fühlen und Handeln, die ihr notwendig
-ist, in ihren Bewegungen, ihrem Antlitz, dem Blick ihrer Augen und
-hundert täglichen Kleinigkeiten äußert. Keineswegs kann man sagen, daß
-sie eine Fanatikerin der Wahrheit wäre; dann müßte das Denken in ihr
-besonders entwickelt sein, und sie könnte dann ihrer echten Liebe zum
-Vater wahrscheinlich einen recht starken Ausdruck geben. Sie ist aber
-in keiner Weise unter wahrhaften Menschen eine Ausnahmeerscheinung;
-sie ist es nur in der knechtisch-lügnerischen Umgebung, wie man sie
-allenthalben, ganz besonders aber am Hofe trifft. Ein sprödes Mädchen
-ist sie; sie kann ihr Herz nicht auf dem Präsentierteller herumreichen,
-kann nicht in einer Staatssitzung, kann vor allem nicht zu einem Zwecke
-von ihren Gefühlen sprechen. Von den Gefühlen zu sprechen geht gegen
-das Gefühl; Gefühle äußern sich im stillen, fortwährenden Tun und in
-plötzlichen Erhebungen und Aufwallungen. Der König zwar erwartet, wenn
-er verkündet, er wolle zurücktreten und das Reich seinen Töchtern
-und Tochtermännern schenken, müsse eine solche Aufwallung, die ihm
-echt und von innen aufschießend vielleicht noch nie im Leben, gemacht
-aber gewiß immerzu begegnet ist, sich sofort einstellen; und die
-gezierten Äußerungen der beiden andern Töchter, derengleichen er für<span class="pagenum"><a name="Seite_90" id="Seite_90">[S. 90]</a></span>
-ungewöhnliche Dankbarkeit, zu der er so oft Veranlassung gegeben hat,
-gewohnt ist, nimmt er für solche Ausbrüche. Cordelia aber horcht in
-sich hinein und findet in diesem Augenblick nur Leere. Den Äußerungen
-ihrer Schwestern hört sie die Berechnung an, und so wird aus ihrem
-Unvermögen, sich jetzt zu äußern, Verstocktheit. Es kommt aber noch
-etwas dazu. Der Kindheit entwachsen, eine Jungfrau geworden ist sie
-durch die ersten Regungen der Liebe, einer Liebe so ganz andrer Art
-als die Kindesliebe. Wir dürfen annehmen, daß ihr Herz sich Frankreich
-zuneigt; aber selbst, wenn sie davon gar nichts wüßte, wäre doch
-Liebigkeit, diese Bereitschaft in ihr, bald ein eheliches Weib zu
-werden, die ja auch von außen gefördert wird. Höheres gibt es für
-dieses Mädchen nichts in der Welt als diese Erwartung, sich liebend
-hinzugeben und hemmungslos, wie es das Gebot der Liebe ist, einem Manne
-zu gehören. Und in diesem Augenblick &mdash; die Freier stehn vor der Tür,
-werden eben geholt, die Stunde grenzenlosen Aufgebens, wonnig bangen
-Umfassens ist da &mdash; verlangt der alte Mann für sich, was bis aufs
-letzte Tröpfchen gesammelt in ihr eines andern wartet. Und sie muß
-mitanhören, wie ihren Schwestern glatt wie Öl etwas von der Zunge geht,
-was ihr nur wie Verrat an der Gattenliebe klingen kann. So vermag sie
-ihrem Vater nicht nur das Gehäufte nicht zu geben, worauf er Anspruch
-macht; sie kann ihm jetzt gar nichts geben; und was sie schließlich
-äußert, kommt gezwungen und hart heraus. König Lears Seelenkenntnis
-können wir uns aber nicht verwahrlost, verbogen und verkehrt, man nennt
-das naiv, genug vorstellen. Er hat verlangt, mit Recht verlangt, das
-war doch das wenigste, daß man ihm bei diesem feierlichen Akt seines
-ungemeinen Edelmuts ein paar schöne Worte sagt; ist das denn zu viel?
-Nun, die älteren Töchter tun’s; und schon ist er zufrieden und gibt
-ihnen ihr überreichlich Teil. Jetzt ist an seinem liebsten, seinem
-Schmerzenskind die Reihe; und wie? hört er recht? hart, fast böse
-ant<span class="pagenum"><a name="Seite_91" id="Seite_91">[S. 91]</a></span>wortet sie, sagt wohl so etwas von pflichtschuldiger Liebe; aber
-merkt man nicht, wie sie sich dazu selbst zwingen muß? Für ihn ist sie
-in diesem Moment nicht bloß verstockt und lieblos; sie ist eine arge
-Heuchlerin; sie preßt sich Äußerungen ab, die ihr nicht von Herzen
-kommen. Was steckt da dahinter? Es muß doch einen Grund haben! Was
-offenbart sich da? Wie sieht es in ihrem Herzen aus? In dem Augenblick,
-wo sie ihrem Vater, der den Kindern sein ganzes Reich gibt, wie die
-Schwestern, überströmend dankbar sein sollte, zeigt sie sich so und
-redet mehr von ihrem künftigen Mann als von ihrem guten Vater? Alles
-dreht sich um ihn, innen kocht’s auf, und der Ausbruch ist da.</p>
-
-<p>Vergebens ruft der Graf von Kent, ein Mann, der schon lange an diesem
-Hof gelebt und zu Lear voller Verehrung wie zu einem Vater aufgeblickt
-hat, dessen kerniger Biedersinn Cordelias verwandte Frauenseele
-erkennt, dem König zu, er sei ja toll:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Was tust du, alter Mann?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>In dieser Verfassung läßt Lear sich von keinem Menschen hemmen:
-Kent wird verbannt, Cordelia verstoßen, enterbt, ohne Mitgift dem
-überlassen, der sie nimmt. Burgund tritt zurück; Frankreich liebt
-Cordelia um ihrer selbst willen; sie wird seine Frau. Cordelias
-knospenhaftem Wesen, das überlegener Klugheit fern ist, können wir
-nicht zutrauen, daß sie daran gedacht hat; aber ein besseres Mittel,
-ihre Freier zu prüfen, als auf jede Würde und Mitgift zu verzichten und
-nur noch sie selbst zu sein, konnte es nicht geben.</p>
-
-<p>Hundert Ritter, mit ihrem stattlichen Gefolge von Edelknappen, Knechten
-aller Art, hat der alte Mann sich vorbehalten; mit diesem Hofstaat
-will er abwechselnd bei den Töchtern hausen; und hochbeglückt und
-erfreut sollen sie sein, wenn ihr Vater kommt. Goneril hat in der Sache
-keineswegs unrecht, wenn sie meint, er habe seine Macht verschenkt,
-wolle aber nichts davon entbehren. Er tritt herrisch, brutal auf;
-die Ritter ahmen das Beispiel nach;<span class="pagenum"><a name="Seite_92" id="Seite_92">[S. 92]</a></span> was er um seiner Machtfülle,
-seines Selbstbewußtseins willen tut, setzen sie in Willkür, Roheit
-und Liederlichkeit fort; es ist ein zügelloses Treiben; sein erstes
-Wort, das wir bei Goneril von ihm hören, wie er mit seinem wilden
-Gefolge von der Jagd kommt, ist: „Laßt mich keinen Augenblick auf das
-Essen warten!“ Und noch mehr Proben eines Auftretens erhalten wir,
-das übermütig zu nennen wäre, wenn er nicht ein überalter Mann wäre,
-der in einem langen, langen Leben niemals vom Leben in die Schule
-genommen worden ist. Er ist derart ungezügelt wie kleine Kinder, die
-man ungezogen nennt; die Sinneseindrücke scheinen fast ohne jede
-geistige Vermittlung Handlungen bei ihm auszulösen; er verstößt,
-verbannt, schimpft und schlägt so unmittelbar, nachdem man sich seiner
-Willkür entgegengestellt hat, wie das kleine Kind nach dem glänzenden
-Gegenstand greift, den es sieht. Hat man das Kindchen ein paarmal aufs
-Händchen geschlagen, so wird sich, wenn es die Bewegung noch macht,
-schon so etwas wie Zögern, wie böses Gewissen darin äußern; Lear
-aber scheint nie im Leben etwas entgegengetreten zu sein, was er als
-ernsthaften Widerstand achtete; er hat das beste Gewissen von der Welt;
-er meint es wirklich gut zu meinen; er hält sich für gut. Er hat doch
-seine Macht abgegeben; bloß auf die Eitelkeiten dieser Welt will er
-nicht verzichten; das ist für ihn fast nichts, was er behalten hat; daß
-er damit andern sehr lästig fallen kann, daß das &mdash; gleichviel, wie
-die Töchter sind &mdash; ein ganz unleidliches Verhältnis ist, &mdash; wer soll
-es ihm sagen? So daß er es erkennt? Wer will den alten Mann jetzt noch
-erziehen?</p>
-
-<p>Kein einzelner Mensch könnte das mehr unternehmen wollen; man kann
-ihn nur dulden und liebevoll klug, unmerklich lenken. Die Töchter
-aber haben von ihrem Vater die Herrschsucht ohne die Würde, ohne die
-Liebenswürdigkeit, ohne den Charme geerbt; dafür handeln sie nicht
-bloß in Hitze, sondern planmäßig, kalt. Lears Bedürfnis, geliebt zu<span class="pagenum"><a name="Seite_93" id="Seite_93">[S. 93]</a></span>
-werden, ist immer noch ein Grad der Liebe; die Töchter sind in ihrem
-Verhältnis zu ihm ganz lieblos und kennen auch die Hemmung nicht, die
-man Pietät nennt. Er hat seine Macht weggeschenkt; sie haben, was sie
-von ihm wollten; nun soll er ihnen abwechselnd täglich und stündlich
-mit anspruchsvollen Narrheiten lästig fallen? Erziehen wollen sie ihn
-gewiß nicht, aber los werden und rücksichtslos seines Spielzeugs,
-seiner Machtfülle, seines Scheins berauben. Für ihn ist das gerade
-so, als wollten sie ihn zum Gerümpel werfen, obwohl die Rumpelkammer,
-die sie ihm anweisen würden, wenn alles ginge, wie sie in kalter Ruhe
-planen, wahrscheinlich ein ganz stattliches Haus wäre. Davon, daß sie
-ihn hungern lassen, in Nacht und Elend, in Obdachlosigkeit hinausstoßen
-wollten, ist gar keine Rede: die Vereinfachung der Märchenpsychologie
-ist Shakespeares Sache nicht. Für Lears Subsistenz wollen die Töchter
-schon sorgen; ihre Lieblosigkeit übersieht nur, daß die Substanz, von
-der das Gemüt des alten Mannes sich nährt, eben die Akzidenzien sind,
-die sie ihm wegnehmen wollen.</p>
-
-<p>Um ihn steht es nun so: er war in der Macht, und man war vor ihm
-gekrochen, und was sich dabei ergab, hatte er für die wirkliche Welt
-genommen. War ihm einmal im Ernst Widerspruch entgegengetreten, so
-hatte er ihn unter dem Beifall seiner Umgebung sofort zermalmt.
-Niemals war äußerer Widerstand begleitet gewesen von einer inneren
-Unruhe in ihm selbst; seine Umgebung hatte immer den Glauben in ihm
-befestigt, daß er es um seiner angeborenen Majestät willen verdiene,
-zu befehlen. Diesmal ist es anders. An ihm nagt etwas, immerzu, etwas
-Doppeltes, etwas Dreifaches: daß er seine Macht weggegeben hat, daß
-er sie diesen Töchtern gegeben hat, daß er Cordelia verstoßen hat.
-Falschheit kann täuschend wie Wahrheit aussehen, aber die Wahrheit
-hat etwas ganz Untrügliches in sich. Hat man einen Menschen, den man
-gut kennt, im Vorübergehen zu sehen geglaubt, so kann man sicher
-sein, daß er es nicht war; wäre<span class="pagenum"><a name="Seite_94" id="Seite_94">[S. 94]</a></span> er es gewesen, so wüßte man es. So
-ähnlich geht es diesem kurzsichtigen Vater: er glaubt, daß Cordelia
-ein liebloses Geschöpf, daß Goneril und Regan liebende Töchter sind;
-aber etwas in ihm weiß, daß es nicht so, daß es umgekehrt ist. Der
-Klang der Stimme Kents, der so tapfer zu Cordelia stand, liegt ihm noch
-im Ohr; und da ist nun noch einer, der auf seine Art ausspricht, was
-Lear selber nicht hochkommen läßt, der ein Privileg hat, den er nicht
-so ohne weiteres des Landes verweisen kann: das ist sein Narr, sein
-scharfer, sein bitterer, sein armer, sein liebender Narr. Der hängt
-treu und liebevoll an ihm, ganz gleich, wie er vom Herrn behandelt
-wird, der kennt die Liebe so, wie Goneril und Regan sie nicht kennen
-und wie auch Lear sie keineswegs kennt und übt, und in immer neuen
-Gleichnissen, Verdrehungen und Liedchen gibt der ihm nun zu verstehen,
-was für ein Narr er gewesen, das gute Kind zu verstoßen und sich und
-sein Reich den harten, scharfen, lieblosen Töchtern anzuvertrauen. Er
-kann sich’s nicht verhehlen, denn er merkt’s durch bittre Erfahrung:
-an den mitleidig verdammenden Sprüchen des Narren, die immer schärfer
-ausfallen, ist etwas, ist viel dran. Und doch glaubte er, so klug und,
-da er sich so recht mollig lieben und hegen lassen wollte, ein so guter
-Vater zu sein! Das erkennen wir nun aber auch deutlicher, als wir’s zu
-Beginn wußten: er kann tun, was er will, selbst Brutales: Böses ist
-doch nicht in ihm. In seinem Verkehr mit dem Narren gewahren wir gleich
-echte Liebenswürdigkeit und eine Neigung zu Kameradschaft, in der sich
-seltsam eine Kindlichkeit angeborener, zurückgedrängter Natur mit
-Kindischwerden vor Alter mengt.</p>
-
-<p>Die Welt sieht doch nun, wo er der Macht entkleidet ist, so ganz anders
-aus, als er gemeint hatte! Was sich der Haushofmeister seiner Tochter
-gegen ihn herausnimmt, wie scharf und ausfallend die Tochter selbst zu
-ihm spricht, wie es der Narr mit seinen Sprüchen kommentiert, &mdash; aber
-der arme alte Mann! In dem Augenblick, wo allererst die Erkenntnis<span class="pagenum"><a name="Seite_95" id="Seite_95">[S. 95]</a></span>
-der Wirklichkeit kommen, wo der Wahn sinken will, bricht in dem
-schwachen Gefäß, das Druck von außen nie gekannt hat, der Wahnsinn aus.
-Sein erstes Zeichen bemerken wir sofort nach der ersten unerbittlich
-scharfen Rede Gonerils, wie Lear die Hand über die Augen hält, die
-Tochter prüfend, als sehe er nicht gut, ansieht und fragt: Ist das
-meine Tochter?</p>
-
-<p>Sowie wir diese erste Spur merken, können wir nun zurückgreifen,
-können uns der Worte Kents erinnern, der es gewagt hatte, seinen
-König verrückt zu nennen und dabei an sein Alter zu erinnern, können
-dazu nehmen, daß jetzt eben der Narr seinen Herrn den wahren Narren
-gescholten hat, und können fragen: war denn nicht wahrscheinlich sein
-Benehmen bei der Teilung des Reichs und bei Cordelias Verstoßung auch
-schon Geisteskrankheit?</p>
-
-<p>Fragen können wir so; ich antworte: Nein. Und vergesse dabei
-keinen Augenblick die Regel, die Gestalten des Dichters nicht als
-Naturgeschöpfe zu nehmen, sondern als Geistgeburten Shakespeares. Ich
-untersuche nicht einen Britenkönig Lear, sondern was Shakespeare uns
-gegeben hat. Dabei kommen irgendwelche medizinische Ausdrucksweisen,
-die der Dichter gehabt hat oder nicht gehabt hat, nicht in Betracht,
-sondern lediglich die Züge, die er seinen Gestalten gegeben hat. Die
-haben wir, ganz in unsrer eigenen Sprache, zu deuten. Das Problem,
-was Krankheit und was gar geistige Krankheit sei, will ich bei
-dieser Gelegenheit nicht aufrollen; sicher ist, daß es Namen für
-Veränderungen sind, deren wahres Wesen uns unbekannt ist, und daß
-diese Namen nur gewisse Komplexe von Symptomen einordnen. Sicher
-ist aber auch, daß Begriffe dieser Art haarscharf begrenzt sind,
-und daß unsre Menschenwelt untergehen und das Chaos beginnen würde,
-wenn diese Grenzen verwischt würden. Wie König Lear bei der Teilung
-des Reichs gehandelt hat, war, wie Kent in derber Volkssprache sagt
-&mdash; nicht umsonst kann der herzhafte, getreue Landedelmann<span class="pagenum"><a name="Seite_96" id="Seite_96">[S. 96]</a></span> nachher
-so gut den Knecht spielen &mdash;, verrückt, war verrückt, was das Volk
-so verrückt nennt. Der König hat so tun müssen, sonst hätte er’s ja
-nicht getan, aber die Notwendigkeit, die ihn zu seinem Verhalten
-brachte, war ein sozialer Komplex, bestehend aus den Beziehungen seiner
-Erziehung, Stellung, Umgebung; man kann sich darum auch denken, daß
-diese Notwendigkeit durch eine gleichfalls soziale Einwirkung, z. B.
-das ruhige und vernünftige Auftreten mehrerer im Staatsrat oder einen
-plötzlichen Überschwang kindlicher Verzweiflung in Cordelia aufgehoben
-worden wäre. Was aber jetzt in Lear allererst sich ankündigt, ist ein
-individueller, organischer Zwang unsäglich viel stärkerer und anderer
-Art in ihm; irgend etwas funktioniert jetzt anders in ihm; und wenn
-Heilung kommen soll &mdash; wie sie denn in der Tat kommt, das Stück, in
-dessem erstem Akt wir noch stehen, handelt von ihr &mdash;, wird sie ganz
-andere Wege gehen müssen, als gutes Zureden oder soziale Einwirkung der
-üblichen Art.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Seid Ihr Unsre Tochter?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Mit dieser Frage sind wir genau an der Grenze zwischen Vernunft und
-Wahnsinn. Man kann völlig vernünftig sein und sein schmerzliches
-Staunen über das eigene Kind so ausdrücken, daß man fragt, ob man so
-einen Menschen, wie er da vor einem steht, wirklich selbst gezeugt
-und aufgezogen habe. Es kann auch tatsächliche Gründe geben, warum
-man bei einer starken Enttäuschung, die eine völlige Unähnlichkeit
-zwischen Vater und Kind an den Tag stellt, sich ernsthaft fragt,
-ob nicht Ehebruch im Spiel sei. Auch ist der Mensch, jeder, da er
-gottlob einen Dichter in sich hat, durchaus befugt, in irgend einer
-ekstatischen Stimmung mit dem Wahnsinn zu spielen. So hebt es denn
-auch bei Lear an: er schwankt zwischen ganz leise einsetzendem echtem
-Wahnsinn und dem Spiel damit. Noch spielt er, daß er nicht er selbst
-sei, daß er die Dame, die vor ihm steht, nicht kenne, aber schon ist
-es einen verschwindenden Moment lang<span class="pagenum"><a name="Seite_97" id="Seite_97">[S. 97]</a></span> innerer, organisch-funktioneller
-Zwang, so zu spielen, der dann aber sofort wieder abgelöst wird von dem
-gewaltig ausbrechenden, schmerzlichsten, wütendsten Zorn des in seiner
-Königswürde, in seiner Vaterschaft, in seiner Menschheit gekränkten
-Mannes.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Seid Ihr Unsre Tochter?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Hier an der Grenze haben wir schon die Form, in der sein Wahnsinn
-sich äußern wird. Eines hat er sein Leben lang nicht gekannt, ein
-Allerwichtigstes freilich: denken. Es hat für ihn keine Wirklichkeit
-gegeben, sondern nur Schein und Trug, von Schmeichelei und botmäßigem
-Eifer erzeugt; und so war in ihm kein Denken, sondern Trieb, Raschheit,
-Laune; und auf diese Weise entstand eine Welt, eine Beziehung von innen
-und außen, wo alles glatt funktionierte: seine Umgebung und er paßten
-ihre Lücken und Auswüchse an einander an, und was er befahl, geschah.
-In diese Welt der Täuschung, und andre kannte er keine, war er nun in
-langen Jahrzehnten, bis in sein höchstes Greisenalter, ganz eingelebt.
-Nun aber ist er allererst nicht oben in seiner, sondern irgendwo unten
-in der wirklichen Welt, und da sieht alles so ganz, so schmerzlich
-anders aus. Er sollte also umlernen, nachdenken, sich einordnen, sich
-zurechtfinden, und das kann er nicht mehr; er ist zu alt dazu. Zu alt
-wenigstens, um noch in der üblichen Art zu lernen, zu wachsen. Denn er
-lernt, der arme, alte Mann, lernt sogar erstaunlich, wie in Glut und
-Fieber; aber er begreift nicht in Begriffen; in seiner Altersschwäche,
-wo ihn immer hilfloses Weinen ankommt, nimmt ihn das Leben in die
-Schule, und sein Lernen sieht so aus: Gegen meine Töchter bin ich
-immer gut gewesen &mdash; sie müssen also auch gut gegen mich sein &mdash; diese
-Damen sind ja so hart gegen mich &mdash; &mdash; <em>ergo</em> sind es nicht
-meine Töchter. Die neue Wirklichkeit, die sich ihm jetzt objiziert,
-lernt er nur in der Weise kennen, daß er das Neue, das er nun von der
-innern Beschaffenheit und Wahrheit der Menschen entdeckt, als äußere
-Halluzinationen,<span class="pagenum"><a name="Seite_98" id="Seite_98">[S. 98]</a></span> als Zwangsvorstellungen schaut und hört; der Sinn
-geht ihm auf in Gestalt von Sinnestäuschungen. Und so wie er daran
-ist, die Töchter nicht mehr als seine Töchter zu erkennen, so verliert
-er den Glauben, das Wissen, das Selbstbewußtsein, daß er Lear ist; er
-verliert sich selbst.</p>
-
-<p>Aber er versinkt nicht völlig in diesen Wahnsinn; er ergeht sich nur
-gefährlich am Rande der Tollheit; ganz wahnsinnig, bloß wahnsinnig
-sehen wir ihn nie; wir erleben an ihm einen entstehenden und auch
-wieder vergehenden Wahnsinn; wir sind dabei, wie in und mit dem
-Wahnsinn sich ihm der Sinn öffnet für den Wahn seines bisherigen
-Lebens; wie er jetzt allererst einen Blick ins Leben tut; wie er mit
-dem Schmerz, der ihm von außen angetan wird, wütenden Schmerz über
-sich selbst, Reue, von daher Einsicht und mit der Einsicht Liebe,
-echte Liebe, Liebe zu andern lernt. Der Schein, der Machtkitzel, der
-Dünkel, die Hohlheit, die Ichsucht, all das schmilzt weg; indem er ins
-Elend hinuntersinkt, vermag er nun auch, die Welt und das Leben vom
-Standpunkt des Elends aus zu erblicken.</p>
-
-<p>Daß er das aber noch vermag, daß er auf diesem einzigen furchtbaren
-Weg, den seine Altersschwäche ihm läßt, auf dem schwindelnden Grate
-zwischen Verzweiflung und Aberwitz noch lernt, noch wächst, Erneuerung
-und Wiedergeburt findet, das zeigt uns, was wir in dem Vater Cordelias,
-in dem Freund des Narren, in dem von Kent verehrten König, in der
-Gewalt seiner Leidenschaft und der Hoheit seines Auftretens schon
-geahnt hatten: daß eine große Natur in ihm von sozialen Narrheiten und
-Wüstheiten überklebt war; daß seine brutale Willkür sowohl wie seine
-ungeheuerliche Dummheit nur Manier war und nicht Wesen, daß ein guter,
-ein allerbester Kern in ihm ist, der nun, wo die gräßliche Not ihn
-zeitigt, sich zugleich als Geist und als Güte offenbart.</p>
-
-<p>Jetzt sehen wir: die Welt seines pompösen Scheins war ihm notwendig
-gewesen, weil seine echte Natur eine Welt der<span class="pagenum"><a name="Seite_99" id="Seite_99">[S. 99]</a></span> Niedrigkeit
-nicht ertrug, weil er Größe, Adel, Übereinstimmung braucht. Die
-Lebensmöglichkeit entsinkt ihm, sowie er gewahrt, wie es wirklich in
-der Welt zugeht. Dieses sein Lernen, seine neue, seine erste Erkenntnis
-kommt ganz allmählich, und er kann nur dazu gelangen durch furchtbarste
-Not und Schrecknisse. Zum weit überwiegenden Teil aber tut er sich all
-dieses Fürchterliche selber an; sein Adel, sein Mißverhältnis zur Welt
-äußert sich in dem, was die Welt seine unerhört übertriebene Natur
-nennen müßte; durch Erschütterung allerschrecklichster Art, durch Wut
-und Leidenschaft, elementar wie eine Naturkatastrophe, arbeitet er sich
-aus der Verschüttung zum schmerzlichen Licht empor, ein überalter Mann,
-der nach dieser letzten gewaltigen Anstrengung gerade noch Zeit hat,
-still und milde für einen Augenblick sein wahres Wesen zu sein, sein
-Leben zu führen, wie es ihm zukommt, und dann zu sterben.</p>
-
-<p>Noch genauer müssen wir zusehen, was ihn zuerst in diese Verfassung
-bringt; nur dadurch lernen wir seine wahre Natur und seine Stellung
-in der Welt kennen. Gonerils Hausverwalter behandelt ihn nicht mehr
-als König, sondern als Myladys Vater: der von Lear selbst geschaffenen
-Tatsache entspricht es, aber es ist schonungslos. Dann beklagt sich
-Goneril über seinen zügellosen Troß, den er nicht in Zucht hält;
-diese hundert Ritter mit ihrem wüsten Treiben machen ihr Schloß zur
-Kneipe, zum Bordell gar; sie ersucht kategorisch &mdash; widrigenfalls
-will sie selbst einschreiten &mdash;, sein Gefolge etwas zu verringern;
-er solle nur gesetzte, ältere Männer in seinem Dienst behalten. In
-der Sache hätte sie ganz einfach recht; weder ihre Darstellung noch
-ihre Forderungen könnten als unmäßig bezeichnet werden. Aber der Ton,
-in dem sie redet, ist von schneidender Schärfe, von einer unheimlich
-unpersönlichen Sachlichkeit; sie spricht als Regentin zum abgedankten
-König; sie denkt nicht daran, sie fühlt nicht, daß alles, worin sie
-nun in einem einzigen Punkt empfindlich gestört wird, ihr freiwillig
-von ihrem lebenden<span class="pagenum"><a name="Seite_100" id="Seite_100">[S. 100]</a></span> Vater geschenkt worden ist, ohne daß es einen
-andern Grund zu seinem Verzicht gab, als seinen Willen, der für sie ein
-guter Wille war; sie offenbart völlige Gefühllosigkeit, Lieblosigkeit,
-Undankbarkeit. Er wird nun an der Welt und an sich organisch irre,
-irgend etwas in ihm bekommt einen Riß; nur einen Augenblick lang
-erliegt er dieser Pathologie; sowie er wieder zu sich kommt, sowie
-seine erste gräßliche Wut über diese Undankbarkeit herausgeströmt ist
-und fast automatisch der Entschluß da ist, sofort zur zweiten Tochter,
-zu Regan zu reisen, sowie er merkt: ja, so spricht, so handelt wahr und
-wirklich seine Tochter, kommt sofort, offen eingestanden, die Reue über
-sein Verfahren gegen Cordelia. Die, so argumentiert er noch verderbt,
-dumm und lieblos genug, hätte ein Recht zu solcher Lieblosigkeit gegen
-ihn. So klammert er sich denn blind, vertrauensvoll, im geheimsten aber
-schon angstvoll an die einzige Tochter, die noch übrig ist, an Regan;
-gegen Goneril aber bricht er in den grauenvollsten, leidenschaftlichen
-Fluch aus. Welche Ansprüche stellt dieses Menschenkind, dieser
-wahrhaft königliche Tor an die Weltordnung! Ein undankbares Kind muß
-mit Unfruchtbarkeit geschlagen werden; ganz einfach, ganz logisch,
-ganz unbedingt ist für ihn der Zusammenhang zwischen Menschenlos und
-göttlicher Gerechtigkeit: er ist König, ist Vater; die Götter, die
-Göttin Natur voran, müssen die undankbare Tochter strafen. Er ist ganz
-überzeugt, daß dieser Fluch in Erfüllung gehen muß; darum auch kann er
-ihn mit dieser ungeheuren Gewalt ihr zuschleudern. Es wird von einer
-jung verheirateten Schauspielerin berichtet, daß sie nie mehr als
-Goneril auftreten wollte, nachdem der große Schröder ihr diesen Fluch
-ins Gesicht und ins Innerste hinein gedonnert hatte.</p>
-
-<p>Auf dem Weg zur andern Tochter, zu der letzten, die ihm geblieben, sagt
-ihm der Narr das Stichwort seiner Rolle:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Du hättest nicht alt werden sollen, ehe du zu Verstand kamst!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_101" id="Seite_101">[S. 101]</a></span></p>
-
-<p>Was für eine Reise! Der Narr spricht immer nur aus in seinen
-Gleichnissen und Rätselfragen, was in ihm selber auch bohrt. Ist Regan
-denn wirklich, wie er hoffen muß, so ganz anders als ihre Schwester,
-die jetzt ihr wahres Gesicht gezeigt hat? Und der Gedanke, daß er
-Cordelia Unrecht getan hat, die Furcht, um den Verstand zu kommen,
-verläßt ihn keinen Augenblick. Und erst sind wir am Schluß des ersten
-Akts &mdash; was werden wir noch erleben, was wird der ärmste Abcschütze im
-weißen Haar, der, indem er seine äußere Würde freiwillig und großmütig
-aufgegeben hat, nun in seiner natürlichen Hoheit angetastet wird, noch
-durchmachen!</p>
-
-<p>Der alte Mann muß eine weite Reise machen. Einen Boten mit einem
-Schreiben, in dem er der Tochter Mitteilung von dem Geschehenen macht,
-schickt er voraus. Das ist sein neuer Knecht Cajus, in Wahrheit der
-treue Kent, der vorhergesehen hat, was kommen muß, und den Herrn, der
-ihn verbannt hat, nicht verlassen will. Wie Lear dann ankommt, ist
-das Haus leer: Cornwall und seine Frau sind weg. Auch die Schwester
-hat sofort Botschaft geschickt; und in dieser Sache sind sie einig,
-so weit sonst die Gegensätze zwischen Albanien und Cornwall schon
-gediehen sind. Lear muß ihnen nach dem Schlosse des Grafen Gloster
-nachreisen; und wie er nun zu später Stunde ankommt, sieht es ganz böse
-aus: sein Diener Cajus ist schimpflich mißhandelt worden; Regan und ihr
-Mann scheinen ihn gar nicht empfangen zu wollen; sie lassen sich erst
-verleugnen; und ihr Wirt, der alte Gloster, muß seinen Einfluß, der zur
-Zeit groß ist, aufbieten, damit Tochter und Tochtermann herbeikommen.
-Aus Lear will inzwischen die mühsam zurückgestaute Wut losbrechen;
-der Zweifel an der Wirklichkeit, die Krankheit zeigt sich wieder
-an; aber &mdash; wir erleben’s zum ersten Mal &mdash; er nimmt sich zusammen,
-versucht, was er nie gekonnt, sich zu beherrschen, will Vernunft und
-Gründe annehmen; und, wenn er nun endlich vor der<span class="pagenum"><a name="Seite_102" id="Seite_102">[S. 102]</a></span> Tochter steht,
-ist es rührend, wie er ihr kindlich sein Leid über ihre schlechte
-Schwester klagen will. Die Tränen steigen ihm auf, er kann nicht weiter
-reden. Sie weiß ja auch, er hat ja geschrieben; und jetzt eben hat er
-erfahren, daß Goneril auch einen Brief geschickt hat. Regan erwidert
-zunächst mit kalter Zurückhaltung: höflich, trocken, fast mild, wie
-etwa eine kalte, geübte Pflegeschwester einem Kindischen zureden würde,
-sagt sie ihm, sie, die Töchter, wüßten besser als er, was ihm not täte;
-er möchte zur ältesten Tochter zurückkehren und zugestehen, daß er
-unrecht gehabt. Er war nun schon auf so etwas gefaßt, so entsetzlich
-es ist; es hatte sich vorbereitet; noch bleibt er dem Grad nach
-mäßig; aber was sie da sagt, ist ihm sofort wieder eine suggestive
-Anschaulichkeit; er probiert’s gleich, wie sich’s ausnimmt, wenn er,
-der König, der Vater, hinkniet und seine Tochter um Verzeihung, um
-Schutz und Obdach bittet. Das ahnt er noch nicht, wie seine Entwicklung
-bald so vollendet sein wird, daß er das, was ihn jetzt die äußerste,
-die tollste Zumutung dünkt, gerade in der Form, die niemand von
-ihm verlangt hat, die nur seine im Stolz getroffene Phantasie sich
-ausgemalt hat, aus innigem Ernst tun wird, er der König, der Gebieter,
-der Vater: in Reue und Demut vor einem Kind, das der Vater gekränkt,
-hinknien und um Vergebung flehn.</p>
-
-<p>So wird er am Ende sein. Jetzt klammert er sich noch an Einbildungen,
-die er gewaltsam festhalten will, klammert sich an Regan, sein einziges
-Kind. In vernünftiger Auseinandersetzung will er ihr dartun, daß ihr
-Vorschlag unmöglich sei, will ihr beweisen, sie sei so milde, wie
-Goneril grausam. Aber es ist, als sprächen nur seine Lippen, während
-unten in ihm ganz anderes arbeitete; und mit einem Mal, gerade während
-der Mund ihr vorhält, daß er ihr das halbe Reich geschenkt, wirft
-er den Kopf zurück und fragt zornig, wer es gewagt, seinen Diener
-in den Block zu setzen? Er nimmt das ganz, wie wenn an fremdem Hof
-sein Bot<span class="pagenum"><a name="Seite_103" id="Seite_103">[S. 103]</a></span>schafter verletzt worden wäre; es ist eine Antastung seiner
-Majestät. Aber Trompetengeschmetter reißt ihm die Worte vom Mund:
-Goneril trifft zur eiligen Beratung mit der Schwester ein und findet
-den Vater. So muß denn die Entscheidung sofort erfolgen; ganz großartig
-hat der Dichter alles so aufgebaut, daß nach der Gonerilszene, die in
-dem gewaltigen Fluch gipfelte, nun diese ungeheure Steigerung sich noch
-ergab. Die beiden Schwestern hatten politisch beraten und dann ihre
-Entschlüsse bekannt geben wollen, und nun muß es gegen ihren Willen
-doch wieder zu einer dramatischen Szene kommen, wie ihr Vater sie zu
-brauchen scheint.</p>
-
-<p>Sie fassen sich schnell und sind durchaus nicht aus der kühlen Ruhe
-gebracht. Regan wiederholt, er solle zur Schwester zurück, fügt aber
-nun hinzu, wenn er dann zu dem vereinbarten Zeitpunkt zu ihr komme,
-solle er vorher sein halbes Gefolge entlassen. Immer noch hält Lear an
-sich; als einen Vorschlag nimmt er das, der ganz falsch ist, und gegen
-den er nun, freilich wieder in erregter Bildersprache, Gründe ins Feld
-führt. Ja, noch mehr: Goneril läßt vier kalt abweisende Worte fallen,
-ohne ihn weiter zu beachten, und er redet nun noch einmal zu ihr, der
-er den Fluch entgegengeschleudert hat: mit sanfter, fast brechender
-Stimme, wirr, aber der Sinn ist, daß er ihr gütig, bittend zureden
-will, in sich zu gehn; schelten und fluchen will er nicht mehr; Gott
-soll ihr Richter sein, er will sie nicht verklagen. Er redet ihr zu,
-sich zu bessern, er spricht als Vater; er will nichts von ihr. In
-höchster Not tut er so, als habe er nichts Entscheidendes gehört; er
-bleibt an Regan, die letzte Hoffnung, angeklammert:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich kann geduldig sein,</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>sagt er und fühlt vielleicht, daß ihm die Tugend bisher vor allem
-gefehlt hat; im Zusammenhang heißt es, Goneril solle sich bessern, auch
-wenn sie lange dazu brauche, er wolle es abwarten und einstweilen</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_104" id="Seite_104">[S. 104]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">bei Regan bleiben</div>
- <div class="verse">Mit meinen hundert Rittern.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Aber die Töchter sind von dieser rührenden Wandlung nicht im mindesten
-ergriffen; Regan beharrt darauf, ihn jetzt nicht zu sich zu nehmen; im
-übrigen erklärt sie nun fünfundzwanzig Ritter für genug. Er winselt
-beinahe, er flüstert:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich gab euch alles,</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>und wie nun Regan auf ihrer Entscheidung beharrt, tut der alte Mann,
-dem mit seinen Rittern sein Selbstbewußtsein genommen werden soll,
-das ganz überraschende: um dies äußere Zeichen seiner Würde behalten
-zu dürfen, gibt er in kindischer Gesunkenheit die innere preis und
-erklärt, er wolle nun zu Goneril gehen; die läßt ihm doch fünfzig!
-Aber nun haben die Töchter genug: sie werden schon für seine Bedienung
-sorgen, er braucht keine zehn, keine fünf, keinen einzigen!</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wozu ist einer not?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Not? Dabei stutzt er. In der Tat, in Not ist er nicht und braucht es
-auch künftig nicht zu sein. Aber seine Würde, seinen Luxus, seine
-Hoheit wollen sie ihm nehmen, demütigen wollen sie ihn. Eindringlich,
-aber immer noch still hebt er an:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Beklügelt nicht die Not! Der ärmste Bettler</div>
- <div class="verse">Hat bei der größten Not noch Überfluß...</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und nun wechselt es in ihm zwischen Bitten und Zorn; zwischen
-Nichtweinenwollen, Weinen, Seufzen und Drohen; die Hitze steigt auf,
-es zerbricht etwas; er erträgt’s nicht; er will vor diesen Töchtern
-hier nicht mehr, nicht noch einmal ausbrechen; er stürzt hinaus; eben
-zieht das Unwetter am Himmel auf. Noch einen Blick hat er in die Runde
-geworfen, wie auf der Suche nach einem Menschen, nach einer Stütze,
-nach einem Freund; er fand ihn auch: den Narren.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O Narr, ich werde wahnsinnig!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Das war in diesem Kreis sein letztes Wort. Die bleiben doch etwas
-bestürzt zurück; und vielleicht würde gar der<span class="pagenum"><a name="Seite_105" id="Seite_105">[S. 105]</a></span> harte Eigensinn der
-Töchter erweicht; aber nun tritt eine noch größere Brutalität hervor:
-Regans Mann Cornwall. Er befiehlt, während der Sturm zu brausen
-anfängt, die Tore zu schließen. Kleinlaut versichern die Schwestern
-einander, für den alten Mann wäre hier schon Platz gewesen, aber nicht
-für sein Gefolge; an Cornwalls Haltung indessen werden sie wieder
-energisch; der Alte soll nur für seinen Unverstand büßen; schafft er
-sich selber Kränkungen und Beschwerden, so sollen die seine Schullehrer
-sein! Die Tore müssen jedenfalls geschlossen werden; wer weiß, wessen
-man sich sonst von seinem wilden Gefolge, das nun so gut wie entlassen
-und verzweifelt ist, zu versehen hätte? Um die aber kümmert sich der
-kranke, tobende Mann nun gar nicht mehr, und sie, mit Ausnahme eines
-einzigen Getreuen, um ihn auch nicht; sie werden schleunig weiter
-geritten sein und eine Herberge gefunden haben.</p>
-
-<p>Lear, seinen Narren und den Knecht, der Kent ist, treffen wir im
-tosenden Wettersturm wieder nachts auf der Heide. Er ist, nachdem er
-sich so lange gewaltsam unterdrückt hat, in einer Leidenschaft, die
-sich wollüstig mit dem Orkan mißt. Ah! sich auslassen zu dürfen! Welch
-königliches Herrengefühl, Grund zum Toben zu haben! Recht, recht so,
-ihr Stürme und Wetterschläge, Undankbarkeit ist auf diesem Erdenball
-eingesät; zertrümmert ihn! Das ist noch bacchantische Raserei der
-Leidenschaft; aber zwischendurch zuckt die Logik des Wahnwitzes
-auf. Auch ihn, den alten, preisgegebenen Mann, dürfen die Elemente
-treffen, sie haben die Erlaubnis, dürfen ihn zausen und schlagen nach
-Herzenslust: sie sind ja nicht seine Töchter! Und so apostrophiert er
-den Regen, den Donner, den Blitz:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich gab euch nie ein Reich, nannt’ euch nicht Kinder!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und dann besinnt er sich, die Logik ist willfährig, man kann die
-Sache auch von der andern Seite ansehn: es ist doch unrecht von den
-Elementen; sie benehmen sich wie die „knechtischen Helfershelfer der
-verruchten Töchter“, und nun<span class="pagenum"><a name="Seite_106" id="Seite_106">[S. 106]</a></span> geht ihm eine ganz neue Gedankenreihe
-auf. Es denkt in ihm: wenn’s nach der Gerechtigkeit zuginge in der
-Natur, wer dürfte getroffen werden? Er nicht; er gewiß nicht; ganz
-andern müssen die Götter so begegnen: den verborgenen Verbrechern, den
-Meineidigen, den Mordlustigen. Und wir gedenken dabei der Greuel, die
-im Hause Gloster im Gange sind. Er aber, Lear?</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft2">Ich bin ein Mensch, an dem man mehr</div>
- <div class="verse">Gesündigt, als er sündigte.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und er fängt an, sich noch tiefer zu besinnen, wie’s in der Welt
-zugeht; er wird liebevoller als je zuvor gegen den armen Narren, der
-gleich ihm selber, aber nur aus Liebe zu ihm, friert:</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>Mein armer Narr, mir blieb vom Herzen nur Ein Stück,
-das ist betrübt um dich.</p></div>
-
-<p>„Obdachlose Armut!“ Das bohrt nun immer in ihm weiter, daß es so etwas
-in der Welt gibt, nicht bloß ein Verzicht auf Eitelkeiten, nein, ganz
-wirkliche Not, völlige Entbehrung, ein Leben wie das, dem er sich in
-der Raserei dieser Nacht ausgesetzt hat. In keinem Augenblick denkt
-er praktisch, was nun von jetzt an aus ihm werden soll; ganz andre
-Dinge hat er auszumachen; wir sehen, wie sich hinter seiner eiteln,
-äußerlichen Hoheit letzte Vornehmheit verborgen hat; er muß mit dem
-Allgemeinen, mit den Zuständen dieser Erde, mit der Weltordnung fertig
-werden; das ist nun in ihm aufgekeimt, was vorher der eigenwillige
-Triebmensch ganz beiseite liegen ließ.</p>
-
-<p>Sie nähern sich einer armseligen Hütte, die Kent ausfindig gemacht
-hat; aber vergebens zunächst fordert dieser treue Knecht den Herrn
-auf, sich darin zu bergen. Solche Sorge dünkt ihn gemein; was tut ihm
-alles Unwetter da draußen im Vergleich mit dem Sturm in seiner Seele?
-Doch ist er nicht mehr zu festen Entschlüssen imstande; und sowie er
-sich hoch aufrichten will und auf die Bestrafung der ruchlosen Töchter
-sinnt, bricht einer in ihm zusammen, und die<span class="pagenum"><a name="Seite_107" id="Seite_107">[S. 107]</a></span> Tränen stürzen vor. Ja,
-er wird schon hineingehn; er wird zu schlafen versuchen; der gute Narr,
-der nicht von ihm gewichen ist, soll nur vorausgehn; er will erst unter
-freiem Himmel, für sich allein, sein Gebet verrichten.</p>
-
-<p>Was der König aber jetzt betet, ist eben diese Erinnerung an die, zu
-deren Schicksalsgenossen er sich in dieser Nacht gemacht hat:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ihr armen nackten Elenden, wo ihr seid,</div>
- <div class="verse">Die ihr dies mitleidlose Wetter duldet,</div>
- <div class="verse">Wie soll eu’r bloßes Haupt, eu’r magrer Leib,</div>
- <div class="verse">Durchlöcherte Zerlumptheit euch beschützen</div>
- <div class="verse">Vor solchem Sturm wie der? &mdash; O, nicht genug</div>
- <div class="verse">Bedacht’ ich das! &mdash; Nimm dir’s zur Lehre, Pomp,</div>
- <div class="verse">Nur einmal fühle, was der Arme fühlt,</div>
- <div class="verse">Daß deinen Überfluß auf ihn du schüttest</div>
- <div class="verse">Und zeigst: es gibt Gerechtigkeit im Himmel!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Was für eine große neue Erkenntnis diesem König da an der Grenze des
-Wahnsinns kommt! Das ist die Gerechtigkeit im Himmel, die man selber
-auf Erden übt! Damit, daß man hier auf Erden reichlich seinen Überfluß
-auf die Armen schüttet, zeigt man, daß im Himmel gerechte Mächte
-walten. Weit ist er jetzt davon entfernt, die Extragötter anzurufen,
-die ihm persönlich helfen sollen; und doch hätte er’s nie nötiger
-gehabt. Aber er hat schon viel gelernt; hat zu denken gelernt und damit
-zu fühlen und gut zu sein.</p>
-
-<p>Und in diesem Augenblick, wo er von seinem Elend absieht auf die vom
-Schicksal Verstoßenen auf dem weiten Erdenrund, tritt aus der Hütte,
-die sie leer geglaubt hatten, das nackte Elend leibhaftig: ein nackter
-Bettler, toll, besessen, von allen Teufeln verfolgt, wahnsinnig. Wir
-wissen: es ist Edgar Gloster, der sich vor seinem Vater und seinem
-Bruder bergen muß, der von Cornwall geächtet ist; das Elend ist echt,
-der Wahnwitz ist angenommen, wie umgekehrt Lear ganz dicht am Wahnsinn
-steht, im Elend nur, weil er’s zur Stunde nicht anders will und
-erträgt.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_108" id="Seite_108">[S. 108]</a></span></p>
-
-<p>Bei diesem Anblick schließt der Wahnsinn, das tolle Zwangsspiel mit dem
-Wahnsinn: den müssen undankbare Töchter so weit gebracht haben; was
-sollte einen sonst um den Verstand bringen? Die beginnende Erkenntnis
-aber, die im Fieber des Deliriums arbeitet, bohrt weiter. Sie führt ihn
-über die Wahrnehmung der Entblößtheit aus sozialen Gründen noch tiefer
-ins Echte hinein, ins Erfassen des Wesens: aller Pomp ist Schein; das,
-was da vor ihm steht in der Entblößtheit nicht bloß von Mitteln des
-Unterhalts, in der Entblößtheit des Leibes, das ist der wahre Mensch in
-seiner Nacktheit!</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>Ist der Mensch nicht mehr als das? Betracht’ ihn wohl! &mdash; Ha, drei
-von uns sind verfälscht! Du bist das Ding an sich. Der unverzierte
-Mensch ist nicht mehr als so ein armes, nacktes, gabelförmiges Tier
-wie du bist!</p></div>
-
-<p>Zum ersten Mal achtet der Mann, der sich bisher abends hat aus den
-Königsgewändern und in sein Nachtgewand helfen, morgens anziehen
-lassen, in dieser Sturmnacht beim flackernden Schein eines Kienspans
-auf den nackten natürlichen Menschen und seine Gestalt. Wieder ein
-Stück Anschauungsunterricht, aus dem er sofort die Lehre zieht:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Fort, fort, erborgter Plunder!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Zur Echtheit will er vordringen; er reißt sich die Königsgewänder ab
-&mdash; und sieht sich dabei in alter Gewohnheit nach den Dienern um, die
-ihm helfen sollen, sich zu entkleiden! Welch eine Szene! Wo ein Greis
-im nächtlichen Wettersturm anfängt, Wirklichkeit und Güte zu lernen,
-aber sein Hirn ist nun so geworden, daß er nur noch in Gestaltensehen
-und leidenschaftlicher symbolischer Aktion lernen kann. Und der Sturm
-heult, der Donner tobt, der Regen prasselt, Edgars Vater, der alte
-Gloster, voller Erbarmen gegen den König, zu mildtätiger Hilfe bereit,
-die ihm übel bekommen soll, tritt dazu, und Edgar, um sich vor dem
-Vater, der ihm ein grausamer Verfolger ist, zu verbergen, bricht
-in tollere Reden aus. Zugleich nimmt Lears immer weiter bohrende
-Erkenntnis wieder Wahnsinnsform an. Der ihn<span class="pagenum"><a name="Seite_109" id="Seite_109">[S. 109]</a></span> das gelehrt hat, die Sache
-zu erkennen, wie sie wirklich ist, bis zur Echtheit des Wesens, bis
-zur nackten Natur vorzudringen, der ist, nackt und zähneklappernd und
-irre redend, wie er vor ihm steht, ein edler Philosoph, ein weiser
-Thebaner, ein hoher Gelehrter. Und kaum sind sie durch Gloster auf
-einem seiner Pachthöfe unter Dach und Fach gebracht worden, so weiß
-er genau, wozu ihm dieser Weise, der die Wahrheit mit seinem Leibe
-kündet und der überdies zwischen Tiefsinn und Unsinn ein Kauderwelsch
-von sich gibt, aus dem der kranke Sinn des Königs manche Erleuchtung
-empfängt, zugeführt worden ist: die Töchter sollen vor Gericht gestellt
-werden! Der nackte Bettler ist ihm, eben weil er nackt ist und keine
-Falschheit und Verhüllung anhat, „der Mann im Rechtstalar“; der Narr
-ist der eine Beisitzer, der treue Knecht der zweite. Vors Gericht des
-Volks und der Wahrheit werden die Königinnen gestellt: der tolle nackte
-Bettler, der arme Narr, der gute Knecht sind die Richter: alle drei in
-Wahrheit tief Verkleidete, hinter deren Masken Güte und Ehre wohnt.
-Und sie, selbst so an die Grenze gerückt, daß das Spiel mit grotesker
-Phantasie ihnen nahe genug liegt, gehen aus Güte, um ihn zu beruhigen,
-und aus Tollheit, von der sie sich gern anstecken lassen, darauf ein.
-Die Töchter sollen vortreten, ein Schemel stellt Goneril vor; wie Lear
-Regan holt, entwischt sie ihm, seine Gedanken, seine Bilder irren
-in andre Richtung. Jetzt sieht er eine Hundemeute vor sich, die ihn
-kläffend verfolgt, die dann wieder die Töchter zu Tode beißt, bis er
-in Erschöpfung niedersinkt. Und wie der treue Kent ihn bettet, ist er
-wieder für einen Augenblick der alte König, und nichts von aller Würde
-und Behaglichkeit ist ihm genommen worden: „Macht keinen Lärm, zieht
-die Vorhänge zu.“ Er schläft ein.</p>
-
-<p>So läßt ihn Gloster auf einer Sänfte fortbringen; er soll nach Dover,
-zu Cordelia, zu dem Heer der Franzosen, das dort schon gelandet ist.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_110" id="Seite_110">[S. 110]</a></span></p>
-
-<p>In den Wirren des Reichs, die sofort nach König Lears Abdankung
-eingetreten sind, in den heimlichen Machenschaften zwischen Cornwall
-und Albanien und beider Feindseligkeit gegen den alten König, hat sich
-eine Partei zu Frankreich, zu Cordelia geschlagen, deren Rechte in dem
-Augenblick erwachen, wo die andern Töchter die Vereinbarungen mit ihrem
-Vater brechen. Kent und Gloster gehören zu dieser Partei. Gloster ist
-schon in Verbindung mit dem französischen Heer; für Cornwall ist das
-ärgste Gefahr, und er hat das Recht, es für Hochverrat zu erklären. Was
-da vorgeht, erfährt er durch Glosters eignen Sohn, den Bastard Edmund,
-der erst den echten Sohn verjagt hat und nun Graf an seines Vaters
-Stelle werden will: grauenhaft ist die Rache, die Cornwall nimmt: die
-Augen werden Gloster aus den Höhlen getreten, gerissen; in der Ekstase
-des Zorns hatte der alte Mann gerufen, er werde noch sehen, wie die
-Strafe des Himmels über die grausamen Kinder komme; das war das Wort,
-das die Art seiner eignen Bestrafung über ihn brachte.</p>
-
-<p>Ein geblendeter Vater war er schon zuvor, wie Lear sein Herr. Und wie
-Lear im Wahnsinn das Denken lernt, so gehen Gloster nach der Blendung
-die Augen auf. Bei Dover begegnen die beiden einander wieder: Lear
-auf der Flucht vor der Tochter, an der er gesündigt hat und deren
-Anwesenheit er in lichten Momenten ahnt; der andre, Gloster, durch den
-Tod hindurchgegangen und im äußersten Elend wie zu Ruhe und Frieden
-auferstanden und wiedergeboren: von der hohen Klippe über Dover hat er
-sich hinabzustürzen vermeint; aber der echte Sohn Edgar in allerlei
-fremden Gestalten und mit allerlei Täuschungen hat den blinden Vater
-gerettet, und wie ein Fluidum der Sanftmut und heilenden Liebe ist es
-vom verstoßenen Sohn und vom Tod her über den alten Mann gekommen.</p>
-
-<p>Und wir empfinden, wie der Elende, der von hoher Herrlichkeit so
-hinuntergestürzt ist, als blinder Bettler ergeben<span class="pagenum"><a name="Seite_111" id="Seite_111">[S. 111]</a></span> am Wege sitzt, sein
-noch unerkannter Sohn bei ihm, von diesem Vater verstoßen und auch
-im selbstgewählten nackten Bettlerdasein, wir empfinden in tiefster
-Seele die alte Weisheit: Es ist alles eitel; alles, was zur innersten
-Verborgenheit des Wesens als Aufputz und Zierat dazu kommt. Und in
-diesem Augenblick tritt Lear der König auf; wieder ganz herrisch für
-diesen Augenblick; und da dem Abgerissenen, der durch Wälder und
-Felder gerannt ist, der Königsornat fehlt, hat er sich mit Blumen
-ausgeschmückt. Der Wahnsinn hängt nun dicht und schwer über ihm; aber
-auch in dieser lastenden Wolke verfolgt er sein seltsames Lernen
-weiter. Zum König hat er sich jetzt wieder gemacht, um lebendig in
-seinen einstigen Zustand zurückgreifen zu können und mit besserer
-Einsicht sein Königserlebnis mit den Menschen zu wiederholen. Wie
-hatten sie ihm die Welt mit Schmeicheleien verhüllt; „Ja“ und „Nein“
-zugleich zu allem gesagt, was er vorbrachte!</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>Ja und Nein dazu, das war keine gute Religion! Als der Regen kam,
-mich zu durchnässen, und der Wind, mich schaudern zu machen; als
-der Donner nicht einhalten wollte auf meinen Befehl, da fand ich
-sie, da witterte ich sie aus.</p></div>
-
-<p>Die unerbittlich wahre Natur, die außer der Sprache ihrer Taten nicht
-noch eine der Bemäntelung und Lüge hat, hat diesen Fürsten, der
-von Lüge erstickt war, in die Schule genommen. Und nun ist er, der
-Selbstherrscher, der König von Götter Gnaden, in Not und Wahnwitz zur
-selben Erkenntnis gekommen wie Richard II. in dem Augenblick, wo
-man ihn der Macht entkleidete:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sie sagten mir, ich wäre jedes Ding; ’s ist erlogen;</div>
- <div class="verse">das Fieber ist stärker als ich.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Nun merkt er die Schranken, die Gleichheit alles dessen, was von
-Menschenhaut umspannt ist; seine Hand „riecht nach Sterblichkeit“. So
-hatte es Richard gesehen:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_112" id="Seite_112">[S. 112]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ihr irrtet euch die ganze Zeit in mir:</div>
- <div class="verse">Wie ihr leb’ ich von Brot, ich fühle Mangel,</div>
- <div class="verse">Ich schmecke Kummer und bedarf der Freunde.</div>
- <div class="verse">So unterworfen, &mdash; kann ich König sein?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und jetzt, wo Lear weiß, was der nackte Mensch ist, jetzt weiß er
-auch, wie in dieser Welt der Kostüme, der Lüge, der Politik von
-Würdenträgern, Beamten, Richtern Unrecht geübt wird. Hör’ zu, blinder
-Mensch im Staub, der du dich freiwillig von der höchsten Klippe
-hinunterwerfen mußtest, um zu dir selbst zu kommen, hör’ zu, wie dein
-König auf Elends- und Wahnsinnswegen aus dem Lager seiner politischen
-Töchter hinweg endgültig zu Cordelia, zur Menschheit, zur Echtheit
-heimgefunden hat! Was hat er denn selber in seinem Königsornat geübt?
-Willkür! Laune! Und seine Beamten? Ach, du Blinder, das kannst du
-merken, ohne zu sehen. Hör’ nur hin, wie der Richter sich über den
-armseligen Dieb erhebt!</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>Wechsle die Plätze, dreh die Hand um, horch hin: wer ist der
-Richter, wer der Dieb?</p></div>
-
-<p>Er gewahrt alles in bewegten Bildern, er erlebt die Wahrheit in
-lebendiger Aktion:</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>Hast du wohl einmal gesehn, wie ein Pächterhund einen Bettler
-angebellt hat? &mdash; Ja? &mdash; Und der Tropf lief vor dem Hund davon?
-&mdash; Da hast du das große Bild der Autorität: einem <em class="gesperrt">Hund</em> im
-<em class="gesperrt">Amt</em> gehorcht man.</p></div>
-
-<p>Alles, was er je gesehen, was in seinem Namen geschah, wird in ihm
-aufgerührt; und zugleich melden sich die Triebe, die ihm sagen: wir
-Herren, wir Gebieter, wir strafenden Richter und Henker, wir spielen
-eine Rolle; wir stellen uns an, als wären wir wie unser unbefleckter
-Mantel, als wären wir unser Amt; und was sind wir in unsrer
-Wirklichkeit, in unserm Leib? Die scharfe Erkenntnis, die sich im Ton
-der zugleich unerbittlich logischen und bildkräftigen Prosa geäußert
-hat, schwingt sich &mdash; wie so oft in diesen Szenen Lears &mdash; wie zu
-dichterisch gesteigerter Proklamation auf:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_113" id="Seite_113">[S. 113]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Du Schuft von Büttel, weg die blut’ge Hand!</div>
- <div class="verse">Was schlägst du diese Dirne? Peitsch’ dich selbst!</div>
- <div class="verse">Heiß glühst du, das mit ihr zu tun, wofür</div>
- <div class="verse">Du sie zerschlägst.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Da haben wir in Lears Erkenntnis das Motiv, das sich in Maß für Maß zum
-Drama ausgestaltet hat.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Der Wuchrer hängt den Gauner.</div>
- <div class="verse">Durch lump’ge Kleider scheint der kleinste Fehl;</div>
- <div class="verse">Ein reich Gewand deckt alles.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Die Klarheit, wie’s in der Welt zugeht und was die innere Wahrheit der
-Dinge ist, kommt jetzt; aber es ist ja zu spät; sein alter Leib hält’s
-ja nicht mehr aus; sein Geist ist ja dieser fieberhaften Anstrengung
-nicht mehr gewachsen. Es geht alles wirr und wüst durcheinander;
-er kann ja schon nicht mehr leben, wo es jetzt in ihm anfängt zu
-tagen. Manchmal ist er in hoher Erkenntnis und einmal in höchster;
-da eint sich sein alter Königsstolz mit der erhabnen Einsicht eines
-Augenblicks; der Ekel hatte ihn übermannen wollen über diese feile,
-gemeine, verbrecherische Welt der Lüge; aber wenn man erst so nah der
-Enthüllung ist, braucht’s nur noch einen Schritt; er tut ihn: Der
-Reiche entgeht dem Speer des Gesetzes; der Arme wird vom Strohhalm
-eines Zwergs gefällt; schon will er sagen, daß alle, alle Sünder sind;
-aber königlich hoheitsvoll kommt jetzt die Demut über ihn; wie viel
-weiter ist er nun in diesem Moment als in der Wetternacht, wo er in der
-Hütte des armen Toms die Töchter vors Gericht schleppte:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Es sündigt keiner; keiner, sag’ ich, keiner.</div>
- <div class="verse">Ich schütze sie; glaub’, Freund, ich habe Macht,</div>
- <div class="verse">Des Klägers Mund zu stopfen.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Was für eine Macht ist das, die da mit all seiner Königshoheit
-auftritt? Seine Erfahrung im Unglück und in der Herrlichkeit; sein
-Leben in beiden Reichen: er versteht sich jetzt auf das Leben der
-Enterbten und auf die Innerlichkeit der Obrigkeiten; er ist ein Mensch
-geworden, der das<span class="pagenum"><a name="Seite_114" id="Seite_114">[S. 114]</a></span> Bewußtsein seiner selbst und das Bewußtsein seines
-Gegenübers zugleich hat; aber o Jammer! nur wie Fetzen blauen Himmels,
-die die Wolkenschicht mal öffnet, mal schließt, sind diese höchsten
-Momente; schon im nächsten Augenblick tollt ihn die Verrücktheit wieder
-in seinen alten Königswahn hinein, und der Monarch ruft ungeduldig,
-herrisch die Diener herbei, die nicht da sind, ihm schnell die Stiefel
-auszuziehn! So ist er in dem Augenblick, wo die Abgesandten Cordelias
-ihn auffinden, in völliger Raserei. Dann aber kommt er in Pflege, in
-die behutsame, liebevolle Pflege Cordelias und ihres guten Arztes. Der
-heilt ihn mit Ruhe, mit Schlaf und weckt ihn schließlich mit sanfter
-Musik. Und nun möchte ich Adalbert Stifter das Wort geben, dessen
-Schilderung einer Lear-Aufführung am Burgtheater mit Anschütz, die er
-in seinen „Nachsommer“ verflochten hat, das Schönste ist, was je über
-diese Tragödie geschrieben wurde:</p>
-
-<p>„Der König erwacht endlich, blickt die Frau an, hat nicht den Mut, die
-vor ihm stehende Cordelia als solche zu erkennen, und sagt im Mißtrauen
-auf seinen Geist mit Verschämtheit, er halte diese fremde Frau für sein
-Kind Cordelia. Da man ihn sanft von der Wahrheit seiner Vorstellung
-überzeugt, gleitet er ohne Worte von dem Bette herab und bittet kniend
-und händefaltend sein eigenes Kind stumm um Vergebung.“</p>
-
-<p>Der Unterricht des alten Mannes ist vollendet: er &mdash; jeder Zoll ein
-König! &mdash; hat Demut und Selbstüberwindung gelernt. Wie er die Demut,
-als er noch in Wahnsinnsform den Wahn seiner Königswut durchbrach,
-verkündet hatte, so kann er sie jetzt in letzter Klarheit und Würde
-vor dieser reinen, kindguten, herb wahren Frauengestalt üben, die er
-geliebt hatte, ohne sie zu kennen, sie, die an seinem Hof die Echtheit,
-die Natur, die Seelenschönheit repräsentiert hatte.</p>
-
-<p>Und wie hatte er, gerade noch in seiner letzten Raserei, wo alles
-Verhohlene in ihm aufgewühlt wurde und er zu den<span class="pagenum"><a name="Seite_115" id="Seite_115">[S. 115]</a></span> letzten Gründen des
-tierisch Allzumenschlichen vordrang, in wüsten sexuellen Bildern gegen
-die Weiber gewütet! Die beiden andern Töchter traf’s &mdash; wir haben ja
-ihr aus Herrschaftsgier, aus wonnigem Verlangen nach der Gemeinheit
-und aus edlerer Sehnsucht gemischtes ehebrecherisches Treiben mit dem
-Bastard miterlebt, das nun noch weitergeht:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Vom Gürtel niederwärts sind sie Kentauren,</div>
- <div class="verse">Wenn oben gleich ganz Weib.</div>
- <div class="verse">Nur bis zum Gürtel sind sie Götterwohnung,</div>
- <div class="verse">Doch drunter ganz des Teufels...</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Es ist eine tiefe Erkenntnis Shakespeares &mdash; fast haben wir ihn doch
-über dem Erleben dieser Gestalten vergessen, die alle seines Geistes,
-seiner Natur, seiner Kunst Geschöpfe sind &mdash;, daß er den Machtkitzel
-zu allerletzt auf einen Wahn zurückführt, der mit anderm Namen Wollust
-heißt. So weit die ichsüchtige Lüsternheit sich von ewiger Liebe
-entfernt, so weit irrt die Herrschgier von der geordneten Eintracht
-zwischen den Menschen ab; und beides ist dasselbe, derselbe Fehl unsrer
-schwachen, gemengten Menschennatur: daß wir erraffen und haben müssen,
-um unsres Ich und der Nächsten sicher zu sein, daß wir haben müssen, um
-zu sein.</p>
-
-<p>Was in ihm Wutmanier, Herrensinnlichkeit und gebieterisch besitzende,
-besessene Wollust der Wirklichkeit war, das haben Goneril und Regan,
-die politischen Schwestern, als Erbe bekommen; Cordelia, ein völlig
-weiblicher Mensch, hat vom Vater die ursprüngliche gute Anlage, die,
-da sie aus ihm herauskommen konnte, in ihm von je da war, und die wir
-an einem Zug gemerkt haben, der dem Vater und seinem Kind gemein ist,
-von dem wir aber an den Schwestern nicht die kleinste Spur finden:
-Kindlichkeit. Mit der Kindlichkeit steht alle Reinheit unsrer sexuellen
-Natur in tiefem Zusammenhang; das mädchenhaft Holde dieser Tochter,
-die ihrem Vater nicht von ihren Gefühlen zu reden vermochte, ihre
-Seelenkeuschheit entstammt dieser Unschuld, daß sie als<span class="pagenum"><a name="Seite_116" id="Seite_116">[S. 116]</a></span> reifer Mensch
-und liebende Frau geblieben ist, wie sie als Kind war. Und mit diesem
-seinem Kinde zusammen wird der Mann, der vordem so oft ein kindischer
-Wüterich gewesen und dessen unerzogene und verzogene Willkür trotz dem
-Grundguten seiner Natur der Schlechtigkeit so nah gekommen war, nun,
-wo’s zum Ende geht, sanft und kindlich. Nicht aber bloß so, wie man im
-gemeinen Leben von einem sanften und kindlichen Menschen spricht; wir
-haben schon, als die Wut tobte und die Krankheit verzerrte, gemerkt,
-daß da ein ungemeiner Mann sich herausarbeiten will; jetzt ist er
-das Urbild dessen, der überwunden hat, und hat ganz den Geist seiner
-Haltung. Wie die Schlacht für Cordelia und ihr Heer unglücklich ausgeht
-und Lear samt seiner Tochter in Gefangenschaft gerät, macht er sich
-aus diesem Schicksalswechsel gar nichts, nicht einmal für sein Kind;
-er ist, was er nie hat sein können, fröhlich: in gleichmäßiger Ruhe
-heiter, gelassen über die Wechselfälle der Ereignisse hinweg:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Wir wollen ins Gefängnis</div>
- <div class="verse">Und wie zwei Vögel in dem Käfig singen.</div>
- <div class="verse mleft7">... So woll’n wir leben:</div>
- <div class="verse">Man betet, singt, sagt alte Märchen, lacht</div>
- <div class="verse">Der goldnen Falter, hört wohl armer Leute</div>
- <div class="verse">Gered’ vom Hof und schwatzt wohl selber mit...</div>
- <div class="verse">Wir tun so wichtig mit geheimen Dingen,</div>
- <div class="verse">Als sei’n wir Gottes Späher; überleben</div>
- <div class="verse">Im Kerker Sekten und der Großen Streit,</div>
- <div class="verse">Was ebbt und flutet mit dem Mond...</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Man sieht, aus der Welt jeglicher Gier und Macht ist er völlig
-ausgeschieden; er, dem nichts galt als die Größe, die Herrlichkeit,
-das Befehlshabertum und der Pomp, ist ein kleiner Mann geworden, einer
-von den Stillen im Lande, deren Erhabenheit in Lächeln, in Frieden,
-in Überwindung besteht; ein Armer in jeglichem Sinn, auch in dem der
-christlichen Mystik: ein freiwillig Armer, ein Abgeschiedener,<span class="pagenum"><a name="Seite_117" id="Seite_117">[S. 117]</a></span> der
-nichts hat und nichts will. Aber dieses stille Versickern seines
-schwachen Lebensrestes in genügsamer Beschaulichkeit ist ihm nicht
-beschieden; zu tief hat sein früheres Treiben, zumal sein Handel mit
-den drei Töchtern ihn und die gute Cordelia mit ihm ins Böse, ins
-Politische, in Krieg und Mord verstrickt. Die sanfte, unpolitische
-Cordelia hat um seiner und um Britanniens Rettung willen zur Politik
-und den Waffen greifen müssen, die politischen Schwestern haben, um
-die Ziele ihrer privaten und öffentlichen Gier durchzusetzen, den
-Mann immer weiter nach oben gebracht, in dem das böse Prinzip sich
-verkörpert, den Glosterbastard Edmund, und nun ist es so weit gekommen,
-daß der Teufel und der Engel in Menschengestalt, Edmund und Cordelia,
-einander gegenübertreten; der Teufel bekommt, so weit ist’s in diesem
-Reich des Wahns gediehen, den Engel in die Hand, steht siegreich über
-ihm und darf ihn umbringen.</p>
-
-<p>Und nun sehen wir noch einmal den rasenden, den brüllenden, den
-wütenden König Lear; jetzt darf er toben; diesmal geht’s nicht um
-Eitelkeiten, nicht um ihn selber; sein Jammer tönt um den liebsten
-Menschen, nicht weil er sie nun nicht mehr haben soll, nein, weil man
-ihr das Leben, weil man sie der Welt genommen hat.</p>
-
-<p>In dem ganzen Stück scheint sich der Kampf des Guten,
-Menschenfreundlichen, Verträglichen mit dem Bösen, Gierigen,
-Ränkevollen und grausam Wütenden zu verkörpern, und so wie in Lear
-selbst eine tragische Bühne aufgeschlagen ist, auf der dieser
-Widerstreit der Mächte ausgefochten wird, so scheint er der König
-eines Reichs jenseits Britanniens, jenseits aller Reiche der Erde
-zu sein, wo dieser metaphysische Kampf der zwei Mächte um das
-Weltregiment gestritten wird. Auf der einen Seite Goneril und Regan,
-die wie Zwillingstöchter des Herrschteufels erscheinen; auf der andern
-Cordelia; hie Edgar, hie Edmund. Und auch der Verlauf der Geschehnisse
-ist so, daß Bös und Gut sich immerzu messen und abwechselnd siegen; und
-immer erscheint Bös<span class="pagenum"><a name="Seite_118" id="Seite_118">[S. 118]</a></span> als Reich dieser Welt, Reichtum, Unersättlichkeit;
-Gut als Stille, Friedfertigkeit, Armut. Der gute alte Gloster wird von
-Cornwall geblendet; sofort empört sich ein alter Knecht, einer von
-den kleinen Leuten der Menge, wir haben vorher nichts von ihm gesehen
-noch gehört, gegen den Herrn und verwundet ihn zu Tode; und Schlag auf
-Schlag; unmittelbar darauf ist das Böse wieder Meister: Regan bringt
-den Knecht um. &mdash; Der Haushofmeister Gonerils,</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">ein dienstergebner Bube,</div>
- <div class="verse">So treu den Lastern der Gebieterin,</div>
- <div class="verse">Als Schlechtigkeit nur wünscht,</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>will den Hochverräter Gloster, blind wie er ist, töten; Edgar der
-Sohn, in Gestalt eines Bauernlümmels, nimmt dem Herrenknecht vorher
-das Leben. Edmund der Bastard tötet Cordelia; ihn aber erschlägt
-in ritterlichem Kampf sein wundervoller Bruder Edgar, der Armut
-und Tapferkeit, Milde und Heldentum in sich vereint. Und zugleich
-stirbt das Schwesternpaar, das nach dem Bastard lechzt: Regan von
-Goneril vergiftet, Goneril von eigner Hand, am meisten aber von der
-schneidenden Verachtung ihres „milden Gemahls“, wie sie ihn genannt
-hatte, getötet. Der, Albanien, hatte sich in ruhiger Verachtung, in
-einer Haltung stiller Größe von ihr geschieden, die ihr bitterer sein
-mußte als irgendein Wutausbruch eines Brutalen; zu seiner Schwägerin
-gewandt hatte er in dem Augenblick, wie er den Bastard in Haft nahm,
-die Worte gesprochen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und Euren Anspruch auf ihn, schöne Schwester,</div>
- <div class="verse">Muß ich bestreiten namens meiner Frau.</div>
- <div class="verse">Sie ist mit diesem Herrn geheim verlobt,</div>
- <div class="verse">Ich als Gemahl tu’ Einspruch Eurer Ehe.</div>
- <div class="verse">Sucht Ihr ’nen Mann, schenkt Eure Liebe mir;</div>
- <div class="verse">Mein Weib ist schon versagt.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Man hat es gewagt, Balzac einen Shakespeare zu nennen; das war weitaus
-zu viel gesagt; Gonerils und Regans im Kostüm seiner Zeit sind ihm
-trefflich gelungen; viel höher<span class="pagenum"><a name="Seite_119" id="Seite_119">[S. 119]</a></span> ist es nicht gegangen; aber an solcher
-Stelle Shakespeares wie dieser merkt man, woher der Irrtum gekommen
-sein mag: in Shakespeare dem Unerschöpflichen steckt auch, diese
-Worte Albaniens zeigen’s, der ganze Balzac, dazu aber noch, auch in
-schneidender Verachtung, eine Vornehmheit, die Balzac ewig unerreichbar
-blieb.</p>
-
-<p>Sehen wir nun, daß uns die letzten blutigen Entscheidungen, in denen
-es um Leben und Tod geht, über das Verhältnis von Gut und Böse in
-dieser Welt keine Sicherheit geben, daß der Kampf unruhig hin und her
-wogt, so tun wir vielleicht gut, von den Taten, die keine Klarheit
-bringen, überzugehen zu den Worten, die sie begleiten. Wie steht es
-mit dem Zusammenhang von Menschenschicksal und Weltordnung? Welche
-Weltanschauung des Dichters hat im König Lear Gestalt angenommen?
-Sehen wir zu; leicht möglich, daß wir hier endgültige Aufklärung über
-Shakespeares Weltanschauung erhalten.</p>
-
-<p>Lear hat sein Reich geteilt; Gloster hat von seinem Bastardsohn Edmund
-&mdash; dessen Bastardsohn Franz Moor heißt &mdash; mit Hilfe eines gefälschten
-Briefes erfahren, daß sein Sohn Edgar ein Ruchloser ist, der nach des
-Vaters Besitz und Herrschaft und Leben trachtet. In dieser innern
-Verfassung des Jammers über sein mißratenes Kind und über die Lösung
-aller Bande in der Familie des Königs spricht er die Anschauung aus:</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>Diese neulichen Verfinsterungen der Sonne und des Mondes bedeuten
-uns nichts Gutes. Mag sie die Naturweisheit so oder so deuten,
-immer findet sich die Natur selbst durch die darauf folgenden
-Wirkungen gepeinigt: Liebe erkaltet, Freundschaft fällt ab, Brüder
-entzweien sich: in Städten Aufruhr, auf dem Lande Zwietracht, in
-Palästen Verrat; und das Band zwischen Sohn und Vater zerrissen.
-Dieser mein Bube bestätigt die Wahrsagung: da ist Sohn gegen Vater;
-der König tritt aus dem Geleise der Natur: da ist Vater gegen Kind.
-&mdash; Wir haben gesehen, wie weit unsre Zeit es bringen kann:<span class="pagenum"><a name="Seite_120" id="Seite_120">[S. 120]</a></span> Ränke,
-Gleißnerei, Verrat, und alle verderblichen Zerrüttungen folgen uns
-quälend bis ans Grab!... Und der edle, biederherzige Kent verbannt
-&mdash; sein Verbrechen: Ehrlichkeit! &mdash; ’s ist seltsam!</p></div>
-
-<p>Eine Beschreibung der Sphäre dieses Stückes, in der all die
-verschiedenen Handlungsteile darin sind, haben wir sicher mit diesen
-Worten; wenn aber darüber hinaus nicht nur Gloster in seiner bestimmten
-Situation, sondern der Dichter sich hier im allgemeinen über den
-Zusammenhang der Menschengreuel und der Zeichen der Natur äußern
-soll, so muß es uns stutzig machen, daß sich diese Weltanschauung
-des Dichters auf einer falschen Voraussetzung, die er eine seiner
-Gestalten machen läßt, aufbaut: Glosters echtes Kind Edgar, „dieser
-Bube“ bestätigt ja die Wahrsagung in der Tat nicht. So erstaunt es uns
-schon weniger, wenn der Bastard sofort darauf das Wort erhält und mit
-herzhafter Kraft die entgegengesetzte Auffassung äußert:</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>Das ist die ausbündige Narrheit dieser Welt, daß, wenn unser
-Glück bei schlechtem Befinden ist &mdash; oft, weil wir selber uns
-übernommen haben &mdash;, wir die Schuld für alles Unheil, das uns
-trifft, auf Sonne, Mond und Sterne schieben; als ob wir Schurken
-aus Notwendigkeit, Narren durch himmlische Fügung wären; Schelme,
-Diebe, Verräter durch Machtspruch der Sphären, Trunkenbolde, Lügner
-und Ehebrecher durch Abhängigkeit vom Einfluß der Planeten, und
-alles, worin wir übel daran sind, durch göttliches Verhängnis: eine
-prächtige Ausrede für den Hurenjäger von Menschen, seine Bocksnatur
-den Sternen zur Last zu legen!... Pah, ich wäre geworden, was ich
-bin, hätte auch der jungfräulichste Stern am Firmament meiner
-Bastardierung zugeblinzt!</p></div>
-
-<p>So spricht der Empörer, der Morallose, der Frevler, der natürliche
-Sohn, der sich ganz als Kind der Natur betrachtet und nur nach seiner
-Kraft, nicht nach Gesetz und Sitte und Rücksicht auf andre fragt; „ich
-wachse, ich gedeihe“; das ist<span class="pagenum"><a name="Seite_121" id="Seite_121">[S. 121]</a></span> seine einzige Losung. Daß er also diese
-Worte spricht, die jedes Band zwischen Himmel und Erde zerreißen,
-entspricht seinem Charakter, seiner Situation genau so kraftvoll, wie
-das bedenkliche Wiegen des Kopfes, das Grübeln, das Suchen nach einem
-Zusammenhang, das Erschauern vor einer Ahnung, die Ergebung in die
-Ratschlüsse des Himmels zu seinem Vater paßt. Aber der Dichter? Was
-sagt er? Vielleicht &mdash; nichts? Wo ist er? Verschwindet er vielleicht
-hinter seinen Gestalten, in seinen Gestalten, aber nicht in einer
-einzigen oder einer Gruppe, sondern in allen? Ist er vielleicht darum
-mit Notwendigkeit der Dramatiker, weil er einer einzigen Anschauung
-nicht verschrieben sein kann?</p>
-
-<p>Nach seiner Blendung weiß Gloster von dem Verhältnis des Himmels zu
-unsern irdischen Losen ganz anderes zu sagen als vorher; da hören wir
-die unerbittliche, unerforschliche Grausamkeit des Schicksals also
-gedeutet:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Was Fliegen losen Buben sind wir Göttern:</div>
- <div class="verse">Sie töten uns zum Spaß.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Aber er ist sich seiner Sache jetzt nicht mehr sicher; auch er ist, wie
-Lear, erschüttert und zum Lernen gekommen: am Ende tragen die Menschen
-und ihre Einrichtungen größere Schuld als die Götter; vielleicht ist
-gerade das Unglück eine Art ausgleichende Gerechtigkeit? Wie er zum
-Freitod entschlossen oben auf der Klippe über Dover in hoher Luft zu
-stehen vermeint und einem armen, tollen Bettler &mdash; seinem Sohn! &mdash;
-schenkt, was er bei sich hat, Geld und Schmuck, da meint er:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">... Mein Elend</div>
- <div class="verse">Bringt dir Glück. Ganz recht so, ihr Himmelsmächte!</div>
- <div class="verse">Laßt überfluß- und wollusttrunknen Mann,</div>
- <div class="verse">Der eurer Satzung trotzt, der nicht will sehen,</div>
- <div class="verse">Weil er nicht fühlt, schnell fühlen eure Macht:</div>
- <div class="verse">Verteilung tilgte so das Übermaß,</div>
- <div class="verse">Und jeder hätt’ genug.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Da ist es nun ganz deutlich, wie der blinde Gloster im Augenblick, wo
-er vor dem Tod steht, mit hellen Geistes<span class="pagenum"><a name="Seite_122" id="Seite_122">[S. 122]</a></span> Augen zu derselben Erkenntnis
-kommt wie noch in der nämlichen Stunde der wahnsinnige Lear. Für beide
-wird in dem Unterricht, den ihnen der Sturz von der Höhe erteilt,
-die metaphysische Weltanschauung, der sie beide wohl in der Zeit der
-Herrlichkeit angehangen haben, ergänzt und zu großem Teil ersetzt
-durch die soziale Betrachtung, die ja in Wirklichkeit die Erkenntnis
-birgt: Schiebt nicht den Göttern zu, was euer Menschenwerk ist, was ihr
-schlecht gemacht habt und gut machen könnt.</p>
-
-<p>Und doch kann-will es der Mensch nicht lassen, in den hohen
-Augenblicken des Menschenschicksals manchmal sichtbar und greifbar die
-geheime Führung, die Vorsehung, die ewige Gerechtigkeit, den Sinn zu
-erblicken. Wie der gute Albanien hört, daß nach Glosters scheußlicher
-Blendung der Täter, sein Schwager Cornwall, sofort vom eignen Knecht,
-der ihm Jahre gedient und zu Gloster keine Beziehung hatte, aus Aufruhr
-der Seele heraus erschlagen worden ist, ruft er, tief erschüttert ob
-dieser Vergeltung:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft2">Dies zeigt, ihr waltet droben,</div>
- <div class="verse">Ihr Richter, die der Menschen Übeltat</div>
- <div class="verse">So schleunig rächen!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Hier erleben wir aber eine wundervolle Steigerung. Edgar hat seinen
-Bruder, den Bastard, der über ihn und seinen Vater das Elend gebracht
-hat, im Zweikampf feierlich-ritterlicher Art, im Gottesgericht besiegt;
-in dem Augenblick, wo er dann sich, mild verzeihend, dem Sterbenden
-enthüllt, findet er Worte des Verstehens auch für dies Entsetzliche
-selbst, für die Blendung seines Vaters; wie Albanien in der Tat, die
-dieses Gräßliche gerächt hat, so findet der eigene Sohn himmlischen
-Sinn in dem Gräßlichen selbst:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Die Götter sind gerecht, aus unsern Sünden</div>
- <div class="verse">Erschaffen sie das Werkzeug unsrer Strafe.</div>
- <div class="verse">Der dunkle, schnöde Platz, wo er dich zeugte,</div>
- <div class="verse">Raubt ihm das Augenlicht.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_123" id="Seite_123">[S. 123]</a></span></p>
-
-<p>Geben wir’s nur zu: wir wären keine Menschen, wenn wir in den Momenten
-der innigsten Erschütterung, die uns so hinnimmt, daß wir nicht wissen,
-drückt sie uns nieder oder erhebt sie uns, mit dem Ewigen nicht spielen
-müßten, wie hier Edgar spielt, wie die Guten alle in dieser furchtbaren
-Welt des Zorns, der Bosheit, der Brunst und Gier, wenn Erkenntnis sie
-anrührt, spielen, in einem Spiele spielen, das dem Glauben so verwandt
-ist, wie ihre Art, die Wahrheit zu schauen, dem Wahn. Was Edgar da
-sagt, heißt ja doch: Du, den der Vater in Sünden, in Wollust, in
-Unehren, fern von Familie und aller gesellschaftlichen Anerkennung,
-wie in einem dunklen Loch in die Welt gesetzt hat, du, der als Bastard
-zum Aufrührer geboren war, du Bruder, in dem Neid und Rachsucht von
-Geburts und Erziehungs wegen entstehen mußte, du warst von Gottes
-und Rechts wegen der berufene Rächer seiner Sünde; und daß er durch
-dich der Finsternis anheimfiel, darin kann man tiefen Sinn und Fügung
-des Himmels erkennen. Ein solcher Ausruf, eine solche Bewunderung,
-ein solches Sichbeugen ist ja nicht die Setzung einer Theorie, es
-ist ein Stück heiligen Willens: so sei die Welt! ist ein Entschluß,
-ist die Umschaffung der natürlichen Welt in eine Menschenwelt und
-zugleich die Anerkennung des unverbrüchlichen Zusammenhangs der
-Notwendigkeitsordnung, die wir Ursache und Wirkung nennen: Denn alle
-Schuld rächt sich auf Erden.</p>
-
-<p>Während dies sich zwischen den Brüdern ereignet, wo der milde Held den
-bösen Kraftkerl tötet und ihm Verzeihung in sein Sterben ruft, stirbt
-der alte Vater still und lebenssatt. Er ist noch mitten in den Krieg
-geraten, hat miterlebt, wie die gute Sache, der er gedient hatte, für
-die er alles gegeben, unterlag, wie Lear und Cordelia gefangen wurden;
-der blinde Greis hockt unter einem Baum, will nicht mehr weiter, will
-sich nicht retten:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nicht weiter, Freund, ein Mensch verwest auch hier.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_124" id="Seite_124">[S. 124]</a></span></p>
-
-<p>Da ermuntert ihn der immer noch unerkannte Sohn Edgar, mit Worten, in
-denen zugleich Resignation und Tatkraft liegt: über nichts verzweifeln,
-alles tragen, nicht aber es stumpf über sich ergehen lassen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Dulden muß der Mensch</div>
- <div class="verse">Sein Scheiden wie sein Kommen in die Welt.</div>
- <div class="verse">Reif sein ist alles.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>In alledem haben wir je nach Charakter, Stimmung, Situation wechselnde
-Gefühle, Gedanken, Bereitschaften angesichts großen Unglücks; und
-immer versucht der Mensch, Himmel und Erde in Verbindung zu bringen
-oder ohne das auszukommen. Aber auch, wenn große, innige Seligkeit zu
-einem kommt oder wenn gar die Gleichzeitigkeit und das Ineinander des
-Bösen und des Guten gewahrt wird, ist der Mensch geneigt, den Himmel
-zur Erde hinabzuziehen und das Wunderbare als geheimen Zusammenhang zu
-erfassen. Wie Kent die Güte seines Lieblings Cordelia und die Bosheit
-ihrer Schwestern betrachtet, ist es ihm, als reichten irdische Gründe
-zur Erklärung des Warum all der Rätsel hier auf Erden nicht aus. Es muß
-eine überirdische Lenkung da sein; ein uns unbegreifliches Verhängnis,
-das in den Sternen geschrieben steht:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft12">Die Sterne,</div>
- <div class="verse">Die Sterne droben leiten unser Schicksal.</div>
- <div class="verse">Wie könnte sonst ein Paar wohl Kinder zeugen,</div>
- <div class="verse">So ganz verschieden?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Die Szene am Schluß aber, wie Lear, selbst ein Sterbender, schwach,
-taumelnd, die Leiche der grauenhaft ermordeten Cordelia auf den Armen
-herein trägt, wie nun sein letztes Leben als Leidenschaft aufschreit,
-diese Szene hat wahrhaft Weltuntergangsstimmung:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Heult, heult, heult, heult! &mdash; O, ihr seid all von Stein!</div>
- <div class="verse">Hätt’ eure Zung’ und Augen ich, des Himmels</div>
- <div class="verse">Gewölbe machte ich zusammenstürzen!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_125" id="Seite_125">[S. 125]</a></span></p>
-
-<p>Und Kent, Edgar, Albanien, die Guten, die im Untergang einer Welt, wo
-die Guten mit den Schlechten in unlöslicher Umklammerung hinabgerissen
-werden, allein noch übrig sind, bilden den Chorus:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ist dies das verheißne Ende?</div>
- <div class="verse">Ist’s jenes Grauens Bild?</div>
- <div class="verse">Sink und vergeh!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und wie Lear sterben will, flüstert Kent der Vielgetreue, der seinem
-Herrn gleich nachsterben wird &mdash; der zehnte und letzte Tote in diesem
-Stück &mdash;, ängstlich, bange, daß Lear doch ja nicht in dieses Leben hier
-noch einmal zurückkehre:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Quält seinen Geist nicht, laßt ihn ziehn! Der haßt ihn,</div>
- <div class="verse">Der auf die Folter dieser zähen Welt</div>
- <div class="verse">Ihn länger spannen will.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Man sagt, dieses Stück entstamme Shakespeares bitterster,
-pessimistischer Periode; der Untergang des Guten mit dem Bösen, durch
-das Böse werde darin gezeigt. Das ist wahr und nicht wahr; gezeigt
-wird, wie die böse Lust sich der Menschen bemächtigt, ihr angeboren
-Gutes unterdrückt und überwächst; wie dieses Schlechte Zustände und
-einen Nährboden schafft, wo auch das Gute nicht mehr gedeihen kann;
-und wie der Versuch der Umkehr, der Rettung, der Heilung zu spät
-kommen mag. Nirgends mehr als hier führt der Dichter das, was die
-Menschen einander antun, mit dem, was er zeigt, und mit dem, was er
-die Gestalten aussprechen läßt, nicht auf den dunklen Ratschluß der
-Götter, sondern auf die Verkehrtheit der Menschen, das Mythologische
-auf das Soziale, das Soziale auf die Seele zurück; die Äußerungen der
-Deutung gerade für die Beziehung zwischen Charakter und Schicksal
-sind mannigfach abgestuft und untereinander entgegengesetzt; nie
-äußert sich der Dichter, immer die bestimmte Gestalt nach Maßgabe
-ihres Charakters und der wechselnden Situation und Stimmung. Jeder,
-möchte man fast sagen, hat jedesmal recht. Shakespeare geht hier so
-wenig wie je von einer Idee aus; es ist nicht eine Fabel<span class="pagenum"><a name="Seite_126" id="Seite_126">[S. 126]</a></span> um der
-Darstellung eines Gedankens willen erfunden oder umgestaltet, es sind
-auch nicht die zwei Fabeln um einer Abstraktion willen zusammengefügt
-worden. Er erfüllt die rohe Skizze der überlieferten äußeren Tatsachen
-mit Leben, mit Seele, mit innerster Wahrheit. Ein Geschehnis wird
-berichtet; seht her, ruft der Dichter, ich zeige euch, wie’s dabei
-im Innern der Menschen zuging; warum sie tun mußten, was sie taten.
-Wie’s Herder gesagt hat, ein Stück unsäglich reiche, breite, innige
-Menschenwelt ist „zu einem Vater- und Kinder-, Königs- und Narren- und
-Bettler- und Elend-Ganzen zusammen geordnet“, eben um dieses Ganzen,
-um der gegenseitigen Beleuchtung der einzelnen Teile und Vorgänge und
-Gestalten willen. Shakespeare hat kein Stück geschrieben, wo wir so
-extensiv und intensiv in der Fülle leben wie im König Lear; Zymbelin
-freilich geht noch mehr ins Breite und Bunte, aber nicht annähernd
-so ins Tiefste, und wie mager wird selbst die Fabel des Hamlet gegen
-dieses Ineinander des Mannigfaltigen: Lears Verhältnis zu den Töchtern
-&mdash; Cordelia zwischen den zwei Freiern &mdash; Lear und Kent &mdash; Lear und
-sein Narr, den der Dichter, so innig lieb er ihn hat, im dritten Akt
-verschwinden läßt, weil nun Edgar an seine Stelle tritt &mdash; Gloster und
-seine Söhne &mdash; Edgars mannigfaltigste Schicksale und Begegnungen &mdash;
-das in seiner Körperlichkeit strahlend schöne, morallose, kraftvolle
-Naturkind Edmund und seine Beziehungen zu Lears Töchtern &mdash; Gloster
-und Cornwall &mdash; Cornwall und der Knecht &mdash; Albanien und seine Frau &mdash;
-Edgars und Edmunds Kampf &mdash; und all das und mehr in breiter Entladung
-und nie als dekorativer Auftritt, immer als Gestalt und Handlung
-gewordenes Innere; und welche Kühnheit und Sicherheit, die beiden
-Greise, Lear und Gloster mit ihren wesensgleichen und doch äußerlich
-so verschiedenen Erlebnissen neben- und miteinander agieren zu lassen!
-In eine solche Fülle des äußeren und inneren Lebens, der Qual und der<span class="pagenum"><a name="Seite_127" id="Seite_127">[S. 127]</a></span>
-inständigen Not und des über Elend und Wahnwitz und tiefsten Hinabsturz
-sieghaft empordringenden Geistes, in einen so mannigfach variierten
-und gesteigerten Gegensatz von Affektwut und friedfertig ergebener
-Demutsabgeschiedenheit, von sklavischem Herrentum und freier Armut, von
-Reichtum und Entblößtheit kommen wir hinein, daß wir, wenn mit einem
-Mal das Wort „Shakespeare“ an unser Ohr schlägt, erstaunt uns besinnen,
-daß all diese ausgedehnte Welt Werk eines einzelnen Menschen, eines der
-vielen Stücke dieses Dichters ist.</p>
-
-<p>Shakespeares Gestalten sind nicht bloß feurig aus produktiver
-Kraft geflossen; sie haben von ihrem Schöpfer solche Zeugungskraft
-aufgenommen, als wären sie lebendige Wesen. Kaum ein besseres Beispiel
-wüßte ich dafür, wie Shakespeares Gestalten sich in der Erinnerung
-nachträglich lebendig verwandeln können, als die Gestalt Lears.
-Das Sentenziöse, Sprichwörtliche, das mit dem Bilde dieses alten
-Mannes sich verbunden und zu neuen Dichtungen geführt hat, ist aus
-Shakespeares Stück, mehr durch Weglassung als durch Hinzufügung,
-erwachsen, bezeichnet aber nicht eigentlich seinen Inhalt und Sinn; am
-schönsten hat Goethe es in seinem Spruchgedicht geformt:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ein alter Mann ist stets ein König Lear! &mdash;</div>
- <div class="verse">Was Hand in Hand mitwirkte, stritt,</div>
- <div class="verse">Ist längst vorbeigegangen;</div>
- <div class="verse">Was mit und an dir liebte, litt,</div>
- <div class="verse">Hat sich wo anders angehangen.</div>
- <div class="verse">Die Jugend ist um ihretwillen hier,</div>
- <div class="verse">Es wäre törig, zu verlangen:</div>
- <div class="verse">Komm, ältele du mit mir!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Die weise, gefaßte Heiterkeit dieser Schlußwendung ist ganz goethisch,
-ein Trieb, der Shakespeares Dichtung erst in Weimar zugewachsen ist.
-Zwar zeigt uns Shakespeare gleich zu Beginn in Cordelias Verhältnis
-zu dem alten Vater und zu ihrer jungen Liebe mehr als in Lears
-Verhältnis<span class="pagenum"><a name="Seite_128" id="Seite_128">[S. 128]</a></span> zu den andern Töchtern, daß, wer alt wird, sich gar nicht
-erst zurückzuziehen braucht: mitten unter denen, für die er Sorge
-trägt, ist er einsam. Aber Lear hat ganz andere, schwerere Dinge zu
-lernen als dieses, und wenn er es schließlich bis zu der Demut bringt,
-vor der eignen Tochter hinzuknien, so tut es wahrhaftig nicht der
-alte Mann, der der Jugend huldigt, sondern der König und Vater, der
-im Alter hat lernen müssen, was er sein Leben lang versäumt hat. Und
-so ist zum Ganzen dieser Identifikation Lears mit dem Alter zu sagen:
-Nachträglich, wenn die Gesamtstimmung Lear sich mit unserm eignen
-Gemüts- und Erfahrungsleben verbindet, beim Rückblick auf diesen
-Mann, dem sich die Kinder, alle drei, entziehen, gegen den sich der
-nicht mehr junge, aber jüngere Freund, der Graf Kent auflehnt, dessen
-Altersgenosse Gloster nur für ihn eintritt, um gräßliche Strafe zu
-finden, der fühlt, daß ihn niemand mehr braucht, daß er allen im Wege
-ist und irgendwohin in die Ecke gefegt werden soll, der schließlich
-vor den Menschen nicht als seinen Verfolgern, sondern als lieblos
-Abgewandten und Belästigten in Wettersturm und Wahnsinn flieht, so
-in der auslassenden und zusammenrückenden Erinnerung empfinden wir
-wohl, daß Lear das Bild der Altersvereinsamung ist. Aber in dem Stück
-selbst weist nicht der kleinste Einzelzug und keine einzige Äußerung
-darauf hin, daß der Dichter auf dieses Typische sein Licht und seine
-Wärme sammeln will. Die Dichtung sträubt sich nicht dagegen, daß wir
-diese Stimmung mitbringen oder mitfortnehmen oder später um Lears
-Bild ranken; was Shakespeare aber darstellt, ist ein sehr besonderer
-Fall nicht dieses Allgemeingültigen, das vom Alter handelt, sondern
-eines ganz andern. Shakespeare hat solche Allgemeinheiten und darum
-Mannigfaltigkeiten wie Alter, Freundschaft, Liebe, Weib nicht auf
-die Linie einer Regel gebracht, und für ihn ist ein alter Mann so
-wenig ohne weiteres ein König Lear, wie er ein Shylock oder Siward<span class="pagenum"><a name="Seite_129" id="Seite_129">[S. 129]</a></span>
-oder Lafeu oder Bruder Lorenzo ist, oder wie das Weib eine Cleopatra
-oder Cressida ist. Und viel mehr als mit den alten Männern, die man
-sonst noch bei Shakespeare findet, gehört König Lear mit dem jungen
-Richard II. zusammen. Denn wollen wir schließlich doch ein Wort
-haben, um das Individuum dieses Stückes einer Gattung einzureihen,
-so sagen wir: auch hier geht es um das Problem der Macht. Macht in
-ihrer Verbindung mit Willkür, Gier, Affektwut und Brunst bildet für
-Shakespeare in der Tat eine Kategorie der Zusammengehörigkeit. Wir
-halten schon lange bei diesem Problem der Macht: wir hatten es in
-Maß für Maß zwischen Lachen und Weinen; in düster dämonischer Art
-in Macbeth; in innigster Gestalt hier im König Lear. In großartig
-geschichtlichem Rahmen, wo denn die Verbindung zwischen Machtgier und
-Brunst, die wir in Maß für Maß wie im Lear hatten, sich uns noch einmal
-als ein Prinzip, das eine Welt beherrscht, weit und stark darstellen
-wird, werden wir’s, in unmittelbarem Anschluß der Handlung an Julius
-Cäsar, das nächste Mal in Antonius und Cleopatra haben.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_130" id="Seite_130">[S. 130]</a></span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Antonius_und_Cleopatra">Antonius und Cleopatra</h2>
-
-</div>
-
-<p class="initial">Antonius und Cleopatra aufzuführen ist immer wieder in unsrer Zeit
-unternommen worden; es muß aber, wie bei mehreren der bedeutendsten
-Stücke Shakespeares, am rechten Geist der Aufführung, vielleicht auch
-an der rechten Beschaffenheit des Publikums gefehlt haben; denn wir
-wissen, Shakespeare gebührt ausnehmend viel Freiheit des Geistes und
-Ernst der Gesinnung. Wie auch immer, wir stehen hier vor einem Stück,
-dessen Gestalten noch nicht einmal der äußern Erscheinung nach durch
-Aufführungstradition feststehen; durch Bühnenanweisungen hilft uns
-Shakespeare gar nicht und durch Bemerkungen zu direkter Charakteristik
-selten; mit der Handlung erst und ihren Geschehnissen, mit den Taten
-der Menschen und der Art, wie sie dulden, bauen sich diese Gestalten im
-Lauf der Vorgänge für uns Leser auf.</p>
-
-<p>Es geht um schwer zu deutende, verworrene, gemischte Naturen; wir
-werden erst den Grund legen müssen, auf dem wir uns bewegen. Betrachten
-wir erst den äußeren Aufbau der Tragödie. Sie ist von allen Stücken
-Shakespeares das szenenreichste: es sind 42 Szenen, von denen viele
-ganz besonders kurz sind; ein paar Worte werden gewechselt, und schon
-verwandelt sich der Schauplatz wieder.</p>
-
-<p>Die fünf Akte sind so aufgebaut, daß der erste 5, der zweite 7, der
-dritte 13, der vierte 15, der fünfte aber nur 2 Szenen umfaßt: es ist
-eine fortwährende Erweiterung in die Breite der Welt, bis &mdash; nach
-dem Tod des Antonius &mdash; in dem Epilog, den der fünfte Akt bildet &mdash;
-alles Extensive sich am Intensiven, alle Unruhe der äußern Bewegung an
-Cleopatras Seelenfülle bricht, die am Ende hervorkommt. <em>Bravest at
-the last</em> &mdash; die Kühnste, die Beste am Ende, sagt Octavius von ihr
-in der unnachahmlich vielsagenden Kürze dieser Sprache und hat recht;
-und was da nur für Cleopatra gesagt ist, gilt auch fürs Stück.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_131" id="Seite_131">[S. 131]</a></span></p>
-
-<p>Lassen wir alle Erfahrungen der Unzulänglichkeit, die es auf
-englischen und deutschen Bühnen bisher gemacht hat, beiseite, so
-ist zu sagen: dieses seinem besonderen Wesen der Breite und Tiefe
-entsprechend besonders gebaute Drama bietet der Bühne eine ungeheure,
-eine prachtvoll lockende Aufgabe; aber es verlangt seinen besonderen
-Stil; es braucht ein Tempo des Verlaufs, das in gleicher Weise der
-breiten Mannigfaltigkeit der Schauplätze wie der Fieberhaftigkeit der
-Seelenstimmung entspricht; keinerlei Dekorationskünste dürfen uns
-aufhalten; aber auch die Drehbühne mit ihrer Unruhe, Würdelosigkeit und
-Verengung wäre kein Rat. Helfen kann hier, meine ich, am leichtesten
-und schönsten das Prinzip der echten, alten Shakespearebühne, dem
-moderne technische Mittel zu Hilfe kommen: eine bleibende, für alle
-Szenen würdig gestaltete Bühne also, über der nur ganz selten der
-Vorhang fallen muß, damit ein paar Requisiten je nach dem Erfordernis
-der Szenen gewechselt werden; der Schauplatz aber, die Stelle in der
-Welt, in der wir uns jeweils für ein paar Minuten oder auch nur den
-Bruchteil einer Minute befinden, ist mit Hilfe des Skioptikons durch
-Lichtbild auf die Fläche des Hintergrunds zu projizieren; ist die
-Vorstellung nur sonst vom rechten Ernst erfüllt und vermeidet man
-jeden Versuch einer parodistischen Erinnerung an Bühnenkindlichkeiten
-früherer Zeiten, so darf die geographische Lage des Stückes Natur, das
-dieser Hintergrund unsern Augen zeigt, ruhig in Buchstaben, die sich
-dem Bilde des Hintergrunds einfügen, mitgeteilt werden; Konzessionen
-machen darf das Theater dem Kino keine, aber lernen darf es von ihm.
-So können und sollen die Szenen, die alle an ihrer Stelle stehen und
-nicht in einander gemengt werden dürfen, gleichviel, ob sie lang oder
-kurz sind, so auf einander folgen, daß die Verbindung von Ruhe und
-Bewegtheit, von Seeleneröffnung und großem geschichtlichen Hintergrund
-entsteht, die das Stück verlangt. &mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_132" id="Seite_132">[S. 132]</a></span></p>
-
-<p>Antonius und Cleopatra liegt uns in keinem früheren Druck vor als in
-der Gesamtausgabe aus dem Nachlaß, der Folio von 1623; auch versichern
-die Herausgeber, das Stück sei bis dahin noch nicht gedruckt worden.
-Gegen die allgemeine Annahme, die sich auf Verstechnik und geistige
-Haltung stützt, wonach die Tragödie um 1607 oder 1608 verfaßt sei, ist
-nichts einzuwenden.</p>
-
-<p>Shakespeares Quelle bildet Plutarchs Antoniusbiographie, die er schon
-bei Julius Cäsar mitbenutzt hatte; sein Verhältnis zu dieser Quelle
-ist auch diesmal, wie wir es damals gesehen haben; viele Einzelzüge
-übernimmt er treu; geschichtliche Vorgänge, die in seinen Rahmen nicht
-passen, läßt er weg oder läßt sie berichten oder tut sie mit einem Wort
-ab; und zu dem Eigentlichen, worauf es Shakespeare dem Brennenden,
-Shakespeare dem Ergründer ankam, hat der gute, sacht-pädagogisch mit
-dem Pendelfinger warnende Plutarch keinerlei Beziehung.</p>
-
-<p>Der Schauplatz und mehr, ein Gegenstand des Dramas: das römische Reich,
-nichts Geringeres: Rom, Misenum am Golf von Neapel, Messina, Athen,
-Actium an der Westküste Griechenlands, Syrien, Alexandria in Ägypten;
-und einmal werden wir an Bord eines Schiffes geführt. Und immer die
-Breite und die Bewegtheit und der Zusammenhang, immer gehen Boten hin
-und her und verbinden die Teile des Reichs, wenn auch zu Streit, so
-doch noch zu Einheit.</p>
-
-<p>Die politische Situation: das Triumvirat, wie es nach Cäsars Ermordung
-sich zusammengetan hatte und nach dem Sieg über die Verschworenen
-geblieben war, das Regiment von Octavius Cäsar, Julius Cäsars Neffen,
-Adoptivsohn und Erben; Marcus Antonius; Lepidus. Alles drängt der
-Spitze, dem Kaisertum zu; Lepidus steht als gutmütig-gemeiner
-Vermittler &mdash; der sich selbst nicht zu kurz kommen läßt, aber nur
-den Geiz, nicht den Ehrgeiz kennt &mdash; zwischen den beiden adligeren
-Prätendenten, die ihn ihrer<span class="pagenum"><a name="Seite_133" id="Seite_133">[S. 133]</a></span>seits nur halten, weil ihr Streit zum
-Ausbruch noch nicht reif ist.</p>
-
-<p>Bei einer Reise in die östlichen Gebiete, die ein Kriegszug war, ist
-Antonius bei Cleopatra hängen geblieben.</p>
-
-<p>Stellen wir hier, wo es erst nur um die äußere Situation geht, gleich
-das Alter der beiden fest. Historisch verhält es sich damit so, daß
-sie, als Antonius ihr zuerst begegnete, 24 Jahre alt war; bei ihrer
-beider Tod hatte sie das neununddreißigste erreicht. Bei Shakespeare
-bleibt nun, wie fast immer, der zeitliche Verlauf im Unbestimmten,
-Idealen; wesentlich ist, daß die Königin, wenn wir sie kennen lernen,
-in dem Gefühl steht, ihre Jugend hinter sich zu haben, daß sie voller
-Angst vor dem Alter ist; aber es walten die orientalischen Verhältnisse
-der frühen Reife und des schnellen Welkens; wir brauchen das Alter,
-das sie erreicht, nicht höher zu schätzen, als eben Ende der dreißiger
-Jahre.</p>
-
-<p>Antonius ist in Wirklichkeit 53 Jahre alt geworden, und als einen
-Fünfziger haben wir uns die Gestalt Shakespeares in diesem Stück auch
-vorzustellen.</p>
-
-<p>Octavius Cäsar ist viel jünger, und seine Konstitution ist der Art,
-daß er auf Männer von Antonius’ Schlag wie ein Knabe wirkt und immer
-wieder leicht wie ein Knabe von ihnen behandelt wird. Das hindert
-nicht, daß er kühl, ruhig, berechnend ist; das Männliche wird von
-leidenschaftlichen Naturen gerade darum an ihm vermißt, weil er den
-Trieben nicht unterworfen, dem Rausch nie preisgegeben ist; er ist
-gemäßigt, nicht als einer, der seine Renner im Zügel hat, sondern als
-einer, in dem es kalt und gesetzt hergeht, ohne Genialität, ohne Natur;
-aber dabei ist er weit ausschauend, kann warten und lauern, hat in
-kühler Cäsarenart einen vom Verstand geleiteten zähen Willen und hat
-ohne Traum und ohne Wut Machtbegehr und Majestät. Als einer, der ohne
-eigene Familie und auch sonst in jedem Betracht nur für sich dasteht,
-hat er zwischen sich und der Welt, in<span class="pagenum"><a name="Seite_134" id="Seite_134">[S. 134]</a></span> die seine Hand herrschend
-eingreifen will, eine kalt isolierende Schicht der Leere.</p>
-
-<p>Antonius ist mit Fulvia, einer geprüften Witwe, die schon allerlei
-hinter sich gebracht hat, verheiratet.</p>
-
-<p>Cleopatra ist die Witwe des Ptolemäus; sie hat aus dieser Ehe wie aus
-ihrem Bund mit Antonius Söhne.</p>
-
-<p>Den Stand des römischen Reiches lernen wir aus den Erwähnungen des
-Stückes folgendermaßen kennen (wie immer, so auch hier brauchen wir
-bei Shakespeare nur Aufmerksamkeit, keinerlei sonstige Wissenschaft;
-darum ist er in all seiner erlesenen Reife stets volkstümlich, eine
-ganze Nation vom Höchsten des Geistes her im Gemüt ergreifend): In
-Italien wütet Krieg, erst zwischen dem Bruder und der Frau des Antonius
-gegen einander; dann haben sich beide zusammengetan und gegen Octavius
-gewandt, was diesem argen Verdacht gegen Antonius erregt, der in
-Ägypten liegt und sich nicht von der Stelle rührt.</p>
-
-<p>In Süditalien, Griechenland, vor allem auf dem Meer durch Seeräuberei
-macht sich ein außenstehender Prätendent, Sextus Pompejus, der Sohn des
-großen Nebenbuhlers Julius Cäsars, immer gefährlicher.</p>
-
-<p>In Asien ist der Aufruhrkrieg der Parther unter Anführung des
-rebellierenden Römergenerals Labienus im Gange. &mdash;</p>
-
-<p>Und nun, wobei wir aber immer noch im Äußern nur uns bewegen wollen,
-zur Handlung und zum Aufbau des Stückes.</p>
-
-<p>Tolles üppiges Leben in Alexandria am Hof der Cleopatra: Feste, Gelage,
-Trinken, Schlemmen, Lieben.</p>
-
-<p>Derweile ist das Reich also von vielen Seiten in Gefahr; Antonius
-leistet Octavius keine Hilfe; der Aufruhr seiner Angehörigen muß
-irgendwie, ohne daß Klarheit über die Zusammenhänge zu schaffen ist,
-auf ihn zurückgeführt werden; die Boten, die Octavius sendet, hört er
-nicht an, läßt sie kaum vor.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_135" id="Seite_135">[S. 135]</a></span></p>
-
-<p>Trotzdem wird Fulvia besiegt, muß fliehen und stirbt eines unversehenen
-Todes. Und in dem Augenblick, wo er dieses sein Weib tot weiß, erwacht
-Rom in Antonius: in letzter Stunde, wo arg Versäumtes gerade noch
-eingeholt werden kann, rafft er sich auf zur Reise nach Italien.</p>
-
-<p>Da kommt es in der Tat noch zur Versöhnung der Triumvirn: die Ehe des
-jung verwitweten, der Cleopatra entflohenen Marc Anton mit Octavia,
-auch einer Witwe, der Halbschwester des Octavius, wird gestiftet, und
-er zaudert nicht, darauf einzugehen.</p>
-
-<p>Auch mit Pompejus wird ein Ausgleich zustande gebracht: der erhält
-Sizilien und Sardinien.</p>
-
-<p>Und Antonius steht groß da, wie sein Feldherr drüben in Asien gegen die
-Parther siegt.</p>
-
-<p>Aber kaum ist er in seiner besonderen Provinz, in Griechenland, da
-bricht der Streit mit Octavius neu und nun erst recht aus: der geht
-nun aufs Ganze; als echter Politiker betrachtet er Friedensverträge
-lediglich als unerläßliche Stadien des Krieges: der Krieg gegen
-Pompejus ist im geeigneten Augenblick wieder losgebrochen; Pompejus
-wird darin ermordet; auch der Mitherrscher Lepidus ist jetzt reif; er
-wird ins Gefängnis geworfen.</p>
-
-<p>So rüstet denn Antonius zum Krieg gegen Octavius; wie schon alles auf
-des Messers Schneide steht, erlaubt er seiner Frau, nach Rom zu reisen:
-es bleibt alles im Unbestimmten, wie sich’s für eine so politische
-Ehe gebührt: halb reist sie zu einem fast aussichtslosen Versuch der
-Vermittlung, halb weil ihr, wenn’s denn zum Krieg kommen soll, der
-Bruder näher steht als der Gemahl, der sie nur so für eine Zwischenzeit
-genommen hat, wie der Vertrag mit Pompejus ad interim geschlossen
-worden war; in Antonius’ unterirdischen Bezirken wühlen aber, auch sie
-freilich noch gemischt aus Politik und Brunst, noch ganz andre Motive:
-kaum ist sie weg, bricht auch er auf &mdash; nach Ägypten.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_136" id="Seite_136">[S. 136]</a></span></p>
-
-<p>Man blickt bei Shakespeare völlig schon in das wahre geschichtliche
-Verhältnis hinein; was ein paar Jahrhunderte später kommen mußte, der
-Zusammenbruch des großen Reiches, die Trennung in Ostrom und Westrom,
-in die byzantinisch-morgenländischen und die lateinisch-abendländischen
-Gebiete, das spielt hier vor. Antonius stützt sich ganz, in der äußern
-Politik wie in der seiner eignen Natur gemäßen seelischen Haltung,
-auf die östlichen Königreiche: Griechenland, Zypern, Lydien, Medien,
-das Partherreich, Armenien, Syrien, Kilikien, Phönikien, Libyen,
-Kappadokien, Judäa usw., die alle in Shakespeares Stück an ihrem Orte
-mit Namen hervortreten. Das orientalische Leben, dessen Repräsentantin
-Cleopatra ist, steht ihm an, weil er sich nach Natur wie nach Plan als
-Herrscher dieses ungeheuren Reiches im Orient fühlt und von da aus,
-auf dieses sein eignes Gebiet gestützt, den Kampf gegen Octavius ums
-Weltreich führen will. Wäre durchgedrungen, was sich da regte, so wäre
-Alexandria so die Hauptstadt der Welt geworden, wie später Byzanz;
-Rom aber wehrt sich und behauptet sich. Wir sehen, wie Tüchtigkeit,
-Nüchternheit, kriegerisch-geordnetes Wesen, zweckvoll logisches,
-planvolles Staatsregiment sich im Westen unter Führung des Octavius,
-des berufenen Erben Julius Cäsars und der Republik, aufbaut, während
-eine im Orient wurzelnde Welt, repräsentiert durch den Griechenrömer
-Antonius und die Ägypterin Cleopatra, den Luxus und Lebensgenuß, die
-Ruhe, die lässige Beschaulichkeit, das Ästhetische, die triebhafte
-Willkür und Laune wählt und zum Siege führen will. Wir sehen schon
-hier, schon im voraus: es ist viel, was mit diesem Paar Antonius und
-Cleopatra zugrunde geht, und diesmal bildet die Geschichte nicht,
-wie wohl in solchen Stücken wie Othello oder Romeo und Julia, bloß
-eine Art Hintergrund der Landschaft und Temperatur, sondern das
-Besondere der Seelenzustände und Leidenschaften dieser Menschen und
-aber das Allgemeine der<span class="pagenum"><a name="Seite_137" id="Seite_137">[S. 137]</a></span> geschichtlichen Verhältnisse sind hier so
-innig in einander gehörig, wie für dieses durch Liebe wie Politik
-zusammengeschmiedete Paar Seelenliebe, Sinnlichkeit, Glanz, Üppigkeit
-und Macht nicht von einander zu scheiden sind.</p>
-
-<p>Der Entscheidungskampf ist denn nicht mehr hintanzuhalten: große
-Landheere und Flotten stehen einander bei Actium gegenüber. Cleopatra
-mit ihrer Seemacht nimmt an der Schlacht teil &mdash; und flieht; Antonius
-mit seiner gesamten Flotte hinter ihr her &mdash; und die Schlacht ist
-zu Cäsars, zu Roms Gunsten entschieden. Octavius, mit einer ganz
-unerwarteten, kühnen Geschwindigkeit, deren sich zumal Antonius von
-ihm nicht versehen hatte, verfolgt sofort. Geht auch ein Treffen auf
-dem Lande bei Alexandria für Antonius zunächst, dank seiner und seiner
-Generale und Soldaten persönlicher Tapferkeit, günstig aus, so ist
-doch nichts mehr zu hoffen: es ist nur der groß-verzweifelte Kampf ums
-ruhmvolle Ende; und wie er &mdash; fälschlich &mdash; hört, Cleopatra sei tot,
-bringt er sich um; und Cleopatra stirbt ihm nach.</p>
-
-<p>Der Westen hat gesiegt; die Einheit des Reiches ist, mühsam genug,
-vorerst bewahrt; Octavius Cäsar Augustus ist als alleiniger Imperator
-übriggeblieben; ein Kaisertum hebt an, in dem vorerst das Erbe
-republikanisch politischer Rechnung mächtiger ist als das orientalisch
-üppige Machthabertum, das Antonius gebracht hätte.</p>
-
-<p>Das ist der bewegte, der wahrhaft lebendig bewegte Hintergrund der
-Tragödie: ein Film größter, riesenhafter Art.</p>
-
-<p>Wenigstens, so wie wir’s bisher skizziert haben, bildet dieses bewegte
-Gemälde der Historie nur den Hintergrund des Stückes. In Wahrheit ist
-all dieses Geschichtliche, all dieser Machtstreit unlöslich eingeknüpft
-in das eigentliche Drama, in die Tragödie, die Antonius und Cleopatra
-in dieser weltgeschichtlichen Landschaft an einander erleben und von
-der jetzt erst zu reden ist.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_138" id="Seite_138">[S. 138]</a></span></p>
-
-<p>Vorher aber noch ein Wort von der Stimmung und dem Sinn des Ganzen.</p>
-
-<p>Wir haben drei Dramen Shakespeares, die wie schon der Titel sagt, ein
-Paar in die Mitte stellen: Romeo und Julia, Troilus und Cressida,
-Antonius und Cleopatra. Nun sagt man wohl, das erste Mal sei die
-hohe Liebe, die beiden andern Male aber die niedre, die Sinnenliebe,
-die Wollust dargestellt. Es ist aber nicht eigentlich so. So viel
-Shakespeare von Anfang an und immer mehr gegen den Teil der Liebe,
-der Wollust heißt, auf dem Herzen hat, so sehr er sich, wo er zur
-Liebe klagend und anklagend steht, auf kritische Analyse einläßt,
-so sehr kennt er, wo er Menschen und ihre Schicksale gestaltet, nur
-<em class="gesperrt">eine</em> Liebe: die ganze. Er weiß, daß der Trieb selbst in rohester
-und tierischster Gestalt bei allen Lebendigen, die nicht Caliban sind,
-noch irgendwie von Traum und Phantasieschöpfung verklärt ist und daß
-<em>fancy</em> ein Element ist, in dem Lust mit Laune, Leidenschaft mit
-Seele, Zwangsgewalt mit Freiheit und Geist mit göttlich-leichtem Spiel
-vereint wohnen. Er kennt nur die eine Liebe, die ganze; aber er kennt
-unsäglich verschiedene Menschen, die von ihr ergriffen werden und sich
-anders in ihr verhalten; er kennt unsäglich viele verschiedene Grade
-und Stufen der Liebe und ihres Mischungsverhältnisses. Die hohe Liebe
-des holden Jugendpaares Romeo und Julia ist sehr beseelt, sehr sinnlich
-und wenig geistig; bei Troilus und Cressida haben wir als bezeichnend
-gesehen, wie bei diesem Paar der Jüngling so viel mehr Seele und
-Geist in das Gefäß der Sinnenliebe gießt als das Mädchen; und so ist
-auch die Liebe von Antonius und Cleopatra, dieser nicht mehr Jungen,
-Vielerfahrenen, des reifen, überreifen Mannes, des reifen, überreifen
-Weibes Liebe nicht im entferntesten bloß Sinnenliebe; Shakespeare
-bleibt hier so wenig wie je im Typischen, Formelhaften, Abstrakten
-stecken; Einmaliges, das sich so nie in der Welt wiederfindet, wird
-gezeigt; es ist die leidenschaftliche, unentrinnbare, Seele und<span class="pagenum"><a name="Seite_139" id="Seite_139">[S. 139]</a></span> Leib
-und Geist trotz aller Abwehr und allen Fluchtversuchen und allen
-Einsichten und Verleumdungen hinnehmende Liebe des Staatsmanns und
-Kriegsmanns, des Römers und Griechen Antonius und dieser einzigen Frau,
-der Schlange vom Nil, wie er sie nennt, der Königin-Buhlerin Cleopatra.</p>
-
-<p>Antonius: wir kennen ihn schon aus Julius Cäsar, und er ist der
-selbe. Ein herkulischer Mann, der Familiensage nach auch wirklich
-aus Herkules’ Stamm entsprossen; Sportsmann, Ringer, Athlet. Tapfer,
-aushaltend, nicht umzubringen, von einer ehernen Konstitution, die
-man, im ursprünglich bildhaften Sinn, wahrhaft kolossal nennen darf.
-Dazu feurig, flammend, rasch einnehmend; er repräsentiert die seltene,
-berückende Vereinigung der stärksten Kraft mit der feinsten Eleganz,
-der unerschütterten Ruhe, wie sie sonst nur ein Vierschrötiger hat,
-mit der leichtesten und witzigsten Beweglichkeit. Sein Denken ist
-schnell, schnellend; und so ist auch seine Entscheidung ohne Bedenken
-und Skrupel. Solange er sich in der Gewalt hat, ist er imstande, all
-seine reichen Gaben in den Dienst eines Zwecks zu stellen, und ist
-dann ganz sieghaft. Denn er ist eine reiche Natur, voller Gefühl und
-Unmittelbarkeit, und wenn er diese Gaben vermöge seiner angeborenen
-und durch viel Übung bezwingend gewordenen Schauspielerkunst seinem
-Willen dienstbar macht, so siegt er durch sich selbst und durch die
-Popularität, die mit ihm geht.</p>
-
-<p>Er ist einer, der durch Ausschweifungen so wenig wie durch härteste
-Entbehrungen umgebracht wird. Für sein Ausmaß gilt nicht das
-Entweder-Oder kleiner oder mittlerer Normalmenschen: entweder
-liederlich etwa oder kriegstüchtig; entweder leidenschaftlich oder
-besonnen; er ist das eine wie das andre. Nie ist er, in fassungslos
-wilder Unbeherrschtheit nicht einmal, in äußerster Anspannung; immer,
-ehe es mit ihm zu Ende geht, ist in ihm und um ihn noch etwas von der
-Ruhe einer gewissen mittleren Haltung, einer holden Lässigkeit.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_140" id="Seite_140">[S. 140]</a></span></p>
-
-<p>Da sind wir aber bei seiner Gefahr, zumal in dieser dürr gewordenen
-Welt der Politik: er kann nicht nur, er muß manchmal den Zweck
-ausschalten; er kann nicht alleweile hell, klar, scharf sein, die
-Gegner belauern und ein Ziel verfolgen; er braucht Selbstvergessenheit,
-Hingebung, Versinken, Trägheit, Lust: Genuß und Rausch.</p>
-
-<p>Und dazu kommt nun: er steht jetzt an der Grenze, wo die Jugend ihn
-bald verlassen würde, wenn er sie nicht mit leidenschaftlicher Gewalt
-festhielte.</p>
-
-<p>Was ihm, ganz abgesehen von allen politischen, allen
-Rivalitätsgegensätzen, an Octavius menschlich so widerwärtig ist,
-das ist, daß dieser junge Mensch gar keine Gegenwart und also Wonne
-so wenig wie Laster zu haben scheint: der lebt nur in der Zukunft,
-in der Spannung, im politischen Ziel, im Abstrakten. Über Antonius
-aber scheint das Gebot zu walten, das der Dichter des augusteischen
-Zeitalters, Horaz, in die zwei Worte faßt: <em>carpe diem</em>, genieße
-den Tag, pflücke die Stunde. Lust ist das Element, in das er immer mal
-wieder tauchen muß, Lust bis zur Liederlichkeit; nur daß sie tragisch
-umwittert ist, in Verbindung wie sie steht mit der Gefahr der Zeit in
-jeglichem Sinne: daß die Zeit dahinschwindet, daß die Jugend vergeht;
-und dazu noch die Untergangsstimmung dieser besonderen Zeit: es mischen
-sich die Kulturen von Ost und West; die republikanische Tugend ist
-versunken; wie lange ist’s schon her, daß er selber Brutus erst in den
-Untergang gehetzt und ihm dann den erschütterten Nachruf gesprochen
-hat! Nun herrschen Frivolität und Skepsis; die Welt hat keinen Halt und
-keinen Glauben mehr; und in den großen Kämpfen geht es nicht mehr um
-Prinzipien, sondern um persönliche Macht.</p>
-
-<p>Es ist fast wie ein landschaftliches, ein Natursymbol dieser wogenden
-Stimmung &mdash; wie’s uns anders, aber doch verwandt dann wieder im
-Sturm begegnet &mdash;, daß wir in diesem weiten Drama immer wieder auf
-die Wasserfluten, des<span class="pagenum"><a name="Seite_141" id="Seite_141">[S. 141]</a></span> Meeres und des Stromes, geführt werden: es
-ist in diesem Stück etwas Weiches, Wogendes, Nebeldunstiges, feucht
-Dahinrinnendes; es fehlt nicht an Sonne, aber es ist die Sonne, die
-Maden ausbrütet; wir schwimmen auf einem Flusse wohliger Lust, und wo
-wir dem Feuchten entsteigen, kommen wir doch nicht aufs feste, sichere,
-trockene Land, sondern in die fruchtbar-schwüle Sumpfniederung des Nils.</p>
-
-<p>Auf einem Flusse ist Cleopatra allererst dem Antonius entgegengefahren;
-drüben in Kleinasien war’s; auf dem Kydnus in Kilikien. Das üppige
-prächtige Bild dieser Begegnung stammt ursprünglich von Plutarch; wir
-haben es nun, wie eine zauberhafte Wirklichkeit, die aus Geschichte
-zur Sage geworden ist, in den Farben, in denen es Shakespeare für
-alle Sinne gemalt hat und die noch frisch und strahlend sein werden,
-wenn das Bild, das Makart aus der Szene gemacht hat, längst chemisch
-zersetzt sein wird:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Die Barke, drin sie saß, brannt’ auf dem Wasser</div>
- <div class="verse">Hellstrahlend wie ein Thron; getriebnes Gold</div>
- <div class="verse">Des Schiffes Spiegel; purpurrot die Segel</div>
- <div class="verse">Und so durchduftet, daß die Winde sich</div>
- <div class="verse">In Liebesweh verfingen. Silberruder</div>
- <div class="verse">Regten im Takt sich nach dem Ton der Flöten,</div>
- <div class="verse">Und wie in Sehnsucht folgten die Gewässer.</div>
- <div class="verse">Und nun sie selbst! Der Schildrer wird zum Bettler!</div>
- <div class="verse">In ihrem Zelt von Goldbrokat lag sie,</div>
- <div class="verse">Das Venusbild, in dem die Kunst der Laune</div>
- <div class="verse">Noch die Natur bemeistert: ihr zu seiten</div>
- <div class="verse">Wie lächelnde Amoretten standen Knaben</div>
- <div class="verse">Mit holden Wangengrübchen, bunte Fächer</div>
- <div class="verse">Wehten statt Kühlung Glut dem zarten Antlitz...</div>
- <div class="verse">Um sie die Dienerinnen, allesamt</div>
- <div class="verse">Meermädchen, Nereiden gleich...</div>
- <div class="verse">Ein Meerweib sitzt am Steuer; seidnes Tauwerk</div>
- <div class="verse">Schwillt an im Druck der blumenweichen Hände...</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_142" id="Seite_142">[S. 142]</a></span>
- <div class="verse mleft3">Und von der Barke trifft</div>
- <div class="verse">Ein seltsam unsichtbarer Duft die Sinne</div>
- <div class="verse">Der nahen Ufer...</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Da haben wir sie allererst, Cleopatra die Nilschlange! Der Hörer des
-Stückes freilich vernimmt diese begeisterte Erzählung des sonst so
-ruhig-klugen Feldherrn Enobarbus erst, nachdem er die Königin schon in
-schönen und häßlichen Launen leibhaft kennen gelernt hat. Seltsam und
-ganz in der Art großer Dichter, so indirekt fast, wie Homer die Helena
-in ihrer Wirkung auf die trojanischen Greise geschildert hat, ist es,
-wie wir in diesem Bericht über die Jugend der Schönen, die wir vor
-Augen haben, mehr von ihrem Milieu, ihrem Dunst und Duft hören als von
-ihr selbst, mehr von ihrer Wirkung als von ihrer Erscheinung, und mehr
-von Kunst als von Natur!</p>
-
-<p>Ihrer äußern Erscheinung aber werden wir Leser besser durch die Szene
-habhaft werden, wo sie sich ihre Nebenbuhlerin Octavia schildern läßt;
-eine echte Cleopatra-, auch eine echte Shakespeare-Szene das; aus ihren
-Ablehnungen der Eigenschaften Octavias erfahren wir, für welche eignen
-sie sich selber zulächelt: demnach ist Cleopatra eine hohe, schlanke
-Erscheinung, voll graziöser Bewegung; das Gesicht ist oval, der Teint
-dunkel &mdash; eine Zigeunerin wird sie genannt; die Stimme aber ist hell
-und zart. Sie wirkt königlich und weiblich; bezwingend, verführend vor
-allem durch Hinfälligkeit.</p>
-
-<p>Dies ist nun ein wesentlicher Zug an diesem Geschöpf, der, glaube
-ich, bisher nie richtig gedeutet worden ist. Um ihn zu gewahren,
-haben wir zunächst darauf zu achten, daß die Menschen sich in ein
-paar Jahrhunderten oder auch Jahrtausenden nicht eigentlich, nicht im
-Grunde ändern; gewisse Ausdrucksformen, Kleider, Moden und vor allem
-Bezeichnungen und Deutungen ändern sich, aber nicht Wesenszüge, weder
-normaler noch abnormer Art; und es macht kaum einen Unterschied,
-ob wir, darauf<span class="pagenum"><a name="Seite_143" id="Seite_143">[S. 143]</a></span> nun aufmerkend, den Blick in Shakespeares oder in
-Cleopatras Zeiten richten. Frauennaturen, wie sie uns heute begegnen,
-wie wir sie heute kennen &mdash; was man so kennen heißt &mdash;, hat es
-auch damals gegeben. Ich glaube nun zu gewahren, ja, ich bin mir
-sicher, daß Shakespeare, wohl der größte Menschen- und vor allem
-Frauendurchschauer, den wir haben, in Cleopatra eine Frau dargestellt
-hat, die wir besser verstehen, wenn wir sie in den Kreis der
-Frauengestalten aufnehmen, wie sie in der uns vertrauten Sprache und in
-direkter Schilderung zuerst Stendhal und dann vor allen Dostojewskij
-geschildert haben.</p>
-
-<p>Ja, Shakespeares Cleopatra gehört zum Geschlecht der Aglaja Epantschin
-und der Nastasja Filipowna aus dem Idioten und vor allem der Gruschenka
-und der Katharina aus den Brüdern Karamasoff. Nur daß sie zu all
-der Hoheit, die bei ihr wie auch bei diesen Frauen aus mannigfachem
-Erliegen und sklavischem Hingeben, aus arger Erniedrigung sich immer
-wieder aufbäumt, noch die Stellung einer echten Königin hat, mit Macht,
-Üppigkeit, fabelhaftem Reichtum umgeben, und daß ihr Geliebter der
-Imperator ist.</p>
-
-<p>Sprechen wir das Wort nur aus: eine sinnlich, seelisch, geistig reich
-begabte Hysterische ist diese Zigeunerin und Königin aus dem Lande
-Ägypten, eine Hysterische von der strahlend reichen, schimmernden
-Gattung, die Männer verschwenderisch verbraucht und Männer zauberhaft
-anlockt; der Gattung, der gegenüber Worte wie Wahrheit und Lüge, ja
-sogar, Natur und Kunst unzulängliche Ausdrücke werden.</p>
-
-<p>Das entscheidende Wort, von dem aus die Gestalt aufzubauen ist, fällt
-im vertrauten Gespräch zwischen Antonius und seinem ersten Feldherrn
-und nächsten Freund Enobarbus. Antonius ist entschlossen, Cleopatra
-zu verlassen; es ist höchste Not, in Italien nach dem Rechten zu
-sehen; die Nachricht von Fulvias Tod hat ihn aufgestört, hat positiv
-und negativ ihre Wirkung getan; denn einer der<span class="pagenum"><a name="Seite_144" id="Seite_144">[S. 144]</a></span> Gründe, warum er
-ganz in diesem ägyptischen Weibe wie in einem Versteck und einer
-Vergessenheit untergetaucht war, besteht nun nicht mehr: seine Ehefrau,
-dies kriegerische Mannweib, vor dem er Respekt in jeder Hinsicht,
-wahrhaft Angst nämlich gehabt hat, ist nun tot. Wie Antonius ihm diesen
-Entschluß eröffnet, meint Enobarbus bedenklich: O weh! Da stirbt
-Cleopatra, sowie sie’s hört, auf der Stelle! Und ihre Frauen, ja, die
-leben ja in so einer Art bei weiblicher Freundschaft bekannter Mimikry
-mit der Existenz ihrer Herrin, die werden ihr eilends nachsterben!
-Damit will der Kauz, der zynische Sprache als Panzer gegen die Welt
-sich angelegt hat, sagen: Was wird es diesmal für eine Szene geben! Wie
-wird sie in Ohnmacht fallen!</p>
-
-<p>„Ich habe sie zwanzigmal sterben sehen bei weit armseligerm Anlaß. Es
-muß, denk’ ich, ein feuriger Stoff im Tod liegen, der irgendwie einen
-Liebesakt auf sie überträgt, sie hat so eine Schnelligkeit im Sterben!“</p>
-
-<p>Auf diese Bemerkung, die schon seltsam genug ist, erwidert
-Antonius, dem nicht wohl zumut ist, mürrisch: „Sie ist schlau über
-alle Begriffe.“ Er deutet also &mdash; in diesem Augenblick &mdash; ihre
-Hinfälligkeit, ihre Anfälle, ihre Ohnmachten, im Zusammenhang
-mit ihren Launen und ihrer Buhlerei aller Grade, ganz wie der
-Durchschnittsbeurteiler, als Falschheit, Schlauheit, List. Wir aber
-wollen, noch ehe wir weiter gehen, daran denken, daß unser Wort Laune
-von <em>la lune</em>, dem Monde, kommt, der nur bei uns Deutschen nicht
-weiblichen Geschlechts ist, und daß Monat und Mond das nämliche Wort
-ist. Enobarbus aber, ein feiner Beurteiler, einer, der trotz rauher
-Rede fein empfindet, erspart uns vorerst weitere Deutlichkeit, indem
-er dies seltsame Wesen noch eindringlicher analysiert, mit sehr
-merkwürdigen Worten einer höchst modernen Seelenchemie:</p>
-
-<p>„Ach nein, Herr,“ so weist er des Antonius brummige Plumpheit zurück,
-„ihre Triebe &mdash; <em>passions</em> &mdash; bestehen<span class="pagenum"><a name="Seite_145" id="Seite_145">[S. 145]</a></span> aus gar nichts anderm als
-dem allerfeinsten Teil reiner Liebe; ihre Stürme und Fluten dürfen wir
-gar nicht Seufzer und Tränen benennen; es sind Orkane und Gewitter
-einer heftigeren Art, als sie im Kalender stehen: das kann bei ihr
-keine Schlauheit sein; wenn das wäre, könnte sie einen Regenschauer
-machen so gut wie Jupiter.“</p>
-
-<p>Moderne Verkünder der Periodizitätslehre würden sich weniger
-anschaulich und formelhafter ausdrücken; aber auch sie würden
-Cleopatras Wallungen mit Wind und Wetter, mit Ebbe und Flut und mit dem
-Kalender in Beziehung bringen.</p>
-
-<p>Damit ist also gesagt: ihre Launen, ihre Tränen, ihre Ohnmachten, ihre
-Wutanfälle, womit all ihr verführerischer, sinnlicher Zauber und auch
-ihr Spielen mit der Liebe, ihre Katzennatur zusammenhängt, all das ist
-im Grunde eine überempfindliche Hingebung an Liebe und Leidenschaft.
-Die Liebe ist bei ihr etwas Zentrales, und gerade darum ist sie nicht
-bloß inwendig, in Seelenkeuschheit Liebe; ihre Liebe ist immerwährend
-anwesend und allüberallher in ihrem Leibe verbreitet; bis in die Haut
-und jede Regung hinein ist sie lauter Liebe und Trieb; wenn sie alle in
-irgend einem Grad in ihre Netze zieht, so nur darum, weil sie selbst
-mit Haut und Haar im Netz, im Bann, im Dienst der Liebe steht. Ihre
-Unberechenbarkeit ist Schwäche; und diese Schwäche ist ihre Stärke über
-die Männer; sie ist eine tödlich Liebende, weil Liebe, das mörderische,
-schlangenhaft aussaugende, bebend rastlose Prinzip, ihr in Leib und
-Seele sitzt. Ergreifend schöner und dazu unbemäntelt wahrer kann man’s
-nicht ausdrücken, als es der Römer Enobarbus getan hat: ein Leben, das
-dem Tod entstammt und in jedem kleinsten Zeitteil vom Tode besetzt ist,
-führt sie; und dieser Tod ihrer Herkunft und ihres immer zitternd regen
-Daseins verwandelt sich ihr in geheimnisvollen Schauern und feurigen
-Wallungen wie zu Liebesakten. Fassen wir sie so, wie Enobarbus uns den<span class="pagenum"><a name="Seite_146" id="Seite_146">[S. 146]</a></span>
-Weg zu ihr weist, welche Achtung überkommt uns vor den Gegengewichten,
-die diese reiche Arme trotz all ihrer elementaren Natur in sich haben
-muß, vor ihrem Geist und ihrer Beherrschtheit, vor ihrer mit allem
-Hohen der Welt in Verbindung stehenden, königlichen Liebe zu den Großen
-der Erde, ja, sagen wir’s geradeheraus, so paradox es klingt, vor ihrer
-Treue in der Liebe! Wie hat sie die pochende, zuckende Ruhelosigkeit
-ihrer Natur in sanft und geräuschlos bewegte Grazie, wie hat sie ihre
-Schlangenhaftigkeit denn doch in die Wellenlinie berückender Anmut
-verwandelt, so oft nicht ihre lettene Ursprünglichkeit die Dämme der
-Sitte sprengt und in brutal-abscheulicher Gemeinheit loslegt!</p>
-
-<p>So wenig ich sonst geneigt bin, aus Shakespeares Dramen in sein
-Leben auszubrechen und aus diesen Gebilden Schlüsse auf des
-Dichters persönliche Existenz zu ziehen, so sehr bin ich hier davon
-durchdrungen, daß er diese wundervoll verführerische, gefährlich schöne
-Weibnatur im Leben kennen und als Mann verfluchen gelernt hat.</p>
-
-<p>Ich denke, wie es auch andern gegangen ist, wie es unausweichlich ist,
-an die schwarze Schönheit, die uns in mehreren Teilen, besonders am
-Schlusse seiner Sonettendichtung begegnet, an das Weib, in dem sich
-ihm zu unerhörter, unheimlicher Klage die Sinnenliebe, das Geschlecht,
-die Wollust verkörperte. Davon hören wir später im Zusammenhang, aber
-damit die Tragödie von Antonius und Cleopatra uns in unserer, uns in
-Shakespearischer Tiefe aufsucht, wird es uns gut tun, jetzt gleich
-das 129. Sonett zu hören; und da uns die Gedanken, das Gefühl und
-die Stimmung dieses Gedichts in all ihrer Schärfe treffen sollen,
-verbleibe der nie ganz mögliche Versuch einer dichterischen Wiedergabe
-der späteren Darstellung der Sonettendichtung in ihrem Zusammenhang;
-hier folge dieses Sonett in der unverwischten Klarheit, die es im
-Original in der rhythmisch gebannten Sprache mit der Schlagkraft der
-Reim<span class="pagenum"><a name="Seite_147" id="Seite_147">[S. 147]</a></span>verschränkung und der Hammerschläge des Schlusses, für uns aber
-nur in Prosa hat:</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>Schändliche Vergeudung des Geistes ist Wollust in Ausübung; und
-bis dahin, vorher ist Wollust meineidig; mörderisch, blutig,
-schmachvoll, wild, unsäglich, roh, grausam, ohne Verlaß;</p>
-
-<p>Sobald genossen, stracks verachtet; sinnlos gejagt, und, sobald
-erlangt, sinnlos gehaßt; wie ein verschluckter Köder, der ausgelegt
-wurde, um den, der ihn zu sich nimmt, toll zu machen: toll in der
-Sucht und toll auch im Besitz; unsäglich, wenn man’s gehabt hat,
-hat und zu haben begehrt;</p>
-
-<p>Ein Segen, den man sucht; wahre Qual, die man gefunden; vorher:
-erhoffte Freude; nachher: ein Traum.</p>
-
-<p>Das weiß die Welt alles gar wohl; und doch weiß keiner den Himmel
-zu fliehen, der die Menschen in diese Hölle führt.</p></div>
-
-<p>So spricht, so klagt, so klagt an Shakespeare der Mann, der auch in
-dieser direkten Aussprache, wir hören’s noch, oft genug so tief und
-schön in der verstehenden, gestaltenden, umgestaltenden Phantasie des
-Dichters einkehrt, die Liebe, auch Liebe, himmlische Liebe heißt, daß
-er auch da die liebenswürdige Milde neben die grausame Aufdeckung
-der Wahrheit zu setzen vermag. Das aber ist die vollendetste Höhe
-des Dramatikers, daß er zugleich so erschreckend grausam und so
-anbetungswürdig milde und liebend in seiner Wahrheit ist. Keiner, kein
-einziger vor und neben und nach ihm hat ein solches Volumen der Seele
-wie er.</p>
-
-<p>Sehen wir nun von Anbeginn, wie’s die beiden, in deren Seelen der
-Zauberer diesmal hineingeschlüpft ist, mit einander treiben, wie es sie
-treibt.</p>
-
-<p>Sie noch mehr als er steht immer zitternd in Angst vor dem Alter;
-Cleopatra lebt in Reminiszenzen, in den großen Erinnerungen, wie
-hintereinander Julius Cäsar und Pompejus in ihren Banden waren.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_148" id="Seite_148">[S. 148]</a></span></p>
-
-<p>Und nun ist ihnen Antonius gefolgt, der Herr des dritten Teils der
-Welt, der ein so herrlicher Mann ist, daß er Kaiser der Welt sein
-sollte.</p>
-
-<p>Um es aber zu sein, müßte er fort von ihr, in Krieg und Gefahr, das
-wäre das wenigste, wiewohl sie, das Weibchen, so feige wie verwegen
-ist; aber sie braucht ihn bei sich; ihre Liebe, die immerwährendes
-allgemeines Verlangen ist, kann der Gegenwart des Geliebten nicht
-entraten; und überdies, ginge er zu seiner Aufgabe, so käme er zu ihrer
-größten Gefahr: zu Fulvia. Daß er ein Ehemann ist, auch innerlich, in
-einer edlen Region seines Wesens, an eine andre Frau, an eine kühlere
-Welt, an Italien gebunden, ist ewig ihr Stachel; sie plagt ihn mit
-Bosheit und Hohn, mit „Schelten, Lachen und Weinen“. Ist er traurig, so
-will sie tanzen; ist er vergnügt, so will sie, daß er sie krank glaubt.
-Will er reden, so läßt sie ihn nicht zu Wort kommen.</p>
-
-<p>Und wie er nun, gefaßt ruhig, zwischen ernstem Bedauern und großer
-Erleichterung, ihr mitteilt, Fulvia sei tot, da ist es für die Unselige
-wieder ein stechender Schmerz; denkt sie doch über alles andre hinweg
-vor allem an sich, ihr Geschick und ihre Liebe: so also geht es uns
-Frauen, wenn wir tot sind; so wird er einst sich über <em class="gesperrt">ihren</em> Tod
-mit einer andern trösten!</p>
-
-<p>Kaum aber ist er weg, so hat sie keinen andern Gedanken als ihn.</p>
-
-<p>So wie der Politiker Octavius täglich Boten allüberallhin entsendet, um
-mit allen Teilen des Reiches in Verbindung zu sein, so gehen täglich
-ihre Liebesboten zu Antonius und wieder zu ihr zurück.</p>
-
-<p>Seine rasche neue Ehe mit Octavia ist pure Politik: Mißtrauen und
-Kriegsbereitschaft sind bei Octavius aufs höchste gestiegen; der
-Stern Antons will sinken; es gibt für ihn nur dies eine Mittel, die
-Entscheidung hinauszuziehn.</p>
-
-<p>Sie aber gerät bei dieser Nachricht in fassungslose Wut. Da hat ihr
-Dichter wahrlich nichts schmeichlerisch bemäntelt;<span class="pagenum"><a name="Seite_149" id="Seite_149">[S. 149]</a></span> wie wir aber in
-einem Gemälde oder einer Skulptur die ganze Tiefe der Enthüllung mit
-einem Blick umfassen, so erfordert das Kunstwerk, das, wie Dichtung,
-Drama und Musik, in der Zeit verläuft, die Aufhebung der Zeit und das
-Erfassen von Anfang, Mitte und Ende in Einem durch das einzige Mittel,
-das sich bietet: durch unsre innige Vertrautheit mit dem Werk. Ich
-pflege, wenn ein junges Menschenkind zum ersten Mal die Bekanntschaft
-mit einer der Symphonien Beethovens gemacht hat, in ernsthaftem Scherz
-zu sagen: man dürfte sie gar nicht zum ersten Mal hören; und in der
-Tat ist das der Unterschied echter Zeitkunst von der Wirklichkeit:
-die Wirklichkeit bietet uns nie die Totalität, immer nur den linearen
-Verlauf in Hoffnung und Bangen; im Kunstwerk vermögen wir, immer noch
-in Harren und Furcht, geheimnisreich das runde Wissen ums Ganze zu
-haben und damit in aller Erdennot und Greuel himmlischen Trost. So
-dürfen, so sollen wir Cleopatras Liebreiz, ihre samtene Zartheit, ihr
-erhaben-liebliches Ende im Liebestod im Sinne haben, wenn wir dabei
-sind, wie sie besinnungslos den Boten schlägt und an den Haaren zerrt,
-der diese Nachricht bringt: Antonius wieder vermählt!</p>
-
-<p>Shakespeares gewaltige Kunst und Menschlichkeit, seine Menschen
-in all ihrer Mischung zu zeigen, tritt nirgends imponierender und
-rücksichtsloser, selbstgewisser heraus als in diesem Drama; das sind
-Gestalten, die jeder abstrakten Formel, jeder Typisierung spotten; sie
-sind nicht gut und nicht böse; und wollten wir diese Bezeichnungen auf
-sie anwenden, so müßten wir sagen, sie seien abwechselnd beides und
-manchmal sogar beides zugleich.</p>
-
-<p>Sein Antonius, wie er erst wieder römischen Boden unter den Füßen hat,
-ist guten Willens, Cleopatra zu vergessen; aber immerzu unterhält sie
-mit ihren Boten ihr frisches Gedächtnis, sie bringen ihm ihren Duft;
-und sein Verhältnis zu Octavius bleibt nicht gut, trotz der Schwester,
-die er<span class="pagenum"><a name="Seite_150" id="Seite_150">[S. 150]</a></span> geehelicht hat, und wird schlimmer; und wie er erst wieder
-griechische Luft atmet, weiß er, glaubt er: sein Heil ist &mdash; politisch
-und menschlich &mdash; im Osten.</p>
-
-<p>So flieht er zu Cleopatra und organisiert die Reiche des Ostens zum
-Krieg. Die Kunde wird Cäsar Octavius sofort übermittelt, und der
-Entscheidungskrieg ist da.</p>
-
-<p>Antonius, der Heraklide, ist, wo’s vor allem auf persönliche
-Tapferkeit ankommt, im Landkrieg, der erste Held seiner Zeit und fast
-unüberwindlich. Cleopatra aber mit ihrer schimmernden Flotte, mit ihrer
-verwegenen, verführerisch hemmungslosen Lust zum Gefährlichen und
-Verderblichen, lockt ihn auf ihr Element, das Wasser. Im Seekrieg aber
-entscheidet nicht die körperliche Tapferkeit, sondern die berechnende
-Klugheit und kühle Ruhe, deren Meister Octavius ist.</p>
-
-<p>So fängt’s bei Actium gleich unglücklich an und ist schnell zu Ende:
-Cleopatra, die aus Laune in den Krieg gegangen ist, das ängstlichste
-Menschenkind, flieht sofort, nachdem Octavius mit scharfem Ernst
-losgelegt hat, und alle Ägypterschiffe hinter ihrem Admiralschiff her;
-Antonius aber verliert den Kopf und folgt ihr mit seiner gesamten
-Flotte.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Das größre Stück der Welt verloren!</div>
- <div class="verse">... Länder und Reiche</div>
- <div class="verse">Sind weggeküßt.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>„Wie ein brünstiger Enterich“ ist Antonius hinter ihr her gesegelt:
-derlei Äußerungen fallen im Kreis der entsetzten, der wie mit kaltem
-Wasser begossenen Generale; sie sehen: ein Dämon waltet über Antonius,
-sein Schicksal erfüllt sich; einer nach dem andern rüsten sie sich, von
-ihm abzufallen.</p>
-
-<p>In Alexandria im Palast erst findet er sich wieder und schäumt vor
-Scham und Wut. Sie sieht und hört er erst gar nicht; dann fährt er
-ganz unbeherrscht, tobend gegen sie los. Sie aber ist rührend in ihrer
-weiblichen Schwachheit. In diesem Augenblick ganz ohne Sinn für Krieg
-und Politik,<span class="pagenum"><a name="Seite_151" id="Seite_151">[S. 151]</a></span> nicht einmal bewußt weiblicher Politik folgend und gerade
-dadurch ihn treffend, unköniglich, wie ein Zigeunermädchen beugt sie
-sich tief:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">O mein Herr,</div>
- <div class="verse">Mein Herr, vergib nur meinen zagen Segeln!</div>
- <div class="verse">Ich dacht’ nicht, daß du folgtest.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Zart und geknickt kann sie nur immer um Verzeihung bitten, und wie die
-Tränen kommen, ist er besiegt. Es ist zu Ende, er weiß es; aber wer
-wird dran denken? Wein her, zum Mahl! zum Kuß! zur Liebe! zur Betäubung!</p>
-
-<p>Sie aber, der Lieben Leben und Leben Lieben ist, die feig wie eine
-Sklavin an Dasein und Wohlsein, an Lust und Üppigkeit hängt, der
-hintereinander die Beherrscher der Welt, Pompejus, Julius Cäsar,
-Antonius Geliebte waren, kommt jetzt in die größte Versuchung ihres
-Lebens.</p>
-
-<p>Schon liegt Octavius mit seinem Heer vor Alexandrien und sendet
-Botschaft: Antonius soll ausgeliefert werden; dann soll Cleopatra Gnade
-und Gunst finden.</p>
-
-<p>Seine Feldherrn haben Antonius fast alle verlassen; selbst der Treue,
-der ihn trotz allem Zynismus seines Gehabens fast anbetet, Enobarbus
-entschließt sich, von ihm zu gehen (um dann bald in Reue &mdash; eine
-wundervolle Szene &mdash; sich selbst zu töten): wo die Römer von ihrem
-Herrn und Meister abfallen, wo er verloren ist, was soll sie, die
-Ägypterin, sie, die Zigeunerin, Tod und Untergang vor Augen, tun?</p>
-
-<p>Wir wissen nur, daß sie den Boten des Octavius huldreich empfängt &mdash;
-ob sie weiter gegangen wäre? Wer weiß es? Der Dichter weiß nur, was er
-wissen will; die Unbestimmtheit und Frage ist sein Kunstmittel so gut
-wie die Sicherheit, je nach den Menschen und Lagen, die er behandelt;
-hier verrät er uns wieder einmal nichts; soviel er tut, seiner
-Cleopatra die schillernde Haut und das Innere zu beleuchten, sie ist
-ein Rätsel, soll es sein, und hier läßt er sie unaufgelöst.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_152" id="Seite_152">[S. 152]</a></span></p>
-
-<p>Antonius fährt dazwischen. Schon kommt wieder in der gefährlich labilen
-Seelenverfassung dieses Mannes an der Wende, der außen sich noch ans
-Leben klammert, während innen in ihm fortwährend etwas weiß, daß alles
-aus ist, schon kommt die grenzenlose Wut über ihn. Den Gesandten, der
-Cleopatras Hand hat küssen dürfen, läßt er peitschen.</p>
-
-<p>Nicht etwa, daß keiner sie berühren dürfte; kaum ein paar Stunden
-später, wo mit einem schönen Sieg Anmut und Würde wieder in ihm oben
-sind, verschafft er selbst seinem tapfern Feldherrn Scarus, der noch
-bei ihm ausharrt, diese höchste Gunst als Lohn: Cleopatra die Hand
-küssen zu dürfen. Aber hier ist es anders; er kommt von Octavius,
-der Hund! Und was brodelt da alles an Unausgesprochenem in dem
-Todbedrohten, der beerbt werden soll! In Haß und Härte bricht er nun
-gegen sie los. Kein Moderner hat unbarmherziger den Haß offenbart, in
-den die Wollust umschlagen kann; mit der blitzschnellen Raffiniertheit
-der Wut schreit er ihr das Schlimmste entgegen, was sich der Ärmsten
-sagen läßt:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ihr wart halb welk, als ich Euch kennen lernte!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und weiter:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Als kaltgewordnen Bissen</div>
- <div class="verse">Fand ich Euch auf des toten Cäsars Teller;</div>
- <div class="verse">Ein Brocken ja von des Pompejus Tisch;</div>
- <div class="verse">Dazu noch was an schwülen Stunden, nur</div>
- <div class="verse">Vom Leumund unverzeichnet, Eure Wollust</div>
- <div class="verse">Sich auflas; denn gewiß, könnt Ihr auch ahnen,</div>
- <div class="verse">Was Keuschheit sollte sein, Ihr wißt nicht, was</div>
- <div class="verse">Sie ist.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Kann wohl sein, daß sie, die von Moment zu Moment lebt, in jedem
-Augenblicke aber ganz, daß sie erst jetzt, wo seine zürnende Liebe
-so schamlos ausbricht und ihr solche Gewalt antut, daß sie, die
-Gepeitschte und Übergossene, erst durch diese Gewalttätigkeit wieder
-ins Gefühl ihrer unabänderlichen Schicksalsliebe zu ihm kommt.
-Jedenfalls<span class="pagenum"><a name="Seite_153" id="Seite_153">[S. 153]</a></span> beschwört sie nun ihre Liebe zu ihm mit so leidenschaftlich
-überzeugenden Worten, daß er wieder umschlägt: auf also in die
-Liebesnacht vor der letzten Schlacht!</p>
-
-<p>Das ist die nämliche Nacht, in der die Soldaten, die auf Posten stehn,
-eine seltsame unterirdische Musik vernehmen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">’s ist Herkules, der Gott, den er geliebt,</div>
- <div class="verse">Der jetzt Anton verläßt.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Ein Mann war er, die verkörperte Männlichkeit, und zu Manneswerk
-bestimmt; und als Weiberknecht geht er zugrunde. Im unterirdischen
-Trauermarsch verläßt ihn sein guter Geist, der Gott der Männlichkeit.</p>
-
-<p>Wohl stammt dieser Zug, den Shakespeare hier für die Untergangsstimmung
-bringt, wie so manche Einzelzüge, von Plutarch: hier aber erst gewinnen
-sie Leben und Sinn und werden mehr als Anekdotenkram, wo sie eingefügt
-sind in dieses Gemälde der west-östlichen Leidenschaft im Rahmen großer
-geschichtlicher Katastrophe.</p>
-
-<p>An dem Morgen also, der dieser Nacht folgt, darf Antonius, der kämpft
-wie ein Löwe, noch einmal sich Sieger nennen; aber das Treffen ist von
-keiner Entscheidung und kann nichts mehr abwenden. Sein Stern sinkt;
-der Glaube an ihn verliert sich aus der Welt; am Tag darauf entspinnt
-sich wieder eine Schlacht zur See, und seine ganze Flotte übergibt sich
-dem Feind.</p>
-
-<p>Wer ist schuld? Auch hier will es der Dichter nicht wissen; es ist, wie
-wenn ein Elementares sich dem Antonius entzöge. Wir wissen nur, daß
-Antonius sofort wieder Cleopatra des Verrats bezichtigt.</p>
-
-<p>An Treue der Liebenden glaubt er nicht und kann nicht dran glauben;
-so ist die Welt nicht mehr, so sind seine Erfahrungen nicht, und so
-ist vor allem seine Natur und die Lebensart nicht, die er wählte. Zeit
-seines Lebens war er, wenn es die Selbstbehauptung gegen die Welt
-und die Verfolgung seiner Ziele galt, ein Komödiant; sein schnell
-teilnehmendes Gefühl, seine menschliche Wärme, seine<span class="pagenum"><a name="Seite_154" id="Seite_154">[S. 154]</a></span> kindliche
-Hingabe, die alle als echte Gabe natürlich in ihm lebten, hat er in den
-Dienst politischer Zwecke gestellt; aus seiner Stärke wie aus seinen
-Schwächen hat er Mittel gemacht; wie Enobarbus, der ihn am besten
-kennt, einmal daran erinnert wird, wie Antonius bei Cäsars und auch
-wieder bei Brutus’ Tod Tränen vergossen habe, da meint der trocken:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Jawohl, in jenem Jahr plagt’ ihn der Schnupfen;</div>
- <div class="verse">Was willig er zerstören half, darüber</div>
- <div class="verse">Vergoß er Tränen.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und vor allem, wie könnte er, der seinen Frauen hintereinander die
-Treue gebrochen hat, an treue Liebe zu ihm glauben?</p>
-
-<p>An Treue zu glauben war er gewohnt; an seinen Kriegskameraden, an
-seinen Soldaten hat er sie gekannt; an Freundschaft und bewundernde
-Ergebenheit hat er geglaubt; aber selbst die verlassen ihn jetzt eben.</p>
-
-<p>An Liebe glaubt er und hat sie genossen, hat sich leidenschaftlich in
-sie hineingewühlt und sich in sie begraben und um ihretwillen Welt
-und Treue und Ehre vergessen und verraten. So ist ihm Cleopatra jetzt
-wieder die Schlange, das falsche ägyptische Herz, das Zigeunerweib, &mdash;
-jetzt hat sie ihm den Rest gegeben, hat ihn dem „jungen Römerknaben“
-verkauft, die Hexe!</p>
-
-<p>Vor seiner Wut flüchtet sie in ihr Grabmonument wie in eine Festung und
-läßt ihm, in Angst und damit seine Stimmung umschlage &mdash; sie kennt ihn
-wie sich selbst &mdash;, sagen, sie sei gestorben.</p>
-
-<p>Das aber ist sein Ende. Seine politische Rolle ist ausgespielt; es ist
-nichts mehr zu hoffen, der kühle Knabe hat gesiegt. Und nun ist ihm,
-wähnt er, Cleopatra im Tod vorangegangen, ist um seinetwillen, ist um
-ihn gestorben! Er hat genug; die römische Tradition lebt noch in ihm:
-ein Freigelassener soll ihm zum Sterben verhelfen. Er selbst glaubt’s
-nicht zu vermögen. Der aber &mdash; Eros heißt er<span class="pagenum"><a name="Seite_155" id="Seite_155">[S. 155]</a></span> schon bei Plutarch &mdash;
-treu bis zum Tod, stürzt sich lieber selber ins Schwert.</p>
-
-<p>Da nimmt sich Anton ein Beispiel; aber er ist doch kein ganzer Römer
-mehr, es gelingt ihm nur, sich schwer zu verwunden; und da erfährt
-er, daß es eine falsche Botschaft gewesen, was ihn in die letzte
-Verzweiflung brachte; daß Cleopatra noch lebt! So läßt er sich zu ihr
-tragen.</p>
-
-<p>Sie aber inzwischen: in welcher Not der Reue und Angst ist sie! Oh, was
-hat sie getan! Schon ehe er gebracht wird, weiß sie: diesmal hat sie in
-ihrer Angst die Saite zu stark gespannt. Er hält sie für tot! für so,
-um seinet-, um seines Zorns willen den Liebestod gestorben; das wird
-er, sowieso schon zum Äußersten gebracht, nicht überleben!</p>
-
-<p>Rührend ist ihr Abschied; er stirbt im Kuß, wahrlich, kein Romeo! aber
-ein Mensch, ein Mann, ein Liebender trotz allem, ein Einziger &mdash; Marcus
-Antonius!</p>
-
-<p>Sie aber fühlt sich neben diesem Leichnam, wie sie aus der Ohnmacht
-erwacht, die sie sofort umfangen hat, wie Asche: es rieselt wie Alter
-an ihr herab; der Königintraum, der Kaisertraum ist ausgeträumt; sie
-ist nichts Besseres als ein armes, schwaches Weib, eine Magd, die
-zurückgelassen ist: ihr Herr ist tot. Das Öl ist ausgebrannt.</p>
-
-<p>Eine bessere Erkenntnis, als sie je gehabt, steigt jetzt in ihr auf,
-eine ganz nächtige, die Erkenntnis all derer, die der Macht und dem
-Genuß nachgetrachtet haben, deren innere Unbefriedigung, Ungenügsamkeit
-und Sucht an der Welt und an sich selber gefrevelt hat, die Erkenntnis,
-zu der auch jener so ganz andere, darin aber zum Kreis der Holden
-gehörige, der unholde Mann Macbeth gekommen ist: der Nihilismus; das
-Leben, <em class="gesperrt">das</em> Leben ist &mdash; nichts.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Aus meinem öden Leid beginnt zu sprießen</div>
- <div class="verse">Ein beßres Leben. Cäsar sein, wie nichtig!</div>
- <div class="verse">Fortuna ist er nicht, nur Sklav’ Fortunens,</div>
- <div class="verse">Ein Diener ihres Willens; aber groß ist’s,</div>
- <div class="verse"><em class="gesperrt">Die</em> Tat zu tun, die alles Tun beschließt,</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_156" id="Seite_156">[S. 156]</a></span>
- <div class="verse">Den Zufall bändigt und den Wechsel sperrt,</div>
- <div class="verse">Sich schlafen legt und nie den Kot mehr kostet,</div>
- <div class="verse">Der Bettler nährt und Cäsar.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und doch &mdash; wahrlich, sie ist keine Julia! und auch nicht Portia, die
-Römerin &mdash; die Wetterwendische, das Kind des Augenblicks, das von ihrem
-Zentralen her schillernde Oberfläche ist, wie der Opal, dessen äußerer
-Schlangenhautglanz seine Tiefe ist, &mdash; wer weiß, ob sie nicht doch
-noch weiterleben könnte? Aber sie vernimmt, daß der kalte Octavius &mdash;
-der erste Imperator und Cäsar, über den sie keine Macht hat &mdash; nichts
-andres sinnt, als sie gefangen im Triumph nach Rom zu führen &mdash; und oh,
-das wäre das Schrecklichste für sie!</p>
-
-<p>Die alberne, eiskalte Octavia, die angetraute Gattin ihres geliebten
-Toten, ihres Gemahls, soll höhnend auf sie blicken? Der jauchzende
-Pöbel in Rom soll ihr entgegenschreien? Auf der Vorstadtbühne soll
-irgend ein junger Schauspielerlaffe sie als Hure vom Nil darstellen?
-Nein. Nun ist’s aus; sie ist entschlossen. Unzählige Male hat sie
-ihrer Lebtag mit dem freigewählten Tod gespielt; das hat zu ihrem
-hingegebenen, krampfhaften Leben gehört. Jetzt wird’s Ernst. Längst
-kennt sie die sanfteste Todesart: in ihr schönstes Kleid läßt sie
-sich schmücken; sie gedenkt des Tages, wo sie Marc Anton auf dem Fluß
-strahlend als junge Liebesgöttin entgegenfuhr, &mdash; und dann, nun, wo
-sie tapfer frei in den Tod geht, ist sie nicht mehr die feige Sklavin,
-die in scheu geduckter Liebe zu ihrem Herrn, dem Gatten einer andern,
-emporsieht &mdash;</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Ich komm’, <em class="gesperrt">Gemahl</em>:</div>
- <div class="verse">Jetzt gibt mein Mut mir Recht zu diesem Namen!</div>
- <div class="verse">Ich bin ganz Feuer und Luft; was sonst in mir,</div>
- <div class="verse">Geb’ ich dem niedern Leben.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>„Was sonst in mir“, im Original aber: <em>my other elements</em>: das
-Element des Wassers, dem die tränenreiche Nixe vom Nil angehört hatte,
-das Element des Erdenkots, dem sie<span class="pagenum"><a name="Seite_157" id="Seite_157">[S. 157]</a></span> bis dahin nie hatte entrinnen
-können, die sollen nun mit ihrem Leichnam, der zurückbleibt, zu den
-Stoffen gehn, deren Teil sie von je gewesen waren; Cleopatra steigt in
-ihrem edlen leichten Teil, als Feuer und Luft, in ihre Ewigkeit.</p>
-
-<p>Noch einmal haben wir hier der Sonettendichtung zu gedenken, wo der
-Dichter klagt, daß wir Menschenkinder nicht ganz und gar Geist sind,
-daß wir in die „dumpfe Substanz des Fleisches“ gestopft sind. Da wird
-auch von dem bittern Naß des Wassers und von der Erde gesprochen, von
-diesem Elementaren, das uns an die Natur klebt; unser Leib und unsre
-Tränen, das sind Erde und Wasser in uns. Die beiden andern Elemente
-aber, die Luft ist Geist in uns, und das Feuer ist <em>desire</em>, ist der
-Wille des Excelsior und himmlische Sehnsucht.</p>
-
-<p>So darf Shakespeares Cleopatra sich zu ihrer Apotheose rüsten. Von
-einer Schlange, die ein Bäuerlein bringt, läßt sie sich töten.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Stille, still!</div>
- <div class="verse">Siehst du mein Kindlein nicht an meiner Brust</div>
- <div class="verse">In Schlaf die Amme saugen?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Sanft und süß, unmerklich sacht holt die Schlange der Schlange
-das Leben aus der Brust und träufelt den Tod hinein; im reinsten
-aller Geschlechtsgefühle des Weibes, in unwirklich-phantastischer
-Mütterlichkeit verscheidet die liebliche Buhlerin.</p>
-
-<p>Aber noch im Sterben bäumt sich die alte Isis in ihr auf, die alte Eva:
-sie freut sich noch, durch ihren Tod den klugen dummen Cäsar, der sie
-hatte fangen wollen, um seine Beute zu prellen!</p>
-
-<p>Treue findet auch sie bis in den Tod: ihre Frauen, die ihr Leben
-geteilt haben und ihr ganz ähnlich geworden sind, sterben mit ihr:
-die eine setzt sich die Schlange an wie die Herrin; die andre war ihr
-einen Augenblick im Tod vorangegangen. Enobarbus’ scherzhaftes Wort vom
-schnellen Tod dieser Kammerfrauen ist Ernst geworden: ohne daß man<span class="pagenum"><a name="Seite_158" id="Seite_158">[S. 158]</a></span>
-eine Ursache erkannte, fiel sie tot hin, als Cleopatra, die Schlange
-schon am Busen, sie zum Abschied küßte, auch sie ein Weib, für das Tod
-und Liebesakt in seltsamem Rapport stehen.</p>
-
-<p>So endet dieses Drama, eine Liebestragödie wie Romeo und Julia,
-eine Römertragödie wie Julius Cäsar, ein Pamphlet auch gegen die
-Geschlechtsliebe wie Troilus und Cressida. Dies alles ist es und ist
-es nicht; daß es aber &mdash; und ähnliches war für das sehr ernste Spiel
-von den Helden des Trojanischen Kriegs zu sagen &mdash; nicht eine Komödie,
-wozu sein scharfes Auge den Dichter bei diesem Stoff so leicht hätte
-verführen können, sondern trotz allem eine innig liebevolle Tragödie
-wurde, das ist das beste. Es ist die besondere Tragödie dieses
-besonderen reifen, überreifen, zeitlebens unreifen, zwischen Jugend und
-Alter stehenden Menschenpaares Antonius und Cleopatra in dem großen
-geschichtlichen Moment, wo die Antike reif, überreif, unreif zwischen
-Jugend und Alter, vor dem Ende steht.</p>
-
-<p>Liebe und Politik gehören in diesem Drama so zusammen, wie in der
-wahren Geschichte der Völker privates und öffentliches Leben nicht zu
-trennen sind. Die prachtvollen politischen Szenen des Stückes stehen
-darum mit seinem Sinn in so naher Berührung wie die Liebesszenen: das
-Staatsgespräch, wie Antonius und Octavius sich zuerst wieder begegnen,
-das in seiner kühlen Überlegtheit seinesgleichen nur in den politischen
-Szenen des Egmont hat; die Bankettszene auf dem Schiff des Pompejus, wo
-mitten in römisch-traditionelle, aber nicht mehr durchweg festgehaltene
-Würde süditalienische Seeräubertücke und griechisch-orientalischer
-Tanztaumel kommt, wo Antonius und Octavius einander scharf
-gegenüberstehen, der eine mit seinem lässig-nachgebenden Trinkspruch</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Schickt euch in die Zeit!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>der andre mit dem kühl gebietenden</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sei Herr der Zeit!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_159" id="Seite_159">[S. 159]</a></span></p>
-
-<p>Da haben wir ein Drama, das fast unergründlich in die Tiefe der Seelen,
-fast unermeßlich und farbenschimmernd in die Breite des geschichtlichen
-Raums, in die Weite der Zeiten geht; ein Drama nur für reife Menschen
-&mdash; das gilt für den ganzen Shakespeare, aber für dies Stück besonders
-&mdash;, das man lieber gewinnt und mehr bestaunt, je öfter man es liest,
-das aber noch niemand in seiner umwerfenden und aufrichtenden,
-schüttelnden und streckenden Größe ganz kennt, weil es die Gestalt,
-nach der es verlangt, die Gestalt auf der Bühne noch nicht gefunden hat.</p>
-
-<p>Diese Tragödie braucht für wichtige Szenen nach Shakespeares Anordnung,
-ich meine, auch zur Einleitung und mancher Überleitung, Musik feiner
-und starker Art, wie sie der Egmont gefunden hat, und braucht eine
-Stimmung und ein Tempo, eine Zugleichheit von schneller Folge, saftiger
-Breite und streng seelenvoller Tiefe, wie wenn ein Rubens und Rembrandt
-als einziger Meister ans Werk ginge.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_160" id="Seite_160">[S. 160]</a></span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Timon">Timon</h2>
-
-</div>
-
-<p class="initial">Der Punkt ist erreicht, wo es kaum mehr möglich ist, von Shakespeares
-Schaffen zu reden, ohne auf sein Leben zurückzugreifen. Nicht zwar
-auf das Leben, von dem uns Gewährsmänner oder Dokumente berichten;
-kurz gesagt, auf den Menschen vielmehr, wie ich genötigt bin, ihn mir
-vorzustellen. Denen, die meiner Auffassung widerstreben, räume ich gern
-das Recht ein, mir einzuwenden, ich stütze eine Hypothese mit einer
-Hypothese. Ich, indem ich zugebe, daß hier die Phantasie am Werke ist,
-ohne die ich nicht auskomme, drücke es lieber so aus, daß ich sage:
-den Menschen Shakespeare und das Werk seiner letzten Zeit sehe ich
-in einem Zusammenhang, in dem allein ich dieses Werk verstehen kann
-und gegen den mir weder psychologische Erwägungen noch tatsächliche
-Überlieferungen sprechen, von welch letztern im Gegenteil einige meine
-Deutung unterstützen.</p>
-
-<p>Ich brauche einen Rückblick. Das scheint das Besondere der ganz
-großen Dramen Shakespeares zu sein: Menschen und Handlung werden so
-mit einander zur Entwicklung gebracht, daß die Menschen von innen her
-sichtbar werden, daß sie einander gegenseitig erhellen, wobei zu ihrer
-äußern Gegensätzlichkeit und Hilfeleistung noch innerer Kontrast und
-Verwandtschaft treten, und daß sich uns so das innerste Leben, die
-tiefste Wahrheit, das verborgenste Geheimnis dieser Naturen offenbart.</p>
-
-<p>Ob diese Dramen mit ihren äußeren Geschehnissen im Altertum, in
-sagenhafter Zeit, in geschichtlich christlichen Jahrhunderten spielen,
-wird für diesen ihren seelischen Gehalt von minderer Bedeutung; die
-Gestalten scheinen den Bann von Zeiten und Räumen, die strengen
-Grenzen des Vorgangs, in den sie eingesperrt sind, zu sprengen und
-untereinander einen Zyklus, einen Reigen und Verein ohnegleichen zu
-bilden; nicht nur Shylock und Porzia,<span class="pagenum"><a name="Seite_161" id="Seite_161">[S. 161]</a></span> Prinz Heinz und Percy, auch
-Richard III. und Jago, der Bastard Faulconbridge und der
-Bastard Edmund, Julia und Desdemona, Brutus und Hektor, Hamlet und
-Falstaff stehen in geheimem Gespräch, in Dialektik zu einander. Es
-geht um Menschen und ihre Schicksale; es geht um den Menschen in
-gröbsten Gegensätzen und feinsten Tönungen; es geht um Kraft, die als
-Hoheit und als Gemeinheit erscheint; um große Leidenschaft, Wildheit,
-Tapferkeit, Kühnheit; um Bekenntnis zu sich und um Hader mit sich; um
-geniales oder dämonisches Denken und Wollen; um holde Innigkeit, um
-heroische Hingabe an Freiheit oder Gerechtigkeit oder Liebe; und um
-wie viele Erscheinungsformen für diese Allgemeinheiten! um wie viel
-Zwischenstufen und Entgegensetzungen!</p>
-
-<p>Es sind keine Charaktermasken, keine Typen; besondere Vertreter
-eines Typus, eines Schicksals sind sie; es ist Unnennbarkeit, ist
-Abgrund, ist Unendlichkeit in ihnen wie im Leben; Shakespeares
-Kraft des Gestaltens ist seiner Kraft des Schauens nichts schuldig
-geblieben; dem Bild gegenüber, das aus ihren Reden und Handlungen in
-uns entsteht, haben diese Reden selbst, die der Dichter geformt, und
-diese Handlungen, die der Dramatiker ins Werk gesetzt hat, fast nur
-die Bedeutung technischer Behelfe, die uns zum Ungesprochenen und
-Unsichtbaren leiten.</p>
-
-<p>Wie also steht es mit dem, was wir den Charakter dieser Gestalten
-nennen? Ist es so, daß sie in ihrem Wesen unverändert die bleiben, die
-sie sind, oder wachsen sie, verändern sie sich mit ihrem Schicksal?
-Beides; sie stehen unentrinnbar, wie im Ewigen, in ihrem Wesen; dieses
-ihr Sein aber offenbart sich uns in Bewegung; im Werden, im Wachstum,
-in der Entfaltung. Was wir an ihnen Charakter, Natur, Wesen nennen,
-kommt aus den tiefsten Gründen ihrer innern Notwendigkeit, ihrer
-Möglichkeit, ihrer Anlage herauf, so aber, wie es gerufen wird von<span class="pagenum"><a name="Seite_162" id="Seite_162">[S. 162]</a></span>
-ihren Begegnungen mit dem Schicksal. Was da also in die Erscheinung
-tritt, ist nicht das Wesen im Abgrund, nicht die unsägliche, nur im
-Unendlichen, im Grenzenlosen völlig für die Erscheinung ausgeschöpfte
-Ewigkeitstotalität, wie sie der Dichter in der ungeformten Konzeption,
-in Stille oder Aufruhr, im Moment oder im zuckenden Ringen geschaut
-hat; es sind die Teile, die Strahlungen des Wesens, die von außen, von
-Erlebnissen gerufen, der Umgebung und dem Träger dieses Wesens selbst
-abgerissen bekannt werden.</p>
-
-<p>So ein Mensch ist immer er selbst, und ist eben um dieses Selbst
-willen, eben darum, weil so ein Selbst für die Erfahrung der andern
-wie für das eigene Bewußtsein seines Trägers unergründlich bleibt,
-nicht immer derselbe. Lear, als er herrisch und launisch zum ersten Mal
-vor uns trat, war er selbst, so wie er sich auf Grund der Bedingungen
-seines bisherigen Lebens den andern und sich geben konnte; und am Ende
-ist er dieser nämliche Mensch, wie er sich in furchtbaren Erlebnissen,
-die wir mitgelitten haben, tiefer heraufgeholt, reiner offenbart hat:
-nicht bloß für uns Zuschauer, auch für seine Nächsten und vor allem
-für sich selber hat er sich durch seine ungemeinen Schicksale noch in
-seinen hohen Jahren entwickelt; Dinge sind durch diese gewaltsamen
-Erschütterungen und Eingriffe herausgekommen, von denen niemand geahnt
-hatte, daß sie in ihm sind. Es ist also wahr und Shakespeare bestätigt
-es, daß man einen Charakter nicht lernen und erwerben, daß man seine
-Natur nicht verändern kann; es ist aber ebenso wahr und ebenso von
-Shakespeare gezeigt, daß der Quell, der als unser Leben zu Tage tritt,
-im Unterirdischen unerschöpflich ist und daß dieses Leben seine Grenze
-nur findet in Zahl und Art der Schicksale, die uns begegnen, und in der
-Zahl unserer Jahre.</p>
-
-<p>Was also aus Lear, aus Herrn Angelo und so manchem andern, was
-pathologisch aus Ophelia im Schluß hervorbricht, das war alles von
-Anfang an da, aber verborgen,<span class="pagenum"><a name="Seite_163" id="Seite_163">[S. 163]</a></span> latent, potentiell, als Möglichkeit,
-als Bereitschaft, als Spannung, und war der Erfahrung der andern wie
-dem eignen Selbstbewußtsein unzugänglich, bis es allmählich oder
-überraschend gerufen wurde.</p>
-
-<p>So ist der Mensch, wie ihn Shakespeare in diesen Meisterwerken
-darstellt, nie eine starre Charaktermaske, aber immer fest von den
-Schranken seiner besonderen Bedingungen umgrenzt; seine Beharrung wie
-seine Wandlungen sind glaubhaft; immer haben wir in diesen Stücken das
-Gefühl der Sicherheit von dem Eindruck her, daß Charakter und Schicksal
-einander gegenseitig bedingen, daß der Mensch nicht um der dramatischen
-Zwecke des Dichters willen plötzlich aus seinem Wesen gerückt wird.</p>
-
-<p>Diese Enthüllung und Offenbarung des Innern für uns Zuschauer,
-diese Entwicklung und Herausgestaltung für die Personen selbst und
-ihre Umgebung ist uns an Shakespeares großen Dramen dieser Art der
-wesentliche Zug. Daß diese Dichtungen Dramen, Fortgang, Handlung,
-Gegenspiel, gegenseitige Bedingnis sind, liegt tief schon in dem
-Widerstreit begründet, in dem Schicksal und Charakter einander vorwärts
-bringen und die Wage halten: die Handlung ergibt sich aus den Naturen
-und aus ihrem Gegensatz nicht nur zu einander, sondern auch zu den
-Aufgaben, vor die jede einzelne von jedem Stadium ihres Geschicks sich
-gestellt sieht; und die Naturen werden von den Vorgängen zu ihren
-Äußerungen und Wandlungen gereizt. Dieses Wachstum, diese Variabilität
-der Naturen im Zusammenhang mit der äußern Handlung ist es, was
-Shakespeares Drama nebst dem, daß es uns ein wundervolles Abenteuer
-zeigt, daß es ein entzückendes oder ergreifendes Spiel ist, zu noch
-mehr macht: zu einer Sichtbarmachung des innersten, des wahrsten Lebens
-bis in den Schlund hinein, wo im Ungrund das Nichtmehrsichtbare wogt.
-Wie Stifters Jüngling nach der Aufführung des König Lear empfindet:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_164" id="Seite_164">[S. 164]</a></span></p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>Das hatte ich nicht geahnt, von einem Schauspiel war schon längst
-keine Rede mehr, das war die wirklichste Wirklichkeit vor mir,</p></div>
-
-<p>so ist das, was diese Erschütterung erzeugte, ein wesentliches Element
-in all diesen großen Menschenenthüllungen Shakespeares. In der äußern
-Wirklichkeit mancher dieser Dramen ist manches uns fremd geworden,
-fast so fremd manchmal wie in den Tragödien und Komödien der Antike;
-aber die Offenbarung des inneren Menschentums bleibt ein immer frisch
-ergreifendes, durchschüttelndes, reinigendes und vorwärts, aufwärts
-drängendes Wunder der Lebendigkeit und trotzt der Zeit. <em>Tua res
-agitur</em>, deine Sache wird da verhandelt, das ist die Grund- und
-Zielempfindung, von der aus diese Dichtungen zu unserm Denken und
-Wollen gehn und imstande sind, unser Leben zu wandeln.</p>
-
-<p>Dieses aber nun, was Shakespeares Neues, Gewaltiges, Eigenes, Größtes
-war, womit er nicht nur die Genialischen unter seinen Zeitgenossen,
-sondern alles dramatische Genie, das vor ihm und nach ihm war,
-übertraf, diese Verbindung von Charakter und Schicksal, von Gestalt
-und Handlung, diese Offenbarung des geheimsten Lebens, diese Beziehung
-zur Wirklichkeit des Menschenlebens, der Natur, der Weltordnung, all
-das, was ihn zu mehr macht als einem bloßen Dichter, was ihn zur
-Philosophie, zur Religion, zur Kritik und Umgestaltung, zu Erneuerung
-und Wiedergeburt in Beziehung setzt, &mdash; dieses sein Größtes ist
-offenbar auch sein Schwerstes gewesen.</p>
-
-<p>Die Produktivität geht immer irgendwie über die Kraft; sie ist immer
-mit Angst, mit Abwehr, mit der Unlust, die auch mit der Wollust gepaart
-ist, mit Müssen und Sträuben verbunden; je größer der Genius, um so
-mehr fürchtet sein Leibliches, der Komplex seiner normalen Funktionen,
-von dieser dämonischen Übergewalt zerbrochen zu werden. Kein Genie,
-das über die Jugendjahre hinaus in die Meisterschaft gerät, das sich
-nicht, damit der Normale in ihm das<span class="pagenum"><a name="Seite_165" id="Seite_165">[S. 165]</a></span> Zusammenhausen mit dem Abnormen
-erträgt, irgend eine besondere Lebensdiät zulegen müßte; was gibt es
-da für mannigfache Stufen! Man sollte einmal den Versuch machen, die
-Geschichte der Kunst nicht in zeitliche Perioden, sondern nach dieser
-Modalität, nach diesem Lebensstil einzuteilen. Welch ein Unterschied
-zum Beispiel zwischen einem Rückert, der Anlage nach einem der größten
-Geister, der seinen Geist nur so ertrug, daß er das Genie zum Talent
-hinabebnete und das Leben der Produktion in den stillen Bahnen des
-privaten Lebens weise verlaufen ließ, und einem Beethoven, der das
-Privatleben aller Würde entsinken ließ, nur um dem Schaffen keine
-Fesseln anzulegen. Nur von hier aus wird das Rätsel der Deutschen,
-Goethe, der Mensch nicht nur und der Geheimerat, sondern der Dichter
-einmal seine Lösung finden: seine Schöpfungen und das Verhältnis
-seiner Mannes- und Altersproduktion zu den Jugendverheißungen versteht
-man, wenn man das Kompromiß versteht, das der Genius und der Normale
-in Krisen und in dem unaufhörlichen Ausgleich, der Leben heißt, mit
-einander schließen müssen, um es mit einander auszuhalten. Zweie sind
-in dem produktiven Menschen stets beisammen, die sich einander bequemen
-müssen; es ist ein immerwährendes Ringen, Ausweichen, Pausieren; und
-nicht geringeren Grades ist diese Dualität, als wir sie in dem Bilde
-des Langschläfers und Morgenfaulen haben, der nie aufstehen würde, wenn
-der andre, der mit ihm unter einer Decke und einer Haut liegt, ihm
-nicht jeden Morgen die Bettdecke wegzöge.</p>
-
-<p>Jedes Genie nun, wir können es uns nicht dringend genug vorstellen,
-ist ein Kind seiner Zeit; alles Schöpferische geht in dieser Welt aus
-dem Geschaffenen hervor. Immer wieder muß sich der Produktive dem
-Üblichen, dem er entstammt, das auch von ihm erwartet und verlangt
-wird, entringen; er will immer wieder zurücksinken, wie Goethe in den
-Großkophta, den Bürgergeneral, die Singspiele<span class="pagenum"><a name="Seite_166" id="Seite_166">[S. 166]</a></span> und so vieles der Art
-sank; er steht in einem Kampf, der oft entsetzlich, dämonisch, der
-manchmal ermattend und manchmal beflügelnd ist.</p>
-
-<p>Jeder Besondere kennt den Wunsch und die Notwendigkeit, zwischenhinein
-gewöhnlich zu sein, gleichviel, wie viele seiner Gaben er in
-die Gewöhnlichkeit mitnimmt; und so verstehe ich es als völlige
-Notwendigkeit, daß auch Shakespeare hie und da und in besonderen Krisen
-der Umgebung und sich selbst hat nachgeben müssen.</p>
-
-<p>Wir haben sein Neues, Besonderes, Großes gesehen; auch läßt sich
-zeigen, wie es aus der Art und Mode seiner Zeit und gegen sie entstand.
-Die Art der Zeit war Leidenschaftlichkeit, Üppigkeit, Bilder- und
-Witzesfülle der Rede und Charakteristik großen Zuges im Sinne einer
-rationalen, allgemeine Typen setzenden Psychologie; prachtvolle Muster
-dieser Dichtung seiner Zeit sind die beiden glänzenden Gedichte seiner
-Jugend, Venus und Adonis und Der Raub der Lucrezia, um derentwillen
-er sofort ein gefeierter Dichter wurde. Glänzendes Talent, in der Art
-der größten Dramatiker seiner Zeit zu dichten, zeigt sich im Titus
-Andronikus; und wie wundersam und abgestuft die Sprach- und Metapher-
-und Witzkunst, die Sprache der Empfindung und des Geistes in der
-Verlornen Liebesmüh! Wie er dann aber mit seinem Eigenen, Wesentlichen
-einsetzt, in der Gestalt des Proteus in den Zwei Edelleuten von Verona,
-da ist er ein Anfänger, der den Übergang von der starren Charaktermaske
-zur Beweglichkeit des lebendigen Menschen noch nicht zu finden weiß und
-aus dem Ernst ins Spiel zurückbiegt, um nur einen Abschluß anzuflicken.</p>
-
-<p>Zu solchen Vor- und Entwicklungsstufen ist Shakespeare aber während
-seiner ganzen Produktion hie und da zurückgekehrt, wenn ihn Bedürfnis
-oder Lust überkam, sich’s zwischenhinein leichter zu machen. Da hat
-er derbe, rasch gezimmerte Possen geliefert wie Der Widerspenstigen
-Zähmung und dergleichen; oder leichte Spiele; in einer<span class="pagenum"><a name="Seite_167" id="Seite_167">[S. 167]</a></span> ernsteren
-Komposition hat er wohl die Charaktere entweder nicht zur Entwicklung
-gebracht oder hat sie umgekehrt plötzlich, gegen alle Glaubhaftigkeit,
-umfallen lassen; oder er hat nicht seine letzte Kraft aufgeboten und
-hat Großes in der skizzenhaften Anlage stehen lassen. Ganz besonders
-lag ihm schon immer nahe, sein Größtes und Schwerstes, das, womit
-er maßlos fremd in seiner Zeit stand, die Entwicklung menschlicher
-Seelen, wie er sie in immer tieferen Abgrund hinein verfolgte, fallen
-zu lassen und dafür zweierlei zu bringen: einmal in dramatisierten
-Novellen, Romanen, Märchen das buntbewegte romantische Abenteuer, nach
-dem die Zeit in allen Völkern und in allen Schichten der Bevölkerung
-viel hungriger begierig war als nach der Offenbarung des menschlichen
-Innern; und dann die leidenschaftliche, grimmige, weise, satirische
-oder polemische Rede. Sonst, wenn er in seiner ganzen Gewalt stand
-und das Äußerste von seiner Produktion verlangte, ließ er diese Rede
-sublim aus dem tief Menschlichen heraufquellen; war er aber genötigt
-oder gewillt, es sich leichter zu machen, so gelang es einem solchen
-Virtuosen auch, sie unmittelbar, unterhaltend und geißelnd, zum
-Mitgefühl wie zum Nachdenken stimmend, aus den äußern Vorgängen allein
-abzuleiten.</p>
-
-<p>In seiner letzten Arbeitszeit nun tritt sein Eigenstes, die Verbindung
-von Handlung und Seelenenthüllung, ganz besonders zurück; keineswegs
-verschwindet es ganz und gar; aber irgendwie &mdash; so deute ich dieses
-sehr Schwere und will jetzt nicht mehr davon sagen; wie ich es
-möglicherweise meine, werde ich erst in den letzten dieser Vorträge
-anzudeuten wagen &mdash; irgendwie setzt die höchste und gefährlichste, die
-verzehrendste Kraft seiner Produktivität aus. Denken wir einstweilen
-nur an das, was hier von dem Dualismus und der Diät und den Krisen der
-produktiven Menschen gesagt worden ist; denken wir daran, wie Goethe
-eine gewisse zauberhafte, kraftvolle, über Schönheit,<span class="pagenum"><a name="Seite_168" id="Seite_168">[S. 168]</a></span> Weisheit und
-Literatur hinausbrechende zeugungsmächtige Energie der Gestaltung,
-wie sie seine Jugendproduktion hatte, früh verloren und nie wieder
-erhalten, wie er dafür freilich anderes bekommen und erarbeitet hat,
-so werden wir uns nicht wundern, daß Shakespeare zum Ende hin, wiewohl
-er an Jahren nicht alt wurde, seine Stimmung und Weisheit, das Höchste
-seines Ergebnisses im Drama bringen und leuchten lassen wollte, ohne
-es erst so tief in Menschenseelen hineinzustecken, daß es den langen
-schweren Weg der Charaktertragödie gehn mußte, um in Fülle des Lebens
-wieder herauszubrechen.</p>
-
-<p>Von den Stücken, die wir noch vor uns haben, unternimmt Shakespeare nur
-noch in einem die Fahrt in den tiefen Schacht der Seelen hinein: in
-Coriolan; in den andern geht er in dem besondern Stil seiner letzten
-Periode, nicht zwar auf einem, sondern auf verschiedenen Pfaden,
-immer den Weg der Verbindung von romantischem Spiel und Weisheit, den
-er vollendet erstmals im Sommernachtstraum gegangen war. In dieser
-letzten Periode aber ist er auf der Suche nach einem neuen Stil; und
-über Zymbelin und Wintermärchen hinweg kommt er zu einer wunderschönen
-einsamen Höhe im Sturm.</p>
-
-<p>Ehe er indessen so weit war, in dieser Gattung, die die drei Elemente
-seines Dramas: Handlung, Seelenenthüllung und Sprache, in neuem
-Mischungsverhältnis brachte, ganz oben zu sein, erlaubte er sich,
-tastend oder schnell hinwerfend, zwei leichter gezimmerte Stücke, die
-sich sehr merkwürdig von all seinen andern unterscheiden: Perikles,
-Fürst von Tyrus und Timon von Athen. Auf ein drittes Gebilde ebenso
-und, meine ich, im selben Zusammenhang problematischer Art, König
-Heinrich VIII., sei hier nur hingewiesen.</p>
-
-<p>Perikles soll uns dazu dienen, das Rätsel Timon, soweit es möglich ist,
-zu erhellen; die Bedenklichkeit, ich muß beinahe selbst sagen, die
-Komik meines Versuchs liegt nur<span class="pagenum"><a name="Seite_169" id="Seite_169">[S. 169]</a></span> darin, daß die Entstehungsgeschichte
-des Perikles auch nicht gerade feststeht. Ziemlich einhellig zwar
-sind die Gelehrten jetzt darin, daß sie Shakespeare die Autorschaft
-nicht abstreiten; und auch darüber ist man im großen Ganzen einig, daß
-das Stück nicht seiner Frühzeit, sondern dieser recht späten Periode
-zugerechnet wird. Ich wüßte auch gar nicht, mit welchem Recht man es
-der Jugenddichtung zurechnen könnte; es sei denn, daß der Grundsatz
-gelte, was einem nicht behagt, sei entweder nicht von Shakespeare oder
-stamme aus seiner Jugend.</p>
-
-<p>Perikles, Fürst von Tyrus ist 1609 in einer Quartausgabe erschienen:
-„Das jüngste, viel bewunderte Schauspiel von William Shakespeare“. Ein
-Zeichen, daß das Stück beim Publikum großen Erfolg hatte, ist denn
-auch, daß rasch hintereinander vier solche Quartausgaben erschienen.
-Die große Nachlaßausgabe, die erste Folio aber brachte das Stück nicht;
-die zweite von 1632 auch nicht, aber die war auch nur ein Nachdruck
-der ersten; die dritte von 1664 nahm das Stück auf, zugleich mit einer
-Reihe anderer Stücke, die noch strittig sind, zu einem gewichtigen
-Teil aber auch heute mit gutem Grund Shakespeare zugeschrieben
-werden. An äußeren Zeugnissen kommen also nur in Betracht erstens
-die Quartausgaben, die für Shakespeares Verfasserschaft sprechen;
-das ist aber kein ganz durchschlagender Beweis; die Titel dieser
-Quartos vermeldeten auch manchmal Irrtümer oder Lügen; und zweitens
-die Weglassung des Stückes in der von Shakespeares Freunden besorgten
-ersten Folio. Daraus vermag ich aber auch nichts Sicheres gegen
-Shakespeares Autorschaft zu holen, so ernst es auch zu nehmen ist;
-diese negative Tatsache ist keine Antwort, sondern eine Frage. Haben
-die Herausgeber ihre oft bewährte Liederlichkeit und Willkür walten
-lassen? Wußten sie aus persönlichen Äußerungen, daß Shakespeare das
-Stück verwarf, nicht, weil er es nicht verfaßt hatte, sondern weil er
-sich seiner schämte?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_170" id="Seite_170">[S. 170]</a></span></p>
-
-<p>Durchschlagende Zeugnisse sind also keine da; weder für noch gegen
-Shakespeares Autorschaft. Ich entschließe mich &mdash; mit den meisten
-Forschern &mdash; Shakespeare für den Verfasser zu erklären, weil alles
-Sprachliche, wozu ich auch die Gedanken, die Satire, die Polemik,
-die Weisheit und die lyrische Betrachtung der Ereignisse rechne,
-völlig reifer Shakespeare ist; wir kennen niemanden sonst, der in
-Situationen der Höhe und der Gemeinheit seine Menschen so sprechen
-ließ. Kunsthistoriker helfen sich in solchen Fällen, wo ein Werk alle
-Kennzeichen des Pinsels eines Meisters trägt, ihnen aber seiner doch
-nicht ganz würdig scheint, damit, daß sie es seiner Schule zuschreiben.
-So ähnlich hat man auch für dieses Stück den Versuch gemacht, von einer
-bloßen Bearbeitung oder Mitarbeit Shakespeares zu reden. Dazu nun sehe
-ich gar keine Möglichkeit. Das Stück ist ganz einheitlich und aus
-einem Guß; es gehört nur eben einer völlig andern Gattung zu, als wir
-sie sonst von Shakespeare kennen. Das gilt auch für Goethe und seinen
-Großkophta zum Beispiel; Schlüsse, das Stück sei nicht von ihm, oder es
-stamme aus seiner Jugend, oder ein andrer habe es verfaßt und Goethe
-habe es nur überarbeitet, wären, wir wissen es zufällig, allzumal
-falsch. Daß Shakespeare hier, wie es öfter anzunehmen ist, ein eigenes
-Jugendwerk oder einen aus der Frühzeit stammenden Entwurf bearbeitet
-hat, ist wohl möglich; eine Bemerkung in einem Prolog Drydens, dem noch
-persönliche Erinnerungen, die auf Shakespeares Freunde zurückgingen,
-zugänglich waren, spricht dafür, ohne irgend Sicherheit zu geben.</p>
-
-<p>In diesem Perikles nämlich gehen die Handlung, das romantische
-Abenteuer, das Spinnen und Abreißen der Fäden in dem einmal erwählten
-Stil überaus sicher vor sich; nur ist freilich dieser Stil kindlich,
-holzschnittmäßig, fast nach Art der alten Moralitäten; die Leutchen
-bringen alle ihren fertigen Charakter mit in das Stück; von einer
-Entwicklung oder tiefern Erleuchtung ist gar keine Rede.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_171" id="Seite_171">[S. 171]</a></span></p>
-
-<p>Das Drama geht nicht auf Menschenforschung aus, sondern auf ein
-phantastisches Abenteuer, das gefühlvoll, musikalisch, lyrisch umwunden
-wird und vor allem Gelegenheit zu Weisheit, zu der Weisheit aber von
-Shakespeares unverkennbar besonderer Art gibt.</p>
-
-<p>In der Quellenüberlieferung heißt der Held dieser romantischen Sage
-sonst nicht Perikles, sondern von einem beliebten spätgriechischen
-Roman her Apollonius von Tyrus. In England hatte im 14. Jahrhundert
-John Gower die Geschichte behandelt; und so ist in unserm Drama
-Gower der Prolog, der von Akt zu Akt dazwischen liegende Teile des
-abenteuerlichen Seereiseromans erzählt. In den dramatisierten Vorgängen
-selbst bleibt alles marionettenhaftes Spiel; nun ist das Puppenhafte
-und Spielerische ein Element, von dem das Drama ausgeht und zu dem es
-immer wieder zurückkehrt; das gilt nicht bloß für die Geschichte des
-Dramas, sondern für die Entwicklung jedes einzelnen Dramatikers; jeder
-Künstler besinnt sich manchmal darauf, daß sein Amt nicht unmittelbare
-Arbeit an lebendigen Menschen, sondern Schnörkel, Arabeske und Spiel
-ist; und dieses Drama sieht so aus, wie wenn Dostojewskij, als er
-sich erholen wollte und der Psychologie müde war oder irgendwie das
-Tiefste nicht mehr oder zwischenhinein nicht konnte, so etwas wie den
-Grafen von Monte Christo geschrieben hätte, ihn aber mit reichlichen
-Blitzen seines Geistes und seiner Gesellschaftskritik durchzuckt hätte.
-Gerade das hat Dostojewskij ja nicht getan; aber wie er sich oft in
-andrer Art erholte, wie er seine genial verzerrende, das Übliche zur
-innern Wahrheit verzerrende Psychologie, mit der er als Fremder gegen
-seine Zeit stand, ließ und inzwischen Geschichten der kleinen Groteske
-hinwarf, wissen wir.</p>
-
-<p>Im Anschluß an den Roman läßt das Stück Perikles, den Fürsten von
-Tyrus, ein paar Jahrzehnte lang zwischen Antiochia, Tarsus, Pentapolis
-und Ephesus hin und<span class="pagenum"><a name="Seite_172" id="Seite_172">[S. 172]</a></span> her reisen; er verläßt die Prinzessin von
-Antiochien, weil sie in Blutschande mit ihrem Vater lebt; durch
-ritterlichen Kampf gewinnt er Thaisa, die Tochter des Königs von
-Pentapolis; auf der Meerfahrt in fürchterlichem Sturm kommt sie nieder,
-scheint tot, wird in einer Kiste ins Meer geworfen; sie hat ein
-Töchterchen geboren, das er später verliert; die Ärmste soll ermordet
-werden, wird geschont, aber von Räubern in ein Bordell verkauft; darin
-bleibt sie rein und gut. Später findet Perikles die Tochter wieder,
-und mit Hilfe der keuschen Diana wird ihm sogar auch die Frau wieder
-geschenkt, die von einem weisen, wundertätigen Arzt als Ertrunkene
-wieder ins Leben gerufen und Hohepriesterin in Ephesus geworden war.
-Das alles wird farbig und im äußern Vorgang lebendig dargestellt und
-könnte auch heute noch interessieren und leicht, spielerisch rühren.</p>
-
-<p>Tiefere Bedeutung erlangt das Stück immer wieder durch zündende
-Worte. Zur Kritik der Fürstengewalt, zur Weisheit der Staatslenkung,
-zur Kennzeichnung der Niedertracht wie der schlicht volksmäßigen
-Redlichkeit hat Shakespeare da ganz Treffliches gesagt. Und
-unübertroffen gut ist die Sphäre des Bordells, des Liebesgeschäfts
-dargestellt.</p>
-
-<p>Ich führe ein Beispiel an, wie der Dichter in seiner Kritik den
-absoluten Monarchen, den Tyrannen, und den rechten König, den Vater der
-Seinen, einander gegenüberstellt. Die Tyrannen trifft es, wenn gesagt
-wird:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Die Könige</div>
- <div class="verse">Sind Erdengötter und im Laster schaffen</div>
- <div class="verse">Sie ein Gesetz aus ihrem Willen. Zeus</div>
- <div class="verse">Kann keiner strafen, wenn Zeus selber sündigt.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Dagegen erhebt sich das Bild des rechten Königs in Perikles. Wie um
-seiner persönlichen Angelegenheiten willen Krieg mit Antiochien droht,
-ist er besorgt, seine armen Untertanen, die mit all den Wirren nichts
-zu tun hatten, könnten ganz unschuldig Gräßliches erleiden müssen:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_173" id="Seite_173">[S. 173]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Ich sorg’ um sie,</div>
- <div class="verse">Denn mich bedaur’ ich nicht; ich bin nicht mehr</div>
- <div class="verse">Als wie die Wipfel, die der Bäume Wurzeln,</div>
- <div class="verse">Durch die sie wachsen, schützen.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>So wird die Handlung, außerdem, daß sie fesselndes und rührendes Spiel
-ist, immer wieder, bei jeder Gelegenheit, zu Sentenzen benutzt; nur
-freilich geht diese Weisheit nicht aus der innersten Not weder der
-Person noch der Situation hervor, und so bleibt unsere Stimmung wohlig,
-angenehm unterhalten, aber nichts berührt uns in der Tiefe.</p>
-
-<p>Ich sage nun, daß Timon von Athen, wiewohl dieses Drama in dem, was ich
-die Sprache oder die Rede nenne, zu weit bedeutenderer Höhe ansteigt,
-ein Stück ähnlicher Art ist: auch hier treten die Charaktere ganz
-fertig und schablonenhaft auf, sie sind keine Individuen, sondern in
-bestimmte Kostüme gekleidete Repräsentanten von Typen nach Art der
-klassischen und romanischen Komödie, der Komödie von Shakespeares
-Freund und gelehrtem Gegner Ben Jonson. Die Handlung ist diesmal nur
-ein übernommener, weitmaschig motivierter, Skizze gelassener Vorwand,
-ein Stramin, um Reden, Betrachtungen, leidenschaftliche Ausbrüche
-gegen Erbärmlichkeit und Verrat der Menschen hineinzusticken. Denken
-wir dagegen etwa an Hamlet! Gewiß wird auch da die Handlung immerzu zu
-Ausfällen und Betrachtungen benutzt; da erwachsen sie aber, wie mit
-innerem Zwang, aus dem Zusammentreffen von gereizter Menschenseele und
-Situation; sie gehören zu einem unsäglich reichen, quellenden Leben,
-zu einem Stück tragischer Wirklichkeit. Von den Kommentatoren wird
-nun allerdings meist behauptet, für einige Szenen des Timon gelte das
-ebenfalls, und sie seien nicht geringer an Rang als die Szenen höchster
-tragischer Gewalt, die wir von Shakespeare haben; Timons Ausbrüche des
-Menschenhasses werden den Wahnsinns- und Verzweiflungsszenen Lears an
-die Seite gestellt. Und dagegen findet man dann eine Reihe<span class="pagenum"><a name="Seite_174" id="Seite_174">[S. 174]</a></span> anderer
-Szenen so elend, so stümperhaft hingehudelt, so des Dichters unwürdig,
-daß man sagt: sie können nicht von Shakespeare sein.</p>
-
-<p>Man hat noch viel zu geringe Ehrfurcht und Ergriffenheit vor dem
-großen Tragiker Shakespeare, wenn man die prachtvollen Sprachkatarakte
-Timons nicht tief unterscheidet von dem Einblick ins Innerste der
-Menschenseelen, wie ihn uns die großen Tragödien des Dichters gewähren.
-Was er im Timon als höchstes zuwege gebracht hat, tragische Redegewalt,
-das hat er auch, aus unmöglichen Situationen heraus, im Titus
-Andronikus, das haben auch Marlowe und andere Zeitgenossen vermocht.
-Auch ich finde den Abstand gewisser Szenengruppen im Timon von einander
-außerordentlich groß; aber er ist nicht unüberbrückbar und nicht so
-sehr viel größer als im Perikles zwischen der Art, wie die Handlung
-geführt wird, und wie die Weisheit und Satire sich äußert.</p>
-
-<p>Das nämlich dünkt mich der springende Punkt: wo es im Timon um Polemik,
-Satire, Erfahrung, Weisheit geht, um die groß pathetische Rede, da
-ist die Sprache prachtvoll, stark und wenn nicht gewaltig, so doch
-gewalttätig groß. Aber innerste Glut, Hervorbrechen des schlechthin
-Notwendigen, so daß man mit hingenommener Seele bei einer Eröffnung
-des Lebens ist, ist auch sie nicht, nie in diesem Stück, nicht einmal
-in den höchsten Momenten: immer prasselt da eine gewisse kalte,
-virtuosenhafte Pracht auf uns hernieder; immer ist dieses Feuerwerk
-Sprache und also Rhetorik, tief empfundene Rede Shakespeares, die
-aber den Gestalten und Situationen der Handlung nur so aufgebunden
-ist, wie der Redner sich der Bildersprache bedient; immer hat man
-den Eindruck wie einer Wiederholung von etwas, was einstens ganz
-echt und ursprünglich und dramatisch war, weil der Dichter sich in
-seinen Gestalten verlor, während er es jetzt, blendend, bezaubernd und
-subjektiv, wie er sich äußert, fast nicht der Mühe wert zu finden<span class="pagenum"><a name="Seite_175" id="Seite_175">[S. 175]</a></span>
-scheint, seinen letzten Ernst auf das zu verwenden, was ihm nur noch
-Einkleidung ist.</p>
-
-<p>Eine Notwendigkeit, die verbreitete Annahme zu teilen, daß etliche
-Szenen, in denen die äußere Handlung vom Flecke gebracht wird und
-die in der Tat auf einem sehr niedrigen Niveau stehen, nicht von
-Shakespeare stammen, sehe ich also nicht; was für Teilhaberschaften
-kämen dabei heraus, wenn man jedesmal eine Szene, die einem
-minderwertig erscheint, dem großen Dichter absprechen wollte! Man hat
-die bedeutenden Szenen Timons überschätzt und zu sehr gerühmt; auch
-sie stammen zwar von Shakespeare, aber auch sie nicht von dem ganz
-echten, sondern von einem schlaffen, schwankenden, müden, vor allem der
-Gestaltung und Seelenergründung müden, von einem Geiste, der wieder
-einmal zugleich ruhend und suchend geworden war.</p>
-
-<p>Es findet sich aber freilich in der Schlußszene des Stückes eine
-Stelle, wo man wirklich meint, sagen zu müssen: das ist so unsäglich
-jammervoll, nein das kann nicht von Shakespeare stammen! Und müßte
-man auch nur das kleinste Stückchen des Textes einem andern abtreten,
-so wäre ein Mitarbeiter, ein Überarbeiter oder Überarbeiteter da,
-und weitergehende Vermutungen hätten sichern Grund. Diese Stelle ist
-die Inschrift, die Timon auf seinen Grabstein gemeißelt hat; sie ist
-nach Ton wie Inhalt im Original genau so elend wie in der folgenden
-Übersetzung:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hier ruht ein müder Leib, die müde Seel’ entschwebt:</div>
- <div class="verse">Forscht nach dem Namen nicht; die Pest euch Schurken, die ihr lebt!</div>
- <div class="verse">Hier lieg’ ich, Timon, der im Leben Lebendes gehaßt;</div>
- <div class="verse">Fluch’, Wandrer, wie du willst, nur halt’ hier keine Rast!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>„Forscht nach dem Namen nicht!“ und „Hier lieg ich, Timon,“ &mdash; das
-erinnert doch gar zu sehr an die Legende von dem hilfreichen Mann, der
-sich von der armen Frau mit den Worten verabschiedete: „Meinen Namen
-werdet Ihr nie erfahren; ich bin der Kaiser Josef“, als daß wir eine so
-überhomerische<span class="pagenum"><a name="Seite_176" id="Seite_176">[S. 176]</a></span> Schläfrigkeit Shakespeare zutrauen dürften. Indessen
-ist die Textgestaltung, die wir haben, uns nicht von Shakespeare selbst
-vorgelegt; je zwei von diesen vier Versen bilden eine in sich fertige
-Grabschrift, die beide Male nichts vorher und nichts nachher erfordern;
-es besteht also die Wahrscheinlichkeit, daß zwei Fassungen überliefert
-waren, die von den Herausgebern der Folio törichterweise beide
-gedruckt wurden. Allerdings brauchte man sich mit dieser Abweisung
-noch nicht zufrieden zu geben, könnte vielmehr sagen, auch wenn man
-die Grabschrift halbiere, bleibe doch jede, die zur Auswahl stehe,
-ein gleichermaßen elend versifiziertes Sprüchlein, das in seltsam
-kindlichem Widerspruch stehe zu der sprühenden Geist- und Sprachgewalt
-Timons. Ist ein so kümmerliches Gemächte Shakespeare als Krönung eines
-Stückes, in dem in den Hauptszenen eine so prachtvoll starke Sprache
-geredet wird, zuzutrauen? Darauf aber kann ich nicht ohne weiteres
-glatt Nein sagen; ein sehr seltsamer Umstand macht mich betroffen.
-Wir haben eine andere Grabschrift, von der eine gut beglaubigte und
-nicht leicht zu verachtende Tradition behauptet, Shakespeare habe sie
-gedichtet oder zum wenigsten bestimmt: Shakespeares eigene nämlich, wie
-sie sich auf seinem Grab in der Pfarrkirche zu Stratford befindet. Die
-ist nicht nur gerade so kläglich, sondern auch in der nämlichen Art
-elend: in weinerlichem Bänkelsängerton gehalten, der, wenn er nicht
-Persiflage ist, gewiß mehr an Jahrmärkte erinnert als an die hohe freie
-Würde und Ausdrucksgewalt Shakespeares. Und dabei können wir uns daran
-erinnern, daß dieser volkstümliche und kindlich einfältige Leierton,
-wie er auch von Gower in den Prologen zu Perikles gesprochen wird,
-auch sonst manchmal von Shakespeare zur Zusammenfassung an solchen
-Stellen gewählt wird, wo das Ernste und Furchtbare aus der Form des
-Spielerischen nicht hinausfallen soll, zum Beispiel in Verschen, die in
-Maß für Maß der Herzog zu sprechen hat.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_177" id="Seite_177">[S. 177]</a></span></p>
-
-<p>Ich bleibe also dabei: man kann das Rätsel Timon teils lösen,
-teils, weil es sich mit anderm Rätselhaften in Shakespeares letzten
-Lebensjahren eng berührt, Rätsel lassen, ohne einen zweiten Verfasser
-zu bemühen.</p>
-
-<p>Um die äußern Daten der Textüberlieferung steht es sehr einfach: wie
-viele andre Stücke ist Timon für uns erstmals in der ersten Folio von
-1623, und zwar als vierte der Tragödien gedruckt worden. Wann das Stück
-zuerst auf der Bühne erschien, ob es bei Shakespeares Lebzeiten auch
-schon erschien, wissen wir nicht. Ein andres Stück Timon in der Art
-gelehrter Schulkomödien, das aus dem Jahr 1600 stammt, ist bekannt; es
-hat gar keinen Berührungspunkt mit unserm Drama.</p>
-
-<p>Von Timon muß Shakespeare eine Erwähnung in Plutarchs
-Antoniusbiographie gelesen haben; da findet sich auch der Name des
-Zynikers Apemantus. Dann ist der Stoff von William Paynter, den
-Shakespeare auch sonst benutzt hat, als Erzählung behandelt worden.
-Einige Züge stammen &mdash; gleichviel, wie sie auf Shakespeare kamen &mdash; aus
-den Dialogen Lucians.</p>
-
-<p>Das Stück zerfällt in zwei parallele Teile, deren erster den
-reichen und mächtigen, der zweite den durch seine verschwenderische
-Freigebigkeit verarmten Timon zeigt. Die Erfahrungen, die Timon
-macht, sowie er arm wird, stürzen ihn nun ganz plötzlich, ohne
-jede Vorbereitung oder Überleitung, in grimmigsten, schimpfenden
-Menschenhaß, er geht in die Einöde, in Wald und Höhle, und hat auch
-für die, die ihm treu geblieben sind oder nichts zu Leide getan haben,
-keine rechte, keine schöpferische Liebe mehr.</p>
-
-<p>Man erhält gar sehr den Eindruck, daß das übrige Stück nur rasch
-und leicht hingeworfen ist um der maßlos ausschweifenden Haß- und
-Schimpfreden Timons gegen das Menschengeschlecht willen. Daneben
-geht noch eine locker und schlecht mit der Haupthandlung vernestelte
-Kontrasthandlung: die Athener zeigen sich auch gegen ihren<span class="pagenum"><a name="Seite_178" id="Seite_178">[S. 178]</a></span> Feldherrn
-Alkibiades undankbar; der aber flieht sie nicht, sondern führt Krieg
-gegen sie und besiegt sie.</p>
-
-<p>Alle ziehen sie aus dem reichen Timon, der nur so drauf los schenkt und
-übrigens auch geistig einer aus der Zunft von der „schenkenden Tugend“
-ist, da er sich durch weisen Rat ums Vaterland verdient macht, ihren
-Vorteil: Staatslenker, Hausfreunde, Wucherer, Tellerlecker, Juweliere,
-Maler, Dichter; alle umschmeicheln ihn und er merkt keine Falschheit,
-lebt vielmehr in Freude und Harmonie, weil er Gutes tun und beglücken
-kann:</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>Wozu wären uns Freunde nötig, wenn wir sie niemals in der Tat nötig
-hätten?... Ja, ich habe mich oft ärmer gewünscht, um euch näher zu
-kommen. Wir sind geboren, Gutes zu tun, und was nennen wir wohl
-besser und eigentlicher das unsrige als die Reichtümer unsrer
-Freunde?</p></div>
-
-<p>Diese Freunde beschenken ihn denn auch in der Tat sehr reichlich; er
-merkt bloß nicht, daß sie es lediglich tun, weil sie sicher sind, noch
-mehr von ihm zurückzuerhalten.</p>
-
-<p>Er ist ein Mann, der Vertrauen zu vielen, fast zu einer ganzen Stadt
-hat; er glaubt an Gemeinschaft und Gegenseitigkeit. So kennt er nichts
-Köstlicheres als Geselligkeit. Drum will er auch von dem Zyniker
-Apemantus nichts wissen, der mit berufsmäßiger Galle in alle Häuser
-geht und alles höhere Leben, alle Lebensfreude schmäht, ohne daß er je
-böse Erfahrungen mit den Menschen gemacht hätte. Man ahnt hier einen
-fein angelegten Gegensatz zwischen dem Gewohnheitspessimisten, der in
-seinem Handwerk, besser gesagt, Mundwerk des Schlechtmachens eigentlich
-immer guter Dinge ist, und unserm Timon, den das Leben, ein gehäuftes
-Bündel furchtbarer Erfahrungen erst zur echten Verzweiflung und dann
-zum Tode bringt. Im zweiten Teil kommt denn auch dieser Gegensatz
-ausführlich zur Sprache; aber so recht lebendig, wie der große
-Shakespeare gerade den Kontrast äußerlich ähnlicher Naturen sichtbar zu
-machen imstande war, tritt er nicht hervor.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_179" id="Seite_179">[S. 179]</a></span></p>
-
-<p>Dann also stellt sich heraus: Timon ist in jedem Betracht ein
-Verschwender gewesen. Nun ist er am Bettelstab und verschuldet. Erst
-verzweifelt er darüber gar nicht; er erwartet sich jetzt die Freude,
-die er sich schon immer gewünscht hatte; der Augenblick ist gekommen,
-wo die Freunde sich erproben werden. Zu seinem treu teilnehmenden
-Haushofmeister meint er dann:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">Du sollst sehen, wie du</div>
- <div class="verse">Mein Glück verkennst; reich bin ich, reich in Freunden.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>In ein paar typischen Komödienbeispielen sehen wir dann aber, wie diese
-Freunde ihrerseits nur reich an Ausreden sind. Und über Timon kommt,
-besinnungraubend, umwerfend und umwälzend, die Wut. Noch einmal ladet
-er zu einer großen Gesellschaft ein. Schon glauben die Stammgäste
-seines Hauses, er hätte sie bloß prüfen wollen, und sein Reichtum sei
-gar nicht verschwunden; aber in den Schüsseln kommt bloß warmes Wasser
-auf den Tisch,</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Deckt auf, ihr Hunde, und leckt!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Nichts mehr als Grimm und Bosheit ist in ihm:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">Dampf und lauwarm Wasser</div>
- <div class="verse">Ist ganz euer Ebenbild.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Leidenschaftlich schmähend wirft er die Schüsseln nach ihnen und eilt
-verzweifelt hinaus.</p>
-
-<p>Es folgt nun der vierte Akt, um deswillen allein fast das
-Stück geschrieben scheint: eine barocke Ausschweifung wilder,
-leidenschaftlicher Sprache der Verachtung fast ohne gleichen. Der
-Akt bringt vier große Monologe Timons des Einsamen und vier große
-Gespräche: mit Alkibiades und seinen Hetären; mit dem Zyniker
-Apemantus; mit den Dieben und mit dem treuen Hausverwalter Flavius.
-Aber er bringt mit alledem keine Entwicklung, keine Steigerung; und
-selbst das famose Motiv, daß Timon draußen, fern von den Menschen, in
-der wilden Natur einen Goldschatz findet und wieder reich sein könnte,
-wenn er nur wollte, wird nur äußerlich aufgesetzt und führt nicht zu
-einer<span class="pagenum"><a name="Seite_180" id="Seite_180">[S. 180]</a></span> inneren Krönung, findet Anwendung nicht auf ein Menschenleben
-und dient nicht wahrhafter Seelenerschütterung, sondern nur einer
-allerdings grandiosen Rhetorik, die im üppig wallenden Mantel der
-Leidenschaft auftritt.</p>
-
-<p>Shakespeare kommt es hier nur auf das eine Thema an, das er virtuos
-variiert: die Gemeinheit der Menschen in ihrer Beziehung zum Geld,
-wie sie jetzt von Timon erkannt und mit seinem Fluch auf das
-Menschengeschlecht und alle Stände bezahlt wird. Durch diese ihre eigne
-Gemeinheit sollen die einzelnen Berufsklassen diesen Fluch an einander
-zur Erfüllung bringen, soll jeder den andern verletzen, bestehlen,
-betrügen, verwunden, umbringen. Die Leibeigenen sollen nur dreist
-stehlen, ihre „strengen Herrn“ sind ja selbst „langarmige Räuber“;</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">Magd, in des Herren Bett!</div>
- <div class="verse">Die Frau ist im Bordell!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Im Wald, mit dem Wild zusammen will er leben, das nicht so wild ist wie
-die Menschenbrut. Dabei ist er aber doch nicht in der Rousseauschen
-Stimmung, der Mensch sei böse geworden, die Natur sei gut. Für ihn, wie
-er jetzt in die Welt blickt, gibt es gar keinen Trost; denn den Urgrund
-für die Niedrigkeit der Menschen findet er in der Fehlerhaftigkeit
-der Weltordnung. Es ist in der Natur so eingerichtet, daß es Leben
-nur gibt durch Raub des Lebens; was da lebt, muß andre lebendige
-Wesen vernichten, um leben zu können. Und gar eine Erhöhung, eine
-Bereicherung kann es in der Welt nur geben durch Beraubung eines
-andern. Aber er sieht tief und schnell; ja nicht soll man nun nach dem
-Äußern urteilen und den Entbehrenden und Beraubten für den bessern
-Menschen halten. Der Bettler darf sich nicht besser dünken als der
-reiche Senator: mögen sie nur die Plätze tauschen, gleich benimmt sich
-der Bettler wie der Reiche.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Schief ist alles;</div>
- <div class="verse">Nichts grad’ in unserm fluchbeladnen Wesen, &mdash;</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_181" id="Seite_181">[S. 181]</a></span>
- <div class="verse">Als zielbewußte Schurkerei. Ein Abscheu</div>
- <div class="verse">Sind alle Feste, Volksgewühl, Gesellschaft!</div>
- <div class="verse">Timon haßt seinesgleichen; ja, sich selbst.</div>
- <div class="verse">Vernichtung wetz’ die Hauer auf die Menschheit!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Die Menschen sind denn doch in der ganzen übeln Natur die schlimmsten.
-Wie so mancher Menschenfeind wendet Shakespeares Timon die
-Liebesmöglichkeit, die noch in ihm ist, dem Hunde zu, nicht in der Tat
-freilich, nur wieder im Sprachbild, wenn er zu Alkibiades sagt:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich bin Misanthropos und hass’ die Menschheit.</div>
- <div class="verse">Doch du, ich wollt’, du wärst ein Hund, daß ich</div>
- <div class="verse">Ein wenig dich noch lieben könnt’.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Was ist er denn jetzt, als Mensch, dieser Feldherr? Ein Kriegsmann, ein
-Menschenschlächter.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Fort, der Trommel nach!</div>
- <div class="verse">Bemal’ mit Menschenblut den Grund rot, rot!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Aber auch der Krieg ist noch entschuldigt; ist denn nicht alles,
-was Menschen tun, Zerstörung? Den Krieg nimmt er in seiner grimmig
-anschaulichen Art personifiziert, als ein Vorhandenes, Lebendiges, das
-sein Wesen erfüllen und sein Daseinsrecht ausüben muß; und da fragt er:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Grausam sind göttlich Recht und Menschensatzung;</div>
- <div class="verse">Was soll denn Krieg sein? Deine Hure da</div>
- <div class="verse">Hegt in sich mehr Zerstörung als dein Schwert,</div>
- <div class="verse">Trotz ihrem Engelblick.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Sie nämlich, die feile Dirne, hat diese Kraft der Verderbnis in
-Verbindung mit dem Zerstörungsmittel, das in der menschlichen
-Gesellschaft aufgekommen ist und das von allen das schlimmste ist: das
-ist das Geld!</p>
-
-<p>Daß er, der sich von allem abgewandt hat und nichts mehr will, beim
-Wurzelgraben einen Schatz findet, ist ihm nur ein Hohn. Immer neue
-Ausdrücke wirft er dem Geld entgegen: gelben Sklaven nennt er es,
-verdammte Erde,</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_182" id="Seite_182">[S. 182]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Der Menschheit allgemeine Hure, die du</div>
- <div class="verse">Unter der Rotte der Nationen Krieg</div>
- <div class="verse">Und Zwietracht stiftest;</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>einen starken Dieb schilt er es, der davonläuft, wenn sein Herr schwach
-auf den Beinen wird und nicht mehr aufrecht bleiben kann.</p>
-
-<p>Und nun &mdash; was alles mehr in der Art der allegorischen Gedichte
-ist, deren Meister Spenser war und denen Leidenschaft und Wucht
-des Ausdrucks und Bildes keineswegs fehlte, als in der Art der
-Wirklichkeits- und Herzenstragödie Shakespeares &mdash; nun wandelt sich
-mittels des Schatzfundes Timons Klage und Schimpf in aktive Verfolgung.
-Er behält in seinem Haß so viel von dem Schatz, der für die Fristung
-seines Lebens, wie er sich’s jetzt eingerichtet hat, ganz wertlos
-geworden ist, daß er damit die Menschen, zumal die Athener, verderben
-kann. Dem Alkibiades gibt er Geld, damit er Krieg führe gegen diese
-Athener, die ihm das Urbild lasterhaft zivilisierter Menschheit sind.
-Das ist ein Anlaß nicht zu einem Fortgang der Handlung, sondern zu
-einer neuen Variation der Rede. Ein fürchterlicher Ausbruch des
-Menschenhasses knüpft sich daran; grauenhaft wird das Bild des
-Vernichtungskriegs entworfen, und bei all diesen Schreckensbildern
-findet Timon in wütigem Grimm, daß die Menschen alle, bis auf den
-Säugling herunter, mit Recht auszutilgen sind:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sei wie Planetenpest, wenn Zeus sein Gift</div>
- <div class="verse">In kranker Luft auf städtischen Lasterpfuhl</div>
- <div class="verse">Herab läßt tauen; keinen schon’ dein Schwert!...</div>
- <div class="verse mleft10">Fluch allen Wesen!</div>
- <div class="verse">Säe Vernichtung; hast du ausgetobt,</div>
- <div class="verse">So treffe dich Vernichtung!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Den Dirnen gibt er Gold, um sie recht verführerisch geschmückt auf die
-Männer loszulassen.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Auszehrung säet</div>
- <div class="verse">Ins hohle Mannsgebein!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_183" id="Seite_183">[S. 183]</a></span></p>
-
-<p>Und wie malt er sich’s nun aus! Und wie hätte ein andrer Shakespeare
-dieses hämisch, schmatzend vorwegnehmende Genießen der Rache zu
-Timons Charakteristik, zur Fortführung der Seelenentwicklung und
-äußern Handlung benutzt; hier aber bleibt alles grandiose Strafrede,
-ein dramatisch eingekleidetes Gedicht, das aus dem Abgrund einer
-leidenschaftlichen Weltempfindung herausschlagende Wetter gegen Gott
-und die Welt losplatzen läßt. Der Anwalt soll durch den Umgang mit
-diesen Weibern die Stimme verlieren; dem Priester, der lügnerisch gegen
-die Schwäche des Fleisches zetert und doch zu diesen Weibern geht, soll
-der Aussatz die Nase aus dem Gesicht fressen; der Kriegsbramarbas, der
-keine Wunden hat, soll durch sie kennen lernen, was Schmerzen sind.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Verpestet alles, daß</div>
- <div class="verse">Die Quelle aller Zeugung durch euer Wirken</div>
- <div class="verse">Ausdörre und ersticke.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Das Furchtbare an dieser Haß- und Fluchgewalt der Rede ist
-denn doch ihre Wahrheit, die in der Beziehung zur Wirklichkeit
-liegt: die ausschweifendste, gierigst suchende Phantasie des
-Würgengelvernichtungswillens kann keine Plagen ausmalen und wünschen,
-die mehr wären als Vervollständigung und eine Art systematische Ordnung
-der Schrecknisse, die in Natur und Menschenwelt da sind.</p>
-
-<p>Die Allegorie nimmt wieder eine neue Wendung. Nun, wo es sich
-herumgesprochen hat, daß zu Timon wieder Geld gerollt ist, bekommt er
-einen Besuch nach dem andern. Und so suchen ihn auch die Diebe auf. Die
-aber behandelt er mit Auszeichnung und erklärt sie im Gegensatz zu den
-andern, den sonst geachteten Klassen der Gesellschaft, für ehrliche
-Diebe; sie treiben ja das Stehlen als ihr erklärtes Handwerk:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Ich weiß euch Dank,</div>
- <div class="verse">Daß ihr als Diebe euch bekennt, euer Treiben</div>
- <div class="verse">In frommen Schein nicht hüllt; Diebe sind alle,</div>
- <div class="verse">Zu welchem Stand sich jeder auch bekennt.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_184" id="Seite_184">[S. 184]</a></span></p>
-
-<p>Es ist ja, in der ganzen Natur, alles Dieberei: Sonne, Mond, Wasser und
-Erde, &mdash; eins bestiehlt das andre. Aber &mdash; wir kennen das Schema schon
-&mdash; wie viel ärger ist’s gar unter den Menschen!</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft12">Dieb ist alles:</div>
- <div class="verse">Selbst das Gesetz, das euch in Zaum und Fron legt,</div>
- <div class="verse">Übt straflos und in roher Willkür Diebstahl.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Wir kennen das Schema schon: in der Tat, legt man den formalen Maßstab
-an, fragt man, ob das ein Drama sei, ob da Menschen, ob seelische
-Gewalten einander gegenübergestellt werden, so kommt man immer wieder
-darauf, daß hier nicht die Sprache dem Ereignis und das Ereignis dem
-Geheimnis des Innersten dient, sondern daß die Vorgänge ein Zubehör der
-Sprache sind; die dramatische Begleitung der Rede ist wie die <em>Biblia
-pauperum</em> Bildersprache. Sehen wir aber davon ab und wenden uns der
-geistigen Bedeutung der Erkenntnisse zu, die Shakespeare mit solchen
-Mitteln zum Ausdruck bringt, so ist zu sagen, daß Shakespeare hier
-mit klaren Worten und Begriffen die radikale Kritik unsrer auf dem
-Eigentum beruhenden Rechtsordnung, unsrer vom Rechtswesen gesicherten
-Eigentumsordnung, die sozialistische Kritik Proudhons und seinen
-zusammenfassenden Satz: Eigentum ist Diebstahl vorweggenommen hat.
-Und was so in Worten erklärt wurde, wird dann auch mit der Handlung
-illustriert, so daß wir als in einem Notwendigkeitszusammenhang die
-beiden sehr verschiedenen und doch, solange Menschen Menschen sind,
-zusammengehörigen Seiten der Anarchie beisammen haben: Timon beschenkt
-die Diebe reichlich und schickt sie, die nunmehr besser für ihr
-Handwerk ausgerüstet sind, nach Athen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Brecht Läden auf; ihr könnt nichts stehlen, was</div>
- <div class="verse">Ein Dieb nicht vorher stahl.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Köstlich ist nun aber, und das beste Stückchen der Handlung, obwohl
-auch das nicht wahrhaft ins Menschliche verfolgt<span class="pagenum"><a name="Seite_185" id="Seite_185">[S. 185]</a></span> ist, sondern nur den
-Entwurf eines Menschentums anlegt, wie es hinter aller Berufsteilung
-des Lebens und Typenteilung der Komödie steckt, köstlich trotzdem und
-ein herrlicher Gipfel in der sozialen Erkenntnis, die hier stufenweise
-zu Wort kommt, wie Timons Reden und Geschenke auf die Diebe wirken:
-sie, die Ausgestoßenen, verstehen die Herkunft seines Menschenhasses,
-erkennen hinter all dem geifernden Grimm den reinen, edeln Idealismus,
-sie schämen sich und wollen ehrlich werden!</p>
-
-<p>Nun aber kommt der Mann zu Timon in die Einöde zu Gast, der von Anfang
-an treu und redlich gegen ihn war: Flavius, sein Hausverwalter. Der ist
-so traurig, daß er selber ganz nah am Menschenhaß ist:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wie herrlich das auf unsre Zeiten paßt,</div>
- <div class="verse">Wenn uns gelehrt wird: Liebt den, der euch haßt!</div>
- <div class="verse">Fürwahr, eh lieb ich meinen offnen Feind</div>
- <div class="verse">Als den, der feindlich ist und freundlich scheint.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Da bekommen wir eine ganz überraschende, kecke Umdeutung des
-Christuswortes: Liebet eure Feinde; die neue, bissige Version lautet:
-Liebet jedenfalls eher die Feinde als die sogenannten Freunde! Die
-Keckheit beruht darin, daß formal das erhabene Gebot beibehalten ist:
-Liebt den, der euch haßt! daß aber doch fast eine Umkehrung daraus
-wird: Liebe ist Lüge; im Haß ist Wahrheit!</p>
-
-<p>Diesem Getreuen gegenüber wird Timon weich; ihn beschenkt er, weil er
-es verdient; nicht, um ihn mit dem Gold oder die Menschen mit seiner
-Hilfe zu verderben; aber er knüpft eine arge Bedingung an das Geschenk,
-das ohne sie auch widerspruchsvoll wäre:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Bau’ von Menschen fern;</div>
- <div class="verse">Hass’ alle, fluche allen, tröste keinen!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Flavius, der untergeordnete Angestellte, wird hier &mdash; trotz der
-Erkenntnis, die Timon zu Wort gebracht hat, daß auch der Arme
-nichts taugt &mdash; den unabhängigen Reichen so als besserer Mensch
-gegenübergestellt, wie die Diebe den<span class="pagenum"><a name="Seite_186" id="Seite_186">[S. 186]</a></span> Besitzern. Aber schon vorher
-konnten wir in der Dienerszene sehen, wie diese armen Domestiken
-alle treu und liebevoll zu Timon und zu einander hielten; wie sie
-fortwährend die liebreiche Anrede <em>fellow</em>, Kamerad, untereinander
-austauschten; und Flavius, der sein Letztes unter ihnen geteilt hat,
-gründet unter ihnen eine Art Timon-Orden:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wo wir uns wiedersehn, laßt Timons halber</div>
- <div class="verse">Uns Kameraden sein.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Auch das greift indessen nicht weiter in die Handlung ein: innerlich
-ist diesem Stück keine Entwicklung vergönnt. Äußerlich freilich,
-rhetorisch wieder, ist es ein famoser, glänzender Komödien-, noch
-besser gesagt, Anekdotenschluß, wie nun in der Reihe der Gäste
-die Senatoren kommen, um schamlos oder patriotisch in der Not des
-Vaterlandes den, der voll Ekel vor ihnen geflohen ist, gegen Alkibiades
-und sein Heer zu Hilfe zu rufen, wie er sie in langer Ironie täuscht
-und hinhält und ihnen ein Mittel, ein unfehlbares, verspricht, durch
-das sie aller Gefahr entrinnen können:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Es wächst ein Baum in meinem Waldbezirk,</div>
- <div class="verse">Den nächstens ich zu eigenem Gebrauch</div>
- <div class="verse">Umhauen muß. Sagt’s meinen Freunden an,</div>
- <div class="verse">Sagt’s in Athen, in jeder Abstufung</div>
- <div class="verse">Vom ersten bis zum letzten: Wer da wünscht,</div>
- <div class="verse">Sein Leid zu enden, solcher komme spornstreichs</div>
- <div class="verse">Hierher, eh noch mein Baum die Axt gespürt,</div>
- <div class="verse">Und häng’ sich auf. &mdash; Bestellt recht schönen Gruß.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Wir wissen, das ist mehr als böser, plagender Spaß. Weltschmerz,
-ja, Weltwut äußert sich so, die keine andre Erlösung weiß, als dem
-Leben ein Ende zu machen. So ist es einer der stärksten dichterischen
-Züge dieses Stückes, daß Timon in diesen Worten, mit denen er
-den verachteten Athenern, die seinen Rat begehren, den Rat gibt,
-sich aufzuhängen &mdash; so wie Shakespeares Coriolan sich den Römern
-gegenüber die Redensart angewöhnt hat: Hängt sie! &mdash;, daß Timon
-da ein paar Wörtchen einfließen läßt, in denen er seinen<span class="pagenum"><a name="Seite_187" id="Seite_187">[S. 187]</a></span> eignen
-Freitod ankündigt. Nächstens, sagt er, werde er den Baum, an dem er
-am liebsten die Athener gehängt sähe, zu eigenem Gebrauch umhauen
-müssen. Wir erfahren es bald, zu welchem Zweck: um sein Grab zu
-bauen. In seinen ungeheuren Gewaltreden hat er sich ganz ausgegeben;
-es gibt für ihn so wenig wie für die Tragödie, die von ihm handelt,
-einen innern Fortgang; er hat nichts mehr auf der Erde, nichts auf
-der Bühne zu suchen: er verkriecht sich und stirbt, ohne daß wir
-dabei sind, ohne daß der Dichter darauf ausgeht, uns mit diesem
-Sterben in der Verlassenheit menschlich zu erschüttern. Goethe hat
-schon recht: Molière, der große Komödiendichter, hat aus seinem
-Menschenfeind den Helden einer Tragödie, Shakespeare, der größte aller
-tragischen Dichter, hat aus Timon eine Molièrekomödie, allerdings mit
-Shakespearischer Sprachgewalt, gemacht, und Timons Tod sogar ist eine
-Art epigrammatisches Auftrumpfen, ein Komödienschluß.</p>
-
-<p>Von diesem Helden einer fast allegorisch zu nennenden, dramatisch nur
-eingekleideten vehementen Predigt, in der die Übergangsszenen der
-Handlung lässig und unlustig hingeworfen sind, von diesem Menschenfeind
-und Feind seines Volkes und von seiner Ergänzung Alkibiades, der
-den Krieg seinem eignen Volk ins Land trägt, gehen wir nun in der
-nächsten Betrachtung zu jenem andern Adelsmann über, der eben schon
-genannt wurde, zu dem Verbannten, Volksfeind und Kämpfer gegen sein
-Vaterland Coriolan. Wie anders wird der zuinnerst und in der Art, wie
-er steht und geht, lebendig werden als Timon; wie wird Coriolan ein
-Mann und ein Mensch sein, wo Timon ein Exempel ist; was werden ihn in
-mannigfaltiger Abstufung für Römer und Römerinnen umgeben gegen die
-Puppen von Athenern, die wir hier finden! Einmal noch, zum letzten
-Mal also, werden wir da den Shakespeare zu uns sprechen lassen, der
-uns mit der Geschichte der Seele die Seele der Geschichte gibt. Dann,
-nachher, wollen wir sehen,<span class="pagenum"><a name="Seite_188" id="Seite_188">[S. 188]</a></span> wie der Shakespeare, der die Moralität von
-den wunderbaren Reisen des Perikles und die Satire von Glanz und Wut
-Timons des Menschenfeindes gedichtet hat, auch in diesem Stil noch
-wieder aufwärts steigt zu reiner Höhe der Milde, der Heiterkeit, der
-Weisheit, in dem Drama von Imogen, im Wintermärchen, im Sturm. Die
-Märchen- und Meeres- und Sphärenmusik des Sturm klingt schon in den
-Reisen des Perikles an, wie auch Miranda in manchem an Marina, die
-Tochter des Perikles, erinnert; aber der letzte Aufwärtsweg, den wir
-mit Shakespeare machen, ist noch weit, so weit wie von der gequälten
-Wut Timons des Menschenfeindes zu der Überlegenheit Prosperos, der das
-innerste Grauen der Welt kennt und den unrettbar verworfenen Caliban im
-Urgrund der Welt und des Menschengeschlechts finden muß und dennoch,
-heiter in Düsterkeit, Ruhe und Liebe nicht aufgibt.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_189" id="Seite_189">[S. 189]</a></span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Coriolan">Coriolan</h2>
-
-</div>
-
-<p class="initial">Coriolan ist das dritte und letzte Stück, das Shakespeare nach Plutarch
-aus der römischen Geschichte behandelt hat. Über die Zeit der Abfassung
-oder der ersten Aufführung liegt uns kein Bericht vor; auch sonst
-fehlen äußere Merkmale, aus denen etwas zu schließen wäre. Ich folge
-denen, die auf Grund der Sprache und der Verstechnik die Jahre zwischen
-1608 und 1610 als Zeit der Abfassung annehmen: ich möchte glauben, daß
-Antonius und Cleopatra und auch Timon von Athen vorher gedichtet sind.
-Man könnte aber nicht leicht drei Stücke eines Verfassers nennen, die
-sich nach Aufbau, Stimmung, seelischer und poetischer Technik radikaler
-von einander unterschieden als diese; Shakespeare war gerade in seiner
-letzten Periode zu mehreren, sehr verschiedenen Darstellungsarten
-geneigt und war vielleicht jetzt mehr ein Suchender als je.</p>
-
-<p>Zu Plutarch steht Shakespeare bei diesem Stück eher noch freier
-als die beiden andern Male: wohl dankt er ihm viele Einzelzüge,
-folgt ihm auch im Aufbau der einen oder andern Rede; aber er nimmt
-Abweichungen wichtiger Art auch in der äußern Handlung, vor allem
-Zusammenziehungen vor. Die Vorgänge, die den Stoff der beiden Tragödien
-aus dem Beginn der Kaiserzeit lieferten, waren und sind ein Stück der
-eignen Geschichte auch unsrer Völker; es geht um Entscheidungen, die
-Shakespeares Zeitgenossen angingen, wie sie auch für uns noch bedeutend
-sind; der Krieg zwischen Römern und Volskern und alles, was damit
-zusammenhing, hat als äußerer Verlauf keine solche Aktualität; es kommt
-alles nur auf das geschichtliche Beispiel für immerdar wirksame Kräfte,
-Tendenzen und Gegensätze und auf das innere Leben der Gestalten an.
-Die spontane Lebendigkeit aber der inneren Antriebe, das Feuer, von
-dem diese Menschen erfüllt sind, das ist ebenso völlig auch diesmal
-Shakespeares Eigentum wie die geschichtliche Weite, zu der sich das
-Ereignis ausdehnt.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_190" id="Seite_190">[S. 190]</a></span></p>
-
-<p>Coriolan gehört zu den Stücken Shakespeares, die besonders sorgsam
-komponiert, straff gebaut, rund vollendet sind; keines übertrifft es
-in diesem Betracht; wenige, wie Macbeth und Othello, können ihm darin
-gleichkommen.</p>
-
-<p>Welch ein Abstand aber in jeder Hinsicht, wenn man von Timon kommt!
-Nicht einmal die Hauptperson ist da wahrhaft individualisiert und
-im Innersten ergriffen; die Nebengestalten aber sind allesamt
-schablonenhaft; der Timon zielt ganz auf das Wort, auf die Rede
-ab; große, herrliche Reden bringt wahrlich auch der Coriolan, aber
-alle stehen sie im Zusammenhang der ergreifenden, lebendigen Aktion
-und dienen der Erhellung der Seelen; und jede Gestalt bis zur
-kleinsten Nebenperson herunter ist individuell behandelt, und nun
-gar die Hauptgestalten! Neben Coriolan Menenius Agrippa, die beiden
-Volkstribunen, Tullus Aufidius der Volskerheld, Coriolans Mutter, seine
-Frau und das Volk.</p>
-
-<p>Eine sehr bezeichnende Abweichung Shakespeares von Plutarch bringt
-eine Bestätigung für etwas, was schon früher gesagt wurde, und deutet
-zugleich das Bereich, in das uns der Coriolan führt. Es hat wahrlich
-seinen tiefen Grund, warum die Natur einen zum Dichter und nicht zum
-Philosophen oder Forscher geschaffen hat. Ein Dichter, ein Dramatiker
-wie Shakespeare <em class="gesperrt">kann</em> sich nicht nur in die verschiedensten
-Naturen, Temperamente und Weltanschauungen einfühlen; er muß es, weil
-seine Natur ihre herrliche, stramme Sicherheit und Eindeutigkeit
-nicht in <em class="gesperrt">einem</em> System, sondern in einer Vielheit von Bildern
-findet; immer macht der Künstler aus der Not eine Tugend; und eben aus
-dieser Entbehrung an eng begrenzter Festigkeit macht der Dramatiker
-den Reichtum seiner Gestalten, Sphären und innern Verfassungen. Der
-Dichter lebt in Einem Himmel, der durch alle Reiche waltet; er kniet
-nicht vor Einem Gott. Diese Proteusnatur des Dichters bringt es mit
-sich, daß er mit einer Kraft und Eindringlichkeit,<span class="pagenum"><a name="Seite_191" id="Seite_191">[S. 191]</a></span> die nur von
-eigener Übereinstimmung zu kommen scheint, in das Denken und Fühlen
-eines Menschen eingeht, daß er ihn von innen gestaltet, als wäre er es
-selbst, daß er ganz mit ihm und in ihm ist, daß er dann aber wieder
-hinausschlüpft und ebenso untrennbar sich mit einem wesentlich andern
-zu decken scheint.</p>
-
-<p>Damit dünkt mich nun zusammenzuhängen, daß die Sphäre eines jeden
-der Stücke, gleichviel ob sie weit oder eng ist, in jedem Fall ihre
-begrenzte Bestimmtheit hat und in Abhängigkeit von dem Trieb oder der
-Weltanschauung der Person oder des Kreises von Personen steht, um die
-als Mitte das Stück sich bewegt. So finden wir in solchen Stücken,
-in deren Mitte die Macht steht, die als Gier zu herrschen und auch
-sonst als Lebensgier erscheint, als Sphäre eine wilde, ungezügelte
-Natur, Aufruhr und Gärung der Elemente, dämonisches Eingreifen der
-Schicksalsmächte, Zeichen und Wunder. So geht es im Macbeth zu, so
-auch im Lear und ebenso auch in den beiden Römerdramen, in denen der
-Republikanismus abgelöst wird von der Herrschgier, im Julius Cäsar
-und in Antonius und Cleopatra. Überaus bezeichnend aber, daß es in
-der besonderen Welt des Brutus nicht nur die Zeichen und Wunder des
-Cäsarismus nicht gibt, sondern daß auch der fürchterliche Wettersturm
-da nicht zu toben scheint; wir sind bei ihm in der furchtbaren Nacht
-in seinem Garten; aber wovon er auf Grund seiner Natur und seiner
-Situation nichts merkt, das umgibt auch uns nicht; und ein pedantisch
-aufmerksamer Regisseur könnte nichts Verkehrteres tun, als uns in
-dieser Fortsetzung der Nacht von dem Aufruhr aller Elemente, in dem wir
-eben bei Cassius auf der Straße waren und von dem nachher gleich Cäsar
-wieder ins Wanken gebracht wird, im Garten des Brutus das kleinste
-Donnerchen rollen zu lassen. Wovon ich hier spreche, geht aber positiv
-und negativ durch Shakespeares ganzes Werk: es ist völlig unmöglich,
-sich in solchen Stücken, in deren Mitte ein<span class="pagenum"><a name="Seite_192" id="Seite_192">[S. 192]</a></span> gemäßigter, gezügelter
-oder gar harmonischer Mann steht, wie zum Beispiel Heinrich IV.
-oder Heinrich V., um diesen Helden eine wilde Natur oder ein
-Eingreifen von Geistermächten zu denken. Welch ein Unterschied herrscht
-vielmehr im gesamten Ton, in der Stimmung, der Atmosphäre, wenn man
-die beiden Heinrichsdramen und ihre behaglichen, niederländischen
-Einlagen besonders der Falstaffszenen mit Richard III. und
-seinen schweren Träumen und Geistererscheinungen vergleicht. Ich
-übersehe nicht, daß Richard III. noch der Jugendperiode und der
-Abhängigkeit von Marlowe und ähnlichen Gewalttätigen angehört; aber ich
-will ja nur zeigen, warum solche begleitende Elementarstimmung in den
-Heinrichsdramen nicht sein kann. Warum aber im Lear das Wetter tobt,
-im Hamlet das Gespenst erscheint, im Julius Cäsar Zeichen und Wunder
-geschehen und in Antonius und Cleopatra Herkules der Gott unterirdische
-Musik machen darf, all dieses Elementare und Dämonische steht in
-Zusammenhang mit den Elementartrieben und dämonischen Leidenschaften,
-um die das Stück sich dreht; Hamlet, in dessen Weltanschauung und
-Neigung, das Leben zu führen, die Wiederkunft und das handelnde
-Eingreifen eines Gestorbenen ursprünglich so wenig paßt wie in die
-Horatios, hätte das Gespenst nie mit Augen gesehen, wenn er nicht der
-Erbe eines Geschlechts der Wut wäre, wenn er nicht im Dunstkreis seines
-Oheims stünde.</p>
-
-<p>Wenn dem aber so ist, können wir, was im Verlauf dieser Vorträge zu
-Shakespeares Weltanschauung gesagt worden ist, noch um eine Stufe
-fortzuführen versuchen. Es ist gesagt worden, es gehe nicht leicht an,
-aus den Dramen Schlüsse auf Shakespeares Religion, Philosophie und
-Naturbetrachtung zu ziehen, weil nicht nur die Äußerungen der Personen,
-so sentenziös und überzeugt sie auch herauskommen mögen, von ihrem
-Charakter und ihrer Aufgabe im Stück, sondern sogar die Naturelemente,
-die Kräfte, die Geister, die der Dichter selbst leibhaft vorführt,
-von der<span class="pagenum"><a name="Seite_193" id="Seite_193">[S. 193]</a></span> innern Beschaffenheit der jeweils in dem Stück zentralen
-Personen, also wiederum nicht von den Gedanken des Dichters abhängen.
-Es ist dann weiter versucht worden zu sagen, der Dichter mit seiner
-Künstlernatur sei Weltanschauungen gegenüber sehr labil, er könne
-darum seine Menschen so fest, so innig an einem Glauben oder einer
-Auffassung hängen lassen, weil für ihn, dem alles zum Gleichnis und
-Bilde wird, an jeder lebendig ergriffenen Deutung der Welt etwas Wahres
-sei. Wenn es indessen so ist, daß Hexen, Naturdämonen, Gespenster,
-Zeichen und Wunder von Shakespeare immer nur als gemäßer Ausdruck in
-solche Stücke aufgenommen werden, in deren Mitte Menschen der Gier,
-des wilden Triebs, der Genuß- und Machtaffekte stehen, daß er dagegen
-Menschen, die er mit besonderer Liebe behandelte und denen er als die
-Triebe beherrschende hohe Kraft Vernunft, Gemeinsinn, Gerechtigkeit,
-Maß, Harmonie mitgab, in einer unsrer Naturanschauung entsprechenden
-heitern, stillen und wunderlosen Welt leben ließ, so ist das am Ende,
-besonders wenn wir dazu nehmen, daß in seinen subjektiven Äußerungen
-in den Sonetten nur offenbares Spiel mit mythologischen Vorstellungen,
-aber keinerlei Befangenheit in Dämonen- und Vorbedeutungsglauben
-vorkommt, ein Kriterium dafür, daß die Vernunftüberlegung Shakespeares
-so rationalistisch war wie die Anschauungen etwa Horatios und Bruder
-Lorenzos.</p>
-
-<p>Man wird einwenden wollen, ob so ein Motiv der Naturdämonie verwendet
-werde oder nicht, sei in erster Linie von dem in den Quellen
-überlieferten Stoff abhängig. Aber gerade darauf will ich ja hinaus.
-Diesmal nämlich ist es nicht so. Der gesprächige und etwas wohlweise
-Plutarch berichtet in der Biographie Coriolans genau so wie in der
-Cäsars und Antonius’ von Zeichen und Wundern; aber dieser ganzen
-Überlieferung von schreckhaften Vorbedeutungen, Wahrträumen und
-Wahrsagern schenkt<span class="pagenum"><a name="Seite_194" id="Seite_194">[S. 194]</a></span> Shakespeare diesmal keine Beachtung. Nichts von
-dieser Atmosphäre kann er für dieses Rom und für diesen Römer brauchen.</p>
-
-<p>Wir sind nicht in der gärenden Zersetzung der Republik, sondern in
-ihrer Frühzeit; und die Seele Coriolans ist von nichts weniger erfüllt
-als von Machtgier.</p>
-
-<p>Das klingt nun vielleicht erstaunlich; man wird sagen wollen: er sei
-aber doch der Typus des Aristokraten, des Adligen, des Herrschenden;
-er sei doch der Führer in dem Kampf des Adels gegen das Volk, der
-Patrizier gegen die Plebejer; und bei all diesem Streit zwischen
-Kleinen und Großen, Volkstribunen und Senatoren drehe sich alles um die
-Macht. Man darf sich aber von Worten, die für sehr verschiedene Sachen
-gleich lauten, nicht verführen lassen. Das Spezifische, das ich hier
-Macht nenne, ist eine Selbstherrlichkeit, die alles von sich abzuleiten
-und auf sich zu beziehen geneigt ist, ist ein Absolutismus, der mit
-dem Gefühl der Majestät, der Gottähnlichkeit, des Übermenschentums
-oder aber mit dem wild dämonischen, verzehrend teuflischen Drang der
-Niedrigkeit, Herr zu sein, verbunden ist, und das gibt es nur in der
-Form der Tyrannei, der unumschränkten Königsgewalt.</p>
-
-<p>Hier bei Coriolan aber sind wir in einer ganz andern Welt, eben in
-der, deren Idee Brutus noch rein in sich fand und für die Umwelt
-wiederherstellen wollte: in der ständisch gegliederten, ritterlichen
-Republik.</p>
-
-<p>In dieser römischen Stadtrepublik, die nur erst einen kleinen Teil des
-benachbarten Landes in ihr Bereich eingezogen hat, herrscht in noch
-engerem Bezirk dieselbe Staatsverfassung, dasselbe Staatsideal, wie es
-Shakespeares Ulysses für die frühe griechische Welt aufgestellt hatte,
-und wie es ganz ähnlich in der Welt des ritterlichen Königs, zu dem
-Prinz Heinz geworden ist, Heinrichs V. gilt:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_195" id="Seite_195">[S. 195]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Denn wie kann ein Verein,</div>
- <div class="verse">Der Schulen Stufen, Brüderschaft in Städten,</div>
- <div class="verse">Ein friedlicher Verkehr entfernter Küsten,</div>
- <div class="verse">Das Erstgeburts<em class="gesperrt">recht</em>, <em class="gesperrt">Pflichten</em> der Geburt,</div>
- <div class="verse">Vorrecht des Alters, Thrones, Zepters, Lorbeers</div>
- <div class="verse">An ihrer rechten Stelle anders stehen</div>
- <div class="verse">Als durch die <em class="gesperrt">Gliederung</em>?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>So hatten wir’s von Ulysses für kleine Königreiche gehört, in denen
-Rangordnung, Gliederung, ständische Verfassung herrscht und sie so der
-Republik nicht minder annähert, wie andrerseits die aristokratische
-Republik im frühen Rom die Ordnung und Sicherheit gewährte, die man
-gern als Vorzug der Monarchie bezeichnet.</p>
-
-<p>Und von Ulysses hören wir in derselben großen Rede zweierlei über die
-Auflösung von ständischer Gliederung und Ordnung. Einmal gerade das
-nämliche, was wir jetzt eben über den Zusammenhang von Naturdämonie und
-Machtwillkür bei Shakespeare wahrgenommen haben:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Irren</div>
- <div class="verse">In unheilvoller Kreuzung die Planeten,</div>
- <div class="verse">Welch Schreckenszeichen dann, welch Seuchen, Gärung,</div>
- <div class="verse">Welch Erderschütterungen, Meerestoben,</div>
- <div class="verse">Aufruhr der Luft, Umsturz, Entsetzen, Graus</div>
- <div class="verse">Zerteilt, zerreißt, erschüttert und entwurzelt</div>
- <div class="verse">Jedweden Zustand eheruhigen Friedens</div>
- <div class="verse">Bis auf den Grund! Wenn Stufenordnung wankte,</div>
- <div class="verse">Zu jedem hohen Ziel die einzige Leiter,</div>
- <div class="verse">Dann krankt die Unternehmung!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>In warnender Rede also, die ihren prophetisch eindringlichen Ton gewiß
-nicht bloß von der Lage der Griechen vor Troja nimmt, stellt Ulysses
-die Auflösung des organisch Gegliederten ins wüst Elementare zusammen
-mit unheilvollen Naturkatastrophen derselben Herkunft. Dann aber fährt
-er unmittelbar fort und stellt den Zusammenhang her zwischen der
-Auflösung der festgegliederten, sich gegenseitig aus<span class="pagenum"><a name="Seite_196" id="Seite_196">[S. 196]</a></span>pendelnden Ordnung
-und der Willkürgewalt der Despotennatur:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nimm Gliedrung weg, mach’ diese Saite stumm,</div>
- <div class="verse">Und ach, welch Mißton folgt! Die Dinge stoßen</div>
- <div class="verse">In ew’gem Streite sich: es schwillt der Busen</div>
- <div class="verse">Der eingedämmten Flut, des Strandes spottend,</div>
- <div class="verse">Bis sie dies feste Rund auflöst in Schlamm;</div>
- <div class="verse">Zum Herrn der Schwäche wirft sich auf die Kraft;</div>
- <div class="verse">Der rohe Sohn schlägt seinen Vater tot;</div>
- <div class="verse">Gewalt wird Recht, nein, vielmehr: Recht und Unrecht</div>
- <div class="verse">&mdash; Die ew’gen Feinde, von Gerechtigkeit</div>
- <div class="verse">Beherrscht &mdash; verlieren samt der Herrscherin</div>
- <div class="verse">Dann ihren Namen. Alles wird Gewalt,</div>
- <div class="verse">Gewalt wird Willkür, Willkür zur Begier,</div>
- <div class="verse">Und die Begier, ein allgemeiner Wolf</div>
- <div class="verse">Mit ihrem Dienerpaar Gewalt und Willkür,</div>
- <div class="verse">Nährt sich vom allgemeinen Raub und frißt</div>
- <div class="verse">Zuletzt sich selbst auf.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Es war nötig und gut, daß wir diese entscheidende Stelle, in der
-Ulysses das politische Gewalthabertum auf die Seelenverfassung des
-gierigen Einzelmenschen und diese wiederum auf die Auflösung einer
-festgegliederten Ordnung der Gegenseitigkeit zurückführt und so die
-Gemeinschaft oder Wechselwirkung feststellt, in der sich öffentliche
-Zustände und inneres Leben der Individuen immerzu einander bedingend
-und steigernd bewegen, hier noch einmal vernahmen. Denn die Warnung,
-sofern sie nicht vor Troja, sondern vor den europäischen Völkern zu
-Beginn des 17. Jahrhunderts ausgesprochen wurde, hat nichts verhütet,
-hat nur vorausgekündet; der Prophet hat in den Wind gesprochen, dessen
-Wehen er schon spürte, und der Wind ist zum Sturm geworden. Und wir
-heutigen Tags sind an den so vorausgesagten Zustand der Auflösung,
-in dem wir seit langem darin sind, derart gewöhnt, daß wir uns erst
-historisch zurückversetzen müssen in eine Zeit, wo<span class="pagenum"><a name="Seite_197" id="Seite_197">[S. 197]</a></span> das, was heute
-spukender, zerfetzter Rest und dabei Willkürgewalt ist, in seiner
-Gesundheit, seinem Rechte und seinem Amte stand, in eine Zeit, wo Adel
-und Rittertum ihre Aufgabe der Landesverteidigung und des Regiments
-mit gutem Gewissen als Recht und als Pflicht betrachteten. Nichts ist
-uns heute selbstverständlicher als die Forderung oder demokratische
-Tatsache, daß der Bauer, der Handwerker, der Arbeitsmann seine Arbeit
-und private Muße abbricht, um sich über Gesetzgebung, Verordnungen,
-Verhandlungen aller Art erst zu unterrichten und dann zu beraten und
-schlüssig zu machen; wir denken gar nicht daran, daß dieser Zustand,
-in dem die Angelegenheiten des Gemeinwesens nicht besonders Berufenen,
-Geschulten, Geübten anvertraut bleiben, sondern dem allgemeinen
-Dilettantismus überlassen sind, daher kommen könnte, daß die Erben der
-einst Berufenen des Vertrauens unwürdige Usurpatoren und dazu noch
-Pfuscher geworden sind. Shakespeare aber lebt, äußerlich schon am
-Rande, seiner Gesinnung nach noch inmitten dieser Welt der ständischen
-Ordnung, so wie selbst Goethe zwar an und sogar hinter ihrem Ende, aber
-für sein Wollen und Denken noch und schon wieder in ihr gelebt hat.</p>
-
-<p>Und in dieser Welt der ständischen Ordnung, eines Vorrechts, das nicht
-ein Privileg mit dem Stempel des Unrechts, sondern ein Rang mit der
-Aufgabe der Lenkung und Führung war, lebt Coriolan, im Kampf gegen die
-Tendenzen der Auflösung.</p>
-
-<p>Sehen wir uns seine politische Ethik, seine Anschauung vom Verhältnis
-der Individuen zur Gemeinschaft, von der Aufgabe des Adels zunächst an.
-Und zugleich damit seine und seiner Freunde Stellung zum niedern Volk,
-zu den Massen der einzelnen.</p>
-
-<p>Denn dies vor allem: es geht um ein Ganzes, das ist die Polis, die
-Politeia, die Stadt, der Staat; die Massen aber sind einzelne, die wild
-durcheinander wimmeln und<span class="pagenum"><a name="Seite_198" id="Seite_198">[S. 198]</a></span> toben und einander auffressen würden, wenn
-nicht das Regiment wäre, das sie zusammenhält und einem Ziele zulenkt.
-In dieser Zeit, wo das patrizische Regiment von der Auflösung bedroht
-ist und sich zur Wehr setzen muß, besteht ihm die Menge aus lauter
-Vertretern des Typus,</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">der nicht herrschen <em class="gesperrt">kann</em></div>
- <div class="verse">Und nicht gehorchen <em class="gesperrt">will</em>.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Man kann es etwa auch so ausdrücken: die Machtgierigen, die Tyrannen
-und Usurpatoren, zu denen Coriolanus keineswegs gehört, betrachten sich
-als Gottähnliche, als Übermenschen; Coriolan sieht sich und die echten
-Adligen als eigentliche, rechte Menschen an; die Massen, die weder
-Klarheit der Einsicht noch Bestimmtheit des Willens haben, sind für ihn
-Menschen wohl in ihrem Haus und Handwerk &mdash; da achtet er sie durchaus
-&mdash;, aber nicht im Staat; von dem verstehen sie nichts und sollen sich
-also auch nicht drum kümmern, weil sonst die Auflösung, mit ihr die
-Gier und die Tyrannei der Willkür kommt. In dieser Rolle der Führenden,
-Regierenden, Befehlenden, der Vormünder für Unmündige &mdash; unmündig
-nur in Sachen des Gemeinwesens, das in hoher Sonderung für sich
-verwaltet sein muß, nicht in die private Ökonomie und den Werkeltag
-biederer Handwerker vermantscht werden darf &mdash; hat dieser Adel ein
-gutes Gewissen, soll es haben, so beschwört sie Coriolan. Ordnung und
-Unterordnung muß sein:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Seid ihr gelehrt,</div>
- <div class="verse">Tut nicht wie blöde Toren; seid ihr’s nicht,</div>
- <div class="verse">Setzt <em class="gesperrt">sie</em> [die Plebejer] auf Polstern euch zur Seit’!</div>
- <div class="verse mleft12"><em class="gesperrt">Ihr</em> seid Plebejer,</div>
- <div class="verse">Wenn Senatoren sie...</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Der Staat muß einheitlich sein; er muß die Macht haben, das Gute und
-Rechte zu tun. Jetzt aber, wo die Patrizier den Plebejern Rechte
-eingeräumt haben, sie am Staatsleben teilnehmen lassen, sieht er
-Schlimmes voraus; es besteht eine</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_199" id="Seite_199">[S. 199]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Doppelherrschaft,</div>
- <div class="verse">Wo stolz ein Teil mit Grund, frech ohne Recht</div>
- <div class="verse">Der andere; wo Klugheit, Rang, Geburt</div>
- <div class="verse">Nichts machen kann, als nach dem Ja und Nein</div>
- <div class="verse">Des unverständ’gen Schwarms...</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Demgegenüber verfechten die Volkstribunen die modern demokratischen
-Ideen; für sie ist das Ganze nichts andres als die Summe der einzelnen,
-und das Staatswohl identisch mit dem Wohl der Massen.</p>
-
-<p>Dagegen aber empört sich gerade die Staatsgesinnung; und in der Tat,
-wäre Rom &mdash; die Stadt &mdash; wäre sie Rom geworden, das gewaltige römische
-Reich, das heute noch lebt in all unsern Staaten, in allen, gleichviel
-wie sie heißen, wenn es zu irgend einer Zeit nur oder hauptsächlich auf
-das Wohl der gerade lebenden einzelnen in den Massen angekommen wäre?
-Auf diese Demokratenfrage</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Was ist die Stadt sonst als das Volk?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>erwidert darum auch der Konsul Cominius, Coriolans Freund und
-Parteigenosse:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Das ist der Weg, zu schleifen unsre Stadt,</div>
- <div class="verse">Das Dach herabzubringen an den Grund</div>
- <div class="verse">Und alles, was noch Rang hat, zu begraben</div>
- <div class="verse">In aufgehäuften Trümmern.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Nein, so empfinden sie alle, diese Ritter, Adligen, Vornehmen, nein,
-das ist nicht der Zweck des Lebens, nicht die Bestimmung ihrer heiligen
-Stadt, lediglich die Masse, das „Tier mit vielen Häuptern“, zu ernähren
-und zu befriedigen. Sie, die Adligen, sie haben ihre besondere
-Bildung, Ausbildung, Lebensart, sie haben Muße; sie bleiben für Ehe
-und Nachkommenschaft streng innerhalb ihres Standes; auf den Wegen der
-Natur und der Gesellschaft sind sie Auslese geworden: darum sind sie
-die von Geburt Vornehmen, Ausgenommenen, privilegiert nicht zum Genuß,
-sondern, wohl auch vom Genuß des Lebens her, privilegiert zu ihrer
-Aufgabe.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_200" id="Seite_200">[S. 200]</a></span></p>
-
-<p>Was Nietzsche, von Jakob Burckhardt geleitet, in der Renaissance
-&mdash; Shakespeares Zeitalter noch &mdash; gefunden hat und was er darum
-und sowieso in der Form der Vermischung von Adelsordnung und
-ausbrechender Willkürtyrannei brachte, das hätte er nirgends
-in so reiner, vollendeter Gestalt finden können wie in diesem
-aristokratisch-republikanischen Drama Shakespeares.</p>
-
-<p>Wohl aber zu beachten: das ist Coriolan, ist der vollendete Typus des
-Adelsideals, es ist nicht, nicht ganz und gar Shakespeare. Wir haben
-in dem schimmernden Ritterkönig Heinrich V. eine nach Gesinnung
-und Stellung ähnliche Gestalt gesehen, der Shakespeares Bewunderung und
-Wunsch freilich wohl auch am nächsten stand; aber aus Sehnsucht &mdash; für
-sich und die Menschheit &mdash; baut der Dichter die Gestalten, an denen
-sein Herz hängt und die uns zu Mahnern aus großer Zeit, zu Führern oder
-zum Ziele auf unserm Wege zu werden vermögen; er baut damit auch an
-seinem Leben, seiner Wandlung, seinem Sichfinden; was alles jedoch in
-der Unendlichkeit der Vorwelt und Umwelt hat schon früher entscheidend
-an ihm, dem Menschen, der so dichtet, gebaut? So lebt in Shakespeare
-auch schon das Neue, die Gärung, die Zersetzung; sonst hätte er nie
-einen Hamlet schreiben können, die Tragödie dieses Prinzen, der die
-gesunkene und in Stücke gebrochene Ordnungswelt weder einzurenken noch
-zu lenken vermag, sie aber, gleich uns andern Plebejern, drunten oder
-abseits scharf und erschütternd kritisieren muß und darf.</p>
-
-<p>Shakespeares Kunst &mdash; o nein, das ist nicht bloß Kunst, die
-unvergleichliche Größe seiner Persönlichkeit ist, daß er jedesmal in
-jedem Drama um seinen Helden herum eine solche Sphäre der Sicherheit,
-eine so weltweite Atmosphäre, die von seinem, dieses Helden Wesen ganz
-gesättigt ist, legt, daß wir lange keinen andern Atem schöpfen als die
-Luft dieses Wesens. In der Welt Coriolans vergessen wir alles, was
-heutigen Tags auch noch solche Namen<span class="pagenum"><a name="Seite_201" id="Seite_201">[S. 201]</a></span> führt wie Adel, Herrenkaste,
-Kriegertum, Staat; wir vergessen, daß inzwischen die Auflösung, die
-Coriolan bekämpft hat, so Herr geworden ist, daß sie Besitz von allen,
-auch von unsern Hirnen ergriffen hat; wir vergessen, daß heutigen Tags
-die Losungen, die einstmals bindende und im Keil vorwärts führende
-Wahrheit gewesen sind, wir vergessen, daß dieser herrliche Wahn
-inzwischen zu Gewaltdruck, Gierverkleidung und Lüge geworden ist;
-wir vergessen die Durchgangszeit, welche die unsre ist; vergessen,
-daß wir so auseinandergefallen, so in Rückfall geraten sind, daß
-unsre Verneinungen das einzig Positive sind, das wir haben, und daß
-darum kein Staat uns mehr einen Geist, dem wir uns fügen, vorstellt,
-der irgend ein Ziel gegen das Wohl der einzelnen verfolgt; wir
-vergessen die Zeit und den Tag; all das Trompetengeschmetter, all der
-soldatisch-kriegerische Adel jener Welt ist uns nicht eine Erinnerung
-an Äußerliches, das heute in der Welt just noch ein bißchen herrschen
-will und bei seinem gewaltigen Todesgetöse sich mit den heiligen
-Worten und Geschmeiden längst vergangener wahrer Geltung ziert: diese
-aggressive Lust ist uns ein Sinnbild alles Großen, Gebietenden,
-Tapfern, Edeln in unsern Seelen, das sich inzwischen in ganz andern
-Gebieten angesiedelt hat, so daß es geschehen mag, daß unser Herz bei
-Coriolans Kriegsrufen jauchzt, weil dabei die Saiten mitschwingen,
-auf denen wir bereit sind, tapfer in starken Tönen das Lied von der
-Friedensordnung der Menschheit und der endgültigen Vernichtung aller
-feudalen Reste zu spielen.</p>
-
-<p>So bannt uns Shakespeare in den Geist hinein, der sein Drama vom
-Helden aus erfüllt, und wenn wir ganz drin sind, kann es kommen, kommt
-es auch bei diesem Stück, daß irgendwo drunten eine ganz andre, eine
-entgegengesetzte Gesinnung und Menschenart so erschütternd für einen
-Augenblick ihre Lage und ihre Seele ausspricht, daß über all unsrer
-ruhig-gesicherten Festigkeit wieder wogend die<span class="pagenum"><a name="Seite_202" id="Seite_202">[S. 202]</a></span> Allseitigkeit, die
-Beidseitigkeit, der Übergang und die Auflösung zusammenschlägt. Und
-sehen wir uns dann, wenn auf einen stolzen Gipfel, den der Dichter
-gebaut hat, ein Gipfelchen fast mitleidig und verachtend herabblickt,
-das auch dieser Dichter gebaut hat und das er auch gelten lassen
-will, sehen wir uns nach diesem Dichter dann nochmals um und wollen
-versuchen, den Dramatiker, der so erstaunlich gerecht zu sein vermag,
-zu verstehen, so wissen wir nicht, ob wir diese Gabe harte Stärke oder
-weiche Schmiegsamkeit nennen sollen; es wird eine weiche, wandelbare,
-allem leicht hingegebene und von allem gefärbte Seele sein, der die
-Ausdrucksgewalt eines starken Geistes dient.</p>
-
-<p>Einer aus dem Herrengeschlecht und der Kriegerkaste also ist der Mann,
-der Coriolan heißen wird; er hat die Eigenschaften, um derentwillen er
-sich und seinesgleichen als Geschlecht der Regierenden berufen fühlt,
-die typischen Eigenschaften, die ihn zum Führenden bestimmen; dazu aber
-noch die besonderen, die ihn zum tragischen Sturze bringen.</p>
-
-<p>Die Bürger und Volkstribunen, die von ihm reden, haben die
-Allgemeinempfindung, daß er ihnen unerträglich zur Last sei; „er hat
-der Fehler mehr als zuviel“, ruft einer, als man ihn auffordert, sie
-zu nennen; er weiß ihrer keinen als immer den einen: Stolz. Das merkt
-jeder gleich: stolz über die Maßen ist dieser Mann. Ja, das ist er;
-aber er hat auch die nötige Ergänzung: einen Stolz, der kein Lob hören
-kann, der bescheiden ist; denn den Stolz und seinen Grund hält Coriolan
-für Eigenschaften jedes echten Menschen; eine Sprödigkeit hat er, die
-mädchenhaft ist wie die Cordelias, der Adelstochter.</p>
-
-<p>Und ein andrer Bürger, der ihm wohlgesinnt ist, erwidert ein
-nachdenkliches Wort:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Was ihm nun einmal so im Blut liegt, daraus macht
- ihr ihm ein Laster.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_203" id="Seite_203">[S. 203]</a></span></p>
-
-<p><em>What he cannot help in his nature</em>...: er ist nichts
-Nachträgliches, nichts Aufgeklebtes, dieser Stolz, ist kein
-Zierat: er kann’s nicht ändern, es ist so seine Natur: seine
-Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit. Er ist, wie er öfter von
-Freunden und Bewunderern angeredet wird, „ein edles Blut“.</p>
-
-<p>Im Krieg, der in der Zeit des Rittertums, in der wir hier stehen,
-ein anderes Ding war, als was sich heute in der Zeit der Technik so
-nennt, zeigt sich sein Adel besonders. Er kann befehlen und Menschen in
-Mengen in Kampf und Tod treiben, er kann die Plebejer als feige Memmen
-verachten, weil er selbst jeden Augenblick, von nichts getrieben als
-von seiner Tapferkeit, die ihm Natur ist, bereit ist, das Leben fürs
-Vaterland zu wagen.</p>
-
-<p>Allein, ohne daß die Truppen ihm folgen, und ohne daß er fragt, ob sie
-ihm folgen, dringt er den Feinden nach in die Festung Corioli; das Tor
-wird hinter ihm geschlossen, aber er, allein unter Feinden, schlägt
-sich durch und hält sich, bis die andern nachkommen. Und er ist kein
-homerischer Held, an dessen Seite unsichtbar oder sichtbar in der
-größten Gefahr die Götter kämpfen; kein Siegfried, der von Drachenblut
-eine unverwundbare Hornhaut hat; es geht alles ganz menschlich zu:
-er ist ein Held von Natur, der die Kultur und die Gesinnung seiner
-Natur hat. Wenn er nicht von Zorn und Heftigkeit, die seine Erbfehler
-sind, übermannt ist, hat er etwas sehr angenehm Urbanes an sich; sein
-Heldentum hat gar nichts ländlich Ungeschlachtes, Raufboldiges, sein
-Kämpfen steht immer mit seiner Gesinnung in Verbindung; immer lebt die
-Urbs, die Stadt Rom in ihm.</p>
-
-<p>Wie er dann seine Soldaten in kurzer, feuriger Ansprache auffordert,
-ihm in den Kampf zu folgen, da faßt er wohlgesetzt zusammen, was sein
-ritterliches Wesen ausmacht. Der soll ihm folgen,</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">der glaubt,</div>
- <div class="verse">Ein edler Tod wieg’ auf ein ruhmlos Leben</div>
- <div class="verse">Und höher hält sein Vaterland als sich.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_204" id="Seite_204">[S. 204]</a></span></p>
-
-<p>Man fürchtet wohl manchmal, solche Gesinnung der Todbereitschaft,
-der völligen Unterordnung der Person unter ein überindividuelles
-Gebilde, unter eine Zusammenraffung, einen schimmernden Namen wie die
-Nation, raube dem Menschen die Individualität und mache ihn zu einem
-bloßen Teilchen. Mag sein, daß die Zeiten sich geändert haben: noch
-wahrscheinlicher, daß es Ausnahmemenschen und Dutzendmenschen allezeit
-gegeben hat und daß man gar wohl zwischen dem inneren Zwang, der
-Freiheit ist, Freiheit nicht nur der eigenen Entscheidung, sondern auch
-des Denkens, und jener kläglichen Unterordnung unter eine von Jugend
-auf eingetrichterte Losung unterscheiden muß, die mit Unfähigkeit
-zu eigenem Denken und eigener Entscheidung und mit Unkenntnis der
-Tatsachen, mit abergläubischer Geducktheit und dem Schlendrian des
-unabänderlichen Heute wie immer in genauer Verbindung steht. Coriolan
-jedenfalls zieht seine tapfere Todesverachtung im Gegenteil aus
-seinem stolzen, eifersüchtigen Individualismus. Ganz wirft er, wenn’s
-sein soll, das Leben hin, gerade weil er, solange er lebt, auf seine
-Selbständigkeit und Eigenheit bedacht ist, so sehr, daß er einen Zug
-seines Wesens bezeichnet, wenn er einmal ausruft:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich wäre lieber Knecht nach meiner Art</div>
- <div class="verse">Als Herr mit ihnen nach der ihren.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Aufgerufen sein, frei über sein Leben zu verfügen, kann nur der Freie.
-Aber das ist ein sehr kompliziertes Verhältnis, diese Beziehung des
-Individuums zur Gemeinschaft, wo man dem Ganzen nur richtig dient,
-wenn man ganz ein eigenes Selbst, wenn man ein Ganzer ist; und wo man
-wiederum ein Eigener nur ist, wenn man ganz in der Sache aufgeht,
-unverbrüchlich sachlich ist; und sachlich heißt: hingegeben bis zur
-Vernichtung.</p>
-
-<p>Coriolan weiß das, weiß, daß durch ihn hindurch die Sache wirkt; daß
-sie aber den Weg durch ihn nur recht nimmt,<span class="pagenum"><a name="Seite_205" id="Seite_205">[S. 205]</a></span> wenn er zusammengerafft,
-abgesondert, stolz er selbst ist; ist aber dann die Tat, die die Sache
-gewollt und durch ihn getan hat, vorbei, will der Gedanke, das Wort,
-die Lobrede sie an ihn, der das erkorene Werkzeug war, ankleben, dann
-empfindet er das, als nehme man ihn nicht für voll, als halte man es
-doch für eine Art Zufall, was er getan und was er am Ende auch hätte
-lassen können; als rühre man seine tiefe Verbundenheit mit der Sache
-auseinander; er wird rot, er läuft weg:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Eh’r lass’ ich mir den Kopf kraun an der Sonne,</div>
- <div class="verse">Wenn man zum Angriff bläst, als müßig hören,</div>
- <div class="verse">Wie man mein Nichts zum Wunder schwellt.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Lohn oder besondern Anteil an der Beute schlägt er aus; nichts der Art
-freut ihn; das aber erquickt ihn, daß seine Tat ihm einen Namen gemacht
-hat und daß er jetzt zugleich nach sich und der Sache heißt, Cajus
-Marcius nicht mehr allein, sondern Cajus Marcius Coriolanus.</p>
-
-<p>Seine Verachtung gegen die Plebejer hängt auch zusammen mit der
-Abneigung seiner Natur gegen jeden Schachersinn, jede Kleinlichkeit
-und Erwerbsgier. Zumal, wenn dieser niedrige Erwerbssinn sich auf
-dem Gebiet der Ritterlichkeit, im Kriege zeigt, wenn die römischen
-Plebejer, als Soldaten nur wie maskiert, den Kampf unterbrechen, um
-gierig Beute zu machen, bricht sein Zorn los.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Die Beute stieß er weg</div>
- <div class="verse">Und sah auf Kleinodien, als wären sie</div>
- <div class="verse">Verworfner Unrat. Weniger begehrt er,</div>
- <div class="verse">Als Geiz selbst gäbe; Lohn genug der Tat</div>
- <div class="verse">Hat er am Tun...</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Die Senatoren, der Konsul Cominius, der kluge Menenius Agrippa, sie
-alle da oben sind ganz seiner Gesinnung; aber sie haben nicht seine
-unnachgiebige Natur; sie sehen, wie die Zeiten sich gewandelt haben,
-sehen wohl gar ein gewisses Recht auch auf der andern Seite, so sind
-sie politisch, bedächtig, manchmal fast &mdash; so dünkt es ihn &mdash; feige.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_206" id="Seite_206">[S. 206]</a></span></p>
-
-<p>Er aber &mdash; seine Mutter sagt es, die ihn am besten kennt, weil sie ihm
-am meisten gleicht &mdash;, er will und muß die soldatisch kriegerischen
-Tugenden auch auf die Dinge des Friedens, der Politik übertragen; er
-ist immer geradeheraus, offen, rücksichtslos:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Sein Wesen ist zu edel für die Welt,</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>meint der alte Menenius,</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Sein Herz ist auch sein Mund,</div>
- <div class="verse">Was seine Brust denkt, sagt die Zung’ heraus,</div>
- <div class="verse">Und aufgebracht vergißt er, daß er je</div>
- <div class="verse">Den Namen Tod gehört.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Im Kampf ist er sofort der Führer, weil er eben der Vorderste ist; er
-ist von Natur der Fürst, wie eins die erste Zahl ist, aus der sich
-alle andern kumulieren; und wie der First das Oberste vom Haus ist,
-weil er nicht drunten sein kann, so ist er der Oberst, wenn’s auf
-tapfre Tat ankommt; er denkt gar nicht daran, ob man ihn auch formell
-zum Feldherrn ernannt hat. So hat er im Krieg gegen die Volsker seine
-Vorgesetzten und ehrt sie; wo’s aber das Einsetzen der Person gilt,
-da ist er der erste, gleichviel, welchen Titel er führt und wo er zu
-Anfang stand.</p>
-
-<p>Daß das aber so ist, daß die andern, die zu ihm gehören und
-seinesgleichen sein sollten, es nicht sind, das weiß er wohl; er kann
-es nicht übersehen; sachlich ist er bescheiden, unsachlich wüßte er
-nicht, warum, und zeigt den ungescheutesten Stolz und Anspruch. Er
-weiß, daß er der Edelste in Rom ist; er ist der echte Vertreter des
-jetzt bedrohten Adels, er ist der berufene Führer der Gemeinschaft.
-Gar keinen unedeln, persönlichen Trieb hat er, wenn er in großartiger
-Haltung und Selbstverständlichkeit sich seiner Aufgabe nicht entziehen
-und also Consul der Republik werden will.</p>
-
-<p>Und da fängt er an, sich selbst untreu zu werden, sich gegen seine
-Natur zu vergehen. Die Situation ist so, daß seine Natur die Stellung,
-die sie zu ihrem Wirken in der Welt<span class="pagenum"><a name="Seite_207" id="Seite_207">[S. 207]</a></span> braucht, nur erlangen kann,
-wenn sie nicht ist, was sie ist. Für ihn, der keine Anpassung, keine
-Klugheit und Berechnung kennt, gibt es den Grundsatz nicht: Der Zweck
-heiligt die Mittel. Womit gesagt ist: er ist kein Politiker, wie es
-sein alter Freund Menenius Agrippa, wie es auch seine starkgeistige
-Mutter Volumnia ist, die es in einer andern Mischung der Gaben vermag,
-hoheitsvoll und doch klug zu sein.</p>
-
-<p>Der Consul muß gewählt werden, und der Kandidat hat ein gewisses
-Zeremoniell zu erfüllen. Unter äußerster Selbstüberwindung fügt er
-sich dem Brauch, die Bürger um ihre Stimmen zu bitten, ihnen gar
-seine Narben zu zeigen; denn nur der kann Consul werden in diesem
-Kriegerstaat, der dem Vaterland im Krieg mit persönlicher Tapferkeit
-gedient hat; und wer’s werden will, muß sich persönlich zu dem Volk
-bemühen, das auch einmal etwas vom Herrentum schmecken will. Sein
-Werben aber, seine Wahlreden klingen mehr wie knirschender Hohn als wie
-ein demütiges Bitten.</p>
-
-<p>Zwei stehen ihm immerzu gegenüber, deren persönliche Berufung so
-wenig wie ihre Amtsbefugnis er anzuerkennen vermag; die beiden
-Volkstribunen, die der Individualisierungskünstler Shakespeare genau
-so ununterscheidbar paarweise auftreten läßt, wie Rosenkranz und
-Güldenstern, die Höflinge mit den deutschen Namen, im Hamlet; und beide
-Male zeigt dieses Verhältnis des Einzigen zum Paarigen die Stellung
-des Genies gegenüber der Herde: denn Coriolan ist ein Genie der Tat,
-wie Hamlet eines der grübelnd bohrenden Phantasie; alle beide sind
-Repräsentanten der Vornehmheit, der adligen Seele, die in dieser Welt
-vereinsamt ist.</p>
-
-<p>Wie aber Hamlet bei all der Vornehmheit seiner Natur mit Polemik,
-Bosheit, derbem oder stechendem Witz, hie und da sogar mit Zoten gegen
-die Welt reagieren muß, so kocht es in Coriolans adliger Seele immer
-über, und wenn er nach<span class="pagenum"><a name="Seite_208" id="Seite_208">[S. 208]</a></span> Rom auf die Straßen muß, läuft er mit rotem
-Kopf und Zorn herum. Er ist grob und er schimpft über die Maßen. Wie
-die andern Patrizier sich nur so anpassen können, begreift er nicht. Da
-fehlt es in Rom an Korn, die Plebejer treten in Aufruhr und geben den
-Patriziern die Schuld. Menenius Agrippa ist erfolgreich daran, sie mit
-einer sinnreichen Parabel zu beruhigen; er redet dabei recht vorsichtig
-und in liebevollem Ton mit ihnen, nennt sie Landsleute, Bürger,
-Nachbarn, liebe Freunde; daß er freilich innerlich nicht anders über
-sie denkt wie Marcius, merkt man in dem Augenblick, wo er den Schritt
-des Kühnen auf dem Pflaster hört; da fängt er auf einmal an, mit Wicht
-und Lumpenhund um sich zu werfen. Nicht zu leugnen, daß das der Ton
-ist, auf den Cajus Marcius seit langem seinen Umgang mit den Leuten
-gestimmt hat. Er fühlt sich gehaßt, und er macht es nicht wie jener
-General, der nach der Besichtigung und Kritik sich von den stumm sich
-verbeugenden Offizieren mit den Worten verabschiedet: „Mich auch“ &mdash; er
-redet deutlicher. „Hängt sie!“ hat er sich so als Redensart angewöhnt,
-wie andre „Na ja“ sagen; und im übrigen nennt er sie Hunde. Fast das
-Herz will es ihm brechen, wie man, um ihren Aufruhr zu unterdrücken,
-ihnen eine ihrer Hauptforderungen zugesteht und ihnen die Volkstribunen
-bewilligt, die sie als Vertreter ihrer Interessen selbst wählen dürfen.
-Fünf sind sie an Zahl; der kluge Dichter läßt immer nur das Paar
-auftreten.</p>
-
-<p>Mit dieser neuen Einrichtung ist ihm das Vaterland und die alte
-Verfassung entscheidend von innen bedroht. Aber wie er so herumläuft
-und wütet, bekommen wir den Eindruck: gäb’s keine triftigen Gründe
-für seinen Zorn, er müßte sie sich schaffen, solange sich seiner
-Angriffslust kein Ziel bietet; er braucht die große Tat; der Krieg um
-Corioli war darum wie eine Erlösung für ihn. Wie er nun das Vaterland
-gerettet hat und als Coriolanus, mit dem<span class="pagenum"><a name="Seite_209" id="Seite_209">[S. 209]</a></span> Eichenkranz gekrönt,
-zurückkehrt, da merkt auch das römische Volk, da merken selbst seine
-ärgsten Feinde, daß das nicht der eigentliche Marcius war, der Mann,
-der wie ein ärgerlicher Wüterich, wie ein nach Taten hungriger Wolf mit
-starken Schritten zornig über ihre Straßen gegangen war. Jetzt tritt er
-auf, wie einer der Volkstribunen zugestehn muß,</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Als hätt’ der Gott, sein Lenker, wer’s auch sei,</div>
- <div class="verse">Sich leis’ in seine Menschheit eingeschlichen</div>
- <div class="verse">Und gäb’ ihm edle Hoheit.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und wie nun das römische Volk, das von furchtbaren Ängsten befreit
-ist, in ihm nicht mehr den Feind, sondern den Retter und berufenen
-Führer erblickt, wie sie ihn als ihren populärsten Mann beim Einzug
-umjubeln, davon, da solche Szene in ihrem innern Wert auf der Bühne
-nicht sichtbar zu machen ist und da Shakespeare aus äußerlichem Theater
-sich nichts macht, erhalten wir eine Beschreibung aus dem Munde des
-neidischen Ärgers. Der Volkstribun berichtet:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">... Die geschwätz’ge Amme</div>
- <div class="verse">In Seelentzückung läßt den Säugling schrein</div>
- <div class="verse">Und schnakt von ihm; die Küchenschlampe steckt</div>
- <div class="verse">Den besten Fetzen um den rußigen Hals</div>
- <div class="verse">Und klettert auf den Wall, ihn zu begucken;</div>
- <div class="verse">Gestopft sind Buden, Erker, Fenster; Giebel</div>
- <div class="verse">Und Dach von allerlei Gestalt beritten...</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und in diesem über alles günstigen Augenblick soll Coriolan Consul
-werden; der Feind draußen ist besiegt, Rom ist gesichert; nun soll,
-wenn’s nach seinem Willen geht, der alte Zustand wiederhergestellt
-werden, sollen die Patrizier ungeschmälert das Amt ausüben, zu dem
-sie berufen sind. Der Senat versammelt sich in feierlicher Sitzung;
-den Bericht über seine Taten, den der alte Consul zu erstatten hat
-und der &mdash; Coriolan weiß es &mdash; eine Lobrede werden muß, kann er nicht
-anhören und läuft weg; wie er dann aber wiederkommt und der Senat ihm
-die einzige Ehre erweist,<span class="pagenum"><a name="Seite_210" id="Seite_210">[S. 210]</a></span> die für ihn eine ist, und ihn zum Consul
-ernennt, nimmt er hochgemut an. Hier steht er vor seinesgleichen, ein
-stolzer Mann, der so fröhlich sein könnte, wenn die Zeiten danach
-wären; und warum soll der Senat in diesem Augenblick nicht das Rechte
-tun, damit alles gut wird? Da bittet er herzhaft: ihr habt mich nun zum
-Consul gemacht; die Bettelei beim Volk ist ein schnöder Brauch ohne
-Bedeutung; erspart mir’s! Das, einen Brauch aufzugeben, hätte auch
-in andern Zeiten schwer gehalten; jetzt aber sind die Volksvertreter
-da, die ihre neue Macht zeigen wollen; der Brauch soll mit einem
-Mal verhaßte Bedeutung gewinnen; der Consul soll nunmehr vom Senat
-vorgeschlagen, vom Volk aber in vollem Ernst gewählt werden. So muß er
-sich nicht nur dem Brauch fügen, der Brauch soll parteimäßig ausgenutzt
-werden; schon organisieren und bearbeiten die Tribunen ihre Truppen und
-lauern auf die Gelegenheit, ihn zu Fall zu bringen.</p>
-
-<p>So muß er sich, da er sein Ziel erreichen will, zu einer Komödie
-bequemen, die ganz gegen seine Natur geht und für ihn Erniedrigung
-ist. Er könnte es nie auch nur versuchen, wenn’s die neue Einrichtung
-wäre; aber zunächst sind’s die Formen des alten Brauchs. Trüppchenweise
-stehn die Bürger beisammen; jedem soll er sein Verdienst nennen
-und seine Wunden weisen. Er versucht’s; es wird die sonderbarste
-Bewerbung, die Rom je gesehen hat; in ihm kämpfen Wut, Lachen und
-stolzes Aufbäumen. Was ihn hergebracht habe? fragt da so einer. Mein
-eignes Verdienst! gibt er zur Antwort und fügt hinzu: Soll ich denn
-etwa arme Leute anbetteln? Seine Wunden verspricht er zu zeigen,
-wenn er mit dem einen oder andern einmal allein ist. Und dann geht
-er weiter und knirscht etwas von Almosen zwischen den Zähnen. Die
-Bürgersleute sind so bestürzt und stehn zugleich noch so unter dem
-Eindruck seiner Rettertat, daß sie ihm &mdash; es ist ja keine Wahl
-zwischen mehreren, ist ja ein Zeremoniell &mdash; die Stimmen<span class="pagenum"><a name="Seite_211" id="Seite_211">[S. 211]</a></span> eben geben;
-schon darf er sich für den Consul halten; da kommen die Tribunen
-dazwischen. Nichtwählen, einen andern wählen, das war nicht möglich;
-diese Einrichtung, solches Volksrecht besteht nicht; aber jetzt, wo
-die Bürger mit ihren Klagen kommen, wie sie behandelt wurden, läßt
-sich alles noch wenden: das Staunen und die beleidigten Gefühle werden
-demagogisch zur Wut zusammengeballt, werden von den alten Glatzköpfen,
-den politischen Volkstribunen gegängelt; tumultuarisch protestiert
-das Volk gegen die Wahl, nimmt sie zurück; und es kommt zunächst zu
-dem großen Zusammenstoß zwischen Coriolan und den Tribunen. Die ganze
-Aufruhrstimmung, die durch die Einsetzung der Volksvertreter und dann
-durch den Krieg gedämpft worden war, lebt wieder auf, Coriolan spricht
-rückhaltlos, leidenschaftlich seine Meinung, seine Absichten aus, und
-keiner der klug bedenkenden Adligen tritt ihm zur Seite. Für ihn aber
-geht’s nun gar nicht mehr um den neuen Konflikt; er will gründlich
-Wandel schaffen, er wühlt das Alte wieder auf, die neue Einrichtung
-besteht ihm nicht zu Recht, das echte Rom ist ihm in seinem edeln
-Kern bedroht. Im Aufruhr sind die Tribunen eingesetzt worden; jetzt
-ist bessre Zeit, ruft er auf dem Marktplatz aus, jetzt muß ihre
-Macht wieder zertrümmert werden. Die Situation ist die, daß in dem
-Augenblick, wo es gälte, eine sehr demagogische und in ihrem Recht
-zweifelhafte, wiewohl von Coriolan herausfordernd ermöglichte Anwendung
-der neuen Macht der Tribunen abzuwenden, Coriolan Öl ins Feuer gießt
-und, was die Revolution errungen und der Senat bestätigt hatte, nach
-siegreichem Krieg durch eine Gegenrevolution wieder abzuschaffen
-vorschlägt. So sieht es aus; er aber platzt damit ganz als einzelner,
-in der schwierigsten Lage, in der er schon sowieso ist, ohne Verbindung
-mit seinen Standes- und Parteigenossen heraus. Er steht ganz allein;
-und nun soll er auf Befehl der Volkstribunen, da er sie in ihrem Amt<span class="pagenum"><a name="Seite_212" id="Seite_212">[S. 212]</a></span>
-angetastet und zum Staatsstreich aufgerufen hat, verhaftet werden,
-er soll, nach dem alten Recht, als Hochverräter behandelt werden.
-Freilich ist die Situation gänzlich neu, anständigerweise könnte das
-alte Recht hier nicht angewandt werden; aber die Volkstribunen haben
-ja die Szene mit demagogischen Künsten vorbereitet; sie haben ja
-Coriolans Zorn und Heftigkeit im voraus in ihre Rechnung gestellt,
-sie haben gehetzt und geschürt, und es ist noch viel besser für sie
-gekommen, als sie erwarten konnten; nun wollen sie den Moment eiligst
-ausnutzen: Coriolan, eben noch der Held und Retter, soll als Feind des
-Vaterlands, als Volksfeind vom Tarpejischen Felsen gestürzt werden. Es
-sind welche unter den Patriziern, die ganz wie er denken, die ihn im
-stillen bewundern; aber keiner will jetzt den Kampf, zu dem Coriolan
-mit gezogenem Schwert herausfordert; das Höchste, was sie für ihn tun
-können, ist, daß sie ihm zur Flucht in sein Haus verhelfen und nun
-allseitig zu begütigen, zu vermitteln versuchen.</p>
-
-<p>Und nun kommt es, auf einer viel höheren Stufe, in einer weit
-gefährlicheren Lage, zu demselben Versuch Coriolans noch einmal, seine
-Natur zu vergewaltigen. Die Mutter, die im Innern ganz zu ihm steht,
-ihn bewundert und seine Gesinnung völlig teilt, eine Frau, tapfer wie
-ein Mann und klug wie eine Römerin, die den Taten der Männer und ihrem
-Treiben lange zugesehen hat, überredet ihn, sich zu verstellen und
-gute Worte zu geben. Um der Sache willen soll er es tun. Die Szene,
-in der ihr dem Festen, Geraden, Tapfern, Zornerfüllten gegenüber
-diese unglaubliche und äußerste Umstimmung für den Augenblick des
-Entschlusses gelingt, ist so groß, daß auch wir überzeugt werden: ja,
-er darf es tun, er vergibt sich nichts.</p>
-
-<p>Wie baut sie sich auf, diese Szene! Coriolan hat schon mit der
-Mutter geredet und ist zu seinem Staunen bei ihr auf Kummer und
-Unzufriedenheit gestoßen. Jetzt kommt sie wiederum zu ihm; kaum im
-Glauben, daß noch zu helfen<span class="pagenum"><a name="Seite_213" id="Seite_213">[S. 213]</a></span> sei, aber mit Entschluß gewappnet, ihr
-Ganzes aufzubieten. Das ist ihr Kummer: was er toll in die Welt gerufen
-hat, hätte er tun sollen, und dazu hätte er die Macht gebraucht, und
-darum hätte er jetzt schweigen sollen!</p>
-
-<p>Und eminent reif ist, was sie dem Wilden sagt:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ihr konntet ganz der Mann sein, der Ihr seid,</div>
- <div class="verse">Bei mindrem Eifer, es zu sein.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Wie es überaus klug und doch schon leicht greisenhaft drollig ist, wenn
-der gute Menenius, der dazukommt, meint:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nun, nun, Ihr wart zu rauh, etwas zu rauh;</div>
- <div class="verse">Kehrt um und macht es gut.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Daß die Sache besser nicht geschehen wäre, sieht Coriolan allenfalls
-ein, aber es ist eben so gekommen, und er weiß nichts andres, als
-sich dreinzufinden; hängt sie! Nun, wenn der Mann nur erst einsieht,
-daß etwas besser hätte gemacht werden können; den Weg, es wieder
-gutzumachen, wird die Frau schon finden. So geht sie einen kühnen
-Schritt weiter in der Klugheit und erinnert ihn daran, wie er selbst
-auf dem Gebiet seiner Meisterschaft immer gesagt habe, die Kriegslist
-sei erlaubt. Warum nicht auch die List im Frieden? Und nun nimmt sie
-ihn ganz als ihr Kind, das sie zu unterrichten hat, und gibt ihm genaue
-Unterweisung, bis auf Gebärden und Mienen, wie er um Verzeihung zu
-bitten habe. Menenius ist ganz entzückt; er kostet gern voraus, der
-Psycholog und Feinschmecker; er kennt doch seine Römer; nichts macht
-sie glücklicher, als wenn man bittender Weise zu ihnen spricht; und nun
-gar, wenn Coriolan, der ihr Kriegsheld und ihr Schimpfheld ist, sich
-vor ihnen demütigt! Coriolan steht schweigend da und kämpft den letzten
-Kampf mit sich; sein Verstand ist überzeugt. Und wie dann Cominius dazu
-kommt und die Gefahr schildert, und wie die andern zu dem reden, als
-sei Coriolan schon gefügig, und wie Cominius zeigt, daß er an diese
-Möglichkeit nie geglaubt, nie gedacht hätte, da gibt Coriolan gerade
-nach; er sieht ein, er ist hier der<span class="pagenum"><a name="Seite_214" id="Seite_214">[S. 214]</a></span> Vertreter der guten Sache; damit
-er tun kann, was er geredet hat, muß er seine Rede zurücknehmen.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Wohl, ich tu’s.</div>
- <div class="verse">Wär’ nur dies Stück Mensch hier bedroht, der Kloß,</div>
- <div class="verse">Der Marcius heißt, sie möchten mich zerreiben</div>
- <div class="verse">Und in die Winde streu’n.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Aber die Sache will’s, und so preßt er sich zusammen und will das
-Unmögliche vollbringen.</p>
-
-<p>Aber es graut uns, wenn wir mit ansehen, was es ihn kostet, wie er sich
-quält und sich krümmt und sich beschimpft und im ehrlichen Versuch, das
-Allerschwerste einzustudieren, fast groteske Gesichter schneidet; wie
-er schließlich nur noch als folgsames Kind zur Mutter redet:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Sei ruhig, Mutter.</div>
- <div class="verse">Ich geh’ schon auf den Markt; schilt nicht mehr, Mutter.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und nun, in schneidendster Kürze die furchtbare Wendung. Wie hat sie
-bitten, beschwören, begründen können, wie hat sie die ganze Autorität
-einer römischen Mutter geltend gemacht, solange er ungebärdig vor ihr
-stand, als einer, der die große Sache seines Lebens verdorben hatte,
-so daß sie nichts mehr vor sich sah als dies eine Mittel. Schimpfliche
-Verstellung und Demütigung für einen Augenblick; nun sei’s drum! Der
-Verstand ist so gern bereit, zum Letzten hinzustreben und aus einem
-Berg, der dazwischen trotzt, eine Stufe zu machen. Aber jetzt, wo er
-ganz nachgibt und gar nicht mehr widerstrebt, empfindet sie ein solches
-Leid in ihm, daß sie innerlich zusammenbricht und an alles nicht mehr
-glaubt, was sie gesagt hat. Sie kennt doch ihren Sohn! Weiß, wie es
-ist, wie es wird, wenn er sich Gewalt antut. Sie kann nichts mehr
-sagen: „Tu, was du willst“, bringt sie noch heraus und geht.</p>
-
-<p>Sie sieht in der Einsamkeit, in die sie sich zurückzieht, gewiß voraus,
-was nun auf dem Marktplatz der Männer vor sich geht. Inzwischen haben
-die Volkstribunen nicht geruht, haben die Zünfte organisiert, um
-ihren nun<span class="pagenum"><a name="Seite_215" id="Seite_215">[S. 215]</a></span> bevorstehenden endgültigen Richterspruch zu einmütiger
-Annahme und sofortiger Vollstreckung zu bringen. Es soll Coriolan,
-dem Volksverächter, den Hals kosten, und das Mittel, jede freundliche
-Wendung zu verhindern, kennen die Gewitzten: ihr Feind hat dafür
-gesorgt, daß seine schwache Stelle nicht unbekannt blieb:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Reizt ihn sogleich zum Zorn...</div>
- <div class="verse mleft5">... Braust er erst auf,</div>
- <div class="verse">So bringt ihn nichts zur Mäßigung.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Coriolan kommt, von den Getreuen geleitet; sehr unruhig redet Menenius
-immer auf ihn ein, vor allem ruhig zu sein. Er kommt denn auch ganz
-in der beschlossenen Haltung sanfter Nachgiebigkeit. Wenn nur der
-wohlmeinende alte Menenius, um’s vollends gutzumachen, nicht anfinge,
-von seinen Heldentaten und Wunden zu den Bürgern zu reden! Da kommt
-doch sofort der Zorn wieder über ihn; vor denen da, jetzt, davon
-Rühmens machen! Wenn nur überhaupt Augen und Ohren nicht wären! Aber
-was nützt aller Vorsatz des Verstandes, wenn diese Volkstribunen auf
-seine Sinne wirken, wenn er sie nicht riechen kann? Und schon richtet
-er sich auf und stellt sie zur Rede: Was? ihn erst zum Consul wählen
-und ihm dann das Amt nehmen? Das ist aber nur ein Augenblick des
-Vergessens; sowie ihm bedeutet wird, er habe jetzt Rede zu stehen, fügt
-er sich wieder in die vorgesetzte Rolle. Und so beginnt die Anklage
-gegen ihn; und er hört das Wort Verräter. Da geht es ihm genau wie
-Sir Launcelot in Malorys englischem Artusroman; wie hat der seinen
-König schonen und sogar feig scheinen können, der Held; aber sowie
-er das Wort Verräter hört, muß er sich wappnen und kämpfen. Coriolan
-wollte mild, versöhnlich, bittender Weise reden; aber nun ist’s aus.
-Er hat sich ja nicht vorgestellt, wie es sein wird. Sagen hätte er
-schließlich alles gekonnt, sich selber zwingen; aber mit anhören, sich
-gefallen lassen? Ein Edler geht, ohne Fesseln, freiwillig, in Ruhe und
-Fügsamkeit zum Schaffot; aber<span class="pagenum"><a name="Seite_216" id="Seite_216">[S. 216]</a></span> wenn ihm der Henker die Hand auf die
-Schulter legt, zuckt er. Jetzt schreit Coriolan alles, alles hinaus;
-und die Erinnerung an das Versprechen, das er der Mutter gegeben hat,
-hilft nun nichts mehr. Das Wort Verräter in den Ohren zu haben, diese
-Gesellen als Richter vor sich zu haben, reißt alle Dämme ein; er bricht
-aufs furchtbarste los:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Ich will nichts weiter wissen.</div>
- <div class="verse">Ihr Urteil sei Tod vom Tarpejischen Felsen,</div>
- <div class="verse">Landflüchtig Elend, Schinden, Qual im Kerker,</div>
- <div class="verse">Bei einem Korn des Tags, &mdash; nicht wollt’ ich mir</div>
- <div class="verse">Erkaufen ihre Gnade um ein gut Wort</div>
- <div class="verse">Noch hemmen meinen Trotz um all ihr Gut,</div>
- <div class="verse">Kriegt ich’s um einen Gruß zum guten Morgen.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Nein, er ist nicht der Mann dazu, jetzt ist nicht die Zeit dazu,
-planvoll zu leben; es gilt nur der Augenblick. Wer ein Ganzer ist, kann
-nicht an der einen Stelle einen Lenker, einen Vergewaltiger haben,
-der den andern in ihm mit Prinzipien und Vorsätzen beim Kragen nimmt
-und vorwärts schiebt. Das Vaterland ist zerrissen; nicht mehr ein
-einiger Stand herrscht, sondern Parteien mit ihrem Geschwätz ringen
-mit einander. Er allein ist noch ein Ganzer; er ist allein: ihn, den
-man Verräter zu nennen wagt, hat man verraten, als man dem Aufruhr
-nachgegeben hat.</p>
-
-<p>So wird ihm denn das Urteil gesprochen, diesmal nicht tobend gebrüllt,
-sondern in politischer Erwägung vorbereitet: Verbannung. Er aber
-steht, fortgerissen vom Zorn, von einem Zorn aber, der in nichts aus
-den Gierwünschen einer Person, der nur aus einer Gesinnung hervorgeht,
-fortgerissen und unerschüttert da. Bei diesem Anblick, empfinde ich,
-geht es uns gar nicht mehr um den großen geschichtlichen Moment, um
-den entscheidenden politischen Gegensatz, noch weniger um politische
-Analogien zwischen damals und heute, die falsch wären; es geht um den
-ewigen Streit der vereinzelten tapfern Hoheit gegen die massenhafte
-Niedrigkeit, der so alt ist wie die Welt steht. Unser<span class="pagenum"><a name="Seite_217" id="Seite_217">[S. 217]</a></span> Herz jauchzt
-bei seiner herrlich kühnen Antwort, wir begreifen wie zum ersten Mal,
-daß für gewisse Augenblicke der liebe Gott unsrer Zunge die Fülle
-der Schimpfworte, die zugleich zorniger Angriff und humoristisches
-Spiel, Ausgleichung der Tat und Gleichnis des Geistes sind, zur
-Entladung gegeben hat, wir sind dankbar, daß Shakespeares Sprache diese
-Barocküppigkeit der alles überschwemmenden Flut zur Verfügung hat; denn
-dieser Katarakt Coriolans kommt doch aus einer tieferen Seelenfülle als
-das Wasserleitungsplatzen des Badearztes Stockmann, des Volksfeindes
-Ibsens; sie haben den Bann über ihn ausgesprochen und nun biegt er sich
-langgereckt zu ihnen vor und spricht:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ihr bellend Hundepack! des Hauch ich hasse</div>
- <div class="verse">Wie fauler Moore Stank,...</div>
- <div class="verse mleft8">ich verbann’ euch!</div>
- <div class="verse"><em class="gesperrt">Hier bleibt</em> mit eurem zagen Hin und Her!</div>
- <div class="verse">Beim leisesten Gerücht beb’ euer Herz!...</div>
- <div class="verse mleft6">Bleib euch nur stets die Macht,</div>
- <div class="verse">Den, der euch schirmt, zu bannen, bis zuletzt</div>
- <div class="verse">Euer stumpfer Sinn, der nicht glaubt, bis er fühlt,</div>
- <div class="verse">Nicht einen übrig läßt als nur euch selbst,</div>
- <div class="verse">Die eure eignen Feinde!...</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Rom, dieses Rom, ist in sich selbst gebannt; Coriolan hat das Gefühl,
-nur das, was ist, ausgesprochen zu haben; und er, der einzige, der
-zum echten Rom steht, um das zu leben es sich lohnt, wandert nun in
-die Fremde. Er geht, und sie jauchzen hinter ihm her: Der Volksfeind
-ist fort, ist fort! Verbannt haben wir unsern Feind, er ist fort! Die
-Mützen fliegen in die Höhe; daß sie vor kurzem ihm als dem Befreier aus
-höchster Not zugejubelt haben, wissen sie nicht mehr.</p>
-
-<p>Shakespeare wäre aber nicht Shakespeare, wenn wir das Verhältnis der
-Patrizier zu den Plebejern nur von dieser einen Seite kennen lernten,
-nur so, wie der Repräsentant<span class="pagenum"><a name="Seite_218" id="Seite_218">[S. 218]</a></span> des Patriziats, der Patrizier, wie sie
-sein sollten, es auffaßt. Wohl steht der Held auch für die innere
-Handlung in der Mitte; von ihm aus sind die Vorgänge gesehen, die
-Geschehnisse und die Gestalten gruppiert, von ihm aus die Stimmung und
-Sympathie gewoben; dann aber zuckt unten aus dem Dunkel der namenlosen
-Menge einmal ein Licht auf, und wir sehen in andrer Beleuchtung die
-Dinge, die Coriolan nicht sieht, und hören die uralte Klage der Armen.
-Unter den Aufrührern will einer eine Rede halten und hebt zu den
-Plebejern an: „Ein Wort, gute Bürger“, da ruft einer aus der Menge
-grell dazwischen: „Wir gelten für arme Bürger, die Patrizier für gute!“
-Reichtum macht gut! Und die da droben wissen es auch gar wohl: unsere
-Armut brauchen sie nicht bloß, weil sie Überfluß brauchen; sie brauchen
-sie als Gegenstück, um ihres Selbstbewußtseins willen; sie haben die
-Distanz nötig. Wären sie grade so reich, wie sie jetzt sind, gäbe es
-aber dabei uns Arme nicht, was hätten sie dann von ihrem Reichtum?</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>„Die Magerkeit, die uns drückt, das Bild unsres Elends ist für sie
-ein Inventarium aller einzelnen Stücke ihres Überflusses; unser
-Leiden ist ein Gewinn für sie.“</p></div>
-
-<p>Was das Opfer leidet, das ist der Gewinn und die Wonne der andern &mdash;
-haben wir so etwas nicht schon einmal, in ganz anderm Zusammenhang
-gehört? Ist das nicht der gerade in der Barockdichtung, wo das feste
-Dogma seelenhaft spielerisch von der Empfindung umrankt und umjauchzt
-wird, immer wiederkehrende Ausdruck für die Heilswahrheit des
-Christentums? Sind nicht die Armen dieses Opferlamm und ihr Blut und
-Wunden ein Hochgewinn für die Reichen?</p>
-
-<p>Aber auch abgesehen von so abgründlich feiner Psychologie, die mit
-einem raschen Griff das letzte Geheimnis des Privilegs entblößt, kommen
-die rein sozialen Klagen der Unterdrückten so stark heraus, daß wir
-wieder einmal merken: so ein Dramatiker sieht und empfindet zweiseitig;
-würde<span class="pagenum"><a name="Seite_219" id="Seite_219">[S. 219]</a></span> er von allem Anfang an und immer Licht und Schatten gerecht
-verteilen, so wäre es nicht im entferntesten so berückend als wie
-er’s macht: mit ganzer Inbrunst, wie ein tief Befangener, der einen
-Seite verschrieben, und dann, mit einem Mal, und nur immer für einen
-Augenblick, drüben, drunten, bei den andern.</p>
-
-<p>Als Menenius Agrippa die Plebejer besänftigt und ihnen sagt, wie
-wohlwollend die Patrizier Sorge für sie tragen, da erwidert einer
-aus dem Volk in Worten, &mdash; nun, der Zensor behütet uns heute davor,
-entsprechende zu lesen oder zu vernehmen:</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>„Für uns Sorge tragen! &mdash; Ja, fürwahr! &mdash; Sie haben noch niemals
-für uns gesorgt: sie leiden es, daß wir verhungern, wenn ihre
-Speicher vollgepfropft sind von Getreide; geben Gesetze wegen des
-Wuchers, mit denen sie den Wucherern auf die Sprünge helfen; heben
-täglich eine heilsame Einrichtung gegen die Reichen auf und setzen
-täglich mehr lästige Verordnungen fest, um die Armen zu fesseln und
-zu hemmen. Wenn uns der Krieg nicht aufzehrt, so werden sie’s tun.
-&mdash; Und das ist die ganze Liebe, die sie für uns haben.“</p></div>
-
-<p>Ich weiß, was ich tue, wenn ich immer wieder den Blick von der Sache
-selbst auf ihren Urheber, wenn ich ihn hier von der Tragödie Coriolans
-auf ihren Dichter ablenke; denn ich möchte dieses mein Staunen auf
-alle, die mich hören, übertragen: woher hat der Unergründliche das
-alles gewußt? Über Rom wie über unsre Zustände verrät er uns Dinge,
-enthüllt er uns verborgene Zusammenhänge, die wir erst seit, erst im
-Gefolge der französischen Revolution zu wissen anfangen. Und wenn
-zum Beispiel Mommsen imstande war, uns ein Bild der Kämpfe zwischen
-Patriziern und Plebejern zu geben, das eine gewisse Farbigkeit,
-Lebendigkeit und Glaubhaftigkeit hat, so haben ihn eben die Kämpfe
-der modernen Demokratie dazu in Stand gesetzt; für diesen Anblick hat
-er aber ein gehöriges<span class="pagenum"><a name="Seite_220" id="Seite_220">[S. 220]</a></span> Lösegeld zahlen müssen: für das Wesentliche,
-eben für das, was Shakespeare als Tragödie dargestellt hat, hat er
-keinen Blick gehabt: er hat nicht gewußt, daß der Kriegs- und Adels-
-und Herrschergeist einmal ein Amt, eine Aufgabe, eine Würde und eine
-Hoheit gehabt hat; er hat die hohe Sendung, den seelischen Rang und das
-gute Gewissen dieser ritterlichen Zeiten nicht gekannt; und so hat er
-gräßlich banal von dem Kampf Coriolans in seiner Vaterstadt und gegen
-sie liberalisierend gemeint, diese Geschichte öffne den Einblick „in
-die tiefe sittliche und politische Schändlichkeit dieser ständischen
-Kämpfe“. Das ist, wie wenn man das Rittertum nach den Raubrittern,
-den Raubritter Götz nach dem Schinderhannes und den Schinderhannes
-nach irgend einem Dutzendmenschen aus unsrer großstädtischen
-Verbrecherklasse beurteilen wollte. Jakob Burckhardt und Nietzsche
-haben kommen müssen, um den Zusammenhang zwischen der politischen und
-sozialen und der Geistesgeschichte erst wieder herzustellen. Was sie
-aber aus der Betrachtung der Renaissance, indem sie Kunst, Geist,
-privates und öffentliches Leben zusammen nahmen, gelernt haben, das hat
-Shakespeare der Renaissancemensch lebendig gewußt: daß, was heutigen
-Tags &mdash; auch für ihn schon genugsam heutigen Tags &mdash; in Verfall und
-Entwürdigung Rest, Gespenst und Schmach ist, einst groß, würdig,
-geweiht und notwendig war.</p>
-
-<p>In der ganzen modernen Geschichte weiß ich keinen, der Shakespeares
-Coriolan in dem tiefen Grunde, wo das Wesen sich aus dem Elementaren
-aufbaut, so nah käme wie ein Mann, der einer der größten Revolutionäre
-aller Zeiten war, der Vertreter der Plebejer, obwohl ein Mann des Adels
-in jeder Hinsicht, der Graf Mirabeau, der tolle leidenschaftliche
-Feuerkopf, der doch zugleich &mdash; wie Coriolan der größte Soldat &mdash; so
-er der größte Politiker seines Volkes ist. Von äußerlichen Analogien
-stimmt nichts; die Zeiten und die Lagerung der sozialen und der
-psychischen Schichten<span class="pagenum"><a name="Seite_221" id="Seite_221">[S. 221]</a></span> zu einander haben sich geändert; die Ähnlichkeit
-liegt im elementar Wesentlichen: eine Leidenschaft so starker Art, wie
-sie sonst den Menschen verzerrt und verzettelt; hier aber der Ausdruck
-nur der unabänderlichen Festigkeit eines Kernes; ein Temperament, wie
-es sonst die persönlich Gierigen haben, hier aber Sprache und Gewand
-der Gesinnung und Sachlichkeit. Die entgegengesetzte Stellung, die die
-beiden zu haben scheinen, darf uns gar nicht täuschen: schon dieses
-Coriolan nächster Bruder, Shakespeares Cassius, hat sich in einen
-Revolutionär und zugleich Politiker gewandelt. Alle drei, Coriolan,
-Cassius und Mirabeau sind innerlich und in der explosiven Art ihrer
-Äußerung geeint: sie gehören, wie Mirabeau es einmal ausdrückt,
-zu den „starken Seelen, welche die Freiheit im Naturzustand wild
-und im zivilisierten stolz macht“, und immer wieder kommt es zu
-solchen Gegensätzen ihrer stolzen Natur zur Umgebung, daß sie in den
-Naturzustand zurückfallen und wild werden. Und die beiden, die hier
-zusammengestellt werden, Coriolan und Mirabeau, gehen doch auch in
-ihren äußeren Schicksalen einen guten Schritt zusammen; nicht bloß
-die großen Menschen, auch die Zeiten und die politischen und sozialen
-Zustände ändern zwar die Gewänder und Masken, bleiben sich im Kern aber
-gleich. Auch Mirabeau, abgesehen davon, daß er als tief Unsittlicher
-gilt &mdash; die Heuchelei und Verbannung auf <em class="gesperrt">diesem</em> Gebiet ist
-eine moderne Neuerung &mdash;, und daß von seiner Nötigung, die unbändige
-Kraft der Seele und des Leibes in Geschlecht und Erotik zu üben und
-zu verschwenden, Coriolan, der Sohn einer keuschen und harten Welt,
-keinen Zug hat, auch Mirabeau ist bis auf den heutigen Tag, gerade bei
-denen, deren politischer Führer er heute noch sein müßte, als Landes-
-und Volksverräter, als Verräter seiner Sache in Acht und Bann getan wie
-Coriolan.</p>
-
-<p>Nun aber geht die Parallele nicht weiter, denn Coriolan erlebte seine
-Verbannung und sollte weiter leben. Er war<span class="pagenum"><a name="Seite_222" id="Seite_222">[S. 222]</a></span> ein politischer Feind der
-Zustände, die die Plebejer durch Aufruhr ertrotzt und die Patrizier
-in Nachgiebigkeit zugestanden hatten; er stand allein zwischen den
-Parteien, niemand wagte es, in diesem Augenblick ihm zur Seite zu
-treten und den Kampf aufzunehmen; und so benutzten seine Todfeinde, die
-Volkstribunen, ihre Macht und verwiesen ihn als Verräter des Landes.
-Nun aber, nach seiner Verbannung, macht er sich äußerlich ohne Zweifel
-wirklich zum Verräter, zum Feind seines Landes. Wie zeigt ihn uns
-Shakespeare in dieser Situation? Warum geht er zu den Volskern und
-zieht mit ihnen kriegerisch vor die Tore Roms?</p>
-
-<p>Wenn dieser Mann Coriolan sein Leben überblickt, dann war es seit
-langen Jahren immer so, daß er zwei Feinde hatte, mit deren einem er in
-einer Gemeinschaft des Zorns und Ekels zusammen wohnen mußte, während
-er den andern ritterlich auf Tod und Leben bekämpfte. Für die Idee
-Roms hat er dies beides getan: mit den zufälligen, in mannigfacher
-Abstufung erbärmlichen Menschenexemplaren, die sich Römer nannten,
-nicht bloß zusammengehaust, sondern sie immer wieder geführt und fast
-gewalttätig mit seinem kriegerischen Feuer erfüllt und in den Kampf
-getrieben, in den Kampf eben gegen Tullus Aufidius und seine Mannen.
-Den aber, Tullus Aufidius, den Feldherrn der Volsker, darf er achten,
-indem er mit ihm ficht, er sieht ihn als einen Ebenbürtigen, als
-den Ebenbürtigen an, als seinen Zweiten in der Welt; sie gehören zu
-feindlichen Völkern und stehn im Wettstreit um den Heldenruhm: ihrer
-Natur nach Zusammengehörige, die von den Verhältnissen zur Feindschaft
-bestimmt sind; Coriolan und die Bewohner Roms sind ihrer Natur nach
-tief Getrennte, die von den Verhältnissen zum Zusammenhalten bestimmt
-sind. Nun sind diese Bande zerrissen worden, von den Römern selbst; und
-ihre Verbindung mit der Idee Roms, die nur durch Coriolan geschlossen
-wurde, in dem sie verkörpert ist, haben sie auch gesprengt.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_223" id="Seite_223">[S. 223]</a></span></p>
-
-<p>Tief drunten, in Coriolans innerster Notwendigkeit also ruht der
-Seelenzwang, um der Idee Roms willen Krieg zu führen gegen die Römer.
-Aber Menschen von Coriolans Art, die sich so stolz auf sich selber
-verlassen und so aus dem Grunde leben, in denen alles Geistige zur
-Natur und wie zum Trieb geworden ist, leben ihr Leben, sie leben
-nicht ihre Motive. Sie handeln nicht nach Prinzipien, mit Plänen, zu
-Zielen; sie stehen im Augenblick. Daß er für Rom kämpft, wo er auch
-kämpft, ob er auch gegen die Römer kämpft, das weiß der Zornige jetzt
-nicht. Er weiß nur, daß Rom ihn ausgestoßen hat, daß Rom sein Feind
-ist, gegen den er äußersten Krieg zu führen hat, und daß einer, den
-er achtet, einer seinesgleichen gerade schon wieder angefangen hat,
-den kaum erloschenen Krieg gegen Rom aufzunehmen. Die Römer haben
-ihren Feldherrn vertrieben, obwohl der große Feldherr Tullus Aufidius
-ihnen droht; nun sollen sie sehen, diese führerlose Herde, wie sie
-allein fertig werden, wenn zwei Helden gegen sie anrücken. Coriolan
-ist mit den Wurzeln aus seinem Boden gerissen worden; da er voller
-Kraft und Zorn und Leben ist, bleibt nur übrig, zu sterben oder diesem
-Leben einen neuen Sinn zu schaffen. Seine Stadt hat mit ihm Ehre und
-Ruhm verstoßen und hat das Regiment den Krämern, den Pfuschern und
-Neidlingen ausgeliefert; er geht zu Roms Feind, zu Tullus Aufidius.
-Rache muß geübt werden; die, die ihn strafen und vernichten wollten,
-müssen gestraft und unschädlich gemacht werden; daran hängt jetzt sein
-Leben, daß er über die triumphiert, die ihn wie einen räudigen Hund
-fortgejagt haben &mdash; die Hunde! hängt sie! &mdash;, daß er als Sieger Rom zu
-seinen Füßen sieht.</p>
-
-<p>Es gibt eine schöne Erzählung von Aaron Bernstein, die von dem
-Schicksal eines starken, heldischen Jünglings in der jüdischen Enge
-eines Landstädtchens berichtet. Da kommt ein wohlweiser Schwätzer vor,
-der gern zu allem seine talmudisch zugespitzten Sprüchlein macht; und
-in<span class="pagenum"><a name="Seite_224" id="Seite_224">[S. 224]</a></span> einer bestimmten Situation gibt er seinem Publikum das Rätsel
-auf: Warum ist Mendel Gibbor, der starke Mendel, so traurig? Aber
-siehe da, wie der Starke sich wieder sehen läßt, ist er wider Erwarten
-gar nicht traurig: es ist fast so etwas wie Lustigkeit in ihm; diese
-starken Naturen sind unberechenbar. So ähnlich könnte es uns gehn,
-wenn wir jetzt Coriolan nach allem, was wir gesehen und über seine
-Verfassung und Lage gesagt haben, nach der Ausstoßung beim Abschied
-von der Mutter, der Frau, den Freunden sehen. Er ist gar nicht zornig,
-der Zornige! Irgendwo in ihm ruht der Zorn und nährt sich; was in die
-Erscheinung tritt, ist gefaßte Gemächlichkeit und liebevoller Trost
-an die Teilnehmenden! Er hat sich ausgetobt und ist ruhig, mit einem
-liebenswürdigen Anflug von Humor; und vor allem: wie kann er zornig
-sein, da es nun seine Mutter an seiner Statt ist und da er überdies
-den Schmerz seines zarten, zagen Weibes sieht! Mutter Volumnia weiß
-gar nichts mehr davon, daß sie je mit ihrem Sohn unzufrieden war; es
-ist alles so gekommen, wie es ihre Klugheit widerraten, wie es eine
-tiefere Stimme in ihr aber unabweisbar vorhergesagt hat. Ihr ganzer
-Zorn gilt denen, die ihren edeln Sohn, auf den sie nie so stolz war,
-wie in diesem Augenblick, vertreiben. Coriolan hat nichts zu tun, als
-sie zu beruhigen. Für sich braucht er nichts mehr, keinen Zuspruch,
-keine Hilfe, kein Wüten und vor allem keine Begleitung. Er ist ganz
-gefaßt; etwas in ihm hat schon den Entschluß gefaßt. Daß er frische,
-ungebrochene Kraft in sich spürt, spricht er aus; und im übrigen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Solang ich atm’ in dieser Welt, sollt ihr</div>
- <div class="verse">Stets von mir hören, und nie andrer Art,</div>
- <div class="verse">Als je mir eigen war.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Wie er aber nun weg ist, wie die beiden Frauen durch die Straßen
-Roms zurückgehen, und die beiden Tribunen ihnen, sehr gegen ihren
-Willen, in die Arme laufen, da wird auch Virginia, Coriolans stilles,
-ängstlich-schüchternes<span class="pagenum"><a name="Seite_225" id="Seite_225">[S. 225]</a></span> Weib, tapfer; den armen zurückgelassenen Frauen
-bleibt nichts als die Zunge; aber mit ihren leidenschaftlichen Worten
-und Wünschen sagen sie triumphierend voraus, was dann geschieht: daß
-Coriolan mit dem Schwert in der Hand seine römischen Feinde zu strafen
-kommt. Wie anders wird diesen Frauen die Wirklichkeit aussehen als ihr
-Wunsch! Sie können nur ohnmächtig und ohne Vorstellungskraft wünschen,
-Coriolans Feinde möchten gestraft werden; er aber wird’s tun, auf dem
-Wege, den die Wirklichkeit bietet, auf keinem andern; und mehr und
-mehr wird auch der Zorn, der jetzt noch schlummert, in ihm gegen die
-erwachen und wachsen, die hätten mannhaft zu ihm stehen sollen und ihn
-allein gelassen haben.</p>
-
-<p>Als armer Mann verkleidet tritt er in Antium in das Haus seines
-Todfeindes Aufidius. Jeder Einwohner dieser Stadt hat Grund, ihn
-niederzuschlagen. Aber er fürchtet nichts; alle Gefühle hat er tief
-drunten geborgen, oben in ihm lebt nur die Verwunderung über diese
-seltsame Welt und ihre Wandlungen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Ich hasse meine Wiege, liebe nun</div>
- <div class="verse">Die Feindesstadt!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Für ihn gibt’s nun nichts zu tun; es ist fast, als ob bloß sein Körper
-da wäre; nachdem er seinen Entschluß, es zu wagen, gefaßt hat, ist
-alles Tullus Aufidius anheimgegeben; er selber ist in der Sache nichts
-weiter wert. Schlägt der ihn gleich nieder, so hat er recht; kann er im
-Vaterlandsfeind aber den Ebenbürtigen erkennen, ist da in Antium eine
-solche Stätte des Adels und des verstehenden Edelmuts, daß Platz für
-zwei solche Gleiche ist, dann ist er, wo er jetzt hingehört: dann dient
-er entschlossen den Volskern gegen Rom.</p>
-
-<p>Einen Gentleman, einen Adelsmann nennt er sich, wie der Diener den
-Zerlumpten fragt, wer er sei; und es ist so, wie der Diener höhnisch
-hinzufügt: „aber ein armer“! Auch in Lumpen ein Adliger, auch als
-Landesverräter ein Ritter, das ist Coriolan.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_226" id="Seite_226">[S. 226]</a></span></p>
-
-<p>Und dann steht er dem Feind gegenüber und offenbart sich ihm kühn.
-In diesem Augenblick kommt, für uns wie für ihn, zum ersten Mal klar
-heraus, was ihn über diese Schwelle gebracht hat: er spielt <em>Va
-banque</em>. Irgendwie weiterleben und warten, bis die etwa da drinnen
-in Rom sich anders besinnen und ihn gnädig zurückberufen, das kann er
-nicht. Entweder &mdash; oder. Entweder ist Tullus Aufidius zu dem Großen,
-Herrlichen imstande, dessen er sich von ihm versieht; dann auf zur
-Rache! Oder er, der Heimatlose, ist allein und waffenlos in die Stadt,
-in das Lager, in das Haus des Todfeinds gegangen: dann hat er den Tod
-gefunden, den er sucht.</p>
-
-<p>Der Römer bietet sich dem Feinde seines Vaterlands als Bundesgenossen
-an: Coriolan übt Verrat! Die Worte klingen, als bezeichneten sie
-eine ärgste, eine viel schlimmere Vergewaltigung des Edlen gegen
-sich selbst, als er sie früher zweimal versucht hat; zuerst, als er
-Consul werden wollte, das war fast harmlos gegen das Zweite, das sich
-daraus ergab, den furchtbar gescheiterten Versuch, den reuigen Sünder
-vorzustellen und Verachteten Achtung vorzumachen. Das hat ihn in die
-Verbannung getrieben; ist er jetzt bei der dritten, der äußersten
-Gewalttat gegen sich selbst? Sicher ist, damals litt er gräßlich
-darunter, daß er sich anders geben sollte, als er ist; jetzt ist er
-seinem eignen Gefühl von sich selbst nach in höchster Lust mit sich
-eins. Das offenbart sich uns in der Ruhe, der Größe, der Freiheit
-seiner Rede. Wer so dasteht, wie der Mann in diesem Moment, und sich
-Aug in Auge dem Tode stellt, wer Tage und Nächte einsam gewandert
-ist, mit keinem andern Gedanken als diesem Ziele zu, vor dem er jetzt
-steht, dem ist Rom, Vaterland und alles, was Namen führt, wie Kleid und
-Schuppen abgefallen, er steht nackt da in der Natur seines Heldentums
-und seiner ungebrochenen Kampflust, als einer, der voller Leben ist und
-zu sterben bereit ist. Ja, in diesem Augenblick lebt kein Rom in ihm,
-hat<span class="pagenum"><a name="Seite_227" id="Seite_227">[S. 227]</a></span> keine Mutter ihn geboren; er hat kein Vaterland, ist losgelöst von
-allem, wovon der Mensch sich nur freimachen kann, ohne aufzuhören, er
-selbst zu sein; und wüßten wir das nur, daß alles andre als eines, dem
-wir uns ergeben, in jedem Augenblick frei von uns gewählt und ergriffen
-wird, wie viel inniger, wie viel mehr wir selbst würden wir unsrer
-Sache uns hingeben! Er hat nur noch dies eine: seine heldische Natur;
-ein Schwert hat er und weiß einen Feind. So steht er vor dem Mann, der
-ihm zum Tod oder zu seiner allein noch gebliebenen Bestimmung helfen
-soll, und spricht:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">Nicht in der Hoffnung,</div>
- <div class="verse">&mdash; Verkenn mich nicht &mdash; mein Leben zu erhalten;</div>
- <div class="verse">Scheut’ ich den Tod, wohl keinen in der Welt</div>
- <div class="verse">Hätt’ ich geflohn wie dich; nein, bloß aus Trotz,</div>
- <div class="verse">Um völlig quitt zu sein mit den Verbannern,</div>
- <div class="verse">Steh’ ich vor dir nun da...</div>
- <div class="verse mleft8">Denn &mdash; ich kämpfe gegen</div>
- <div class="verse">Mein krankes Vaterland mit der Erbittrung</div>
- <div class="verse">Von allen Höllengeistern. Doch wofern</div>
- <div class="verse">Du es nicht wagst und, mehr das Glück zu proben,</div>
- <div class="verse">Satt bist, so hör’s mit einem Wort: auch ich</div>
- <div class="verse">Bin fortzuleben herzlich müd und biete</div>
- <div class="verse">Die Kehle dir und deinem alten Grimm...</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Man braucht gar noch nicht in Betracht zu ziehen, daß Aufidius und sein
-Volk ein hohes Interesse daran haben, ihren furchtbaren Feind in ihren
-Dienst zu ziehen, Roms Helden und den Führer der gekränkten und auf
-ihre Stunde harrenden Adelspartei als Feldherrn im Kampf gegen Rom zu
-gewinnen; all solche Erwägungen kommen später entscheidend zur Geltung;
-für jetzt ist Aufidius von diesem tragischen Geschick und dieser
-tragischen Größe menschlich erschüttert:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">Mein Marcius &mdash;</div>
- <div class="verse mleft11">bricht er aus &mdash;</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_228" id="Seite_228">[S. 228]</a></span>
- <div class="verse">Und hätten wir nichts gegen Rom, als daß</div>
- <div class="verse">Es dich verbannt, wir wollten alle mustern</div>
- <div class="verse">Vom zwölften Jahr zum siebzigsten und wütend</div>
- <div class="verse">Ins tiefste Mark des undankbaren Roms</div>
- <div class="verse">Wie kühne Flut einbrechen.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Wie wäre es gegangen, wenn nicht die hohe Erschütterung, wenn die
-niedrigen Elemente die Entscheidung hätten treffen sollen und wider
-einander gestritten hätten: kluge Politik und eingefressener Haß?
-Keine leichte Wahl; und so sind denn auch diesmal die Interesse- und
-Haßpolitiker in Rom, die beiden Volkstribunen beim ersten Eintreffen
-der Nachricht nicht gleich einig. Der eine meint: sehr wahrscheinlich;
-das leuchtet ihm erschrecklich ein; der andre aber glaubt’s nicht; er
-glaubt nicht daran, daß die Klugheit über den Haß gesiegt habe:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Er und Aufidius sind nicht mehr versöhnbar,</div>
- <div class="verse">Als wie der ungeheu’rste Widerspruch.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Was da in Antium zwischen den beiden Helden vorging, war nicht das
-Wahrscheinliche, wie die Niedrigkeit nachrechnete, und war nicht das
-Unmögliche, das die andere Niedrigkeit aus dem eigenen Hasse erschloß;
-es war das Überwältigende.</p>
-
-<p>Und schon kommt Coriolan wie ein Wetterstrahl schnell und zündend
-bis vor die Tore Roms, ganz in Rache eingehüllt, er weiß von nichts
-anderm mehr, hat keinen Gedanken, kein Ziel, keine Vorstellung des
-Nachher; „eine Art von Nichts“ nennt er sich, und damit wissen wir
-schon, wie er sich bei den Volskern vereinsamt, unter Feinden und ganz
-fehl am Ort vorkommen würde, wenn er zur Besinnung käme. Nicht einmal
-einen Namen hat er mehr; Cajus Marcius? er darf nicht daran denken,
-zu welchem Geschlecht er gehört, wo er gegen die Stadt seiner Väter,
-seiner Mutter, seiner Frau und seines Sohnes zieht; Coriolan? das ist
-der Name, der Schimpf und Hohn für seine, ach ja, für seine Freunde in
-sich birgt. So fühlt<span class="pagenum"><a name="Seite_229" id="Seite_229">[S. 229]</a></span> er sich als einen aus der Menschheit Gestoßenen,
-Namenlosen,</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Bis er sich selbst geschmiedet einen Namen</div>
- <div class="verse">Im Brande Roms.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Rom, die Stadt der Plebejer und der feigen Patrizier, die zugesehen
-haben, wie sein Held und Retter ausgetrieben wurde, soll brennen.</p>
-
-<p>Wie haben da inzwischen die Stimmungen gewechselt; wie sieht’s da jetzt
-aus! Wie die Boten die furchtbaren Nachrichten immer bedrohlicher
-bringen, ist die erste Wirkung eine innerpolitische: wie erheben die
-Patrizier, die sich ehrlich für Coriolans Freunde halten, deren Sache
-er geführt hat, die ihn aus Politik allein gelassen hatten, wie erheben
-sie das Haupt; was für eine kühne Sprache findet nun der bedächtige
-Menenius Agrippa! Ihr habt’s schön gemacht! Ihr seid schuld! Derlei
-bekommen nun die Tribunen mit derbem Schimpf und Spott zu hören. Und
-die Volkstribunen lassen die Ohren hängen und werden immer kleinlauter;
-und das Volk kommt in Angst; dem ist jetzt, als ob es gleich sehr
-ungern in Coriolans Verbannung gewilligt hätte. Coriolans Fluch, der
-den innern Zustand des Volks und seiner politischen Führer beschrieben
-hatte, will äußerlich in Erfüllung gehen. Aber dann, wie die Gefahr
-immer entsetzlicher wird, klingt aus den bösen, aufgebrachten Reden
-der Patrizier doch auch schon die Angst durch, und es kommt dahin,
-daß angesichts der Gefahr der Parteistreit zurücktritt: die Stadt
-muß gerettet werden. Aber wie? Zu verteidigen ist da nichts, wenn
-Coriolan vor den Toren steht, statt als Schützer auf den Wällen. Er
-muß zurückgerufen werden; er muß gebeten werden, abzuziehen; er muß um
-Schonung angefleht werden.</p>
-
-<p>Der Konsul Cominius versucht’s; umsonst. Coriolan weiß nichts andres
-als: Rom muß brennen. Hängt sie! hatte er, wie gewohnt, einmal unwillig
-vor sich hingebrummt;<span class="pagenum"><a name="Seite_230" id="Seite_230">[S. 230]</a></span> und die Mutter, um ihn freundschaftlich mahnend
-zur Besinnung zu bringen, hatte ironisch fortgesetzt: Und brennt sie!
-Nun soll Ernst daraus werden; Coriolan hat den roten Blick und sieht
-nichts mehr vor sich als Flammen. Cominius erinnert ihn wohl an seine
-nächsten Freunde und Angehörigen; er aber ist in der Verfassung des
-Würgengels, der keine Schonung, keine Unterscheidung mehr kennt:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft12">Torheit</div>
- <div class="verse">Wär’s, kränkenden Gestank nicht zu verbrennen</div>
- <div class="verse">Um ein, zwei Körner willen.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und der alte Menenius ächzt, wie er das hört: Eins von den Körnern bin
-ich; und seine Mutter, sein Weib, sein Kind! Für diese Volkstribunen
-sollen wir mitverbrannt werden!</p>
-
-<p>Er will’s aber, auch weil diese alten Männer, die Volksvertreter,
-jetzt so verschüchtert und manierlich bitten können, versuchen, ob ihm
-nicht glückt, was der Feldherr Cominius nicht über Coriolan vermocht
-hat. Er ist ein Pfiffiger, der alte Mann, und eitel dazu, und mit so
-einer Art physiologischer Psychologie redet er sich ein, man müsse nur
-den rechten Augenblick wählen, vielleicht habe Coriolan nüchtern vor
-dem Frühstück abgelehnt, was er ihm nach dem Mittagessen gutgelaunt
-bewilligen würde.</p>
-
-<p>Aber da urteilt die kleine feine Klugheit &mdash; oder die Angst, die sich
-etwas einreden möchte, woran sie selbst nicht glaubt; die vehemente
-Glut des ungestümen Mannes Coriolan zwingt noch mehr unter sich als die
-Funktionen des Leibs. Er hat ein für allemal den Befehl gegeben, keinen
-aus Rom mehr vorzulassen; die da drin &mdash; alle! &mdash; sind schuld, daß er
-nun nicht mehr kann, wie er will, selbst wenn er umkehren wollte. Jetzt
-geht’s nicht mehr bloß um die Rache; die Ehre verlangt’s, daß er denen
-Treue hält, in deren Dienst er getreten ist. So schickt er auch den
-Menenius heim, der trotz aller Abweisung nicht weichen wollte und dem
-er in den Weg gelaufen ist:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_231" id="Seite_231">[S. 231]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Weib, Mutter, Kind, sind fremd mir. Meine Pflicht</div>
- <div class="verse">Ist andern dienstbar. Hab’ ich schon zur Rache</div>
- <div class="verse">Besondres Recht, liegt die Vergebung doch</div>
- <div class="verse">Im Volskerherzen.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Da ist der Zwiespalt; darum kann er nicht denken, sich nicht zureden
-lassen; das ist jetzt seine Härte. Er ist nie ein Mann des Triebs und
-der Laune gewesen; so sehr ihn die Leidenschaft verdüstern, umdunkeln
-kann, sie ist nie ohne Gesinnung in ihm; aber haben sie ihn nicht
-vaterlandslos und zum Landsknecht, zu fremden Landes Knecht gemacht? Er
-kann nicht mehr wie er &mdash; gar nicht will &mdash; &mdash; sie sollen’s büßen.</p>
-
-<p>Eine so hohe Stimmung, die aus der erhabenen Öde gänzlicher
-Beziehungslosigkeit kam, wie Coriolan, als er zuerst vor Aufidius
-stand, sie hatte, kann nicht dauern, wenn der Mann erst, sei’s auch
-um dieser Stimmung willen, in die mannigfachen Bindungen des Lebens
-wieder eingegangen ist. Jetzt zerfällt Coriolan schon lange wieder in
-die obern und untern Bezirke, in das, was er denkt und sagt, um bei dem
-zu verharren, was er als den neuen Coriolan in die Welt getrotzt hat,
-und in jenes andre, was von innen erwacht, von außen alt und neu ihn
-mit vertrauten Stimmen ruft und was er, solange es irgend geht, nicht
-hochkommen läßt.</p>
-
-<p>Daß das kein Zustand ist, in dem der Edle bleiben kann, daß seine
-Verhärtung wegschmelzen muß, sowie gegen die künstliche Macht der
-Soldatentreue eine natürliche und ideale Macht ausrückt und unsäglich
-seelenvoll zu ihm spricht, das fühlen wir voraus.</p>
-
-<p>Und so sind wir bereitet zu einer der strahlendsten, innigsten,
-höchsten Szenen der gesamten dramatischen Literatur. Die Frauen
-kommen: seine Mutter; sein zartes, unkriegerisches Weib, sein „holdes
-Schweigen“, Virgilia die Sanfte, die neben ihm, dem Rauhen steht, wie
-Desdemona neben Othello; und den Knaben bringen sie mit, der sein<span class="pagenum"><a name="Seite_232" id="Seite_232">[S. 232]</a></span>
-Ebenbild ist. Und dazu bringen sie ihm, was mit Cominius dem Feldherrn
-und dem klugen Staatsmann Menenius Agrippa nicht mitgekommen war: das
-Vaterland.</p>
-
-<p>Sie kommen in Trauergewändern. Sie beugen sich, sie blicken zum
-Erbarmen auf ihn; sie knien hin; sie kommen näher. Sonst wohl, wenn
-einer aufs tiefste erschüttert ist, braucht bloß das Wort, das das
-Erlebnis ausdrückt, noch dazuzukommen, und schon fließen unhemmbar die
-Tränen. Der starke Coriolan macht’s umgekehrt; er klammert sich an
-Aufidius, der bei ihm im Zelt ist, und wiederholt dem und sich selbst
-alles in Worten, was seine Sinne gewahren, was auf sein Herz eindringen
-will; die Worte der Beschreibung sollen sich verbinden mit Worten des
-Gelöbnisses &mdash; vor sich selbst und dem Oberfeldherrn der Volsker &mdash;,
-sollen ihn binden: nein, er wird nicht nachgeben. Und schnell, die
-Sprache ist dazu da, verwandelt er alles, was wie Trotz, Eigensinn,
-Gebundenheit aussehen könnte, in Gesinnung, in Freiheit, in das Prinzip
-der völlig ungebundenen, individualistischen Selbstherrlichkeit;
-gewaltsam, mit Worten, will er sich an den Ursprung des neuen Coriolan,
-des Namenlosen, an die Stimmung der weltverneinenden Öde anbinden; was
-geht ihn noch das Vaterland an? muß er, ein Mann, ein Ausgetriebener,
-ein vom Schicksal Adoptierter, noch Weib und Mutter kennen?</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft8">Laß die Volsker</div>
- <div class="verse">Rom pflügen und Italien eggen, nie</div>
- <div class="verse">Folg’ ich wie’n Gänslein dem Instinkt; ich stehe,</div>
- <div class="verse">Als wär’ der Mensch Urheber seiner selbst</div>
- <div class="verse">Und keinem sonst verwandt.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Aber dann klingt die Stimme seines Weibs: Mein Herr und Gatte! und
-die Mutter blickt ihn stumm an; da will er zwar im Öffentlichen ganz
-unnachgiebig bleiben; aber dies holde, lang entbehrte Weib wird er
-doch küssen dürfen; der Mutter den Gruß der Ehrerbietung zollen? Das<span class="pagenum"><a name="Seite_233" id="Seite_233">[S. 233]</a></span>
-erlaubt die Sache; und Aufidius geht’s ja wohl nichts an. Er preßt
-Virgilia ans Herz; er beugt das Knie vor der Mutter.</p>
-
-<p>Da heißt sie ihn aufstehn. Und dann beugt sie die stolzen, steifen
-Knie, und kniet vor ihm hin auf dem harten Stein, und spricht dabei
-bitter, scharf, mit einer Stimme, die noch härter als Stein ist, von
-der „Huldigung neuer Art“,</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">die bisher ganz falsch verteilt</div>
- <div class="verse">War zwischen Kind und Eltern.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Die Welt ist ja verkehrt worden; man muß sich danach richten und
-muß auf seine alten Tage umlernen: der Römer kämpft jetzt gegen die
-eigne Stadt, die Weib, Kind und Mutter birgt; so ist ja wohl auch das
-Grundprinzip der Republik, die Familie und die Oberherrschaft der
-Eltern aufgehoben: die Mutter, die den frühverstorbenen Vater vertritt,
-bittet das Kind!</p>
-
-<p>Wie ist diese große Frau immer dieselbe, und wie wechseln die
-Situationen und damit ihre äußere Stellung zum Sohn! Das erste Mal die
-herbe Unzufriedenheit, mit Angst gepaart, und die klug unbedenklichen
-Ratschläge, an deren Befolgung sie im geheimsten nicht zu glauben
-vermag; dann, wie er in der Tat gegen all ihren Rat und Unterricht
-und gegen seinen Vorsatz dem Willen seiner Seele gefolgt ist und
-schrankenlos seine Wahrheit herausgerufen hat, der Stolz, die Liebe,
-der Haß gegen seine Feinde in Rom, der Wunsch, er möchte sie ausrotten;
-und jetzt der letzte Versuch, die Stadt vor seinem tauben Grimm zu
-retten. Und immer um Roms, immer zugleich um seinetwillen, in dem Rom
-sich verkörpern soll!</p>
-
-<p>Und sie hebt zu bitten an; dem Inhalt nicht nur, auch der Disposition
-nach getreu nach dem Bericht Plutarchs; wer aber Shakespeares Seelen-
-und Sprachgewalt an einem ganz großen, wunderbaren Beispiel kennen
-lernen will, der soll diese Rede Volumnias in Plutarchs und in
-Shakespeares Fassung neben einander halten.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_234" id="Seite_234">[S. 234]</a></span></p>
-
-<p>Sie hält ihm, auf ihre Trauerkleider weisend, die Situation vor, die
-er kennt; das ist ihre stärkste Waffe, daß sie ihm nichts sagt, was er
-sich nicht selbst sagt. Vorhin hat er sich noch stark machen können,
-indem er, was seine gerührten Blicke sahen, in Worte versteckte;
-jetzt wickeln ihm die Worte einer Stärkeren, Redegewaltigeren nicht
-bloß seine Eindrücke wieder aus der Umhüllung aus, sie drehen ihm das
-Herz in der Brust herum. Was wird das Los dieser Frauen sein, wie die
-mörderische Schlacht auch ausgehe? Wenn er besiegt als Gefangener nach
-Rom kommt? Wenn er Rom in Trümmer gelegt hat? Und Frau, Kind und Mutter
-in den Tod getrieben? Ja, in den Tod!</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Denn ich, ich, Sohn, denk’ nicht zu warten, bis</div>
- <div class="verse">Der Krieg entschieden &mdash; &mdash;</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>über den Leib seiner Mutter hinweg wird er zum Angriff auf Rom
-schreiten müssen.</p>
-
-<p>Und Virgilia, die schon früher gezeigt hat, wie ihr im Augenblick der
-Entscheidung Sprache und Tapferkeit kommt, fällt ein und erklärt für
-sich, schnell, kurz, eh’ die Tränen quellen, dasselbe; und der kleine
-Bursch, sein Sohn, redet drein:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Mich soll er nicht treten;</div>
- <div class="verse">Ich lauf’ fort, bis ich größer bin, dann fecht’ ich!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Das soll ein Mensch mit anhören, von Mutter, Frau und Kind? Er
-steht auf und will gehn. Die alte Römerin aber hält ihn fest. Die
-Mutter hat gesprochen und hat nichts mehr zu sagen. Sie hat ihm die
-Naturnotwendigkeit der Umkehr gemeldet; jetzt spricht die Politikerin
-und zeigt ihm die Möglichkeit, den Ausweg. Römer und Volsker sollen
-einen dauernden Frieden schließen; das soll sein großer Ruhm sein: die
-beiden Völker zu versöhnen. &mdash; Und das Höchste und Letzte, was auf
-einen edeln Mann wirkt, fügt sie hinzu:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hältst du es ehrenhaft für einen Edlen,</div>
- <div class="verse">Der Kränkung stets zu denken?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_235" id="Seite_235">[S. 235]</a></span></p>
-
-<p>Er schweigt, schweigt immer noch, er kehrt sich ab, er kämpft furchtbar.</p>
-
-<p>Und wiederum knien die Frauen. Und nun umtönt ihn nur noch ein Wort, in
-immer neuen Wendungen: Rom!</p>
-
-<p>Und endlich hat die Mutter, hat die Sprecherin des Vaterlands, das mehr
-und andres ist als die zufällig gerade lebenden und sich vergehenden
-Einwohner, als alle Gemeinheit einer beliebigen Summe, sie hat gesiegt.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O Mutter, Mutter!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Mit diesem Wehruf gibt er nach. Was dann fieberhaft aus ihm redet, zu
-Aufidius, daß der’s doch einsehen müsse, daß es nun zu einem günstigen
-Frieden kommen werde, und alle Ausrufe der Erregung und Entzückung, das
-ist nicht er selbst. Einer in ihm kennt sein Geschick, ahnt gar den Weg
-schon, auf dem es kommen kann.</p>
-
-<p>Es kommt durch Aufidius. Einmal, als der Mann sich dem Manne gestellt,
-zu Tod oder Blutbrüderschaft, war über den die große Überwältigung
-gekommen. Zu mehr, zu einer Wiederholung und Umkehrung ist er nicht
-imstande. Zudem war das Verhältnis nicht so geworden, wie er sich’s
-gedacht: neben dieser überragenden Natur, neben Cajus Marcius
-Coriolanus ist er für seine eignen Landsleute immer nur der Zweite
-gewesen, und die Eifersucht hat schon an ihm genagt. Was da gekommen
-ist, was diesen „Coriolan“, der nun alles wieder vergessen und Römer
-werden will, so ergreift, was geht’s ihn an? Zu ihm hat Rom nicht
-gesprochen; seine Mutter ist Volumnia nicht. Verschärft ist da, was in
-Jahren des Krieges zwischen ihnen war: Feindschaft auf Leben und Tod.
-Es ist kein Krieg; aber der Feind ist in seiner Gewalt.</p>
-
-<p>Es fällt ihm leicht, gegen den „zwiefachen Verräter“ eine Verschwörung
-zustandezubringen. In dem aber, den sie so nennen, ist kein Funke böses
-Gewissen und kein Hader mit sich selbst. Seltsame Stille ist in ihm
-eingezogen. Nicht die unheimlich auf einen Punkt gespannte Gefaßtheit<span class="pagenum"><a name="Seite_236" id="Seite_236">[S. 236]</a></span>
-von ehedem; eine fast wohlige Entspannung scheint es zu sein. Wie
-süß ist es, zumal für diesen adligen Mann, in dem Unbändigkeit und
-Sachlichkeit so persönlich beisammen sind, sich überwinden zu lassen,
-sich gefangen zu geben; wie verwunderlich wieder, daß sich noch einmal
-alles umgekehrt hat und daß er, der Kriegsmann, jetzt die beiden
-Völker, denen er nun beiden angehört, zu einer dauernden, zu einer
-neuen Art Frieden bringen soll. Wie traumbefangen, wie einer, der
-leise auftritt, um das Schicksal und sich selbst nicht zu wecken,
-tut er alles, was die neue Pflicht ihm auferlegt. Die Zeit des Zorns
-scheint ganz für ihn vorbei; er geht vor, als könne noch alles sehr
-gut werden. Er verläßt die Volsker nicht; er denkt nicht daran,
-sich in Rom vor ihnen zu bergen; keineswegs verrät er sie im groben
-Sinne; er verhandelt mit den Römern als der Mann, der zur Vermittlung
-berufen ist, aber er geht davon aus, daß Rom wehrlos und daß er der
-Volskergeneral ist: was er den Volskern bringt, ist eine Demütigung
-Roms, freilich nicht die Vernichtung; es ist ein Vergleich, der Frieden
-für immer stiften soll. Er ist nicht mehr ein Kind seiner Zeit; er
-geht vor, als sehe er Möglichkeiten, an die sonst keiner glaubt; aber
-es sind nicht seine Gesichte, es ist ihm von sanftem, festem Zwang
-auferlegt worden wie in tiefe Schlafbetäubung hinein; er bewegt sich
-wie in seliger Zeitlosigkeit oder wie in ferner Zukunft wiedergeboren
-oder wie einer, der schon im Schatten des Todes steht. Es geht zu Ende
-mit ihm: sein Schicksal war entschieden, als er sich Roms Feinden
-verbündet und, ohne daß er’s wußte, sein Herz in Rom gelassen hatte.
-Damals hatte er sich Tullus Aufidius zum Tode gestellt; Aufidius und
-der Tod sind jetzt da.</p>
-
-<p>Volumnia konnte als Retterin und Erlöserin Roms, als Mutter Coriolans,
-von Jubelrufen umbraust, in Rom einziehen; bald darauf wird Coriolan
-bei den Volskern, denen er den Friedensvertrag gebracht hat, von der
-Schar<span class="pagenum"><a name="Seite_237" id="Seite_237">[S. 237]</a></span> der Verschworenen, die Tullus Aufidius führt, ermordet. Er
-war ihnen zu gefährlich, war auch ihnen zu groß, stand unter ihnen
-erst recht als ein Fremder da. Er war aus Rom und damit aus der Welt
-gebannt; als einer, den die Welt gebraucht hätte, den die Welt nicht
-dulden konnte, liegt er nun tot zu Boden. Sowie er nicht mehr auf den
-Füßen steht, sowie sein Schritt ihnen nicht mehr in den Ohren weh tut
-und seine stolze Sprache, sowie sie in dem Leichnam, der da liegt,
-nur das Bildnis des Helden vor sich haben, dieses adligen, stolzen,
-wunderschönen Mannes, da erkennen sie, daß ein Großer gefallen, der
-Kleinheit dieser Welt zum Opfer gefallen ist. Unter den Klängen
-eines strahlenden Totenmarsches wird sein Leichnam aufgehoben und
-fortgetragen.</p>
-
-<p>Diese Totenmusik, das Heldenleben, wie es Shakespeare gestaltet
-hat, ist wirklich zu Rhythmen und Melodien geworden in der
-Coriolan-Ouvertüre Beethovens, die freilich durch äußern Zufall zu
-irgend einem andern Drama Coriolan komponiert wurde, in Wahrheit aber
-ganz Geist vom Geiste Shakespeares ist, der in diesem Römerdrama &mdash; ich
-wiederhole die Worte &mdash; in die Seele der Geschichte hineingeleuchtet
-hat, indem er die Geschichte einer Seele gab.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_238" id="Seite_238">[S. 238]</a></span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Koenig_Zymbelin_und_Das_Wintermaerchen">König
-Zymbelin und Das Wintermärchen</h2>
-
-</div>
-
-<p class="initial">Gewiß würde jedes der beiden Stücke, die ich hier zusammenstelle, eine
-besondere und eingehende Behandlung verdienen, das reichverzweigte und
-an seltsamen Schönheiten reiche Drama, dem König Zymbelin den Namen
-gegeben hat, und erst recht das tiefe und entzückende Wintermärchen;
-aber sie sollen gemeinsam behandelt werden, weil mir daran liegt, die
-Betrachtung fortzusetzen, die ich im Anschluß an Perikles und Timon
-begonnen habe. Zu einer solchen Zusammen- und Gegenüberstellung der
-beiden Stücke laden schon die Herausgeber der ersten Folioausgabe ein:
-sie haben Zymbelin an den Schluß der Tragödien und das Wintermärchen
-an den Schluß der Komödien gestellt; zu was für Betrachtungen kann
-dieses Verfahren schon an der Schwelle Veranlassung bieten! Denn die
-Stücke sind alle beide nicht einzuordnen; die Herausgeber betätigten
-aber in ihrer Reihenfolge auch diesmal einen feinen Sinn; Zymbelin ist
-eher eine Tragödie, das Wintermärchen eher eine Komödie zu nennen.
-Zymbelin aber ist aus zwei Stoffen zusammengesetzt, die der weniger
-seltsame frühere Shakespeare alle beide in der Komödie behandelt hätte:
-die Gegenüberstellung des verderbten Hoftreibens und des romantisch
-natürlichen Hausens in Wald und Höhle, wie sie so ähnlich in Wie es
-euch gefällt behandelt wurde; und andrerseits die Charakterkomödie
-von dem Ehemann, der mit der Wette über die Treue seiner Frau in
-mannigfachem Sinn sich selbst betrügt. Dagegen mutet die Haupthandlung
-des Wintermärchens ganz wie die Vorlage zu der großen Tragödie der
-Eifersucht an; und doch ist es wahr, daß der Dichter aus diesem
-düsteren, schneidenden Stoff das gemacht hat, was schon der Titel
-uns an Stimmung vermittelt: ein Wintermärchen, ein Spiel, das schwer
-lastende Umstände mit Heiterkeit überwindet.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_239" id="Seite_239">[S. 239]</a></span></p>
-
-<p>Zymbelin steht nach Sprache, Ernst der Durcharbeitung und Anlage der
-Charaktere, nach der Menge auch der rund gesehenen Gestalten weit
-über Timon (von Perikles gar nicht zu reden); aber dennoch ist es mir
-das bedeutendste und dazu seltsamste der Stücke, in denen Shakespeare
-eine Ergründung des inneren Lebens, der geheimen Menschlichkeit, des
-Seelenwesens der Gestalten höchstens begonnen, angelegt, skizziert,
-aber nicht vollendet hat.</p>
-
-<p>Ferner gehört dieses Drama wie Perikles und Timon in die Reihe der
-späten Stücke, in denen die Handlung besonders stark als Gelegenheit
-zur Weisheit benutzt wird: hier dient sie fortwährend zu herrlich
-tiefen und scharfen Reden und Aussprüchen über das Verhältnis von Natur
-und Hof als dem Gipfel von Unwahrheit, Künstlichkeit und Entartung,
-zu Satire und Polemik, wie zum Lob der Einfachheit, des Land- und
-Hirtenlebens.</p>
-
-<p>Wie Perikles (nicht wie Timon) hat überdies Zymbelin eine reiche,
-romantische und romanhafte, dramatisch kaum zu bewältigende, epische,
-märchenhafte, bunte Handlung; an die Stelle der Intensität der
-Seelenergründung ist die Extensität des geradezu fabelhaften Reichtums
-der Motive, die angeschlagen werden, getreten.</p>
-
-<p>Diese Art Stücke, und keines so wie Zymbelin, geben überdies
-dem Schauspieler gerade dadurch, daß das innere Wesen angelegt,
-aber nicht ausgeführt ist, Gelegenheit, durch eigene Erfüllung
-die Skizze des Dichters zum vollen Menschenbild zu ergänzen. Die
-Gedächtnisschwierigkeiten, die dieses Stück dem Leser und seiner
-unsinnlich arbeitenden Phantasie bietet, sind auf der Bühne, wenn der
-Regisseur mit scharf herausgearbeiteten Masken, Redeweisen, Kostümen,
-Schauplätzen seine Schuldigkeit tut, gar nicht vorhanden; und so
-könnte und müßte das Stück, wenn nur unsre Bühnen nicht mit Feigheit,
-Trägheit, Schlendrian und neuerdings sogar Glauben an den Philologen
-behaftet wären, eine ganz ungeheure Theaterwirkung tun und<span class="pagenum"><a name="Seite_240" id="Seite_240">[S. 240]</a></span> überdies
-Seeleninnigkeit wie Leidenschaftsgewalt wie stark eindringlichen
-Gegensatz der Sphären und Naturen in einer tollen Folge von Szenen, für
-die der Stil zu finden wäre, wundervoll zur Geltung bringen.</p>
-
-<p>Das Wintermärchen dagegen ist &mdash; wenn wir vom Sturm als etwas einzigem
-absehen &mdash; das Stück, das mit dem späten Stil Shakespeares, mit
-der seltsamen Verbindung von Sinnenschmaus und Sinnspiel, mit der
-Verwandlung der Tragödie in Spiel und romantische Ironie und mit
-der Weisheit und Polemik des Elements, das ich Sprache nenne, eine
-in Knappheit und Sicherheit unerhörte, ganz genialische Kunst der
-tiefen Charakteristik verbindet. In einem Teil der Handlung werden
-dabei aber die letzten Konsequenzen dieser Seelenenthüllung nicht so
-gezogen, wie es sonst Shakespeares Art ist: für einen früheren Stil
-Shakespeares hätte die Art, wie der Charakter des Königs Leontes
-angelegt ist, unweigerlich den äußern Untergang als Ausdruck der
-innern Unmöglichkeit, das Leben weiterzuführen, bedungen. In diesem
-tiefsinnigen Märchenspiel aber sehen wir den neuen Ausdruck der
-Tragik, von dem wir schon gesprochen haben und zu dem Shakespeare
-überleitet, in einer vollendeten Gestalt ausgebildet. König Leontes
-stirbt in der Tat, stirbt, wie seine Frau Hermione von ihm unschuldig
-in den Tod geschickt wurde, und ist tot, solange sie ihm und der Welt
-tot ist; er ist der Welt abgestorben; aber dieser Tod ist ein Tod
-im Leben, ist Erneuerung, ist Buße, ist Wachstum und Umkehr. Hier
-ist für Shakespeare der Weg vollendet, auf dem er die Gattung seiner
-eigenen großen Tragödie überwand und durch die starre, schon aus der
-Antike überlieferte Schablone eine Bresche schlug und Freiheit für
-die Dichter unsrer und der künftigen Zeiten schuf. Mit Ende gut,
-alles gut, mit Maß für Maß, mit Perikles, ja schon mit dem Kaufmann
-von Venedig und auch mit Troilus und Cressida hatte er diesen Weg
-beschritten: die Tragik ihren Gipfel und ihre Über<span class="pagenum"><a name="Seite_241" id="Seite_241">[S. 241]</a></span>windung nicht in
-dem von der Antike überlieferten gewaltsamen Tod, sondern in der
-Erneuerung und Steigerung des Lebens finden zu lassen. Der Sturm ist
-diesem neuen Shakespearedrama, ist dem ganzen Werk Shakespeares die
-Krönung und Verklärung. Aber nicht nur einen Wesenszug der alten
-Tragödie, eine Gattung der Dichtung und Kunst erschüttert und wandelt
-Shakespeare mit diesen Werken; mit ihnen hebt er eine Reformation an,
-die größer ist als sein Werk und größer auch als das Werk Luthers, das
-wir die Reformation nennen. Er beginnt das Werk, das unsre deutschen
-Frühromantiker mit allzu schwachen Kräften als Shakespeareepigonen
-aufnehmen wollten: auf den Wegen der Kunst und des Spiels, mit dem, was
-romantische Ironie heißt, die Stellung des Menschen zum individuellen
-Leben umzugestalten. Das war es, was einen der Kunst und dem Spiel so
-fernen, so abgründlich ernsten Mann wie Fichte in engste Beziehung und
-Bundesgenossenschaft zur Romantik brachte: die Leugnung des Ich als
-einer ans Leben gebundenen, vom Tod zerstörbaren Substanz. Auf dem Weg
-zu einer neuen Religion, einer neuen Praktik, einer neuen Gestaltung
-des Lebens, der einzelnen wie der Gesellschaften, eines neuen Lebens
-der Menschheit, für deren Empfinden der Tod von Individuen eine
-nebensächliche Angelegenheit geworden ist, bedeutet dieser Romantiker
-Shakespeare eine wichtige Etappe.</p>
-
-<p>Eine vollendete Gestalt für den neuen Ausdruck oder die Überwindung
-der Tragik habe ich das Wintermärchen genannt, werde ich den Sturm
-nennen können. Das war Shakespeares Vollendung auf diesem Weg; die
-Kunst aber kennt allewege mehr als einen Gipfel der Vollkommenheit. Die
-Reihe Stücke, die ich genannt habe und die Shakespeare über mancherlei
-schwache Stellen und Irrpfade so hoch und rein hinauf geführt haben,
-sind, so viel Herrlichkeiten sie bergen, doch nur Anfänge und
-Verheißungen. Sie geben uns die Gewähr, daß &mdash; gleichviel wann, in ein<span class="pagenum"><a name="Seite_242" id="Seite_242">[S. 242]</a></span>
-paar hundert oder ein paar tausend Jahren &mdash; noch einmal ein Dramatiker
-kommen kann, der so Shakespeare hinter sich läßt, wie der bis jetzt
-der größte aller Dramatiker ist, die der griechischen Antike nicht
-ausgenommen. Fragen wir im lebendigen Gefühl, was Shakespeare ist,
-welche Kraft der Seele ihn zu dem gemacht hat, was er wurde, dann muß
-uns schwindlig werden, wenn wir an die Freiheit und Ausdrucksgewalt,
-an die Kühnheit des Mannes denken, der einst Shakespeare zum Zweiten
-machen soll.</p>
-
-<p>Shakespeare ist der Genius der Freiheit. Messen wir nicht an den
-verklärten Freien, die überwunden haben und die uns mehr Gestalten
-als Menschen sind, an Jesus oder Buddha, gedenken wir der Freiheit,
-die ringend und körperhaft dem Leben angehört und ihm entsteigt,
-so weiß ich keinen auf keinem Gebiet, nicht einmal Michelangelo,
-der so repräsentativ der Gestalter der Freiheit zu nennen wäre wie
-Shakespeare. Und mit seinem letzten Werk, auf dem Weg, dem Zymbelin und
-Wintermärchen Stufen sind, hat er, indem er noch einmal ein Beginnender
-wurde und das Werk der Tragik verließ, das er so glänzend abschloß,
-schon seinen Nachfolger und Überwinder vorbereitet, der höher steigen,
-tiefer wühlen, kühner befreien wird als er.</p>
-
-<p class="mtop2">Von Zymbelin kennen wir zwar keinen früheren Druck als den der Folio
-von 1623, aber aus einer Notiz im Tagebuch eines Zeitgenossen erfahren
-wir, daß das Stück 1610 oder 1611 aufgeführt wurde; um diese Zeit herum
-ist es gewiß auch entstanden.</p>
-
-<p>Das Datum des Wintermärchens können wir auf Grund äußerer Tatsachen
-mit Sicherheit zwischen zwei Grenzen festsetzen: das Stück kann nicht
-vor Herbst 1610 und nicht nach Mai 1611 entstanden sein. Beide Stücke
-gehören also, wie es auch aus inneren Gründen wahrscheinlich ist, der
-nämlichen Zeit an.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_243" id="Seite_243">[S. 243]</a></span></p>
-
-<p>Der Britenkönig Zymbelin und seine Söhne sind historische Gestalten,
-die in der Tat zur Zeit der Kaiser Augustus und Claudius gelebt und
-wegen der Tributzahlung Konflikte mit Rom gehabt haben. Wir wissen das
-aus Erwähnungen bei römischen Historikern und Dichtern, die Shakespeare
-kaum gekannt haben kann; seine Quelle für diese Teile kann Holinsheds
-Chronik gewesen sein.</p>
-
-<p>Der Teil der Handlung, der bei Shakespeare zwischen Posthumus Leonatus,
-Imogen und Jachimo spielt, stammt aus einem altfranzösischen Roman,
-von dem es eine Reihe Bearbeitungen gibt, die auch zu einer Novelle
-Boccaccios Veranlassung gegeben haben. Die Namen aber, die Shakespeare
-diesen Gestalten gibt, finden sich in keiner dieser Bearbeitungen,
-und ebensowenig die geringste Verbindung dieser Abenteuer mit der
-Geschichte des Königs Zymbelin.</p>
-
-<p>Ein Seitensproß dieses Handlungsteils, das Verhältnis Imogens zu
-ihrer Stiefmutter und deren Gift, ihr Scheintod bei seltsam von
-der Menschheit abgeschiedenen Höhlenbewohnern im Wald, kann an
-Schneewittchen und ähnliche Märchen gemahnen.</p>
-
-<p>Der alte Edelmann Belarius und sein Prinzenraub stellen einen ferneren
-Teil der Handlung dar, der an eine andere Novelle des Boccaccio
-erinnert.</p>
-
-<p>All solche Erinnerungen, zumal bei märchenhaften Novellenmotiven,
-die durch alle Völker und Zeiten wandern, beweisen aber gar nichts
-dafür, daß wir mit diesen Überlieferungen Shakespeares wirkliche
-Vorlagen haben. Die Annahme vielmehr, Shakespeare selbst habe diese
-ganz verschiedenen Geschichten zu einer fabelhaft bunten, gestopft
-vollen Handlungsgemeinschaft aufs kunstvollste verbunden, ist mir
-sehr zweifelhaft. Vielmehr erinnert das Ganze, wie es beisammen ist,
-so auffallend an die Geschichten von Geschichten mit immer neu sich
-hebenden Schleiern und immer neuen unerwarteten Wendungen,<span class="pagenum"><a name="Seite_244" id="Seite_244">[S. 244]</a></span> wie wir
-sie aus den orientalischen Märchen etwa von Tausendundeine Nacht,
-aus altfranzösischen, altitalienischen, spanischen Erzählungen und
-den deutschen Volksbüchern kennen, daß es mich sehr wahrscheinlich
-dünkt, daß diese Verknüpfung schon vorher in einer jetzt nicht mehr
-vorhandenen Erzählung dagewesen ist. Wesentliche Änderungen in der
-Motivierung, eine Menge Einzelzüge und vor allem das ganz fabelhafte
-Unternehmen, diese buntgedrängte Fülle der Gesichte in der Form
-des leibhaft für alle Sinne dargestellten Dramas, die fabulierte
-Unwirklichkeit, die Märchenhaftigkeit in Gestalt lebendig bewegter
-Wirklichkeit vorzuführen, dieses vorher wie nachher Unerhörte schreibe
-ich Shakespeare zu. Diese Märchen, Volksbücher und Abenteuerromane,
-die alle richtige Lese- und Schmökerbücher sind, haben es an sich, daß
-in ihnen nicht Bestimmtheit, Festigkeit, unverwischbare Einprägsamkeit
-ist, sondern in aller nüchtern sachlichen, nur Tatsachen referierenden
-Erzählung eine Art traumhaft musikalisches, wiegendes Weitergleiten,
-wo man ganz süchtig dem Erzähler hingegeben ist und es einem das
-wichtigste ist, daß immer neue Bilder, Überraschungen, Erregungen,
-Spannungen und Stimmungen auftauchen. Man will nicht eine Sache
-erfahren und diese dann stehen lassen, wie sie ist; sondern will
-sich der bunt wechselnden Dingwelt bedienen, um gerührt, betroffen,
-gestreichelt, gekitzelt zu werden; eine sehr objektive, chronikalische
-Darstellung ist das Mittel zu völliger Subjektivität schmachtender,
-lechzender Gefühle. Diese Art Roman ist bei uns aus doppelter Auflösung
-entstanden: aus der Auflösung der christlich ritterlichen Erotik ins
-Bürgerliche und aus der Auflösung der festen, rhythmisch gebannten
-epischen und episch-lyrischen Form in Prosa. Es ist beides dasselbe:
-Sehnsucht, die mit Dogma, Sitte und Form beschränkt und bemeistert war,
-ist in Schrankenlosigkeit zerflossen. Mit alledem hängt es zusammen,
-daß man diese Geschichten<span class="pagenum"><a name="Seite_245" id="Seite_245">[S. 245]</a></span> nur vernehmen und schlürfen, nicht behalten
-will; sie tragen Vergessenheit in sich: immer wieder Vergessen des
-Stofflichen wie Selbstvergessen des Hörers oder Lesers; man hat das
-Bedürfnis, diese Geschichten wie Musikstücke, die mehr als faßliche
-Melodie, die außen strömende und wallende Harmonie sind, immer wieder
-zu genießen.</p>
-
-<p>Das ganz Eigentümliche an Shakespeares romantischem Bühnenspiel ist
-nun, daß er solch ein völlig romanhaftes Gebilde zum Drama gemacht
-hat, daß das Unfeste, Schwimmende, Schimmernde der buntbewegten
-Abenteuerfolge zugleich mit der Bestimmtheit von Gestalten, die vor
-unsern Sinnen stehen, auf uns eindringt.</p>
-
-<p>Weder kann ich nun die lebendige Kenntnis der Handlung voraussetzen &mdash;
-sie ist ebenso bunt und vielfältig und abenteuerlich und im Romanhaften
-zerronnen, daß man sie immer wieder vergißt &mdash; noch kann es meine
-Aufgabe sein, sie hier ausführlich zu erzählen. Ich will nur an die
-Hauptpunkte erinnern, vorher aber noch einmal darauf hinweisen, daß,
-was fürs Gedächtnis des Lesers schwer zu behalten ist, dem Zuschauer
-ohne weiteres sinnenmäßig eingeht: das ist Shakespeares eigene Größe,
-daß seine Dramen zugleich im Bühnenmäßigen und im Sprachlichen gipfeln,
-daß sie lebendigste Natur und höchster Geist, daß sie Sinn und
-Sinnlichkeit sind.</p>
-
-<p>Das Stück heißt König Zymbelin, wie es Shakespeare immer liebt,
-getreu dem Prinzip der Gliederung oder Rangordnung &mdash; <em>ab Jove
-principium</em> &mdash; seine Darstellung eines großen Zusammenhangs nach dem
-Herrschenden zu benennen. Die Gestalt aber, die von innen her in dem
-Stücke herrscht, die die Einheit herstellt, um die sich alles dreht
-und die die verschiedenen Kreise mit einander in Berührung bringt, ist
-dieses Königs Tochter Imogen.</p>
-
-<p>Die Kompliziertheit der Handlung ergibt sich schon aus der ersten
-Personalangabe: König Zymbelin ist in zweiter Ehe mit einer Witwe
-verheiratet. Seine Söhne erster<span class="pagenum"><a name="Seite_246" id="Seite_246">[S. 246]</a></span> Ehe sind vor langer Zeit rätselhaft
-verloren gegangen; seine Tochter erster Ehe hat zu seinem Zorn einen
-Edelmann unter ihrem Stande geheiratet; die Ehe soll aufgelöst
-werden, sie soll den Sohn, den die zweite Frau aus einer früheren Ehe
-mitgebracht hat, Cloten, heiraten. Der Mann, Posthumus Leonatus, wird
-verbannt; er fährt nach Italien. In einer internationalen Gesellschaft
-wird er mit dem Italiener Jachimo bekannt und geht mit ihm eine
-gefährliche Wette ein: seine Frau, die Königstochter Imogen, sei rein
-und treu; jede Verführung müsse an ihr zuschanden werden. Hier sei
-gleich darauf hingewiesen, wie Shakespeare in Märchenstücken dieser
-Art mit voller Absicht und auch mit vollem Recht die Kulturelemente
-mischt: der Kaiser Augustus des Volksbuchs ist ein ganz anderer als der
-des Plutarch; und der Verfasser von Antonius und Cleopatra wußte, was
-er tat, als er diesmal zur Zeit des sogenannten Cäsar Augustus moderne
-Franzosen und Italiener einführte.</p>
-
-<p>Jachimo reist nach England; sein kecker Versuch, Posthumus zu
-verleumden, Imogen zu verführen, mißlingt. Nun verleitet ihn
-Gewinngier, Eigensinn, Ehrgeiz dazu, die Wette durch Betrug zu
-gewinnen: in einer Kiste, die er von innen öffnen kann, läßt er
-sich in Imogens Schlafzimmer tragen; er prägt sich die Einrichtung
-dieses Gemachs und intime Merkmale an Imogens Körper ein. Mit dieser
-Wissenschaft reist er nach Italien zurück; so überzeugt er schließlich
-Leonatus; die Wette war eigentlich darum gegangen, ob es Ehre und
-Treue beim Weibe überhaupt gebe; Posthumus war in der galanten
-Männergesellschaft mit seinem Glauben allein gestanden, der ihm jetzt
-zusammenbricht; Imogen ist ein Weib. Sein Vertrauter Pisanio soll sie
-ermorden; der rettet sie; als Knabe verkleidet kommt sie in Wales in
-eine Waldhöhle zu einem alten Mann und seinen zwei Söhnen; sofort
-entsteht seltsame Sympathie der drei jungen Menschenkinder zu einander;
-es sind ihre Brüder,<span class="pagenum"><a name="Seite_247" id="Seite_247">[S. 247]</a></span> die der Alte in ihrer Kindheit aus Rache und zum
-Pfand gestohlen hatte; Cloten in den Kleidern des Leonatus &mdash; sie hatte
-einmal gesagt, ein Rock ihres Mannes wäre ihr lieber als der ganze
-Dümmling Cloten &mdash; kommt sie zu suchen und gewaltsam an sich zu reißen;
-der eine Bruder gerät in Streit mit ihm, tötet ihn und schlägt ihm den
-Kopf ab. Derweile ist Imogen von all ihrem Leid krank geworden; sie
-trinkt eine Arznei, die sie von ihrer Stiefmutter erhalten hat; die
-Königin hält den Trank für Gift; der Arzt, der es gut meint, hat ihr
-aber nur ein Betäubungsmittel gemischt. Die Brüder halten den geliebten
-Jüngling Fidele &mdash; ihre Schwester Imogen &mdash; für tot, den Rumpf Clotens
-wollen sie fromm neben Fidele bestatten; die Leichenfeier halten sie
-ab; sie entfernen sich. Imogen erwacht; neben sich erblickt sie den
-Toten ohne Kopf in den Kleidern ihres Manns; sie ist verzweifelt; der
-Feldherr der Römer, der gerade im Kampf mit Zymbelin des Wegs zieht,
-nimmt Imogen-Fidele als Pagen mit.</p>
-
-<p>Derweile ist Leonatus in tiefer Reue über das, was er &mdash; vermeintlich
-&mdash; getan hat. Als römischer Offizier kommt er nach Britannien,
-hilft aber, als Bauer verkleidet, die Schlacht zugunsten seines
-Vaterlands entscheiden. In diesen Entscheidungskampf zur Rettung der
-Unabhängigkeit Britanniens greifen ebenso der Alte &mdash; der verbannte
-Edelmann Belarius &mdash; und die Söhne Zymbelins unerkannt ein.</p>
-
-<p>Mit dem Feldherrn der Römer kommt Imogen gefangen an des Vaters Hof,
-und so löst sich alles: Leonatus und seine Frau finden sich wieder,
-die beide einander als tot beweint hatten; Zymbelin erhält seine Söhne
-zurück; der reuige Betrüger Jachimo wird begnadigt.</p>
-
-<p>Hat man sich so den Gang der Handlung im groben vergegenwärtigt, wobei
-noch viele Episoden unerwähnt geblieben sind, so muß man wahrlich noch
-einmal ausrufen: Welch erstaunliches Drama! Wie begreift man jetzt,
-daß<span class="pagenum"><a name="Seite_248" id="Seite_248">[S. 248]</a></span> Shakespeare auch der Verfasser des dramatisierten Reiseromans
-Perikles ist, der nur eine leichte Vorarbeit zu diesem dramatisierten
-Volksbuch zu sein scheint. Gar nicht zu leugnen, daß dieses Stück
-nicht minder wie etwa Kleists Käthchen von Heilbronn in gewissen
-Teilen zum Gebiet der Schauerromantik gehört und daß die schnelle
-Aufeinanderfolge der immer auf Irrtümern und Verwechslungen beruhenden
-Verzweiflungsausbrüche das Kino vorwegnimmt. Es sieht aus, als habe
-es Shakespeare gereizt, eben das Fürchterlichste und Schaurigste
-immer noch ins Spiel der Romantik und des bloßen Scheins abzubiegen,
-die Tragik immer wieder auf die Schwelle treten zu lassen und ihr
-jedesmal den Eintritt zu verweigern. Überdies aber bot der Stoff eine
-Fülle von Gelegenheiten, in der Handlung und in dem aus ihr fließenden
-gesprochenen Wort die Zusammenhänge und Gegensätzlichkeiten zu
-behandeln, die dem Dichter besonders am Herzen lagen.</p>
-
-<p>Eines dieser Themen ist das allgemeine Mißtrauen der Geschlechter
-gegen einander, zumal des Manns, der sich als Herrn betrachtet,
-gegen die Frau. Entsprechend der Mode der Zeit, wie sie in der
-internationalen Novellenliteratur zum Ausdruck kommt, wird in den
-Kreisen, in die Leonatus in Italien kommt, als Regel vorausgesetzt,
-daß die Frau den abwesenden Ehemann betrügt. Und Hahnrei sein ist
-nicht bloß und nicht einmal in erster Linie ein privater Schmerz,
-sondern, wenn es bekannt und nicht gerächt wird, eine gesellschaftliche
-Schande: die List der Frau erweist sich dann stärker als die
-Herrengewalt des Mannes. Bei solchen Ehebrüchen trifft die Entehrung
-nur den Ehemann; der überwiesene Einbrecher verliert nichts an
-seiner gesellschaftlichen Geltung. Aus solcher Modegesellschaft und
-Konvention der Leichtfertigkeit heben sich nun Leonatus und Imogen als
-Ausnahmemenschen der Reinheit und des Adels; sie sind in Vertrauen
-und hohem Geist geeint. In der Entfernung aber, wie der Betrug ihm<span class="pagenum"><a name="Seite_249" id="Seite_249">[S. 249]</a></span>
-handgreifliche Beweise liefert, verzweifelt er und glaubt, Imogen sei,
-wie die Weiber alle sind; da kommt es zu einem ungeheuren Ausbruch der
-Verachtung gegen das weibliche Geschlecht. Die Situation, in der sich
-Leonatus da findet, ist in der örtlichen Entfernung von seinem Weibe
-genau dieselbe wie die Othellos, der mit Desdemona zusammen und doch
-so vielfach von ihr geschieden ist: Leonatus lebt nicht mehr in der
-Sicherheit des Wissens vom Innern dieses fremden Menschen, der dem
-andern, dem ewig unbekannten Geschlecht angehört; und die Verstrickung
-durch die Lüge ist so, daß Imogen überführt ist; denn wie kann
-Leonatus annehmen, daß ein geachteter Mann, gegen den nichts vorliegt
-und der keinen Grund hat, ihn zu hassen, um einer Wette willen ihn
-so raffiniert umgarnt! Es ist wieder die Wahl, ob der Ehemann einem
-ehrlichen Mann oder der Frau, die er nur durch seine Liebe kennt,
-glauben soll; und wieder fällt die Entscheidung gegen die Frau aus.
-Eine sonderbare Vorstellung von dem Dichter Shakespeare würde man sich
-nun machen, wenn man nicht annähme, er habe bei diesen Teilen der
-Handlung und bei den entsprechenden im Wintermärchen ebenso an seinen
-Othello gedacht, wie wir es tun. Beide Male entscheidet der Mann wie
-Othello: das Weib muß sterben; und beide Male glaubt der Mann, die Tat
-der Rache auszuführen. Beide Male aber geschieht diese Ausführung im
-Wahn; der Mann überlebt seine Tat, bereut sie, wünscht sie sehnlichst
-ungeschehen; und zum Schluß zeigt sich: es war alles nur wie verzerrter
-Traum und Fieber; die Tat ist in der Ausführung ins Reich des Spieles
-gefallen; die Umkehr des Ehemanns und sogar des Betrügers steht nicht
-im normalen Kausalzusammenhang mit der Rettung der verleumdeten
-Unschuld: das Schicksal hat auf abenteuerlichen, wunderbaren Wegen
-eingegriffen, und Natur und Gottheit haben wieder gutgemacht, was die
-schnelle Rachetat schon vollendet glauben mußte und was die Reue nicht
-mehr wenden konnte.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_250" id="Seite_250">[S. 250]</a></span></p>
-
-<p>Das üppige Gedränge der Geschehnisse läßt dem Dichter gar nicht
-den Raum, das Innere seiner Gestalten so zu eröffnen und sie so in
-schaudernder Wirklichkeit aus Seelengrund heraus leben zu lassen, wie
-in seinen Tragödien des früheren Stils; Leonatus lebt uns nicht wie
-Othello, und Jachimo nicht wie Jago; und auch Imogen, obwohl ihr des
-Dichters besondere Liebe gilt, ist uns keine Desdemona: die Charaktere
-sind nicht ausgeführt, und wir brauchen die Erinnerung an jene andern
-Stücke Shakespeares, wenn wir die Lücken in der Seelenenthüllung, die
-skizzenhaft bleibt, ausfüllen wollen. Auch Cloten, der Dümmlingsprinz,
-steht nicht fest in seinem Charakter; je nachdem die Handlung eine
-Gelegenheit zu Weisheit und Polemik bietet, läßt der Dichter ihn
-manchmal erstaunlich kluge Sätze der Erfahrung sprechen. Es ist aber
-offenbar Shakespeare bewußt, daß er es diesmal anders macht; wenn
-uns seine Offenbarungen aus dem Reich der Affekte unendlich wertvoll
-sind, so ist doch deutlich zu erkennen, daß er in diesen Stücken
-gerade dieses Gebietes überdrüssig war: er hatte genug von Haß, Rache,
-Mordwut, Umdunkelung und Gier; in seinem Timon ließ er einen Menschen
-in Haß und Grimm losbrüllen; was er aber haßte, war die Gemeinheit
-der ichsüchtigen Menschen; für sich wollte er nichts; Rache übte er
-im Namen der verratenen Menschheit an eben dieser verräterischen
-Menschheit; und seine Rache kam so grotesk übertrieben heraus, daß sie
-ganz unwirklich und nur Bildersprache eines Phantasiemenschen wurde;
-und was der Dichter so überwunden hatte und wessen Überwindung durch
-eine nicht den Dämonen unterworfene, sondern geisterfüllte, göttliche
-Natur und Vorsehung er gerade zeigen wollte, das wollte oder konnte er
-auch nicht mehr mit intensiver, erbarmungsloser Kraft darstellen. Nicht
-zu leugnen, daß diese Teile im Zymbelin, zum Beispiel des Leonatus
-Posthumus Monolog, in dem die Wut gegen das ganze weibliche Geschlecht<span class="pagenum"><a name="Seite_251" id="Seite_251">[S. 251]</a></span>
-ihn übermannt, von dem virtuosen Dichter aus Erinnerungen an früher aus
-dem Tiefsten geschöpfte Ausbrüche gespeist werden. Um so wunderbarer,
-wie er im Wintermärchen in einigen Szenen noch einmal mit voller
-Kraft zur Tragödie zurückkehrt, um dann die Szenen des Spiels, der
-Heiterkeit, der Überwindung sich ganz rein und leicht dagegen abheben
-zu lassen. Im Zymbelin ist eines ins andre gemischt, und Shakespeare
-rettet sich da vor der Tragik, die ihm Unlust und Qual zu bereiten
-scheint, vor allem in die äußerliche Romantik der sich überstürzenden
-und aller Wirklichkeit spottenden Abenteuer- und Wunderhandlung, die
-freilich das Element des Spiels und vor allem der in starken Gegensatz
-zur Zivilisationsverderbnis gestellten reinen und unschuldigen Natur
-schon in sich birgt.</p>
-
-<p>Ganz entzückend sind die Szenen im Walde, wie Imogen, die sich schon
-immer vom Hofe weg in ein Leben der Einfachheit und Natur gewünscht
-hatte, auf der Flucht in Knabentracht zu ihren jungen Brüdern und dem
-alten Mann kommt, der die Knaben dem Hof geraubt und in der rauhen,
-gesunden Wildnis hat aufwachsen lassen. Dreierlei kommt da teils zur
-Sprache, teils zur Gestaltung: der Gegensatz zwischen der Einfachheit
-und Redlichkeit der Natur und der höfischen Lüge; der angeborene Adel
-und heldenhafte Sinn, das Königsblut, das sich in den beiden Prinzen
-meldet, obwohl sie nichts von ihrer Herkunft wissen; und schließlich
-die Stimme des Bluts, das die Geschwister in sofortiger, zwingender
-Liebe zu einander zieht, wiewohl sie sich nicht kennen.</p>
-
-<p>In diese Szenen hat der Dichter eine Fülle der Kraft, der Polemik,
-der Weisheit und der Zartheit gestreut. In all den Stücken dieser
-Art bekommt man den Eindruck, Shakespeare habe seine Werke vor allem
-für die jungen Herren vom Adel aufgeführt und es habe ihm Freude
-gemacht, ihnen immer wieder anschauliche Lehren zu erteilen. Sofort
-zu Beginn dieses Teils, mit dem eine ganz neue<span class="pagenum"><a name="Seite_252" id="Seite_252">[S. 252]</a></span> Handlung einsetzt,
-wird das niedrige Tor der Höhle mit den hohen prächtigen Türen in
-Königsschlössern verglichen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Bückt euch, ihr Knaben:</div>
- <div class="verse">Das Tor lehrt euch den Himmel ehren, gebeugt</div>
- <div class="verse">Zu frommem Frühdienst. Königstore sind</div>
- <div class="verse">So hoch gewölbt, daß Riesen durchstolzierten</div>
- <div class="verse">Samt ihrem frechen Turban, ohne Gruß</div>
- <div class="verse">Der Morgensonne. &mdash; Heil dir, schöner Himmel!</div>
- <div class="verse">Wir hausen hier im Fels, doch wir begegnen</div>
- <div class="verse">Dir nicht so hart, als die in Schlössern wohnen.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und wie dann der Alte die Knaben auf die Jagd den Berg hinauf schickt,
-gibt er ihnen sofort wieder eine Lehre:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich bleib’ im Tal. Seht ihr von oben mich</div>
- <div class="verse">Wie eine Krähe, denkt, der Platz nur macht</div>
- <div class="verse">Uns klein und groß; bedenkt, was ich erzählt</div>
- <div class="verse">Von Höfen, Fürsten und von Kriegeslist.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Die Jungen aber wollen in die Welt; sie wollen sich nicht mit
-Erzählungen belehrend moralischer Art und Warnungen abspeisen lassen;
-sie wollen selber ihre Erfahrungen machen, um auch einmal so ein weiser
-Alter zu werden. Da bietet sich dann gleich wieder Gelegenheit zu
-einer Beschreibung der argen Welt: Wucher in den Städten; künstliches,
-geschmeidiges Treiben am Hof; Bevorzugung des Schlechten und Unechten
-auch im Kriegswesen.</p>
-
-<p>Wie nun Imogen als Knabe Fidele dazu kommt, verbindet sich mit dieser
-Reinheit des Naturlebens, die auch sie sofort als Gegensatz zum Hof
-empfindet, der Zug der Liebessympathie: die drei jungen Menschen nennen
-sich, ohne zu ahnen, wie wahr es ist, unter einander Bruder, und Imogen
-erweitert diese Liebe zum Wunsch allgemeiner Menschenverbrüderung:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">„Sind wir nicht Brüder?“</div>
- <div class="verse mleft4">Mensch und Mensch sollt’s sein!</div>
- <div class="verse">Doch sieht der Lehm in Würden stolz auf Lehm</div>
- <div class="verse">Herab und ist doch all ein Staub!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_253" id="Seite_253">[S. 253]</a></span></p>
-
-<p>Wunderschön, groß und rein ist dann, wie nach dem vermeintlichen Tod
-Fideles da tief im Waldesinnern das Natur-Requiem angestimmt wird;
-und auch hier wieder wählt Shakespeare den seltsamen Weg, Tragik in
-Spiel zu wandeln, daß er uns vorher wissen läßt, die Trauer sei echt
-und rein, doch Grund zu ihr sei nicht da: was da als tot beklagt wird,
-lebt noch! Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit verkündet dieses
-Natur-Requiem als Lehre der idyllischen Natur und des nivellierenden
-Todes, eines Todes, der nur Schein und Maske tötet, aber nicht das
-Wesen: der Tod macht frei; der Tod macht alles gleich; vor dem Tod sind
-wir Brüder:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Scheu nicht mehr das Machtgebot;</div>
- <div class="verse">Fern von des Tyrannen Streich,</div>
- <div class="verse">Sorg nicht mehr um Kleid und Brot,</div>
- <div class="verse">Dir ist Schilf und Eiche gleich.</div>
- <div class="verse">Zepter, Weisheit, Heilkunst werden</div>
- <div class="verse">All auf einem Weg zu Erden.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Vieles im Wintermärchen erinnert an Zymbelin: auch da in der Mitte
-eine adlige, seelenvolle Frauengestalt; unbegründete, jäh ausbrechende
-Eifersucht des Mannes gegen sie; das allgemeine Milieu wieder die
-Hahnrei-Mode und Frauenverachtung, Frauendienstbarkeit; der Gegensatz
-von Hirtenleben und Hof; die märchenhafte, romantisch abenteuerliche
-Sphäre der Handlung. Aber es darf nicht geleugnet oder verschwiegen
-werden, daß das Wintermärchen das Werk eines Meisters, König Zymbelin
-aber trotz wunderbar schönen und tiefen Einzelzügen das Werk eines
-wirren oder müden Suchenden und in elenden und gänzlich mißratenen
-Einzelzügen das Werk eines Pfuschers ist. Der Unterschied zwischen den
-beiden zeitlich und stofflich so benachbarten Werken ist viel größer
-als der zwischen Clavigo und Götz; er ist so groß wie zwischen dem
-Großkophta und dem Egmont oder zwischen Claudine von Villabella und
-Iphigenie. Damit aber, daß ich an<span class="pagenum"><a name="Seite_254" id="Seite_254">[S. 254]</a></span> diese ungeheuere Verschiedenheit
-im Werk Goethes erinnere, verfolge ich noch einen Nebenzweck. Goethes
-Leben ist historisch, ist von Tag zu Tag bekannt; Shakespeares Leben
-ist mythisch; von ihm als Menschen wissen wir eigentlich, wenn unter
-Wissen völlige Sicherheit zu verstehen ist, nichts. So wenig aber,
-wie eine Möglichkeit vorliegt, Goethe ein Werk darum abzusprechen,
-weil es seines Idealbildes nicht würdig ist, weil es tief unter seinem
-Besten zurückbleibt, so wenig dürften wir Shakespeare für unfähig
-halten, sich hie und da recht von Herzen oder herzlos gehen zu lassen
-oder in die Irre zu gehen oder auch etwas zu schreiben, was durch
-geheimnisvolle vergängliche Beziehungen, die wir nicht mehr nachfühlen
-können, seiner Zeit viel bedeutete, uns aber zu großem Teil nichts
-als abstrus ist. Daß Zymbelin von Shakespeare stammt, ist freilich
-noch nie bezweifelt worden; aber auch bei diesem Werk hat man, obwohl
-nichts dafür und alles dagegen spricht, von einer Bearbeitung einer
-Jugenddichtung reden wollen und hat auch da wieder den Versuch gehabt,
-solche Teile, die einem besonders mißfielen, flugs für Einfügungen
-von andern zu erklären, obwohl in Wahrheit die Handlungsteile und
-selbst die Intermezzi so alle mit einander verzahnt sind, daß sich gar
-nichts herausnehmen läßt. Daß doch die Leute immer einen Normaltypus
-brauchen! Da sie Shakespeare zum Durchschnittsmenschen nicht machen
-können, muß er der unentwegt Große und Fehlerlose sein. Er war aber
-weder der betrunkene Wilde, als den ihn die französischen Kunstrichter
-sahen, noch wird je die Sorte Klassiker aus ihm werden, zu dem ihn die
-Klassenlehrer machen wollen. Ich glaube das Große, Neue zu ahnen, zu
-dem Shakespeare mit König Zymbelin unterwegs war, und habe versucht, es
-auszusprechen; wie der Schluß, den wir heute von Goethes Faust haben,
-auf dem Wege der Resignation entstand, weil der Dichter ungeheuer viel
-Größeres, von dem wir Proben in den Paralipomenen<span class="pagenum"><a name="Seite_255" id="Seite_255">[S. 255]</a></span> haben, nicht hat
-bewältigen können, so ist das Wintermärchen im Vergleich zum Zymbelin
-darum wieder meisterlich, weil Shakespeare sich da in seinem Suchen
-nach dem neuen Ausdruck einer neuen Lebensstimmung beschränkt hat: er
-hat im einen Teil die alten bewährten Methoden seiner großen Tragödie,
-und im andern Teil die gleichfalls bewährten Methoden des romantischen
-Lust- und Schäferspiels angewandt und hat das Schwerste des Schweren,
-die Verbindung dieses Zweierlei zu einem neuen Stil, wozu er im
-Zymbelin und im Timon und im Perikles lauter verschiedene und im großen
-Ganzen nicht gelungene Anläufe genommen hatte, aufgegeben. Auf dem Wege
-über die Zweiteilung des Wintermärchens ist ihm dann zwar nicht das
-Ungeheure, unaussprechlich Neue, nach dem er gerungen hat, aber doch
-eine edle, reife Einheit gelungen in seinem Schwanengesang, dem Sturm.</p>
-
-<p><em>The Winter’s Tale</em> heißt in der Tat das Wintermärchen; die
-Übersetzung ist ganz richtig. Die Erklärung findet sich in der
-entzückend lieblichen Szene, wo der junge Prinz, Leontes’ und Hermiones
-Sohn, in der traulichen Frauenstube von den Hofdamen verhätschelt wird
-und nun anfängt, seiner Mutter und den jungen Damen ein Märchen zu
-erzählen. Traurig soll es sein, meint er:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Ein traurig Märchen</div>
- <div class="verse">Paßt besser für den Winter.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Das Schöne ist nun, daß wir hier in diesem traurig ernsten Drama ganz
-im Märchen und dabei ganz im Menschlichen sind; das Märchenhafte wird
-nicht mit den üblichen Mitteln und Requisiten hergestellt. Der Prinz
-wollte ein Märchen von Gespenstern und Kobolden erzählen; in dem Stück
-aber greift, wenn man von dem nebensächlichen Orakel von Delphos (die
-Insel Delos ist gemeint) absieht, gar keine Geistermacht ein. Das
-Märchenhafte liegt ganz in der Stimmung des Ganzen, in dem, was die
-Romantiker im feinsten, duftigsten Sinne Ironie genannt haben:<span class="pagenum"><a name="Seite_256" id="Seite_256">[S. 256]</a></span> in
-aller menschlichen Ergriffenheit verlieren wir nie das Gefühl: es ist
-ein Spiel. Und gelenkt wird das Spiel von einer Frau, die zugleich die
-böse und die gute Fee ist, von Paulina, der Freundin Hermiones: sie
-rächt die Frau am Zorneswahn des eifersüchtigen Mannes.</p>
-
-<p>Das Wintermärchen ist nächst dem Porzia-Stück, das Der Kaufmann von
-Venedig heißt, das frauenhafteste Drama Shakespeares: Hermione, Paulina
-und Perdita sind in ihren verschiedenen Tönungen die Vertreterinnen
-lieblich ernster, natürlicher, fein gebildeter, denkender Unschuld. Und
-Paulina ist so herzhaft, tapfer, konsequent bis zur Unerbittlichkeit,
-so stark und scharf in ihren Reden, man fühlt so lebhaft, wie sie &mdash;
-so sagt man ja wohl &mdash; „ihren Mann steht“, daß man &mdash; es ist ja doch
-ein Spiel, ein Spiel mit dem bösen Popanz von Mann, und ein anmutig
-tiefsinniges Spiel mit uns Zuschauern &mdash; daß man den Bericht von
-Hermiones Leben in Verborgenheit und den sechzehn Jahren, die sie so
-zur Strafe für den Wüterich fern war und für tot galt, gern hinnimmt:
-daß diese Flucht aus der Ehe und aus dem Leben psychologisch so
-trefflich aus der tiefgekränkten Seele der Frau heraus motiviert ist,
-ist uns wichtiger als die Frage nach der äußern Wahrscheinlichkeit;
-ja wir sind sogar lächelnd bereit zu helfen und sagen &mdash; es ist ein
-Märchen, sechzehn Jahre sind’s, damit Perdita inzwischen heranwächst;
-im übrigen mag’s wohl kürzer dauern.</p>
-
-<p>Was sonst die Anachronismen und geographischen Freiheiten angeht,
-so ist das Nötige darüber schon vorhin bei Gelegenheit von Zymbelin
-gesagt worden: der Dichter braucht diese Aufhebung der von Zeiten,
-geographischen Wirklichkeiten und Kulturen gesteckten Grenzen für
-die Märchenstimmung. Und überdies haben die rechtes Unglück, die
-aus so einem Fabelland wie dem am Meer gelegenen Königreich Böhmen
-Shakespeares Unbildung beziehen wollen: diese und ähnliche Angaben
-übernahm<span class="pagenum"><a name="Seite_257" id="Seite_257">[S. 257]</a></span> Shakespeare aus seiner Quelle, einer Novelle von Greene, der
-ein akademisch graduiertes gelehrtes Haus war.</p>
-
-<p>Die zwei Teile des Märchens werden von der Zeit, die dazwischen als
-Chorus auftritt, getrennt; der erste Teil besteht aus drei Akten,
-die aber zusammen kürzer sind als die beiden letzten, und die ersten
-zwei sind besonders kurz; durch ein überhitztes Fiebertempo müssen
-sie noch zu besonders raschem Verlauf gebracht werden, während
-die beiden letzten mit den Schäfer-, Spitzbuben-, Liebes- und
-Erwartungssehnsuchtsszenen breit, behaglich und dann wieder schmachtend
-ausladen müssen. Dieser zweite Teil mutet an wie eine Verbindung von
-niederländischer Malerei und Romantik; wie wenn auf einer Kirmeß von
-Teniers eine sehnsuchtsvolle Musik, die nicht enden will, gespielt
-würde.</p>
-
-<p>So falsch es ist, in Othello den Vertreter der Eifersucht zu sehen,
-so wahr ist, daß König Leontes an typischer Eifersucht, an Eifersucht
-als Gewohnheit und Wesenszug erkrankt ist. Wie er im Grunde ist, wenn
-diese Wahnsinnswut ihn nicht umklammert, sehen wir ihn erst spät;
-beim ersten Auftreten, beim ersten Wort ist verzehrende Eifersucht
-in ihm. Der Grund ist einmal, was wir vorhin bei Zymbelin sahen, die
-allgemeine Mißachtung der Frau, die gesellschaftliche Bereitschaft,
-ihr nicht zu trauen. Der Kampf der Geschlechter wird nicht aufhören,
-solange die Welt steht; kennt kein Mensch mit ganzer Sicherheit den
-andern Menschen, so noch weniger je ein Mann eine Frau und die Frau
-den Mann; die Ehe also ist ein Bund besonderer Vertrautheit auf dem
-Grunde besonderer Fremdheit. Kommt dazu das männisch-befehlshaberische
-Regiment im Formalen des Hauses und Staates und die Lockerung der
-Zügel im tatsächlichen Leben der Zivilisation, so daß Frauenanmut und
-Frauenwitz öffentlich hervortreten, so bilden sich die Zustände in
-der Gesellschaft aus, die diesen Stücken die Voraussetzung liefern.
-Überdies aber kennt der König etwas nicht, was in solcher<span class="pagenum"><a name="Seite_258" id="Seite_258">[S. 258]</a></span> Zivilisation
-der Renaissance sich frei an die Öffentlichkeit traut und was Hermione
-in wundervoller Unbefangenheit kennt und übt: Freundschaft zwischen
-Mann und Frau. Sie gesteht, unvorsichtig genug, frei und groß, daß
-sie den Jugendfreund ihres Mannes, den König Polirenes von Böhmen,
-liebe, wie es ihr Recht und ihre Pflicht sei. Ausdrücklich läßt
-Shakespeare sie diese Freundschaft Liebe, <em>love</em> nennen, obwohl nicht
-die leiseste Spur Begier oder Sexualität darin ist; Shakespeare weiß
-aus ernstem und tiefem Freundschaftsleben, aus seiner ganzen starken
-innigen Menschlichkeit, daß der Eros, aber darum noch lange nicht die
-Geschlechtlichkeit, überall ist, wo Menschen sich in Sympathie zu
-einander neigen und finden.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich liebt’ ihn, wie sein Wert es forderte,</div>
- <div class="verse">Mit solcher Art von Lieb’, als einer Frau</div>
- <div class="verse">Wie mir geziemte.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Auch Desdemona, wiewohl sie noch ganz ein Mädchen und von Natur und
-Liebe aus viel mehr zur Unterwürfigkeit geneigt ist als die reife,
-selbstbewußte Hermione, die ihren Gatten nicht mehr ehrt als sich
-selbst, hatte ihren Trotz und ihre Unschuld darein gesetzt, Cassio
-freundschaftlich zugetan zu sein und es ihrem Mann und aller Welt zu
-zeigen; Hermione geht weiter und macht geradezu zur Bedingung ihrer
-Ehe und ihres Lebens, daß sie in der Freiheit und freien Äußerung
-ihres Gefühls nicht beschränkt werde. Er aber, der eifersüchtige
-Narr, beobachtet unter Qualen jedes Lächeln und gar den Händedruck,
-das Streicheln und dann den Erfolg ihrer liebreichen Bitten, zu denen
-er selbst sie veranlaßt hat, der Freund möge noch bleiben. Es ist
-wahr, daß Hermione sehr weit, bis an die äußerste Grenze geht und die
-Mißdeutung nicht scheut; es ist wahr, daß ihr Verhalten eine Probe und
-eine Prüfung für den Gemahl ist.</p>
-
-<p>Daß ihre Reinheit ihr dazu aber das Recht gibt, das sehen wir daran,
-daß der König &mdash; wie ganz anders als in dem<span class="pagenum"><a name="Seite_259" id="Seite_259">[S. 259]</a></span> Stück von Othello und
-Jago! &mdash; keinen einzigen Menschen findet, der seinen Wahnsinn teilt
-oder begünstigt: alle ehren sie die wundervolle Frau; Camillo,
-sein treuer Minister, tritt dem Herrn scharf entgegen und verrät
-ihn schließlich lieber, als daß er im Dienst seiner Narrheit dem
-unschuldigen König von Böhmen ans Leben geht. Nur Leontes &mdash; vielleicht
-im Gefühl, daß er sie nicht verdient &mdash; hat kein Vertrauen mehr; es
-bohrt und wühlt in ihm, bis die volle Wut ausbricht; nun war sie von
-allem Anbeginn an niedrig und treulos: sein Sohn ist nicht von ihm, und
-das im Gefängnis neugeborene Mädchen gewiß nicht: die Zeichen treffen
-ein, neun Monate gerade ist der König von Böhmen in Sizilien zu Gast.</p>
-
-<p>Wie er dann anfängt zu toben &mdash; wir haben es kommen sehen, es hat sich
-lange genug vorbereitet, hat sich so lange in ihm eingedrückt und ihn
-wie eine Feder zusammengepreßt, daß er mit einem Mal losbrechen muß
-&mdash;, wieder der Frau, der Hochschwangeren den schlimmsten Schimpf ins
-Gesicht sagt, da ist es himmlisch, wie sie, aufs tiefste verletzt, fest
-und mild erwidert. Kaum versteht sie, was er Fürchterliches meint, so
-denkt sie schon an ihn:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">Wie wird Euch dieses schmerzen,</div>
- <div class="verse">Wenn Ihr zu hell’rer Einsicht kommt, daß Ihr</div>
- <div class="verse">Mich also habt beschimpft! &mdash; Liebster Gemahl,</div>
- <div class="verse">Ihr könnt mir kaum genug tun, sagt Ihr dann,</div>
- <div class="verse">Daß Ihr Euch irrtet.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Sehr zu beachten ist aber, daß sie, die beschimpft und tödlich
-beleidigt ist, die das Vertrauen ihres Gemahls verloren hat, die ins
-Gefängnis abgeführt wird und gerichtet werden soll, nicht da getroffen
-wird, wo Seele und Körper an einander grenzen: sie ist nicht gebrochen
-oder außer sich; es kommen ihr, und sie weist selbst darauf hin, keine
-Tränen; so himmlisch mild ist sie nicht von der Sphäre des Naturtriebs
-und des Körpergefühls her; in ihr lebt der göttliche Funke des Geistes;
-ihre Milde kommt daher, daß sie das<span class="pagenum"><a name="Seite_260" id="Seite_260">[S. 260]</a></span> Wesen des gepeinigten Mannes mit
-einem weiten Blick übersieht; der Überblick über den Zusammenhang
-macht es ihr möglich, den schweren Fehler dessen, über den dieser
-Zusammenhang bis zur Verblendung und Betäubung zusammenschlägt,
-übersehen, nachsehen zu können; nur für solche geistige Naturen ist im
-Verstehen das Verzeihen inbegriffen.</p>
-
-<p>Zum Verzeihen ist sie im voraus geneigt für den Zeitpunkt, wo er wieder
-zu sich, wo er zur Erkenntnis kommt; mit dem, der er jetzt ist, zu
-leben ist ihrer Würde unmöglich. Bis dahin übernimmt die Führung ihre
-kluge, resolute Freundin Paulina, die Verstand, Mutterwitz in hohem
-Maße, aber nicht diesen schon fast nicht mehr menschlichen Geist der
-verzeihenden Milde besitzt. Sie läuft vor allen Dingen zum König; ihm
-muß die Meinung gesagt, muß der Kopf zurechtgesetzt werden. Solch ein
-Narr! Solch ein Wüterich! In all ihrer Herzhaftigkeit hat sie etwas
-entschieden Humoristisches, den Durchschnittsmenschen gegenüber lustig
-Überlegenes an sich. Diese Höflinge! Was für Mannesseelen! Wie sie
-sich den Mund selber verbinden, wie sie brav schlucken können, diese
-armen Schlucker! Muß erst eine Frau kommen und tapfer die Wahrheit
-heraussagen? Wir finden Antigonus, ihren Mann, und die andern Herren
-vom Hof verhältnismäßig tapfer, im Verhältnis nämlich zu dem wütenden
-Tyrannen, zu dem die Eifersucht diesen König macht. Paulina aber, in
-zärtlicher Bewunderung für die herrliche Frau und innigem Mitgefühl,
-hat nur Sinn für das Verhältnis zur Reinheit und Hoheit Hermiones.
-Wie es dann zu der abscheulichen Gerichtsfarce kommt, noch mehr, wie
-das Kindlein ausgesetzt wird und ihr eigener schwacher Mann sich dazu
-hergibt, dies Entsetzliche zu besorgen, wie die Königin in tiefer
-Ohnmacht totengleich daliegt, da ist Paulina entschlossen: mit diesem
-Mann, für diese Untat muß die Männerwelt bestraft werden, die eine
-Hermione nicht verdient.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_261" id="Seite_261">[S. 261]</a></span></p>
-
-<p>In ihr leben kann auch Hermione nicht mehr; für ihre Ehre ist sie
-in großer Haltung, tapfer auf Freiheit und Menschenrecht bestehend
-eingetreten, solange es not tat; nun die Ehre durch den Orakelspruch
-des Gottes gerettet ist, muß sie tun, was ihre Seele schon immer
-begehrte: sich zurückziehen aus dieser Welt. Ihr Sohn, der Erbe
-ihres Geistes, dieses phantasievolle Kind, ist, weil er sich die
-Kränkung seiner Mutter und den Riß, der seine Eltern trennte, zu
-lebhaft vorstellte, gestorben; ihr neugeborenes Mädchen ist in der
-Wildnis ausgesetzt worden; sie hat keine Wirklichkeit mehr, nur noch
-die Hoffnung auf das Wunder, daß dieses Kind irgendwo lebt und ihr
-wiederkehrt; das ist das einzige, was sie im Leben hält.</p>
-
-<p>So der Abgeschiedenheit geweiht ist aber von nun an auch Leontes,
-ihr Gemahl. Jetzt, wo er sich in einer nicht wütigen, in einer ganz
-stillen Reue verzehrt, wo er die Frau für tot, an ihm gestorben halten
-muß, erkennen wir ihn erst in seinem wahren Wesen. Aber wir ahnen das
-beinahe nur; das tragische Schattenspiel verschwindet; die alte Welt
-dämmert in ihrem Todleben dahin; wir leben mit der neuen Generation.</p>
-
-<p>Der Übergang ist, wie es dem Sinnspiel taugt, märchenhaft: Antigonus,
-der das Kind in einer Wüste aussetzen sollte, wird mit dem Schiff
-an Böhmens Küste verschlagen, im Traum naht sich ihm die Gestalt
-Hermiones, die er, da er wohl von Gespenstererscheinungen, aber nichts
-davon weiß, daß der Geist einer Mutter aus ihrem Körper steigen und
-in Angst und Sorge dem Kinde nachgehn kann, für tot halten muß; die
-Frau, die, als ihr Gemahl sie bitter kränkte, ob diesem Einsturz des
-gesellschaftlichen Gefüges, der Ehe nicht hat weinen können, vergießt
-jetzt, wie sie um die Frucht ihres Leibes sich härmt, strömende Tränen;
-sie fordert, daß Antigonus das Kind in Böhmen lasse, und gibt dieser
-Tochter den Namen Perdita. Dann verschwindet die Erscheinung; bleibe
-es ganz dahingestellt,<span class="pagenum"><a name="Seite_262" id="Seite_262">[S. 262]</a></span> ob Shakespeare hier ein Märchen gedichtet
-oder mit vielen Denkenden unter unsern Zeitgenossen an eine solche
-Fernkraft und Reisegabe der Seele geglaubt hat. Das Schiff, das das
-Kind hergebracht hat, scheitert und geht unter; Antigonus wird von
-einem Bären zerrissen; Perdita von einem Schäfer in Pflege genommen.
-Nun räumt die Zeit die sechzehn Jahre weg: wenn der Vorhang sich wieder
-öffnet, ist in der neuen Generation aus der edeln Freundschaftsliebe
-zwischen Sizilien und Böhmen die echte innige Liebe zwischen Mann und
-Weib geworden, wo Naturtrieb, Seeleninnigkeit und geistige Achtung in
-einem beisammen sind: Perdita, die Schäferin, und Florizel, der Sohn
-des Königs von Böhmen, haben sich in Liebe gefunden.</p>
-
-<p>Nun entsteht aufs feinste und natürlichste, so daß es nicht eigentlich
-in die Aufmerksamkeit unsres Verstandes, nur in unsre Ahnung und unsre
-Lust eingeht, in allem, was in Böhmen geschieht, ein Gegenstück zu dem,
-was vordem auf Sizilien vor sich ging.</p>
-
-<p>Hier in Böhmen sind wir in der freien Natur, im ländlichen Leben, in
-Spiel und Tanz; wieder, wie einst am Königshof, kommt die Wut und
-stört die Liebe; die Wut des Königs von Böhmen ist es diesmal gegen
-den Prinzen Florizel, seinen Sohn, der eine Schäferstochter liebt und
-heimlich heiraten will; wie aber im ersten Teil Konvention, Pathos und
-Tragik walten, so hier durchaus Freiheit, Heiterkeit und Komik. Wir
-wissen von Anfang an, daß diesmal Natur und Adel vereint sind, daß
-Perdita die vermeintliche Schäferstochter ihrem Geliebten ebenbürtig
-ist; wir wissen, daß die Wut diesmal nicht zu tragischem Konflikt
-führen kann.</p>
-
-<p>Es ist diesen Stücken eigentümlich, daß Maske und Verkleidung gewählt
-wird, um gewagten Ernst aussprechen zu lassen. Im Zymbelin wird das
-gesunde Bauerntum den verderbten Höflingen gegenübergestellt, und
-die<span class="pagenum"><a name="Seite_263" id="Seite_263">[S. 263]</a></span> Bauern sind es, die das Vaterland retten; schließlich aber waren
-es doch nur verkleidete Bauern, waren es Ebenbürtige, war alles nur
-warnendes Spiel. Hier im Wintermärchen wird jede Gelegenheit benutzt,
-um von dem alten Schäfer und seinem Sohn in treuherzigem Ernst, von
-dem lustigen Spitzbuben Autolykus in überlegenem Spott, von Perdita in
-natürlichem Selbstgefühl am Hof und seiner Überhebung Kritik üben zu
-lassen. Stolz und freimütig ist dieses Naturkind Perdita; kaum kann sie
-sich enthalten, dem König ins Gesicht zu sagen,</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Die selbe Sonn’, die seinen Hof bestrahlt,</div>
- <div class="verse">Verberg’ ihr Antlitz unsrer Hütte nicht,</div>
- <div class="verse">Nein, schau’ auf beide;</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>aber sie ist damit das echte Kind ihrer Mutter; es kommt nicht zum
-wahren Gegensatz und zur wahren Ebenbürtigkeit der Bäuerin und des
-Fürsten; darf in diesen Dramen nur in Maske und Spiel Rousseausche
-Naturstimmung nicht zu Ereignis, bloß zu Wort kommen? Zu starkem,
-innigem und leidenschaftlichem Wort freilich; auch die Handlung
-läßt sich so an, als ob die Natur über die Standesunterschiede
-hinwegschritte, bis dann die letzte Wendung kommt. Der Prinz ist
-bereit, um seiner Liebe willen auf alle Vorrechte zu verzichten, es
-genügt ihm, sein Liebesgefühl zu erben und weiter nichts; der Minister
-Camillo ist gewillt, ihm zur Ehe mit dem Schäferkind zu verhelfen.</p>
-
-<p>In der Tat ist für Shakespeare der Adel, der Geblüt heißt, und der
-Vorrang, der diesem Geblüt zukommt, nicht bloß eine gesellschaftliche,
-sondern eine Naturtatsache. Dieser Adel, diese natürliche Auszeichnung
-vererbt und kumuliert sich, kann also nicht ohne weiteres für
-nichts, für bloße Konvention erachtet werden. Die ganze Schärfe
-von Shakespeares Kritik richtet sich gegen die Vertreter des Adels
-und Fürstentums, die nicht erwerben wollen oder können, was sie
-als Vätererbe besitzen; in den Waldszenen Zymbelins und verwandter
-Stücke, in den<span class="pagenum"><a name="Seite_264" id="Seite_264">[S. 264]</a></span> Dorfszenen des Wintermärchens kritisiert er nicht den
-Adel als Vererbung, sondern den Adel als Milieu, zeigt er, wie Leben
-und Erziehung in Natur und ländlicher Einfachheit so unsäglich viel
-gedeihlicher ist als in der Verderbtheit des Hofes. Manche seiner
-Gestalten gehen weiter und sind zu der Anschauung bereit, daß diese
-Verderbnis schon erblich, schon Verfall geworden ist, daß also der
-angeborene Adel Ausgenommener, Vornehmer nicht mehr in der Natur
-existiert; der Dichter selbst tut diesen Schritt noch nicht; vielleicht
-mußte er auch nur von späteren Generationen getan werden, weil das
-Leben des Adels, gegen das der Dichter seine Polemik richtete, in der
-Folgezeit nicht besser, nur schlimmer wurde und den natürlichen Vorzug
-der Privilegierten, der einmal Wirklichkeit war, allmählich in diesen
-Jahrhunderten vernichtete.</p>
-
-<p>Da der Geburtsadel in Shakespeares Zeit noch etwas anderes war als
-in unserer, da die Rückwirkung des Lebens auf den Keim noch nicht
-so verderbend gewirkt hatte, bot dieses Stück Natur ihm auch noch
-Probleme, die wir nicht ganz mehr so lebendig erfassen wie seine
-Zeit. Da ist vor allem das Problem der Auffrischung des Adels durch
-Volksblut, das Problem der Bastards, das Shakespeare immer wieder
-gereizt hat. Hier im Wintermärchen ist es wunderfeine Ironie, wie
-der, der bald zum Wüterich gegen seinen Sohn werden soll, König
-Polixenes, dem Landmädchen, das, ohne es zu wissen, eine Fürstin ist,
-von dem er aber demnächst vermeinen muß, sie verführe seinen Sohn den
-Prinzen zu einer unadligen Vermischung, Unterricht über den Wert der
-Bastardierung erteilt. In Perdita wie in den Söhnen Zymbelins bricht
-das fürstliche Blut immer durch; sie weiß nur nicht, was es ist, und
-nimmt es für Natur schlechtweg. Ihr vermeintlicher Vater, der alte
-Schäfer, schilt sie aus über ihre vornehmen Manieren; und wie sie sich
-dann entschließt, bei dem Fest und der Bedienung der Gäste mitzuhelfen,
-wählt sie die adlige Weise: sie<span class="pagenum"><a name="Seite_265" id="Seite_265">[S. 265]</a></span> begrüßt die Gäste mit Blumen. Da kommt
-nun die Rede auf eine Blume, die sie in ihrem Garten nicht duldet: der
-gestreifte Sommerveiel, den manche, sagt sie, auch den Bastard der
-Natur nennen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft12">Ich hörte,</div>
- <div class="verse">Nicht bloß die große schaffende Natur,</div>
- <div class="verse">Auch Kunst hab’ Teil an ihrer Buntheit.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Da belehrt er sie:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft11">Immer bleibt</div>
- <div class="verse">Die Kunst, von der Ihr sagt, sie woll’ Natur</div>
- <div class="verse">Verbessern, von Natur geschaffne Kunst.</div>
- <div class="verse">Ihr seht, holdselig Mädchen, wir vermählen</div>
- <div class="verse">Ein mild’res Pfropfreis mit dem wilden Stamm,</div>
- <div class="verse">Befruchten eine Rinde schlechter Art</div>
- <div class="verse">Durch edle Knospen. Dies ist eine Kunst,</div>
- <div class="verse">Die die Natur verbessert, nein, verändert;</div>
- <div class="verse">Doch diese Kunst ist selbst Natur.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Solche Blumen, solche Züchtungen, ermahnt er, solle sie nicht Bastarde
-nennen. Vielleicht müssen wir uns selbst mit unserer Phantasie einer
-vergangenen Zeit aufpfropfen, um den ganzen holden Liebreiz dieser
-Szene zu empfinden, wo derselbe Mann die Bastardierung rühmt, der dann,
-wo’s ihm und seinem Geschlecht ans Blut geht, wütend aufbegehrt, und wo
-wir doch als Eingeweihte im voraus wissen, daß die, die er mit Auge und
-Herz erst so hold und dann mit Konvention und Verstand so verächtlich
-findet, in jedem Betracht eine adlige Natur ist: dem Geblüt nach adlig
-und nicht vom verderbten Adelsleben, sondern von der Natur erzogen.
-Vielleicht aber wird es uns auf unserm Weg zur Zukunft hin gut tun,
-wenn wir uns lebendig auf diesen Standpunkt Shakespeares versetzen?
-Vielleicht ist unsre Zeit, die nichts von Züchtung und Erlesenheit
-weiß, nur ein Übergang und eine Zwischenstufe?</p>
-
-<p>Will die Aufführung mit der Wiedergabe dieses zweiten Teils dem
-Sinn der Dichtung gerecht werden, so ist es nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_266" id="Seite_266">[S. 266]</a></span> genug, in diesem
-vierten Akt, in den Szenen der weltunerfahrenen Bauern, des gerissenen
-Spitzbuben, des holden Liebespaars Anmut, Derbheit und Lustigkeit
-zu vereinigen und darüber dann die Wolke der Königswut streichen zu
-lassen. Es muß vielmehr, wie es fortwährend in Worten geschieht,
-so auch in der Stimmung dieser Szenen der Gegensatz zwischen der
-natürlichen Freiheit, die hier waltet, zu der gepreßten Hofluft des
-ersten Teils enthalten sein. Wir müssen nachträglich spüren, daß
-zwischen der konventionellen Hahnrei- und Despotenwut des Königs
-Leontes und den konventionellen Lastern des Hofes ein Zusammenhang
-besteht. Wir müssen begreifen, warum es Prinz Florizel auch am
-Hof seines Vaters nicht aushält und zu den Schäfern gegangen ist,
-warum Autolykus, der einst eine gute Stellung am Hofe und seine
-wohlgekleidete und -genährte Sicherheit hatte, lieber durchs Land
-streicht und sich mit Gaunereien durchhilft, als seine Freiheit und
-Heiterkeit wieder einzubüßen. Die Teile dürfen nicht von einander
-getrennt sein; der Dichter hat zwischen allen einen Zusammenhang
-hergestellt; es hat seinen guten Grund, warum Autolykus der freie
-Vagabund den Prinzen, der dem Hof entflieht und den Menschenadel in der
-reinen Natur sucht, lieb hat und seine Schelmenstreiche nur für ihn,
-nicht gegen ihn anlegt.</p>
-
-<p>Kommen wir von dem Gebiet der Freiheit, in dem Perditia und Florizel
-sich fanden, zum Hof des Königs Leontes zurück, so mutet uns die
-Wandlung, die dort, die vor allem in der Seele dieses Königs
-vorgegangen ist, an, als ob sie dieser Natur und Heiterkeit, von der
-wir herkommen, verwandt wäre. Indem wir, nach der argen Pressung in
-der wütigen Gewalttätigkeit, jetzt bei Tanz und Lied und Spiel und
-derber Schelmerei und Ironie waren, erlebten wir in der erleichterten
-Behaglichkeit, die in uns einzog, etwas, was der Befreiung des
-Konventions- und Affektsklaven entspricht, die in all der Zwischenzeit
-in<span class="pagenum"><a name="Seite_267" id="Seite_267">[S. 267]</a></span> unsrer Abwesenheit geschah. Wir glauben an sie, weil wir selbst in
-derselben Richtung entspannt wurden; weil die Freiheit der Natur das
-äußere Bild und die Vertretung der moralischen Freiheit ist. So löst
-sich nun alles: der Minister Camillo, einer der seltenen Ehrenmänner,
-die am Hofe aufrecht und selbständig bleiben, und Autolykus, der das
-Intrigieren, das er am Hofe gelernt hat, gern in Freiheit besorgt,
-bringen die Handlung in Gang: das Liebespaar flieht nach Sizilien, der
-König folgt ihm nach, und dort wird Perdita an den Gegenständen, die
-ihr Pflegevater bewahrt hat, und vor allem an der Ähnlichkeit mit der
-Mutter erkannt. So ist denn das Wunder geschehen, um dessentwillen
-Hermione in Abgeschiedenheit, ohne an einem Leben teilzunehmen, am
-Leben geblieben war: das Kind ist da, eine neue Zeit ist gekommen, eine
-neue Generation, eine neue Art Fürst, der den Adel in der natürlichen
-Freiheit aufgerichtet hat, und von innen, von Reue und Liebe und
-Vernunft her, ist Erneuerung und Befreiung auch über den König,
-ihren Gemahl gekommen. Der hat gelernt: der Jugendfreund, dem seine
-Eifersuchtswut galt, ist ihm jetzt der Bruder; und wie nun Hermione,
-von den liebenden Blicken dieses Freundes zuerst als lebendig erkannt,
-sich aus der Starrheit der Statue löst, da ruft Leontes, selbst wie ein
-aus langem, bösem Zauber Erlöster, den beiden, seiner Frau und seinem
-Freunde, zu:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">O vergebt,</div>
- <div class="verse">Daß zwischen eure heil’gen Blicke je</div>
- <div class="verse">Ich schnöden Argwohn warf.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Hermione aber scheint Blicke und Sprache nur noch für eines zu haben:
-für ihr Kind, auf das sie geharrt hat, das ihr aus der Freiheit
-geschenkt wird und in der Freiheit den Geliebten fand. Was immer auch
-dieser Verlorenen, dieser Perdita das Leben bringen wird: sie wird
-ein Weib sein, das, in sich den ererbten Keim des Adels tragend, in
-Freiheit aufgewachsen, von der Natur erzogen,<span class="pagenum"><a name="Seite_268" id="Seite_268">[S. 268]</a></span> ebenbürtig neben ihrem
-Gemahl stehen wird; in dieser Generation gibt es beim Mann nicht die
-Knechtschaft unter rohe Triebgewalt und Konvention, beim Weibe nicht
-die Versklavung unter den Mann; Mann und Weib, ein Paar in Natur,
-Freiheit, Adel.</p>
-
-<p>Das Märchen, das uns diese Dinge anschaulich und in Stimmung und in
-manchem Wort der Weisheit und Polemik zeigt, ohne je der Abstraktion
-oder Allegorie zu verfallen, das Wintermärchen ist zu Ende; mit kaltem
-Grauen hat es begonnen, mit Frühlingshoffnungen, durch die noch ernste
-Trauer webt, schließt es: das Märchen von Männerwut, Frauenheiligkeit,
-Frauengeist, Frauenklugheit und Frauengericht; das Märchen von den
-Sklaven der Affekte und Satzungen und von den Freien der Natur und des
-Adels. Es ist uns nicht im entferntesten so ausgelassen zumut wie dem
-frech gemeinen Klassenlosen und Enterbten Autolykus; aber das spüren
-wir doch, wie er’s beim ersten Auftreten fast im Jubel gesungen hat: es
-sprießt wieder unterm Schnee, die Liebe und die süße Zeit wollen wieder
-ins Land kommen, und das rote Blut herrscht allmächtig in der Blässe
-des Winters.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_269" id="Seite_269">[S. 269]</a></span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Der_Sturm">Der Sturm</h2>
-
-</div>
-
-<p class="initial">Mehr als einmal in diesen Betrachtungen habe ich Grund gehabt,
-Übersetzungen Schlegels als ungenügend oder falsch zu bezeichnen; oft
-habe ich auch stillschweigend bei ihm wie bei andern den Text von
-Stellen, die anzuführen waren, selbständig oder durch Aushilfe bei
-andern Übersetzern verbessert. All die Ungenauigkeiten, Irrtümer,
-Lässigkeiten und Abschwächungen, die man bei Schlegel gefunden hat
-und noch findet, ändern aber nichts daran, daß er der größte, daß
-er der wundervolle Übersetzer Shakespeares in die deutsche Sprache
-ist. Es bleibt ein noch immer unersetzter Verlust, daß er nicht alle
-Stücke Shakespeares übersetzt hat; lange schon haben wir ihn vermißt;
-in der Folge von Stücken, die hier behandelt werden, war Hamlet das
-letzte, dessen deutsche Fassung von ihm stammt. Der Sturm aber ist
-wieder von Schlegel übersetzt, und in den entscheidenden Höhepunkten
-wenigstens ist diese Nachdichtung ganz so trefflich wie seine andern
-Übersetzungen; in den lyrischen Partien freilich fehlt dem deutschen
-Ausdruck manchmal die Sicherheit und Notwendigkeit, der feste Sitz des
-Bildes und der Stimmung im Rhythmus. Aber selbst wenn diese oder sonst
-eine deutsche Fassung so gut wäre, wie sie irgend sein kann, sollte
-jeder, der dazu imstande ist, mit oder ohne daneben gelegte Übersetzung
-den Sturm im Original lesen: diese Mischung von Zartheit und Derbheit,
-Roheit und Lieblichkeit, Feinheit und Gemeinheit, Naturgewalt und
-Geistesschärfe, inniger Lyrik, plumper Prosa und schließlich noch
-dämonisch elementarer Schlechtigkeit im hohen Ton der Verssprache ist
-ganz unnachahmlich.</p>
-
-<p>Die Tradition sagt, der Sturm sei Shakespeares letztes Stück; es
-spricht nichts dagegen, unser Wunsch spricht dafür, beweisen läßt es
-sich nicht; der Zymbelin, das Wintermärchen, auch Heinrich VIII.
-stammen aus derselben<span class="pagenum"><a name="Seite_270" id="Seite_270">[S. 270]</a></span> Zeit, den Jahren zwischen 1610 und 1612. Die
-Herausgeber der Gesamtausgabe von 1623 haben den Sturm als erste in
-der Reihe der Komödien gebracht und damit an die Spitze der ganzen
-Ausgabe gestellt; auch diesen Umstand können wir, da das Gedicht in der
-Fassung, in der es uns einzig vorliegt, ein ganz spätes Stück sein muß,
-so deuten, als hätten Shakespeares Freunde diese erste Gesamtausgabe
-mit seinem letzten Drama als seinem Vermächtnis und einem weihevollen
-und tief persönlichen Dokument beginnen wollen.</p>
-
-<p>Was unser Wissen auf Grund von äußeren Tatsachen angeht, so steht
-eigentlich nur fest, daß der Sturm im Jahre 1613 schon vorgelegen
-ist: da wird er von Ben Jonson polemisch erwähnt. Daß Shakespeare
-wahrscheinlich eine Stelle in Montaignes Essays benutzt hat,
-deren englische Übersetzung 1603 erschienen ist, sagt uns für die
-Abfassungszeit so gut wie nichts; und daß er den Bericht Silvester
-Jourdans über eine Entdeckung der Bermudas, sonst die Teufelsinseln
-genannt, vorher gekannt habe und nicht vor 1610, wo er im Druck
-erschien, gekannt haben könne, ist eben auch nur wahrscheinlich. Und
-gewisse Dokumente, die Nachrichten über Aufführungen bei Hof 1611 und
-&mdash; zur Hochzeit des Winterkönigs &mdash; 1613 bringen, stehn im Verdacht der
-Fälschung.</p>
-
-<p>Wir wissen gar nichts davon, wo Shakespeare den Stoff her hat. Aber
-es besteht eine Ähnlichkeit, die nicht zufällig sein kann, zwischen
-Handlungsteilen des Sturm und der „Komödia von der schönen Sidea“ des
-im Jahre 1605 schon gestorbenen deutschen Dramatikers Jakob Ayrer. Was
-uns von der Handlung dieser Komödie angeht, ist folgendes: Der Fürst
-in Littau, Sideas Vater, ist vom Fürsten in der Wiltau seines Reichs
-beraubt und in die Wildnis getrieben worden. Mit einem Zauberstab bannt
-er den Teufel Runcifall, der ihm prophezeit, er werde dadurch wieder
-zur Macht gelangen, daß er den Sohn seines Feindes<span class="pagenum"><a name="Seite_271" id="Seite_271">[S. 271]</a></span> gefangennehme.
-Dies geschieht denn auch mit Hilfe des Zauberstabs; der gefangene
-Sohn des Feindes wird streng gehalten, muß Klötze schleppen und Holz
-hacken; Sidea ist seine Wärterin, die bald Mitleid mit ihm empfindet
-und sich von ihm entführen läßt. Nach allerlei Abenteuern, die mit
-Shakespeares Stück keine Berührung haben, werden sie vermählt; es
-kommt zur Versöhnung und zur Wiedereinsetzung von Sideas Vater in sein
-Reich. Das Stück enthält sonst noch eine Menge meist komische Dinge,
-die nichts mit dem Sturm zu tun haben. Daß Shakespeare nun dieses
-Stück gekannt und daraus den Stoff zu seinem Gedicht bezogen habe,
-ist sehr unwahrscheinlich; der Weg eines Dramas, und gar eines noch
-ungedruckten &mdash; erst 1618 erschienen Ayrers Theaterstücke im Druck
-&mdash; von Deutschland nach England war bedeutend weiter als von England
-nach Deutschland. Überdies gibt es eine Novelle in einer Sammlung des
-Spaniers Antonio de Eslava, die ähnliche wunderbare und zauberhafte
-Vorfälle an den Streit eines Königs von Bulgarien und eines Kaisers von
-Konstantinopel anknüpft; diese Erzählung wurde 1609 oder 1610 gedruckt,
-und insofern spräche nichts dagegen, daß Shakespeare, Ayrer und dieser
-Spanier aus einer gemeinsamen Quelle, einer uns unbekannten Novelle
-geschöpft haben. Den Schauplatz und den Namen der Fürstenhäuser bei
-einer solchen Benutzung einer Vorlage jedesmal zu verändern, war in der
-Zeit bei Dichtern und Handwerkern allgemein üblich.</p>
-
-<p>Nun spricht mir aber einiges dafür, daß der Zusammenhang noch
-komplizierter ist. Ich möchte mich einer Vermutung anschließen, die
-Tieck geäußert hat: daß der Nürnberger Ratsschreiber Jakob Ayrer
-von einem aus England stammenden Stück angeregt wurde, das er von
-den sogenannten englischen Komödianten in deutscher Sprache gehört
-haben kann. Der Teufel, der bei Ayrer in den Dienst des Zauberfürsten
-gezwungen wird, heißt Runcifall, und dieser Name<span class="pagenum"><a name="Seite_272" id="Seite_272">[S. 272]</a></span> weist auf englische
-Herkunft hin: Runcival, von Ronceval aus der Rolandsage stammend,
-heißt im Englischen Riese; und Ayrers Teufel hat nichts Geistiges oder
-Ätherisches an sich wie Ariel, sondern ist ein ungeschlachter Kerl mit
-Riesenkräften.</p>
-
-<p>Sind wir aber von Ayrers Stück her erst auf die Vermutung geführt
-worden, daß es vor unserm Sturm ein englisches Stück gab, das die
-nämliche Hauptfabel behandelte, so können wir der Annahme nicht wohl
-ausweichen, daß nicht bloß der Deutsche Ayrer, sondern vor allem der
-englische Schauspieler und Theaterdichter Shakespeare mit diesem
-früheren Zauberstück etwas zu tun hatte. Wir reden da freilich nur
-von Möglichkeiten, und mit jeder weiteren Vermutung, die wir auf
-eine Vermutung bauen, wird unser Weg luftiger. Nachdem ich das
-aber gesagt habe, darf ich den Mut haben, noch weiter zu muten:
-für ganz ausgeschlossen kann ich’s nicht halten, daß das Stück,
-dessen Bearbeitung Ayrer vielleicht kennen gelernt hat, ein verloren
-gegangenes Stück des jungen Shakespeare war, daß also unser Sturm die
-reife Bearbeitung eines Jugendwerks wäre. Was mich dazu bringt, mit
-dieser Möglichkeit zu spielen, ist einmal das Stück, das Meres 1598 in
-seiner „Palladis Tamia“ neben zwölf andern, darunter der Verlorenen
-Liebesmüh’ als eine von Shakespeares Komödien rühmt: <em>Love’s labour’s
-won</em>, Gewonnene Liebesmüh’. Dieser Titel würde für eine jugendliche
-Behandlung des Zaubermärchens ausgezeichnet passen; und die Versuche
-der meisten Ausleger, ihn einem der vorhandenen Lustspiele Shakespeares
-zuzuschreiben, das der Dichter später anders benannt hätte, wollen mir
-nicht recht einleuchten; Titel wie Wie es euch gefällt oder Ende gut,
-alles gut oder Viel Lärm um nichts deuten darauf hin, daß Shakespeare
-sich für Stücke dieser Art gern mit einem Namen begnügte, auch wenn
-er nicht viel besagte; wenn zum Beispiel, wie meist angenommen wird,
-Ende gut, alles gut früher Gewonnene<span class="pagenum"><a name="Seite_273" id="Seite_273">[S. 273]</a></span> Liebesmüh’ geheißen hätte,
-würde ich nicht recht einsehen, was Shakespeare dazu gebracht haben
-könnte, diesen ausgezeichneten Titel, unter dem sein Stück schon so
-früh Berühmtheit gefunden hätte, wieder aufzugeben. Dagegen wäre mit
-meiner Annahme durchaus erklärt, warum das schon 1598 berühmte Stück
-Gewonnene Liebesmüh’ von dem Herausgeber der Gesamtausgabe nicht
-aufgenommen wurde: weil es nur eine unvollkommene erste Fassung eines
-so vollendeten Stückes wie Der Sturm wäre. Überdies aber finde ich
-in unserm Sturm eine Stelle, über die ich nur mit Hilfe der Annahme
-hinwegkomme, daß sie ein Rest aus einer früheren Fassung ist.</p>
-
-<p>Es ist sehr wahrscheinlich, daß in der Vorlage, nach der Ayrer
-arbeitete, die beiden Fürsten, deren einer den andern entthronte, keine
-Brüder waren; der biedere Mann hätte gewiß eine solche Steigerung
-des Konfliktes, wenn er sie vorgefunden hätte, nicht getilgt; sowohl
-bei ihm wie bei dem spanischen Erzähler handelt es sich um einfache,
-nicht durch Verwandtschaft und besondere Ruchlosigkeit komplizierte
-Feindschaft. Die Stelle, die ich meine, deutet mir nun darauf hin,
-daß erst der reife Shakespeare diese Änderung der äußern Handlung
-vorgenommen hat und sich so die Gelegenheit verschafft hat, nochmals
-auf das Rachethema seines Hamlet zurückzukommen, und daß in seinem
-eigenen Stück die Feinde anfangs keine Brüder waren. Jetzt ist es so,
-daß an der ruchlosen Entthronung und Aussetzung Prosperos, des Herzogs
-von Mailand, zwei Fürsten beteiligt sind: sein Bruder Antonio und
-Alonso, der König von Neapel. Dieser Alonso hat einen Sohn Ferdinand,
-und dieser bringt mit seiner von Prospero geförderten Liebe zu
-Miranda die Feindschaft zur Aufhebung und Versöhnung und brüderliche
-Menschenliebe zum Sieg. Sowie Shakespeare die Feinde zu Brüdern machte,
-konnte der Jüngling, der beim ersten Blick in Liebe zu Miranda fiel,
-nicht mehr der Sohn des<span class="pagenum"><a name="Seite_274" id="Seite_274">[S. 274]</a></span> Usurpators von Mailand sein, weil er sonst der
-blutsverwandte Vetter seiner Geliebten gewesen wäre, und das ging nicht
-an; der Sohn des Feindes wiederum mußte er aber sein, und so mußte ein
-zweiter Feind in Gestalt des Königs von Neapel erfunden werden, unter
-dessen Lehnsoberhoheit der Usurpator Mailand verräterisch gebracht
-hatte. Diese Entwicklung der Fabel folgere ich aus der Tatsache,
-daß nur bei Shakespeare von Bruderfeinden die Rede ist, und aus der
-einzigen Stelle, die ich jetzt zu nennen habe. Wie Ferdinand zum
-ersten Mal vor Prospero erscheint, erwähnt er in dem Bericht von dem
-Schiffbruch, den er erstattet, einen Sohn des Herzogs von Mailand, der
-auch mit untergegangen wäre:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Der Herzog Mailands und sein guter Sohn</div>
- <div class="verse">Auch unter dieser Zahl, &mdash;</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>worauf Prospero, der nur sich als echten Herzog von Mailand anerkennt,
-beiseite bemerkt:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft5">Der Herzog Mailands</div>
- <div class="verse">Und seine beßre Tochter könnten leicht</div>
- <div class="verse">Dich widerlegen &mdash; &mdash;</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Wir wissen aber, daß in Wahrheit niemand untergegangen ist; feierlich
-versichert Prospero seinem Kind von vornherein,</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Daß keine Seele, nein, kein Haar gekrümmt</div>
- <div class="verse">Ist irgend einer Kreatur im Schiff &mdash;.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Wo ist aber dann dieser Sohn des Usurpators von Mailand, dieser Neffe
-Prosperos hingekommen? Nur dies einzige Mal wird er erwähnt; wir
-finden ihn nicht bei den Gestrandeten, er existiert gar nicht, die
-Stelle ist nur aus Versehen stehen geblieben. Sie zeigt mir aber, daß
-Shakespeares Fabel zuerst so aussah wie die Ayrers: zwei Feinde, nicht
-verwandt, der eine hat einen Sohn, der andre eine Tochter, die zwei
-werden mit Hilfe mächtigen Zaubers ein Liebespaar. Als dann die Feinde
-Brüder wurden, mußte ein neuer Sohn und zu ihm, da er durchaus der Sohn
-eines Feindes sein mußte, ein neuer Feind als Vater<span class="pagenum"><a name="Seite_275" id="Seite_275">[S. 275]</a></span> erfunden werden;
-der ursprüngliche Sohn blieb zuerst auch noch im Stück; späterhin
-aber &mdash; vielleicht, als aus wichtigem inneren Grund noch ein neuer
-Bruder, der Bruder des Königs von Neapel, Sebastian eingeführt wurde
-&mdash; konnte Shakespeare mit dem ersten Sohn nichts mehr anfangen, und so
-existiert er nur noch in dieser einen Erwähnung, die merkwürdigerweise
-aus dem Munde des andern Sohnes kommt, der ihn verdrängt hat. Ist
-aber diese meine Erklärung der rätselhaften Stelle richtig, wie mich
-wahrscheinlich dünkt, weil sie die Veränderung, die Shakespeare mit der
-überlieferten Fabel vornahm, auf Gründe innerer Handlung zurückführt,
-so muß man annehmen, daß Shakespeares Stück auf einer früheren Stufe
-eine Handlung hatte, die der von Ayrer behandelten einfacheren Fabel
-entsprach, und so findet die Annahme, Ayrers Vorlage könnte ein Stück
-des jüngeren Shakespeare gewesen sein, eine Stütze.</p>
-
-<p>Ich wiederhole: von alledem wissen wir nichts. Es kann so sein, und
-es ist sogar einer der ausphantasierten Zusammenhänge, in die ich ein
-wenig verliebt bin; aber würden irgendwelche bestimmte Daten entdeckt,
-so wäre die plausible Phantasie vielleicht widerlegt. Denkt man aber
-daran, wie allgemein üblich es in der Shakespearephilologie ist, auf
-eine nicht ganz sichere Vermutung oder nicht ganz eindeutige Tatsache
-ganze Häuser zu bauen, so möge man meine mit geziemender Vorsicht
-vorgebrachte Hypothese, wenn man nicht an sie glaubt, wenigstens zur
-Erschütterung anderer Hypothesen benutzen, die nicht besser begründet
-sind.</p>
-
-<p>Daß der Geist dieses Stückes nur von Shakespeare, und nur vom
-reifen Shakespeare stammt, ist sicher, und so gut wie sicher, daß
-viele Einzelzüge der äußern Handlung, die zur Motivierung und zur
-Gegenüberstellung der drei Reiche dienen, wie die Gestalten Calibans
-und Ariels, die Repräsentanten der niedern Sphäre Trinkulo und<span class="pagenum"><a name="Seite_276" id="Seite_276">[S. 276]</a></span>
-Stefano, der Rat Gonzalo, der neue Brudermordversuch, von ihm gedichtet
-sind.</p>
-
-<p>Immer hat man in dieser Komödie etwas besonders Weihevolles und
-eine tiefere Bedeutung gefunden; hat man schon Hamlet mit Goethes
-Faust verglichen, so hat man, wozu sehr viel Grund besteht, den
-Sturm wiederum mit Hamlet und auch mit Faust in Parallele gesetzt;
-Strindberg, dem der Sturm mit seinem Geist der Vergebung und Versöhnung
-in seiner letzten Zeit besonders nah gehen mußte, hat sogar daran
-erinnert, daß der Name Prospero eine ähnliche Bedeutung hat wie
-Faustus: der Begünstigte, der Götterliebling, der Gedeihliche.</p>
-
-<p>Immer hat man bei diesem Geistesfürsten auch an eine besondere
-Beziehung zu Shakespeare dem Dichter und zu seinem Abschied von der
-Produktion gedacht; und auch dazu besteht Grund genug. In der Tat darf
-man sich bei dem Drama von Prospero, dem Fürsten der Geister, der sein
-letztes und höchstes Werk, das Werk der Versöhnung anstatt der Rache
-tut, an Shakespeare und die Werke seiner letzten Periode gemahnen
-lassen, an die alles verzeihende Milde am Schluß des Zymbelin, an das
-Wintermärchen, an die Gestalt Katharinas in Heinrich VIII.; an
-Shakespeare bei dem Geisterkönig, der nun den Zauberstab in die Erde
-versenken und sich zur letzten Ruhe bereiten will. Und man darf noch
-weitergehn, man darf im allgemeinen bei dem Stück im Sinne haben, daß
-dieser Dichter in seinem Denken, Wollen, Phantasieren, im Gefühl seines
-Könnens und seiner Berufung immer mit den Dingen des Regiments, der
-Ordnung, der Gesellschaft, des Staats zu tun hatte und daß ihm doch
-so gut wie jede tatsächliche Einwirkung, jede Stellung gebieterischer
-Art genommen war. Dichten ist immer Resignation, das Phantasieland
-immer ein Exil, Form immer Beschränkung, Metrum der Verse und Maß
-der Gesinnung beim genialen Menschen immer nur der Maßlosigkeit
-abgerungen, und Shakespeare,<span class="pagenum"><a name="Seite_277" id="Seite_277">[S. 277]</a></span> wie jeder überragend große Mann des
-Geistes, fühlte sich von seinen Zeitgenossen, von den Gewalthabern
-der Öffentlichkeit in die Einsamkeit verbannt und wie auf eine Insel
-gestoßen. Von dieser seiner von Wildheit umbrandeten Insel des Geistes
-aus hat er dann, wie mit Zaubermitteln, die aus der Entfernung wirken,
-alle Elemente der Natur und alle Geistermacht in Bewegung gesetzt und
-dann doch noch, tief in die Seelen hinein gewirkt; ohne irgend welche
-physische, tödliche Macht, nur durch die Gewalt des Worts, durch
-eine geistige Magie ohnegleichen hat er gezwickt, geplagt, geneckt,
-bloßgestellt, entlarvt, vergolten und gestraft: und nun, ganz reif,
-ruhig, friedfertig, müde geworden hat er nur noch Werke der Liebe,
-der Versöhnung, des zauberischen Spiels getan, um schließlich den
-Zauberstab niederzulegen, sich von allem zurückzuziehen und zum Sterben
-zu gehen.</p>
-
-<p>All das darf und soll uns das Stück in seinen Höhepunkten immer wieder
-umschweben, darf die seltsamen Vorgänge mit Weiterem, Tieferem, dessen
-Zeichen und Ausdruck sie sind, in Verbindung bringen; doch mehr auch
-nicht. Abgesehen von einer kleinen festlich-lyrisch-mythologischen
-Einlage, in der sich Shakespeare dem Zeitgeschmack anbequemt, ist
-er auch in diesem mit Bedeutung geladenen Drama keineswegs ein
-Allegoriker; die Vorgänge enthalten die Bedeutung in sich; sie weisen
-nicht auf Bedeutungen hin, die irgendwo draußen wären. Keineswegs
-dürfen wir meinen, es seien Rätsel oder Chiffern zu raten, und Ariel,
-Miranda, der Liebesbund, Caliban usw. bedeuteten das und das. Diese
-Gestalten und Vorgänge bedeuten sich selbst; die gesamte Handlung,
-die äußere wie die innere, erleben wir in aller Märchenhaftigkeit als
-Wirklichkeit und gewahren so mit allen Sinnen, im Gemüt und im Denken
-ein sinnvolles Spiel von der Überwindung und Rache für Gewalttat nicht
-durch Blut und Mord, sondern durch Geistesmacht, der die Natur mit all
-ihrem Bösen und Guten dienstbar ist.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_278" id="Seite_278">[S. 278]</a></span></p>
-
-<p>Und so viel wir uns durch eine allegorische Deutung nehmen,
-beeinträchtigen, fälschen würden, so verkehrt wäre auch der Versuch
-einer rationalistischen Erklärung. Zu solcher natürlichen Erklärung der
-Wunder dieses Schauspiels gäbe sich mancherlei her: verhärtete Leute,
-die schlimme Dinge auf dem Gewissen haben, sind, könnte man sagen,
-an einer Fieberinsel gestrandet; in der Krankheit kommen allerlei
-Wahnvorstellungen und Besessenheiten über sie, die alten Sünden
-erwachen und nehmen die Form von Halluzinationen an. Auch hier ist es
-so, daß wir all dessen gedenken, daß uns solche Begleitvorstellungen
-auftauchen dürfen; die Welt der Seele ist in allen Formen und
-Verkleidungen, seien sie Musik oder Begriffssprache oder Märchen oder
-Krankengeschichten, dieselbe; aber Shakespeares Ganzes und Echtes haben
-wir nur, wenn wir ins Land seiner Dichtung gehen und diese Zauberwelt
-drei Stunden lang als Wirklichkeit nehmen.</p>
-
-<p>Auch darnach brauchen wir, hier so wenig wie anderswo bei Shakespeare,
-viel zu fragen, wie weit er an solche Geister und Dämonen geglaubt
-hat. Daß er in Glaubensvorstellungen irgendwelcher bestimmten
-Einkleidung nicht befangen, daß er nicht ihr Sklave war, daß sein die
-Religion als Kunst war, die unsre Romantiker als Ironie begründen
-wollten, geht daraus hervor, daß Vorstellungen abergläubischer Art
-sich ihm niemals da einschlichen, wo sie nicht hingehörten. So war es
-für seine Ausdrucksgewalt, für den Reichtum seiner Motive, für die
-Selbstverständlichkeit, mit der er sich in den Mythologien der Antike,
-der Christenheit, der Naturvölker und niederen Stände bewegte, ein
-bedeutender Vorteil, daß solche Vorstellungen zu seiner Zeit im Volk
-wie in der gelehrten Literatur völlig lebendig waren; der Zeitgeist
-im allgemeinen glaubte an Hexen, Teufel, Geister, Elfen, magische
-Bücher und Beschwörungsformeln und an die ausnahmsweise Möglichkeit
-des Verkehrs zwischen Menschen und dämonischen<span class="pagenum"><a name="Seite_279" id="Seite_279">[S. 279]</a></span> Mächten. Ich habe
-schon früher gezeigt, wie dieser Glaube mit der Naturwissenschaft,
-mit dem Versuch, das neue Wissen zu einem ungeheuern Können zu
-steigern, die Religion durch die Wissenschaft zu erneuern und zur
-übergewaltigen Macht des Geistes zu erheben, in engster Beziehung
-stand; es darf hinzugefügt werden, daß unsre strenge, kahle, logische
-Scheidung zwischen einer berichteten Tatsache, an die man glaubt, und
-der tieferen Bedeutung, dem Sinn, den ein solcher Bericht, etwa ein
-heiliges Dogma ausdrückt und der diese geglaubten Tatsachen von den
-Gefühlen unendlichen Hinüberlangens, Ausgreifens und Aufschwebens
-begleiten läßt, so daß ein Jauchzen und eine Gewißheit, die selige
-Schau der Wahrheit in uns ist, &mdash; daß diese Scheidung und dieses
-Unvermögen zum Mythos dem Zeitalter des Glaubens, dem die Renaissance
-gerade noch angehört, so fremd waren, wie uns in Wahrheit dieser echte
-Glaube fremd geworden ist: wir kennen nicht mehr die Erschütterung
-und Durchdrungenheit durch das Epische, durch die Erzählung von
-Geschehnissen, in der sich der Sinn und die Hinweisung auf ewige, über
-die Sinnenwelt hinausführende Bedeutung birgt. Shakespeare steht dieser
-Welt des Mythus, des Dogmas, des Kultus als ein Bewältiger gegenüber,
-der gerade noch fähig ist, sich überwältigen zu lassen; als ein Heller,
-der, wie im Licht, so noch in der Flamme steht; als ein Freier, der
-die Ehrfurcht noch nicht verlernt hat; als ein Weiser schließlich,
-der noch ein Kind sein kann. Er steht der Zeit noch nahe, in der in
-Deutschland jener Georgius Sabellicus durchs Land zog, der sich den
-jüngeren Faustus nannte; und sein Zeitgenosse war Giordano Bruno, &mdash;
-mit dem er in jungen Jahren sogar persönlich verkehrt haben könnte.
-Wie in der Luther- und Faust- und Hamletstadt Wittenberg, so auch in
-London hat der italienische Genius des Lichts und der Flamme längere
-Zeit gelebt; der junge Shakespeare war damals schon in London, und es
-spricht gar<span class="pagenum"><a name="Seite_280" id="Seite_280">[S. 280]</a></span> nichts dagegen, daß Bruno, der dem Philipp Sidney ein Buch
-gewidmet hat, den jungen Dichtersmann persönlich kennen gelernt haben
-könnte. In ihm wäre Shakespeare dem genialsten Vertreter des Typus, der
-zugleich Ketzer und Magier, Gläubiger und Naturforscher, Philosoph und
-Mystiker war und dem das Element des Geistes mit Spiel und Neckerei
-und satirischer Plage der Bösen und Dummen in engster Beziehung stand,
-nahe getreten; dem Vertreter des Typus, der mit Faust und Prospero zur
-dichterischen Mythusgestalt erhoben worden ist.</p>
-
-<p>Eines aber bringt Shakespeares Sturm und die Stellung seines Prospero
-in Gegensatz wie zu der Rolle der Geister und Elementardämonen in
-Macbeth und Sommernachtstraum so zur Faustsage noch in ihrer letzten,
-höchsten Gestalt bei Goethe.</p>
-
-<p>Im Macbeth und im Sommernachtstraum kommt es zu keinem Bunde der
-Geisterwelt mit den Menschen, zu keiner Dienstbarkeit: was innen in
-den Menschen schon dämonisch, lockend, verführerisch, irreführend da
-ist, scheint draußen in der Natur noch einmal, parallel, wie eine
-Spiegelung, zu leben; das Reich der Geister ist dem Seelenleben des
-Menschen wie eine Verstärkung oder wie das Quellgebiet, aus dem all
-seine wilden Triebe zu fließen scheinen. Im Sommernachtstraum halten
-sich die Geister in kühler Ferne; sie greifen wohl ein, necken, hetzen,
-plagen oder begünstigen; aber der Mensch hat keinen Einfluß auf sie
-und keine unmittelbare Kenntnis von ihnen; sie sind, was bei ihrem
-schwebenden, flitzenden Wesen ganz gut zusammengeht, so scheu, wie
-sie zudringlich sind. Daß Macbeth hinwiederum sich mit ihnen einläßt,
-ist ein Sinken, hinab in das höllische Reich, das auch drunten in ihm
-wohnt. Die Hexen und ihre Meisterin führen ihr Werk durch; der Mensch,
-der ihnen verfallen ist, erfährt nicht mehr von ihnen, als sie wollen;
-er hat keine Macht über sie.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_281" id="Seite_281">[S. 281]</a></span></p>
-
-<p>Faust und Prospero haben Macht über die Geister; die sind ihre
-Diener. Faust aber ist nur dadurch Herr über dämonische Gewalten
-und ihre einzelnen Leistungen, die sie ihm für bestimmte Frist
-gewähren, daß er der Teufelsmacht von einem bestimmten Punkt ab ein
-für allemal verfallen ist; er darf ihr eine Weile gebieten, weil er
-ihr ewig untertan sein soll. So wäre es für Fausts Bewußtsein selbst
-noch bei Goethe, wenn man es so genau nähme, wie man es für diese
-Gesamtdichtung freilich nicht darf; man muß sie läßlich nehmen, wenn
-man nicht Unbestimmtheiten und Schwankungen finden will statt der
-Einheit, die Goethe meinte, als er sich entschloß, ein Werk doch noch
-zu vollenden, dessen erster Teil ihm fremd geworden war; daß der
-Böse, der dem Menschen dient, damit wieder Gottes Plänen mit dieser
-Menschen-Entelechie hilft und sie zur Gnade und in ihre Steigerung
-hinein reizt, geht in Fausts eigenes Gefühl von seinem Verhältnis zu
-Mephisto nicht eigentlich ein.</p>
-
-<p>Prospero allein hat seine volle Menschenfreiheit bewahrt und durch
-seinen Zwang über die Geister gesteigert; er hat sich zu nichts
-verpflichtet, ist in nichts untertan oder angetastet; es ist keine
-Rede von Höllendienst oder schwarzer Magie; was uns alle in Lüften
-umspielt und doch in seiner ungebundenen Freiheit, von uns unbehelligt
-und ungewahrt bleibt, hat er erkannt und eingefangen, so wie der Müller
-den Wassergeist fängt und seine Mühle treiben läßt oder wie wir sonst
-Naturkräfte zähmen; ihm, dem Mann des überlegenen Denkens, dient die
-Natur mit ihren schöpferischen, ihren bösen und guten Kräften nach
-seiner Bestimmung, so wie wir den Blitz eingefangen haben und zu
-stillem Leuchten und rastloser Arbeit bringen; er lenkt die Geister,
-wohin er will; er zwingt sie, beherrscht sie, ist Fürst über sie. Er
-hat gelernt, sich der Mittel zu bedienen, diese Kräfte zu rufen; er
-tut es, solange und wie er will, als einer, der es darf, weil er dazu
-berufen ist; und<span class="pagenum"><a name="Seite_282" id="Seite_282">[S. 282]</a></span> er läßt es dann wieder, ganz freiwillig; niemandem
-verantwortlich als sich allein. Freilich ist er in dieser gesteigerten
-Sphäre genau so irgendwie beschränkt, wie der Mensch immer; bis zu
-einer bestimmten Grenze reicht seine Macht, nicht weiter; bestimmte
-Geister dienen ihm, andre existieren nicht für ihn, er kann sie nicht
-rufen. Und er muß die Dämonen in ihrer eigenen Sphäre und Begrenzung
-lassen und sich ihrer Natur anpassen, wenn er sie nutzen will; muß
-leicht und wie fliegend und lieblich schmeichlerisch kosend mit Ariel
-umgehen und hat ein tragisches Erlebnis mit Caliban, weil er sich
-unterfängt, ihn erziehen und heben zu wollen; aber die Strafe, die
-ihn darnach trifft, ist eben die natürliche Folge dessen, was er tut:
-Enttäuschung und Rückschlag; in dieser Übernatur geht alles natürlich
-zu, und dieser Übermensch steigt oder fällt nie aus dem Menschlichen.
-Er muß geduldig sich in die Bedingungen seiner Existenz fügen, muß
-auch die Gelegenheit zu seiner Vergeltung in Ruhe abwarten: er ist ein
-erhöhter Mensch, aber in keinem Punkte ein Unbedingter.</p>
-
-<p>Hier also sind die Elementardämonen, der luftig neckische, feenhafte
-Geist wie das Wüsteste und Böseste in den untern Bezirken der Natur,
-in den Dienst des überlegenen, freien Menschengeistes gezwungen.
-Die Menschenkraft, die Kraft des Geistes, Kraft der Vernunft wie
-des Gemüts, ist sieghaft oben; keinerlei Sünde oder Frevel, keine
-Verschuldung, kein Zugeständnis an feindliche Mächte ist für den
-Magier mit seinem Tun verbunden; es ist alles hell, heiter; der
-Sproß eines Teufels und einer Hexe wird ohne Gnade in den Dienst
-gezwungen und, soweit es nur irgend geht, unschädlich gemacht und
-vom Menschlichen überwunden; Sprengstoff wird immer zerstörerisch
-bleiben, und vergeblich wäre ein erzieherisches Bemühen, ihn etwa in
-Pflanzensamen zu verwandeln; aber der Mensch kann die zerstörende Kraft
-zu den Zwecken seines Bauens verwenden. So übt Prospero die Macht des
-Menschlichen über die von<span class="pagenum"><a name="Seite_283" id="Seite_283">[S. 283]</a></span> Geist und Kraft durchflutete Natur; nicht
-zu Werken der Technik oder irgend eines Genusses; die Gleichnisse aus
-diesen Bereichen waren Gleichnisse, nichts weiter; er lebt auf seiner
-verlorenen Insel mit seinem Kinde das Dasein einfacher Menschen; er
-läßt sich keinen Palast bauen und keine Schätze herbeischleppen,
-sondern Brennholz in seine Hütte, damit sie nicht frieren; all sein
-Sinnen und herrschendes Walten gilt nur der Seelentat, sich und
-seinem Kinde durch Geisteskraft das Leben zu wahren, das er nach
-menschlichem Alltagsermessen verwirkt hatte, und die rohe Gewalt der
-Menschenniedertracht, die ihn überwältigt und wie ermordet hatte,
-durch den Geist und, wenn’s zum Letzten kommt, durch die Liebe zu
-besiegen; durchaus verdient Prospero den Namen, den Goethe in seinen
-„Geheimnissen“ einem so höchst wunderbaren Mann des Geistes geben
-wollte, den Namen Humanus. In seinem Faust hat Goethe das herrliche
-Wunderwerk vollbracht, in dem himmlischen Zusammenhang, der vom
-Prolog bis zum Epilog im Himmel geht, die Gottesmacht zu entteufeln,
-zu entmenschen, zu entchristen; Shakespeare in seinem Prospero hat
-den Menschen entchristet und hat einen Mann geformt, der ein Freier,
-in Reinheit, in Adel, in Schönheit, mit gutem Gewissen, weil in Güte
-herrlich den Elementen gebietet. Was für eine unsägliche, was für eine
-das Menschenleben von Generationen und Generationen für Jahrtausende
-vorwegnehmende Tragik liegt aber darin, daß dieser Reinste und Größte
-und Höchste und Mächtigste der Sterblichen, nachdem er seiner Seele
-Genugtuung geschaffen und an die Stelle des Hasses die Liebe gesetzt
-hat, am Leben, an der Natur, am Geiste für seine Person genug hat, zur
-Seite geht und sich zum Verstummen und Verscheiden rüstet. Das ist für
-mich der Gipfel der Renaissance und damit der bisher erreichte Gipfel
-unsrer neueren Menschheit: der vollendet zur Herrlichkeit gediehene
-Personalismus, der in seiner Glorie resigniert;<span class="pagenum"><a name="Seite_284" id="Seite_284">[S. 284]</a></span> ganz und gar das
-Gegenbild zu dem Christus, der vom Marterholz zum Himmel emporsteigt.
-Prosperos gebietende Gestalt und Apotheose im Abscheiden steht mir da
-wie ein Werk von einem bildenden Künstler, der bisher nicht gekommen
-ist, wie von einem, der Michelangelo und Rembrandt ins Raffaelische
-vereinigte; oder &mdash; das nämliche in anderm Bilde gesagt: wie eines der
-ganz hohen Werke Beethovens, wie das Quartett mit dem Dankgebet eines
-Genesenden. Weiß man, wer dieser Genesende ist? Es ist Sokrates, der
-dem Asklepios für die Genesung dankt, indem er der Welt den Rücken
-kehrt; es ist Prospero, der die Natur und den Haß bezwingt und die
-Liebe gründet und aus all seiner Herrlichkeit tritt und zur Seite geht
-und sich zum Tode bereitet; es ist Shakespeare, der uns noch den Sturm
-gibt und dann das Schweigen wählt und dahinstirbt.</p>
-
-<p>Wir bemerken oft, zumal bei leidenschaftlichen Dichtern, wie das, was
-auf ihrer Höhe herausbricht, schon früh da ist oder sich wenigstens
-vorbereitet und in starken Spuren zeigt, wie sie selbst aber von einem
-gewissen Zeitpunkt der Krise an von dieser ganzen Vergangenheit nichts
-mehr wissen wollen und sich als völlig Erneuerte fühlen. So ist es in
-unserer Zeit Tolstoi und Strindberg gegangen. Auch Shakespeare scheint
-mir zu bestimmter Zeit bei einer Wende angelangt zu sein, wo er die
-Form, in der er früher die Triebe und Leidenschaften der Menschen mit
-einer Wahrheit ohnegleichen darstellte, wie ein eigenes Versinken
-in diesem Pfuhl der Affekte nicht mehr ertrug. So hat er nach neuen
-Formen gesucht, und fast jedes einzelne der Stücke aus dieser letzten
-Zeit ist ein neuer Weg, in dramatischer Aktion zur Überlegenheit,
-zum Spielerischen, zur Polemik und Weisheit, zur Ironie zu kommen.
-Im Zymbelin und im Wintermärchen und im Timon und im Perikles hatte
-Shakespeare es jedesmal mit einer neuen dramatischen Form versucht,
-die er jedesmal wieder aufgab. Der Sturm<span class="pagenum"><a name="Seite_285" id="Seite_285">[S. 285]</a></span> nun ist wiederum in einer
-für Shakespeare ganz neuen Art gebaut und ist für dieses Suchen nach
-dem neuen Stil der Gipfel und die Krönung. Die Form aber, der sich
-Shakespeare diesmal und, wenn wir recht vermuten, zu guter Letzt
-zuwendet, ist nicht etwa eine neu ausgeheckte, sondern die für seine
-Zeitgenossen zugleich ehrwürdigste und modernste, und seine gelehrten
-Kritiker hatten sie ihm schon immer tadelnd als Muster vorgehalten. Die
-gelehrten klassizistischen Dramatiker, die neben Shakespeare standen
-und die nicht von der Überlieferung des Volksdramas herkamen, sondern
-in der Tragödie Seneca, in der Komödie Plautus nachstrebten, legten
-viel Wert auf die Einheit des Orts und vor allem der Zeit. Schon früher
-manchmal hat Shakespeare gezeigt, daß er das auch konnte, wenn es dem,
-was er an Inhalt und Stimmung geben wollte, entsprach; nie hat er sich
-pedantisch nach einer Schulregel gerichtet, aber der Sommernachtstraum
-verläuft in aller Tollheit in einer Nacht und einem Walde; im Othello,
-der auch sonst dem bürgerlichen Trauerspiel am nächsten kommt, geht,
-abgesehen von dem Prolog des ersten Aktes, alles auf der Insel Zypern
-in einer fast ununterbrochenen zeitlichen Folge weniger Tage vor sich.
-Hier aber im Sturm ist er dem klassischen Muster am nächsten: nicht nur
-dem geistigen Gehalt nach, sondern auch formal ist die Dichtung ein
-Epilog. Eine lange, bewegte, leidenschaftliche Handlung wird in einem
-bei Shakespeare ganz ungewohnten erzählten Bericht in die Vorgeschichte
-verlegt; das Stück selbst bringt, in der Art wie bei Sophokles zum
-Beispiel im Ödipus, nur die Auflösung des Konflikts; hatte das
-Wintermärchen uns eine Handlung von sechzehn Jahren und in ihr zwei
-Generationen auf die Bühne gebracht, so geht es auch im Sturm um zwölf
-Jahre und wieder um die scharfe Gegenüberstellung von zwei Generationen
-und um ein Paar, das durch die Liebe dem Haß der Väter Versöhnung
-schafft: aber die Handlung, in der wir all das<span class="pagenum"><a name="Seite_286" id="Seite_286">[S. 286]</a></span> erfahren und erleben,
-läuft hintereinander in drei Stunden ab, von etwa zwei Uhr bis fünf
-Uhr an einem Nachmittag, so daß das klassizistische Ideal erfüllt ist:
-die Handlung, die in dem Stück verläuft, erfordert ungefähr dieselbe
-Zeitdauer wie das Stück selbst, und innerhalb dieser Handlung erfahren
-wir von den Vorbedingungen und Geschehnissen früherer Zeiten durch
-Berichte und Gespräche.</p>
-
-<p>Keineswegs dürfen wir annehmen, Shakespeare habe sich diesmal der
-Modeform anbequemt, um Gegnern oder Freunden wie Ben Jonson zu zeigen,
-daß er das auch konnte. Der Grund ist vielmehr offenbar der, daß
-Shakespeare gemerkt hat: das Wesentliche, worauf er in dieser letzten
-Schaffensperiode ausging, konnte er mit dieser Technik erreichen.
-Dieses Wesentliche ist, das, was in seinen großen Tragödien Mitte
-und Hebel war, die elementare Kraft der Triebe und Leidenschaften,
-das menschlich Wilde, Gewalttätige, den Schrei des Zorns und der
-Rache, die Gewaltgier und Brunft, was alles ihm seit langem steigend
-widerwärtig und schließlich unerträglich geworden war, zurücktreten
-zu lassen und dafür das Element des Spiels, der Abgeklärtheit, des
-romantischen Zaubers und der tieferen Bedeutung, der Versöhnung
-oder Polemik, in jedem Fall der Weisheit und Rede sich ausbreiten
-zu lassen. Der Dichter, zumal der dramatische, empfindet bei seiner
-Arbeit viel stärker als wir Leser oder Hörer sein völliges Darinsein
-in den Gestalten, die er mit so seelischer, plastischer, dynamischer
-Kraft ins Leben setzt; wir empfinden, wenn Othello rast und die
-Unschuld ermordet, die in des Dichters Gestaltung so volles Leben
-gewonnen hat, den Dichter selbst viel mehr in Desdemona als in dem
-Mohren und entsprechend mehr in Macduff als in Macbeth; der Dichter
-aber weiß, wie viel nicht bloß von zehrender Kraft, sondern auch
-von eigenen Wesenszügen in all diesen Ausbrüchen der Wut und der
-Bestialität enthalten ist. Hätte er, als er den Hamlet dichtete,
-schon die Möglichkeit zu Prosperos Über<span class="pagenum"><a name="Seite_287" id="Seite_287">[S. 287]</a></span>windung und Überlegenheit in
-sich getragen, so hätte er dem Dänenprinzen nicht in der Art seine
-Unbewußtheit, sein Nichtauskennen in den eigenen Motiven auf den Weg
-geben können. Indem Shakespeare dem Timon zwar noch die gewaltigsten
-Reden der Wut und Verachtung aus dem Mund strömen lassen kann,
-aber nicht mehr imstande ist, weil es ihn sonst umgebracht hätte,
-diesen Mann dazu noch lebendig als Individuum zu gestalten; indem
-er das innere Seelenleben des durch Selbstbetrug betrogenen Gatten
-im Zymbelin durch eine gewaltige Maschinerie einer ungeheuerlichen
-Handlungsfülle von sich schiebt, im Wintermärchen nur genial skizziert
-und dann von frei heiterem Spiel, das zur Tragik der früheren
-Generation in Gegensatz steht, ablösen läßt, mit alledem verrät er
-etwas, was man auf zweierlei Art ausdrücken kann, weil beides nur
-verschiedene Ausdrucksform für ein und dieselbe Wandlung ist. Man
-kann sagen, daß er nicht mehr robust genug für die unerbittlich
-realistische Darstellung der von der Leidenschaft geschüttelten und
-gepeitschten Menschen war; man kann sagen, daß er eine Stufe höher
-gestiegen war und diese Darstellung nicht mehr brauchte. In jedem Fall
-hatte er in dem Augenblick, wo er für das Neue, das er suchte, die
-vollendete Form gefunden hatte, seine Bahn ausgelaufen. Der junge, der
-leidenschaftliche, der wilde Shakespeare mußte den Schrei der Wut und
-Verzweiflung immer wieder, in den mannigfachsten Verkleidungen, wie
-sie Geschichte, Sage und Novelle als Abbild der eigenen Innerlichkeit
-boten, ausstoßen; der mild und reif gewordene Shakespeare suchte nach
-dem Ausdruck der Resignation und des Verzichtes in Überlegenheit und
-Heiterkeit und verstummte, als er ihn gefunden hatte. Er fand ihn aber
-in dem Inhalt und der Stimmung und der Form seines Sturm. Diese Form
-erlaubte ihm, aus dem, was nun Vorgeschichte war, nicht nur, sondern
-auch aus dem, was in den drei Stunden der Handlung geschieht, alles
-von den<span class="pagenum"><a name="Seite_288" id="Seite_288">[S. 288]</a></span> sichtbaren Vorgängen auf der Bühne zu verbannen, was in die
-Abgründe der inneren Dämonie der Menschen geführt hätte: nicht nur
-bleibt die Gewalttat des Bruders gegen den Bruder aus schnödester
-Machtgier in der Vorgeschichte; dieser Bruder selbst tritt mit seinem
-fessellosen inneren Wesen nie mit voller Entladung heraus; meist steht
-er wie ein Angeketteter, dem die Zunge in Bann getan ist, im Schatten.
-Über ihn, über Alonso von Neapel, über dessen Bruder Sebastian wird
-der Wahnsinn verhängt, der Wahnsinn der Reue und Gewissensqual, der
-rasenden Tollheit: nichts davon wird gezeigt; Ariel berichtet kühl
-überlegen darüber, ohne auch nur den Versuch zu einer Schilderung.</p>
-
-<p>Recht gut hat sich Tieck, der in all diesem neuen, letzten Stil das
-Urbild seiner romantischen Ironie gefunden hat, darüber, schon 1793,
-geäußert: „Im ganzen Stücke hat der Dichter sorgfältig alle hohen
-Grade, alle Extreme der Leidenschaften vermieden... Er läßt die
-Affekte nie einen sehr hohen Grad erreichen, er will uns in keiner
-Situation tief rühren oder erschüttern, keine Person soll unser Mitleid
-erregen...“ Was Tieck da sagt, ist ganz richtig, wenn man diese
-Rührung und Erschütterung, dieses Mitleid als Affekt, als Qual, als
-das betrachtet, was Goethe manchmal das Pathologische genannt hat. An
-all diese tiermenschlichen Grundtriebe wendet sich hier Shakespeare
-nicht mehr. Unser Mitleiden beim Anblick der von Leidenschaften
-fortgerissenen und zerfetzten Menschen ist selbst leidenschaftlicher
-Art, wie sich hinwiederum, wir haben es früher gesehen, die wilde,
-kochende Hitze der Brunstmenschen mit schneidender Kälte berechnenden
-und verderbenden Verstandes gatten kann. Von dieser Sklaverei der
-Sinne, in der der Verstand, so hell er auch war, dem modrigen Dunkel
-diente, ist Shakespeare, mit Spinoza wieder zu reden, über die Stufen
-der Vernunft weg aufgestiegen zur intuitiven, überlegenen Gelassenheit
-des Geistes,<span class="pagenum"><a name="Seite_289" id="Seite_289">[S. 289]</a></span> der in der Freiheit wohnt. Und so bringt auf der Höhe
-der Sturmdichtung das warme Gefühl, das innige Erbarmen, die schöne
-Ergriffenheit, die der Dichter wohl erregt, unser Seelenleben nicht
-mehr mit den tierisch elementaren, dämonischen Qualtrieben, sondern mit
-Geist, Vernunft und Klarheit in Verbindung. Unser Mitgefühl entstammt
-nicht mehr dem Bezirk der Venus, sondern des platonischen Eros, nicht
-mehr dem Reich der Furien, sondern des Friedens. Wiewohl ich selbst
-zu gewahren glaube, daß diese Steigerung Shakespeares zum Himmlischen
-mit einem Zustand seiner Leiblichkeit und Geistigkeit zusammenhing, wo
-Nichtmehrkönnen und Nichtmehrwollen fast ununterscheidbar an einander
-grenzten, &mdash; wie viel kräftiger und seelenvoller ist Shakespeare doch
-noch nahe der Entrücktheit und Auflösung als Tieck und Romantiker
-seines Schlages in ihrem Beginn, in dem schon das Ende war; wie schnell
-verirrten sich diese Nachfahren, die die Lust zur allergrößten Wandlung
-und zur neuen Religion nach rasch versprühender Jugend höchstens
-noch als eine Art intellektuellen Kitzels in sich spürten, aus dem
-Ätherreich beseelten Geistes zu bloßer Spielerei des Witzes und krauser
-Arabeske! Seine Verwandtschaft aber zu dem Shakespeare, wie er vom
-Sommernachtstraum über Wie es euch gefällt zum Sturm kam, hat Tieck
-recht empfunden, und so zeigt er in dieser jugendlichen Äußerung gut,
-wie der Dichter des Sturm Gelegenheit zu Verzweiflungsausbrüchen,
-Martern aller Art, Hunger- und Entsetzenswahnsinn gehabt hätte, wie
-er aber all die Darstellung des wild und triebhaft Ausbrechenden &mdash;
-vor kurzem, man denke an Lear, noch seine größte Stärke &mdash; vermieden
-hat. So also erklärt sich mir die dramatische Technik, die Shakespeare
-dieses Mal erwählt hat: er zeigt nicht ein von Gewalt und Untaten
-erfülltes Leben, sondern als zauber- und musikerfülltes Spiel in
-raschem Ablauf nur die Auflösung, die Vollendung, den Gipfel: nicht wie
-die Leidenschaft<span class="pagenum"><a name="Seite_290" id="Seite_290">[S. 290]</a></span> zu ihrem Gipfel ansteigt, sondern wie sie von einem,
-der in sich nach oben gekommen ist und Selbstbeherrschung gelernt hat,
-überwunden und gedemütigt wird. Nach einer gewaltigen, stürmischen
-Introduktion, durch die aber auch schon das Mildernde, Kauzige,
-beruhigend Spielerische hindurchgeht, kommen wir immer mehr in die ganz
-eigene Mischung von Abgeklärtheit, Humor, Neckerei, Sanftmut, innig
-Friedlichem, koboldig Polterndem, ungefährlich Bellendem und Heulendem
-bis zur Verklärung. Versucht man, diese Stimmung, dieses Tempo, diese
-Variationen und Auflösungen des Dramas sich als musikalisches Gebilde
-vorzustellen &mdash; und man ist dazu eingeladen, da das ganze Werk wie
-in Musik getaucht ist und die Musik Ariels und seiner Geister in den
-Lüften keine Begleitung und Zutat, sondern ein Stück der Handlung ist
-&mdash;, so versteht man, meine ich, ausnehmend gut die Antwort Beethovens
-auf die Frage nach der Bedeutung seiner Gespenstersonate: „Lesen Sie
-nur Shakespeares Sturm.“</p>
-
-<p>Die dümmste Versündigung, die aber vom Ende des 17. Jahrhunderts bis
-auf den heutigen Tag nicht auszurotten scheint, an diesem leichten,
-luftigen, zarten Traumspiel, in dem die Hoffnung und das Gelöbnis
-eines Dichters unserer Zeit, Georg Kaisers, erfüllt ist, daß das
-Schauspiel zum Denkspiel aufsteige, und das die Erdenschwere nur als
-derb burleskes Scherzo und schon himmlische Schwermut kennt, begeht die
-Bühne, wenn man es als Ausstattungs- und Spektakelstück gibt.</p>
-
-<p>Ich habe schon angedeutet: auch die schreckliche Erhabenheit zu
-Beginn, der Sturm, der zum Schiffbruch und zum Schein rettungslosen
-Untergangs führt, wird noch in dieser ersten Szene selbst durch
-komischen Gegensatz und durch die Verschiebung der Perspektive
-gemildert: nicht die Personen erster Geltung, von deren Wesen,
-Vergangenheit und Reisezweck wir vorerst nicht das Mindeste erfahren,
-sondern eine Nebengestalt, der Bootsmann,<span class="pagenum"><a name="Seite_291" id="Seite_291">[S. 291]</a></span> ein prachtvoll geschauter
-Zyniker, steht im Vordergrund des Interesses. Das ist ein Galgenvogel
-nach Art des frevelhaft und lustig überlegenen Mörders Bernardin in
-Maß für Maß; im Angesicht des Todes flucht und wettert er ohne jede
-Angst und verrichtet mit einem derben und hohnvollen Vergnügen seine
-Schuldigkeit inmitten der äußersten Not und Bangnis als ein sachliches,
-roh vertrautes Geschäft. Für die Todesangst der andern ist er ganz
-gefühllos; er wird schon alles besorgen, was not tut; er will sich ja
-selber auch retten. Brauchst du mir erst zu sagen, daß der König an
-Bord ist? Hab ich ihn denn lieber als mich? Und</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Fragt der Sturm nach dem Namen König?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Oder er wendet sich etwa zu dem edeln, alten, aber in Wohlredenheit und
-Klugheit leicht komischen Rat Gonzalo: Na, du bist ja Rat, übe du doch
-dein Amt wie ich meins, vielleicht hilft’s: gib doch den Elementen den
-Rat, sich zu besänftigen! Er hat nur ein paar Worte durch den Orkan
-zu brüllen, der Mann, aber die ganze Wut und Verachtung gegen die
-brutale Natur, mit der er zeitlebens brutal sein mußte, und gegen die
-brutale Gesellschaftsordnung wettert aus seiner heisern Kehle; und daß
-er größte Nichtachtung und unbewegte Gleichgültigkeit auch den Großen
-gegenüber hat, die seinem Schiff anvertraut sind, bleibt uns nicht
-verborgen.</p>
-
-<p>Dann stehen sie alle &mdash; in der ersten Szene dieser Komödie &mdash; vor dem
-sichern Tod; die Matrosen, der König und sein Sohn beten; der Usurpator
-von Mailand und der Bruder des Königs, in dem auch Usurpatorträume
-schlummern, fluchen; Gonzalo behält sanften Humor und überlegene,
-stille Ruhe; der Bootsmann lacht:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Was? müssen wir ins kalte Bad?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>So haben wir, ohne noch das geringste vom Zusammenhang zu ahnen, nicht
-die Stimmung des gewalttätigen Untergangs, den wir vor Augen sehen,
-nicht Furcht und<span class="pagenum"><a name="Seite_292" id="Seite_292">[S. 292]</a></span> Mitleid für die, die sich fürchten und leiden,
-sondern eine Art Staunen im Denken, wie im tobenden Aufruhr der Natur
-und im Angesicht des Todes die Menschen so verschieden, im Adel und
-Vorrecht klein oder mäßig, in Gemeinheit groß sein können.</p>
-
-<p>Und ganz schnell verwandelt sich die Szene: das Schiff scheint unter
-die Wellen zu tauchen, das Meer tobt, der Sturm heult, dickes,
-ziehendes, tief herab hängendes Gewölk droht und wird hin und her
-gefetzt; da steigt vor unsern Blicken eine kleine Insel auf, die
-aus den brandenden Wassern emportaucht, auf ihr, wie in der Mitte
-des kleinen Rundes, in gebietender Haltung der Ruhe der Zauberer in
-dem langen Mantel des Magiers und mit dem Zauberstab; bei ihm ein
-liebliches, fünfzehnjähriges Mädchen, das nun mit einem Mal, so daß
-wir aus all dem Graus zu seligem Lächeln verklärt werden, die wild
-natürliche Situation in eine Geistersphäre rückt mit den Worten, mit
-denen diese zweite Szene anhob:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wenn <em class="gesperrt">Eure</em> Kunst, mein liebster Vater, so</div>
- <div class="verse">Die wilden Wasser toben hieß, so stillt sie.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Es ist eine sehr ernste Beschämung, nicht nur für unsre Bühnen, für
-den Zusammenhang vielmehr zwischen unsrer Geistesverfassung und unsern
-Zuständen, daß die liebliche Größe, die hebende, erlösende Wonne dieses
-Übergangs und dieser Szenengemeinschaft unserm Erleben noch immer nicht
-vertraute Wirklichkeit geworden ist. Wie das Kind beim starken Gewitter
-meint, der liebe Gott sei zornig, so erleben wir hier sinnenkräftig,
-als lebendiges Bild, daß es so ist, wie das Mädchenkind Miranda mit
-ihren ersten Worten uns bedeutet: Er, Prospero, hat den tollen Aufruhr
-der Lüfte und Gewässer mit Hilfe seines Ariel erregt: der Tag der
-Vergeltung, der Entscheidung, wir merken bald, der Versöhnung und
-Heimkehr ist da.</p>
-
-<p>Ein zartes, reines, liebliches Kind, eben zum Fraulichen erknospend
-ist diese Miranda, die Wunderbare; ganz des<span class="pagenum"><a name="Seite_293" id="Seite_293">[S. 293]</a></span> Vaters Geschöpf; seit
-ihrem dritten Lebensjahr ist sie auf dieser Insel und hat außer ihrem
-Vater nie einen Menschen gesehen; nur das Ungetüm Caliban und Prosperos
-Geister. Er muß sie nur beruhigen, sie ist außer sich, daß ihr Vater
-so Böses zu tun imstande scheint; so hat sie ihn in all der Zeit nicht
-kennen lernen; sie weiß aus seinem Unterricht, daß ein Schiff Menschen
-über den Ozean trägt, und Menschen sind, glaubt sie, gute und herrliche
-Wesen wie ihr Vater.</p>
-
-<p>Die Stunde ist gekommen, wo er ihr die Menschenwelt anders zeigen muß;
-aber ehe er noch daran geht, sie über ihre Herkunft, über seine düstere
-Geschichte, über die Art, wie es draußen bei den Menschen zugeht,
-aufzuklären, beruhigt er sie und uns: keinem soll ein Leid geschehen;
-kein Haar soll gekrümmt werden; durch die Macht des Geistes, nicht
-durch Gewalt soll Wiedergutmachung erfolgen.</p>
-
-<p>Und nun erzählt er, erstmals, wer er ist, was ihm und ihr angetan
-worden ist, und deutet im voraus an, was jetzt kommen soll, welche
-Männer er auf ihrer Fahrt gebieterisch angehalten hat. Der Mann, der
-da sein Leiden berichtet, ist uns erst als der zaubermächtige Meister
-gezeigt worden; so haben wir bei diesem langen Bericht, der die
-Vorgeschichte bringt, nicht das Gefühl des Stillstands, sondern des
-bewegten Geschehens. Er erzählt, wie ihn sein eigener Bruder Antonio &mdash;
-wie Claudius den König Hamlet &mdash; vom Thron gestürzt und im Bunde mit
-Alonso dem König von Neapel ihn und das noch nicht dreijährige Kind
-nach menschlichem Ermessen ermordet hat: kein Mensch zu Hause kann
-etwas anderes meinen, als daß sie gewaltsam getötet sind und längst
-auf dem Meeresgrund verfault. Aber dieser Ermordete kehrt nicht ins
-Reich des Lebens als Geist zurück, um einen Sohn zur Rache zu rufen;
-er herrscht über die Geistermächte, wohl auch, um über die Feinde zu
-triumphieren, aber durch Beschämung soll es geschehn, dadurch, daß
-sie in all ihrer Unwürde machtlos und geschlagen<span class="pagenum"><a name="Seite_294" id="Seite_294">[S. 294]</a></span> dastehn: der Sohn
-aber seines mächtigsten Feindes und die eigene Tochter sollen in Liebe
-vereint werden.</p>
-
-<p>Was für ein Bericht ist das! Er steht als Meister und Lehrer vor ihr
-und erzählt ihr in stark eindrucksvoller Haltung und Rede, fesselt ihre
-ganze Aufmerksamkeit, so daß sie mit großen Augen zu ihm aufblickt
-und wie vom Traum umfangen wird, da nun zum ersten Mal das wogende,
-gefahrvolle Leben, wie es draußen unter Menschen ist, sich vor ihr
-auftut, daß sie in den seltsamen Zustand gerät, sich vor Benommenheit,
-Staunen und Entsetzen in plötzlichen Schlaf flüchten zu müssen; wir
-leben ganz in dieser Situation zwischen dem Vater und dem Kind auf
-der Insel, und zugleich öffnet sich die Vergangenheit vor uns und wir
-erleben Prosperos Schicksal und Wesen. Was für ein Mann! Er war der
-Herzog von Mailand, hatte aber seinem Bruder das weltlich-politische
-Geschäft überlassen, weil er selbst „in geheimes Forschen verzückt und
-hingerissen“ war: in Stille versunken lebte er der Erhöhung seiner
-Seele und, von Büchern umgeben, in tief geheimem Forschen. Von seiner
-Verborgenheit aus wirkte er aber mit seinem Geist und Gemüt tief ins
-Volk hinein, das ihn verehrte und liebte. Und nun der Bruder! Nichts
-ergreifender, als wie Prospero, der seit so vielen Jahren den Fall
-bedacht hat und jetzt die Gelegenheit zu seiner Vergeltung magisch
-ergriffen hat, ihm gerecht werden will und ihn, soweit es irgend geht,
-entschuldigt. Der Bruder, sagt er, gewöhnte sich in seine Rolle des
-Befehlens, das ihm in Stellvertretung anvertraut war, so hinein, daß
-er sich als Herzog fühlen lernte und fast nichts anderes wußte, als
-daß er es war, zumal er den gelehrten Bruder in der Verachtung des
-Ungebildeten und Rohen für ganz ungeeignet zur Regierung hielt. So
-riß er ihn, verbündet mit dem König von Neapel, dem er Mailand als
-Vasallenstaat überantwortete, vom Thron und setzte den Bruder, da er
-ihn, den Allbeliebten, wegräumen mußte, öffentlich umzubringen aber
-nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_295" id="Seite_295">[S. 295]</a></span> wagte, mit dem dreijährigen Kind zusammen in einem morschen
-Boot, das nicht Segel noch Masten hatte, aufs hohe Meer aus: er
-sollte unweigerlich zugrund gehen, ohne daß jemand von der Mordtat
-erfuhr, so wie der Usurpator Claudius seinen Bruder eines natürlichen
-Todes sterben ließ. Der Rat Gonzalo gab Prospero aber aus Mitgefühl
-heimlich Kleider, ein bißchen Hausrat und vor allem Bücher mit auf die
-Schreckensfahrt, und so rettete der Ausgestoßene sich und das Kind
-auf diese kleine Insel, die wir uns &mdash; nach späteren Erwähnungen &mdash;
-irgendwo zwischen Neapel und Tunis zu denken haben. Ohne sein Wissen
-hätte er das nicht vermocht; denn dieses Wissen ist, das ungebildete
-Volk ahnt es, sein obenhin polierter, bevorrechteter Bruder freilich
-weiß nichts davon &mdash; dieses Wissen ist, was jedes Wissen sein sollte,
-Macht, nicht zur Unterdrückung von Menschen, sondern ein Schlüssel zu
-Kräften der Natur. Oder anders gesagt, in der Sprache der Welt, in der
-wir gläubig für drei Stunden sind: er hat Zaubermacht über Geister.</p>
-
-<p>Mit zwei Geistern oder wenigstens Außermenschen sehr entgegengesetzter
-Art bekam er es auf der sonst unbewohnten Insel zu tun: mit Caliban,
-einem elementaren Scheusal, dem Kind der Hexe Sykorax und eines
-Teufels; und mit Ariel, einem mächtigen und doch zarten Luftgeist, den
-die Hexe durch bösen Zauber seines Elements der Freiheit beraubt und in
-den Spalt einer Fichte geklemmt hatte und den er befreite.</p>
-
-<p>Caliban, der Erdkloß, die am Boden kriechende Schildkröte, der
-dienende, schnöde Sklave für die grobe Arbeit, repräsentiert die
-brutale, hundsgemeine Materie; den durch nichts gemilderten Lebens- das
-heißt Freßtrieb des Tiers, eines Tiers, das ein Höllenhund ist und dazu
-noch &mdash; durch Prosperos Schuld &mdash; sprechen und denken gelernt hat. Der
-Meister hat sich mit dem wilden Höllenkind gläubig pädagogische Mühe
-gegeben; durch Bildung wollte er es zu<span class="pagenum"><a name="Seite_296" id="Seite_296">[S. 296]</a></span> einer Seele bringen und vergaß,
-daß man nur ausbilden kann, was da ist, daß aber ins leere Nichts
-Hineinbildenwollen eben das ist und das bewirkt, was unsre Sprache
-Einbildung nennt: wozu keine Anlage da war, das konnte von außen
-nicht eingegossen werden, und etwas wie Mitgefühl selbst mit dieser
-Personifikation des Unrats ruft der Dichter hervor, wenn er diesen
-Unerlösten und Unerlösbaren ausrufen läßt:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ihr lehrtet Sprache mir, und mein Gewinn</div>
- <div class="verse">Ist, daß ich fluchen kann. Die Pest hol’ Euch,</div>
- <div class="verse">Daß Ihr mich reden lehrtet!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Eine Satire ingrimmigster Art aber ist es, wie Shakespeare uns
-zeigt, welchen Gebrauch dieser Wechselbalg der Hölle von dem Geist
-macht, der ihm nicht zukam, und wie er Calibans Sprache mit der
-Redeweise niedriger Menschen aus der Sphäre der oberen Scheinbildung
-kontrastiert. Es geht um ein fürchterliches Thema: um die Ermordung
-eines schlafenden Menschen. Shakespeare hat es mehrfach behandelt,
-und nicht ein Mal wie das andre. Der edle Mohr von Venedig weckt
-Desdemona, und in aller Wut heißt er sie doch in würdigen Worten sich
-auf den Tod vorbereiten. König Claudius tötet seinen schlafenden Bruder
-in Einsamkeit, sprachlos; wir haben nicht anzunehmen, daß er sich
-vorher mit seiner Buhlin darüber beraten habe. Macbeth braucht solche
-Beratung; wir kennen alle das heiße Gespräch des liebenden Mörderpaars
-vor der Tat. Die beiden Berufsmörder in Richard III., die
-Clarence aus der Welt zu schaffen haben, bringen es nicht zustande, den
-Schlafenden zu erstechen; sie disputieren so lange über den Fall, bis
-ihr Opfer erwacht, und auch dann müssen sie erst in langem Gespräch ein
-Verhältnis zu ihm herstellen, bis ihnen aus bewegter Sprache heraus die
-altbewährte Gebärde des Zustechens geschenkt wird. Sie sind nicht das
-übliche Paar von Gleichen, sondern gegen einander fein differenziert;
-ihre Szene indessen, so liebevoll sie gebaut ist, ist in dem Drama,
-dem sie angehört, nur eine Episode.<span class="pagenum"><a name="Seite_297" id="Seite_297">[S. 297]</a></span> Hier im Sturm aber bildet ein
-solcher Kontrast ein wichtiges Element der Handlung. Der Dichter stellt
-einander die Art gegenüber, wie der Mensch Antonio, der Brudermörder
-und Fürst, einen andern zum Meuchelmord an einem Schlafenden überredet,
-und wie das sprechende Ungeheuer Caliban das nämliche tut.</p>
-
-<p>Was ist das bei Antonio, wie er Sebastian dazu verführt, seinen
-Bruder Alonso, den König von Neapel, der in tiefer Schlafbetäubung
-daliegt, zu ermorden, für ein langes vorsichtiges Ausholen, ein Tasten,
-ein Andeuten, wie wird die Sprache, indem sie den Plan der Untat
-ausspricht, zugleich dazu benutzt, das Schwarze schön zu färben, das
-Widrige zu bemänteln und die Gedanken zu verhüllen. Der Mensch, zumal
-in der politischen Sphäre, deren Vertreter der Usurpator von Mailand
-ist, hat es gelernt, Rauben Selbstbestimmung und Morden Wohltat zu
-nennen; die Sprache zugleich als Mittel und Vorbereitung zur Tat und
-zum Weglügen der Tat zu benutzen. Indem Shakespeare uns den Menschen
-von dieser Seite vorführt, wählt er, und erhöht damit die Gewalt seiner
-entlarvenden Offenbarung, ein Exemplar, das der brutalste, verhärtetste
-aller Menschen und einer Regung wie Reue oder Skrupel ganz unzugänglich
-ist. Gewissen? Davon weiß er nichts; er liebt Tatsachen, so was wie
-Gewissen aber ist für ihn ein Wort ohne Sinn:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ei, Herr, wo sitzt das? Wär’s der Frost im Fuß,</div>
- <div class="verse">Müßt’ ich in Schlappen gehn; allein ich fühle</div>
- <div class="verse">In meinem Busen so ’ne Gottheit nicht.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Gewissen hat er nicht, aber da er ein sprechender Mensch ist, hat er
-Lüge und Heuchelei. Den Sebastian will er dazu bringen, seinen Bruder
-zu ermorden, um dann den Brudermörder, dessen Untat er kannte, zu
-beherrschen; aber nur in langsamem Ausholen, in wiederholtem Ansetzen,
-in Tasten, Drumherumreden, Umschreiben und Andeuten nähert er sich
-seinem Ziel.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_298" id="Seite_298">[S. 298]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">’s gibt Leute, die Neapel</div>
- <div class="verse">So gut, wie der hier schläft, regierten...</div>
- <div class="verse mleft9">Hättet Ihr</div>
- <div class="verse">Doch meinen Sinn! Was für ein Schlaf wär’ dies</div>
- <div class="verse">Für Eure Standserhöhung. Ihr versteht mich?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Ja, er versteht ihn, sie verstehen sich. Das war sein deutlichstes
-Wort; und doch, wie euphemistisch, wie keineswegs roh im Wortlaut,
-wie harmlos und gesittet ist ein solcher Satz, mit dem sich die zwei
-Sprecher adliger Sprache darüber verständigen, den Schlaf zu ermorden.</p>
-
-<p>Wie aber ein paar Szenen darauf das bestialische Ungeheuer, das von
-Prosperos und des Dichters Gnaden die Gabe empfangen hat, sein Wesen
-und Wollen auszusprechen, dasselbe Unnennbare an Prospero tun will, wie
-prachtvoll geradlinig, wie wahr, wie unbemäntelt sagt Caliban da, was
-er will, ganz ohne Moral, ganz ohne Wohlklang, ganz ohne Heuchelei,
-ganz sachlich, kein Wort zu viel:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft4">Ich liefr’ ihn dir im Schlaf,</div>
- <div class="verse">Wo du ihm seinen Kopf durchnageln kannst.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Oder wenn seinem Partner, der ja immerhin ein Mensch und also
-bedenklich und wählerisch ist, dieses gerade Verfahren nicht paßt, weiß
-er noch andre Methoden, die ebenso gut sind, zum Beispiel:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft6">Du kannst ihn würgen, ...</div>
- <div class="verse mleft10">mit ’nem Klotz</div>
- <div class="verse">Den Schädel ihm zerschlagen, oder ihn</div>
- <div class="verse">Mit einem Pfahl ausweiden, oder auch</div>
- <div class="verse">Mit deinem Messer ihm die Kehl’ abschneiden.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Man sieht, Gemüt hat ihm die Sprache nicht gegeben, aber &mdash; auch
-diesem Höllenungetüm! &mdash; eine Steigerung des der Freßsucht dienenden
-Tierverstandes durch Mitteilung, Werkzeuganwendung, Berechnung.</p>
-
-<p>Wie zum Mord, genau so steht er zu allem: er arbeitet unweigerlich,
-wenn er so lange gezwickt und geplagt wird,<span class="pagenum"><a name="Seite_299" id="Seite_299">[S. 299]</a></span> daß er’s nicht mehr
-aushält, sonst zieht dieser Sohn einer Hexe und eines Teufels, nicht
-anders als die Masse verderbter Menschenkinder, das Fressen und
-Schlafen vor.</p>
-
-<p>Nur in einem Fall kann das froschkalte Tier hitzig werden: wenn der
-Geschlechtstrieb sich regt. Als der zuerst in Caliban erwachte,
-stürzte er sich eben auf Miranda das Kind, das der Vater gerade noch
-retten konnte, wofür alle Sklaven des Triebs dem jungen Kerl dringende
-Entschuldigung gewähren müssen: dies Kind war das einzige weibliche
-Wesen auf der Insel. Von Liebe weiß er weiter nichts, als daß so ein
-Trieb unweigerlicher Art in uns ist und befriedigt sein will, und daß
-ein gesundes schönes Weib „wackere Brut bringt“, &mdash; und da weiß er in
-Wahrheit ein gut Teil mehr als eine Masse Menschenpöbel im Lande der
-Bildung; denn wenn wir calibanisch die Wahrheit sagen wollen: denken
-denn die, denen kannibalisch wohl ist „als wie fünfhundert Säuen“,
-in ihrer Wollust an die Brut, an die Kinder? Höchstens mit Unbehagen
-und mit Angst vor der Plage und den Alimenten! Möge sich doch &mdash; ich
-glaube hier nicht abzuschweifen, ich glaube, daß Shakespeare uns diesen
-Zusammenhang zwischen Caliban und uns vor Augen stellt, den ich hier
-mit seinen und meinen Worten ausdrücke &mdash; möge sich der alimentäre
-Mensch nicht gar zu stolz über das elementare Ungeheuer erheben!</p>
-
-<p>Im Zusammenhang Calibans mit den zwei köstlich gemeinen Kerlen, die
-auf dem Schiff waren, den Trunkenbolden Trinkulo und Stefano, führt
-Shakespeare sein Thema noch eine Stufe höher hinauf.</p>
-
-<p>Vorhin, als ich von den beiden Bewohnern der Insel, die Prospero
-zuerst da vorfand, sprechen wollte, war ich in Verlegenheit um
-eine Gesamtbezeichnung. Ariel ist ein Geist und steht jenseits der
-menschlichen Gesellschaft; aber Caliban? Dieses sprechende Tierwesen
-hat alle Bedürfnisse des Menschen, und da er gewillt ist, sich mit
-einer Menschin zu paaren, und überdies aus Gründen, die uns<span class="pagenum"><a name="Seite_300" id="Seite_300">[S. 300]</a></span> näher
-angehen, dürfen wir diesen Sproß der Hexe und des Teufels, dies unser
-Zerrspiegelbild nicht verleugnen: er wird schon so was wie ein Mensch
-sein. So dürfen wir sagen, daß Shakespeare uns in diesem Stück die
-menschliche Gesellschaft in drei Stufen vorführt und ihrer jede in
-drei Vertretern: unten in der unverfälschten Roheit Caliban, Stefano
-und Trinkulo; dann in der durch Bildung verfälschten Niedrigkeit der
-herrschenden Kaste: Alonso, Antonio und Sebastian; oben im Reich
-beseelten Geistes Prospero und das junge Paar, das in der Liebe die
-Tierleiblichkeit und den Geist vereinigt und versöhnt: Miranda und
-Ferdinand.</p>
-
-<p>Man sollte meinen, ein widerlicheres, scheußlicheres Ungetüm als
-Caliban wäre nicht möglich. Er ist die verkörperte, die wahrhaft
-von der innern Niedertracht her Körper und bewegter Organismus
-gewordene Häßlichkeit. Und doch hat Caliban etwas an sich, was uns zu
-Versöhnung und fast zu Rührung stimmen könnte. Er ist das Zerrbild
-des Menschen, ist aber insofern kein Mensch, als er wie ein Tier ist,
-dem der göttliche Funke nicht erloschen ist, sondern von Geburts
-wegen fehlt. Man kann ihn nicht mehr schuldig nennen als eine Hyäne
-oder eine Schlange; er trägt die Urschuld oder Erbsünde der gesamten
-Schöpfung, nicht mehr, nicht weniger; er ist ein Unerlöster, wie die
-tierischen Kreaturen alle, deren trauernde Augen wie Fenster vor
-dunkeln Kerkern sind. Könnte man sich vorstellen, daß mit all dieser
-ursprünglichen, völlig unwillkürlichen Niedertracht einer Bestie,
-die die Verstandessprache erlernt hat, auch noch die Lumperei eines
-von Haus aus mit Gemüt begnadeten und für sich verantwortlichen
-Menschen, der von sich in tiefsten Schmutz gefallen ist, leibhaft und
-unabtrennbar verbunden wäre, so wäre Calibans Ekelhaftigkeit noch weit
-übertroffen. Und gerade so ein zusammengewachsenes Doppelscheusal zeigt
-uns Shakespeare auch noch in einer der lustigsten Grotesken, die er
-geschrieben hat, wo wir<span class="pagenum"><a name="Seite_301" id="Seite_301">[S. 301]</a></span> in allem zwerchfellerschütternden Lachen, das
-uns überfällt, empfinden, Allerbösestes swiftisch vor Augen geführt
-zu bekommen. Ich spreche von der zweiten Szene des zweiten Aktes, wo
-es der genialste aller Szeniker auf die ungezwungenste Art zuwege
-bringt, diese lebendige Maschinerie, den Knäuel nämlich von Caliban
-und Trinkulo, vor unsern Augen aufzubauen. Caliban fürchtet sich vor
-Trinkulo, den er für einen der Plagegeister Prosperos hält, und wirft
-sich platt auf den Boden; Trinkulo, in aller gemeinen Liederlichkeit
-ein feiger, schwächlicher Wicht, flüchtet sich vor dem Gewitter unter
-den Mantel des Scheusals, ganz dicht an ihn heran gedrückt, denn er
-ist gesunken genug, um die Berührung mit dem Widerwärtigsten nicht
-so zu fürchten, wie die Drohung des Wetters; Stefano, ein verwegener
-Kerl mit einer Art von rohem, beherztem Rationalismus, findet das
-Doppelungeheuer mit vier Beinen und zwei Köpfen und denkt vor allem
-daran, was für ein Geschäft er machen kann, wenn er diese unerhört
-wunderbare Mißgeburt vor den Potentaten Europas produzieren wird.
-Und so gießt er, um das redende Monstrum von dem Fieber zu heilen,
-von dem es befallen scheint, in die beiden Mäuler Schnaps aus seiner
-Flasche, die er aus dem Schiffbruch gerettet hat. Trinkulo läßt sich
-herauswickeln und begrüßt seinen Zechbruder; Caliban aber ist zum
-ersten Mal in seinem armen Leben in Seligkeit und Verzückung. Denn
-die Bestie hat nun eine wundersame Menschenerfindung kennen gelernt,
-mit der wir auch sonst die Naturkinder in wilden Ländern, die keine
-Calibans waren, beglückt haben: den Alkohol. Prospero hatte den ganz
-vergeblichen, verderblichen Versuch gemacht, ihm in seine Leere Geist
-einzutrichtern; nun aber ist ihm der wahre Geist aus Stefanos Flasche
-eingegossen worden! Wer den Göttertrank spendet, der ihm wie Wonne und
-Verwandlung durch alle Glieder rieselt, der muß ein noch mächtigerer
-Geisterfürst sein als Prospero, der gegen ihn in<span class="pagenum"><a name="Seite_302" id="Seite_302">[S. 302]</a></span> Wahrheit, wie wir
-das Elementare in der Natur nur mit Gewalt in unsern Dienst zwingen,
-nichts üben kann als harten Zwang. Sofort betet drum Caliban den Lumpen
-Stefano als König an. Gegen Prosperos Herrschaft, der ihm vornehm,
-unfaßbar als Wesen andrer Art gegenüberstand, hat er sich, wie es
-Naturnotwendigkeit war, gewehrt, hat sie als Unterdrückung empfunden;
-jetzt, wo er dem dienen darf, den er als einen zu ihm Gehörigen, der
-ihm hilft, der ihn niederträchtig glücklich macht, als Herrn anerkennt,
-fühlt er sich frei. Und wiederum, und für diese Stelle der Dichtung
-noch nachdrücklicher sage ich: es ist innig ergreifend und zugleich
-tiefsinnig und grandios grotesk, wie dieses arme Untier, das von
-dem edlen Prospero nur mit Zwicken und Prügeln zur Arbeit gebracht
-worden war, jetzt zu den niedrigsten Diensten willfährig ist, wie es
-aus Religion, wenn’s auch nur die Religion des Schnapses ist, ein
-freiwilliger Sklave wird, wie es „Freiheit! Freiheit!“ und Jubelrufe
-brüllt und ihm aus dieser Freiheitsstimmung und Begeisterung die Gabe
-des Liedes zuwächst. Aus dieser Situation heraus, in dieser Bedeutung,
-die sich aus dem anschaulich gestalteten Sinn des Dramas für unser
-erlebendes Gefühl ergibt, kann es kein lyrisches Stück geben, das
-zugleich so lustig, so abstoßend, so lehrreich, so gewaltig und so
-rührend wäre wie Calibans Lied, das dieses „heulende Monstrum, trunkene
-Monstrum“ wild energisch in besoffener Courage und in schrecklichen
-Tönen, die so Musik sind, wie Häßlichkeit Schönheit ist, dem Prospero
-zusingt, dessen verhaßte Herrengestalt vor seiner Phantasie ersteht:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Will nicht mehr Fischfänger sein,</div>
- <div class="verse">Noch Feurung holen,</div>
- <div class="verse">Wie’s befohlen;</div>
- <div class="verse">Noch die Teller scheuern rein!</div>
- <div class="verse">Ban, ban, Cacaliban</div>
- <div class="verse">Hat zum Herrn einen andern Mann!</div>
- <div class="verse">Schaff einen andern Diener dir an!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_303" id="Seite_303">[S. 303]</a></span></p>
-
-<p>Auch hier, im Letzten, der ganz große, der Dramatiker, das heißt der
-Gerechte Shakespeare: der höchste und der niederste Mensch stehen sich
-gegenüber, von einander ewig getrennt wie der römische Plebejer von
-Coriolan, wie Thersites von Hektor, und doch jeder in seinem Recht.
-Bei uns ist aus Gerechtigkeit Toleranz und Unsicherheit geworden,
-und so ist der moderne Dramatiker wacklig und schwankt auch mit
-seinen Sympathien hin und her; das Erstaunliche, das Umfängliche
-an Shakespeare ist, daß er nicht ins Periphere bebt, sondern einen
-ursicheren Mittelpunkt hat, in dem er bei seinem Helden steht. Und
-von da aus dann mit einem Mal das Licht auf die tief Beschatteten
-im dunkeln Winkel fallen zu lassen, vom entschlossen erwählten und
-festgehaltenen Adel aus der Niedertracht ihre eigne Stimme aus
-dem Tiefsten hervorzuholen, das ist Shakespeares Gerechtigkeit,
-Stufenordnung und dramatische Kunst.</p>
-
-<p>Nach Freiheit begehrt auch das Naturwesen, das zwischen Erde und Himmel
-flattert, Ariel der Luftgeist. Er gehört im beseelten Reich der Natur
-zu Blüten, die sich im Winde wiegen, zu Schmetterlingen und Schwalben,
-aber nicht zu Menschen. Und nur durch zartesten, schmeichlerischen,
-liebevollen Umgang, dadurch, daß er selbst sich frei, neckisch, heiter,
-schwingend seinem dienenden Freund anpaßt, kann Prospero in Güte und
-Herzensnähe mit dem ätherischen, zarten und doch &mdash; im menschlichen
-Sinne &mdash; seelenlosen Geistwesen leben. Nichts entzückender als dieses
-herrenmäßig ergebene immerwährende Kosen von Prospero zu diesem
-lebendig bewegten Stück Natur hin, das immer wieder fliehen will wie
-der Wind und sich doch immer wieder für eine Weile festhalten läßt; wir
-haben immer den Eindruck, daß kein Mensch außer Prospero diesen Freien,
-Beweglichen, der sich nie ganz gefangen gibt, an sich bannen könnte.
-Und wir haben den Eindruck: hat schon Prospero Caliban nicht erziehen
-können, Ariels in aller Naturschrecklichkeit natursanftes Wesen hat
-den<span class="pagenum"><a name="Seite_304" id="Seite_304">[S. 304]</a></span> Menschen Prospero, der als Anlage alles in sich trägt, in seinem
-Besten bestärkt und gehoben.</p>
-
-<p>Ariel gibt allem, was in der Dichtung geschieht, den luftigen,
-heiteren, dem Geist der Schwere entronnenen Charakter; er ist
-die Kraft, die vor unsern Augen und im Hintergrund die Handlung
-mit wunderbarsten Mitteln, mit Sturm und Flammen und Liedern und
-Trommelschlag vorwärts bringt. Er ganz allein hat Sturm und Meereswut
-und Blitz und Brand auf dem Schiff hervorgebracht, und diese seine
-bloße Erzählung von dem Sturm und Feuer, wie es als Sinnenschein
-aus ihm, der geeinten Naturkraft hervorging, muß in der rechten
-Aufführung, die in diesem Stück noch weniger als sonst bei Shakespeare
-aufs Dekorative, noch mehr auf die Greifbarkeit des Geistes ausgehen
-muß, gewaltiger wirken als das Gewitter der ersten Szene; durch die
-Geteiltheit unsrer Sinne hindurch vernehmen und gewahren wir in
-Ariels Darstellung eine höhere Region der Naturwelt, Fechners drittes
-Reich, wo das, was Platon die Idee genannt hat, der Zusammenhang, das
-Schöpferische waltet:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft10">Ich enterte das Schiff</div>
- <div class="verse">Des Königs; jetzt am Schnabel, jetzt im Bauch,</div>
- <div class="verse">Auf dem Verdeck, in jeglicher Kajüte</div>
- <div class="verse">Flammt’ ich Entsetzen; bald zerteilt ich mich</div>
- <div class="verse">Und brannt’ an vielen Stellen; auf dem Mast,</div>
- <div class="verse">An Stang’ und Bugspriet flammt’ ich abgesondert,</div>
- <div class="verse">Floß dann in eins...</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und so hat er den Schein und die volle Wirkung eines fürchterlichen
-Schiffsbrands und Untergangs im schrecklichsten Sturm erregt, und
-alle Reisenden sprangen im Entsetzen ins Meer, wo sie dann zu ihrem
-Staunen unbeschädigt an den ganz nahen Strand gespült wurden. Zu dem
-rüden Bootsmann aber und seinem Schiffsvolk können wir, wenn wir gut
-aufmerken, nachträglich verstärkte Sympathie fassen: sie alle sind
-in Ausübung ihrer Pflicht bis zuletzt<span class="pagenum"><a name="Seite_305" id="Seite_305">[S. 305]</a></span> auf dem Schiff geblieben und
-liegen jetzt durch Ariels Zauber im untersten Schiffsraum in tiefem
-Schlaf. Die schuldigen Fürsten und ihr Gefolge sind vorerst heil auf
-einem entfernteren Teil der Insel; nur der Sohn und Erbe des Königs
-von Neapel ist verloren gegangen und wird von dem trauernden Vater und
-frohlockenden Schelmen für tot gehalten. Der junge Prinz Ferdinand
-aber lebt; es geschieht alles, wie der Meister es bestimmt hat; Ariel
-führt ihn Prospero zu, der ihn &mdash; zur Prüfung &mdash; gefangen nimmt, zu
-Knechtschaftsdiensten verdammt und so in Mirandas Gesellschaft bringt.</p>
-
-<p>Wir sind auf Wundersames vorbereitet, denn wir wissen: es ist außer
-ihrem Vater der erste Mann, den das Mädchen erblickt. Entzückend,
-wie die Ausschließlichkeit der Liebe auf den ersten Blick, die sonst
-den Erwählten aus der Schar aller andern herausgreift, hier die Form
-annimmt: er ist der erste und einzige, den ich je gesehen; nun denn,
-ich brauche keinen andern! Was die Bestie Caliban nicht kennt, die
-wählende, unentrinnbare Liebe, die Paargemeinschaft zwischen dem einen
-Mann und dem einen Mädchen, die Verklärung des Geschlechtstriebs durch
-seelische Innigkeit, erblüht ihr in dieser Ausnahmelage, daß sie nicht
-vergleichen kann:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">So hat in Demut denn</div>
- <div class="verse">Mein Herz gewählt; ich hege keinen Ehrgeiz,</div>
- <div class="verse">Einen schönern Mann zu sehn.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und dies Kind der Natur und des Geistes kennt die Heuchelei der
-Gesellschaft gar nicht, wiewohl die natürliche Keuschheit gar sehr:
-sofort bekennt sie sich, dem Vater, dem Geliebten selbst ihre Liebe:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ich bin Eu’r Weib, wenn Ihr mich haben wollt,</div>
- <div class="verse">Sonst sterb ich Eure Magd; Ihr könnt mir’s weigern,</div>
- <div class="verse">Gefährtin Euch zu sein, doch Dienerin</div>
- <div class="verse">Will ich Euch sein, Ihr wollet oder nicht.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Das ist eine Stelle, die Strindberg ganz besonders wohl im Herzen
-tut, und er spricht sie gegen den Noramann,<span class="pagenum"><a name="Seite_306" id="Seite_306">[S. 306]</a></span> wie er Ibsen nennt, und
-alle Vorkämpfer der Frauenemanzipation aus; aber für einseitige und
-willkürliche Tendenzen wird man bei Shakespeare nur Unterstützung
-finden, wenn man unachtsam oder gewalttätig ist; dieses Gefühl, dem
-die Freiheit der Liebe Hingabe bis zur Dienstbarkeit ist, wird von
-Ferdinand dem Jüngling sofort für sich gerade so ausgesprochen, wie
-von dem Mädchen. Beide geloben einander die Ehe als gegenseitige
-Dienstbarkeit, welche der Liebe, das heißt der Freiheit entstammt.
-Es ist nicht zu übersehen, daß dieses Verhältnis zwischen Freiheit
-und treuem Dienst eines der Themen ist, die durch die ganze Dichtung
-hindurchgehn. Wir haben gesehen, wie Caliban ein geplagter Sklave
-ist, weil er in den Dienst des Guten gewaltsam eingespannt wird, und
-daß ausgelassener Jubel über ihn kommt, sowie ihm der Schnaps einen
-Herrn gebracht hat, den er in Freiheit verehrt. Und das haarfeine, in
-jedem Augenblick gewagte, gefährdete und wieder geknüpfte Verhältnis
-zwischen Prospero und Ariel haben wir kennen gelernt: Prospero, der
-Ariel aus schmählichster und ärgster Gefangenschaft befreit und ihn bei
-der Gelegenheit in seinen Dienst gezwungen hat, ist keinen Augenblick
-seiner sicher, da mächtiger noch als der Zauberbann und das gegebene
-Wort der Freiheitsdrang dem flüchtigen Geiste in der Natur sitzt; aber
-etwas, was zwischen dem Menschen und dem Elf gar nicht möglich scheint
-und keinem als dem Herrscher im Reich der Phantasie Prospero erreichbar
-ist, die Liebe ruft Ariel immer wieder aus der Flucht in den Dienst
-zurück, bis Prospero dem Liebling, dem Herzensariel freiwillig die
-Freiheit schenkt. All das, was Shakespeare uns da zur Letze gegeben
-hat, ist ein heiliges Vermächtnis für das Miteinanderleben der Menschen
-in Familie, Bünden und Gesellschaften und liegt als totes Gut unberührt
-da; all das ist uns Frevlern der Trägheit nur Literatur, Lektüre und
-Schauspiel; wir bleiben unsern Meistern, ob sie Shakespeare oder
-Goethe<span class="pagenum"><a name="Seite_307" id="Seite_307">[S. 307]</a></span> oder Beethoven heißen, die Religion schuldig, die sie uns
-geliehen haben, damit wir mit ihr wuchern.</p>
-
-<p>Wir haben Shakespeare gegenüber eine Entschuldigung: er spricht
-nicht zu uns, nicht bloß, weil wir nicht hören, sondern, weil er ein
-Stummer ist. Nie hat die Erde einen getragen, dem das Schweigen,
-das Nichtredenkönnen mehr Gebot war als diesem Menschen. Das klingt
-erstaunlichst, denn nie auch hat einer größere Gewalt über die Sprache
-besessen und geübt, als er. All diese strömende Fülle aber hat er
-immer nur den Leidenschaften und krausen Einfällen, den Ergüssen und
-Repliken seiner Gestalten geliehen; den Sinn dessen, was zwischen
-diesen Gestalten waltet, den Geist seiner Dichtungen hat er szenisch
-gebaut, hat ihn gezeigt, hat ihn sichtbar gemacht und zwischen den
-Worten aufleuchten lassen; er hat nie vermocht, einer seiner Gestalten
-in den Mund zu legen oder sonst irgend voll und gerade heraus zu sagen,
-was das Drama, was auch nur eine Gestalt bedeutet. Darum aber auch,
-weil diese Sprachwerke in ihrem Eigentlichen weit über die Sprache
-hinausgehn, weil sie nie abstrakte Lösungen, sondern immer Aufgaben
-für uns sind, weil sie nie fertig sind, sondern immer auf Empfängliche
-und Berufene stoßen müssen, die sie in Empfindung und Verständnis
-vollenden, darum sind sie heute noch jung und neu wie am ersten Tag und
-sind jedem neuen Geschlecht der Erdenbürger von neuem eine unbekannte
-Küste, zu der wir Entdeckungsfahrten machen.</p>
-
-<p>Auch das Verhältnis Prosperos zu seinem Bruder empfängt von dem
-Standpunkt aus, zu dem wir hier gekommen sind, neues Licht. Seine Frau,
-Mirandas Mutter, ist früh, bald nach der Geburt gestorben (dies Unglück
-trifft auffallend viele von Shakespeares Vätern; so nebenher, wenn er
-nicht gerade das Eheverhältnis selbst darzustellen hat, weiß er mit
-Ehefrauen selten etwas anzufangen); Prosperos ganze Liebe galt nun dem
-Kind und &mdash; er sagt<span class="pagenum"><a name="Seite_308" id="Seite_308">[S. 308]</a></span> es ausdrücklich &mdash; dem Bruder. Damals und noch
-lange hin, er bewährte es später bei dem Versuch, Caliban zu erziehen,
-war er noch ein Gläubiger, der die Menschen nach seinem Bilde sah und
-ihnen unbegrenztes Vertrauen entgegenbrachte. Nichts schmerzt und
-erzürnt ihn bei der Rückerinnerung mehr, als „daß ein Bruder so treulos
-sein kann“.</p>
-
-<p>Treulos aber war dieser gemütlos Gierige nicht bloß gegen den Bruder,
-genau so gegen das Volk von Mailand, dem er die Freiheit raubte, das er
-unter fremdes Joch brachte, um selbst den Herrscher zu spielen und die
-Staatseinkünfte zu genießen. Wir erhalten ein großes Gegensatzbild: wie
-Antonio der Usurpator sich eifrig und nach außen tätig im politischen
-Betrieb übt, die Bureaukratie und andre Interessenten an sich fesselt
-und vor lauter Egoismus so betriebsam ist, daß er kein eigenes Leben
-lebt, während Prospero, der sich zu völliger Einsamkeit zurückgezogen
-hat, fern von allen Staatsgeschäften nur seiner Seele lebt und eben
-damit dem Volke dient und sich als echter Herzog fühlt. Er, den das
-Volk über alles liebte, der ein Fürst unter den Menschen war, weil er
-ein Fürst im Reich des Geistes war, hat dann, während, vom Verräter
-hineingelassen, der Feind in Mailands Tore einzog, ausgesetzt in
-morschem Boot hilflos im Meer treiben müssen, und nur das Lächeln
-seines Kindes, in dem etwas Ewiges zu ihm sprach und ihm die Zuversicht
-gab, man brauche an den Menschen trotz allem nicht zu verzweifeln,
-gab ihm die Kraft, noch leben zu wollen. Damals, wie er, den Wellen
-und Winden preisgegeben, ein aus der Menschheit Verstoßener, vom
-nächsten Menschen Verratener, ziellos mit dem lächelnden Kind übers
-Meer hintrieb, mag dem innigen Mann zuerst die Vision erschienen sein,
-wie dieses Kind einst über Gier und Haß hinweg im Land seiner Feinde
-den Bund der Liebe gründen würde. Und nun ist es durch eine wunderbare
-Fügung des Schicksals so weit: jetzt kommen, von Tunis heimgekehrt, wo
-die Tochter<span class="pagenum"><a name="Seite_309" id="Seite_309">[S. 309]</a></span> des Königs von Neapel eine verhaßte Heirat schloß, zu der
-sie die Staatsraison ihres Vaters zwang, die Feinde in stolzer Fahrt
-über dasselbe Meer, das einst Prosperos elenden Kahn wiegte; sie sind
-in seiner Hand. Ferdinand, der Jüngling, fast ein Knabe noch, dessen
-Reinheit der Geisterfürst ahnt, wird von den andern getrennt; er allein
-von allen, die sich ins Wasser stürzten, kämpft kühn mit dem Element;
-so kommt er an Prosperos Strand, zu seiner Prüfung und seiner Liebe.
-Wir sehen, wie beglückt Prospero, wie dankbar er der Naturmacht Ariel
-ist, daß dieser erwünschte Bund nun wunderbar zustande kommen soll.
-Die andern aber, die Mörder, die sollen erst durch Wahnwitz hindurch,
-sollen wie im Alptraum ihre längst vergessene Schuld an Prospero
-empfinden, um in Herzensleid zu büßen und, wenn sie’s vermögen, zu
-reinem Leben zu kommen.</p>
-
-<p>Bei einem, dem mindest Schuldigen, dem König von Neapel gelingt es;
-noch ehe Ariel in Gestalt der Harpyie ihnen gemeldet hat, daß sie um
-ihres Verbrechens gegen Prospero willen leiden und nur durch Umkehr
-von innen heraus sich aus dem Bann befreien können, noch ehe ihnen der
-Geist so verkündet, was sie in all der langen Zeit nicht gewußt hatten,
-daß der Frevel nämlich eine Wirklichkeit ist nicht nur für den, gegen
-den er sich richtet, sondern auch für die Täter, eine Wirklichkeit,
-die lebt und zehrt, solange die Buße nicht ihr noch stärkeres Leben
-und Reinigen anhebt, schon vorher, gleich nach der Landung auf der
-Insel und beim Verlust des Sohns ist tiefe Schwermut und dumpfes Brüten
-über ihn gekommen; all die Einfälle, Witzreden und geistreichen oder
-gewagten Gespräche seiner Umgebung vermögen ihn nicht aufzuheitern und
-dienen von der Technik des Dichters aus nur dazu, uns immerfort das
-Schweigen dieses Mannes, der sich immer tiefer verliert und findet,
-vernehmlich zu machen. Die andern Schuldigen, Prosperos eigener Bruder
-und der Bruder des Königs, die jetzt eben wieder Brudermordpläne<span class="pagenum"><a name="Seite_310" id="Seite_310">[S. 310]</a></span>
-schmieden, welche nur von Ariel vereitelt werden, bleiben verstockt
-bis zuletzt, und keine Erinnerung, keine Musik, kein Wahnwitz, keine
-Mahnung kann ihnen Erneuerung bringen.</p>
-
-<p>Aber Prospero will die Prüfung und Plage nicht länger hinziehn; er hat
-sich genug getan, daß er die Macht des Geistes und der Natur gegen die
-aus der Gesellschaft geborene Schlechtigkeit verderbten Menschentriebs
-zum Sieg geführt hat; die Natur solcher ererbten, verderbten
-Gemütsart kann er doch nicht ändern; die Kruste, die in ihnen das
-Gute überwachsen hat, ist so hart geworden, daß der, der es noch bei
-ihren Lebzeiten wachrufen will, einem Nichts, einem unerreichbar
-Verschütteten gegenübersteht; und gegen das Nichts gibt es nicht Rat
-noch Tat; der resignierte Lehrer Calibans weiß es nur zu gut.</p>
-
-<p>Zur Milde und letztgiltigen Verzeihung stimmt ihn vor allem, in einer
-himmlisch schönen, verklärten Szene Ariel. Der spricht &mdash; ohne weitere
-Schilderung &mdash; von dem plötzlichen Wahnsinn, den er über die drei armen
-Sünder vom Thron verhängt hat, und von dem Eindruck, den diese grausige
-Verwandlung ihrer Fürsten auf die Herren vom Hof, vor allem auf den
-guten alten Gonzalo gemacht hat,</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Daß, wenn Ihr jetzt sie sähet, Eu’r Gemüt</div>
- <div class="verse">Erweichte sich.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Prospero fragt sinnend oder prüfend:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Glaubst du das wirklich, Geist?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>und Ariel erwidert in tiefem Ernst:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Meins würd’ es, wär’ ich Mensch.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Da ist Prospero entschieden und bricht in inniger Ergriffenheit aus:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Auch meines soll’s.</div>
- <div class="verse">Hast du, der Luft nur ist, Gefühl und Regung</div>
- <div class="verse">Von ihrer Not? und sollte nicht ich selbst,</div>
- <div class="verse">Ein Wesen ihrer Art, gleich scharf empfindend,</div>
- <div class="verse">Leidend wie sie, mich milder rühren lassen?...</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_311" id="Seite_311">[S. 311]</a></span>
- <div class="verse mleft8">Der Tugend Übung</div>
- <div class="verse">Ist höher als der Rache... Geh, befrei’ sie.</div>
- <div class="verse">Ich brech’ den Zauber, löse ihre Sinne:</div>
- <div class="verse">Sie soll’n sie selbst nun sein.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Ich weiß nichts, was rückwirkend eine bessere Erklärung für Hamlet
-wäre, als diese Wendung, wie sie der Sturm bringt. Wir werden nie wagen
-dürfen, zu entscheiden, wie weit die Unklarheit Hamlets über seine
-Motive und seinen heimlichen Willen eine Unklarheit des Dichters noch
-war, die jetzt der Klarheit gewichen ist; zu solchem Rätselraten hat
-sich Shakespeare zu tief in seinen Gestalten geborgen. Aber sicher
-ist, daß Hamlet, als er, die Hand am Schwert, um es zu ziehen, und
-zugleich an seinem Rachetrieb, um ihn nicht loszulassen, unentschieden
-dastand und darüber sann, wie er das Schwert schrecklicher zücken
-könne, auf der Suche nach dem war, was Prospero gefunden hat. Sehr
-seltsam dünkt mich das Verhältnis unsrer Empfindung zu den raschen
-Instinktuntaten, wie sie etwa Othello oder auch Hamlet begehen,
-und zu den wohlerwogenen, milden, kurzen Plagen, die Prospero über
-seine frevlerischen Feinde verhängt. Wir scheinen geneigt, mit jenen
-Ausbrüchen der Wut wie mit etwas Natürlichem mitzugehn, uns an den
-Strafen Prosperos, ja sogar an seinem rationellen Plageverfahren
-gegen den unbezähmbaren Wilden Caliban als etwas sehr Hartem zu
-stoßen. Das kommt, meine ich, daher, daß wir selbst die Bereitschaft
-zu jeder blutigen Gewalttat in uns locker genug finden, wenn wir in
-unsrer Triebnatur stehen, daß wir es aber, sowie wir zur Vernunft, zur
-Beherrschtheit, zur Abgeklärtheit übergetreten sind, nicht ertragen,
-irgendein lebendes und nun gar menschliches oder menschenähnliches
-Wesen als Mittel, ja sogar, ein Stadium seines Daseins als Mittel zu
-einem künftigen benutzt zu sehen. Wir haben beides als Möglichkeit
-in uns, den Affekt und die Vernunft; wir gehen aber in unbeirrtem
-Mitgefühl mit dem Triebmenschen,<span class="pagenum"><a name="Seite_312" id="Seite_312">[S. 312]</a></span> während wir beim Überlegenen jeden,
-auch den kleinsten Rest aus der tierisch-sinnlichen Sphäre als
-unangenehm empfinden.</p>
-
-<p>Im Hamlet hat eine Geisterstimme den Sohn, der seiner ganzen Anlage
-nach so ein Geistiger, so ein Dichter zu sein berufen ist wie
-Prospero, zur Rache aufgerufen; zu blutig mörderischer Tat drängt’s
-ihn unterirdisch von außen, unterirdisch in ihm selbst; von seiner
-inneren Höhe aber, von seinem besten Wesen ruft es ihn zur Gewalt
-der gestaltenden Rede, des strafenden, bannenden Worts, zu dem jetzt
-Prospero mit tiefem Atemzug ausholt. Und zu diesem Verzicht auf
-jegliche Strafe und Plage ermuntert hat ihn Ariel der Geist, dem Grazie
-und spielerische Leichtigkeit und holde Anmut etwas verleihen, was
-wie eine natürlich gewachsene Nachbildung des sanftesten Teils unsres
-menschlichen Gemüts ist, wo es von der Stille der Vernunft, wo Seele
-von Geist, Gefühl von Denken nicht mehr zu trennen ist.</p>
-
-<p>Wozu auch, sagt sich Prospero, wozu strafen, verletzen, töten, Leben
-zerstören? Ist ja doch alles Leben nur ein seltsames Spiel, das mit uns
-getrieben wird, und so unwirklich und vergänglich, wie der Geisterspuk
-und Hokuspokus, den er selbst schmerzlos entstehen und vergehen läßt.
-Schmerzlos! Das ist der Unterschied zwischen dem Leben der Gestalten,
-die der Phantast in die Lüfte zaubert, und derer, die das dunkle
-Schicksal aus den Elementen ins Dasein bannt. Darum tut Milde und
-inniges Mitleid not, auch gegen die Schlechten: das Leben, an dem die
-dämonischen, erdenschweren Naturkräfte hämmern und zerren, ist mit
-Gefühlen, mit Schmerzen verbunden, gleichviel ob einer gut oder schlimm
-geraten ist, während Prosperos luftiger Trug nur Spiel und bunter,
-flimmernder schmerzloser Geistertraum ist. Sonst aber freilich, was ist
-Leben, was ist Erde, was ist Welt andres als Traum und Spiel?</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_313" id="Seite_313">[S. 313]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Unsre Spieler,</div>
- <div class="verse">Wie ich Euch sagte, waren Geister und</div>
- <div class="verse">Sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft.</div>
- <div class="verse">Wie dieses Scheines lockrer Bau, so werden</div>
- <div class="verse">Die wolkenhohen Türme, die Paläste,</div>
- <div class="verse">Die hehren Tempel, selbst der große Ball,</div>
- <div class="verse">Ja, was daran nur teilhat, untergehn</div>
- <div class="verse">Und, wie dies leere Schaugepräng erblaßt,</div>
- <div class="verse">Spurlos verschwinden. So ein Stoff sind wir,</div>
- <div class="verse">Wie der, aus dem man Träume macht; ein Schlaf</div>
- <div class="verse">Hält unser Stückchen Leben rings umgürtet.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Man hat gezeigt, daß diese Worte Ähnlichkeit mit einigen Verszeilen
-haben, die sich in einer 1603 erschienenen Tragödie des Lord Stirling
-finden. Das ist nicht wichtig. Wichtiger ist mir, daß das ganze
-modische Maskenspiel, das Prospero vor Ferdinand und Miranda von
-seiner kleinen Geistertruppe in den Lüften aufführen läßt, eben um
-dieser Worte willen, die daran anknüpfen, hauptsächlich veranstaltet
-scheint. Derart ist Shakespeares Technik in dieser Zeit; wir haben
-Ähnliches vorhin bei Gelegenheit der Dialoge gesehen, die Alonsos
-Schweigsamkeit umklingen. Ein wenig kann bei der Maske, die aufgeführt
-wird, mitbeabsichtigt sein, noch einmal die bräutliche Beherrschung des
-Geschlechtstriebs hervorzuheben, die Prospero dem jungen Menschenpaar,
-fast noch zwei Kindern, auferlegt hat. Das steht mit dem Sinn des
-Dramas, der Überwindung des Triebs durch den Geist, wohl aber auch
-in seiner fast etwas schrullenhaften Gestalt mit unauslöschlichen
-persönlichen Erfahrungen Shakespeares aus der Jugendzeit in Verbindung.</p>
-
-<p>Wir hören es aus den Worten von der Vergänglichkeit, die Prospero zu
-Ferdinand spricht: die Heiterkeit, zu der der Herrscher im Geistland
-schließlich gelangt ist, ruht auf schwerster Melancholie; und seine
-Güte zu den Menschen ist mit Lebensmüdigkeit und Menschenverachtung
-ver<span class="pagenum"><a name="Seite_314" id="Seite_314">[S. 314]</a></span>bunden; und dieser Stimmung widerspricht nichts in dem Stück; die
-Utopie eines goldnen Zeitalters in Kommunismus und südlichem <em>dolce
-far niente</em>, die Gonzalo nach Montaigne vorträgt, kommt nur als
-Erheiterung für den Trübsinn des Königs, als schönes Bild, als Scherz,
-keineswegs gläubig heraus; und wenn Prospero nicht Geisterfüllte,
-Seelenvolle, wenn er nicht Ausnahmen und seines Gleichen kennte, wenn
-er nicht seine Hoffnung auf das junge liebende Paar und damit auf die
-kommenden Geschlechter setzte, wäre ihm Welt und Leben nicht mehr zu
-ertragen.</p>
-
-<p>Schön ist es, daß diese Worte von der Vergänglichkeit aller Dinge der
-Welt, von der Traumhaftigkeit und Schlafumgürtung des Menschenlebens
-ihren Platz am Sockel von Shakespeares Denkmal in der Westminsterabtei
-gefunden haben.</p>
-
-<p>Wie das Leben von Schlaf und Traum, so ist dieses Vermächtnisdrama
-Shakespeares von Musik umringt. Wir hören es gleich noch, wie jetzt für
-Prospero-Shakespeare an Stelle der dämonisch leidenschaftlichen Magie
-die heilende, lösende Musik der neue, der luftgleiche, verschwebende,
-leicht sich wiegende, spielerische, immaterielle Zauber sein soll.
-Was es mit dieser Musik, der nämlichen, von der schon Lorenzo im
-Kaufmann von Venedig so feierlich sprach, auf sich hat, sagt uns der
-Dichter auch mit dem entzückenden Orpheuslied, das er um dieselbe Zeit,
-in der er den Sturm dichtete, in seinem Heinrich VIII. der
-unglücklichen Königin Katharina vorsingen läßt:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Orpheus beugt der Bäume Wipfel,</div>
- <div class="verse">Und der Berge eisige Gipfel</div>
- <div class="verse">Seiner Leier süß Getön.</div>
- <div class="verse">Blum’ und Pflanze blüht entgegen,</div>
- <div class="verse">Gleich als blüht’ in Sonn’ und Regen</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_315" id="Seite_315">[S. 315]</a></span> <div class="verse">Junger Frühling, ewig schön.</div>
- <div class="verse">Sanft zum Wellenspiel sich lösen</div>
- <div class="verse">Sturmesfluten, alle Wesen</div>
- <div class="verse">Lauschen seines Sangs Gebot.</div>
- <div class="verse">Solche Macht ward süßen Klängen;</div>
- <div class="verse">Sorg und Weh, die uns bedrängen,</div>
- <div class="verse">Wiegen sie in sanften Tod.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Durch Geistermusik läßt Prospero die Besessenen von dem auferlegten
-Wahnsinn einer kurzen Stunde wieder heilen, läßt sie vor sich treten,
-gibt sich ihnen noch in den Taumelschlaf hinein zu erkennen und
-spricht, da er die Hauptschuldigen von der Schlechtigkeit, von der sie
-besessen sind, nicht erlösen kann, mit der verachtungsvollen Milde, die
-jetzt für ihn die äußerste Strenge ist, die der Geist zu üben hat, zu
-dem Brudermörder:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Fleisch und Blut,</div>
- <div class="verse">Mein Bruder du, der Ehrgeiz hegte, austrieb</div>
- <div class="verse">Gewissen und Natur, der mit Sebastian</div>
- <div class="verse">&mdash; Des inn’re Pein deshalb die stärkste &mdash; hier</div>
- <div class="verse">Den König wollte morden, &mdash; ich verzeih’ dir,</div>
- <div class="verse">Bist du schon unnatürlich!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Der Bruder Antonio findet in der ganzen langen Szene erst gegen den
-Schluß hin ein einziges Mal, wie ihn sein Kumpan Sebastian direkt
-anredet, ein paar Wörtchen; die beiden rohen Bemerkungen, die die
-zwei Gesellen austauschen, zeigen genugsam, daß ihre Gemeinheit auch
-von diesem Erlebnis, das für König Alonso die zermalmende und neu
-aufbauende Erschütterung war, nicht umzubringen ist. Aber im Verhältnis
-zu allen andern, die bei dem Vorgang sind, stehen die beiden wie
-fortgeschoben und entehrt zur Seite. Der Usurpator ist von nichts, für
-ihn nichts, von bloßen Worten überwunden; er ist zu nichts geworden und
-hat sein Herzogtum eingebüßt und wird im Leben nicht fassen, daß eine
-andere Macht ihn besiegt hat als die, die er versteht und übt: rohe
-Gewalt.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_316" id="Seite_316">[S. 316]</a></span></p>
-
-<p>Der Geisterfürst ist wieder Herzog von Mailand; bald aber wird das
-junge Paar an seiner Stelle herrschen; denn Prospero will nur mit nach
-Italien segeln, um seine „Herzgeliebten“ zu vermählen und dann nach
-Mailand zu ziehen; dort soll „jeder dritte Gedanke dem Grab gelten“.</p>
-
-<p>Seine Geister aber hat er schon hier, auf der Zauberinsel, auf der
-er ihre Kraft an sich gefesselt hat, entlassen; er ist nun am Ziel
-und will als ein gewöhnlicher, sterblicher, sterbender Mensch in die
-Heimat zurückkehren; die Kraft der Magie, mit der er Feuer aufrührte
-und Stürme entfesselte, ist zu Ende, und auch am luftig leichten
-Arielspiele will er fürder keine Lust mehr haben. Wir, die wir uns
-Shakespeares Werk in feiner Gesamtheit, Einheit und Entwicklung
-vergegenwärtigt haben, müßten verhärteten Herzens sein, wenn wir bei
-diesen Worten Prosperos nicht im ganzen und im einzelnen in wundersamer
-Gemeinschaft den gewaltig erhabenen, fast unbegreiflichen, wonnevollen
-Stolz und die leidvollste, die wahrhaft abscheidende Resignation
-William Shakespeares vernähmen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">Ihr Geister alle,</div>
- <div class="verse">Mit deren Hilfe ich am Mittage</div>
- <div class="verse">Die Sonn’ umhüllt, aufrühr’sche Wind’ entboten,</div>
- <div class="verse">Die grüne See mit der azurnen Wölbung</div>
- <div class="verse">In lauten Kampf gefetzt, den furchtbarn Donner</div>
- <div class="verse">Mit Feuer bewehrt und Jovis Baum gespalten</div>
- <div class="verse">Mit seinem eignen Keil, des Vorgebirgs</div>
- <div class="verse">Grundfest’ erschüttert, ausgerauft am Knorren</div>
- <div class="verse">Die Ficht’ und Zeder; Grüft’, auf mein Geheiß,</div>
- <div class="verse">Erweckten ihre Toten, sprangen auf</div>
- <div class="verse">Und ließen sie heraus, durch meiner Kunst</div>
- <div class="verse">Gewalt’gen Zwang: all dieses grause Zaubern</div>
- <div class="verse">Schwör’ ich hier ab; und hab’ ich erst &mdash; wie jetzt</div>
- <div class="verse">Ich’s tue &mdash; himmlische Musik gefordert,</div>
- <div class="verse">Zu wandeln ihre Sinne, wie die luft’ge</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_317" id="Seite_317">[S. 317]</a></span> <div class="verse">Magie es soll: so brech’ ich meinen Stab,</div>
- <div class="verse">Begrab’ ihn manche Klafter in die Erde,</div>
- <div class="verse">Und tiefer, als ein Senkblei je geforscht,</div>
- <div class="verse">Will ich mein Buch ertränken.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Dies ist das letzte Drama Shakespeares, das hier zu besprechen war. Es
-bleibt noch seine persönliche Lyrik, in der wir schon seinem inständig
-schweren Leben, seiner Innerlichkeit und Persönlichkeit ganz nahe
-treten. Nach 1612 wissen wir von keinerlei dichterischer Tätigkeit
-Shakespeares mehr, von 1613 an ist er in seiner Vaterstadt Stratford,
-und 1616 ist er dort gestorben: ein König ohne Land, ein Verbannter
-und vom Geist Gezeichneter und wahrhaft Ausgesetzter, ein Zauberer und
-Geistesfürst ohnegleichen, ein Herrscher über Natur und Geist, dem
-nichts Menschliches fremd war und der darum sein Leben lang ein Fremder
-war unter den Menschen.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_318" id="Seite_318">[S. 318]</a></span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Die_Sonette">Die Sonette</h2>
-
-</div>
-
-<p class="initial">Ich sage etwas voraus, was nicht gesagt zu werden brauchte, aber ich
-sage es: Daß Shakespeares Sonette da sind und zu uns sprechen, daß wir
-über sie reden dürfen, ist eine Ehre, die wir durch ganz unbedenkliche
-Freiheit und Würde zu verdienen haben. Ich werde also frei sagen, was
-die Sache verlangt; der Genius der Freiheit hat diese Gedichte gezeugt.
-Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß viele Leute diesen Sonetten
-gegenüber verlegen und verschämt werden; und solange das Publikum es
-nicht verwehrt, dürfen auch solche sich als Kritiker auftun; aber sowie
-sie dann etwas anderes sagen, als daß diese Sonette sie in Verlegenheit
-setzen, sowie sie ihren offenbaren Sinn fälschen wollen oder etwa
-sagen, diese Gedichte hätten keinen großen Wert, wären langweilig
-und dergleichen, so muß man ihnen bedeuten, daß es zu weit geht,
-aus der Verlegenheit die Verlogenheit und aus der Verschämtheit die
-Unverschämtheit zu machen.</p>
-
-<p>„Shakespeares Sonette, bisher noch nie gedruckt“, erschienen 1609, um
-die Zeit also etwa von Troilus und Cressida, Antonius und Cleopatra
-und Coriolan. Als Verleger war T. T. genannt, das ist Thomas Thorpe.
-Als Anhang folgt in dieser Ausgabe die Romanze Der Liebenden Klage.
-Manche haben dieses Gedicht aus einem triftigen Grund, der oft
-vorhalten muß, weil es nämlich manchen nicht gefiel oder nicht paßte,
-Shakespeare absprechen wollen; sonst gibt es für diesen Versuch keinen
-Grund. Übrigens ist es in der Einkleidung schwach und modisch, in der
-Form vollendet, so wie die beiden großen episch-lyrischen Gedichte
-Shakespeares, an die es auch sonst erinnert. Ich schließe mich der
-Meinung, die öfter geäußert wurde, durchaus an, daß dies Gedicht, das
-nach Art und Form nichts mit den Sonetten zu tun hat, beigefügt wurde,
-weil es ein Porträt des in den Sonetten besungenen<span class="pagenum"><a name="Seite_319" id="Seite_319">[S. 319]</a></span> Freundes bringt und
-also inhaltlich sehr viel mit ihnen zu tun hat.</p>
-
-<p>Daß die Veröffentlichung dieses Buches mit Shakespeares Wissen und
-Zustimmung geschah, ist sehr wahrscheinlich. Daß die überaus kunstvolle
-Anordnung vom Dichter selbst stammt, ist so wenig zu bezweifeln, wie
-daß Goethe seine Gedichte selbst geordnet hat.</p>
-
-<p>Daß diese 1609 veröffentlichten Sonette mindestens zu beträchtlichem
-Teil einer weitaus früheren Zeit entstammen, ist sicher. Erwähnt hat
-sie &mdash; für uns &mdash; zuerst 1598 in Shakespeares 34. Lebensjahr Francis
-Meres in dem Lob Shakespeares, das hier öfter erwähnt wurde; da spricht
-er von Shakespeares „zuckersüßen Sonetten unter seinen privaten
-Freunden“ und vergleicht diese Gedichte mit Ovid; in dem Ausdruck
-zuckersüß darf man nur Lob hören, keinerlei ironische Nebenbedeutung.
-Im Jahr darauf, 1599 erschien dann eine Sammlung von Gedichten, die
-Shakespeares Namen trug: Der verliebte Pilger; es ist kaum möglich
-zu entscheiden, ob diese Gedichte &mdash; zwanzig an der Zahl &mdash; alle
-Shakespeare zugehören, da einige sich auch in Sammlungen anderer
-Dichter finden; aber zwei Sonette, die auch in der endgültigen Sammlung
-von 1609 stehen, zwei sehr wichtige, um die sich dem Sinne nach andre
-gruppieren, sind schon da 1599 veröffentlicht.</p>
-
-<p>Es gibt Übereinstimmungen gedanklicher und formaler Art, die von dieser
-Sonettendichtung zu Shakespeares beiden großen Gedichten aus den Jahren
-1593 und 1594 leiten, und ebenso zu den frühen Liebesspielen, besonders
-den beiden Veronesern und der Verlornen Liebesmüh.</p>
-
-<p>Wir haben also anzunehmen, daß die Sonettenproduktion und das zu Grunde
-liegende Erlebnis oder, vorsichtig gesagt, ein zu Grunde liegendes
-Erlebnis schon in den neunziger Jahren einsetzen.</p>
-
-<p>Andere von diesen Gedichten aber wieder sind nach Inhalt, Stimmung und
-Form so anders, so reif, düster, streng,<span class="pagenum"><a name="Seite_320" id="Seite_320">[S. 320]</a></span> daß eine spätere Zeit der
-Abfassung, bis gegen 1605 hin mindestens anzunehmen ist. Ich lasse
-mich dabei nicht von der Strenge, Festigkeit und Geschlossenheit,
-der Neigung zur Antithese, zum Witz, zum Geist täuschen, die schon
-die Form des Shakespearesonetts mit sich bringt; über das, was all
-diesen Sonetten gemeinsam ist, hinaus, wachsen einige ins besonders
-Herbe, Abgewandte und Furchtbare; sprechen überdies von Erfahrungen,
-die der jüngere Shakespeare nicht haben konnte. Über etwa ein Dutzend
-Jahre also kann sich sehr wohl die Entstehung dieser Sonettendichtung
-erstreckt haben.</p>
-
-<p>T. T. der Verleger hat dem Buch eine Widmung mitgegeben, der ich so
-wörtlich wie möglich hier eine deutsche Fassung zu geben suche:</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>Dem einzigen Erbringer dieser nachfolgenden Sonette Herrn W. H.
-alles Glück und jene von unserm immerlebenden Dichter verheißene
-Ewigkeit wünscht der wohlwünschende Abenteurer beim Auslaufen. T. T.</p></div>
-
-<p>Bei der Übertragung der Schlußwendung (<em>the wellwishing adventurer
-in setting forth</em>) habe ich mir von dem trefflichen Sprachenmeister
-Regis helfen lassen; ich glaube in der Tat, daß der Mann T. T. in
-seiner geschraubten Sprache, in der sich Modeton und kleinbürgerliche
-Unbeholfenheit treffen, seine Empfindung, daß er als Verleger ein
-Wagnis begehe, mit diesem aus der Schiffersprache genommenen Bild hat
-ausdrücken wollen. Mit dem gedrechselten Wort Erbringer versuche ich
-<em>begetter</em> wiederzugeben. Damit steht es so. Die einen sagen,
-es heiße hier, was der gewöhnlichen Bedeutung von <em>to beget</em>
-entspricht: Erzeuger. Die andern beziehen sich auf eine seltenere
-Bedeutung des Zeitworts und sagen: Nein, es ist Beschaffer gemeint; der
-nämlich, der dem Verleger das Manuskript verschafft hat. Nach Prüfung
-der beiderseitigen Argumente finde ich, daß alle beide recht haben,
-und glaube, daß der Verleger dieses beides mit der einen Bezeichnung
-in ver<span class="pagenum"><a name="Seite_321" id="Seite_321">[S. 321]</a></span>schwommener Wortgemeinschaft hat ausdrücken wollen: Du bist
-der Mann, an den diese Sonette sich richten, dem der Dichter die
-Unsterblichkeit verheißen hat, welche ihm selbst nicht fehlen wird,
-und dir verdanke ich die Möglichkeit, daß ich sie herausgeben darf;
-ich bescheidener Mann will dir dasselbe wünschen, was dir der Dichter
-gelobt hat. Sicher ist, daß der Dichter in diesen Sonetten die Ewigkeit
-nur dem Freund verheißen hat, an den sie sich richten; und dem und
-keinem andern widmet der Verleger das Buch. Daß er den aber auch in
-dem anderen Sinn den <em>begetter</em> der hier folgenden Sonette nennt,
-ist sehr wohl möglich. Wir wissen nichts weiter, und es bleibe jedem
-überlassen, wie er sich dieses Beschaffen vorstellen will: ob dadurch,
-daß er ihm eine Abschrift der Sammlung verschaffte, oder so, daß er
-die Erlaubnis oder die Anregung zum Druck gab. Ich denke, bei näherer
-Bekanntschaft mit den Tatsachen wird jeder zugeben müssen, daß auch
-der waghalsigste Abenteurer nicht ohne Zustimmung des Objekts dieser
-Gedichte das Buch veröffentlicht hätte, es sei denn, man nehme an, der
-Besungene sei schon tot gewesen, wofür nichts spricht. Ich halte für
-wohl möglich, daß der Mann, den T. T. Herrn W. H. nennt, veranlaßt
-hat, daß das Dichtwerk erschien; daß für ihn darin höchstes Lob,
-Anzweifelung und bitterer Tadel vereint zu finden war, beirrt mich
-durchaus nicht; es gibt solche Männer, die für ein solches Verhältnis
-zu einem großen Künstler eine Mischung von Geheimnis und Öffentlichkeit
-brauchen, und W. H. könnte ein solcher gewesen sein.</p>
-
-<p>Wer ist dieser Mr. W. H.? An wen richten sich diese Sonette?</p>
-
-<p>Man hat viel herumgeraten, ist sogar auf William Himself, William
-(Shakespeare) in Person und auf die Königin Elisabeth geraten, und
-hat sich, wie in fast allen Shakespearefragen, nur ganz selten
-zu dem Geständnis bequemt, man wisse es nicht und es gebe keine
-Möglichkeit, es aus<span class="pagenum"><a name="Seite_322" id="Seite_322">[S. 322]</a></span> dem Material, das uns vorliegt, herauszubekommen.
-In England stehen in der Gegenwart zwei Parteien einander gegenüber,
-von denen die zweite im Vordringen ist: die erste entscheidet sich
-für Henry Wriothesley Graf von Southampton, die zweite für William
-Herbert Earl von Pembroke. In Deutschland nehmen es die meisten für
-selbstverständlich, daß die Sonette dem Gönner und Patron Shakespeares
-galten, womit Graf Southampton gemeint ist.</p>
-
-<p>Beide Parteien arbeiten viel mit gewissen Anspielungen auf
-Zeitereignisse, die sich in den Sonetten finden und die nach ihrer
-Behauptung nur auf den Mann deuten können, auf den sie gewettet haben.
-In Wahrheit sind die Stellen, die man anführt, viel zu unbestimmt,
-vieldeutig, allgemein, als daß man sie auf etwas Bestimmtes beziehen
-könnte.</p>
-
-<p>Ich habe nun zu sagen, was ich weiß und was ich nicht weiß.</p>
-
-<p>Die Abkürzung Mr., Master, woraus dann Mister geworden ist, ist
-lediglich die Anrede für Bürgersleute. Wenn aber &mdash; wie wir noch sehen
-werden &mdash; etwas mit Sicherheit aus dem Inhalt der Sonette hervorgeht,
-so ist es zuvörderst das, daß der Angeredete der höchsten Aristokratie
-angehörte. Es liegt also, wie zu erwarten war, in der Widmung eine
-Mystifikation, die sich, meine ich, der Herausgeber nicht ohne
-Zustimmung des Betroffenen erlauben durfte. Ist das aber so, dann wäre
-es nicht unbedingt nötig, daß die Buchstaben Mr. W. H. etwas mit den
-Anfangsbuchstaben seines Namens zu tun haben. Die Southamptonisten
-sagen: es ist eine Umstellung von Henry Wriothesley, oder auch: es ist
-Wriothesley Hampton, oder auch: es ist bloß irgendein unbekannter,
-gleichgültiger Beschaffer des Manuskripts; die Herbertisten haben es
-leichter: William Herbert.</p>
-
-<p>Ich kann aber noch einen Schritt weiter gehn und sage: trotz aller
-Einschränkung der Verläßlichkeit der beiden<span class="pagenum"><a name="Seite_323" id="Seite_323">[S. 323]</a></span> Buchstaben W. H. durch
-das unzutreffende Mr. haben wir doch wieder Grund, sie beide für eine
-Namensbezeichnung zu halten, weil das W sicher zutrifft. Gar kein
-Zweifel darf für jeden, der die Sprache der Sonette kennt, bestehen,
-daß der Vorname des Freundes uns mitgeteilt ist: er heißt William. In
-drei Sonetten findet sich das anmutige Spiel mit „Will“ als dem Willen
-der launisch tyrannischen Geliebten und dem Namen William für die
-Liebenden alle beide: durch dieses dreifache Will wird das seltsame
-Verhältnis der drei Menschen zu einander ausgedrückt.</p>
-
-<p>Das also wissen wir: der Freund war ein Jüngling aus hohem Adel und hat
-wie Shakespeare William geheißen.</p>
-
-<p>Auf Hypothesen baue ich nichts; um Tatsachen komme ich nicht herum.
-Solange man nicht auf Grund irgendeiner Tatsache wahrscheinlich macht,
-daß der Graf Southampton außer seinem Taufnamen den Rufnamen William
-gehabt hätte, kommt er mir für die Sonette nicht mehr in Betracht. Was
-sonst für ihn angeführt wird, ist nicht durchgreifend: Shakespeare hat
-ihm 1593 devot und im üblichen unausstehlichen Dedikationston Venus
-und Adonis gewidmet; er hat ihm im Jahr darauf schon in herzlicher
-Vertraulichkeit, wiewohl immer noch in gezierter Modesprache die
-Lucretia gewidmet. Das könnte aber nur etwas beweisen, wenn man zeigte,
-daß Shakespeare mit keinem andern jungen Adligen vertraut sein konnte,
-wozu keinerlei Möglichkeit ist. Statt dessen aber weiß man, daß es
-geradezu Mode war, dem Grafen Southampton in Herzlichkeit und Verehrung
-Werke zu widmen; wir kennen eine große Zahl solcher Widmungen;
-Chapman, der Homerübersetzer, nennt ihn nicht etwa den Gönner des
-Einzigen, sondern den „Auserwählten <em class="gesperrt">aller</em> edlen Geister unsres
-Vaterlands“, und Nash begrüßt ihn in einer Widmung als einen „teuren
-Freund und Begünstiger sowohl der Dichter-Freunde als der Dichter
-selbst“. Da kann man sich von seinem vielseitigen Mäcenatentum ein Bild
-machen; und ich habe nichts<span class="pagenum"><a name="Seite_324" id="Seite_324">[S. 324]</a></span> dagegen, daß man ihn sich als Begünstiger
-des Freundschaftsbundes zwischen William Shakespeare und dem andern
-William vorstellt.</p>
-
-<p>Für William Herbert Earl von Pembroke steht die Sache viel besser; er
-hat den großen Vorzug, daß er William, daß er W. H. heißt. Die Widmung
-der beiden Gedichtbände an Southampton wird dadurch wettgemacht, daß
-Shakespeares Freunde Heminge und Condell die Gesamtausgabe eben diesem
-William Herbert und seinem Bruder Philipp gewidmet haben und diesem
-„adligsten und unvergleichlichsten Bruderpaar“ nachrühmten, sie hätten
-den Stücken Shakespeares und ihm selbst bei seinen Lebzeiten viel Gunst
-erwiesen.</p>
-
-<p>Wäre William Herbert der Freund der Sonette, so könnten die frühesten
-dieser Sonette, die zu dem Zyklus vereinigt sind, nicht wohl vor 1598
-geschrieben sein; da kam der junge Adelsmann als Achtzehnjähriger
-nach London. Das nehme ich nicht gern an; aber es könnte sein. Meres
-könnte, als er 1598 von Sonetten Shakespeares sprach, die unter seinen
-privaten Freunden kursierten, gerade einige der ersten kennen gelernt
-haben, ganz abgesehen davon, daß, was er kannte und rühmte, auch solche
-Sonette gewesen sein können, die gar nicht auf uns gekommen sind.
-Und es spricht nicht gegen die Herberttheorie, daß 1599 der Verleger
-Jaggard zwei von den Sonetten, die unserem Dichtwerk angehören, in den
-Verliebten Pilger aufnehmen konnte.</p>
-
-<p>Aber was in aller Welt zwingt oder berechtigt uns denn, aus der
-Möglichkeit eine Notwendigkeit zu machen? Wäre das Geheimnis so
-durchsichtig gewesen, daß wir, die wir eigentlich gar nichts wissen,
-die sichere Lösung finden, warum haben dann weder Shakespeares
-Zeitgenossen noch die ersten Forscher, die Nachrichten aus seinem Leben
-zusammentrugen, etwas davon berichtet? Ja, wenn die Sache so auf der
-Hand liegt, so aus den Sonetten selbst herauszulesen ist, wie jede<span class="pagenum"><a name="Seite_325" id="Seite_325">[S. 325]</a></span>
-der beiden Parteien behauptet, warum zierte dann der wackere Thorpe
-sein Buch nicht einfach mit dem Namen des Freundes? Denn lesen konnten
-Shakespeares Zeitgenossen auch; und Anspielungen auf Zeitumstände, die
-wir mit ausschließlicher Sicherheit deuten können, mußten für sie gar
-ganz handgreiflich sein.</p>
-
-<p>Mit alledem ist es aber nichts; nichts ist bewiesen, als daß die
-Sonette sich an einen Adligen richten, der William hieß. Und es schadet
-gar nichts, daß wir weiter nichts wissen. Weder die Southamptonisten
-noch die Herbertisten haben zu dem Verhältnis, wie es in den Gedichten
-steht, aus anderweitiger Kenntnis das allergeringste dazugebracht. Wir
-wissen davon auf jeden Fall, was in den Gedichten steht, und überdies
-nichts.</p>
-
-<p>Das Gedichtwerk besteht im ganzen aus 154 Sonetten. Davon stehen die
-letzten beiden, die eigentlich nur eines in zwei Fassungen sind, für
-sich; ein Epigramm aus der griechischen Anthologie &mdash; von dem es
-lateinische Übersetzungen gab &mdash; wird nachgebildet und fortgeführt;
-und es steht da als sinnvoller, vom Persönlichen ins Allgemeine
-verflößender, besänftigender Abschluß des ganzen Zyklus: das Feuer der
-Liebe durchdringt alles; nicht einmal Wasser löscht es aus, das Wasser
-selbst wird feurig und kocht; und dieses von Liebe durchglühte Wasser
-&mdash; der heiße Sprudel &mdash; kann wohl Krankheiten des Leibes heilen, aber
-kein Wasser kann die Liebe kühlen, die Liebeskrankheit heilen. Dieses
-letzte Motiv, mit dem die ganze Sonettenfolge schließt, daß der von der
-Liebe Geschlagene vergebens im Heilbad Heilung von der Liebeskrankheit
-sucht, findet sich in der antiken Vorlage nicht.</p>
-
-<p>Die übrig bleibenden 152 Sonette bilden einen Zusammenhang, der sich
-zunächst wieder in eine große und eine kleine Abteilung spaltet:
-1&ndash;126 und 127&ndash;152. Da ich annehme, daß Shakespeare das Buch, wie es
-uns vorliegt, komponiert hat, brauche ich die Teilung in 126 und
-dann 26 für<span class="pagenum"><a name="Seite_326" id="Seite_326">[S. 326]</a></span> keinen Zufall zu halten; ein bißchen mit Zahlen spielen
-die Dichter alle gern; das ist wie ein spielerisches Ausruhen vom
-bannenden Spiel des Rhythmus; und der Dichter hat gewiß das Werk aus
-einem größeren Vorrat zusammengestellt und manches weggelassen. Die
-kleine, als Anhang folgende Abteilung der 26 Sonette richtet sich an
-die schwarzäugige, auch sonst schwarze Geliebte &mdash; möge diese Wendung,
-die ihr Recht hat, nur keiner nach Art von Wilhelm Jordan verstehen,
-der diese Frau in allem Ernst mit abgeschmacktesten Deutungen und
-Deutlichkeiten für eine Negerin erklärt hat! Dieser kleine Zyklus
-steht in engster Verbindung mit dem vorhergehenden großen, in dem die
-nämliche Frau schon ihre Rolle spielt.</p>
-
-<p>Die Sonette 1&ndash;126 richten sich unmittelbar an den Freund. Daß diese
-Gedichte der Liebe im ganzen einem Freund und nicht einer Geliebten
-gelten, ist längst solchen, die es nicht haben wollten, aus einzelnen
-Stellen zwingend bewiesen worden. Das tut heute nicht mehr not;
-die Wahrheit ist durchgedrungen. Aber da auch neueste Erklärer den
-unwürdigen Versuch machen, wo nur die allgemeingültige Sprache der
-Liebe es zuläßt, wieder einzelne Steine aus dem Bau herauszubrechen
-und Shakespeare vor dem Verdacht, er habe dem Freund leidenschaftliche
-Worte der Anbetung gewidmet, zu retten, ist die seltsam beschämende
-Geschichte, die diese Gedichte im Urteil der Kunstrichter erlebt haben,
-immer noch nicht veraltet.</p>
-
-<p>In die Gesamtausgabe haben Shakespeares Freunde 1623 nur die
-Bühnenwerke aufgenommen, keins von den Gedichten. Die Sonette wurden
-nach der ersten Ausgabe von 1609 erst im Jahre 1640, zusammen mit den
-andern Gedichten, wiedergedruckt; der Herausgeber zerstörte &mdash; wie
-später bei uns Bodenstedt &mdash; die wundervolle und notwendige Anordnung
-und ließ eine Reihe Sonette fort. Als einheitliches Gedichtwerk
-kamen sie erst wieder 1710 heraus, ein Jahrhundert nach ihrem ersten
-Erscheinen;<span class="pagenum"><a name="Seite_327" id="Seite_327">[S. 327]</a></span> und der Herausgeber erklärte, sie seien alle miteinander
-dem Lobe der Geliebten gewidmet. Damit war eine Losung ausgegeben, bei
-der es bis 1780 blieb; da sprachen erst Malone und die andern Forscher,
-die ihm beim Kommentieren halfen, die klare Wahrheit aus. Chalmers
-versuchte es mit der Theorie des Mannweibs, der Königin Elisabeth
-nämlich, konnte aber kein Glück mehr damit haben. Die Gelehrsamkeit
-half sich jetzt anders; Drake 1817 und noch später berühmte Forscher
-wie Dyce, Charles Knight und Nicolaus Delius erklärten, hinter diesen
-Gedichten stünden im allgemeinen gar keine Erlebnisse; es handle sich
-um eine warnende Darstellung unerlaubter Liebe, meinte der eine; um ein
-bloßes Spiel der Phantasie, sagten so ungefähr die andern.</p>
-
-<p>Daran nun läßt sich immerhin eine ernsthafte Frage knüpfen. Ist es
-denn sicher, darf gefragt werden, ob diese Gedichte alle an einen und
-den nämlichen Mann gerichtet sind, und ob die Folge dieser Gedichte
-etwa die zeitliche Folge eines einheitlich in sich zusammenhängenden
-Erlebnisses darstellt?</p>
-
-<p>Wir müssen immer unterscheiden zwischen biographischen Tatsachen, auf
-die wir aus dem Buche schließen wollen, und dem Dichtwerk, wie es uns
-der Dichter gegeben hat, auf daß wir es ganz für sich nehmen sollen.
-Was die Tatsachen aus Shakespeares Leben angeht, so wissen wir davon
-außerhalb des Buches gar nichts. Es ist aber kein Zweifel, daß die
-Ordnung der Gedichte künstlich und künstlerisch ist. Viele, je zwei
-und mehrere, haken in einander ein, so daß ein Gedicht aus Gedichten
-entsteht; die einzelnen Sonette sind nur wie Strophen; niemand kann
-entscheiden, ob jedesmal die Gedichte von vornherein so im Zusammenhang
-entstanden, ob manchmal dieses Ineinandergreifen erst vom Ordner
-hergestellt wurde. Auch wie sich das Herausströmen des Gefühls aus den
-Notwendigkeiten der Unwillkürlichkeit und das gebietende, komponierende
-Schaffen zu einander verhalten, kann man nicht sagen.<span class="pagenum"><a name="Seite_328" id="Seite_328">[S. 328]</a></span> Keinem aber,
-der aus eigenem Erleben heraus für die Dichtung empfänglich ist,
-kann in Zweifel stehen, daß diese Sonette Gelegenheitsgedichte im
-Sinne Goethes, daß sie erlebt sind und daß auch ihr Zusammenhang dem
-Zusammenhang eines Erlebnisses entspricht. Der so dieses Dichtwerk
-empfängt, wird nicht zweifeln, daß die meisten, die zyklischen
-dieser Gedichte im Leben des Dichters an eine und die nämliche
-Person gerichtet wurden, so wie es gewiß ist, daß nach dem Plan des
-zusammenhängenden Dichtwerks der Dichter William von Anfang bis zu
-Ende zu einem einzigen jüngeren Freund, dem Adelsjüngling William
-spricht. Alles Wesentliche, das gewiß ist, aus dem Wirklichkeitsleben
-eines so auserwählten Mannes wie Shakespeare muß uns bedeutend sein;
-und der Empfindungen, die hier Gestalt geworden sind, können wir gewiß
-sein. Diese Empfindungen aber leben uns in dem Kunstgebilde, und an
-diesem haben wir für unser Mitfühlen den einzig sicheren Halt. Die
-Wege der Dichterseele sind dunkel; selbst bei Goethe, von dem wir
-so viel wissen, können wir nicht sagen, ob das oder jenes Gedicht
-Christiane oder Marianne oder sonst einem Weibe galt, oder ein andres
-Bettine oder Minna Herzlieb oder beiden zugleich; daß diese Gedichte
-aber der Liebe gelten und welche Stelle sie in den gedichteten
-Zusammenhängen einnehmen, in die sie der Dichter gestellt hat, wissen
-wir. Und so ist in allem Wesentlichen klar, wie der Roman in Sonetten,
-den Shakespeare uns gab, für sich zu deuten ist; und dahin, zur
-geschaffenen Kunstgestalt, zum Bild der Empfindungen sollen wir immer
-wieder von unsern Abweichungen ins Originäre, ins Nebelland der wirren
-Entstehung der Empfindungen zurückkehren. Wahres Leben ist gestaltetes,
-gemeistertes Leben; wahres Leben Shakespeares finden wir in seinen
-Werken.</p>
-
-<p>Ich will nun, ehe ich von dem Dichtwerk und seinem Gehalt rede, etwas
-von der Sprache und Form und dann von den Übersetzungen sagen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_329" id="Seite_329">[S. 329]</a></span></p>
-
-<p>Sonette wurden um diese Zeit in England vielfach gedichtet; auch die
-besondere Form des Shakespearesonetts haben vor ihm und neben ihm
-andere angewandt. Dieses Shakespearesonett besteht aus 14 Zeilen wie
-das echte; das echte aber besteht aus zwei Abteilungen, deren erste 2 ×
-4, deren zweite 2 × 3 Verse hat, und das Band der Reime in ihm ist so,
-daß in der ersten Abteilung zwei Reime, in der zweiten drei durchgehen.
-Das Shakespearesonett hat dagegen 3 Strophen zu 4 Versen, denen dann
-rasch 2 Verse als Abschluß folgen: 3 Quatrains und 1 Couplet. Jedes
-Quatrain hat seine zwei besondern, in einander verschränkten Reime,
-so daß die Strophen nicht formal in einander geschlungen sind; das
-Couplet hat seinen Schlagreim für sich. Im Rhythmischen aber und in
-der formalen Behandlung des Inhalts ist der Charakter des Sonetts,
-die Geschlossenheit eines Gefüges, dessen Teile gleichermaßen
-selbständig und an einander gebunden sind, streng gewahrt; nur daß
-das abschließende Couplet zu dieser Strenge und Unnahbarkeit, zu
-dieser geschmiedeten Klammer um die Gefühle, daß sie nicht zuchtlos
-zerfließen, noch ein anderes Mittel gegen Gärung und unreine
-Verworrenheit fügt: Witz, Geist, Leichtigkeit, Spiel, immerwährende
-Rückkehr zum Grundthema: Huldigung für den Freund.</p>
-
-<p>Formvollendet sind auch viele andre Sonette, die wir von Shakespeares
-Zeitgenossen haben; aber sie besagen meist wenig, weil sie selten
-aus einer Persönlichkeit gekommen sind, weil keine Not vorlag,
-Überfließendes zu bändigen; so sind sie inhaltlich meist allegorisch,
-mythologisch, schwülstig oder sonstwie rhetorisch oder gekünstelt.
-Bei Shakespeares Sonetten steht die Sprache in den vollendetsten,
-deren es viele sind, in geradem Gegensatz zu der Geschwollenheit
-und pathetisch barocken Gleichnisverstiegenheit, die in seiner Zeit
-Mode war und auf die er sich selbst in einigen Dramen und in den
-episch-lyrischen Gedichten so bis zum Grotesken grandios verstanden
-hatte. In den Sonetten<span class="pagenum"><a name="Seite_330" id="Seite_330">[S. 330]</a></span> aber haben wir, wie es diesen Gebilden
-entspricht, eine Annäherung der Sprache in Ausdruck und Syntax an
-die Prosa, welche dann durch die Geschlossenheit der Form, das hohe
-rhythmische Gleichmaß, die Parallele der Reimpaare zu einer Poesie
-erhoben wird, in der das Sprachgebilde nie Rhetorik oder Tirade, immer
-aber, zugleich in einem, Plastik und Musik wird. Und Shakespeare,
-der von jenem schäumenden Schwulst herkam, der von seiner Natur, der
-Art jeder Jugend und einer Mode bedingt war, in der sich Pathos,
-Bilderfülle, Wahl des seltenen Ausdrucks und also Gesuchtheit und
-Geziertheit, Antithese und Witz seltsam mengten und selten einander
-wahrhaft die Wage hielten, konnte keinen bessern Zuchtmeister brauchen
-als das Sonett, und das entzückende Spiel Verlorne Liebesmüh ist das
-Denkmal, das er dieser Reinigung seines Stils und seines Gefühlslebens
-gesetzt hat. Wie er dann zu seiner Reife kam und leidenschaftlichen
-Schmerz, unauslöschlichen Gram und wilde Weltwut mit der Strenge des
-Sonetts meisterte, nicht, indem er zum Zierlichen und zum Spiel ausbog,
-sondern, indem er sein Stärkstes und seine ganze Vehemenz in diese
-Form goß, da ist dieser Anblick: Shakespeare im Sonett! mir unsäglich
-wunderbar und ergreifend, ein Sinnbild für das, was in seinen eigenen
-Worten „Reif sein ist alles“, in Goethes Worten „In der Beschränkung
-zeigt sich erst der Meister“ heißt; ein Bild noch höherer, weil
-unheimlicherer Art als Goethe, wie er das Erlebnis seines Werther in
-die marmorglühende Form des Tasso bannt, nur vergleichbar mit Spinoza,
-wie er das, was seine Ethik in Ursprung und Springkraft ist, in die
-geometrische Form preßt.</p>
-
-<p>Die Vollkommenheit und Unnachahmlichkeit dieser leuchtenden klingenden
-Gebilde ist zurückzuführen einmal auf die englische Sprache und dann
-auf Shakespeare. Es verhält sich mit diesen Sonetten entsprechend wie
-mit Dantes Göttlicher Komödie: da die englische Sprache mit weniger<span class="pagenum"><a name="Seite_331" id="Seite_331">[S. 331]</a></span>
-Silben dasselbe sagen kann wie die deutsche, da überdies ihr Reichtum
-an Reimen, vor allem einsilbigen, männlichen Reimen viel größer ist
-als im Deutschen, wäre eine vollkommene Nachbildung im selben Versmaß
-nur dann erreichbar, wenn Shakespeare die Möglichkeiten seiner Sprache
-nicht vollkommen ausgenutzt hätte. Das hat er aber ganz wunderbar
-getan: mit einer zauberischen, oft wie fliegenden, spielerischen
-Leichtigkeit, oder mit einem sicher, fest, selbstverständlich
-fortschreitenden Ton, wo die Schlagkraft und der Verbindungsring der
-Reime wie eine logische, sachliche Notwendigkeit eintritt, hat er diese
-Gedichte gebaut. Es ergibt sich daraus, daß bei den allermeisten dieser
-Gestaltungen der deutsche Dichter, wenn er sie übersetzt, irgend etwas
-fallen lassen oder schwer, dunkel, gedrängt sein muß, wo Shakespeare
-sich mit Leichtigkeit und Klarheit und Freiheit bewegt. Bei der
-Verssprache der Dramen, in denen Shakespeare die Möglichkeiten seiner
-Sprache so bis zum letzten ausmünzt, ist eine Aushilfe möglich, deren
-sich die besten Übersetzer in rühmlichem, rührendem, aber der Sache
-schädlichem Eigensinn noch zu wenig bedient haben: für den Bau einer
-Szene ist es in Wahrheit nebensächlich, ob sie 200 oder 210 Blankverse
-hat, und ebenso ändert es am Gehalt und der Komposition einer Replik
-oft nichts irgend Wesentliches, wenn sie statt 5 Versen 5½ hat. Bei
-diesen Gedichten aber steht die Zahl der Verse, das Metrum und damit
-die Zahl der Silben fest; auch ist es keineswegs gleichgültig, wenn
-an die Stelle eines männlichen ein weiblicher Reim tritt und damit
-Charakter, Stimmung und Zeitdauer des Ausdrucks geändert wird. Der
-Übersetzer wird es bald da, bald dort, im Inhaltlichen, im Formalen
-&mdash; was beides doch wie in der Musik hier gar nicht zu trennen ist &mdash;
-anders und schlechter machen müssen als Shakespeare; und seine Kunst
-wird sich darin zeigen, zu welcher der verschiedenen Möglichkeiten
-er sich jedesmal entschließt, wie er jeweils aus der Not eine Tugend
-macht.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_332" id="Seite_332">[S. 332]</a></span></p>
-
-<p>Die meisten Deutschen aber werden trotzdem auf Übertragungen angewiesen
-sein; auch wer sonst sehr gut englisch kann, braucht sie. Ein großer
-Teil der Ausdrücke und Wendungen gehören in dem Sinn oder den Nuancen,
-in denen die Sonette sie gebrauchen, der heute lebendigen englischen
-Sprache nicht mehr an, so daß die Verschmelzung zwischen Gedicht und
-Empfangendem, die wir mit den gleichermaßen elenden Worten Genuß oder
-Verständnis der Dichtung bezeichnen, nicht unmittelbar möglich ist,
-sondern erst einer ernsten Vorarbeit bedarf, welche nicht immer gelingt.</p>
-
-<p>Deutsche Übersetzungen gibt es in großer Zahl; ich kenne die von Regis,
-Wilhelm Jordan, Bodenstedt, Gildemeister, Eduard Sänger, Stefan George
-und Ludwig Fulda.</p>
-
-<p>Wilhelm Jordan beherrschte die Sprache mit ungewöhnlicher Leichtigkeit
-und war darum zum Übersetzen berufen; wo es auf Respekt vor
-dem Original nicht gar zu sehr ankam, wie zum Beispiel bei den
-lyrisch-epischen Gedichten Shakespeares, hat er die englischen Strophen
-durch treffliche deutsche ersetzt, wenn er auch fast durchweg an die
-Stelle der pathetisch starken oder lyrisch weichen Bildersprache und
-metaphorischen Ausschweifung, die im Begriff und an der Grenze ist,
-in den Witz umzuschlagen, den schon fertigen und platt geschlagenen
-Witz gesetzt hat. Für die Sonette aber hat es ihm an Ehrerbietung
-gefehlt und an der Fähigkeit, sich in einen Mann, der zugleich
-leidenschaftliche Natur und gehaltene Fassung war, zu versetzen. Er
-ist zu leichtsinnig und keck ans Werk gegangen, was schon aus seiner
-kuriosen Entschuldigung, er habe doch schließlich durchschnittlich
-nur vier Sonette auf den Tag zustande gebracht, und aus seinem Rezept
-hervorgeht, wie diese Sonette deutsch ebenso gut oder gar besser zu
-verfertigen seien wie die Originale: Shakespeare habe für die zehn
-oder elf Silben seines Verses bei der Knappheit der englischen Sprache
-nicht genug zu sagen gehabt, und so müsse man<span class="pagenum"><a name="Seite_333" id="Seite_333">[S. 333]</a></span> nur die Watte aus den
-Gebilden herausnehmen und habe dann auch deutsch Sprachstoff genug für
-die Nachbildung! So ist er auch hier zu witzig, zu unlyrisch geworden;
-und schließlich ist nur eine oft sehr geschickte Mimikry von Poesie
-entstanden, hinter der sich Abgeschmacktheit und Fadheit verbirgt.
-Shakespeares Hoheit, Haltung, Tragik und süße Lieblichkeit ist nicht
-mehr da.</p>
-
-<p>Bodenstedt und Gildemeister haben ebenfalls ansprechende deutsche
-Gedichte gemacht; aber an die Stelle des Wesentlichen, des Ernstes, des
-formalen Schauers Shakespeares, des heroischen und graziösen Tons des
-Renaissancedichters haben sie modern oberflächliche Gesprächigkeit oder
-Empfindsamkeit gesetzt.</p>
-
-<p>Fulda gar verbindet eine ganz ungewöhnliche Gelenkigkeit der Sprache
-mit einer betrüblich gewöhnlichen Unvornehmheit des Tons und der
-Gesinnung. Er spricht Berlin <i>W</i>; auch an Schlegel und Tieck wird
-man manchmal erinnert; nur leider nicht an die edeln Übertragungswerke,
-die von ihnen herrühren, sondern an die ordinären Quartiere, die
-schändlicherweise in Berlin <i>N</i> nach ihnen benannt sind.</p>
-
-<p>Gottlob Regis hat seine Übersetzung des Sonettenwerks 1836 in seinem
-Shakespeare-Almanach veröffentlicht. Er hat Sinn für den echten
-Ton Shakespeares und für seine feste, tragisch-heldenhafte Haltung
-und steht in dieser wie jeder Hinsicht weit über den Nachfolgern,
-die ich bisher behandelt habe. Es gelingt ihm, einem der größten
-Übersetzungsmeister, die wir Deutsche haben, im Inhalt sehr getreu zu
-sein, und oft ist er wundervoll sprachschöpferisch. Nur kann leider
-die genialste Kraft, in bewußter Suche schöpferisch die Sprache zu
-meistern, noch keinen Dichter machen; und so vollendet er Rabelais’
-und Swifts Prosa nachbildete, so fehlt ihm doch für diese Sonette
-das Lyrische, der Rhythmus, die Musik. Die Härte des Mannes, der sie
-weicher Zerflossenheit abgerungen hat, ist etwas ganz anderes, als
-die Sprödigkeit des Gelehrten, der sich<span class="pagenum"><a name="Seite_334" id="Seite_334">[S. 334]</a></span> angelegentlich bemüht, seine
-Sprache weicher und geschmeidiger zu machen. Aber es sollte ein Dichter
-über diese sehr respektable Übersetzung kommen und sie neu bearbeitet
-herausgeben. Wir können der Übersetzungen dieser Geschmeide nicht genug
-haben.</p>
-
-<p>Dem Willen und auch der Dichterkraft nach bei weitem am höchsten steht
-Stefan George; er hat den Geist und die Musik, hat das Formprinzip
-dieser Kunstwerke nicht nur erfaßt, sondern in sich; überdies ringt
-er ergreifend und fast tragisch um Treue, selbst wo es sich um das in
-diesem Fall Schwerste, um das Vorwiegen des männlichen Reims handelt;
-aber nur selten ist ihm ein ganzes Sonett geglückt; um der treuen
-Nachbildung der Form willen vergewaltigt er die Möglichkeiten der
-deutschen Sprache oft unerträglich; so wird aus der Not die spezifisch
-Georgesche Tugend, mit der der adlig-volksmäßige Shakespeare nichts
-gemein hat: das Hieratische, Esoterische, das an die Stelle des Volks
-und der natürlichen Vornehmheit, die unsrer Zeit alle beide fehlen, den
-Klüngel setzt; und zum Verständnis und Genuß seiner Übersetzung &mdash; ich
-übertreibe nicht &mdash; braucht man immer wieder das Original.</p>
-
-<p>Nach der Zahl der gelungenen oder wenigstens erträglichen Sonette
-ist Sänger der beste: aber wie viele Spitzen bricht er ab; wie viel
-ebnet er; wie viel Erklärungen, Auffassungen, Deutungen bringt er in
-den Text hinein; aus Unbestimmtheiten macht er Bestimmtheiten und aus
-Bestimmtheiten Unbestimmtheiten; er trivialisiert das Gehobene und,
-was schlimmer ist, er bringt eine gewisse bürgerliche Feierlichkeit
-und Selbstbewunderung in Äußerungen hinein, die der Dichter wie eine
-unverrückbare Wirklichkeit sich allerschlichtest und natürlich hat
-aussprechen lassen.</p>
-
-<p>In den Zitaten, die ich im folgenden mitzuteilen habe, habe ich alle
-Übersetzungen, die mir etwas boten, benutzt, kombiniert und nach
-Bedarf und eigenem Vermögen verändert und zur Einheit gebracht. Ich
-glaube, daß<span class="pagenum"><a name="Seite_335" id="Seite_335">[S. 335]</a></span> dadurch für diese einzelnen Stücke und Bruchstücke etwas
-Rechtes herausgekommen ist, und ersuche berufene Leser um Prüfung;
-dies um einer wichtigen Sache willen, denn es ist in all solchen
-Fällen, wo kombinierte Kraft und gleichzeitige oder zeitlich getrennte
-Gesellschaftsarbeit etwas Rechtes zustande bringen, ein scharfer und
-unnachgiebiger Kampf gegen die verruchte Monopolform, die das geistige
-Eigentum in unsrer Zeit angenommen hat, zu führen.</p>
-
-<p>Zu wünschen wäre, unter Beiseitesetzung aller Vornehmtuerei, für
-deutsche Leser, die des Englischen mächtig sind, eine Ausgabe
-des Originals mit deutscher Prosa-Übersetzung und sachlichen und
-sprachlichen Erklärungen. Denn man kann sich dieser Sonette nur in
-derselben Art bemächtigen, wie der Göttlichen Komödie und des Don
-Quijote, und für die, die keine Erklärungen mehr brauchen, gibt es
-Ausgaben würdiger Ausstattung, in denen niemand dem Dichter dreinredet,
-genug.</p>
-
-<p>Was drücken nun diese Sonette insgesamt aus, wenn ich den Versuch
-mache, ihren Gehalt, wie sie ihn von Inhalt, Stimmung und Form
-bekommen, fast wie in einem einzigen Satz auszudrücken? Und was
-bedeuten sie im Gesamtwerk des Dichters?</p>
-
-<p>Von diesem letzten zuerst zu reden und mit dem Äußerlichsten zu
-beginnen: diese Sonette beziehen sich nur fortlaufend auf einander,
-auf nichts anderes; der Dichter, der da von sich spricht, ist nur der
-Dichter dieser Sonette, man dürfte sagen: ihr gedichteter Dichter.
-Wären sie uns erhalten, aber nicht unter Shakespeares Namen, so wäre
-ihr Verfasser für uns, so wie der Dichter des herrlichen Dramas Eduard
-III., der doch wohl nicht Shakespeare ist und von dem wir
-dann gar nichts wissen, ein unsterblicher Dichter der Weltliteratur;
-in einem Teil der Sonette würden wir wohl an Spiele wie Die beiden
-Veroneser erinnert; in einem andern käme uns eine Gesinnung zum
-Ausdruck, die uns überaus stark an die Stimmung von Troilus und
-Cressida,<span class="pagenum"><a name="Seite_336" id="Seite_336">[S. 336]</a></span> Hamlet, Timon und Verwandtem erinnerte, aber wenn ich
-diesen Dichter, wie ich für möglich halte und hoffe, mit Shakespeare
-identifizierte, ist kein Zweifel, daß ich hinzufügen würde: bewiesen
-ist es nicht. Er erwähnt seine Dramen nie; auch in keiner allgemeinen
-und unbestimmten Wendung weist er irgend auf sie hin; Anspielungen sehr
-dunkler Art sind wir geneigt, auf seinen Schauspielerberuf zu beziehen;
-ob wir darin recht haben, steht dahin; sicher ist, daß wir keine
-Möglichkeit dazu hätten, wenn wir ihn nicht als Verfasser kennten.</p>
-
-<p>Der Ton dieser Sonette ist: es äußert sich eine überschwängliche,
-innige, hingenommene, knieend verehrende Empfindung ganz unrhetorisch,
-sachlich, so wie das Wirkliche sich äußert. Es wird nicht begeistert
-über die Sache geredet; sondern die Sache selbst spricht sich aus, und
-diese Sache ist Innerlichkeit, ist Seelenabgrund und Geisteshöhe.</p>
-
-<p>Es gibt für den Dichter dieser Sonette nur die Welt, nur die Erde, nur
-Menschliches. Mythologie tritt selbst als Schmuck der Rede nur ganz
-selten hervor; viel seltener als in fast jedem der Bühnenwerke; und von
-Befangenheit in Vorstellungen der Religion, des Dämonenglaubens oder
-irgendeines Aberglaubens ist nichts zu finden.</p>
-
-<p>Keinerlei Interesse an den Dingen der Macht, an Politik oder nationalen
-Gegensätzen oder Kriegen oder Zeitfragen irgendeiner Art tritt in
-dieser direkten Aussprache des großen Dramatikers zutage. Einige Male
-im Gegenteil die Abneigung gegen Politik und Herrentum:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Stünd’ es mir an, den Baldachin zu tragen,</div>
- <div class="verse">Dem äußern Schein die äußre Ehr’ zu geben?</div>
- <div class="verse">An Türmen bau’n, die in die Zukunft ragen</div>
- <div class="verse">Und Umsturz und Verfall nicht überleben?</div>
- <div class="verse">... Nein, laß mich nur in deinem Herzen fronen,</div>
- <div class="verse">Und nimm du meine Gabe, arm, doch frei,</div>
- <div class="verse">Sie kennt kein Arg, du brauchst sie nicht zu lohnen,</div>
- <div class="verse">Nur daß die Liebe unser Austausch sei.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_337" id="Seite_337">[S. 337]</a></span></p>
-
-<p>Der Dichter tritt auf als Hingegebener, als Gefangener, als Anbeter der
-Schönheit. Nicht der Schönheit in abstrakter Gestalt oder allegorischer
-Einkleidung; er &mdash; der Dichter dieser Gesamtdichtung, wie sie uns
-komponiert vorliegt &mdash; ist Einem Menschen, einem Manne, der jünger
-ist als er, rettungslos verfallen: dieser Jüngling repräsentiert ihm
-nach Gestalt, Ausdruck, Grazie, Würde den schönen, den adligen, den
-seelenvollen, den herrlichen Menschen. Er repräsentiert ihm, was er
-anbetet; das heißt, und er drückt es nicht anders aus: diesen Menschen,
-diesen Mann liebt er. Wir dürfen nicht weniger, wir dürfen nicht mehr
-sagen. Hinzuzufügen haben wir, daß der Sprachgebrauch, das heißt, das
-Denken und Empfinden der Zeit, für innige Freundschaft, die die Seelen
-erfüllt und nicht von einander läßt, die Worte lieben und Liebender
-nicht vermeiden kann und will. Wir haben dafür Beispiele bei andern so
-gut wie bei Shakespeare. Wir wissen, wie Hermione sich von ihrem Mann
-das Recht nicht nehmen läßt und ihm frei und unschuldig heraussagt,
-daß sie seinen Jugendfreund, der auch ihr Freund geworden ist, liebe;
-der alte Menenius gebraucht von Coriolan den Ausdruck <em>my lover</em>,
-mein Liebster, um damit seine eigne Freundschaft zu ihm zu bezeichnen;
-wenn Porzia von Antonio sagt, er sei der <em>bosom lover</em> ihres Herrn
-und Gemahls, so findet sie das so recht und in Ordnung, wie wenn wir
-vom Busenfreund sprechen. Und weiter haben wir zu sagen, daß in der
-Handlung, in der Geschichte dieser Liebe ein Fortschritt ist: immer
-mehr tritt die Anbetung der äußern Form, der Schönheit der Gestalt in
-unlösliche Verbindung mit der Liebe zum Innern, zur Seele, zum Gut- und
-Adligsein; immer mehr wird dann aus dieser Verbindung der Gegensatz:
-Leib und Seele; und der Leib ist Tod und Vergehen; die Seele ist
-Unvergänglichkeit; Leib und Tod finden den Ausdruck ihrer Lebensgier
-und ihres Vernichtungsdranges im Geschlecht; die Seele macht sich frei
-in der Freundschaftsliebe zur Verehrung des Ewigen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_338" id="Seite_338">[S. 338]</a></span></p>
-
-<p>Ein neues Moment ist also hinzugetreten, ein dramatisches: der Kampf,
-den der Dichter in sich, gegen sich mit der Geschlechtsliebe einer
-gewissen Art, mit der Wollust zu führen hat.</p>
-
-<p>Diesen Kampf zwischen Venus und Eros hatte Shakespeare schon einmal
-darzustellen unternommen: in seinem Gedicht Venus und Adonis, das
-er 1593 herausgab und das ihn sofort zum berühmten Dichter machte.
-Es ist fast unbestrittene Gewohnheit geworden, mit der größten
-Verachtung über dieses Gedicht und die bald folgende Lucretia, die
-zur nämlichen Gattung gehört, rasch wegzugehn, mit einer Verachtung,
-die dem Stil wie der sogenannten Unsittlichkeit gilt. Der Stil
-ist, daß nicht Menschen und Situationen aus der Wirklichkeit
-geschildert werden, sondern allgemeine Kategorien von Trieb- oder
-Geisteskomplexen, leidenschafterfüllte Allegorien, und Situationen
-nicht real-individueller, sondern gattungsmäßig allgemeiner Art.
-So wird die Klage der Lucretia über ihre Schändung benutzt zur
-Darstellung der Nacht in sechs, der Gelegenheit in sieben, der Zeit
-in elf Strophen, immer aber aus der Glut und Wut der menschlichen
-Situation heraus, immer in Metaphern, die sich steigern, überhitzen,
-überspitzen und dem Witz so bewußt und gewollt nah getrieben werden
-wie bei Ariost. Ich finde, daß wir uns in diesen Stil hineinfinden
-können, daß auch in diesem Barockstil sehr viel Starkes und Liebliches
-zu finden ist, und daß Shakespeare die Form ganz vollendet gemeistert
-hat. Es fällt mir nicht im entferntesten ein zu leugnen, daß gräßliche
-Verstiegenheiten, Abgeschmacktheiten, Gesuchtheiten da sind; darüber
-sind aber wundervolle Schönheiten und Bilder von prachtvoller Kraft und
-Sicherheit wie zarter Feinheit nicht zu übersehen. Ganz und gar leugne
-ich aber die Unsittlichkeit. Mit der Kühnheit und Freiheit, die alle
-Kunst der Zeit zum Ausdruck des Äußersten trieb und die in Shakespeare
-zu einem Gipfel emporstieg, werden<span class="pagenum"><a name="Seite_339" id="Seite_339">[S. 339]</a></span> die äußere Gestalt und die innere
-Verfassung der als Menschen personifizierten ungeheuren Trieb- und
-Seelengewalten und die leidenschaftlichen Situationen, in die sie mit
-einander geraten, geschildert; wenn man aber diesen jugendlichen Werken
-Shakespeares etwas auf diesem Gebiet vorwerfen könnte, dann wäre es die
-zu direkt sich aussprechende Moral.</p>
-
-<p>Die Art aber, wie &mdash; in beiden Gedichten &mdash; die Wollust sich ausspricht
-und die Seele ihre Klage über sie anstimmt, ist der Sonettendichtung
-schon nah verwandt.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Gen Himmel ist die Liebe längst entwichen,</div>
- <div class="verse">Seit stinkend Lust in ihrem Namen steckt;</div>
- <div class="verse">Die kommt zur Schönheit, so vermummt, geschlichen,</div>
- <div class="verse">Und was sie nicht verzehrt, das ist befleckt.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Oder:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Die Lieb’ ist wahr und mäßig; Wollust praßt</div>
- <div class="verse">Und wird erstickt von ihrer Lügen Last.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und wie großer Art ist die Schlußrede der Venus, ihre Klage um Adonis,
-der der Welt verloren ging, und ihr Fluch auf die Liebe:</p>
-
-<p>Weil Eros nicht mehr da ist, soll sich nun, muß sich nun Leid und
-Eifersucht, Qual und Gift und Treulosigkeit mit der Liebe verbinden;
-Krieg und Feindschaft zwischen Nächstverwandten wird sie hervorrufen,
-in allem Bösen sich einnisten, alles Gute untergraben.</p>
-
-<p>Oder wie groß, wie stark, wie eindringlich ist die Darstellung von
-Tarquins Ernüchterung, nachdem die Wollust ihn zur Notzucht getrieben
-hat; wie findet das menschlich Wahre im Allegorischen leidenschaftlich
-innigen Ausdruck, wenn das Gierverlangen nun wie ein bankrotter Bettler
-matt und elend geworden ist, und seine Seele nun klagend zu ihm spricht:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft3">Lebend’ger Tod und ew’ges Leid</div>
- <div class="verse">Sind nun mein Los; empörte Knechte haben</div>
- <div class="verse">Mein Heiligtum zertrümmert und entweiht;</div>
- <div class="verse">Die Sünden meiner Sterblichkeit begraben</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_340" id="Seite_340">[S. 340]</a></span>
- <div class="verse">Im Schutt der Schande die Unsterblichkeit;</div>
- <div class="verse">Das alles hab’ ich klar vorher gewußt</div>
- <div class="verse">Und wurde doch das Opfer dieser Lust!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Der Shakespeare dieser Gedichte darf sich getrost in der Gesellschaft
-sehen lassen, in die er mit ihnen gehört und in der er Genosse der
-Schar ist, die von Ariost, Edmund Spenser, Victor Hugo und Swinburne
-angeführt wird, nicht ihr Erster, aber auch keineswegs ihr Letzter.
-Neben dem großen Spenser steht der beginnende Shakespeare nicht anders
-da, als etwa Goethe mit seinen ausgezeichneten, wiewohl noch nicht
-goethischen Mitschuldigen neben Molière.</p>
-
-<p>Wie er aber mit seinen dramatischen Werken trotz den Großen, die
-neben ihm standen und nach ihm kamen, der Einzige ist, als den ihn
-Goethe gepriesen hat, so mit seinem Sonettenwerk, in dem er das Thema
-der allegorischen Gedichte in einer so völlig andern, so einzig
-vollendeten, so in schlichter Menschlichkeit ungeheuren Gestalt aufnahm.</p>
-
-<p>Hier verbinden sich nun die beiden Teile innerer Handlung, die der
-Dichter schon in jenen epischen Gedichten einander gegenübergestellt
-hatte, die Wollust und die geistige Liebe, zu einer seltsam
-geschlossenen einheitlichen äußern Handlung: er, der Dichter, der
-den Freund liebt, hat, so heftig er widerstrebt, so sehr er ringt,
-loszukommen von dieser unwürdigen, verzehrenden Begehrlichkeit, eine
-Geliebte, offenbar, deutlich genug ist’s gesagt, eine verheiratete
-Frau; und nun schließt sich der Ring: Geschlechtsliebe entsteht auch
-zwischen dem Freund, dem andern William, und dieser dunklen Schönheit,
-die dem Dichter gehört.</p>
-
-<p>Da ist nun vor allen Dingen zu sagen, daß ähnliche Motive in der
-Literatur der Zeit auch sonst behandelt wurden, besonders in den
-berühmten Moderomanen John Lylys.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_341" id="Seite_341">[S. 341]</a></span></p>
-
-<p>Ich gebe hier in den kurz zusammengedrängten Worten Conrad Henses
-den Inhalt des 1579 erschienenen Romans „Euphues, die Anatomie des
-Witzes“: „Euphues ist ein junger Athener, der nach Neapel kommt, hier
-einen Freund, Philautus, gewinnt, durch seine witzige Beredsamkeit die
-Geliebte desselben, Lucilla, zur Untreue verleitet, selbst die Untreue
-der Lucilla erfährt, mit dem getäuschten Freunde sich wieder versöhnt,
-und zuletzt sich wieder nach Athen zurückzieht.“</p>
-
-<p>Außerdem ist zu beachten, daß Shakespeare selbst das Motiv in seiner
-Komödie Die beiden Veroneser behandelt hat. Die Entstehungszeit
-dieses Stückes kennen wir nicht; aber es wirkt sehr jugendlich, und
-ich zweifle nicht, daß es vor dem Sommernachtstraum und vor Venus
-und Adonis, in die Gegend der Verlornen Liebesmüh, vielleicht noch
-etwas früher, etwa um 1590 also zu setzen ist. Daß Shakespeare die
-Einkleidung der Handlung irgendwo gefunden hat, daß er also nicht
-lediglich ein eigenes Erlebnis maskiert hat, ist gar nicht zu
-bezweifeln. Es sind Anklänge an einen spanischen Roman da, und einiges
-spricht sogar dafür, daß ein älteres Drama ihm Vorlage war, das wir
-nicht haben.</p>
-
-<p>Der große Reiz, den dieses Spiel hat, ist sein schwebendes Wesen. Die
-Personen sind nicht so recht feste Gestalten, weil der Dichter es noch
-nicht vermag, einmalige Menschen von innen her kraftvoll zu beleben,
-und weil er über dieses Ziel hinüberspringt und sich gar nicht bei ihm
-aufhalten will: es soll alles in eine Sphäre der Unwirklichkeit, des
-zierlichen Scheins hinüber. Und doch ist es wieder so, als wäre bei
-diesem Sprung aus dem Nochnichtmenschlichen ins Nichtmehrmenschliche
-gar manches Menschliche, psychologisch Feine und Tiefe an den Gestalten
-hängen geblieben. Auch in dem andern als dem psychologischen Sinn
-ist das Menschliche dieser Dichtung, wie es, wenn auch nicht so
-stark wie in der Verlornen Liebesmüh,<span class="pagenum"><a name="Seite_342" id="Seite_342">[S. 342]</a></span> überall, nicht nur in der
-prächtigen Gestalt des Dieners Lanz &mdash; der im ganzen und einzelnen
-Lessings Vorbild für den Just gewesen sein könnte &mdash; hervortritt, sehr
-erquickend. Der verräterische Freund, Proteus mit Namen, ist treulos
-nicht nur gegen seinen Herzensfreund, dem er seine Geliebte nehmen
-will, sondern auch gegen die eigne Geliebte, die er zurückläßt und die,
-als Page verkleidet, in die Welt reist, um ihn zu suchen. So sind zwei
-liebende Frauen in dem Stück, die alle beide nichts Wetterwendisches
-oder von der Wollust Verderbtes an sich haben, sondern im Gegenteil von
-einem sehr liebevoll, schwärmerisch das Weibliche verehrenden Dichter
-gezeichnet sind. Der Schluß ist, auch wenn man das Stück noch so sehr
-fast wie ein Marionettenspiel auffassen möchte, ganz mißraten: kindisch
-unvermittelt folgt auf Valentins tiefe Klage:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft9">O Proteus,</div>
- <div class="verse">Es schmerzt mich tief, ich darf dir nimmer trauen</div>
- <div class="verse">Und bin der Welt entfremdet deinethalb.</div>
- <div class="verse">Die Wund’ ist tief, die uns im Innern trifft. O Welt,</div>
- <div class="verse">Wo sich als Freund der schlimmste Feind verstellt!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>unvermittelt folgt darauf ein Sätzchen tiefster Reue des Proteus, der
-kurz vorher frevlerisch gerufen hat:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse mleft7">Wen, der liebt,</div>
- <div class="verse">Kümmert noch Freundschaft?</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>nun aber, eine Minute darauf seine Liebe zu Silvia vergessen hat; die
-Freunde versöhnen sich; Proteus liebt wieder Julia, und so ist auch
-für die zwei Liebespaare alles in Ordnung. Erst an diesem Schluß aber
-wird dieser Proteus ein grotesker Proteus; vorher sollte gerade er
-psychologisch vertieft betrachtet werden.</p>
-
-<p>Was also dieses Spiel vom Freund, der dem Freund die Geliebte nehmen
-will, angeht, so sehe ich ihm durchaus nicht an, daß damals, als es
-entstand, der Dichter ähnliches erlebt habe; das Gegenteil scheint
-mir eher aus der leichtherzigen Unbefangenheit, mit der das Motiv
-behandelt<span class="pagenum"><a name="Seite_343" id="Seite_343">[S. 343]</a></span> ist, hervorzugehn. Dagegen könnte es leicht sein, daß
-Shakespeare um diese Zeit herum das weibliche Wesen, das in dem
-Sonettenwerk so unheilvoll hervortritt, schon gekannt und von ihr
-ein Liebesglück empfangen hat, das vielleicht stürmisch und durch
-ihre Koketterie beeinträchtigt, aber noch nicht vom Freunde gestört
-oder von Shakespeare als tragisch empfunden war. Die Schilderung
-Rosalinens in der Verlornen Liebesmüh, dieser geistvollen,
-schlagfertigen, unberechenbaren Schönen mit den schwarzen Augen und
-der dunkeln Haut, nicht nur diese ihre Leibesbeschaffenheit, sondern
-die etwas empfindliche und leidenschaftlich verteidigende Art, wie
-sie geschildert wird, klingt mir ganz so, als ob ein Urbild dieser
-reizenden Gestalt die nämliche Frau gewesen wäre, aus der, als der
-Dichter ein unsäglich höherer Mensch und unsäglich tiefer in ihre Seele
-hinabgestiegen war und als er diese Geschlechtsliebe mit seinem ärgsten
-Weltschmerz in Verbindung gebracht hatte, Cleopatra die Schlange vom
-Nil wurde.</p>
-
-<p>Ich habe also auf die Frage, um derentwillen ich von Lylys Roman und
-von den beiden Veronesern sprach, schon Antwort gegeben. Ja, es ist
-wahr, daß das Motiv der Handlung, das in der Mitte des Sonettenwerks
-steht, ein beliebtes Thema der damaligen Literatur war und daß
-Shakespeare selbst es jugendlich, spielerisch, unbefangen behandelt
-hat; aber nein, es ist unmöglich, daß es sich in der Sonettendichtung
-auch bloß um Literatur, nicht um tiefstes Erlebnis handle. Es steckt
-eine Wahrheit in der These, die Oscar Wilde so ernst wie entzückend
-spielerisch behandelt hat, daß die Dichtung dem Leben mit den Motiven
-vorhergehe und auf das Leben abfärbe; gar vieles in den Sitten und
-Moden ist von den Dichtern geschaffen worden; und mehr, als mancher
-glaubt, hängt das außerordentlichste Erleben selbst solcher Menschen,
-die nicht in Reih und Glied stehen, mit Sitten und sozialen Moden<span class="pagenum"><a name="Seite_344" id="Seite_344">[S. 344]</a></span>
-zusammen. So sehr ich also immer wieder selbst betone, daß das
-Sonettenwerk eine Dichtung und daß auch der Mann, der darin Ich sagt,
-eine Dichtergestalt ist, so gewiß ist doch, daß die Empfindungen und
-Erlebnisse dieser Dichtung echt und gelebt sind. Wo es nur geht, wenn
-es sich um äußere Tatsachen handelt, weise ich die Beweisführung aus
-innern Gründen ab und sage, auch wenn mir etwas sehr wahrscheinlich
-ist: es steht nicht fest. Empfindende Menschen, die das Recht haben,
-Poesie aufzunehmen, verstehen sich aber unmittelbar und zweifellos auf
-die Sprache der Lyrik, auf Echtheit oder Unechtheit der Empfindungen,
-und so sage ich: so gewiß es ist, daß Günthers Leonoren gelebt haben
-und Goethes Liebesgedichte keine Erfindungen sind, so gewiß hat
-Shakespeare empfunden, was ihm die dunkle Geliebte, was ihm der Freund
-angetan hat. Das ändert nichts daran, daß alles, noch viel mehr als
-im Westöstlichen Divan, Gestalt geworden ist; der Dramatiker hat sich
-auch in diesem lyrischen Werk nicht verleugnet; und dem Umstand, daß
-es diesem Menschen, der Unsägliches lebte, von seiner Natur verwehrt
-war, sich unmittelbar auszusprechen, daß er auch für die Gestaltung
-seiner Gefühle erst in eine Rolle hinein mußte, schreibe ich es zu,
-daß wir in diesem Werk mit einer fast fanatischen Ausschließlichkeit
-nur den Freund und den Liebenden kennen lernen. Will Shakespeare
-sich über den Staat äußern, so muß er Ulyß oder Hektor oder Coriolan
-werden; will er Gesellschaftskritik üben, so wird er Falstaff oder
-Hamlet oder Thersites; hier ist er der Freund, ist er der Liebende,
-und alles von seinem Wesen, was mit diesen wesenhaften Empfindungen
-in Verbindung steht, kommt zum Ausdruck; nichts aber, was nur Rolle
-in der Gesellschaft, nur Maske und Gewand ist, es sei denn, damit es
-fortgewiesen werde.</p>
-
-<p>An der Spitze des Dichtwerks stehen 17 zusammengehörige Sonette, die
-gewiß in der Tat der frühen Zeit des Freund<span class="pagenum"><a name="Seite_345" id="Seite_345">[S. 345]</a></span>schaftsbundes angehören.
-Sie gelten alle in mannigfacher Variation einem Thema, das manche,
-die von pseudowissenschaftlicher Behandlung der Freundschaftsliebe
-herkommen, überraschen könnte; das Thema ist: Freund, deine Schönheit
-darf nicht mit dir untergehn; die Natur tötet alles Einmalige, das ihr
-gelungen ist, alles Individuelle, Persönliche; sie hat nur einen Weg,
-es in neuer Gestalt zu erhalten, zu vererben: Ehe und Kind.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Verschwender du! dein Vater war ein Mann:</div>
- <div class="verse">Sorg’, daß dein Sohn das Gleiche sagen kann.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nichts schirmt dich vor dem Sensenhieb der Zeit</div>
- <div class="verse">Als Sprößlinge: durch sie bist du gefeit.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Es sind aber diesem siebzehnmal wiederholten Zuruf zwei Sonette
-beigefügt, die etwas andres sagen, etwas, wovon der Dichter auch sonst
-immer wieder in hohem Selbstbewußtsein spricht: Unsterblich bist du
-Schöner, Guter, Edler in jedem Falle:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Solange Menschen atmen, Augen sehn,</div>
- <div class="verse">Lebt mein Gedicht, in ihm wirst du bestehn.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Ganz nüchtern glaube ich, daß das buchstäblich wahr ist: solange
-Menschen leben und lesen, werden diese Gedichte geliebt werden und
-mit ihnen <em>the love</em>, der geliebte Freund ihres Dichters. Um so schöner
-dünkt es mich, daß nichts weiter von ihm lebt; der Unbekannte lebt nur
-in dieser Dichtung; nichts wissen wir von seiner Nachkommenschaft;
-vielleicht nicht auf dem Weg der Natur, ganz gewiß durch das Mittel des
-Geistes ist er unsterblich geworden.</p>
-
-<p>Diese Vorstellung, er der Dichter werde den bewunderten Freund zur
-Unsterblichkeit erheben, tritt auch im weitern Verlauf kräftig
-hervor. Vielleicht entspringt diese häufige Betonung aber vor allem
-dem Bedürfnis der Selbstbehauptung und also einer Schüchternheit,
-die dann in den Stolz umschlägt. Denn zu Beginn des Verhältnisses<span class="pagenum"><a name="Seite_346" id="Seite_346">[S. 346]</a></span>
-äußert sich dem adligen Jüngling gegenüber eine Demut, die keineswegs
-bloß den inneren Grund der Verehrung hat. Die Ungleichheit der
-gesellschaftlichen Stellung tritt scharf heraus; und im Anfang scheint
-der Dichter, von seiner Anbetung getrieben, eine selbstquälerische
-Lust darin zu finden, diese Unterordnung eifrig zu betonen. Für seine
-Hingebung, seine Rolle in dem Verhältnis, seine demütig bettelnde
-Liebe wie für den äußern Rangunterschied, den er zu einem freiwillig
-erwählten macht &mdash; die Schweizer Mundart sagt im Sinne von demütig:
-niederträchtig, das ist ursprünglich einer, der sich aus innerem
-Bedürfnis niederbeugt &mdash; ist es bezeichnend, wie er sich den Sklaven
-des Freundes nennt, dem er geduldig aufwartet; der andre mag tun, was
-er will, der Dichter wird nicht murren, bis der Souverän Zeit für ihn
-hat. Er ist sein Vasall und wird ihm &mdash; Gott verhüte es! &mdash; seine
-lustigen Stunden nicht nachrechnen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Zum Warten bin ich da, der Höllenglut,</div>
- <div class="verse">Und gönn’ dir deine Lust, ob bös ob gut.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>So scheint es auch zunächst kaum möglich zu sein, daß sie unbefangen
-einander besuchen und zusammen sind, wie es unter Freunden Brauch ist;
-der Dichter freut sich auf besondere Gelegenheiten, auf Feste, wo er
-den Freund sehen und im selben Raum mit ihm zusammen sein kann. Das
-muß später anders geworden sein, und die Stellung des Dichters zum
-Freund muß sich auch in äußerer Hinsicht gehoben haben. Aus andern
-Sonettenkreisen geht hervor, daß sie Zeiten hintereinander sich Tag um
-Tag trafen und daß ihr Beisammensein nur durch Reisen des einen oder
-des andern unterbrochen wurde.</p>
-
-<p>Vor dieser von äußern Verhältnissen und innerer Ergebenheit befohlenen
-Demut flüchtet sich das Selbstgefühl des Dichters in Beobachtungen
-über die Zeit, als die Vernichterin alles Materiellen und Natürlichen,
-und die Unvergänglichkeit des Geistes. Ringt er nach Bildern und<span class="pagenum"><a name="Seite_347" id="Seite_347">[S. 347]</a></span>
-Wendungen, um die Gestalt des Freundes zu formen, so kommt ihm
-vielleicht ein altes Buch zu Hilfe, wo ein längst verblichener Dichter
-aus der Zeit der Anfänge der Schrift diese nämliche Mannesgestalt
-schon dargestellt hat. Jugend und Schönheit gehen dahin, das Wort des
-Dichters bleibt:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und dennoch hält mein Lied der Zukunft stand</div>
- <div class="verse">Und singt dein Lob trotz ihrer grausen Hand.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Daran befestigt sich sein Stolz immer wieder: er kann dem Freund, der
-ihm so viel durch sein Dasein gibt, dieses eine durch seine Kunst
-leisten, daß er ihn in die Reihe der Unsterblichen hebt. In späten
-Sonetten überwiegt dieses Gefühl manchmal so stark, daß er gegenüber
-dieser seiner Dichtertat die Hinfälligkeit alles Äußern betonen kann:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nicht Marmor, nicht das Gold von Fürstenmalen</div>
- <div class="verse">Wird überleben mein gewaltig Lied,</div>
- <div class="verse">Du wirst in diesen Zeilen heller strahlen</div>
- <div class="verse">Als stumpfer Stein, den Moder überzieht.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Der wüste Krieg wirft Säulen wohl zusammen,</div>
- <div class="verse">Der Aufruhr macht des Maurers Kunst zunichte;</div>
- <div class="verse">Doch nicht das Schwert des Mars, nicht Krieges Flammen</div>
- <div class="verse">Vertilgen deine lebende Geschichte.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Nach dem Gedicht Der Liebenden Klage, das in der Originalausgabe den
-Sonetten folgt und ihnen in allen folgen sollte &mdash; es geschieht aber
-fast nie &mdash;, wollen wir uns ein Bild dieses Jünglings machen; es ist
-nicht unwichtig, von Shakespeare zu erfahren, wie sein geliebter
-Freund, als er ihm zuerst nahe trat, ausgesehen hat und mit welchen
-Augen er ihn damals und später betrachtet hat; damit steht uns William
-Shakespeare nicht nur dem Freund gegenüber, sondern auch in der
-Bedingtheit seiner Zeit und seiner Natur in klaren Linien da.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_348" id="Seite_348">[S. 348]</a></span></p>
-
-<p>In braunen Locken hingen dem Freund demnach die Haare bis auf die
-Schultern. „Wie ungeschorner Samt“ sproßten um sein Kinn die ersten
-Spuren des Bartes:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Er läßt gerade noch dem Zweifel Raum,</div>
- <div class="verse">Ob voller Bartwuchs oder weiße Glätte</div>
- <div class="verse">Die Schönheit dieses Kinns gesteigert hätte.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Schön wie seine Gestalt war das Wesen, das in seinen Äußerungen zur
-Geltung kam: sanft wie von einem Mädchen war seine Art zu sprechen
-und also frei vom Herzen; aber im Männerstreit konnte dieses weiche,
-warme Organ so seltsam anwachsen wie der Föhnwind zum lauen Sturm.
-Saß er zu Pferd, so war es ein schöner, lieblicher Anblick: wenn das
-Roß sich stolz tummelte und herumschwenkte und in langen Sätzen unter
-ihm sprang, wußte man erst nicht, ob dieser Stolz und diese Anmut dem
-Reiter von dem Tier oder dem Tier von seinem Reiter kam. Dann aber fand
-man schon heraus:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Der Quell der Anmut ist sein innres Leben.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Wie beherrschte er die Menschen mit seiner Dialektik, wie stand ihm die
-rasche, sichere Rede zu Gebote; er brachte Weinende zum Lachen, Lacher
-zum Weinen, „er hatte die Mundart und feinste Unterscheidungskunst, um
-alle Regungen nach seinem Willen hervorzulocken“. So war er Herrscher
-über Junge und Alte, Männer und Frauen; alle Herzen flogen ihm zu, wie
-von einem Zauberer gebannt, und taten ihm seinen Willen.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Gar viele schafften sich sein Bildnis an,</div>
- <div class="verse">Das Auge sah’s, das Herz vergaß es nie &mdash;</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>und manches Weib bildete sich ein, er neige sich zu ihr, auch wenn er
-nie ihre Hand berührte.</p>
-
-<p>Obwohl, was nun folgt, zur Handlung des Gedichts gehört, glaube ich
-doch, glaube es nach dem, was uns spätere Sonette selbst sagen, daß es
-zu William Unbekannts Bildnis dazu gehört, wie es William Shakespeare
-wenigstens in Stunden des Schmerzes und Unmuts sah: falsch konnte<span class="pagenum"><a name="Seite_349" id="Seite_349">[S. 349]</a></span> er
-sein und all seine organische Sanftheit und Weichheit, seine milde,
-tugendreiche Rede zum Fang der Herzen, zum Berücken der Frauen benutzen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Er ist ein Inbegriff von feinen Stoffen,</div>
- <div class="verse">Die sich in jede Form beliebig fügen;</div>
- <div class="verse">Bald wild und kühn, bald blaß und wie betroffen,</div>
- <div class="verse">Bald schlau versteckt, bald ungestüm und offen,</div>
- <div class="verse">Versteht er stets, aufs beste zu betrügen.</div>
- <div class="verse">Ihm stehen Schamrot, Ohnmacht, bleicher Schreck</div>
- <div class="verse">Sogleich zu Diensten, je nach seinem Zweck.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und wenn sein Herz der Wollust Glut verzehrt,</div>
- <div class="verse">So spricht er von der Keuschheit hohem Wert.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Stimmungen, die dieser bösen genau entsprechen, werden wir aus den
-Sonetten noch ertönen hören; zu Beginn der Handlung, der Treulosigkeit,
-des Verrats, den der Freund, der Geliebte an der Liebe beging, kommt
-noch eine verwandte und doch ganz andere, eine rührend ergebene zu Wort.</p>
-
-<p>Der Freund &mdash; der Geliebte &mdash; die Liebe: <em>the love</em>; da haben wir
-noch eine Schwierigkeit für die Übersetzung und das Verständnis: <em>the
-love</em>, die Liebe, bedeutet in diesen Gedichten fast nie das Gefühl
-der Liebe von einem Menschen zu einem andern Menschen hin, sondern
-den Gegenstand der Liebe: nicht die Liebe zwischen zwei Menschen,
-sondern den Geliebten und manchmal, selten, auch die Geliebte. In einer
-gewissen Zahl Gedichte, auf die ich schon deutete und von der jetzt zu
-sprechen ist, haben wir nun gar das Wort im Wortspiel einer zugleich
-dreifachen Bedeutung: Liebe &mdash; Geliebter &mdash; Geliebte.</p>
-
-<p>Es kann nie wahrhaft gelingen, aus dem folgenden 40. Sonett, das für
-dieses Thema entscheidend wichtig ist, ein anderes als ein plumpes und
-halb unverständliches deutsches Gedicht zu machen; es ist aber gerade
-sein Wesen, daß es in seiner ungemeinen Gewagtheit so in der Form glatt
-und ohne Anstoß dahinfließt wie die allerüblichste Sache:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_350" id="Seite_350">[S. 350]</a></span></p>
-
-<table class="poetry" summary="Übersetzung">
- <tr>
- <td class="poet">
- <em>Take all my loves, my love, yea, take them all;</em>
- </td>
- <td class="poet">
- Nimm all meine Liebsten (Lieben), Liebster, ja, nimm sie alle,
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="poet">
- <em>What hast thou then more than thou hadst before?</em>
- </td>
- <td class="poet">
- Was hast du da mehr, als du vorher hattest?
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="poet">
- <em>No love, my love, that thou mayst true love call;</em>
- </td>
- <td class="poet">
- Keine Liebe, mein Lieb, die du wahre Liebe nennen kannst;
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="poet">
- <em>All mine was thine before thou hadst this more.</em>
- </td>
- <td class="poet">
- Alles Meine war dein, ehe du das noch dazu hattest.
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="poet">
- <em>Then, if for my love thou my love receivest,</em>
- </td>
- <td class="poet">
- Wenn du dann statt meiner Liebe (zu dir) meine
- Liebe (die Liebste) nimmst,
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="poet">
- <em>I cannot blame thee, for my love thou usest;</em>
- </td>
- <td class="poet">
- Kann ich dich nicht tadeln, denn du gebrauchst meine
- Liebe (meine Liebste);
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="poet">
- <em>But yet be blam’d, if thou thyself deceivest</em>
- </td>
- <td class="poet">
- Und doch sei getadelt, insofern du dich selbst betrügst
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="poet">
- <em>By wilful taste of what thyself refusest.</em>
- </td>
- <td class="poet">
- Und launisch kostest, was dir selbst widersteht.
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="poet">
- <em>I do forgive thy robbery, gentle thief,</em>
- </td>
- <td class="poet">
- Ich verzeihe dir deinen Raub, adliger Dieb,
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="poet">
- <em>Although thou steal thee all my poverty;</em>
- </td>
- <td class="poet">
- Obschon du dir meine ganze Armut stiehlst;
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="poet">
- <em>And yet, love knows, it is a greater grief</em>
- </td>
- <td class="poet">
- Und doch, weiß die Liebe! ist’s ein größerer Gram,
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="poet">
- <em>To bear love’s wrong than hate’s known injury.</em>
- </td>
- <td class="poet">
- Das Unrecht der Liebe (des Liebsten) zu tragen als
- des Hasses vertraute Kränkung.
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="poet">
- <em>Lascivious grace, in whom all ill well shows,</em>
- </td>
- <td class="poet">
- Lüsterner feiner Gesell, dem alles Schlechte gut steht,
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="poet">
- <em>Kill me with spites; yet we must not be foes.</em>
- </td>
- <td class="poet">
- Töte mich mit Unbill; aber wir dürfen nicht Feinde werden.
- </td>
- </tr>
-</table>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_351" id="Seite_351">[S. 351]</a></span></p>
-
-<p>Wie ist das nicht bloß im Sprachlichen, auch im Ton fast unnachahmlich;
-was für eine Einheit von Wehmut und Schelmerei! Da wird das Kleine
-klein und leicht und doch ganz zugleich und im gleichen das
-Schmerzliche so schmerzlich genommen. Da ist wirklich in <em>the love</em> alles
-Hohe und Niedrige beisammen; und so ist auch dieses Gedicht in allem
-Bedenklichen adlig; es wird mehr der Makel im Freund beklagt als der
-Verlust der Geliebten, nur daß die Sprache es hergibt, das, was im
-Geschehnis geeint ist, auch mit demselben Sprachausdruck zu bezeichnen:
-der Makel des Freunds ist die Verführung der Geliebten. Über das, was
-den Menschen gemeiniglich das Wirkliche und Wichtige ist, ist dieser
-vom Freund und der Geliebten betrogene Dichter erhaben; so sehr wir von
-hier aus neu verstehen, welche Rolle Umdunkelung und Vernichtungswut
-des Hahnreis in Shakespeares Rachedramen spielen, so sehr dürfen wir
-ganz selig und leicht und frei hier erleben, daß es für den Dichter
-dieser Gedichte kein Hahnreitum gibt. Die Phantasieliebe wird zum
-wahren Leben; des Lebens Notdurft wird zum Spiel. Das empfinden wir
-noch mehr, wenn wir die innere Handlung dieses Vorgangs in den beiden
-unmittelbar anschließenden Sonetten 41 und 42 noch weiter verfolgen.</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Die art’gen Sünden, die der Leichtsinn tut,</div>
- <div class="verse">Wenn manchmal ich von deinem Herzen fern,</div>
- <div class="verse">Stehn deiner Schönheit, deinen Jahren gut,</div>
- <div class="verse">Denn wo du bist, folgt die Versuchung gern.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Adlig bist du, und deshalb zu gewinnen,</div>
- <div class="verse">Schön bist du, deshalb geht um dich der Krieg,</div>
- <div class="verse">Und welches Weibes Sohn, wenn Weiber minnen,</div>
- <div class="verse">Verließe mürrisch sie vor ihrem Sieg?</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ach! solltest doch wohl mein Gehege fliehn</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_352" id="Seite_352">[S. 352]</a></span> <div class="verse">Und deiner Schönheit fluchen und der Lust,</div>
- <div class="verse">Die dich im Jugendtaumel dahin ziehn,</div>
- <div class="verse">Wo du zwiefach die Treue brechen mußt:</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ihre, die deine Schönheit lockt zu dir,</div>
- <div class="verse">Deine, weil deine Schönheit falsch an mir.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und nun im nächsten das Höchste in Einem an Scherz, an Schmerz, an
-herzlicher Wonne im Weh:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Daß du sie hast, das schmerzt mich nicht so stark,</div>
- <div class="verse">Und doch ist’s wahr, ich liebte sie gar herzlich.</div>
- <div class="verse">Daß sie dich hat, das frißt mir recht ins Mark,</div>
- <div class="verse">Der Liebeskummer trifft mich wahrhaft schmerzlich.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Doch weiß ich Mildrung euch, ihr Liebessünder:</div>
- <div class="verse">Du liebst sie, weil du weißt: ich bin ihr gut,</div>
- <div class="verse">Und meinethalb betrügt sie mich nicht minder</div>
- <div class="verse">Und duldet, was mein Freund ihr meinthalb tut.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Verlier’ ich dich, so hat mein Lieb Gewinn,</div>
- <div class="verse">Geht sie verloren, macht mein Freund den Fund;</div>
- <div class="verse">Zwei finden sich, zwei fahren mir dahin,</div>
- <div class="verse">Und beide richten meinthalb mich zu Grund.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Ach, freu dich! wir sind Eins, mein Freund und ich;</div>
- <div class="verse">O holder Wahn! so liebt sie doch nur mich!</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Denken wir von hier aus an solche Stücke wie Die beiden Veroneser,
-Wie es euch gefällt, Was ihr wollt, wo immer auf Shakespeares Bühne
-der junge Schauspieler, der die jugendliche Liebhaberin zu spielen
-hat, sich noch einmal als Mann zurückverkleidet und so, während ein
-Weib sich in ihn verliebt, der Freund eines Mannes wird, der sich in
-erotischer Sympathie zu ihm hingezogen fühlt: aus dem, was Shakespeares
-Lyrik uns über seine Erlebnisse und die Art, wie er sie nahm, enthüllt,
-verstehen wir die leichte, neckische und doch innige Grazie jener
-Szenen besser. Bei aller Innigkeit und Gewalt der Schmerzen hat er so
-viel überlegene Heiterkeit, daß er mit einer<span class="pagenum"><a name="Seite_353" id="Seite_353">[S. 353]</a></span> gewissen mathematischen
-Kombinationsfreude, wie sie sich gerade der Form des Sonetts so
-wundervoll anschmiegt, die innern und äußern Möglichkeiten des Dreiecks
-abwandelt.</p>
-
-<p>Mit der sehr ernsten Aufgabe, vor die die Art, wie Shakespeare dieses
-Erlebnis hier in die freie Luft des Spiels und damit der Reinheit
-gehoben hat, uns stellt, sind wir noch lange nicht fertig; und so
-ist zu sagen, daß es nichts Moderneres, nichts, was uns mehr angeht,
-gibt als diese Sonettenfolge. Die Liebe abwechselnd, wie es die Natur
-verlangt, gewaltig ernst, und dann wieder, wie es der Geist rät, ganz
-leicht und heiter, immer aber frei nehmen scheint mir in der Tat
-eine Aufgabe, die Shakespeare besser verstanden hat als wir. Auch in
-diesem zarten Punkt stehen unsre frühen Romantiker, Novalis, Friedrich
-Schlegel, Schleiermacher in naher Beziehung zu ihm. Shakespeare aber
-hatte es leichter als sie und wir, weil er in andern Sitten oder Moden
-stand als wir.</p>
-
-<p>Lebendig genug im England seiner Zeit war noch die höfische Sitte der
-Ritterliebe, wie wir sie aus den Artusromanen und ähnlichen Dichtungen,
-aus der Minnepoesie, aus dem Leben Ulrichs von Liechtenstein kennen:
-in all den Büchern dieser Art, wie sie in dem Jahrhundert nach
-Einführung des Buchdrucks in den Kreisen des Adels, des Bürgertums
-und des Volks begehrt waren und verschlungen wurden, gehörte es sich
-und war Mode, daß der &mdash; übrigens verheiratete &mdash; Ritter eine Dame
-hatte, der er seine Phantasieliebe widmete. Es gehörte sich, daß in
-der Liebesdichtung von allem eher die Rede war als von der Hausfrau,
-der Mutter der Kinder. Es gehörte sich, mit einem gesagt, daß der
-seelenvolle Sänger und ritterliche Kämpfer, unabhängig von seiner
-Häuslichkeit, seine Sehnsucht, seine Romantik hatte, die ihn, wie
-die gotischen Münstertürme aus muffigen Bürgergäßchen in die freie,
-frische, blaue Luft nach oben wuchsen, aus der Enge in die weite Welt
-führte.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_354" id="Seite_354">[S. 354]</a></span></p>
-
-<p>Zu dieser Verzauberung und Verklärung des Lebens aus dem Mittelalter
-kamen nun noch die hohe, heroische Seelenstimmung des erotischen
-Freundschaftsbundes in der Renaissance und die Einflüsse aus der
-Antike; Plato war der Abgott der Kreise, aus denen Giordano Bruno
-herkam, und die Schriften der griechischen und der neuen italienischen
-Platoniker, in denen die Liebe des Sokrates ins Erhabene gerückt und
-als heitere, die Menschen frei und unverzerrt an einander bindende
-Religiosität erfaßt war, wurden durch den Druck verbreitet. Die „Minne“
-fing in diesem Zeitalter des Don Quijote und der Cressida gerade an,
-auf die Stufe des holden, flatterhaften, irdischen Liebchens zu sinken;
-die Geschlechtsliebe wurde analysiert und also angetastet und von der
-verklärenden und steigernden Phantasie abgeschnitten. Shakespeare,
-dessen Volumen daher rührt, daß er an der Wende der Zeiten in beiden
-Lagern stand, war auch auf diesem Gebiet nach beiden Seiten zum
-Höchsten imstande: keiner hat wie er die Liebe zwischen Mann und Weib
-von der Phantasie ins Himmlische heben lassen, keiner hat wie er solche
-Liebe mit inniger Qual und zäher Energie untersucht und zergliedert.
-Die Art Geschlechtlichkeit und Wollust, die den Mann nicht zur Freiheit
-steigert, sondern ins Gemeine bannt und unter seine Würde hinabzerrt,
-hat er mit dem großen Fluch der Menschheit belegt, und gegen sie hat er
-das Ideal der männlichen Gesellschaft, der Männerfreundschaft erhoben
-und hat diesem Gegensatz Troilus und Cressida gewidmet.</p>
-
-<p>Das Heroische und Erhabene, nicht mehr lechzen und verlangen, ins Tier
-hineinschlüpfen, der Natur sich unterwerfen, sondern die Kühnheit,
-die freie Bahn des sich selbst bestimmenden Geistes kommt in dieser
-Liebesfreundschaft zum Ausdruck. Die Augen haben einen andern Blick;
-Sehnsucht, Habenwollen, Entbehrung, Leid und Qual und Wonne: all
-das ist da, aber alles nicht der Venus,<span class="pagenum"><a name="Seite_355" id="Seite_355">[S. 355]</a></span> dem finstern Leibestrieb
-unterworfen, sondern frei als ernstes, strenges Geschick erwählt.</p>
-
-<p>Noch einmal sei in dieser Vortragsfolge Rembrandt genannt. Den
-Gegensatz der Welt des Rubens und des Rembrandt, der Sinnenlust
-und der magischen Geistesfreude erkenne ich in Geschlechtstrieb
-und Liebesfreundschaft, wie sie Shakespeare in den Sonetten und in
-den eng zu ihrem Höhepunkt gehörigen Bühnenwerken, Antonius und
-Cleopatra und Troilus und Cressida darstellt. Wie ich das meine,
-möge das Sonett zeigen, das gleich auf die Reihe der Sonette von
-den drei Menschen folgt, deren jeder jedem Liebesgefühle zuträgt
-und deren einer verlassen erleben muß, wie zwei ihm doppelt treulos
-sind. Erstaunlicherweise zwar will Brandl in der Abhandlung, die er
-Fuldas Übersetzung beigibt, dieses wie so manches andre Gedicht, in
-dem die Freundschaftsliebe einen besonders gewaltigen, passionellen
-Ausdruck findet, auf die Liebe zu dem Weibe beziehen, &mdash; aber überall,
-wo es aus inhaltlichen und sprachlichen Gründen sicher ist, daß
-der Dichter von ihr spricht, sind ganz andre Töne zu hören, und zu
-solcher Umbiegung hat keiner ein Recht. Shakespeare bedarf keiner
-Entschuldigung; sein ganzes Herz hängt an seinem Freunde; und warum
-etwa nicht? Weil die Freundschaft aus der Mode gekommen ist? Weil die
-meisten, wenn sie von ihr hören, den Eros mit dem Sexus verwechseln
-und von einer Hingerissenheit nichts wissen, die nur der Seele und dem
-Geist entstammt? Weil man nur immer an solche ins Drollige mißratene
-Verhältnisse verzweifelt Täppischer und Phantasieloser denkt, die in
-ihrem Unterbewußtsein Verwechselungen begehen und irgendein Glied
-ihrer Notdurft in einen Bund hineintragen, der schmutzig, lasterhaft
-oder komisch ist, wenn er nicht ein Bund der Freiheit ist? Weil man
-nur immer faulige oder pervers triebhafte Nebenregungen mit dieser
-Freundschaft in Verbindung bringt oder sich gar von<span class="pagenum"><a name="Seite_356" id="Seite_356">[S. 356]</a></span> einer im Dumpfen
-ausgebrüteten Pseudowissenschaft sagen läßt, solche Freundschaft müsse
-mit einem fruchtlosen Mißbrauch der zur Kindererzeugung bestimmten
-Organe des Leibes verbunden sein? Weil die Phantasielosigkeit nirgends
-komischere Triumphe feiert als auf dem Gebiet der Liebe jeglicher
-Art? und weil die meisten gott- und liebeverlassenen Leute mehr von
-einem Wind, der in ihrem Leibe spaziert, zu begehrender Begeisterung
-gebracht werden als vom Anblick der Seelenschönheit? Äußerung braucht
-die Freundschaft, wenn sie innen in jedem von zwei Menschen da ist
-und zwischen zwei Menschen weben will; der Vermittelung bedarf die
-Seele der zwei, die eins werden will, der Vermittelung durch den
-Leib, weil es andre Wege des Verkehrs für uns unter dem Himmel nicht
-gibt; aber auch die Sprache, auch die Musik, auch die Kunst gehört
-zu dieser leiblichen Vermittelung, und die Nuance ist auf diesem
-Gebiet der unphysiologischen, der Phantasieliebe alles; von dem Talent
-und der Übung zum Verkehr der Geister wird es bei den Menschen, die
-zusammenstreben, abhängen, ob ihr Umgang grotesk oder schön sein wird.
-Sie wird wieder Mode werden, die Freundschaft; ohne gefühlvollste
-Untrennbarkeit zueinander gezogener und gebannter Menschen auch
-über die Familiengruppe hinaus kommt es zu keiner Erneuerung der
-Menschengesellschaft; die Kameradschaft, wie sie Whitman verkündet
-hat, wird die Bünde schaffen, die nicht wie die Familien und Nationen
-gemeinsamer Notdurft der Natur, sondern der freien Wahl des Geistes
-entstammen, und die nicht aus der Wut des Geblüts zu blutigen Kriegen,
-sondern zu hell freudigem Wettkampf schöpferischer Kräfte führen. Dann
-wird ein Gedicht wie das 43. Sonett Shakespeares, das Rembrandt-Sonett
-den Menschen ein Labsal und wie eine weihevolle Inschrift sein, die
-ihr öffentliches Leben mit der glühenden Innigkeit ihres intimsten und
-geheimen Lebens befeuert:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_357" id="Seite_357">[S. 357]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Geschloßnes Auge dient am besten mir,</div>
- <div class="verse">Da es sich tags an nichtige Dinge wendet,</div>
- <div class="verse">Doch wenn im Schlaf ich träume, ist’s nach dir</div>
- <div class="verse">Und nächtig hell, hell in die Nacht gesendet.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Denn du, deß Schatten Schatten leuchten macht,</div>
- <div class="verse">Was gäb’ dein leibhaft Bild für holde Schau</div>
- <div class="verse">Dem lichten Tag mit deiner lichtren Pracht,</div>
- <div class="verse">Deß Schattenbild erstrahlt in Schlummers Grau!</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wie, sag’ ich, wär’ des Auges Glück erst groß,</div>
- <div class="verse">Wenn es dich sähe im lebendigen Tag,</div>
- <div class="verse">Da hell in toter Nacht dein Schatten bloß</div>
- <div class="verse">Durch schweren Schlaf vor blinde Augen trat.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nachtgleich die Tage all’, wo du nicht hier,</div>
- <div class="verse">Und taghell nachts, führt dich der Traum zu mir.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Ich denke an Rembrandt nicht bloß wegen des <em>darkly bright, bright
-in dark</em>, wegen des Helldunkels, sondern weil dieses Licht, das auf
-die Nacht flammt, bei beiden dieselbe Magie der düster klaren, des
-Geschicks bewußten Freiheit, Haltung und Entschlossenheit des Geistes,
-der sich von den Banden des Triebs losmacht und selig gefaßt in der
-Phantasie lebt, zum Ausdruck bringt. Dieser entschlossene, zu Tod wie
-Leben bereite, rationelle und doch tragische, helle und doch nächtige
-Geist, wie ihn dieses Sonett, wie ihn in den Dramen am schönsten
-Brutus und Hektor und Macduff und Prospero zum Ausdruck bringen, und
-hinwiederum die andre Gestalt des Geistes, die die Tierwildheit durch
-Witz, Ironie, Spiel, Heiterkeit überwindet, das sind die beiden Pole,
-denen die schönsten Dramen Shakespeares ebenso wie diese Sonette
-wechselseitig zustreben. Und wie braucht der Geist die Abwechselung
-zwischen diesen Standpunkten und Arten des Verfahrens, wie muß er in
-dieser Welt sich so schwer durchs Leben winden, um sich zu behaupten,
-da wir, so klagt das nun<span class="pagenum"><a name="Seite_358" id="Seite_358">[S. 358]</a></span> folgende Sonett in derselben Stimmung und mit
-ähnlichen Worten wie der junge Prinz Hamlet, nicht ganz und gar Geist,
-sondern in die „dumpfe Substanz des Fleisches“ gestopft sind! Wie wäre
-der Raum, der die Trennung und den Schmerz schafft, überwunden, wenn
-wir ganz Geist wären! Aber „dieser Gedanke ist tödlich, daß ich nicht
-Gedanke bin“. Wir sind elementar &mdash; und in der Trennung leiht uns der
-schwere Stoff unsres Fleisches keinen leichten Flug der Überwindung
-aller Schranken des Raums, der Zeit, sondern nur die Mischung aus
-luftgleicher Seele und „allzu festem Fleisch“: das Naß der Tränen.</p>
-
-<p>Da haben wir die elementare Chemie dieses Tragikers, der wir in
-Antonius und Cleopatra schon begegnet waren: Zwei Elemente, Erde und
-Wasser, unser Leib und unsre Tränen binden uns an die Natur. Mit den
-Tränen unsrer Schmerzen aber, mit der Empfindung aber geht die Fahrt
-schon aufwärts, da steigt der Leib hinauf in die Seele. Wie gut erst,
-daß wir auch der beiden andern Elemente teilhaftig sind, von denen das
-unmittelbar anschließende 45. Sonett spricht: die Luft, unser Denken;
-das Feuer, unser Wollen und Sehnen: <em>desire</em>. Mit dieser Ausdeutung
-der Elemente als Symbole für die Urprinzipien der Welt berührt sich
-Shakespeare mit der ältesten griechischen Philosophie, ohne daß wir
-sagen können, ob diese Einkleidung seiner Gedanken und Stimmungen aus
-philosophischen Gesprächen im Freundeskreis, etwa mit Jüngern der
-italienischen Neuplatoniker, oder aus Büchern zu ihm kam. Das Erlebnis
-aber mit dem Leib und den Schmerzen, die ihn flutend durchgeistigten,
-hatte Shakespeare sehr leibhaft in der Wirklichkeit; er vielleicht
-mehr als irgendein anderer Sterblicher. Denn er hatte ein unheimliches
-Erlebnis mit seiner Körperlichkeit, das, ich muß es nach langer Prüfung
-glauben, irgendwie mit den immer wiederholten Klagen über Makel und
-Flecken in seinem<span class="pagenum"><a name="Seite_359" id="Seite_359">[S. 359]</a></span> Leben, über Schmach und Scham zusammenhängen muß,
-welche Klagen keineswegs durchgängig mit seinem Schauspielerdasein
-erklärt werden können. In den dreißiger Jahren seines Lebens beginnen
-die erschütternden Klagen, daß er alt, müde, verbraucht werde, und
-werden immer grimmiger und schärfer; im Jahre 1599, aus dem wir die
-ersten noch gemäßigten Klagen dieser Art (im Verliebten Pilger) im
-Druck haben, war er 35 Jahre alt, und diese Sonette könnten sogar noch
-ein paar Jahre älter sein. Wer sich damit helfen kann, zu erklären,
-diese Klänge wären Versspielereien ohne Wirklichkeit, dem sei’s
-überlassen; ich glaube ein Ohr für Lebensechtheit der Empfindungen zu
-haben und vermag es nicht.</p>
-
-<p>Obwohl Shakespeare alt nicht geworden ist und ganz gewiß kaum vierzig
-vorbei war, als die ganz bittern dieser Sonette entstanden, redet er
-scharf und bitter von dem Bild, das ihm sein Spiegel zeigt: die Jahre
-haben ihn wie mit Lohe gegerbt, rissig gemacht, zerquetscht. Gewiß
-haben wir da die Übertreibung in Betracht zu ziehen, eine doppelte
-sogar, die eine, die zur melancholischen Gemütsart gehört und die
-das, was sie anfangs übertreibt, bald genug selber herstellen hilft
-und immer ärger macht; dann auch die andre, künstlerische, die einen
-dunklen Hintergrund braucht, von dem sich das strahlende Bild des
-Freundes abheben soll. Aber alles zusammengenommen, und erwogen, daß
-so übergroße geistige Macht nicht geschenkt wird, daß die Natur, die
-in Eines Menschen Leib solch zehrendes Feuer goß, ohne Ausgleich
-nicht auskommt, daß jede Genialität sich irgendwie, am Körper, an der
-Lebensführung, am schwierigen Umgang mit Menschen rächt und daß nur
-noch etwa einer der Zufälle, die draußen als Dämonen immer lauern, dazu
-treten muß, um eine Katastrophe herbeizuführen, so müssen wir sagen:
-die Äußerungen und fast schon Schreie, zu denen Shakespeare zuletzt in
-den Sonetten kommt, entsprechen<span class="pagenum"><a name="Seite_360" id="Seite_360">[S. 360]</a></span> dem Bild, das wir uns auch sonst von
-diesem gewaltig Lebenden machen müssen: seine Leibeskräfte, gleichviel,
-was von außen antastend und zehrend dazu gekommen war, waren früh
-verbraucht; er war alt lange vor der Zeit; die Leiblichkeit hielt dem
-innern Sturm auf die Dauer nicht stand. Und in dieser Stimmung nun, die
-da über ihn gekommen ist, malt er sich bis in alle Einzelheiten aus,
-wie einst die Zeit auch mit dem Freund umgehen wird: auch der wird alt
-werden; auch der dahingehn; Türme zerfallen, Erz und Stein sind nicht
-für die Ewigkeit; Meer und Land vernichten sich gegenseitig; die Vision
-und Bildersprache für dieses Untergangsgefühl ist dieselbe, wie sie,
-ein paar Jahre später wohl, aus Prosperos Mund kommen wird; auch die
-Schönheit muß welken und in den Kot sinken wie eine Blume. Da gibt es
-nur immer den einen Trost &mdash; denn der Gedanke an die Unsterblichkeit
-durch die Nachkommenschaft, wie er in manchmal noch naiver Form sich im
-Beginn der Sonettendichtung ausgesprochen hat und wie ihn der Dichter
-schließlich in Gestalt einer Erbfolge des Geistes in dem Verhältnis
-Prosperos zu Miranda und Ferdinand fassen wird, taucht an dieser Stelle
-der Sonette nicht auf &mdash; den einen Trost kennt der Dichter hier nur,
-daß die Liebe in den schwarzen Lettern dieser Gedichte erhalten bleibt.</p>
-
-<p>Daran schließen sich dann Gedichte von einer ungeheuren Bitterkeit
-und Weltverachtung und einem Lebensüberdruß ohnegleichen, die auch
-in Ton und Form von einer geschmiedeten Wucht sind, allen voran das
-66. Sonett, das der nämlichen Stimmung Ausdruck gibt wie der Hamlet,
-der Lear, der Timon, der Coriolan: O pfui, o nein, was für eine Welt,
-lieber nicht leben! Zehnmal hintereinander fängt von den vierzehn
-Zeilen jede mit „Und“ an; der Dichter kann sich nicht genug tun in der
-Aufzählung der Häßlichkeiten und Erbärmlichkeiten der Welt:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_361" id="Seite_361">[S. 361]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse"><em class="gesperrt">Dies</em> alles müd schrei’ ich nach Todesrast:</div>
- <div class="verse">Verdienst zu sehn als Bettelmann geboren,</div>
- <div class="verse">Und dürftiges Nichts in Herrlichkeit gefaßt,</div>
- <div class="verse">Und reinste Treu’ zum Jammer auserkoren,</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und goldne Ehre, die den Falschen krönt,</div>
- <div class="verse">Und jungfräuliche Tugend roh geschändet,</div>
- <div class="verse">Und echte Hoheit ungerecht verpönt,</div>
- <div class="verse">Und Kraft von lahmer Tyrannei entwendet,</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Und Kunst geknebelt von der Obrigkeit,</div>
- <div class="verse">Und Geist vorm Doktor Narrheit ohne Recht,</div>
- <div class="verse">Und dumm befunden schlichte Redlichkeit,</div>
- <div class="verse">Und Sklave Gut im Dienst beim Herren Schlecht:</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Dies alles müd möcht’ ich begraben sein,</div>
- <div class="verse">Ließ ich nicht sterbend, Liebster, dich allein.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Seltsam allmählich wendet sich dieser Überdruß an der Welt, wie sie
-jetzt ist, gegen den Freund, der bei allem doch, wir hören’s in
-dieser furchtbaren Klage, wenn nicht sein Trost, so doch sein Grund
-ist, in der Welt bleiben zu wollen. Die Natur scheint wie bankerott
-zu erliegen; sie hat kein Blut mehr, das durch lebendige Adern zu
-rinnen vermag. Und steht nicht in diesem Untergang der Freund als
-einziger Besitz der echten Natur inmitten der Falschheit? Aber schon
-klingt es uns, als färbe die unnennbare Bitterkeit dieser Schilderung
-auch auf den Freund selbst ab; er wird geschildert als einer, der
-inmitten der Verpestung lebt; die Ruchlosigkeit begnadet er mit
-seiner Gegenwart, die Sünde darf sich mit seiner Gesellschaft zieren.
-Und von geschminkten Wangen und falschen Locken ist viel die Rede,
-die man in diesen lügnerischen Zeiten den Gräbern stiehlt, damit
-sie auf einem zweiten Kopf ein zweites Leben führen; wir wissen,
-wie Shakespeare seinem Ekel vor solcher Fälschung der Attribute der
-Schönheit auch sonst, zum Beispiel in Bassanios Rede, Ausdruck<span class="pagenum"><a name="Seite_362" id="Seite_362">[S. 362]</a></span> gegeben
-hat; Schönheit war ihm nicht Äußerlichkeit, sondern Ausdruck, und sie
-außen aufzukleben und vorzutäuschen keine geringere Heuchelei als die
-moralische. Der Freund, an den er sich klammert, ist dem Dichter der
-Sonette das letzte Bild der Echtheit in dieser Zeit; er macht nicht
-aus andrer Grün einen künstlichen Sommer, er möge der falschen Kunst
-zeigen, was einstens allerwege die Schönheit war.</p>
-
-<p>Und nun spricht er sich im weitern noch deutlicher aus, wenn auch
-keineswegs so deutlich, wie es manche Übersetzer gemacht haben. Was
-die Welt an dir sehen kann, Freund, dein Äußeres ist ohne Fehl; und
-künstliche Mittel wendest du nicht an; Freund und Feind müssen gestehn:
-schön bist du. Aber ist diese Schönheit deines Leibes wahrhaft Ausdruck
-deines Wesens? Bist du nicht ein Beispiel für das Furchtbare, daß
-Schönheit, Liebreiz, adlig gewinnendes Wesen selbst täuschender Schein
-sein können? Wenn man tiefer in dich eindringen will, hinter den
-entzückenden Schein und Schimmer deiner Erscheinung, woran anders soll
-man die Schönheit deiner Seele prüfen als an deinen Taten? Schon öfter
-hat der Dichter in diesen Sonetten an den Blumen die schönen Farben
-als den holden Schein und aber den Duft als den Ausdruck des Innern
-unterschieden; jetzt sagt er von dem Freund, seine Blüte sei schön zu
-schauen, aber sie dufte <em>rank</em>, das heißt geil, scharf stinkend.
-Und warum, du Blume kommt dein Duft nicht deinem Anblick gleich?</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse"><em>The soil is this, that thou dost common grow.</em></div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Das ist ein wundersames, rein formal genommen, wundervolles Wortspiel,
-eine Doppelbedeutung, mit der sehr viel gesagt ist. Es kann heißen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Der Grund ist der, daß du gemein wirst.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Aber im Zusammenhang mit dem Bild der Pflanze soll eher der Sinn
-herauskommen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Der Grund ist der, daß du in Gesellschaft wächst, wie das Unkraut,</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_363" id="Seite_363">[S. 363]</a></span></p>
-
-<p>der Grund ist der Umgang, in dem du dir gefällst und dich gemein machst.</p>
-
-<p>Aber jedenfalls sehen wir: das Verhältnis hat sich geändert, hat sich
-beinahe umgekehrt. Früher war es der Dichter, der sich vor der reinen
-Erhabenheit des Jünglings, des Adligen fast verkrochen hat. Adel ist
-ihm Naturerbe, ist ihm ein Vorzug des Geblüts, echt und berechtigt
-wie der Anspruch der Schönheit. Und immerhin möglich ist es und
-manche Wendung deutet in der Tat darauf hin, daß er, wie er in dem
-Adel und der Schönheit des Freundes, wenn diesen Zeichen das Innere
-entspricht, eine Gabe der Natur erblickt, seinen Schauspielerberuf als
-etwas ansieht, das sein Wesen tief nach innen und unaustilgbar gefärbt
-habe, wie das Färben die Hand des Färbers; daß er diesen Beruf wie ein
-schimpfliches öffentliches Gewerbe betrachtet, und von ihm in Wendungen
-spricht, wie Schmach und Schuld und Flecken und Makel, die sonst nur
-innere Eigenschaften bezeichnen. Fortuna nennt er die „schuldige
-Göttin seiner qualvollen Taten“. Ist diese Deutung so richtig,
-wie sie allgemein akzeptiert ist, so dürfen wir, auf dieses Leben
-zurückblickend, wohl ausrufen: was muß der junge Shakespeare schon für
-eine Persönlichkeit gehabt haben, um aus solcher Stellung heraus zu
-diesem Verhältnis zu so einem verwöhnten Jüngling aus höchstem Adel zu
-kommen! Wie dem auch sei, jetzt redet der Dichter überlegen von oben,
-scheu und behutsam immer noch, aber nur aus schonender Liebe, die
-glauben will; denn um Verdacht schlimmster Art geht es. Verdacht: das
-ist das Thema eines dieser Sonette. Der beweist freilich noch nichts;
-Verleumdung tastet grade das Edelste an, und die Krähe fliegt in der
-holdesten Himmelsluft; Verdacht ist geradezu die Auszeichnung der
-Schönheit:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse"><em>The ornament of beauty is suspect.</em></div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Sollte der Freund, der die Jugend und ihre schlimmen Gefahren hinter
-sich hat und entweder gar nicht angegriffen<span class="pagenum"><a name="Seite_364" id="Seite_364">[S. 364]</a></span> wurde oder als Sieger
-hervorging, nicht seine Unschuld bewahrt haben, sollte er nicht gut
-geblieben sein? Die Frage bleibt zunächst offen:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Verhüllte nicht der Argwohn deinen Ruhm,</div>
- <div class="verse">Du hättest aller Herzen Königtum.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>In den Zusammenhang dieser Sonette 67&ndash;70 und der später folgenden
-Reihe 92&ndash;95, die das Motiv verstärkt aufnimmt, stellt sich mir aber
-die böse Stelle aus der Klage der Liebenden, von der ich früher gesagt
-habe, daß sie mir nicht bloß zur Handlung der Romanze, sondern auch
-des Sonettenwerks gehört. Und in diesem Zusammenhang gedenke ich eines
-Dichters unsrer Zeit, den man den natürlichen Sohn dieser Sonette
-nennen könnte. Ich meine Oskar Wilde, der in diesen Gedichten und
-ihrer Vorstellungs- und Empfindungswelt gelebt und geatmet hat. Von
-dem amüsanten und doch schließlich betrüblichen Büchlein „Das Porträt
-des Herrn W. H.“ will ich weniger reden als von einem andern Bildnis.
-In dem Büchlein hat er eine verführerische Theorie über den Mann, an
-den die Sonette sich richten, mit welcher er lange kokettiert haben
-mag, schließlich in einer Novelle beigesetzt. W. H. sollte nach dieser
-Erklärung der junge Schauspieler sein, der in Shakespeares Truppe die
-jugendlichen Mädchengestalten spielte. Das läßt sich nicht halten;
-daß der Mann, dem die Sonette gelten, ein Aristokrat in vornehmster
-Stellung war, geht aus vielem hervor. Aber wichtiger ist es, von
-einer der bestkomponierten Romandichtungen unsrer Zeit, vom Bildnis
-Dorian Grays in diesem Zusammenhang zu reden. Mir ist, als wäre diese
-Dichtung aus Shakespeares Sonetten und besonders aus dem Teil, der uns
-jetzt beschäftigt, entstanden; und Die Klage der Liebenden könnte das
-Vorbild zur kläglichen letzten Liebe Dorian Grays abgegeben haben. Die
-Motive der Sonette 67&ndash;70 sind in der Tat die Grundmotive des Romans:
-alle, so klingt es uns hier wie dort entgegen, alle werden vom Alter<span class="pagenum"><a name="Seite_365" id="Seite_365">[S. 365]</a></span>
-angefressen; du allein strahlst in unvergänglicher Schönheit. Aber &mdash;
-wie steht’s um deine Seele! Wenn man die sehen könnte &mdash;! Gut ist’s
-nicht damit bestellt, wenn man nach deinem Rufe, gut auch nicht, wenn
-man nach deiner Gesellschaft urteilt. Und dieser Eindruck verstärkt
-sich noch in den Sonetten 92&ndash;95. Ist es nicht wie ein Motto zu Dorian
-Gray, wenn wir da hören:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Doch Gott beschloß an deinem Schöpfungstag:</div>
- <div class="verse">Nie soll die Liebe dir vom Antlitz schwinden,</div>
- <div class="verse">Was auch dein Geist, dein Herz ersinnen mag,</div>
- <div class="verse">Dein Blick soll immer Holdes nur verkünden.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Bei diesem Bilde der zum Staunen unvergänglichen Anmut und
-Liebenswürdigkeit wie nun bei der Schilderung, die den Prinzen
-Wunderhold mit einem Mal unverhüllt in seiner innern Beschaffenheit
-zeigt, haben wir ganz das Porträt, das die verratene Liebste in
-der Romanze am Schluß des Sonettenwerks von dem bezaubernden Manne
-entwirft; wenn es etwa im 95. Sonett heißt:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">O welch ein Schloß das Laster sich erkor,</div>
- <div class="verse">Als es in dir zu wohnen sich entschied!</div>
- <div class="verse">Jedweden Makel deckt der Schönheit Flor,</div>
- <div class="verse">Und schön wird alles, was das Auge sieht.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>In tiefster Schwermut wendet sich dann der Dichter von den Zweifeln
-an dem immer geliebten Freund, dem er ein Mal für alle verfallen ist,
-weg zur Betrachtung des Todes, dem er sich immer näher fühlt. Eine
-entsetzliche Vorstellung aber ist ihm jeder Gedanke an die Auflösung,
-&mdash; so grauenhaft wie uns allen, nur daß wir nicht hinblicken, nicht den
-Schädel unsres guten Freundes aus der Knabenzeit in der Hand wiegen
-und dabei empfinden, es sei unser eignes kahl gefressenes Gebein. Den
-Dichter aber lockt es unbezwinglich hinzublicken auf dieses Unfaßbare;
-und sich, wie er jetzt ist, empfindet er in tiefstem Schauder als
-denselben, der er bald sein wird, ein maßlos Erniedrigter. Dem
-Freund ruft er, wie schon mit Grabesstimme zu:<span class="pagenum"><a name="Seite_366" id="Seite_366">[S. 366]</a></span> Nicht länger klage
-um mich, als die Totenglocke schallt! Lies meine Verse, aber denke
-nicht mehr an den Menschen, der sie geschrieben hat! Nenne meinen
-Namen nicht mehr, liebe mich nicht mehr, wenn ich weg bin! In der
-Niedrigkeit war ich in dieser Welt, zu allerniedrigsten Würmern geh’
-ich, wenn ich ihr entronnen bin. Und noch stärker wird diese ganz
-und gar düstere Stimmung, in die gar kein Licht fällt, ausgedrückt.
-Ich werde dieses dunkle Rätsel nicht lösen, aber ich werde es nicht
-verhehlen: dieser Dichter, ganz weltlich, ganz ohne jede Beimischung
-etwa religiös-asketischer Umkehr, im Gegenteil, indem er die ganze
-Welt lichtlos, freudlos, hoffnungslos, sinnlos sieht, nimmt aus dieser
-Stimmung auch sich den Lebenden und sein Werk nicht aus. Was er getan,
-geleistet hat, mißt er in dieser Verfassung der Krise offenbar an
-einem Wollen ganz andrer Art, ganz andren Zieles, das vielleicht auch
-ganz andern Gebieten angehört; was da ist, ist nichts und schlimmer
-als nichts. Da, in der direkteren Aussprache dieser Lyrik, ist nicht
-die in Bitterkeit noch milde Resignation, mit der Prospero seinem Werk
-und Leben entsagt; da ist Verzweiflung. Wie er in jüngern Jahren von
-Verschuldung und von Flecken gesprochen hat, so nennt er jetzt seine
-Leistung Schmach und Schande. Ich habe zugegeben, man kann jene starken
-Ausdrücke auf sein Schauspielerdasein beziehen, aber will man für
-jetzt, wo er auf der Höhe seiner dramatischen Produktion steht, auch
-noch sagen, mit dieser entschlossenen, finstern Verachtung rede er nur
-von seiner äußern Stellung als Schauspieler und Dramatiker? Nichts
-unglaublicher als das! Nirgends sind wir im ganzen und einzelnen der
-Stimmung und dem innersten Wesen von Shakespeares reifsten Dramen so
-nah wie in diesem Teil der Sonette; nirgends aber in den Bühnenwerken
-spricht sich uns die Abkehr und Verzweiflung an sich selbst so namenlos
-schrecklich aus wie hier. Ich habe für diese Äußerungen, für diese in
-Entschlossenheit gefaßten<span class="pagenum"><a name="Seite_367" id="Seite_367">[S. 367]</a></span> Ausbrüche keine andre Erklärung als die
-einer oft fast völligen Umdüsterung, fast müßte man sagen: Umnachtung.</p>
-
-<p>Er verfügt in einem Tone wie letztwillig: sein Name solle vom Freunde
-da begraben werden, wo sein Leichnam liegen werde, und solle nicht
-länger am Leben bleiben und ihn und den Freund in Schmach bringen.</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>Denn ich schäme mich dessen, was ich hervorbringe, und du solltest
-dich schämen, Dinge zu lieben, die nichts wert sind.</p></div>
-
-<p>Doch solange er lebt, soll der Freund ihn lieben! Das bringt
-uns vielleicht doch der Lösung des Rätsels noch etwas näher.
-Diese Düsterkeit steht in untrennbarer Verbindung mit den
-Verfallserscheinungen seiner Körperlichkeit &mdash; er ist höchstens ein
-früher Vierziger &mdash;, mit der Todesnähe, auf die er immer wieder zu
-sprechen kommt und die &mdash; vergessen wir das doch nicht! &mdash; Wirklichkeit
-ist. Wir wissen nicht, an welcher Krankheit Shakespeare jung starb, &mdash;
-aber wir wissen, daß er sich mindestens acht bis zehn Jahre vorher vom
-Tode gezeichnet fühlte.</p>
-
-<p>Da redet er &mdash; und es ist sicher dieselbe Zeit, in der über den
-Dramatiker vom tiefst Menschlichen her zuerst die Krise gekommen war,
-die wir kennen gelernt haben &mdash; den Freund an:</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>In mir siehst du den Herbst! Gelbe Blätter, oder keine, oder ein
-paar hängen in frierenden Zweigen, und man kann bei diesem Anblick
-an einen eingestürzten Chor denken, in dem einst die süßen Vögel
-sangen.</p></div>
-
-<p>Daß sich dieses Bild auf seine Produktion bezieht, daß er diesmal ein
-Jetzt, wo ihm alles mißraten scheint, mit einem früheren Reichtum
-vergleicht, wie mit einem Strom, während seinem Gefühl nach jetzt
-Stocken und Versiegen gekommen ist, hören wir aus dieser Stelle
-deutlich:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">In mir siehst du in Zwielicht düstern Tag,</div>
- <div class="verse">Der nach Sonnuntergang gen Abend bleicht,</div>
- <div class="verse">Den schwarze Nacht gar bald entführen mag,</div>
- <div class="verse">Des Todes Schatten, der von hinnen scheucht.</div>
- </div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_368" id="Seite_368">[S. 368]</a></span>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">In mir siehst du das Glimmen einer Glut,</div>
- <div class="verse">Die auf der Asche ihrer Jugend endet,</div>
- <div class="verse">Als ihrem Todbett, und bald völlig ruht,</div>
- <div class="verse">Verzehrt von dem, was Nahrung ihr gespendet.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Wir haben gehört, was das für ein Feuer ist; <em>desire</em> &mdash; die
-Sehnsucht, das unbändige Wollen, die Leidenschaft; von innerem Feuer
-ist dieses Dichterlebens Feuer allzu rasch, allzu glühend verzehrt
-worden. Man sagt, die gewaltigsten, verzehrendsten Waldbrände könnten
-nur durch Feuer gelöscht werden, das man gegen sie treibt. So will
-das Feuer dieses Dichters erlöschen: von Flammen verschlungen; und
-er unterscheidet gut genug den guten und den bösen Engel, das reine
-Feuer der Seele und der Dichtung und der Schönheitsliebe und aber das
-brennende, sündhafte Feuer der Triebe. Und &mdash; ich wollte die Feder
-verstauchen und nicht mehr zur Hand nehmen, wenn sie nicht alles heraus
-ließe, was gesagt werden kann und gesagt sein muß; und ich möchte sie
-nicht mehr führen, wenn sie nicht zart vom Unnennbaren reden könnte
-&mdash; und ich empfinde, wie der Dichter mit diesem bösen Feuer, das sein
-reines verzehrt, mit dieser sinnlichen Leidenschaft und Wollust seine
-Krankheit, seine steigende Kraftlosigkeit und frühes Alter und die
-Todesnähe in Verbindung bringt; und ich empfinde die Verzweiflung und
-der Umnachtung nahe Verdüsterung als die nicht bloß seelische, sondern
-leibliche Folge und Begleiterscheinung des Leidens, das ihn aufrieb.
-Wie Ekel ist ihm sein Leib, als ob schon jetzt der Tod daran fräße;
-kein Gedanke soll ihm, diesem Naturding mehr gelten, wenn der Tod
-sein Werk getan hat. Die Stimmung des Gequälten schwankt; jetzt ist
-dem Dichter dieser Sonette sein Werk wieder der Grund, auf den er die
-Unsterblichkeit baut:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Doch sei getrost: wenn jener grimme Spruch</div>
- <div class="verse">Ohn’ allen Aufschub mich von hinnen treibt,</div>
- <div class="verse">So trägt mein Leben Frucht in diesem Buch,</div>
- <div class="verse">Das zum Gedächtnis dann noch bei dir bleibt.</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_369" id="Seite_369">[S. 369]</a></span></p>
-
-<p>Die Erde soll Erde bekommen, der Geist bleibt dein; nur die Hefe, der
-Bodensatz des Lebens wird Würmerspeise; der Tod ist ein kläglicher
-Wicht, der mit seiner Hippe Wertloses an sich reißt und das Beste nicht
-treffen kann.</p>
-
-<p>Es ist mir, ich möchte beinahe sagen, ein Dogma oder Axiom, daß jeder
-Dichter im privaten Leben, wie er es von Natur, Körperlichkeit und
-Menschenumwelt wegen führen muß, die eine Seite seines Wesens zeigt
-und in seiner Dichtung die andre, und daß man von der einen so wenig
-wie von der andern ausschließend sagen kann, sie sei die wahre. Es
-ist wahr, wir haben in der Gesamtheit seiner Dichtungen Shakespeares
-innerstes Wesen, haben es aber im Höchsten dieser Werke und in den
-Gestalten, bei denen die Sympathie des Dichters steht, nicht, wie
-er als Mensch unter Menschen sein kann, sondern wie er, ein anderer
-Mensch in andrer Umgebung, sein zu können sich sehnt. Ich glaube, die
-Gelähmtheit Hamlets, die grausig zum Ausdruck kommende Todesfurcht
-des Sklaven der Sinnenliebe Claudio in Maß für Maß und die zwischen
-Selbstbewußtsein und schüchterner Demut schwankende, zur Selbstanklage
-immer bereite Gemütsverfassung des Sonettendichters deuten auf Züge,
-wie sie der lebendige Shakespeare in jäher Unvermitteltheit neben
-kühnen und strahlenden von früh auf gehabt haben mag.</p>
-
-<p class="mtop2">Von alledem, was ich hier und früher über Shakespeares Persönlichkeit
-gesagt habe, habe ich nichts gesucht; ob ich mich sträubte oder willig
-war, ich habe es alles bei der Begegnung zwischen mir, wie ich bin und
-auffasse, und diesen Dichtungen, wie sie unverrückbar sind, gefunden.
-Ich war bereit, den Sonettendichter als Helden dieses Gedichtwerks so
-von William Shakespeare zu trennen, wie Romeo oder Brutus oder Herr
-Angelo von ihm zu trennen ist; aber die Lohe des Persönlichen und
-zutiefst Erlebten schlug immer wieder in das gebändigte Maß<span class="pagenum"><a name="Seite_370" id="Seite_370">[S. 370]</a></span> der Form
-und die entrückte Gestaltung hinein. Diese Gedichte sind reinste Lyrik,
-in demselben Sinne, in dem wir Deutsche diese Gattung von den Großen
-und Echten unsrer Minnedichter her, von den Dichtern des Volkslieds,
-von Andreas Gryphius und Paul Fleming, von Günther und Goethe, von
-Claudius und Hölderlin her kennen: Leben der eigenen Empfindung in
-Verbindung mit dem eigenen Schicksal, zur Gestalt erhoben und zur Form
-geprägt.</p>
-
-<p>So haben uns die Sonette schon in das Thema hineingeführt, das
-uns jetzt zum allerletzten Schluß obliegt: William Shakespeares
-Persönlichkeit, seine Stellung im Leben. Und ich will von dem letzten
-Teil der Sonettendichtung, der dem Weibe gilt, das in Shakespeares
-Leben eine so verhängnisvolle Rolle gespielt hat, von dem Teil, der
-auch das Endgültige dieses Mannes zur Frage des Lebens, des Leibes,
-der Seele sagt, nur im Zusammenhang mit seiner persönlichen Existenz
-sprechen.</p>
-
-<p>Nie mit der geringsten Hinweisung ist in diesen Sonetten von
-Shakespeares Familie, von seiner Frau, von seinen Kindern die Rede. Sie
-haben nirgends in seiner Dichtung auch nur das kleinste Plätzchen. Sei
-auch von ihnen gesagt, was allenfalls zu sagen ist, wenn wir nun vom
-Schlußteil der Sonette aus den unheimlichen Weg vom Dichter Shakespeare
-zu William Shakespeare dem Menschen weiterzugehen wagen.</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_371" id="Seite_371">[S. 371]</a></span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="Shakespeares_Persoenlichkeit">Shakespeares
-Persönlichkeit</h2>
-
-</div>
-
-<p class="s5 center">(Aufzeichnungen zum Schlußvortrag)</p>
-
-<p class="initial mtop2">Was hier noch gesagt wird, ist ein Nachtrag und eine Zusammenfassung.
-Vom Leben und der Persönlichkeit des Dichters habe ich schon immer und
-immer mehr gesprochen, je näher wir dem Ende kamen.</p>
-
-<p class="mtop2">Shakespeares Persönlichkeit: wir wollen also aus seinen Werken uns ein
-Bild seines Wesens machen, im Zusammenhang mit den Umständen seiner
-Zeit und seiner Lebensführung.</p>
-
-<p class="mtop2">Vor allem also müssen wir die Identität des Verfassers der Gedichte,
-der Sonette, der Dramen mit William Shakespeare aus Stratford,
-Schauspieler am Globe- oder Blackfriars-Theater in London feststellen.</p>
-
-<p class="mtop2">Denn gleich stellt sich uns die Behauptung in den Weg: Shakespeare sei
-nicht Shakespeare; ein anderer hätte die Werke verfaßt.</p>
-
-<p>Über diesen andern sind die Vertreter dieser Theorie nicht mehr einig.
-Außer Lord Bacon werden noch andre genannt.</p>
-
-<p class="mtop2">Mit den Beweisen für diese Theorie sieht es nun so aus: sie sind
-jedesmal durchschlagend; aber sie haben kein langes Leben; sie lösen
-einander ab.</p>
-
-<p>Zum Beispiel: Wenn wirklich in der Folio-Ausgabe in Chiffredruck
-mitgeteilt ist, daß Francis Bacon der Verfasser ist, so ist der Beweis
-geliefert.</p>
-
-<p>Aber &mdash; nach einiger Zeit läßt man diese unerhört freche und dumme
-Behauptung fallen und &mdash; behauptet etwas andres.</p>
-
-<p>Oder: wenn wirklich ein Notizenheft in Bacons eigener Handschrift da
-ist, wo er zu einer Zeit, wo die entsprechenden Dramen Shakespeares
-noch nicht verfaßt sein konnten, sich Wendungen, Bilder, Gleichnisse,
-Redensarten notierte,<span class="pagenum"><a name="Seite_372" id="Seite_372">[S. 372]</a></span> die dann etwa in Romeo und Julia und andern
-Dramen genau so verwandt sind, so ist der Beweis geliefert.</p>
-
-<p>Aber &mdash; die Voraussetzungen treffen alle nicht zu; beim ganz
-Verblüffenden handelt es sich um Fälschungen einer armen Irrsinnigen
-&mdash; &mdash; und nach einiger Zeit wird es von diesem Beweisstück wieder ganz
-still.</p>
-
-<p>Und so geht es durchweg: es ist wie bei einem Indizienbeweis gegen
-einen Unschuldigen, wo lauter Einzelheiten, die entweder nichts
-beweisen oder falsch sind, als Gesamtheit eine gewisse Stimmung
-erzeugen.</p>
-
-<p class="mtop2">Fragen wir jetzt im ganzen: ist die Theorie nötig? &mdash; ist sie möglich?</p>
-
-<p class="mtop2">Nötig ist sie denen, denen Shakespeare der Stratforder zu ungebildet
-ist. Sie meinen, diese Dichtungen müßten einen Aristokraten, einen
-Gelehrten, einen Akademiker zum Verfasser haben. Ein greuliches
-Überschätzen der Bildung schulmäßiger Art tritt zu Tage.</p>
-
-<p>Die meisten aber gehen noch weiter und sagen: gewisse gemeine,
-pöbelhafte, volkstümliche, komische Elemente in den Stücken stammten
-von Shakespeare dem Schauspieler; die edlen Teile hätte der Lord und
-Gelehrte verfaßt.</p>
-
-<p>Damit ist aber dem Dichter Shakespeare Wesentliches genommen,
-nicht bloß seine zeitliche Bedingtheit, seine Konzessionen an den
-Zeitgeschmack, seine Müdigkeit und Lässigkeit, die Derbheit, die ihn
-mit der Zeit verbindet &mdash; worauf ich aber auch keineswegs verzichten
-möchte &mdash; sondern seine Allseitigkeit, sein Aufsteigen, seine
-gegensätzliche Art zu charakterisieren und den innern Sinn der Handlung
-herauszuarbeiten.</p>
-
-<p>Und wo soll man da, wenn man ihm die Clown-, die Wirtshaus-, die
-Bordellszenen nehmen will, anfangen und aufhören?</p>
-
-<p>Und wozu? Das ist eine ganz blaustrumpfmäßige Art, den „Tichtēr“
-aufzufassen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_373" id="Seite_373">[S. 373]</a></span></p>
-
-<p>Jetzt aber das Entscheidende: die Frage nach der Möglichkeit der
-Theorie.</p>
-
-<p>Sie ist nicht möglich. Die Zeugnisse für die Identität des Dichters mit
-dem in London lebenden, aus Stratford stammenden William Shakespeare
-sind zahlreich und unumstößlich.</p>
-
-<p>Der Dichter William Shakespeare hat seine Gedichtbücher Venus und
-Adonis und Der Raub der Lucretia selbst herausgegeben und &mdash; was ohne
-des Grafen Erlaubnis nicht möglich war &mdash; dem Grafen Southampton
-gewidmet. Und grade die sind mit glänzendem Verstalent, mit
-Anschauungen und Wendungen, wie sie in den Dramen wiederkehren, in der
-modischen, gelehrtenhaften, klassisch eingekleideten Art verfaßt.</p>
-
-<p>Nach William Shakespeares Tod in Stratford haben seine
-Schauspielerkollegen Heminge und Condell 1623 die Gesamtausgabe
-besorgt; sein Porträt beigegeben; von seinen Handschriften in der
-Vorrede gesprochen, in denen sich fast keine Korrekturen fänden.</p>
-
-<p>Die und die andern Schauspieler, darunter der große Künstler Richard
-Burbage, haben mit Shakespeare zusammen die Stücke einstudiert, gegeben.</p>
-
-<p>Ben Jonson, eine bedeutende Persönlichkeit, ein Dichter und Gelehrter,
-mit Shakespeare nachweislich und selbstverständlich persönlich bekannt,
-der sich immer wieder an ihm rieb und gerade sein volkstümlich
-Unregelmäßiges tadelte, gab der Gesamtausgabe seine Ode bei, mit der
-Überschrift</p>
-
-<p class="center mtop2">„Zur Erinnerung an meinen geliebten William Shakespeare.“</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Nicht daß dein Name uns erwecke Neid,</div>
- <div class="verse">Mein Shakespeare, preis’ ich deine Herrlichkeit,</div>
- <div class="verse">Denn wie man dich auch rühmen mag und preisen,</div>
- <div class="verse">Zu hohen Ruhm kann keiner dir erweisen.</div>
- <div class="verse">&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_374" id="Seite_374">[S. 374]</a></span>
- <div class="verse">Du Seele unsrer Zeit, kamst sie zu schmücken</div>
- <div class="verse">Als unsrer Bühne Wunder und Entzücken!</div>
- <div class="verse">&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;</div>
- <div class="verse">Und wußtest du auch wenig nur Latein,</div>
- <div class="verse">Noch weniger Griechisch, war doch Größe dein,</div>
- <div class="verse">Davor sich selbst der donnernde Äschylus,</div>
- <div class="verse">Euripides, Sophokles beugen muß &mdash; &mdash; &mdash;</div>
- <div class="verse">Voll Stolz war Rom, voll Übermut Athen,</div>
- <div class="verse">Sie haben deinesgleichen nicht gesehn!</div>
- <div class="verse">&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;</div>
- <div class="verse">Doch darf ich der Natur nicht alles geben,</div>
- <div class="verse">Auch deine Kunst, Shakespeare, muß ich erheben;</div>
- <div class="verse">Denn ist auch Stoff des Kunstwerks die Natur,</div>
- <div class="verse">Wird Stoff zum Kunstwerk durch die Form doch nur.</div>
- <div class="verse">&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;</div>
- <div class="verse">O säh’n wir dich aufs neue, süßer Schwan</div>
- <div class="verse">Vom Avon, ziehn auf deiner stolzen Bahn!</div>
- <div class="verse">Säh’n wir, der so Elisabeth erfreute</div>
- <div class="verse">Und Jakob, deinen hohen Flug noch heute</div>
- <div class="verse">Am Themsestrand!&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Wie will man denn um dieses Zeugnis eines Zeitgenossen, eines
-vertrauten Bekannten, einer großen Persönlichkeit, die Urteil und
-Schärfe und Bosheit hatte, herumkommen!</p>
-
-<p>Der hat dem Schauspieler Shakespeare, mit dem er Umgang pflog, diese
-Werke zugetraut.</p>
-
-<p>Was für Narren wären wir, wenn wir bloß darum daran zweifelten, weil
-unsre Kenntnis der Person Shakespeares weniger intim ist als seine!</p>
-
-<p>Diese Zeugnisse könnten aber nun gehäuft werden.</p>
-
-<p>Im Anfang von Shakespeares Londoner Laufbahn erscheint eine Schrift aus
-dem Nachlaß des Dramatikers Robert Greene, eines Gelehrten: darin warnt
-er in bittern Worten vor den Schauspielern, die sich jetzt auch als
-Dramatiker auftun; mit einem deutlichen Hinweis auf<span class="pagenum"><a name="Seite_375" id="Seite_375">[S. 375]</a></span> Shakespeare, der
-„in dem Wahne lebe, der einzige <em>Shake-scene</em>, Bühnenerschütterer
-im Lande zu sein“.</p>
-
-<p>Ein paar Monate darauf erklärt der Herausgeber dieser Schrift, Henry
-Chettle, sein Bedauern über diesen Angriff auf Shakespeare: „ich habe
-mich persönlich davon überzeugt, daß seine höflichen Umgangsformen
-seinen Vorzügen, die ihn in seinem Berufe auszeichnen, in nichts
-nachstehn. Überdies wissen einige angesehene Persönlichkeiten von
-seiner rechtschaffenen Handlungsweise &mdash; als Beweis für seine
-Ehrenhaftigkeit &mdash; und von der glücklichen Anmut seines Stils &mdash; als
-Beweis für seine Kunst &mdash; zu erzählen.“</p>
-
-<p>Genug, zu viel schon davon: ob es uns lieb ist oder leid: der Verfasser
-der gewaltigen Dichtungen ist 1564 in Stratford geboren und 1616 dort
-gestorben und war zwischenhinein Schauspieler in London.</p>
-
-<p class="mtop2">Sind wir nun so weit, so möchten wir uns gern ein Bild von seiner
-äußern Gestalt, seiner Leiblichkeit, seinem Gesicht machen; das ist uns
-für die Persönlichkeit sehr wichtig. Aber da hapert es sehr, &mdash; wie
-es mit all diesem Persönlichen, was Überlieferung von Tatsächlichem
-angeht, fast in allen Stücken hapert.</p>
-
-<p>Der elegante Mann mit dem schönen Bart, wie er vor den meisten
-Shakespeare-Ausgaben steht, oder wie man ihn, im Hofgewand und mit
-einer begeistert-anmutigen Gebärde vor der Königin Elisabeth &mdash; man
-tut’s nicht billiger &mdash; auf Ölgemälden und Stahlstichen vorlesen sieht,
-&mdash; diese Gestalt mit diesem nichtssagend glatten Gesicht geht auf
-das sogenannte Chandos-Porträt zurück, das in London in der National
-Portrait Gallery hängt und erst lange nach Shakespeares Tod gemacht
-ist. Es spricht gar nichts für diese Ähnlichkeit, &mdash; denn es ist sehr
-unähnlich den beiden Abbildungen, in denen seine Bekannten ihn doch
-wenigstens irgendwie erkannten und die untereinander übereinstimmen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_376" id="Seite_376">[S. 376]</a></span></p>
-
-<p>Das ist einmal die Büste in der Stratforder Kirche, nicht weit vom
-Grab, ein paar Jahre nach dem Tod von der Familie aufgestellt: ein
-elendes Machwerk, fabriziert von dem holländischen <em>tomb-maker</em>
-Jansen, der sein Geschäft in London betrieb. Immerhin wird er
-Shakespeare gekannt haben, vielleicht hat er gar nach einer Totenmaske
-gearbeitet; und die Familie wird ja wohl zufrieden gewesen sein.</p>
-
-<p>Hier sei gleich gesagt, daß der tote Shakespeare in Stratford und von
-seiner Familie nach Verdienst gewürdigt wurde, wenn auch wie alles, was
-von dieser Seite kam, abgeschmackt. Unter der Büste stehen schlechte
-lateinische und wenig bessere englische Verse, die lauten:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">„Nestors Einsicht, des Sokrates Geist und die Künste Vergils</div>
- <div class="verse">Decket die Erde, betrauert das Volk, hat der Olymp.“</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und englisch:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">„Steh, Wandrer, warum willst du so schnell vorbei?</div>
- <div class="verse">Lies, wenn du kannst, wen der neidische Tod hier gebettet,</div>
- <div class="verse">In diesem Grabmal Shakespeare, mit dem die flinke Natur starb,</div>
- <div class="verse">Dessen Name dies Monument mehr schmückt als der Kostenaufwand,</div>
- <div class="verse">Denn alles, was er schrieb, läßt die überlebende Kunst zurück</div>
- <div class="verse">Wie einen Pagen, sein Genie zu bedienen.“</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Das andre Bild steht als Kupfer vor der Folioausgabe, rührt wiederum
-von einem Holländer, Martin Droeshout, her und ist ein kümmerliches
-Machwerk.</p>
-
-<p>Aber eine äußere Ähnlichkeit mit der Stratforder Büste kann
-herausgefunden werden, und überdies hat es Ben Jonson gelobt.</p>
-
-<p>Wir haben nun zwar seit 1892 auch ein Ölgemälde, das in Stratford
-entdeckt wurde, und das die Jahreszahl 1609 trägt: gleichviel, wie
-es entstanden ist, jedenfalls gibt es nur in nicht viel besserer
-Handwerksmanier dasselbe Gesicht wieder, wie der Stich vor der
-Gesamtausgabe.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_377" id="Seite_377">[S. 377]</a></span></p>
-
-<p>Man kann aber, wenn man sich in eines dieser Machwerke, die offenbar
-eine gewisse äußere Ähnlichkeit haben, versenkt, sie von innen heraus
-beleben und dann einen Augenblick lang einen Eindruck wie von einem
-großen Lebenden haben.</p>
-
-<p>Dazu helfen kann nun die wunderschöne sogenannte Darmstädter Totenmaske
-oder eine Abbildung von ihr. Die ist in den 40er Jahren in Darmstadt
-aufgetaucht und befindet sich noch da in Privatbesitz. Die Ähnlichkeit
-besonders mit der Stratforder Büste ist groß, außerordentlich: während
-die aber leer und albern dreinblickt, hat die Maske einen wunderbar
-ernsten großen Ausdruck. Ich halte sie für ein Meisterwerk &mdash; wie die
-Tiara des Saitaphernes; womit ich schon sage, daß ich sie für eine
-großartige Fälschung halte (Herman Grimm und andere sind begeistert für
-die Echtheit eingetreten).</p>
-
-<p>Aber so stelle ich mir Shakespeare vor, weil diesen Ausdruck auch die
-authentischen Bilder annehmen, wenn man sie zu beleben versucht.</p>
-
-<p class="mtop2">Zu Shakespeares Leben und zur Shakespeare-Biographie: &mdash; das ist nicht
-das nämliche!</p>
-
-<p>Vier Elemente bezeichnen Shakespeares Leben: Leidenschaft oder
-Trieb &mdash; Innigkeit oder Seele &mdash; überlegener Geist oder Verstand &mdash;
-Menschenfreundlichkeit (<em>humane gentleness</em>).</p>
-
-<p>Vier Elemente ganz andrer Art bezeichnen die Shakespeare-Biographie:
-Dürre oder Leere &mdash; Hypothese &mdash; Komik &mdash; und Langeweile.</p>
-
-<p>Wie viele solcher dickleibigen Werke gibt es, in einem oder zwei
-Bänden, die alle so aussehen:</p>
-
-<p>Eine Schilderung der Zeit &mdash; Beschreibung der Lage Stratfords &mdash; des
-Lebens in solchen Städten &mdash; sehr Ausführliches über die damaligen
-Theaterverhältnisse &mdash; eine Abhandlung über den Modestil des Euphuismus
-&mdash;<span class="pagenum"><a name="Seite_378" id="Seite_378">[S. 378]</a></span> ausführliche Analysen sämtlicher Stücke Shakespeares &mdash; und
-zwischenhinein gestreut die meist gänzlich unwichtigen zufälligen
-Dokumente, die sich auf Shakespeare und seine Familie beziehen, ein
-paar dürre Nachrichten, und Vermutungen über Vermutungen, Behauptungen
-über Behauptungen!</p>
-
-<p>Überall aber geht es so zu, wie es naiv genug einer der Biographen in
-seinem Vorwort bekennt:</p>
-
-<p>„Manche Behauptung stützt sich mehr auf Vermutung und Kombination
-als auf sicheren Beweis. Ich habe solche Angaben mit allem Vorbehalt
-gemacht, aber die Natur des Werkes bringt es mit sich, daß auf diesen
-nicht ganz zuverlässigen Steinen später weitergebaut werden mußte.“</p>
-
-<p>Ein paar Beispiele für dieses Verfahren, aus einem der kürzesten,
-tatsächlichsten dieser Art Bücher, das von Dowden verfaßt ist:</p>
-
-<p>„Shakespeare wurde sicherlich in die Stratforder Lateinfreischule
-geschickt.“ Das heißt: man weiß gar nichts davon. &mdash; Der nächste Satz:
-„Dort lernte er nicht bloß Englisch, sondern auch etwas Latein und
-vielleicht ein klein wenig Griechisch.“ Ein paar Sätze weiter: „Daß er
-seine lateinische Grammatik auswendig konnte, kann fast mit Sicherheit
-angenommen werden.“</p>
-
-<p>So geht es durchweg: Schauspieler waren in Stratford &mdash; der Vater mag
-den kleinen William mitgenommen haben; ein Fest in Kenilworth: „der
-Vater dürfte mit dem vor ihm auf dem Sattel sitzenden Buben hinüber
-geritten sein.“</p>
-
-<p>Aus der Schule, von der wir bloß nicht wissen, ob er je drin war,
-mußte Shakespeare sehr wahrscheinlich wegen des Vermögensverfalls
-herausgenommen werden, der indessen auch nicht feststeht.</p>
-
-<p>Wenn wir schon Tatsachen dichten wollen, was bindet uns denn z. B.
-an die armselige Lateinfreischule? Kann denn nicht ein gelehrter
-Pfarrer oder Gutsherr oder ein Mönch wie Pater Lorenzo, oder mehrere
-der Art hintereinander<span class="pagenum"><a name="Seite_379" id="Seite_379">[S. 379]</a></span> sich des Wunderkindes, des genialen Jünglings
-angenommen und ihn zu Büchern geleitet haben?</p>
-
-<p>Und so durchweg, das ganze Leben hindurch!</p>
-
-<p class="mtop2">Und nun will ich die gesicherten nackten Tatsachen aufstellen, die uns
-etwas angehn; zwischen diesen Grundpfeilern darf und soll die Phantasie
-arbeiten, die vom Dichter, seinen Werken aus fühlen, nicht aber
-Tatsachen erdichten soll.</p>
-
-<p class="mtop2">Eine kleine Landstadt &mdash; Fluß, Felder, Wiesen, Wälder. Ländliches,
-zunftmäßiges Handwerk; die Gemeindeverfassung ganz mittelalterlich.</p>
-
-<p>Was der junge William trieb, wissen wir nicht. Gerüchte allerlei Art
-besagen nur, was wir uns sowieso denken müssen: daß eine glühende
-Jugendnatur in der Enge wild und schäumend wurde.</p>
-
-<p>Für das Gerücht von der Wilddieberei und den Konflikten mit dem
-Gutsherrn gibt es tatsächliche Anhaltspunkte: da muß etwas dran sein.</p>
-
-<p>Etwa 18½ Jahre alt heiratet William Shakespeare; eilig, mit nur
-einmaligem Aufgebot und besonderer Erlaubnis des Bischofs. Die erfolgt
-November 1582; Mai 1583 ist das erste Kind da, die Tochter Susanna.
-Shakespeares Frau, Anna Hathaway, ist acht Jahre älter als er: 18:26.</p>
-
-<p>Daß es da stürmisch, unregelmäßig herging, ist sicher.</p>
-
-<p>Zwei Jahre darauf, 1585, gibt es Zwillinge: der Sohn Hamnet, der dann
-als Elfjähriger in Stratford starb, die Tochter Judith.</p>
-
-<p>Von 1592 an ist Shakespeare in London als Schauspieler und
-Theaterdichter bekannt.</p>
-
-<p>Wann er dahin gekommen ist, ob er einfach ausgerissen ist, wann er mit
-Dichten anfing, wo er die Bildung her hatte, die sich von allem Anfang
-an zeigt: nichts von alledem wissen wir; in nichts ist unsre Phantasie
-behindert; keine Tatsächlichkeit stellt uns vor eine Unmöglichkeit oder
-Unwahrscheinlichkeit.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_380" id="Seite_380">[S. 380]</a></span></p>
-
-<p>Nicht die geringste Nachricht, daß seine Frau und die Kinder je in
-London gewesen wären.</p>
-
-<p>Dagegen wissen wir, daß Shakespeares Beziehungen zu Stratford nie
-abbrachen, daß er früh begann, dort Grundstücke zu erwerben.</p>
-
-<p>In den Sonetten sehen wir ihn manchmal &mdash; schwermütig die Trennung vom
-Freund beklagend &mdash; über Land reiten.</p>
-
-<p>1592 erscheint Heinrich VI., erster Teil auf der Bühne, 1593, 94
-erscheinen seine beiden Gedichtbände, von ihm selbst herausgegeben, von
-1597 an ununterbrochen hintereinander im Anschluß an Aufführungen die
-Quartbändchen, die seine Dramen drucken.</p>
-
-<p>1598 nennt ihn Meres als großen Dichter und zählt 12 seiner Stücke auf.</p>
-
-<p>1599 erlangt der alte Shakespeare das Recht, ein Wappen zu führen;
-damit gehören er und seine Nachkommen zur <em>gentry</em>, einer Art
-niedern Adels oder erhöhten Bürgertums; in den Dokumenten erscheint
-der Dichter-Schauspieler jetzt als William Shakespeare, „Gentleman aus
-Stratford“.</p>
-
-<p>Er erwirbt ganz ansehnliche Grundstücke in Stratford; auch ein Haus in
-London.</p>
-
-<p>1607 heiratet seine Tochter Susanna, 24 Jahre alt, den Arzt John Hall,
-1608 kommt sein Enkelkind Elisabeth zur Welt († 1670, und damit war
-Shakespeares Nachkommenschaft zu Ende).</p>
-
-<p>Von 1612 an etwa &mdash; der Tradition zufolge &mdash; wird Shakespeare wieder
-seinen Wohnsitz in Stratford gehabt haben.</p>
-
-<p>Januar 1616 erster Entwurf des Testaments, das dann wieder weggelegt
-wird. Februar heiratet, 31 Jahre alt, die Tochter Judith einen
-Stratforder Weinhändler.</p>
-
-<p>Am 25. März: Testament.</p>
-
-<p>Am 23. April &mdash; nach unserm Kalender 3. Mai &mdash; starb er.</p>
-
-<p>Die Grabschrift auf dem Grabstein &mdash; ich habe sie schon erwähnt &mdash; wird
-von der Tradition auf ihn selbst zurückgeführt:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_381" id="Seite_381">[S. 381]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">„Um Jesu willen, Freund, laß ab,</div>
- <div class="verse">Den Staub zu stören hier im Grab.</div>
- <div class="verse">Gesegnet der, so schont die Stein’!</div>
- <div class="verse">Verflucht, wer rührt an mein Gebein!“</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Der Ton ist der übliche etwas bänkelsängerische Grabsteinton; die
-Stimmung entspricht den Gedanken, die wir aus den Sonetten kennen:</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>Kümmert euch nicht um den Würmerfraß! laßt mich da drunten in Ruhe!</p></div>
-
-<p>In der Tat ist das Grab nie geöffnet worden, obwohl die
-Shakespeareforscher und Kuriosen immer wieder Lust dazu verspürten und
-die arme kranke Miß Bacon es jahrelang umkreiste und dort die Lösung
-des Rätsels suchte.</p>
-
-<p class="mtop2">Und nun, wo in diesen kahlen Umrissen eines Lebens so unendlich viel
-Platz ist, atmen wir einmal auf, denken wir einen Augenblick an den
-unsäglichen Reichtum von Lebendigkeit aus Zeiten und Schicksalen in den
-Werken dieses Dichters, hören wir eine Stimme aus einer der Tragödien.</p>
-
-<p>Bürger Roms, leidenschaftlich aufgepeitschte wollen wir sein, eben ist
-der große Cäsar ermordet worden, Antonius steht auf dem Forum über dem
-Leichnam und ruft in die Menge:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">„Seht hier dies Pergament mit Cäsars Siegel,</div>
- <div class="verse">Ich fand’s bei ihm, es ist sein letzter Wille.</div>
- <div class="verse">Vernähme nur das Volk dies Testament,</div>
- <div class="verse">&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;</div>
- <div class="verse">Sie gingen hin und küßten Cäsars Wunden&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;“</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Wie hat dieser Shakespeare die Größe, die Gehobenheit, die Erhabenheit
-des gebietenden, des über seinen Tod hinaus wirkenden Mannes immer
-wieder gedichtet, gepriesen!</p>
-
-<p>Wie hat er selbst, in der großen Stimmung, wenn er zu dem Freunde
-sprach, hie und da immer wieder sich der Unsterblichkeit seiner Zeilen
-versichert!</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_382" id="Seite_382">[S. 382]</a></span></p>
-
-<p>Dürften wir nicht, wenn wir das Testament William Shakespeares
-vernehmen sollen, irgendwie ein Vermächtnis des großen Mannes, wenn
-nicht an die Menschheit, nicht an sein Volk, so doch an gleichstrebende
-Freunde erwarten? Eine Verfügung wenigstens über seine Schriften, seine
-Manuskripte? Oder doch &mdash; wir werden schon ganz bescheiden &mdash; über die
-Bücher seiner Bibliothek?</p>
-
-<p>Aber nichts, nichts von alledem hören wir.</p>
-
-<p>Ich gestehe aufrichtig, es überläuft mich jedesmal kalt, wenn ich an
-Shakespeares Testament denke.</p>
-
-<p>Die Echtheit ist nie bezweifelt worden, ist wohl auch nicht zu
-bezweifeln, obwohl es keine saubere Reinschrift ist, sondern nur eine
-erste Niederschrift mit Ausstreichungen und Einfügungen von seiten des
-Notars (nicht Geistlichen). Von Shakespeare geschrieben ist darin nur
-die sehr zittrige Unterschrift.</p>
-
-<p>(Diese und noch ein paar Unterschriften unter Aktenstücken: das ist
-alles, was wir von seiner Hand haben.)</p>
-
-<p>Sehen wir von dem, was nicht da steht, ab, und ebenso von einer
-kleinen nachträglich eingeschobenen Verfügung, so hat das Testament
-im positiven Inhalt gar nichts Befremdliches: verfügt man über
-wirtschaftliche Güter, so kann es sich nur um wirtschaftliche
-Zweckmäßigkeit handeln. Shakespeares Besitz bestand im wesentlichen aus
-Liegenschaften, und wie ein Bauer oder Edelmann hatte er den Wunsch,
-daß diese Besitzung ungeteilt beisammen blieb. Sohn war keiner mehr
-da; es sollten also die Häuser in Stratford und das in London und die
-Grundstücke in Stratfords Umgebung alle an die älteste Tochter fallen,
-von da nach dem Erstgeburtsrecht an Söhne; und gibt es in dieser
-Linie keine Söhne mehr, an Söhne aus der Linie der zweiten Tochter
-Judith. Die Linien starben aber beide schon in der nächsten Generation
-aus. Judith wird mit 300 Pfund abgefunden, das sind nach heutigem
-Geldwert etwa 48 000 Mark, die allmählich in Raten unter bestimmten<span class="pagenum"><a name="Seite_383" id="Seite_383">[S. 383]</a></span>
-Bedingungen zu zahlen sind. Das bewegliche Vermögen fällt ebenfalls in
-der Hauptsache der ersten Tochter anheim; dafür wird eben die zweite
-mit Geld abgefunden. Legate werden ausgesetzt: für Shakespeares einzige
-noch lebende Schwester, drei Schwestersöhne; zehn Pfund für die Armen
-Stratfords, etwa 1600 Mark also; etliche Bekannte in Stratford; ferner
-die drei ehemaligen Schauspielerkollegen Richard Burbage &mdash; der die
-größten Gestalten Shakespeares verkörperte &mdash;, John Heminge und Henry
-Condell &mdash; die dann die Werke herausgaben: die erhielten je 26 Shilling
-8 Pence, über 200 Mark, für Ringe, die sie zu seinem Gedächtnis tragen
-sollten; diese <em>In-memoriam</em>-Ringe entsprachen einem Brauch der
-Zeit.</p>
-
-<p>In dem Entwurf, der dann Rechtskraft erlangte, ist nun ursprünglich
-Shakespeares Frau, die ihn um 7 Jahre überlebte, mit keiner Silbe
-erwähnt. Wäre sie unerwähnt geblieben, so könnten wir sagen, was die
-ängstlich aufs Normale bedachten Biographen sowieso stark betonen: sie
-war vor Not geschützt, sie hatte, woran kein Testament etwas ändern
-konnte, ihr gesetzliches Witwenausgedinge: ein Drittel aller Einkünfte.</p>
-
-<p>Schön: wer denkt an Not?</p>
-
-<p>Aber die Tochter Susanna und ihr Mann erhalten alle
-Einrichtungsgegenstände und Schmucksachen; deren Tochter Elisabeth
-alles Silbergeschirr; die Tochter Judith eine vergoldete Schale;
-Shakespeares Schwester seine sämtlichen Kleidungsstücke; seine Frau
-zuerst nichts und dann, in einem nachträglich eingeflickten Sätzchen &mdash;
-wer es nicht weiß, würde es nie erraten &mdash; das zweitbeste Bett.</p>
-
-<p>Wir wissen nichts; wissen nicht, ob die Ehe ganz zerfallen war; ob die
-Frau krank, ganz siech oder gar schwachsinnig war, wissen auch nicht,
-wie es um Geist und Gemüt William Shakespeares jetzt am Rande des
-Todes, am Schluß eines körperlichen Verfalls, einer Zermürbtheit, die
-er schon lange in sich gespürt hat, bestellt war, &mdash; &mdash; all das, was<span class="pagenum"><a name="Seite_384" id="Seite_384">[S. 384]</a></span>
-ich hier sage, was ich kaum anzudeuten mich getraue, &mdash; &mdash; all das ist
-möglich; wir wissen nichts. Wir wissen bloß, daß dasteht: für die Frau
-das zweitbeste Bett, &mdash; und daß das der Dichter des Lear, des Hamlet,
-des Macbeth verfügt hat, dieses ganze Testament, und weiter nichts,
-kein Wort. (Die christliche Eingangsphrase und die Versicherung ... bei
-guter Gesundheit, ohne Bedeutung.)</p>
-
-<p class="mtop2">Ist das ein Rätsel? Halte ich mein Versprechen, daß ich wahrlich dieses
-Rätsel nicht lösen werde, wie dieser glühendste, wildeste und innigste
-aller Menschen &mdash; ich sage nicht zu viel &mdash; alles, worin er wahrhaft
-lebte, abbrach und sich irgendwie ins Bürgerliche verkroch, um da mit
-dem Leibe, am Ende gar noch vorher mit dem Geiste zu sterben?</p>
-
-<p>Wir lösen es nicht, aber wir erblicken das ganze schauerliche Rätsel,
-wenn wir unmittelbar nach diesem bürgerlichen Geschäftstestament das
-geistige, das franziskanische Testament Shakespeares hören:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">„Seele, o arme Seele, Kern im Kot,</div>
- <div class="verse">Im sündigen, des Aufruhrs frevelmächtig!</div>
- <div class="verse">Was quälst du dich im Innern, leidest Not.</div>
- <div class="verse">Und kleidest deine Außenwände prächtig?</div>
- <div class="verse">Was wendest du bei also kurzer Pacht</div>
- <div class="verse">So große Kosten auf dein eitles Haus?</div>
- <div class="verse">Daß einst der Wurm, der Erbe solcher Pracht,</div>
- <div class="verse">Die Last auffresse? Geht dein Leib so aus?</div>
- <div class="verse">Dann wag’s, auf Kosten dieses Knechts zu leben,</div>
- <div class="verse">Und laß ihn darben, daß dein Schatz sich mehre;</div>
- <div class="verse">Für Himmelsgut sollst Erdentand du geben,</div>
- <div class="verse">Sei außen fürder arm, dein Innres nähre!</div>
- <div class="verse">Den Menschenfresser Tod, o Mensch, verzehr!</div>
- <div class="verse">Ist Tod erst tot, dann gibt’s kein Sterben mehr.“</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Dieses 146. Sonett steht, in der letzten Abteilung der Sonette, mitten
-in der Auseinandersetzung des Dichters<span class="pagenum"><a name="Seite_385" id="Seite_385">[S. 385]</a></span> mit dem Weibe, mit seinem
-Weibe, der Art Weib, die ihm so arg zu schaffen machte.</p>
-
-<p>Von seiner Frau rede ich hier nicht, von der Geliebten in London, die
-die Frau eines andern gewesen war, der noch lebte.</p>
-
-<p><em>Fair is foul, and foul is fair</em>: schön ist wüst, und wüst ist
-schön &mdash; so haben wir es von den Hexen im Macbeth gehört.</p>
-
-<p>Und ganz ähnlich klingt’s in dem ersten dieser Weibsonette: Schwarz
-soll jetzt als Schönheit gelten, soll der Erbe der Schönheit sein, denn
-Schönheit muß sich wie ein Bastard verstecken.</p>
-
-<p>Jetzt, wo jede Hand künstlich die Kräfte der Natur anwendet und das
-Häßliche schön macht &mdash; <em>fairing the foul</em> &mdash; jetzt lebt Schönheit
-in Schmach und Verbannung.</p>
-
-<p>Drum sind die Augen der Geliebten schwarz: sie tragen Trauer um die,
-die, nicht schön geboren, doch der Schönheit nicht entbehren; doch
-in ihrer Trauer werden sie schön, durch das Seelische, das aus ihnen
-spricht.</p>
-
-<p>Es ist zweifelnde Liebe, unwillige Liebe: der Dichter ist gespalten in
-Trieb und Geist: oben wohnt einer, der sich wehrt; unten treibt etwas,
-und es kann sich nicht frei machen.</p>
-
-<p>Drum analysiert er sie, zerlegt ihre Reize.</p>
-
-<p>Was ist denn an ihr?</p>
-
-<p>Und &mdash; fast gegen seinen Willen, so klingt es, so soll es klingen, denn
-es ist ein Kunstwerk &mdash; entsteht aus der kritischen Prüfung ihrer Reize
-das Lob der Geliebten.</p>
-
-<p>In lauter Skepsis ist es doch ein entzückend kecker Einfall, so zu
-loben:</p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>Ihre roten Lippen &mdash; Korallen sind eigentlich röter; Schnee strahlt
-doch noch heller als ihre Brüste... Ich hör’ sie gern reden, aber
-Musik klingt doch noch schöner; eine Göttin hab’ ich zwar nie
-wandeln sehen, aber den Boden berührt die Geliebte immerhin: &mdash;</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_386" id="Seite_386">[S. 386]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">„Und dennoch ist mein Lieb so wohlgefügt,</div>
- <div class="verse">Wie irgendeins, von dem ein Dichter lügt.“</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-</div>
-
-<p>Aber dann kommen die so ganz andern Töne, wo er nicht mehr zweifelnd
-spielt, sondern ingrimmig verzweifelt, wie wenn alles Heil verspielt
-wäre.</p>
-
-<p>Da ist das 129. Sonett, das ich Ihnen, als ich von Cleopatra sprach,
-in Prosa mitteilte, möge es jetzt, wennschon viel verloren geht,
-als Dichtung erklingen. Es wirkt noch stärker und schauriger, wenn
-wir das wissen, daß es unmittelbar solchem Spiel folgt und wieder
-vorhergeht. Solch ein Spiel mit kritischer Liebe, das nicht will,
-aber muß, hat mancher Dichter, etwa Heine, auch getrieben; aber dann
-diese irdisch-höllische Liebe in so wahrhaft biblisch-gewaltigen Tönen
-verfluchen, das finden wir nur bei Shakespeare. Das Spielerische, das
-Innige des Hohen Liedes ist da,</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Schwarz bin ich und doch lieblich,</div>
- <div class="verse">Ihr Töchter Jerusalems &mdash; &mdash;,</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>aber bei Shakespeare wendet sich die ganze glühende Leidenschaftsgewalt
-im selben Zusammenhang ebenso von der Liebe ab wie vorher und nachher
-der Liebe zu.</p>
-
-<p>Das ist die Notwendigkeit der Natur und des Geistes, wie er sie eben in
-diesem Sonett erklärt:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">„Geübte Wollust ist des Geists Verschwendung</div>
- <div class="verse">In wüste Schmach; Wollust ist bis zur Tat</div>
- <div class="verse">Meineidig, mördrisch, blutig, voll Verblendung,</div>
- <div class="verse">Roheit, Ausschweifung, Grausamkeit, Verrat.</div>
- <div class="verse">Genossen kaum, verachtet allsogleich,</div>
- <div class="verse">Sinnlos erjagt, und wenn ihr Ziel errungen,</div>
- <div class="verse">Sinnlos gehaßt, dem gift’gen Köder gleich,</div>
- <div class="verse">Gelegt, um toll zu machen, wenn verschlungen.</div>
- <div class="verse">Toll im Begehren, toll auch im Genuß;</div>
- <div class="verse">Gehabt, erlangt, verlangend &mdash; ohne Zaum;</div>
- <div class="verse">Im Kosten Glück, gekostet Überdruß,</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_387" id="Seite_387">[S. 387]</a></span> <div class="verse">Im Anfang Seligkeit, nachher &mdash; ein Traum.</div>
- <div class="verse">Das alles weiß die Welt, doch keiner flieht</div>
- <div class="verse">Den Himmel, der uns so zur Hölle zieht.“</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Es muß im Ausdruck dieser Frau etwas bezaubernd Seelenvolles gewesen
-sein, was sich dann in ihrem Tun und Lassen nicht bewährte.</p>
-
-<p>Erinnern wir uns an das Bild, das er von Cleopatra, der hysterischen
-und eben darin zauberhaften Frau, entworfen hat; so ähnlichen Eindruck
-bekommen wir auch hier:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">„Euch Augen bin ich hold, die voll Bedauern,</div>
- <div class="verse">Derweil mich mit Verachtung quält dein Herz,</div>
- <div class="verse">In schwarzem Schleier liebend mich betrauern,</div>
- <div class="verse">Mit edlem Mitleid schauend meinen Schmerz.“</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und dann kommt die Entwicklung der äußern Handlung auch in diesem Teil:
-bald spielerisch, bald in wild-vezweifelndem Ausbruch hören wir von dem
-Verhältnis der drei Menschen zu einander:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">„Kannst du dich nicht mit meiner Qual bescheiden,</div>
- <div class="verse">Muß auch mein Freund ein Knecht der Knechtschaft sein?“</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">„Er ging von mir; du hast statt Eines Zwei;</div>
- <div class="verse">Er zahlt das Spiel, und doch bin ich nicht frei.“</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und wie Antonius im Wutausbruch die zweideutige Geliebte wie eine
-Dirne behandelt, so hören wir auch den Sonnettendichter Shakespeare
-selbst seine Liebste „<em>the wide world’s commonplace</em>“, den
-gemeinsam-gemeinen Jedermanns-Ort schelten.</p>
-
-<p>Dann aber wird dieses Zwiefache, in dem jeder der drei Menschen steht,
-wo sie zu dreien einen Reigen, einen Totentanz bilden, in dem jeder
-den andern an der Hand hält, und ihre Plätze immer neu tauschen, wie
-programmatisch auf die Höhe des ewigen Kriegs zwischen Seele und Leib,
-zwischen irdischer und himmlischer Liebe gehoben:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">„Zwei Lieben hab’ ich, die mein Trost und Bangen,</div>
- <div class="verse">Die wie zwei Geister üben ihre Macht.</div>
- <div class="verse">Der gute Geist ein Mann in Schönheitsprangen,</div>
- <div class="verse">Ein Weib der böse, dunkel wie die Nacht.</div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_388" id="Seite_388">[S. 388]</a></span>
- <div class="verse">Das weiblich Böse rüstet mich zur eil’gen</div>
- <div class="verse">Verdammnis, drum entführt sie mir den guten,</div>
- <div class="verse">Und wandelt’ gern zum Teufel meinen Heil’gen,</div>
- <div class="verse">Sein Herz umbuhlend mit verruchten Gluten.</div>
- <div class="verse">Ob er verwandelt, ob er rein geblieben,</div>
- <div class="verse">Vermuten kann ich’s, kann es nicht bestimmen;</div>
- <div class="verse">Doch weil die Zwei mich nicht, nur sich noch lieben,</div>
- <div class="verse">Wird einer in des andern Hölle glimmen.</div>
- <div class="verse">Allein mein Zweifel wird sich nimmer lösen,</div>
- <div class="verse">Bis einst mein Engel flieht, versengt vom Bösen.“</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Wahrhaftig, es gehört viel dazu, ein so arges, zweifelndes Trieb-
-und Liebeserlebnis nicht bloß mildernd und stillend zum Spiel
-hinabzustimmen, sondern es so, wie es hier geschieht, zur Höhe des
-Symbols zu erheben.</p>
-
-<p>Was ihm, ihm im wirklichen, persönlichen Leben das Schicksal bereitet
-hat, diese seine Freundschaftsliebe zu dem bestimmten hellen Mann,
-diese seine Brunstliebe zu der dunklen Frau, und daß nun die beiden
-sich zu einander, gegen einander wenden, das erlebt er als Gleichnis,
-mit der Düsterkeit seines Gemüts als Verheißung trostlosen Ausgangs:
-hat der böse Geist den guten ganz an sich gezogen, so ist sein, des
-Dichters Schicksal erfüllt: die böse Macht hat gesiegt.</p>
-
-<p>Hier empfindet er sein Leben und die Gewalten, die von außen in sein
-Leben eingreifen, so, wie er’s im Macbeth dargestellt hat: innen und
-außen &mdash; es ist ein dämonischer Zusammenhang; wie der Träger der
-Wünschelrute ein metallisches Element in sich hat, das die Metalle im
-Erdinnern grüßt und lockt, so besteht eine geheime Kongruenz zwischen
-den Strömen in unserm Gemüt und den Kräften und Wesen draußen, zu denen
-es uns, die es zu einander von uns her hinzieht.</p>
-
-<p class="mtop2">Mehr als einmal im Lauf dieser Vorträge habe ich auf einen großen Mann
-des Geistes, einen Zeitgenossen und Lands<span class="pagenum"><a name="Seite_389" id="Seite_389">[S. 389]</a></span>mann Rembrandts, auf den
-spanisch-holländischen Juden Spinoza hinzuweisen gehabt, der 16 Jahre
-nach Shakespeares Tod geboren wurde.</p>
-
-<p>Was wir bei Shakespeare immer wieder als letzten Sinn der Dramen
-erleben, daß der Triebmensch, auch wenn er ein gebietender Fürst ist,
-ein Knecht, ein Sklave ist, daß der Geist aber frei macht, das haben
-wir jetzt eben wieder in den Sonetten gehört, in der Klage, die sich an
-die Wollust richtet:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">„Muß auch mein Freund ein Knecht der Knechtschaft sein?“</div>
- <div class="verse">„Und doch bin ich nicht frei.“</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Und so hat es Spinoza seiner Ethik zugrunde gelegt:</p>
-
-<p>„Die Ohnmacht des Menschen zur Mäßigung oder Hemmung seiner Affekte
-nenne ich Knechtschaft; denn der von seinen Affekten abhängige Mensch
-ist nicht Herr seiner selbst, sondern dem Schicksal untertan.“</p>
-
-<p>Nicht Herr seiner selbst, sondern dem Schicksal untertan &mdash; das Thema
-der großen Charaktertragödien Shakespeares.</p>
-
-<p>Und dann folgt bei Spinoza eine Analyse der verschiedenen
-Erscheinungsformen der Knechtschaft, in der kühlen Begriffssprache so
-unerbittlich scharf, so vollendet und letztgiltig, wie Shakespeare
-diese Musterkarte in seinen Dramen in lebendiger Anschaulichkeit
-entworfen hat.</p>
-
-<p>Und haben wir nicht eben als höchsten Gipfel von Shakespeares Leben,
-als sein Vermächtnis, zu dem er in glühenden Kämpfen kaum für seine
-Wirklichkeit, nur für seine Sehnsucht, für seinen Glauben gekommen ist,
-die Botschaft von der Überwindung des Todes gehört?</p>
-
-<p>Wende nichts mehr an das Außen, nichts mehr an den Leib und seine
-Triebe, sei außen arm, nähre deine Seele!</p>
-
-<p>Entringe dich, so heißt das, der Knechtschaft der Triebe, du
-vernünftiger, du geistiger Mensch, sei frei!</p>
-
-<p>Genau so hören wir’s von Spinoza, der’s nicht, wie der Phantasie- und
-Leidenschaftsmensch, sich mit dem Leben erarbeiten mußte, bei ihm nicht
-als ersehnten Gipfel glühend eruptiven Lebens, sondern als stille Höhe
-der Weisheit:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_390" id="Seite_390">[S. 390]</a></span></p>
-
-<div class="blockquot">
-
-<p>„Der freie Mensch denkt an nichts weniger als an den Tod, und seine
-Weisheit besteht im Nachdenken über das Leben und nicht über den
-Tod.“</p></div>
-
-<p>Das ist das Letzte und Höchste, wozu Shakespeare der Dichter gekommen
-ist. Das ist der Gipfel, die Krone seiner Persönlichkeit, wenn wir mit
-Fug und Recht als die Persönlichkeit eines Dichters, eines Künstlers
-nicht das nur nehmen, was äußerlich in die Welt hinein ragt, sondern
-was innen eine neue Welt, einen neuen Menschen schafft und in den
-Werken der Kunst verkörpert.</p>
-
-<p class="mtop2">Wir haben ja doch wahrlich heutigen Tags eine ganz andre biographische
-Neugier als Shakespeares Zeitgenossen, aber nehmen wir doch einmal ein
-Beispiel.</p>
-
-<p>Wie gräßlich unbegreiflich, was für ein widerwärtiges Rätsel wäre uns
-der große Vincent van Gogh in seinem persönlichen Leben, wenn wir für
-dieses Leben angewiesen wären auf die Berichte seiner Verwandten,
-Bekannten und Freunde, und auf die amtlichen Dokumente.</p>
-
-<p>Nur dadurch, daß wir die wundervollen Briefe dieses Mannes haben,
-kennen wir die heilige Glut seines reinen Innern; außen in dieser
-unsrer Welt wurde das Schöne wüst; gehen wir in ihn hinein, so wird das
-Wüste schön, wie in seinen Bildern.</p>
-
-<p>Und dasselbe gilt für Courbet, dasselbe für Verlaine, für Oscar Wilde,
-für so viele andre, für alle, die das Reine, das Hohe, das Göttliche
-nicht in der Ruhe des Denkens, sondern in der Glut der Gesichte, der
-Gestalten, des Lebens suchen mußten, die es sich erarbeiten mußten,
-indem sie sich durch das Leben, durch alle Triebe durcharbeiten mußten.</p>
-
-<p>Nicht wie eine Spinne im Netz konnte Shakespeare in Stille verweilen,
-bis ein Gewalträcher seiner Natur wie Richard III., ein
-adliger Wutmensch wie Othello, ein junger, stechender, unerbittlicher
-Umklammerer wie Jago, ein finsterer, nur auf Eines starrender, von
-Einem gebannter<span class="pagenum"><a name="Seite_391" id="Seite_391">[S. 391]</a></span> Machtmensch wie Macbeth, eine universell tändelnde,
-amoralische, berückende, geniale Machtnatur wie Antonius, bis all diese
-all-alle Männer- und Frauen-, Greisen- und Mädchengestalten in seinem
-Netz hängen blieben.</p>
-
-<p>Ich glaube nicht, daß er viel nach Modellen arbeiten konnte, die er
-kühl, unbeteiligt beobachtete; denn er entdeckte so bis ins letzte und
-tiefste ihre innerste, verräterische Wurzel, daß wir notwendig annehmen
-müssen: mit den Menschen, die er so kannte, hat er gelebt, mit ihnen
-hat er erlebt: die Phantasie, die ihm half, war glühendes Hineinbohren,
-gleichviel, ob Liebe oder Haß oder gar wohl auch einmal Neid: er hat
-sich so in ihre Seele, in ihre Lage versetzt, daß er lebte, als wenn er
-sie wäre.</p>
-
-<p>Wer das kann, wer das muß, &mdash; nun, wundern wir uns nicht mehr, daß
-William Shakespeare, der Schauspieler, der Dramatiker, der Künstler in
-seinen Sonetten sich der Schmach und Sünde anklagt: wer so inständig
-Glut der Seelen und Flammen der lodernden Leidenschaft miterlebte,
-nacherlebte, vorerlebte, der war mehr als einmal, in Gedanken, in
-Wünschen, im Spiel, in Wirklichkeit, gleichviel, ein Verbrecher. Wilde,
-flammende, zehrende, vernichtende Leidenschaft, gebändigt durch Form,
-die Beschränkung und Verklärung ist, das war sein Wesen, das war sein
-Weg.</p>
-
-<p>Die Sonette sind die Briefe Shakespeares, die uns erhalten geblieben
-sind; Briefe nur an einen oder zwei bestimmte Adressaten, Briefe auch,
-die keine bloß persönlichen Dokumente, die Kunstwerke sind, aber von
-hier aus dringen wir in die Seele des Menschen, hier ist der Punkt, wo
-die Werke, die Dramen sich mit dem Menschen, mit der Persönlichkeit zu
-einem verbinden.</p>
-
-<p class="mtop2">Könige aller Sorten; Mörder, Säufer, Beutelschneider, Tunichtgute,
-Bordellwirte, &mdash; sie alle haben uns keine Geständnisse gemacht, wie
-tief sie Shakespeare durchschaut hat.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_392" id="Seite_392">[S. 392]</a></span></p>
-
-<p>Wollen wir für dieses sein unbegreifliches, nie so erreichtes Talent,
-sich in Lagen, Tätigkeiten, Berufe bis ins einzelne zu versetzen,
-Zeugnisse haben, so müssen wir uns in ungefährlicheres Fahrwasser
-begeben.</p>
-
-<p>Niemals, in der weiten Welt, im Lauf aller uns bekannten Zeiten
-ist ein Dichter so einhellig von den Fachmännern bewundert worden
-wie Shakespeare: Die Juristen, besonders die Advokaten, die Jäger,
-besonders die von der Falkenbeize, die Ärzte, besonders die Irrenärzte,
-sagen, er müsse irgendwann in seinem Leben einmal einer der ihren
-gewesen sein. Zoologen, besonders Entomologen, Botaniker, Gärtner,
-Navigationskundige, Musiker, Maler, Buchdrucker, Physiologen, alle
-haben sie spezielle Bücher geschrieben, in denen sie aufzeigen, wie
-erstaunlich viel Shakespeare von ihrem Fach verstanden habe, und wie
-weit er darin seiner Zeit voraus gewesen sei.</p>
-
-<p>Er hat geologische Anschauungen geäußert, ehe es eine Wissenschaft der
-Geologie gab; er hat die Lehre von der Blutzirkulation gekannt, die
-Harvey erst bekanntgab, als Shakespeares Blut nicht mehr zirkulierte;
-er, der sich nichts draus machte, in Märchenstücken alle Zeiten und
-Kulturen durcheinanderzubringen und ein Nirgendwo am Meeresstrand
-Böhmen zu nennen, hat Verhältnisse und einzelne Umstände in Oberitalien
-so genau gekannt, daß manche Gelehrte drauf schwören, er müsse dort
-gewesen sein.</p>
-
-<p>Das, diese Kenntnisse, die Shakespeare an den Tag legt, bringt ja die
-Baconianer hauptsächlich dazu, einen Mann der Wissenschaft hinter dem
-Dichter zu suchen.</p>
-
-<p>Wie wenig ahnen sie von der Differenzierung des Geistes!</p>
-
-<p>Dieser Bacon, der noch nicht einmal das kleinste Gedicht
-zurechtstümpern konnte, war ein echter Mann der Forschung, der Kritik,
-der wissenschaftlichen und denkerischen Sprache.</p>
-
-<p>Shakespeares Wissen war völlig andrer Art; war immer mit Anschauung,
-immer mit Intuition, immer mit einer bestimmten Lebenssphäre verbunden,
-die es zu gestalten galt.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_393" id="Seite_393">[S. 393]</a></span></p>
-
-<p>Hätte ihm einer die Aufgabe gestellt, eine botanische Abhandlung
-über die Flora von Warwickshire oder eine über das Leben der Bienen
-zu schreiben, er hätte es keineswegs gekonnt oder, wenn’s hätte sein
-müssen, wäre es ganz armselig geworden.</p>
-
-<p>Im Zusammenhang aber von Erlebnissen, in Gemeinschaft mit Gefühlen und
-Leidenschaften strömten ihm als Gleichnisse die Erinnerungen zu, und
-verstand er es überdies, sich all das aus Büchern, aus Gesprächen, aus
-der Umschau, in der freien Natur und im Handwerk zu holen, was er im
-Zusammenhang seines Schaffens, seiner bestimmten Zwecke brauchte. Wenn
-etwas gewiß ist, so gerade das, daß Shakespeare gar nichts Lehrhaftes
-an sich hatte, daß es ihm nie auf die Verbreitung oder auch nur
-Behauptung einer Ansicht ankam; jede Anschauung, die er äußerte, stand
-immer im Zusammenhang mit einer bestimmten Seite des Menschenwesens,
-mit bestimmtem Erleben eines Charakters. Und so bleiben uns diese
-wissenschaftlichen, all diese Erkenntnis- und Beobachtungsäußerungen
-auch nur im Gedächtnis im Zusammenhang mit Gefühlen, Repliken,
-Ausbrüchen; wir empfinden es als völlig unshakespearisch, wenn die
-Gelehrten solche Äußerungen jede für sich aus ihrem Gefüge lösen und
-zusammenstellen.</p>
-
-<p>Auch Homer, den man am ehesten mit Shakespeare in einem Atem nennen
-darf, hat sich auf Wagenbau, auf Tischlerei, auf Waffenhandwerk, aufs
-Schmiedehandwerk, auf Obstbau, auf Schiffahrt, auf Schweinezucht
-trefflich verstanden, &mdash; aber noch niemand ist auf die Idee gekommen,
-der Dichter Homer müsse mit dem Mann der Wissenschaft Pythagoras
-identisch sein.</p>
-
-<p>Bei ihm ist’s auch nicht nötig; er hat das Glück, daß man von seinem
-Leben gar nichts weiß; er lebt nur in seinen Gedichten.</p>
-
-<p class="mtop2">William Shakespeare wollte ich im ersten dieser Vorträge weniger in
-seine Zeit hineinstellen, als in seiner fast<span class="pagenum"><a name="Seite_394" id="Seite_394">[S. 394]</a></span> schreckhaft-starken
-Vereinzelung von seiner Zeit abheben; siebzehnmal habe ich dann in
-seine Werke geführt, und in Liebestragödien, in Liebesspielen, in
-Machthabertragödien haben wir seine Persönlichkeit gefunden, nie
-einseitig in einer Gestalt ausgeprägt, vielmehr immer allseitig,
-immer beidseitig, immer das Tier und die Hoheit, den Trieb und die
-Vernunft, den Mann der Gier und die adlige Frau, und das verderbliche
-Weib und den seelenvollen Mann, alle in ihrem Recht, der Ritterkönig
-und Falstaff, der herrliche Hektor und der gemein zausende, geifernd
-kritische Thersites; nie einer ein Typus bloß, immer ein einmaliger,
-ganz individueller Vertreter dieses Typischen.</p>
-
-<p>Im 19. der Vorträge habe ich Sie dann von den Werken, von der
-Sonettendichtung zur Person Shakespeare, heute aber schnell und fast
-scheu von der Person zurück den Weg zur Persönlichkeit führen wollen,
-wie sie sich in den Dichtungen offenbart.</p>
-
-<p>Ich für meine Person habe es in diesen Vorträgen wohl nicht immer
-vermieden, persönlich zu sein; und der furchtbare und für die
-Menschheit vielleicht entscheidend wichtige Zeitabschnitt, in dem wir
-stehen, hat, ich fühle es selbst, auf meine Art, Shakespeare zu sehen,
-bestimmend eingewirkt. Der Weg vom Trieb zum Geist hinauf, Shakespeares
-schwerer und gefahrvoller Weg ist auch der Weg vom Krieg zum Frieden,
-vom Tod zum Leben, &mdash; ich glaube es, gleichviel, wie lang und gewunden
-dieser Weg noch sein mag.</p>
-
-<p class="s4 mtop2 center"><em class="gesperrt">Ende</em></p>
-
-<hr class="full" />
-
-
-
-
-
-
-
-
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of Project Gutenberg's Shakespeare (Volume 2 of 2), by Gustav Landauer
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK SHAKESPEARE (VOLUME 2 OF 2) ***
-
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