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+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
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-The Project Gutenberg EBook of Der ewige Buddho, by Leopold Ziegler
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
-www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-
-
-Title: Der ewige Buddho
- Ein Tempelschriftwerk in vier Unterweisungen
-
-Author: Leopold Ziegler
-
-Release Date: May 7, 2016 [EBook #52015]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER EWIGE BUDDHO ***
-
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-
-Produced by Norbert H. Langkau, Reiner Ruf, and the Online
-Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
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- ####################################################################
-
- Anmerkungen zur Transkription:
-
- Der vorliegende Text wurde anhand der 1922 erschienenen Buchausgabe
- so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Zeichensetzung
- und offensichtliche typographische Fehler wurden stillschweigend
- korrigiert. Ungewöhnliche sowie inkonsistente Schreibweisen wurden
- beibehalten, insbesondere wenn diese in der damaligen Zeit üblich
- waren oder im Text mehrfach auftreten.
-
- Fremdsprachige Begriffe und Zitate wurden ohne Änderungen aus
- dem Originaltext übernommen; lediglich in einem Fall wurde
- der griechische Begriff ‚αὑτὸ καδ’ αὐτό‘ zu ‚αὑτὸ καθ’ἁυτό‘
- harmonisiert.
-
- Kursive Passagen wurden mit _Unterstrichen_ gekennzeichnet,
- fett gedruckte Namen und Begriffe in den Buchanzeigen sind von
- +Pluszeichen+ umgeben.
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- ####################################################################
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- [Illustration]
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-
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-
- [Illustration]
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-
- LEOPOLD ZIEGLER
-
- DER
- EWIGE BUDDHO
-
- EIN TEMPELSCHRIFTWERK
- IN VIER UNTERWEISUNGEN
-
- DARMSTADT 1922
- OTTO REICHL VERLAG
-
-
-
-
- GEDRUCKT IN DER SPAMERSCHEN BUCHDRUCKEREI
- IN LEIPZIG
-
- ALLE RECHTE VORBEHALTEN,
- BESONDERS DAS DER ÜBERSETZUNG
- COPYRIGHT 1922 BY OTTO REICHL VERLAG
- IN DARMSTADT
-
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-
-
- DEN
- ‚BÜRGERN DER VIER WELTGEGENDEN‘
-
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-
-INHALT
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- EINFÜHRUNG 11
-
- DIE ERSTE UNTERWEISUNG: BUDDHO DER PROTESTANT 37
-
- DIE ZWEITE UNTERWEISUNG: BUDDHO DER ERLEBENDE 123
-
- DIE DRITTE UNTERWEISUNG: BUDDHO DER WISSENDE 223
-
- DIE VIERTE UNTERWEISUNG: BUDDHO DER ÖST-WESTLICHE 343
-
-
-
-
-EINFÜHRUNG
-
-
-Es jährt sich nun heuer rund das einhundertdreißigste Mal, daß die
-Sakontalâ des Kâlidâsa ihre erste deutsche Übersetzung fand, von
-Goethe wie von Herder sofort als geistige Begebenheit ersten Ranges
-mit Bewunderung, ja mit Ergriffenheit gewürdigt und begrüßt. Ein
-paar Jahrzehnte später, und die Kenntnisnahme der Bhagavad-Gîtâ,
-als θεσπέσιον μέλος erstmals lateinisch von August Wilhelm
-Schlegel ausgegeben, macht in Wilhelm von Humboldts Leben warm
-beglückende Epoche, die er uns mit unvergeßlichen Worten schildert.
-Schopenhauer zwar findet den Zugang zu den ‚Geheimen Lehren‘, das ist
-‚Upanischaden‘, erst über den etwas krummen Umweg einer lateinischen
-Übersetzung des persischen Oupnek’ hat, -- auf ähnlich krummen und noch
-krümmeren Umwegen ist dereinst der Stagirit zum Schicksal der Theologie
-und Philosophie des späteren Mittelalters geworden! -- trotzdem aber
-werden jene wunderlich vermummten Urkunden ihm der Trost seines armen
-Lebens: indes er selber in vorgeschrittenerem Alter noch Scharfblick
-und Urteil genug aufbringt, Spence Hardys erste zuverlässige
-Darstellungen des zeilonischen Buddhismus in ihrer grundlegenden
-Wichtigkeit zu erkennen. Aus Köppens Religion des Buddha scheint
-sich Wagner ahnungweis ein erstaunlich zutreffendes und wesenhaftes
-Bild von Beschaffenheit und Art der Religion zu machen, die ihn in
-den unverfälschtesten und lautersten Jahren seines Daseins wie keine
-zweite tief und echt berührt. Was endlich Paul Deussens Lebenswerk
-angeht, so ist es in mehr wie einem Betracht dem Antrieb Nietzsches
-zu verdanken, der dauernd bemüht bleibt, eine zulängliche Kennerschaft
-seiner weltgeschichtlichen Gegenspieler im indischen Osten zu erwerben.
-_In summa_: der Einbruch Asiens, insonderheit der Einbruch Indiens in
-Europa erfolgt vor mindestens hundertunddreißig Jahren und wird bereits
-von allen Deutschen repräsentativer Geltung klar aufgenommen und
-sicher gedeutet als das, was er ist: der Aufgang eines funkelnd neuen
-Weltsterns an dämmernden Europahorizonten...
-
-Bald aber geschieht befremdlich Unerwartetes, Nie-Zu-Erwartendes! Das
-Jahr 1896 bringt den ersten Band einer Verdeutschung des sogenannten
-Majjhimanikâyo von Karl Eugen Neumann, und zwar gleich als Probestück,
-Gesellenstück, Meisterstück zu einer weitausgreifenden Lebensaufgabe.
-Diese setzt sich die womöglich lückenlose Übertragung des Suttapitakam,
-will heißen der ältesten und wertvollsten Urkunden der Reden Gotamo
-Buddhos zum Ziel, wie sie in den heiligen Schriften des Pâli-Kanons
-gesammelt und überliefert sind. Bis zu Neumanns Tod, der allzu früh
-an seinem fünfzigsten Geburtstag (am 18. Oktober 1915) in Wien
-erfolgt, ist denn auch wirklich diese Riesenaufgabe in der Hauptsache
-schier bezwungen: ist die Längere und Mittlere Sammlung vollständig,
-die Kürzere Sammlung wenigstens in ihren gewichtigsten Stücken
-übersetzt, wovon die kleine, ihres Alters wegen jedoch hochgeschätzte
-Spruchsammlung des Dhammapadam zu erwähnen wäre, indes aus anderen
-Bezirken der indischen Seele der Mythos von Krischnas Weltengang
-hinzutritt. Alles in allem bietet mithin Karl Eugen Neumann einer
-großen europäischen Nation zum erstenmal die ungeheuere Gelegenheit,
-aus tausend verflachenden, entstellenden, verzerrenden, umwuchernden
-Übermittelungen des Buddhismus heraus die Stimme des Buddho selber
-sprechen zu hören, -- und das ist fast, wie wenn wir Christen heute
-unverhofft ein fünftes Evangelium entdeckten, älter und urwüchsiger als
-die andern vier und an vielerlei Stellen geradezu die treu erinnerten
-Urworte des evangelischen Herrn enthaltend. Solche religiösen Urkunden
-werden jetzt jedem gebildeten Deutschen zugänglich gemacht, und dies
-obendrein in einer Fassung der Sprache, welche alleinig hätte genügen
-müssen, alle mit der Sachwalterschaft dieses höchsten irdischen Gutes
-Betrauten aufhorchen, wenn nicht aufjubeln zu machen. Hat doch an
-diesem indischen Idiom der Reden Buddhos sich die deutsche Sprache --
-wer hört es nicht, der nur ein einziges dieser vollkommenen Kunstwerke
-mit den Ohren (und mehr noch mit dem Gehör) liest: wer hört es nicht?
--- hat doch an diesem Pâli sich das deutsche Wort, der deutsche Satz
-noch einmal märchenhaft erneuert. Hier zeigt sich unsere Muttersprache
-plötzlich um eine ganze Anzahl von Möglichkeiten des Ausdrucks
-bereichert, die ihr vorher niemand so leicht zugestanden hätte. So,
-um an dieser Stelle nur das Auffälligste herauszuheben, zeigt sie
-sich im höchsten Grad des _Andante Maëstoso_ hieratisch fugenden
-Stiles fähig, bisher im religiösen Leben unseres Festlandes so gut
-wie ausschließlich dem Latein vorbehalten. Tempelfeierlich hört man
-dagegen hier die deutschen Laute in vollausatmenden Posaunenstößen
-pausenlos dahinorgeln und dann allmählich zart vertönen, -- dennoch
-wiederum höchst zwanglos zu vielen Kadenzen melodisch aufgelöst und
-von anmutigen Figuren reich umtrillert... Dieser Sprachgestalter
-Neumann aber und sein Buddho, diese ganz einmalige und ganz
-unvergleichbare indisch-deutsche Doppelschöpfung macht niemanden im
-weiten Vaterland aufhorchen und noch weniger jemanden aufjubeln. Wo
-vor hundert Jahren noch eine rauschende Bewegung durch den Geist,
-oder sag’ ich wirklichkeitentsprechender durch die Geister der Nation
-gefahren wäre, da spürest du keinen Hauch. Die Herren vom Fach,
-immer mit dem Wichtigeren ernst beschäftigt und darum geschworene
-Feinde alles Wichtigsten, schweigen sich mit ihrer altbewährten
-Zurückhaltung hinsichtlich ‚persönlicher Werturteile‘ auch über diese
-große Sache fast ganz aus; gebildete Laien, welche diese berufenen
-Hüter wissenschaftlicher Geheimnisse (oder Geheimniskrämerei?) zum
-Sprechen hätten zwingen wollen und hätten zwingen können, gibt es in
-jenen Jahren schauriger Verödung nirgends. Und dies bleibt die Lage,
-solange Neumann selber lebt. Bis kurz nach seinem unbemerkten Hingang
-der einzige Rudolf Pannwitz die Schmach dieses Schweigens bricht und
-endlich das befreiende Wort spricht über die weltgeschichtliche Tat
-eines Brückenschlages zwischen West und Ost...
-
-Wie aber, wird der unbefangene Sinn hier fragen, war dies möglich?
-Wie war dies möglich zu einer Zeit, wo man diesseit wie jenseit
-des atlantischen Meeres wahrhaftig schon mehr Ursach’ hatte, wenn
-irgendwo die Rede ‚_de propaganda fide_‘ ging, an den Buddhismus und
-seine unwiderstehliche Werbearbeit in allen Kontinenten zu denken
-als hergebrachtermaßen an die Kirche Roms? Wie war dies möglich
-in den Jahrzehnten vor dem Krieg, wo bereits mit aller Stärke die
-theosophisch-anthroposophische Bewegung eingesetzt hatte, die
-ihrerseit absichtlich oder unabsichtlich, willig oder unwillig stets
-den Buddhismus mit verbreiten und mit fördern helfen muß? Wie war es
-möglich, wie war es überhaupt nur denkbar, daß zwar die Geheimlehren
-aller Religionen Asiens seit den Babyloniern durch ungezählte
-Rinnsale, sichtbare und unsichtbare, saubere und schmutzige, in die
-spiritistisch-okkultistischen Zirkel des Westens sickern konnten, aber
-daß das Wort des wirklichen Buddho in seiner oft immerhin ältesten und
-ehrwürdigsten Gestalt nirgends aufmerksameres Gehör, ja nicht einmal
-ein wenig -- Neugierde fand?
-
-Werfe ich diese Frage auf diese Weise auf, so ist vielleicht aus
-ihr schon die eigentliche Antwort herauszuhorchen. Denn wie ich
-vermute, ist es eben diese vielsinnig buddhistische, neubuddhistische,
-afterbuddhistische Strömung gewesen, welche die voll ausgemeißelte
-Bildsäule des Buddho mit sich fortschwemmte und in der Masse
-mitgewälzten Gerölles und Geschlämmes unkenntlich ganz und gar
-begrub. Dieser Buddho ficht leibhaftig wider den Buddhismus, wie der
-synoptische Jesus leibhaft wider das Christentum ficht, -- oder
-vielmehr jener ficht wider den Buddhismus noch mit viel härterer
-Bestimmtheit wie dieser wider das Christentum, weil er mitsamt
-seiner religiösen Schöpfung sich in diesen Reden viel greifbarer und
-lebendiger erhalten zeigt wie der Christus in den Evangelien. Τἀλητὲς
-ἀεὶ πλεῖστον ἰσχύει λόγου, -- dies von den Schülern Hegels einst
-dem Werk ihres Meisters als Leitspruch wohlbedacht vorausgestellte
-Kernwort des Sophokles verdiente wie kein zweites den heiligen Texten
-des Pâli vorausgestellt zu werden. Denn hier wie kaum noch sonstwo
-dauert das Wahre allein durch die Gewalt des Wortes: nur daß man,
-ehe man das ‚Wahre‘ dieser Reden unbefangen auf sich wirken lassen
-will, zuvörderst alle die ungefügen und grobschlächtigen Schlagworte
-vergessen haben muß, mit welchen seit Jahrzehnten jeder Europäer
-dumm geprügelt wird, der in Gesellschaft den Begriff Buddhismus zu
-erwähnen sich getraut. Diese Schlagworte fahren hier alle ungeschickt
-daneben und treffen statt den Nagel auf den Kopf nur die Finger des
-Hämmernden, der auf den Nagel zielte. Hat man es zum Beispiel niemals
-anders läuten hören, als daß der Buddhismus eine Religion, ja sogar
-die Religion schlechtweg des Pessimismus sei, so wird man zum eigenen
-Erstaunen den Buddho ganz im Gegenteil von einem unerschütterlichen
-Optimismus tief beseelt und besäligt finden, wie ihn vielleicht bisher
-kein Mensch von dieser schonunglosen Welt- und Lebenskenntnis zu
-vertreten wagte, -- wenn ich dabei von Hartmanns immerhin vergröbernder
-Europäisierung dieses sinnreich verzahnten Pessimismus-Optimismus,
-Optimismus-Pessimismus absehen darf. Wirkt und lehrt doch dieser Buddho
-inmitten einer Welt, welche sogar ein Leibniz in Person als die ‚beste
-aller möglichen Welten‘ durchaus anerkennen müßte, und zwar eben darum,
-weil ein jedes ihrer Wesen und Geschöpfe grundsätzlich mit der Anlage
-zu einem Buddho ausgestattet ward und folglich zu der Hoffnung stets
-berechtigt ist, im Ablauf seiner Wiederverkörperlichungen stufenweis
-zu dieser übermenschlich-übergöttlichen Würde hinanzusteigen: wenn
-es nämlich dieses ernsthaft will! Und solch übermäßiger Optimismus
-gibt allerdings ein überraschend Gegenstück zu dem abgründlichen
-Pessimismus christlicher Gnadenwahl, die vor allem Anfang schon
-etliche Wenige für die Ewigkeit zur Säligkeit erkiest, eine unnennbare
-Mehrzahl jedoch gleichzeitig für die Ewigkeit verdammt.... Oder hat
-man fernerhin den Buddhismus jeweils als eine ausgemachte Praxis der
-Weltverneinung unserer europäisch vollbrachten Weltbejahung kurzerhand
-entgegengesetzt, so wird man nicht umhin können, selbst an dieser
-_cause jugée_ stark irr’ zu werden, wenn man etwa den Buddho des
-Pâli-Kanons von einer so mütterlichen Zärtlichkeit erfüllt findet
-für alle Kreatur, wie sie gleich innig und gleich ausnahmlos kaum
-im Herzen unseres lieblichen _poverello_ schlug: „O daß ich den
-kleinen verirrten Wesen ja nicht Schaden zufüge!“ So spricht meines
-Bedünkens bedingunglose Weltverneinung nicht; so zärtlich mitwesend
-und mitwebend spricht sie wahrlich nicht; so oder ähnlich hat es eher
-aus der Seele eines Weltverklärers, Weltliebhabers, Weltumarmers wie
-Jean Paul engelhaft gefiedelt und geharft. Weltverneinend hingegen im
-unmenschlichsten und verstocktesten Wortverstand erscheint durchweg
-der Kalvinismus, der jeden Eigenwert irdischer Erschaffenheiten _ad
-majorem Dei, ad majorem Diaboli gloriam_ leugnet und in engster
-Übereinstimmung mit solch’ gehässigem Weltfühlen (wenn anders Max
-Webers vielbeachtete Untersuchungen über die protestantische Ethik
-und den Geist des Kapitalismus zu recht bestehen) den lieblosesten
-und darum auch weltvernichtendsten Typus Mensch in Gestalt des
-amerikanisch-europäischen Unternehmers heraufgezüchtet hat... Oder um
-ein letztes Beispiel anzuführen, man hat in dem Buddhismus schlecht
-und recht eine der geschichtlichen Spielarten des aus der Mystik aller
-Zeiten und Völker fließenden Quietismus zu erblicken sich gewöhnt,
-und wird jetzt, angesichts dieses Buddho, überraschend inne, daß
-Gotamo von der Person des dem Orden verpflichteten _bhikkhu_ eine
-unausgesetzte Höchstanspannung und Höchststeigerung sämtlicher Kräfte
-des Leibes und des Geistes und der Seele fordert; eine Höchstanspannung
-und -steigerung, die, wenn sie auch nicht geradezu Arbeit im Sinn
-des europäischen Berufsmenschen zu nennen ist, doch auch erst recht
-nicht als Ruhe oder gar als Müßiggang, am ehesten vielleicht noch als
-‚tätige Muße‘ bezeichnet werden darf, und die zu ihrem Teil den Mönch,
-dem es bitter ernst ist, ausschließlich Tag und Nacht beansprucht,
-bis jeder Rest von Kraft für andere Lebensäußerungen aufgezehrt ist.
-„Wohlan denn, ihr Mönche: unermüdlich mögt ihr da kämpfen,“ -- das
-ist die Summe der Gebote, das ist das Gebot aller Gebote, in welches
-der Buddho selbst im Augenblick der Erlöschung die gesamte Lehre
-knapp und einprägsam zusammenfaßt. Und abermals untersteh’ ich mich
-zu behaupten, daß so kein Quietismus und nicht einmal die Mystik an
-und für sich sprechen würde!... Alle derartigen Formeln, die man sich
-bei uns zurechtgelegt hat zu einem bequem handlichen Verständnis des
-Buddhismus, versagen infolgedessen kläglich vor diesem Buddho, der zwar
-eine der größten, stolzesten, ewigsten Formen des Lebens, aber mit
-nichten eine Formel ist und am wenigsten eine bequem zu handhabende.
-Was vielmehr jede Rede des Kanons eindringlicher zu erkennen gibt,
-das ist eine Menschlichkeit schlechthin _sui generis_, die jeder
-Einordnung in eine _species_ oder _classis_ durchaus spottet: eine
-Menschlichkeit von einer wunderbaren Fähigkeit der Selbstbegütigung
-ganz ohne Vorgängerschaft und Nachfolgerschaft. Hier ist ein Mensch
-und nichts weiter als ein Mensch, der dennoch die unmenschliche
-Wirklichkeit der Welt vollkommen meistert. Meistert freilich um den
-notwendig zu entrichtenden Preis des Verzichtes, der Entsagung,
--- aber eines Verzichtes, einer Entsagung, die ihn wiederum keine
-einzige seiner echt menschheitlichen Eigenschaften kostet und ihn
-keinesfalls jenen frommen Ungeheuern zugesellt, welche zu ihrem Teil
-die Heiligengeschichte anderer Religionen so zahlreich wie widerwärtig
-bevölkern. Der düster lohende und rußig schwälende Kienspan Mensch,
-hier glüht er sich himmlisch rein zum mildschimmernden Lichtgleichmaß
-einer Metallfadenlampe. Er selber schafft einen luftleeren Raum um
-sich, er selber gießt eine gläserne Glocke um sich, damit er fortab
-von Luftdruck, Zugwind, Nässe, Staub, Schmutz, Ungeziefer unbewegt und
-unbetrübt bleibe...
-
-Dieser Buddho des Pâli-Kanons _contra_ den landläufigen Buddhismus,
-aber auch: dieser Buddho der südlichen Überlieferung _contra_ die
-nördlich verherrlichten Scharen kosmischer und metakosmischer
-Mittlererscheinungen, die reihenweis geordnet und gestuft als
-Bodhisattvas, Dhyânibodhisattvas, Manushbuddhas, Dhyânibuddhas bis
-hinauf zu Mañdschuçri dem Demiurg, bis hinauf zu Avalokiteçvara dem
-Paraklet, bis hinauf zum Âdhibuddha dem schon wieder brahmanisch
-rückgedeuteten Âtman-Brahman einen katholischen Gnaden- und
-Errettunghimmel zwischen Mensch und Weltgrund göttlich füllen, -- in
-solch’ ausgeprägter Gegenstellung darf man wohl eine der Ursachen
-vermuten, warum man auch bei uns die Reden des Gotamo Buddho ein
-Vierteljahrhundert lang nicht für der Rede wert hielt. Aber kaum
-dürfte dies die einzige Ursache gewesen sein und sicherlich nicht
-die ausschlaggebende. Noch kommt anderes dazu, das ernstlich
-beachtet sein will. Abgesehen nämlich von dem etwas hanebüchenen und
-derben Interesse, welches Theo- und Anthroposophie, Spiritismus und
-Okkultismus am Buddhismus als solchem zu nehmen pflegen, ein Interesse,
-welches unverhohlen zur dunkleren Hälfte geradezu der Magie, zur
-helleren Hälfte jedoch dem Apathanatismos gewidmet ist, -- ich sage
-dies aber ohne jeden mißbilligenden Seitenblick oder Seitenhieb,
-weil es fürwahr eine Magie und erst recht einen Apathanatismos im
-Buddhismus gibt und beides sogar bei unserem Buddho! -- abgesehen
-also von diesem eher irreligiösen als religiösen Interesse ist es im
-Abendland doch fast ausnahmlos das wissenschaftliche, das gelehrte
-Interesse gewesen, welches sich mit wachsender Vorliebe den Religionen
-des Ostens zugewandt hat. Diese wissenschaftlichen, diese gelehrten
-Interessen nun sind es, die in diesen Reden, wie ich vermute, weniger
-als sonstwo auf ihre Rechnung kommen. Gewiß gibt es keine historische,
-keine philologische, keine archäologische, kurz und gut überhaupt
-keine kritische Frage, die in Ansehung dieser gotamidischen Reden
-nicht mit ebendemselben Aufwand an Forscherscharfsinn aufzuwerfen und
-zu erörtern wäre, wie dies in Ansehung des Alten und Neuen Testaments
-längst geschah und immer noch geschieht. Und Karl Eugen Neumann selbst
-betrachtet es als erwünschtes, ob freilich auch noch fernes Ideal der
-Wissenschaft, einstmals die Reden des Kanons mit einem fortlaufenden
-Glossarium und Kommentar historisch-philologisch-archäologischer
-Feststellungen zu versehen. Wer fühlt indes gerade bei der Erwähnung
-solch gelehrtenhafter Ideale nicht vollkommen deutlich, wie belanglos
-sich alles bloße Wissen eben dieser religiösen Schöpfung gegenüber
-ausnehmen muß, die ihrerseit alles Forschen und Untersuchen als
-unwesentlich von der Hand weist, wenn anders es nicht mittelbar oder
-unmittelbar dem ‚heiligen Ziel‘ dient. Wie kaum ein zweites religiöses
-Dokument der Vergangenheit werben diese Reden des Buddho um religiöse
-Wertung, religiöse Stellungnahme, religiöse Verarbeitung: mithin just
-um das, was ihnen der Westen bisher am hartnäckigsten geweigert hat!
-An alle Bedürfnisse unserer Art darf sich der Buddhismus wenden,
-seien es selbst unsere rückständigsten, unsere unrühmlichsten, unsere
-niedrigsten. Nur wolle uns kein Buddho mit dem unbescheidenen Anspruch
-lästig fallen, daß er innerhalb dieser geographisch und kulturell
-abgegrenzten Zone, die gewohntermaßen dem Christentum und seinen
-erlöserischen Kräften allein vorbehalten ward, etwa seinerseit ein
-religiöses Werk zu vollbringen habe... Europa den Europäern! -- dies
-ungeschriebene Gesetz, welches bei uns verhängnisvollerweise seinen
-Monroe noch immer nicht gefunden hat, tritt zwar gerade dann mit
-allzugroßer Leichtigkeit außer Kraft, wenn Europas Söhne blindwütig
-und menschenfresserisch im gegenseitigen Vernichtungkrieg begriffen
-sind und zu diesem frommen Ende die Völkerschaften aller dunkeln
-und dunkelsten Erdteile aufbieten. Aber Europa den Europäern, --
-das ist ein unbedingtes, unverbrüchliches Gesetz, wo sich’s um das
-uralt-unantastbare Grundvorrecht des Christentums handelt, dem
-europäischen Menschen ausschließlich von sich aus die ihm zukömmlichen
-religiösen Antriebe mitzuteilen: ist doch dies Christentum, wer weiß
-es nicht, von seinen ersten Anfängen Jesus, Paulus, Augustinus an das
-heimische Erzeugnis unvermischten Europäertums... Wie schändlich, ja
-wie hochverräterisch wär’ es da, auf solch ein streng umhegtes Leben
-sorgfältigster Inzucht den heidnischen Asiaten loszulassen!...
-
-Inzwischen ist bei allem grimmigen Hohn über die abstoßende Heuchelei
-einer derart gehandhabten Monroe-Doktrin dennoch das Eingeständnis
-geboten, daß in dieser Abwehr gegen asiatische Einflüsse in unserer
-gegenwärtigen Lage ein gesunder Instinkt wachsam zu werden scheint.
-Aus hunderterlei Gründen dürften wir selbst dann keine Buddhisten
-werden oder auch nur zu werden wünschen, wenn dies überhaupt im Bereich
-unserer seelischen Möglichkeiten läge: das versteht sich für jeden
-Einsichtigen von selbst und bedarf keiner besonderen Beweise. Und auch
-das andere versteht sich gleichermaßen von selbst, daß nämlich auch der
-Buddho in den herrlichen Texten des Pâli-Kanons keine der furchtbar
-drängenden Aufgaben löst oder lösen hilft, die uns heute auf den Nägeln
-brennen und zu deren Bewältigung uns leider einstweilen noch alle
-Kräfte fehlen. Stumm bleibt uns auch dieser Buddho auf die Fragen,
-
-wie wir den Staat abbauen und die Gesellschaft aufbauen sollen,
-
-wie Staat und Gesellschaft wieder auf religiöse Grundlagen zu stellen
-wären,
-
-wie der Staatenbund (oder Bundesstaat) europäischer Völker gegen die
-Dummheit und Bosheit dieser Völker selbst und mehr noch gegen die
-Ruchlosigkeit ihrer Führer zu erzwingen sein möchte,
-
-wie neue Zellen späterer Vergemeinschaftung nach innerlichen
-Wachstumgesetzen in ihrem Entstehn begünstigt werden könnten,
-
-wie die Wirtschaft zum Dienen und der Geist zum Herrschen zu bringen
-sei,
-
-wie wir wieder zu einem beispielgebenden Adel (nicht der Geburt und
-nicht des Besitzes) kommen möchten,
-
-wie wir Erzieher erziehen lernten,
-
-wie den Henkern der europäischen Gesittung die Maske des Richters vom
-Gesicht zu reißen sei,
-
-wie die lebenswichtigen Sachgüter am zweckmäßigsten erzeugt und am
-gerechtesten verteilt würden,
-
-wie aus dem Gegeneinanderleben aller gegen alle wieder ein
-Miteinanderleben, Füreinanderleben zu entwickeln wäre, oder mit andern
-Worten
-
-wie das losgelassene Mensch-Vieh wieder zu bändigen und die
-weltverheerende Masse zu ent-massen wäre, und so weiter, und so
-weiter...
-
-Auf diese sämtlichen, beliebig noch zu vermehrenden Fragen bleibt uns
-der Buddho jede Antwort schuldig, indes wir uns wohl zu der Erwartung
-berechtigt glauben, daß eine Religion, die unserm innersten Bedürfnis
-eines Tages voll entsprechen würde, in großen Linien wenigstens die
-Wege auch in diese ungebahnte Zukunft zu weisen fähig sein müsse.
-Denn was war es doch in Wahrheit, das das Christentum unseres
-Mittelalters fast ein Jahrtausend lang in den Seelen unserer Ahnen
-so tief die Wurzeln hat einsenken lassen, daß niemand bis zur Stunde
-sie hat ergraben können? Das eine war es, daß dieses Christentum
-zwar im höchsten Betracht Religion war und dies sogar in einer
-durchaus weltjenseitigen Bedeutung, -- daneben und außerdem aber
-just kraft seiner Eigenschaft als Religion gleichzeitig eine Lebens-
-und Gesellschaftformung größten Stils. Hier ging die Bruderschaft
-in Christo fast ohne eine Stelle merklicher Unstätigkeit in die
-Genossenschaft, in die Gilde über. Hier wuchs der geistliche Orden
-nicht selten sich zur machtvoll weltbeherrschenden Partei aus, --
-ich nenne nur den Namen Cluny, für die europäische Politik zeitweis
-geradezu ein Programm (und wieviel mehr noch und Entscheidenderes als
-nur ein Programm!), deutsche Kaiser vom Rang des dritten Heinrich zu
-manchem wichtigsten Entschlusse nötigend... Vollends der Priester
-aber oder Mönch, in jenen Tagen ganz ohne Zweifel eigentlicher
-_homo religiosus_, ist er nicht Lehrer und Gelehrter, Staatsmann
-und Verwalter, Grundherr und Städtegründer, Landwirt und Siedler,
-Lehensträger und Landesfürst, Geschichtschreiber und Geschäftsmann,
-Seelsorger und Richter in seiner einzigen Person? Eine solche Religion,
-daran ist nicht zu zweifeln, wird uns Europäern langsam, langsam
-wieder wachsen, eine Religion, die alle Wirklichkeiten wieder göttlich
-gründet, göttlich ründet, -- oder wir werden eines Tages nicht mehr
-sein, weil eine solche Religion nicht mehr aus uns wachsen konnte.
-Und niemand in Ost und West wird uns diese späte Religion offenbaren
-oder vorleben, wenn wir nicht beides selber tun. Wofern wir also
-eine Tat, deren Vollbringen durchaus uns obliegt, von irgend einem
-religiösen Künder der Vergangenheit getan erwarteten, und heiße er
-Gotamo Buddho, gäben wir uns freilich einem unverzeihlichen Irrtum
-gefangen, und in diesem Fall wären offenbar diejenigen im Recht, welche
-uns in dem Gedanken an unsere höchste europäische Aufgabe warnend
-und abmahnend zuriefen: Europa den Europäern! Denn dieses Europa von
-übermorgen, blank gefegt von der großen Sturmflut, die heute über ihm
-zusammenbrandet, -- dieses Europa unserer frömmsten Europäer-Sehnsucht
-wird uns weder von Indien noch von Syrien und Palästina her geschenkt;
-es wird allein aus unserm Leib gebaut und aus unserm Geist gefügt...
-
-Nur mögen wir nicht vergessen, -- bis diese Abtei Thelema errichtet
-sein wird, werden eher Jahrhunderte als nur Jahrzehnte vergehen,
-in welchen der Europäer auch religiös nur von der Hand in den Mund
-leben wird. Was aber den Buddho der Heiligen Texte des Pâli anlangt,
-so kommt er ja nicht zu jener künftigen _Europa felix_ des Jahres
-2200, sondern zu dieser gegenwärtigen _Europa deserta_. Er kommt
-mithin in einer Stunde, wo sich der Komplexus der abendländischen
-Gesellschaft in seine Elemente zersetzt und mit ihm gleichzeitig
-alle anderen Komplexe der Auflösung verfallen, welche vormals die
-geschichtlichen Verwirklichungen der Gesellschaft darstellten.
-Kurz, dieser Buddho nähert sich uns in einem Augenblick, wo alles
-lebendig Gewordene unserer Kulturzone verwest und wo nur endgültig
-schon Versteinertes diese Verwesung übersteht oder was zur Zahl
-der unsterblichen Grundeinheiten des Lebens gehört. In diesem
-Augenblick und in keinem anderen wird uns der Buddho zugeführt: und
-wer wäre flach und weltunkund genug, um hier an pure Zufälligkeit zu
-denken? Jetzt aber konnte, jetzt mußte es geschehen, daß eben die
-Religion, früher einmal die stärkste gesellschaftstiftende Tatsache
-überhaupt, von allen persönlichen Angelegenheiten des Lebens die
-persönlichste wird und höchstens noch auf sehr mittelbare Weise
-gesellschaftliche Erheblichkeit gewinnt. Religion, das ist heute (und
-auf absehbare Zeit hinaus) die Unruhe und Unstäte, die Ratlosigkeit
-und Schwerpunktlosigkeit der Einzelnen, Abseitigen und Vereinzelten.
-Aber gerade diesen Einzelnen, Abseitigen und Vereinzelten vermag nun
-der Buddho ungleich bedeutsamer zu werden als je einer geschlossenen
-Gemeinschaft, die auf unserem Kontinent bisher doch immer wieder
-auf die Heilslehren des Christentums zurückgriff. Dem Einzelnen,
-Abseitigen, Vereinzelten hingegen stellt sich der Buddho als eine
-religiöse Möglichkeit dar, welche von den religiösen Möglichkeiten
-des Christentums weder entbehrlich gemacht, noch widerlegt wird: eben
-diesem Einzelnen, durch Abseitigkeit und Vereinzelung empfänglicher
-Gewordenen und gleichsam religiös Bereiteten wird jetzt der Buddho
-nicht selten zum Ereignis, manchmal sogar zum Schicksal seines
-Lebens... Der einsam Bedrängte und Beklemmte, der in Anfällen
-grimmiger Verzweiflung an allem und zumeist an sich selbst etwa
-nach dem Majjhimanikâyo, nach dem Mahâparinibbânasuttam greift,
-wird unwiderstehlich durchwärmt von einem sanft wiegenden Gefühl
-der Weltgeborgenheit und Selbstunverletzlichkeit. Er findet sich
-beschwichtigt und geschlichtet, geeinigt und versöhnt, entspannt und
-zu sich selbst gebracht. Ihm wird zumut wie einem hitzig Fiebernden,
-dem eine linde Hand sich kühlend wie ein Umschlag auf die Stirne
-legt. Hier spricht uns (nunmehr ganz in unserer deutschen Zunge) ein
-Mensch zu, der jede Weltangst von sich abtat und jetzt wie aus dem
-Jenseit mit einer süßen Geisterstimme tröstend auf uns einsingt. Was
-wollen wir Umgetriebenen und Gehetzten, die wir zu liegen kamen, wie
-wir uns selber betteten? Hier gibt es Rat für hunderterlei Notlagen
-und Notstände, die schließlich insgesamt verursacht sind durch jene
-harte Selbstentfremdung, in welche wir Europäer uns zeitweis oder
-dauernd zu verlieren pflegen. Auf Grund einer seelischen Erfahrenheit
-ohnegleichen wird hier in einem Sinn Seelsorge betrieben und geübt,
-wie ihn der Abendländer bisher nicht und nirgends geahnt hat: und
-Seelsorger ist denn dieser Buddho auch in einer nirgends sonstwo
-anzutreffenden Vollkommenheit. Als Seelsorger gehört er längst nicht
-mehr seiner Rasse, seinem Festland, seiner Weltzeit (_buddhakalpa_)
-an; als Seelsorger gehört er der Menschheit schlechthin, gehört
-schlechthin ihm die Menschheit in ihrer zeitlosen Wesentlichkeit
-und Alleinschließlichkeit. Geschichtliche Wandlungen, welche seine
-Weisungen und Winke, wie man des Lebens Herr wird, außer Kraft hätte
-setzen können, gab es bisher nicht. Sie sind auch kaum ausdenkbar, und
-nicht einmal von kommenden Religionen Europas erwarte ich, daß sie
-dies tun werden. Unser eigenes religiöses Ziel könnte von demjenigen,
-welches sich der Buddho stellte, beliebig weit abweichen, ja es könnte
-ihm vielleicht geradezu entgegengerichtet sein, ohne daß dadurch die
-religiöse Allgemeingültigkeit dieser Seelsorgerschaft im mindesten
-nur beeinträchtigt oder geschmälert wäre. Wie ich persönlich mir
-diese religiöse Zielsetzung für ein späteres und besonnteres Europa
-vorstelle, habe ich (vorläufig noch freilich mit unzulänglichen
-religiösen Kräften) in den Mysterien der Gottlosen, Gestaltwandel der
-Götter, Sechste Betrachtung, darzulegen unternommen. Ebendort glaube
-ich wenigstens für unbefangene Leser (ich rede nicht von befangener
-Kritik) keinen Zweifel übriggelassen zu haben, daß diese europäische
-Zielsetzung einer mensch-göttlich zu vollbringenden Welt-Schöpfung
-der gotamidischen Zielsetzung zwar nicht geradewegs widerspricht, --
-denn Religionen widersprechen sich zuletzt noch nicht einmal dann,
-wenn sie anscheinend wie Nein und Ja zueinander stehen! -- daß sie
-diese aber gleichsam in dynamischem, oder wie Platon vielleicht
-lieber sagen würde, in poietischem Betracht bei weitem noch übersteigt
-und übersteigert, übertrifft und überflügelt: ποίησις als Schöpfung,
-als Erschaffung buchstäblich genommen und verstanden. Dieses
-entscheidendsten und entschiedensten Unterschiedes beider Zielsetzungen
-jedoch unerachtet, könnte sich, ich wiederhole es, zu jenen drei
-ewigen Mysterien unserer europäisch gereiften Religiosität ohne die
-kleinste Gewaltsamkeit als viertes Mysterium der Buddho und seine
-Heilstat innig gesellen. Das gotamidische Mysterium der Seelsorge ist
-ein unvergängliches und immer wiederkehrendes, sogar dann erst recht,
-wenn es auf Europas Erde eines Tages mit einem zutiefst poietischen,
-zutiefst dionysischen Mysterium zusammen gefeiert werden sollte. Denn
-was uns auch in diesen entfesselten Zeitläuften zustoßen möge: die
-eine Hoffnung wollen wir Europäer uns doch heilig wahren, daß unser
-letzter Gott Dionysos nicht nur in dem Zwiegespräch mit Indiens Buddho,
-das diese kargen Blätter hier beschließt, das letzte Wort zu sprechen
-haben wird. Nur mit dieser Einschränkung bedeucht mich Nietzsches
-Ausspruch im Willen zur Macht ein zukunfterratender Wahrspruch, wonach
-„ein europäischer Buddhismus vielleicht nicht zu entbehren sein
-könnte.“ Niemals wird uns Europäern dieser Buddho der Herr sein, der er
-Millionen von Asiaten ist, wie uns denn auch der Christus selber längst
-nicht mehr Herr ist. Aber möglicherweis wird den Besten unter uns der
-Buddho wieder dazu verhelfen, daß sie sich selber wieder Herren nennen
-dürften, Herren des Diesseit und Herren des Jenseit und Herren all der
-bleichen Schrecknis, die uns zwischen beiden quält und ängstigt...
-
-Ist demnach zwar nicht eigentlich der europäische Buddhismus, den
-Nietzsche für unentbehrlich hält, wohl aber der europäische Buddho mit
-Neumanns Eindeutschung des Pâli-Kanons geschichtlich in Erscheinung
-getreten, so wolle der Leser dies Werk als einen ersten Versuch
-bewerten, die Tatsache des europäisch umgestalteten Buddho religiös
-zu bezeugen. Wofern es mir an allen unumgänglichen Kenntnissen und
-Fähigkeiten gebrach, etwa als Wissenschafter, Forscher, Gelehrter
-zu diesem Ereignis Stellung zu nehmen, konnte ich mich desto
-unbehinderter und unbelasteter als _homo religiosus_ mit Neumanns
-Buddho auseinandersetzen. Vermutlich hätte dieses Buch darum eines
-Tages auch dann geschrieben werden müssen, wenn die Anregung dazu von
-seiten des Herrn Verlegers ausgeblieben wäre: zu aufrüttelnd waren die
-Eindrücke dieser Reden aus dem Pâli, um nicht auf eine (einstweilen)
-abschließende Verarbeitung zu drängen. Stellte ich mir aber meine
-Aufgabe wesentlich als _homo religiosus_ und kaum als Philosoph, am
-wenigsten als Historiker, dann ergab sich zwingend für die Form des
-Buches, diese religiöse Absicht so rein und voll und stark wie irgend
-nur zum Ausdruck zu bringen. In keinem Augenblicke durfte der Leser die
-Vermutung hegen, es handle sich hier um eine Vermehrung der belehrenden
-Schriften über diesen Gegenstand, -- und alles, was den Leser
-vielleicht zunächst befremdet, alles, was ihn vielleicht sogar abstößt,
-ergibt sich streng aus der Notwendigkeit, eine religiöse Absicht
-nicht mit wissenschaftlichen Mitteln zu verwirklichen. Ein der Form
-nach Neues galt es hier zu schaffen, für welches in unserm Schrifttum
-nicht so leicht ein Beispiel oder Muster zu entdecken war. Als dieses
-Neue aber schwebte mir, seltsam genug! sofort etwas Ähnliches vor wie
-eine sehr freizügige, sehr eigenmächtige Übertragung jener Statue vom
-Boro-Budur, welche diesem Buch gleichsam als προοίμιον vorangegeben
-ist, aus ihrer bildhaften in eine worthafte Erscheinung. Ein
-Tempelbildwerk gleichsam umzusetzen in ein Tempelschriftwerk mit den
-Mitteln meiner Sprache und dadurch die plastische Gestalt zu wandeln
-in eine pneumatische Gestalt: das war, soviel ich selber davon weiß
-und wissen kann, mein heiß angestrebtes Ziel, -- Tag und Nacht sah ich
-wenigstens nur noch diesen thronenden Buddho vor dem innern Auge, --
-Tag und Nacht, wer wird dies recht verstehen? war ich nur noch dieser
-Buddho... Unwiderstehlich fand ich mich gezogen zu jenem hieratischen
-Stil, der zuletzt einer ist in allen höchsten Versinnbildlichungen
-des asiatischen Gestaltungwillens: einer in den Sprüchen Lao-Tses
-und den Reden Gotamos, einer in den Veden und Upanischaden, einer in
-den Psalmen des Alten Testaments und in den Suren des Korans, einer
-in den Götterbildern und Tempeln Indiens, Chinas oder Japans. Diesen
-Stil freilich nachahmen zu wollen, wäre von allen europäischen
-Abgeschmacktheiten so ziemlich die abgeschmackteste. Aber muß er sich
-schließlich nicht auch bei uns gesucht oder ungesucht einstellen in dem
-Maß, als wir wieder zu begreifen beginnen, was Religion ist? Fünf oder
-sechs Jahrhunderte haben dies immer gründlicher vergessen lassen, und
-das Ergebnis war die Zerbröckelung jeder großen Form im Leben noch mehr
-wie in der Kunst. Sobald indes Religion wieder in uns lebendig wird, --
-wie kann sie sich dann wohl anders ausdrücken als in der echten Sprache
-der Religion, die wir europäischen Ästheten abwegig und unzutreffend
-genug eben nur als ‚hieratischen Stil‘ zu bezeichnen wissen?...
-
-
-
-
-DIE ERSTE UNTERWEISUNG:
-
-BUDDHO DER PROTESTANT
-
-
-DAS HEILIGE JA LASST UNS BEKENNEN DAS HEILIGE JA ÜBER DIE AUF- UND
-NIEDERGÄNGE -- DAS HEILIGE JA ÜBER GEBURT UND TOD, GESTIRN UND
-SCHICKSAL -- DAS HEILIGE JA ERSCHAFFE DIESE WESEN UND ERHALTE SIE,
-DAMIT SIE IN DER FÜLLE STEHN WIE EINE HUNDERTBLÄTTERROSE IN IHRES
-MITTSOMMERS MITTAGGLÜCK - DAS HEILIGE JA ZERSCHMELZE DIESE WESEN IN
-SEINES EWIGEN FEUERS TIEGEL UND HÄRTE SIE DARIN, BIS SIE GEDIEHEN
-SIND, BIS SIE GEDIEGEN SIND -- UND ALSO VERLÖSCHE DAS HEILIGE JA
-DIESE WESEN IN SEINES EWIGEN WASSERS BORN UND BRING IN IHM DIE WESEN
-WIEDER EWIGLICH -- WILLKOMMEN DEM JA-SELBST ALLE WESEN UND WILLKOMMEN
-IHM GLEICHERMASSEN DIE GEGEN- UND WIDERWESEN ALLE -- DIES IST DAS
-HEILIGE JAWORT UND FROHWORT UND DES FROHWORTES HEILIGE GRUSSSPENDE,
-ANDACHTSPENDE, OPFERSPENDE -- DIES IST GELÄUTERTEN HERZENS ERSTGEBURT,
-DARGEBRACHT IM FESTWEIHTEMPEL DER WELT -- WER DU AUCH BIST, O MENSCH,
-IN VIERTEN VIERTELS EDLER MONDSCHWELLUNG DEINER MENSCHLICHKEIT ODER IN
-IHRES DRITTEN, ZWEITEN, ERSTEN VIERTELS BEDAUERLICHER SCHWINDUNG:
-
- -- ICH WILL DIR WOHL --
-
- DIES IST DIE ERSTE UNTERWEISUNG
-
-
-Geschieden, ihr Christen, in die Getreuen und die Ungetreuen der
-allgemeinen und allein sälig machenden Kirche, dünkt uns Christen
-Protestantismus die Frömmigkeit derer, die abseit von der Kirche als
-Abseitige das Heil ihrer Seele gesucht haben und noch heute suchen,
-gefunden haben und noch heute finden. Unübersehbar aber an Zahl und
-Mannigfaltigkeit ist die Art der Protestanten, welche der Mutter-Kirche
-die Zugehörigkeit künden mußten, um sich selber zugehörig bleiben zu
-können; unübersehbar an Zahl und Mannigfaltigkeit sind die Arten des
-Protestantismus, weil fast ein jeder Protestant allein seine eigene
-und bevorzugte Art von Protestantismus als die echte und wahre gelten
-lässet. Ob freilich die Frömmigkeit des Einzelnen von Fall zu Fall
-innerhalb der sichtbaren und allgemeinen Kirche noch auszuharren
-vermochte oder sich außerhalb ihrer den selbst erwählten Stock- und
-Steinpfad bahnen mußte, -- dieses hing häufig genug von mancherlei
-Zufälligem ab und durchaus nicht von einem Hang zum Protestantismus
-als solchem. Es konnte wohl geschehen und ist geschehen, daß sich im
-Geist und Gemüt des Christen eine Bewegung regte, die als Gegenbewegung
-beabsichtigt war zu einem augenblicklichen Zustand der Kirche und von
-der Kirche selbst im Braus der ersten Überraschung und Zornwallung
-als ketzerisch verfemt, als protestantisch verworfen ward: und
-dennoch nach einiger Frist von der Kirche großmütig zurückgenommen
-und ihrem Gesellschaftkörper einverleibt. Möglicherweis waren alle
-ernsten und eingreifenden Reformen der Kirche seit Cluny in Kern
-und Ursprung protestantisch, und nicht selten haben die unwägbarsten
-Kräfte der Zeiten und Persönlichkeiten darüber entschieden, ob dieser
-Protestantismus dazu kam, rückwirkend die gesamte Verfassung der Kirche
-zu beeinflussen, ja umzugestalten, oder ob er veranlaßt wurde, jenseit
-der Kirche eine unkirchliche Gemeinschaft zu gründen, eine unkirchliche
-Bruderschaft zu verkörpern, eine unkirchliche Kirche zu stiften. Wie
-hing es doch an einem schwachen Haar, daß dem heiligen Franziskus die
-Orden, so auf die Entsagung des Besitzes gegründet waren, gestattet
-oder verboten wurden. In unserm blonden Norden vollends versah der
-Meister Eckhart von Hochheim noch das weithin reichende und weithin
-wohl sogar gefürchtete Amt eines Provinzialen der Dominikaner, als
-seine Jünger und Jüngerinnen schon grausam verfolgt und hingerichtet
-wurden. Trotzdem sind in der Folge die Bettelorden zum Pfeiler und
-Eckstein der Kirche geworden, insonderheit in den eben herrlich
-aufblühenden Städten und städtischen Genossenschaften, und ihrer
-halbwegs ketzerischen Herkunft unerachtet haben sie der Kirche das
-tauglichste Mittel dargeboten, sich einer neuen Zeit und Gesellschaft
-anzupassen. Was allerdings unsere Mystik betrifft, ward sie als
-schleichende Gefahr der Kirche mit äußerstem Mißtrauen stets betrachtet
-und in gewissen Abständen immer wieder mit ketzergerichtlichen
-Maßnahmen geängstigt und betroffen. Gegen die Albigenser wurde der
-Kreuzzug nicht nur gepredigt, und die Kriege mit den Husiten stürzten
-das mittlere Festland aus einer lebensgefährlichen Krisis in die
-nächste. Schwankend und schwebend blieb darnach der Inbegriff des
-Protestantismus. Wer heute sich selber verdächtig schien, in seinem
-Herzen der Ketzerei zu frönen, der fand sich etwa morgen schon völlig
-wieder in einer erneuerten und wiedergeborenen Kirche. Wer aber heute
-noch seine strengste Rechtgläubigkeit mit jedem Eid beschworen hätte,
-dem konnte es zustoßen, daß er morgen den großen Bann als Urteil (und
-als Unheil!) furchtbar über sich verhängt fand, fortab geschieden in
-einem Atem vom Frieden Gottes wie der Menschen.
-
-Die deutsche Reformation zusammen mit den anderen Reformationen des
-sechzehnten Jahrhunderts war es nachher, die endgültig den Typus,
-den ‚Schlag‘ des Protestanten wie einen Stempel prägte oder wie
-einen Holzstock schnitt. Sie schuf den neuen Christen, der weder
-in der allgemeinen und allein sälig machenden Kirche seinen Platz
-länger einnehmen konnte, noch dessen sich dieselbige Kirche durch
-eine Maßregel gewaltsamer Unterdrückung, gewaltsamer Bekehrung,
-gewaltsamer Vernichtung zu entledigen imstande war. Seither ist der
-christliche Protestantismus eine religiöse und gesellschaftliche
-Wirklichkeit, beliebt oder mißfällig, geduldet oder verworfen:
-eine Wirklichkeit wie die Kirche selbst und durch keine Acht oder
-Ausstoßung aus den Tafeln der Wirklichkeit zu tilgen. Erst bei
-einem Einzigen und Einzelnen, dann bei Wenigen, dann bei Vielen,
-versagte der unendliche Aufwand von Dogmen, Sakramenten, Liturgien,
-Messen, und ihre Frömmigkeit spottete der Wohltaten der Seelsorge
-und Seelpflege; -- auf Grund dieses nämlichen Umstandes aber fanden
-sie sich zusammen zu einer neuen Gemeinschaft, zu einer neuen Kirche
-abseit der bisherigen, und sie genossen neuer, will sagen urältest
-wiedererneuter Heils- und Gnadenmittel auf neue Weise: wenn sie nicht,
-wie beispielweis die Quäker, diese Mittel insgesamt als Magie verwarfen
-und das gemeinschaftstiftende Ereignis in einer Art geselliger und
-gleichzeitiger Erleuchtung fanden. Einmal soweit, konnte sich diese
-vollzogene Abkehr von der allgemeinen und allein sälig machenden
-Kirche ohne Ende wieder vollziehen und hat sich dann, wer wüßte es
-nicht, in der Tat ohne Ende bis auf den heutigen Tag wieder und
-wieder vollzogen. Und wie man, ihr Christen, in französischer Sprache
-das Sprichwort gesprochen hat, daß man stets der Rückschreiter und
-Rückschritter irgend jemands, _toujours le réactionaire de quelqu’un_
-sei, so dürfte man dies Treffwort ins Deutsche übertragen: daß man
-stets der Einsprecher, Widersprecher und Verwahrer, kurz der Protestant
-irgend jemands sei. Denn wie es unveräußerliches Recht jeder religiös
-verpflichteten Gemeinschaft ist, sich als die allgemeine und allein
-sälig machende, ja als die allein rechtgläubige Kirche aufzurichten,
-bleibt es gleichermaßen Recht aller auf abweichende Art Frommer, sich
-als Protestanten davon freiwillig auszuschließen, nachdem sie durch
-ihre eigene Erfahrung, unwiderleglich für jedwede andere und fremde
-Erfahrung, inne geworden waren, daß sie inmitten jener Genossenschaft
-dauernd des Heils entbehren würden und derart durch die Tathandlung des
-Protestes den Protestantismus zu besiegeln sich gedrungen fühlten.
-
-So also verhält sich dieses. Protestantismus im Wortverstand unserer
-christlichen Abendländerschaft erweist sich herkömmlich zwar als der
-geschichtliche Gegenbegriff der Kirche, die sich vom καθόλου her
-benannt hat, -- sinngemäß aber weiterhin auch als der geschichtliche
-Gegenbegriff jeder Vereinigung, Gemeinschaft, Verbrüderung solcher
-Frommen, die abseit der Kirche selbst eine Kirche zu bilden
-übereingekommen sind. Protestantismus ist darnach innerhalb des
-Christentums jeweils Protestantismus irgend wessen in bezug auf
-irgend wen, und wer sich von der rein verhältnismäßigen Bedeutung
-dieser Tatsache Protestantismus überzeugt hätte, dürfte sich weder
-Irriges noch Falsches angeeignet haben. Eingeengt und beschränkt wäre
-seine Auffassung von Protestantismus aber trotzdem, eingeengt und
-beschränkt durch den stieren Hinblick auf das Christentum allein und
-ausschließlich, ihr Christen: auf das Christentum, welches weder die
-ersten der großen Religionen dieses Festlandes in sich begriffen hat
-noch die letzten in sich begreifen wird. Vom Christentum gilt wohl
-der Sachverhalt, daß es als Kirche geschichtlich in Erscheinung trat,
-und so bleibt der christliche Protestantismus recht und schlecht
-gekennzeichnet, ja ausgezeichnet durch seine religiöse Kampfstellung
-gegen die Kirche sowohl wie gegen die Kirchen. Aber das Christentum,
-ihr Christen, ist nicht ewig! Oder wenn schon ewig, dann nur ewig in
-der Zeit, mit einem Anfang in der Zeit und einem Ende in der Zeit
-und zeitlos allein in einem Sinne, den keine Zeit jemals umfaßt. Was
-jedoch ewig ist nur in der Zeit, das bleibt eine Versuchung für die
-Zeit, Ewiges mit Zeitlichem je und je zu verwechseln und Merkmale des
-einen für die Wahrzeichen des andern irrig zu nehmen und zu geben.
-Hiergegen haben wir uns, wir Nicht-mehr-Christen oder vielleicht
-auch Noch-nicht-Christen, scharf zu entsinnen, daß es europäische
-Religionen von hohem Rang ohne kirchliche Kristallisationen gab, heute
-noch gibt und künftighin erst recht geben wird: finden wir nicht auch
-in ihnen etwas wie Protestantismus? Und wenn Ja, -- worin bezeugt es
-sich als Protestantismus, wofern es als Protestantismus mangels einer
-vorhandenen Kirche auch nicht eine Kampfstellung zur Kirche einnehmen
-und in dieser Kampfstellung nicht mehr sein Kennzeichen und Merkmal
-finden kann? Da nennen wir die Religionen etwa des griechischen
-Altertums, griechischen Jugendtums, zahlreich und blühend wie die
-hellenischen Stadtstaaten einst und dennoch nie Staats-Religionen in
-einem späteren oder gar gegenwärtigen Wortverstande: unterschiedlich
-und gegensatzreich wie die griechischen Landschaften und dennoch
-großherzig einander gelten lassend und duldend. Diese vormaligen
-Religionen, haben sie sich nun dem Widersatz versagt von katholischer
-und protestantischer Frömmigkeit, nur weil sie Zeit ihres wundervoll
-fließenden und flüssigen Lebens niemals zur Kirche und nicht einmal
-zu Kirchen vereist oder versteinert sind? Oder stoßen wir nicht just
-auch dort auf die Gestalten unleugbar prophetischen Wuchses und
-unleugbar protestantischer Gebärde, die ohne Vorbehalt, wer fühlte es
-nicht, wüßte es nicht, der Zahl der bahnbrechenden Protestanten aus
-europäischen Vergangenheiten zugezählt werden müssen? Zugestanden euch
-Christen, der protestantische Geist habe seine kantigste Ausschnitzung
-dort erfahren, wo er den furchtbaren Kampf des Ketzers wider eine
-hochmögende, herrische, unbeugsame Kirche zu führen hatte, von Stunde
-zu Stunde der Bannflüche, Folterkammern, Scheiterhaufen, Ölkessel,
-Schand- und Marterpfähle gewärtig, -- wo also _ecclesia militans_
-innig im unverfälschten Sinn des Nazoräers Jesus zu handeln glaubte,
-wahrhaftig glaubte, ihr Gleichgültigen, Lauwarmen und Glaubenslosen!
-wenn sie zahlreiche Ketzervölker (wie einst jene arianischen Goten
-der Nachfahren des erlauchten Theoderich) von der langmütigen Erde
-tilgte und darüber hinaus das ergriffene Gedenken im Gedächtnis aller
-Folgezeiten löschte... Dies also schlankweg zugestanden, braucht doch
-Protestantismus noch lange nicht dort zu fehlen, wo die Kirche fehlt
-und kraft selbstgesetzter Autorität über statthafte oder unstatthafte
-Auslegungen der Glaubenslehre befindet. Schließlich geschieht ja der
-Protest gegen die Kirche nicht ihres Kirch-Seins halber, nicht ihres
-Kirch-Seins an und für sich: vielmehr weil diese Kirchlichkeit eine
-Religion vertritt, die dem Geist anderer Religion widerläufig ist.
-Verwerfung der Kirche aus den Antrieben einer Frömmigkeit heraus,
-die innerhalb der Kirche nicht gestillt wird, ist das Wahrzeichen
-des christlichen Protestantismus gewesen, -- nicht aber ist sie
-Wahrzeichen des Protestantismus schlechthin. Dieser Protestantismus
-schlechthin hört aber mit nichten auf, Protestantismus zu sein, wenn
-er eine Religion oder vielleicht eher noch eine Religiosität verwirft,
-die aus inneren oder aus äußeren, aus sachlichen oder aus zufälligen
-Gründen zur Kirche nicht ausgeformt ist. In dieser Bezugnahme nun,
-wir sehen das und greifen es mit Händen, gärt im Griechenland des
-sechsten und fast mehr noch des fünften Jahrhunderts ein Wirbel von
-leidenschaftlichster Gewalt, dessen Protestantismus gar nicht in Frage
-gestellt werden kann. Es gärt hier ein Wirbel, durchaus vergleichbar
-dem anderen, der zwei oder drei Jahrhunderte früher Israel jene
-Gottesmänner, Gottesknechte (_nêbiim_) gebar, in welchen sich seine
-Frömmigkeit am edelsten verkörpert zeigt. Für uns besteht die hohe
-Schwierigkeit nur darin, zu erkennen, wogegen diese hellenischen
-Protestanten eigentlich ihren Protest erhoben, gegen wen oder gegen
-was, da es in Griechenland weder eine allgemeine und allein sälig
-machende Kirche religiös zu überwinden gab, noch Priesterschaften
-oder Gemeinden der Baalim Syriens und Phöniziens. Herakleitos und die
-Eleaten, die Orphiker und die Tragöden sind Protestanten gewesen. Sie
-alle haben auf ihre Weise wider ein Fromm-Sein Verwahrung ausdrücklich
-und heftig eingelegt, welches aus guten Gründen nicht länger mehr ihr
-Fromm-Sein bleiben konnte. Nur daß diese guten Gründe heutzutag nicht
-leicht zu ergründen sind, nachdem sich seither so viel Wassers über
-diesen Gründen sammelte und über ihnen stand und sie zu braunen Sümpfen
-dickte...
-
-Von außen gesehen, das versteht sich ja von selber, war es die Religion
-Homers, die der Frömmigkeit jener Zeitläufte widerstrebte, und eben
-dieser Tatbestand hat Propheten so weltverschiedener Artung wie
-Herakleitos, Xenophanes, Aischylos wenigstens in der Geste der Abwehr
-durchaus geeinigt. In der Geste der Abwehr sage ich, sicherlich! Aber
-darum nicht auch schon in den bestimmenden Beweggründen, die ganz ohne
-Frage bei den verschiedenen dieser ragenden Protestanten bei weitem
-verschieden waren. Wenn der marsrotglutende Leuchtturm über die Meere
-Asiens und Europens, Heraklit, die Götter Homers in seiner dunkeln
-Flamme verbrannt hat wie ein Leuchtturm halt nächtlich flatterndes
-Gefalter, nächtlich schwirrendes Gevögel zu verbrennen pflegt, so
-geschah dies aus anderen Notwendigkeiten und aus anderen Nöten, als
-wenn der Kolophonier Xenophanes, kein Leuchtturm, aber ein Erleuchter,
-Fackelvoranträger und Aufklärer, Homers menschhafte Vielgestalten zur
-Kugel-Einheit unpersönlich zusammenballte und ‚mit dem All‘ verwachsen
-ließ. Und wiederum: wenn die ältesten der Tragöden von Eleusis nach
-ihrer Art Homerzerstampfer und -zertrümmerer waren wie nur je einer
-der Weisheitkünder zu Ephesos, Milet, Elea, so mögen sie vielleicht
-den Philosophen dabei noch mindere Beachtung geschenkt haben als die
-Philosophen ihnen. Orphisch gestimmt durch und durch, und das will
-fast schon sagen buddhistisch gestimmt und im Leiden des Gottes, im
-Leiden des Menschen selbst schon etwas wie ‚des Leidens Überwindung
-und Verlöschung‘ erfühlend und den Weg ertastend zu ‚des Leidens
-Aufhebung‘, brauchen diese ältesten Tragöden darum noch lange keine
-Orphiker gewesen zu sein. Hier bleibt vermutlich das Wichtigste für
-immer Geheimnis und mag für immer Geheimnis, wohl versiegeltes, bleiben
--- (und vielleicht nicht ohne tiefere Bedeutung für Verständige und
-Verstehende hieß dereinst in den kalifischen Reichen das Haupt aller
-staatlichen Geschäfte von Amts wegen ‚Verwahrer des Siegels‘)... So
-hat das eigentliche und persönlichste Warum seines Protestantismus
-jeder dieser Protestanten verschwiegen mit in sein Grab genommen samt
-allem übrigen, was nur an ihm persönlich, was nur sterblich an ihm war.
-Aber darüber hinaus getraue ich mir doch zwei unsterbliche Motive zu
-erraten, die für sie von ausschlaggebenden Gewichten gewesen sind. Sie
-alle, die Philosophen und die Mysten, die Tragöden und Propheten, litt
-es unter dem honighellen Himmel Homers nicht länger aus einem Grund
-unter den zweien: entweder weil ihnen diese Götter allzu menschlich
-waren und darum schon nicht mehr Gott genug, um menschlich-welthafte
-Geschicke kundig und weise, gütig und göttlich zu lenken, -- oder
-umgekehrt, weil diese Götter ihnen in anderem Betracht nicht menschlich
-genug erschienen, um menschlich zu leisten und vollbringen, was der
-Mensch von sich selber fordert und von sich selber heischt, wenn
-er seine eigene Vergöttlichung mit Ernst betreibt und mit Ausdauer
-fördert. Entweder allzu menschlich oder nicht menschlich genug, ihr
-Christen, deuchte jenen gewaltigen Heiden der Gott, und eins von beiden
-machte die Tragöden und die Philosophen, die Propheten und die Mysten
-von damals zu den Protestanten von damals. Und dieser Protestantismus,
-er wiegt und wuchtet, gewogen in der freien Hand, goldschwer genug,
-um auf der Wage unserer morgigen Weisheit noch einmal nachgewogen zu
-werden. Nachgewogen von den Morgigen unter uns, die sich Schwer-Nehmen
-zur Pflicht der Stunde gemacht haben, nachdem wir zu leicht, zu leicht
-befunden, vom ersten Windstoß weithin entrafft und verschlagen wurden,
--- wer weiß, in welche brennenden Durst- und Glutwüsten Sahara, Schamo,
-Estakado hinein oder gar in den Feuersee Kilauea, wo unsere Seelen etwa
-dann gefegt werden...
-
-Der Gott also schon allzu menschlich, allzu unheilig, allzu wenig
-Gott: dies ist die große Verwahrung solcher, deren Frömmigkeit
-Anstoß nimmt an der erstmals durch Homer vollendeten Vermenschung,
-Verpersönlichung, Vergestaltung der Götter, und aus diesem nicht
-widerleglichen Fühlen heraus alles (und sich selber zuerst!) daran
-setzt, in der Folge jegliche Anthropomorphik und Anthropopathik Gottes
-wenigstens im Gedanken abzustreifen und als die alte Haut Gottes an
-der Straße faulen zu lassen. Dies ist die Verwahrung solcher, denen
-unter den Händen die Religion als Religion Philosophie geworden ist
-und der Gott, entmenschlicht, entpersönlicht und entstaltet, mit dem
-Wesen der Welt in eins fließt, -- mit dem Wesen der Welt, mit dem
-Geist der Welt, mit der Unendlichkeit der Welt, mit der Seele der
-Welt, mit dem Atem der Welt, mit dem Ursein der Welt, mit dem Kern
-der Welt. Wenn vormals die Göttin der Liebe und Schönheit homerisch
-gestaltet und plastisch gegliedert dem Samen-Schaum des Weltmeers
-enttauchte, so taucht jetzt der homerisch gestaltete, plastisch
-gegliederte Götter- und Menschenvater Zeus als pherekydeischer ‚Zas‘
-in die flutenden Wirbel der Schöpfung namenlos zurück. Menschhaft
-geformt und geworden aus dem mystisch geahnten Element, entformt
-sich und entwird der menschlich gebildete Gott von neuem zum nunmehr
-freilich gnostisch erfaßten Element, zum Pan und Henkaipan: eine
-überall verbreitete und gleichsam ewige Spielart des Protestantismus,
-auf die wir bei allen höheren, will sagen bei allen philosophierenden
-Völkern stoßen, wo eines Tages die alternde Theologie durch die
-erneuernde Kosmognosie von mehr oder weniger wissenschaftlicher
-Haltung verdrängt wird und wo in feierlicher Wandlung der Theos
-zum Kosmos sich verjüngt. Der Gott ist Welt und strahlt welthaft
-in des Äthers Strahlen, so spricht und kündet der Protestantismus
-dieser philosophischen Protestanten, den menschheitlichen Gott als
-unzulänglich vor Geist und Erkenntnis verdächtigend und bald sogar
-nicht einmal dem Nichtwissen mehr verzeihend. Wohingegen derselbe
-und nämliche Gott, der diesen Weisheitfreunden und Wissenseiferern
-allzu menschenähnlich und menschengebrechlich, allzu menschenwinzig
-und menschenwitzig ein Ärgernis ward, den anderen noch lang nicht
-genug menschartig erscheint, wofern er als Gott zwar genug und
-übergenug von menschlicher Schwachheit befallen, von menschlicher
-Torheit ergriffen, von menschlicher Lasterhaftigkeit besudelt, von
-menschlicher Leidenschaft getummelt ward: dennoch aber der Menschheit
-in jenem anspruchvollsten Sinn ermangelt, als er die Heilung von
-diesen Übeln und die Wiederherstellung von diesen Mißschaffenheiten
-von sich aus nicht zu bewirken versteht. Möglich, daß der Gott diese
-Heilung und Wiederherstellung vormals bewirkt hat, -- denn wozu hätte
-er selber sonst getaugt in einer Wirklichkeit, wo auch die Götter
-noch zu etwas taugen müssen, um sich vor den Menschen auszuweisen.
-Seither jedoch ist Unsägliches, Welterschütterndes, Verhängniswaltendes
-geschehen. Der Gott hat sich der Sünde hingegeben oder ist sonstwie
-von seiner Götterhöhe hinabgeglitten, unmerklich erst, dann schneller
-und jäher stürzend. Oder was möglicherweis dasselbe ist, der Mensch
-hat seinerzeit den Gott im Ablauf seiner eigenen Reifwerdung
-eingeholt und überstiegen, endlich in sich selbst die Fähigkeit zur
-Selbstvergöttlichung gewahrend; -- wie denn die einen Wesenheiten
-hienieden aufwärts steigen, wenn die andern Wesenheiten fallen, die
-einen aber fallen, wenn die andern aufwärts steigen: ein jegliches
-nach eigenem Antrieb und Gesetz, wie Feuer aufwärts wirbelt und Wasser
-abwärts rinnt, ein jegliches nach seinem Ort, den es sich suchet...
-Kurz und gut also, der Gott Homers war wohl sehr menschlich, aber
-konnte das Urgeheimnis aller Menschheit nicht erraten, daß nämlich der
-Mensch selber göttlich zu werden trachte nach Wille und Bestimmung,
-Wunsch und Wahl. Der Lüfter dieses Urgeheimnisses geworden und damit
-aus dem Diener der Vollstrecker Gottes geworden, blieb dem Menschen
-nichts übrig, als den Gott von vorhin zur Abdankung zu zwingen und
-seine Entthronung zu verfügen, -- und wahrlich! es geschah dies
-schweren Herzens und mit zitternden Knien! Das griechische Sinnbild
-aber dieses Protestantismus (es ward euch Christen seither geschildert
-und dargelegt, erläutert und gewiesen im Buch vom Gestaltwandel der
-Götter), das griechische Sinnbild richtete der Tragöde Aischylos auf in
-seinen Eumeniden, woselbst die Pflicht der Sühne und Wiederheiligung
-nach geschehenem Blutfrevel, ehemals eine der göttlichsten Pflichten
-von allen, dem Sühngott Apollon abgenommen und in festlicher
-Einsetzung dem Richtergewissen attischer Bürger auf dem Hügel des
-Ares anvertraut wurde. Hier entkleidet der protestantische Tragöde
-den Gott auf offener Szene gleichsam seines Kaiserpurpurmantels und
-legt ihn schwer um menschliche Schultern; hier salbt und krönt der
-Mensch den Menschen in unsterblicher Zeremonie zum Statthalter und
-Stellvertreter, zum Sachwalter und Treuhänder Gottes. Was Phoibos
-Apollon dereinst hinsichtlich der Erinnyen vollzogen, das vollzieht der
-tragische Prophet hinsichtlich Apollons. Als jüngerer, als jüngster
-Gott tritt er die Erbfolge, Nachfolge, Tatfolge des älteren Gottes
-an und schließt dadurch die vielen Götterstürze aufgewühltester
-Jahrhunderte mit einem letzten Göttersturze ab. Der Protestantismus
-der Philosophen hat den Fortgang wachsender Vermenschung des Gottes
-unterbrochen und zum Fortgang wachsender Entmenschung mit mehr und
-mehr Entschiedenheit gewendet. Der Protestantismus der Tragöden führt
-die homerische Vermenschung Gottes in freilich stark unhomerischem,
-ja widerhomerischem Geiste völlig zu Ende, nun den Gott erst recht
-vermenschlichend: der Gott fortab nicht mehr der nur ein wenig
-mächtigere, ein wenig dauerhaftere, ein wenig heiligere Mensch,
-vielmehr umgekehrt der Mensch ein zwar schicksalunterworfener und
-schuldbetroffener, aber auch schuldsühnender und schicksalüberwindender
-tragischer Halbgott, dionysischer Gott...
-
-Ein doppelter und doppelsinniger Protestantismus ist es, den der Kampf
-wider Homer auf der hellenischen Erde zeitigt. Ein Protestantismus
-erstens, der die gleichsam ‚geistige‘ Leistung des Gottes, den Geist,
-den Sinn, das Sein der Welt in sich zu sammeln und darzustellen,
-auf die Welt selber übergehen läßt und darnach diesen Welt-Gott
-vorzugweis als den allgemeinen Erkenntnis- und Erklärunggrund der
-einzelnen Welt-Erscheinungen aufgefaßt wissen will, -- in des Wortes
-Buchstäblichkeit wirklich ‚wissen‘ will. Ein Protestantismus zweitens,
-der die gleichsam ‚tathafte‘ Leistung des Gottes, nämlich dem Menschen
-Heil und Heiligung, Tröstung und Rettung, Wiederherstellung und
-Erlösung zu erwecken, allmählich auf den Menschen selber überträgt, im
-Gott künftig höchstens noch den Vorläufer, Wegbahner, Vortäter ehrend,
-der aber im Gang der Zeiten vom Menschen in allen Stücken zunehmender
-Seelenreifung eingeholt, ja überholt wird. In geschichtlichem
-Betracht ist jener erste Protestantismus mit immer bestimmterer
-Eindeutigkeit die Sache reiner Erkenntnis, reiner Wissenschaft, reiner
-Wahrheitforschung geworden, welche dann nach und nach die Religion in
-Philosophie, in Scholastik, in Kritik umgesetzt hat, den Mythos aber
-in Metaphysik, in Kosmologie, ja in Physik und alles, was dem heutigen
-Europäer mit Physik zusammenhängt. Und dies wiederum mußte notgedrungen
-dazu führen, daß diese Sorte Protestantismus in den Wandlungen der
-eigentlichen Religionen die vormals ausschlaggebende Bedeutsamkeit in
-dem Maße einbüßte, als er selber sich in Philosophie und Metaphysik,
-in Scholastik und Kosmologie, in Kritik und Physik verlor; -- wie
-denn vor allem er es war, der jene verhängnisvolle Spaltung von
-Religion und Wissenschaft hauptsächlich mitverursachte, welche die
-ehemals unteilbaren und ganzen Seelenkräfte des Abendländers in so
-viel zusammenhanglose Teile elend zerstückt und zerstückelt hat...
-Der Protestantismus zweiter Prägung hingegen ist der gewaltige
-Antrieb geblieben in all den religiösen Gegenbewegungen, die sich
-als Religionen der Selbstführung, Selbstheiligung, Selbstvergottung
-den ‚katholischen‘ Religionen der Fremdführung, Fremdheiligung,
-Fremdvergottung mehr oder weniger siegreich widersetzen; -- in ewigem
-Widerstreit und Widerspiel zu ihnen scheint er die Kraft zu sein,
-welche die große Wirklichkeit europäischer _religio_ überhaupt erst
-eigentlich in Schwung und Umschwung bringt. Derselbe Protestantismus
-ist es denn auch, der in den reformatorischen Versuchen unseres
-christlichen Mittelalters die Kirche an allen Ecken und Enden des
-Festlandes mit unter den nämlichen Forderungen bekämpft, die man in
-ihrer geheimsten Bedeutung erst verstanden hat, wenn man diese Absicht
-auf Selbstführung, Selbstheiligung, Selbstvergottung verstanden hat.
-Der Priester soll hier künftig nicht mehr des Kelchs allein genießen,
-sondern auch der Laie soll des Kelchs genießen, -- das will besagen,
-daß jeder Christ ausnahmlos des magisch-sakramentalen Mittels der
-Vergottung ohne Abzug, ohne Minderung teilhaftig werden will. Der
-Priester soll hinfort nicht mehr die Ohrenbeichte entgegennehmen
-dürfen, sondern der Laie soll seine läßlichen und tödlichen Sünden
-seinem Herr-Gott selber beichten, -- das will besagen, daß sich
-jeder Christ ausnahmlos die Kraft der Lossprechung und Entsündigung,
-der Sühne und der Buße selber vorbehalten weiß. Der Priester
-soll fürder nicht die Entscheidung treffen dürfen, was da in
-Glaubensangelegenheiten statthaft und verwehrt, was sinngemäß oder
-verkehrt sei, -- das will besagen, daß die Vernunft jedes Christen
-ausnahmlos erleuchtet genug, daß sein Gewissen geschärft genug sei,
-um das für ihn gültige Urteil über die Lehre selbst zu fällen. Und
-wenn der Priester, wenn die Kirche ihre grenzenlose Macht über
-den mittelalterlichen Menschen ausschließlich dadurch erlangt und
-erhalten hatten, daß sie sich die alleinige Sachwalterschaft über die
-Gnadenmittel anmaßten und mit der Verweigerung dieser jeden einzelnen
-Christen außerhalb der christlichen Gemeinschaft stellten als einen
-nicht nur gesellschaftlich, sondern auch religiös Friedlosen und
-Geächteten, so trifft der folgerichtige Protestantismus diese Macht
-zu Tode, wenn er zuletzt die Gnadenmittel selbst verwirft. Nicht
-durch Brot und Wein vergöttlicht sich nach seiner Auffassung der
-Mensch, vielmehr er ist vergöttlicht vor Urbeginn der Zeiten durch
-die Auswahl Gottes, oder er ist’s nicht. Ausgewählt aber ist zuletzt
-jeder, der ausgewählt sein will: ausgewählt ist jeder, der sein Leben
-als ein Auserwählter selbst zu führen, selbst zu gestalten, selbst zu
-verantworten fähig ist. Der von Gott Erwählte erweist sich dieser Art
-ganz wesentlich als der von sich selbst Erwählte. Unerschütterlich
-bemüht, in allen Dingen des Wandels dem Urbild des Begnadeten gerecht
-zu werden, bestätigt er sich als der Begnadete. Augenscheinlich also
-in Kern und Wesen der Persönlichkeit bis zu einem schauerlichen
-Grade von Gott abhängig, von Gott erlesen oder von Gott verworfen und
-jedenfalls nur Gottes totes Werkzeug, verlegt in Wahrheit doch eben der
-kalvinistische, der independentistische, der puritanische Protestant
-die letzte Entscheidung über sich selbst durchaus in sich selbst: er
-selber hat es ja in der Hand, sich als Erlesener oder Verworfener zu
-bezeugen durch die Art, wie er sein Leben führt und meistert. Wer da
-der Herr seines Lebens ist, wie ein steingemeißelt Standbild auf sich
-selber fußend und für sich selber wesend, niemandem untertänig als der
-Pflicht schlechthin, als Auserwählter, als Begnadeter, als Erlesener
-sich zu bewähren, der ist wahrhaftig auserwählt, der ist begnadet, der
-ist erlesen...
-
-Aus diesem Sachverhalt heraus wage ich Protestantismus ganz allgemein
-die grundsätzliche Überzeugung zu nennen, wonach die religiöse Tat der
-Welt- und Seelenrettung dem Menschen selbst, dem diesseitigen in Zeit
-und Raum, obliege. Und dementsprechend heiße ich Katholizismus jede
-Zuversicht und jeden Glauben, wonach die religiöse Tat von Gott und
-Göttern, weltherrschenden und heilfördernden, vollbracht wird: dann
-aber von ihnen her dem Menschen magisch, liturgisch, sakramental auf
-Gnadenwegen übermittelt wird, genau wie dem Kommunikanten die Tat des
-Gott-Opfers in der Gestalt der Hostie als Speise zubereitet dargereicht
-und gespendet wird... Katholizismus also finden wir allerwärts, wo das
-ewige Mysterium der Heilstat in Himmeln und Überhimmeln weltrettendes
-Ereignis wird; Protestantismus finden wir imgleichen allerwärts, wo
-dasselbe Mysterium diesseit der Himmel inwendig in uns gefeiert wird,
-diesseit der Himmel und inwendig in mir, diesseit der Himmel und
-inwendig in dir, o Christ! Um einerlei Ding handelt sich’s darum beim
-Protestantismus unserer europäischen Wirklichkeit bei allen Völkern
-und zu allen Zeiten. Einerlei Ding ist zuletzt gemeint und einerlei
-Ding ist es bei Heiden und bei Christen, wenn der Prophet Aischylos
-die Sühne für Blutfrevel weder durch fletschende Erinnyen bewirkt
-werden läßt noch durch Apollon Phoibos, und solchermaßen die üblichen
-Sakramente der Wiederherstellung als unnütz kraft eigener Entscheidung
-kurzerhand verwirft; -- und wenn Bruder Martinus in wütender
-Herzensqual die vollkommene Unwirksamkeit aller Gnadenmittel der Kirche
-an seiner sündigen Seele erfährt. Einerlei Sache ist gemeint bei Heiden
-und Christen, ob Aischylos einen attischen Areiopagos sinnbildlich
-einsetzt als Gewissens-Gericht, oder ob Luther das evangelische Urwort
-von der Sinnesänderung innig begrüßt als das Loswort von seinen Ängsten
-und Wirbeln. Es ist dies einerlei Ding, einerlei Sache, einerlei Sinn
-gewesen, für welches freilich der dröhnende Glockenmund des attischen
-Tragöden zuletzt so wenig das zutreffende Wort zu erstammeln wußte wie
-die erzschmelzende Flammenzunge des erfurter Doktors...
-
-Nach dieser Ausweitung und Vertiefung des Sachverhaltes
-‚Protestantisch‘ ziemt uns ein Blick zurück auf die Ursprünge des
-Christentums, ihr Christen. Was nämlich diese Ursprünge anbetrifft,
-so kann uns der vielleicht doch nicht erwartete Umstand nicht länger
-entgehen, daß sie selbst unleugbar protestantischer Beschaffenheit
-sind. Ein neuer Gott ist es, im Kampf mit sämtlichen alten Göttern,
-der hier die Tat der Welt- und Seelenrettung auf sich nimmt. Ein neuer
-Gott, im Kampf mit sämtlichen alten Göttern, sag’ ich, nimmt die
-Tat auf sich: aber doch nur dadurch, daß er in menschlicher Person
-erscheint und das Menschliche mit seinen Bitternissen menschlich
-teilt. Der Held des Christentums -- und das ist keineswegs sein
-Stifter! -- ist Gott und wird Mensch, weil er einzig in seiner
-Eigenschaft Mensch zu vollenden vermag, was Jahve-Hypsistos der
-Unmenschliche unter keinen Umständen zu vollenden fähig ist. Möget
-daher ihr Christen Ursprung und Herkunft des Christentums ansetzen,
-wie es euch zweckmäßig oder wie es euch richtig zu sein dünkt, --
-diese Grund-Tatsache liegt allem zugrunde, was immer auch später
-auf sie errichtet und getürmt sei. Der Gott mußte Mensch werden, um
-den Menschen fortan noch Gott zu sein; der Gott mußte des Menschen
-Kreuz auf seine Schulter bürden, damit der Mensch den Heiland bei
-sich glauben könnte: _Deum de deo, lumen de lumine, deum verum de deo
-vero, genitum non factum, consubstantialem Patri: per quem omnia facta
-sunt. Qui propter nos homines et propter nostram salutem descendit
-de coelo. Et incarnatus est de Spiritu sancto ex Maria virgine: Et
-homo factus est..._ Dies war von allen Götterstürzen der Jahrtausende
-der weithin schmetterndste und abgründlichste. Nicht daß Jesus der
-Mensch in den Olympos eingedrungen ist, wo Zeus der hochbetagte und
-längst nicht mehr hochdonnernde Vater Kronion wachträumend schon
-eine lange Weile auf seinem Hochsitz eingedämmert war (wie Greise
-vor Tisch oder nachher ein wenig einzunicken pflegen), und wo Psyche
-fürbittend und vermittelnd die Hand des Eindringlings voll Demut
-greift, indes die anderen Olympier wie ein aufgestöbertes Volk Ameisen
-wild durcheinanderwirren, -- dieses wahrhaftig nicht! Vielmehr daß
-dieser ‚vom heiligen Geist aus der Jungfrau Maria fleischgewordene‘
-Gott und Nicht-mehr-Gott, menschlich aus der Sphäre seiner Gottheit
-herausgetreten, nun auch den alten Jahve-Hypsistos, bisherigen
-Schöpfer- und Herrschergott schlechthin, aus dem Bewußtseinsraum
-eines gleichsam neu belichteten Menschheitgewissens unwiderstehlich
-verdrängte. Das war die große Tatsache der neuen Religion, die
-bahnbrach; und Gnostiker, paulinische Urchristen, Marcioniten, Arianer
-haben dies auf ihre verschiedene Weise alle mit Bestimmtheit begriffen,
-ehe die Kirche die klare Wahrheit dogmatisch beschattete und von allen
-ketzerischen Abweichungen die am grausamsten unterdrückte, welche in
-Jesus dem Gott-Menschen wesentlich den Menschen und nur diesen sah.
-Damit aber war schließlich das Merkwürdige geschehen, daß in eben
-dieser Kirche weder der Katholizismus noch der Protestantismus religiös
-zum völlig reinen Austrag gelangen konnte. Auch die Kirche, die sich
-die allgemeine nannte und ‚in diesem Zeichen‘ siegte, mußte in ihr
-Credo das christliche Urerlebnis aufnehmen: _Et homo facius est_.
-Auch die Kirche konnte den heimlichen Protestantismus, der in diesem
-_Credo_ wie in verbotener Schwangerschaft keimte, höchstens in seinem
-Wachstum hemmen, aber nicht töten, -- sie hätte denn mit dem Kind
-die Mutter selbst getötet. Gott ist Mensch geworden, um den Menschen
-göttlich zu erlösen; das Wort ist Fleisch geworden, um das Fleisch zu
-kreuzigen und im Wort zu geistigen: dies bleibt in allem Katholizismus
-der Kirche ein protestantischer Rest- und Rückstand von unzerstörbarer
-Keimkraft und Gärkraft in allen Jahrtausenden. Und wiederum mußte
-sich dieser selbe Protestantismus umgekehrt in seinem eigenen Dogma
-mit dem ‚katholischen‘ Artikel vom Schöpfer Himmels und der Erden und
-vom Vater des Erlösers und Herrn durch alle Zeiten hindurchschleppen,
-stets unter dem Zwang, diesen Katholizismus grundsätzlich nicht
-leugnen zu dürfen oder nicht leugnen zu können, vielmehr als ‚Christ
-überhaupt‘ ausdrücklich anerkennen, ja billigen zu müssen: _Credo
-in patrem omnipotentem, factorem coeli et terrae, visibilium omnium
-et invisibilium..._ In der Lehre vom dreieinigen Gott hat mithin
-die Kirche die glückliche Formel gefunden, welche Katholizismus und
-Protestantismus als die gegenwirkenden Potenzen jeglicher Religion,
-nicht nur der christlichen allein, in einem stätigen Gleichgewicht zu
-erhalten ermöglichte. Im Besitz dieser dogmatischen Lehre ist seither
-die katholische Kirche in Wahrheit nicht minder protestantisch wie
-katholisch, sind seither die protestantischen Kirchen und Sekten in
-Wahrheit nicht minder katholisch wie protestantisch. Mit ungeheuerer
-Kunst hat das christliche Glaubensbekenntnis bis zur Stunde die
-zwei unversöhnlichen Ur- und Widerkräfte des religiösen Lebens zu
-binden verstanden, also daß keine noch so eigensinnig protestantische
-Verwahrung den katholisch-judäischen Weltengott Jahve-Hypsistos dem
-christlichen Bewußtsein hat entfremden, hat entwenden können, -- wie
-auf der anderen Seite keine noch so katholische Wiederherstellung des
-echten und wahren Glaubens den protestantisch-judäischen Gottmenschen
-Jesus preiszugeben oder zu opfern gewagt hat.
-
-Wie nun, ihr Christen?
-
-Bei uns westlichen Menschen ist es die Kirche gewesen, welche die
-Religion des fleischgewordenen Wortes als Mythos, als Dogma, als
-Liturgie zur Herrschaft gebracht hat, durch eben diese Tat einer
-gleichsam vorbeugenden Klugheit, die etwa doch schon als vorbeugende
-Weisheit verehrt, als vorbeugende Weisheit gepriesen zu werden
-verdiente. Die Kirche ist damit jeder einseitigen Entscheidung
-über eine ausschließliche Katholizität oder eine ausschließliche
-Protestantik frühzeitig zuvorgekommen, möchte dies nun zum Segen
-oder zum Unsegen westlicher Menschheit ausgeschlagen sein. Dieses
-in seiner unendlichen Fruchtbarkeit bedenkend und erwägend, wollen
-wir indes nicht übersehen, daß die von der Kirche gewissermaßen
-synkretistisch vollbrachte Lösung des drohenden Zwiespaltes -- wenn
-diese Lösung nicht doch schon eine synthetische gewesen ist? --
-keineswegs christlicher Abstammung oder Erfindung gewesen ist, nicht
-einmal hellenischer oder hellenistischer, ja nicht einmal europäischer.
-Was der Kirche des Abendlandes und in tiefstem Einverständnis mit ihr
-den abendländischen Kirchen und sogar Sekten möglich ward, das ist
-schon viele Jahrhunderte vor dem entstehenden Christentum und seinen
-Urgemeinden daheim und in der Zerstreuung in Indien eine herrliche
-Wirklichkeit gewesen. Der indische Mythos vom Gottmenschen Krischna
-hat das nie mehr übertroffene, nie mehr erreichte Sinnbild vollendeter
-Durchdringung und Verschmelzung katholischer mit protestantischer
-Frömmigkeit aller Welt zum ewigen Muster dargestellt. Und wo wir vorhin
-der zusammensichtenden Leistung der Kirche Bewunderung zollten, ist
-jetzt die Besinnung auf jene Begebenheit am Platze, die im günstigsten
-Fall von der Kirche wiederholt, ob ich auch keineswegs sage: nachgeahmt
-wurde. Was dabei den indisch-brahmanischen Mythos vom christlichen
-einmal für alle mal auszeichnend unterscheidet, ist der Umstand,
-daß er keineswegs der metaphysisch unzulänglichen und philosophisch
-unhaltbaren Deutung einer Gott-Vaterschaft bedarf, um dem Verstand das
-Wunder des Mensch-Seins Gottes verstandesmäßig anzunähern. Keineswegs
-wird es hier für geboten oder auch nur für passend erachtet, daß
-der Eine Gott in die zwei Gegen-Tätigkeiten, Gegen-Wesenheiten der
-_Paternitas_ und _Filiatio_ zerspalten werde, um dem Begriff den
-Vorgang von Gottes Erdenwallen ein wenig begreiflich zu machen. Zum
-Behufe eindringlicheren Verstehens glaubte sich der Abendländer auf
-das plumpe und rohe Gleichnis beziehen zu müssen von der doppelten
-Geburt Jesu Christi in der Ewigkeit und in der Zeit, bewirkt durch eine
-geschlechtlich-übergeschlechtliche Zeugung im Schoß des göttlichen
-Vaters und durch eine geschlechtlich-übergeschlechtliche Empfängnis im
-Schoß der menschlichen Mutter: _Et ex patre natum ante omnia saecula;
-Et incarnatus est de Spiritu sancto ex Maria Virgine..._ Wo der
-Europäer sich in dem Labyrinth dieser halbwegs supernaturalistischen,
-halbwegs superspirituellen Ungeheuerlichkeiten hoffnunglos verirrt,
-da genügt dem so viel denkgeübteren Geist des Inders der schlichte
-Hinweis, daß dieser so und so gestaltige Krischna die diesmalige
-Erscheinung sei des ewigen Wesens, die diesmalige Verkörperlichung
-des körperlosen Eins-und-Alles, die diesmalige Versinnlichung und
-Versichtbarung des unsinnlich-unsichtbaren Urselbstes. Auch hier
-ruht die katholische und die protestantische Religiosität in einem
-feierlichen Gleichgewicht, aber dies Gleichgewicht ward hergestellt auf
-einer ungleich höher gelegenen, freieren, reineren Ebene der religiösen
-Erfahrung wie dort...
-
-
-Gott Krischna ist Mensch geworden aus dem ritterlichen, aus dem
-abenteuerlichen Bedürfnis des echten Helden. Gott Krischna ist
-Mensch geworden, um den Schutzlosen beizustehen, um die Übeltäter
-zu bestrafen, um die Gewaltherrscher zu stürzen, um die Leiden der
-Wesen zu lindern, um den Edeln eine Stätte zu sein, um die Elenden
-zu trösten, um die Kranken zu heilen. Gott Krischna, ihr Christen,
-ist Mensch geworden, weil jedes Weltalter verloren geht, dem nicht
-zur rechten Zeit der Held geboren wird, -- dem nicht zur rechten Zeit
-der Held sich selbst gebiert: denn wer würde je als Held geboren?
-Die Welt am Ende jedes Weltalters ist verloren, bis daß sie sich in
-der Geburt des Helden wiedergebiert und in des Helden Jugend selber
-sich verjüngt: also, ihr Christen, ist Krischna Mensch, ist Krischna
-Held geworden! Oder am Ende ist dieser Krischna Mensch geworden,
-damit ihm, dem Gott, zuletzt des Menschlichen nichts fremd geblieben
-wäre, _humani nihil a se alienum esse_, wie dieses am Schluß der
-zwölften Andacht streng wörtlich ausgesprochen wird. „Und was da
-immer Menschen bewegt, Menschen erregt und handeln läßt, im Verkehr
-untereinander, in ihren verschiedenen Werken, Zwecken und Absichten,
-sei es nun, daß sie mit Gewalt oder mit List, durch Überredung oder
-durch Geschenke oder selbst durch die Flucht ihre Ziele erreichen: dem
-allem wollte der Gott nicht fremd sein.“ Dem allem wollte der Gott
-nicht fremd sein, und so schlüpft er gleichsam in Gewand und Rüstung
-eines Helden, nicht anders wie in manchen Märchennächten am Tigris
-der Kalif Harûn-er-Raschîd in die Verkleidung eines Kaufmanns, eines
-Reisenden, eines Pilgrims schlüpfte, halbwegs um nach dem Rechten in
-allem Unrechten und Schlechten zu sehen, halbwegs um sich an Abenteuern
-zu ergötzen, vornehmlich aber um zu erleben, was sonst nur schlichte
-Erdensöhne im Guten oder Schlimmen zu erleben pflegen. Im übrigen, wozu
-die Rechtfertigung der hohen Selbstverständlichkeit, daß Gott wesenhaft
-alle Gestalten, Personen, Erscheinungen, Wirklichkeiten selber ist,
-daß er mithin auch jede einzelne von ihnen zu seiner bevorzugten Maske
-ausersehen kann, -- Maske aber ist griechisch πρόσωπον: Eine Usia, Ein
-Gott in vielerlei προσώποις! -- die er alsdann mit den unendlichen
-Kräften seiner Göttlichkeit zeitweilig lädt und anfüllt. Gott ist ja
-alles und verwirklicht sich in allem, warum für dieses eine mal nicht
-in der lieblichen Gestalt -- Gestalt aber ist griechisch πρόσωπον:
-Eine Usia, Ein Gott, in vielerlei προσώποις! -- dieses halkyonischen
-Jünglings? Warum für dieses eine mal nicht im Sohn des Kuhhirten Nanda
-und der Mutter Yasodâ, so manchen lieben Tag (wie dann späterhin wohl
-auch der evangelische Gottmensch) gewindelt und gewiegt im scharf
-duftenden Rinderstall: strahlend in goldener keuscher Fleischlichkeit,
-das Herz gewärmt am Busen der zärtlichen Gespielinnen auf den Fluren
-der Yamunâ, aber das Haupt geklärt, gekühlt am Gipfelfirn des Himâlayo;
-in wonnesamen Vollmond- und Erfüllungnächten mit den Mädchen seiner
-Heimat Reihen tanzend und mit ihnen in einem hold bukolischen
-Eleusis alle die eigenen Ruhm- und Wundertaten menschlich spielend,
-menschlich mimend, die Krischna der Gott begangen. Dieser Hirtenknabe
-ist der nämliche und selbe, der die Weltenschlange Kâliya besiegt, den
-Stier-Unhold Arischta an den Hörnern packt und auf die Erde schmettert,
-die Ringer des Königs Kamsa niederringt und Kamsa-Eurystheus-Herodes
-schimpflich tötet. Er ist der nämliche und selbe, der alleinig oder
-Schulter an Schulter mit dem Bruder Râma Heersäulen von Feindeskriegern
-in die Flucht schlägt und wiederum im anmutigsten, zartesten,
-lieblichsten aller Wunder das bucklichte Mädchen schlank und rank
-biegt, damit ihm, dem indisch-brahmanischen Herakles in Person, der
-zarte evangelische Einschlag nicht mangle vom Heiland als Arzt und
-Krankenheiler. Wie denn auch sonst, ihr Christen, evangelische Stimmung
-mit soviel Kraft und Reinheit angeschlagen wird, daß sie aus den
-Evangelien selbst nur noch wie ein schwacher später Nachklang sterbend
-zu uns herüberweht: so in der Schilderung adventischen Himmelfriedens,
-adventischer Weltwindstille in der Gnaden-Nacht der irdischen Geburt;
-so in der Erzählung vom bethlehemitischen Kindermord, den Kamsa, die
-Gottesgeißel, über die Länder verhängt aus Furcht vor dem Stärkeren und
-aus Neid auf den Edleren; so im Bericht von Krischnas Taufe durch Indra
-auf den Namen Govinda, das ist Rinder-Herr, mit dem heiligen Wasser der
-Yamunâ...
-
-Kurz und gut, es hat Gottes Allmacht hier gefallen, in der Verkörperung
-als Hirtenjüngling mit Lächelnsgleichmut Menschenunmögliches zu
-vollbringen und das Wunder der Wunder gottmenschlich vorzuleben:
-wie der Gott der Götter, wie der Mahâdeva selber, erhaben über alle
-Schranken der Gestalt, Persönlichkeit und Bewußtheit und unergründlich
-sogar für die Ergründung und Andacht, die Vertiefung und Sammlung,
-die Einigung und Anspannung -- Anspannung aber heißt Yoga! -- der
-Denker, Büßer, Waldeinsiedler: wie Mahâdeva dennoch Zug für Zug dieser
-bestimmte Mensch, Jüngling, Hirte sein könne. Denn fürwahr! Dieser
-Mensch, Jüngling und Hirte ist wesenhaft Brahman und wesenhaft Âtman,
-ist wesenhaft Brahmâ, ist wesenhaft Wischnu, ist wesenhaft Schiva,
-ist wesenhaft Kubera, ist wesenhaft Varuna, ist wesenhaft Yama, ist
-wesenhaft alle sinnlichen und himmlischen Götter, ist wesenhaft alle
-Halbgötter, Gandharven, Genien, Dämonen, Engel, Elementargeister,
-Elemente, Grundstoffe, Gemütskräfte, Lebenserscheinungen,
-Weltbegebenheiten, Täter, Taten und Werke. Und wie um diese unendliche
-Reihe göttlicher Wesenselbigkeiten und Einerleiheiten ins Unendliche
-fortzusetzen, erkennt der hochstaunende Prinz Arjuna in der
-Schwesterdichtung des Krischna-Mythos, uns Abendländern seit mehr als
-hundert Jahren unter dem Namen Bhagavad-Gîtâ, das ist θεσπέσιον μέλος
-oder des Erhabenen Gesang vertraut und teuer wie keine zweite Heilige
-Schrift des Ostens geworden, -- erkennt dieser hochstaunende Prinz
-Arjuna eben die menschhafte Verleiblichung des _bhagavân_ Krischna
-gleichsam als den platonischen ‚Ort‘, den überhimmlischen, aller Arten
-und Gattungen, aller Dinge und Wirklichkeiten. Krischna, des Prinzen
-Wagenlenker, der ist der Urfeldherr und Urpriester, der Urseher und
-Ursänger, der Urstrom und das Urmeer, der Urelefant und das Urrind,
-der Urvogel und Urfisch, das Urroß und die Urschlange, das Urwort und
-Urwissen, die Urwaffe und das Urwerkzeug. Krischna der Großarmige
-mit Wurfscheibe und Schwert, mit Keule, Bogen und Fahne, der ist
-Ursprung und Heimgang, Geburt und Tod, Anmut und Einsicht, Entschluß
-und Sieg, Größe und Reichtum, Rede und Schweigen, Opfer und Gesang,
-Metrum und Ritus, Same und Frucht, Jahrzeit und Luftraum, Wolke und
-Stern. Die ewige Entstehung und Vergehung, die ewige Wandlung alles
-Geworden-Werdenden, die ewige Stätte in allen Wandlungen ist Krischna.
-Die ewige Brunst in allen Zeugungen und Begattungen ist Krischna und
-der ewige Rausch der Zerstörungen und Verheerungen: der ewige Schoß
-blutender Geburten ohne Maß und Zahl und das ewige Grab faulender
-Tier- und Pflanzenleichen. Fratzenhaft schauerlich ist Krischnas, des
-goldigen Hirtenjungen, göttlich Gesicht, wie es das übermenschlich
-erhellte Auge des Prinzen Arjuna plötzlich neben sich auf dem
-Streitwagen vor dem Beginn der Schlacht erspähet: ein tausendgliedrig,
-sterneblitzend, flammenrädrig Sonnenlohenungeheuer auf einem Sitz von
-Totenschädeln, ohne Einhalt Wesen Wesen Wesen von sich speiend mit
-der gebärerischen Wurf- und Schwungkraft jungender Katzen, -- ohne
-Einhalt Wesen in sich schlingend mit der scheußlichen Gefräßigkeit
-nimmersatter Steppenwölfe... Verehrung aber jenem Seherauge, welches
-Krischna den Gott im Menschen Krischna schaute: Verehrung dem
-unbestechlichen Auge, welches Gott schaute, wie er ist, und dennoch an
-Gott nicht starb! Verehrung jenem Seher, welcher dem unbeschönigten
-Gott-Gesicht ehern standhielt, ohne im Irrsinn zu vergehen, ob ihn das
-Grausen auch im Eisstrom des eigenen Geblüts erfrieren und gerinnen
-ließ! Verehrung ihm, der ehrlich gegen Gott genug und tapfer gegen
-sich selbst genug war, um in Gottes Antlitz die Züge teuflischer
-Zerstörunglust und -wollust zu gewahren und sie sich selber nicht zu
-unterschlagen, wie es die Christen doch wohl (oder übel!) taten, die
-ihren Gott zum braven Lämmchen zähmten und zum ‚lieben Gott‘, dem
-jedermann sich bierbrüderlich und gemütlich zum Schmollis anbiedern
-darf... Verehrung insonderheit auch ihm, der als der erste in der
-glorreichen Drei-Gestalt Gottes des Schöpfers, Gottes des Erhalters,
-Gottes des Zerstörers just die Vernichtungmächte göttlich zu bejahen
-wagte. Und Verehrung endlich denen, die als namenlose Meister diese
-Mächte in steinernen Urgesichten sinn-bildender Skulptur zur Majestät
-jenes schivaitischen Typus zu gestalten wußten, dessen plastische
-Fragmente von der javanischen Hochfläche zu Dieng den späten Europäer
-dämonisch tief erschrecken, der sie aus seiner eigenen Selbst-Kenntnis,
-Dämon-Kenntnis tief zu erraten weiß...
-
-Jetzt also siehst du den Menschen, jetzt siehst du den Gott Krischna
-von Angesicht zu Angesicht. Jetzt wiederum siehst du kein Angesicht
-mehr, sondern gehst in dich selber, gehst in dein Selbst ein und in
-dir selbst ins Selbst und Herz aller Wesen und wirst des Wesens inne.
-Dich auf dein Du besinnend, einigst du dich mit dir selbst und mit
-dem Selbst der Welt, -- dies ist fürwahr _Om_ das Kleinod aus dem
-Lotos, _Om çom_ das All und Selbst des All, ruhend in menschlicher
-Gestalt, ruhend in göttlicher Gestalt, ruhend in gar keiner Gestalt
-auf der weißen Blume deines Geistes im Tempelteich säliger Erkenntnis.
-Dermaßen mischt in diesem Mythos aller Mythen sich innigst katholische
-und protestantische Frömmigkeit, daß man in keinem Augenblick mit
-zuverlässiger Eindeutigkeit behaupten kann, der Gott, der Mensch sei
-Täter der heilwirkenden Handlung. Der Täter selbst verharrt in völliger
-Durchdrungenheit von Gott und Mensch; seine Gestalt verleiblicht
-in sich die Summe sowohl aller welthaften Gestalt überhaupt, wie
-dessen, was jeglicher Gestalt spottet. Und dies alles nicht etwa
-auf den Umwegen des Christentums, wo der Mensch Jesus an der Natur
-Gottes nur teil hat auf Grund seines Gezeugtseins durch den Heiligen
-Geist: vielmehr in einer dem Abendländer gar nicht erreichbaren
-metaphysischen Unschuld sozusagen auf Grund der Wesenselbigkeit
-lebendiger Gestalt überhaupt mit dem Lebensurgrund selbst und des
-Lebensurgrundes Selbst! Im Gegensatz zum Christentum gilt es hier für
-völlig selbstverständlich, daß jedes Wirkliche noch etwas anderes sei
-als das, was es eben sei und scheine, und der Inder wenigstens hat
-sich nie den Kopf zerbrochen über das Mysterium des Westens, wieso
-und auf welche Weise der Gott Mensch oder der Mensch Gott geworden
-sei. Hier wurde, die Wahrheit zu sagen, weder der Mensch Gott noch der
-Gott Mensch: hier war er’s, hier ist er’s von allem Anfang an und vor
-allem Anfang und braucht es darum nie zu werden oder nie geworden zu
-sein. Unser krampfhaft westliches, allzu westliches Bemühen, alle die
-Rätsel der Welt und Überwelt _more historico_ durch die Geschichte
-ihres Geworden-Seins aufzulösen, entlockte dem Inder, wo er es
-überhaupt begriffe, nur ein Lächeln. Er, der geschichtlos Denkende und
-geschichtlos Wissende schlechthin, ist sich genau bewußt, daß nirgendwo
-in irdischen oder unirdischen Bezirken etwas wird, das nicht schon
-ist: daß folglich auch Gott je und je Mensch war und der Mensch je und
-je Gott, -- nie aber Mensch wurde oder geworden ist, nicht einmal im
-Jahre Null oder im Jahre Eins einer gar absonderlichen Zeitrechnung,
-ihr Christen. Das Jahr des Herrn, da das Wort Fleisch ward, deucht den
-Schöpfer des Krischna-Mythos und der Bhagavad-Gîtâ von Ewigkeit her, --
-von Ewigkeit her ist der Gott Mensch, ist der Mensch Gott!
-
-Noch hat es aber damit für den Aufmerkenden eine andere Bewandtnis. Die
-abendländische Vernunft, Jahrtausende um dieses Rätsels Enträtselung
-sich befleißigend, sie hat sich bekanntermaßen zu ihrem eigenen
-Gebrauch etliche Hand- und Fußschellen angelegt, oder richtiger
-eigentlich Haupt- und Geistschellen, die sie an jeder freieren
-Beweglichkeit behindern müssen. Mit diesen Haupt- und Geistschellen
-fesselte die Vernunft des Abendlandes sich selber und nannte ihre
-Fesseln die Grundsätze der Logik, als da ist die Grundregel von
-der sogenannten Identität, Einerleiheit oder Dieselbigkeit, wonach
-jeder Denkinhalt mit sich selber einerlei, und zwar lediglich mit
-sich selber einerlei sei; -- die Grundregel ferner vom Widerspruch,
-wonach von zwei einander ausschließend widersprechenden Urteilen nur
-eins wahr sein könne. Der Grundsatz von der Einerleiheit und der
-Grundsatz vom Widerspruch, das war der Bleikiel, der die schwanke
-Jacht des europäischen Denkens vor dem Kentern wahren sollte, wenn
-sie auslief. Denn offenbar erschien sich dieses Denken selber mit
-allzuwenig Gewicht beschwert, um die Gefahr des Kippens und Kenterns
-nicht vor allen Gefahren zu fürchten. Was nun allerdings die zweite
-dieser Vernunftregeln betrifft, die angeblich zeitlos gültig und
-allgemein sind, so kann es dem halbwegs vorurteilfreien Beobachter der
-europäischen Wissenschaften auf die Dauer ganz unmöglich ein Geheimnis
-bleiben, daß sämtliche Systeme der großen Dialektik den Satz vom
-Widerspruch entweder ausdrücklich mit Worten oder aber tatsächlich
-außer Kraft gesetzt haben. Von Herakleitos dem Hellen bis auf Nietzsche
-und von dem Stagiriten bis auf Kant, Hegel, Marx ist die abendländische
-Philosophie zuletzt nichts anderes gewesen als das mit mehr oder
-minder tauglichen Mitteln unternommene Wagnis, wenigstens diese
-hinderlichste aller Fesseln einer unbefangenen Erkenntnis zu sprengen:
-mit immer größerer Rücksichtlosigkeit ward der Vernunftwiderspruch,
-die Kontradiktion und Kontraposition, die Antithesis und Antinomie
-wie ein Sporn in die Flanke der Welt gebohrt, der sie vorwärts zu
-rasender Bewegung stachelt. In ihrer sogenannten Logik scheint mithin
-die Abendlandwissenschaft den Satz vom Widerspruch nur aufgestellt zu
-haben, damit sie ihn in ihrer sogenannten Dialektik wieder aufzuheben
-vermöchte, und gleichsam um sich für diese freche Verwegenheit selbst
-zu strafen, hat dann die Vernunft des _homo europaeus_ an dem anderen
-Grundsatz von der Dieselbigkeit und Einerleiheit mit desto strengerer
-Treue festgehalten. Jedweder Denkinhalt ist mit sich selber einerlei
-und lediglich mit sich selber, so urteilt die westländische Vernunft
-in der unerschütterlichen Überzeugung, hier als ‚Vernunft überhaupt‘
-zu urteilen, -- und noch hat sich keine Dialektik und noch nicht
-einmal eine Sophistik erdreistet, das Zeichen der Frage auch hinter
-diese Denkfessel und Denkhemmung zu setzen. Jeder Denkinhalt ist
-mit sich selber einerlei, urteilt nun freilich auch die Vernunft
-jener indischen Rasse, welcher wir Veda, Upanischaden und die großen
-Epen zu danken haben, -- aber der Denkinhalt Gott, fügt dieselbe
-Vernunft eilends berichtigend hinzu (und eilends beschwichtigend), der
-Denkinhalt Gott ist einerlei mit sich selber und zugleich einerlei
-mit allen Denkinhalten und Weltinhalten sonst. Gott ist er selber,
-und hinsichtlich dieser Unumstößlichkeit bleibt der Satz von der
-Identität durchaus gültig. Aber Gott ist außerdem alles, was ist und
-doch nicht Gott ist, und hinsichtlich dieser Unumstößlichkeit gilt der
-Satz von der Identität für Gott nicht. Alles was ist und Gott nicht
-ist, ist letzthin doch Gott, ist letzthin doch Gott-Selbst; Gott als
-dem Urselbst ist es gemäß, Er-selbst und Es-selbst zu sein und daneben
-noch sämtliche Wesenheiten und Dinge, benennbare und unbenennbare,
-wahrnehmbare und unwahrnehmbare. Gott ist es gemäß, sich in das
-Doppel- und Wider-Sein des Ich-Nichtich zu spalten und jedwede Gestalt
-des Leibes, jedwede Gestalt des Geistes gütig anzunehmen und alle
-aneinander zu reihen, ohne sich mit einer einzelnen Gestalt der Reihe
-oder auch mit allen zusammen seinem Begriff nach zu decken. Gott ist
-Gott und Gott ist nicht Gott und Nicht-Gott, beides auf seine göttliche
-Weise. Gott ist Gott, aber Gott ist auch Ich-Nichtich, Gott ist auch
-Subjekt-Objekt, Gott ist auch Puruscha und Prakriti, Gott ist auch
-‚Feldkenner‘ und ‚Feld‘, Gott ist auch Prajâpati und Mahâmâyâ, Gott
-ist auch Sein und Nicht-Sein, Gott ist auch die fünf Elemente und die
-Qualitäten, Gott ist auch das Wesen und die Wesen zumal. Wohl sagt
-Gott: Ich bin Ich. Aber Gott sagt imgleichen: Ich bin Du und Du bist
-Ich, und Ich bin Es und Es ist Ich. In der Kauschîtaki-Upanischad wird
-der abgeschiedenen Seele die nie zu vergessende Antwort, das nie zu
-vergessende Urwort gleichsam als Lösewort in den Mund gelegt, wenn ihr
-der Himmelspförtner Mond die Frage aller Fragen vorlegt: Wer bist Du?
--- Du bin Ich! Mit diesem ‚Du bin Ich‘ kann die abgeschiedene Seele in
-den Himmel eingehn, von welchem sie herkommt, und mit dieser Antwort
-ist Indiens unsterbliche Seele wahrlich in den Himmel eingegangen. Du
-bin Ich, Mond bin Ich, Himmelspförtner bin Ich, alle Himmel selber bin
-Ich und aller Dinge Himmel und Überhimmel. Also vollendet sich die
-indische Schauung der Identität, indem sie alle Identitäten sprengt;
-also erfüllt die indische Selbst- und Gotterfahrung den Satz von der
-Einerleiheit und Dieselbigkeit, indem sie ihn aufhebt. Alles Seiende
-ist eins mit sich und eins mit allem anderen Seienden: Nichts ist
-eins mit sich allein und Nichts ist nicht eins mit allem anderen.
-Und nicht empedokleisch, ihr Christen, dürfen wir dies verstehen,
-als ob der indische Mahâdeva zu sich selber spräche: Einst war Ich
-Knabe und Mädchen und Busch und Vogel und flutenttauchender stummer
-Fisch. Sondern vedisch und upanischadisch und episch sollen wir es
-verstehen: Stets bin Ich Knabe und Mädchen und Busch und Vogel und
-flutenttauchender stummer Fisch: stets bin Ich alles, was ist und
-nicht ist zumal und jetzt und immerdar, und nicht etwa nach der Reihe
-im Nacheinander der Zeit. Dieweil der indische Gott Er selber und
-darüber hinaus das ist, was nicht Er selber ist, erweist er sich in
-der Sprache der Vernunft als einerlei und vielerlei in einem, als
-dieselbig und unterschieden in einem. Seine Identität aber beruht
-darauf, daß in bezug auf ihn alles die eigene Identität verliert, um
-die Identität Gottes zu gewinnen, die offenbar höher und tiefer ist
-als alle Vernunft. Daß ein Denkinhalt er selber ist und zugleich
-noch anderer, -- das ist mithin in Rücksicht auf Gott die indische
-Fassung des Grundsatzes von der Einerleiheit und Dieselbigkeit,
-auf das Bedeutsamste unsere abendländische Fassung ergänzend und
-vervollständigend, aufhebend und überwindend.
-
-Und dennoch ist diese tiefste und fruchtbarste aller Paradoxien,
-Paralogien irgendwie eingedrungen auch in unsere westliche Welt, wenn
-nicht in die Wissenschaften und wenn nicht in die Religionen, so doch
-wenigstens in unsere Märchen, und zwar am duftigsten, ahnungreichsten,
-erinnerndsten, ihr Deutschen, in unser deutsches Märchen. Im deutschen
-Märchen, welches sich selbstherrlich seine eigenen Gesetze und seine
-eigene Vernunft zu schaffen wußte, im deutschen Märchen säuselt
-und wispert ein Hauch dieses indisch-unnennbaren Fühlens und hebt
-sehnsüchtig an zu singen und zu klingen, wie eine Quelle in der Nacht
-zu singen und zu klingen anhebt, da untertags der Tag dem Tag allein
-Gehör gab. Erinnerungen, köstliche und nie versiegte sind es, wenn
-beispielweise in den Volksmärchen des Musäus der Berg- und Erdgeist
-Rübezahl brahmanisch hinüber- und herüberwechselt in Gestalt und Person
-eines Riesen, eines Köhlers, eines Ritters, eines Handwerksburschen,
-eines Prinzen, eines Ratsherrn, und sich bald wischnuhaft als Erhalter
-und Beschützer, bald schivahaft als Verderber und Zerstörer kundgibt.
-Und lebhaftere, stärker glühende Erinnerungen an Indien sind es,
-vielfach schon am Bewußtsein der eigenen Sehnsucht bewußtgenährt
-und gekräftigt, wenn etwa in Hoffmanns romantisch-klassischem Kunst-
-und Künstlermärchen vom Goldenen Topf der Geheime Archivarius
-Lindhorst gar wundersam proteisch behaust ist in seinem Bücher- und
-Handschriftenzimmer zu Dresden, jetzt Archivarius und Beamter in
-Königlich Sächsischen Diensten, jetzt Element, jetzt Feuergeist,
-jetzt Geisterfürst, jetzt Salamander, jetzt Feuerlilienbusch, jetzt
-brennender Arrak; wenn ferner (und wer weiß wie ferne schon?)
-dieses Gemaches azurne Schimmerwände von goldenen Pilastern brauner
-Palmbaumschäfte edel aufgeteilt erscheinen, die Blattrippen aber der
-Palmbaumkronen sich zur runden Kuppel wölben aus Smaragd und Schaft
-wie Blatt und Krone in einem sanften Mittagwind sich wiegen; wenn
-unter dieser Kuppel dann von Smaragd Student Anselmus manch magisch
-Pergament mit Fleiß kopieret (als welches Lindhorst in Gestalt von
-Blättersprossen aus dem Schaft der Palmen zog), um sich das Schlänglein
-Serpentina, des Salamanders Tochter, durch peinlichst saubere,
-peinlichst genaue Nach- und Abschrift der unleserlichen Hieroglyphe
-‚Schöpfung‘ gleichsam zu erschreiben... Wenn irgendwo, so steigt es
-hier, ihr Abendländer, wahrhaftig in uns Abendländern purpurn auf mit
-einer Melodie, die Herz und Seele wie eine Traube herbstlich schwellen
-macht vom Saft des eigenen Bluts: Kennst du das Land?...
-
-Als Krischna der Hirtenjüngling, als Krischna der Held, als Krischna
-der Wohl- und Wundertäter abenteuert also, verstehen wir endlich
-diesen Sachverhalt in seiner unermessenen Wichtigkeit richtig, der
-ewige Gott Wischnu in der Welt umher, -- gleichsam einem tiefsinnigen
-Wort zur vollkommenen Erläuterung, welches Hegel zur Kennzeichnung
-des indischen Geistes nutzte: „Es ist Gott im Taumel seines Träumens,
-was wir hier vorgestellt sehen.“ Es ist Gott im Taumel seines
-Träumens, ihr Christen, der hier als Krischna-Wischnu gottmenschlich
-die Welt durchstreift. Und eben weil dieses sich so verhält, wird
-nicht nur jedes Abenteuer des Helden Krischna zugleich als Heilswerk
-und Heilstat Gottes selbst gewerkt, sondern muß außerdem auch von
-der nachträglichen Betrachtung in solcher Doppelsinnigkeit durchaus
-gewürdigt werden. Unmöglich zu sagen, ob der Mensch als Mensch oder
-ob der Gott als Gott Urheber dieser Werke und Vollbringer dieser
-Taten sei. Entscheiden wir uns für Gott, so ist es Gott doch nur
-in der Gestalt des Hirtenjünglings Krischna, welchem kraft dieser
-angenommenen Gestalt des Menschlichen nichts fremd geblieben ist.
-Entscheiden wir uns aber für den Menschen, so ist es der Hirtenjüngling
-Krischna nur im Vollbesitz der göttlich in ihm angehäuften, angestauten
-Weltenkräfte, der soviel Wunderbares tut. Darin besteht eben nach
-indischem Erleben das Mysterium der Gottmenschheit, daß es in keinem
-Augenblick gottmenschlichen Daseins möglich ist, den Nachdruck
-allein aufs Göttliche oder allein aufs Menschliche zu legen: Gott
-ist Mensch, und Mensch ist Gott auf Grund einer nichtidentischen
-Identität beider, indes der abendländische Mythos den Heiland
-Mensch geworden sein läßt vermöge einer mehr wie fragwürdigen
-geschichtlichen und einmaligen Vaterschaft des Heiligen Geistes, der
-gewissermaßen in Stellvertretung des Jahve-Hypsistos den Schoß der
-Jungfrau Maria in übergeschlechtlicher Begattung schwängert. Derart
-ist Jesus bei Lebzeiten eigentlich nur Mensch, Gott aber wesentlich
-nur vor der Empfängnis im Fleische der Mutter Maria und abermals
-nach seiner Himmelfahrt, wohingegen Krischna just bei Lebzeiten und
-während des irdischen Wandels Gott ist. Mangels einer zureichenden
-Metaphysik bleibt Jesus im Weltbild des Abendländers eine einmalige
-Ausnahme-Erscheinung der Zeit, die wenigstens für den verständigen
-Christen etwas Anstößiges, ja Unheimliches nie ganz abzustreifen
-vermag: jedoch in Indien kann sich der Vorgang Krischnas unendlich
-und grundsätzlich wiederholen und hat sich wirklich auch wiederholt.
-In unterschiedlosem Durchdrungensein ist Krischna durchaus Mensch
-und durchaus Gott, dieweil es Gottes tiefste und höchste Eigenheit
-bedeutet, Er selbst und ein anderer zumal zu sein. Ob er aber für den
-Zuschauer von außen im Augenblick mehr dieser oder im Augenblick mehr
-jener sei, das hängt vom Zuschauer ab und des Zuschauers Stellungnahme,
--- das hängt von des Zuschauers Kraft der Zusammensichtung ab und von
-seiner Gabe der Ineinanderschau. In der religiösen Geographie und
-Kosmographie jedenfalls bedeutet Krischna die Mittaglinie oder den
-Gleicher, wo die Weltkugelhälfte Gott mit der Weltkugelhälfte Mensch
-in ihrem größten Kreis Berührung und Gemeinsamkeit findet, also daß
-eine bessere Ausgleichung zwischen Gott und Mensch schlechterdings
-nicht mehr vorstellbar ist. Dieser Mythos gibt mit unübertrefflicher
-Gerechtigkeit Gott, was Gottes ist, und dem Menschen, was des Menschen
-ist. Und wenn jemals auf dieser Erde die katholischen und die
-protestantischen Grundmächte der Religion in ihrer _balance of power_
-verharren, so geschieht es hier im Indien des epischen Weltalters
-und jener epischen Weltfrömmigkeit, von der uns die Bhagavad-Gîtâ
-eine Probe kosten läßt. Wäre ein menschlicher Zustand denkbar, in
-welchem alle geistleiblichen Spannungen gelöst erscheinen und wo kein
-innerlich-äußerliches Gefälle mehr zu bemerken ist, dann wäre kein
-Absehn, warum mindestens die führenden Religionen des Südostens diesen
-in seiner Art vollkommenen Urstand erworbenen Gleichgewichts der beiden
-Hauptgewichte des religiösen Daseins hätten aus freier Entschließung
-je preisgeben sollen. Gesetzt, ein solch vollkommener Urstand wäre
-auf die Dauer möglich oder könnte selber Dauer werden, -- der Mythos
-vom Gottmenschen Krischna wäre als höchstgültige, ja endgültige
-Stufe menschlicher _religio_ überhaupt zu werten, als schlechthin
-reifste Kristallisation religiöser Lebens- und Seelenmächte: ein für
-allemal dadurch ausgezeichnet, daß er katholische und protestantische
-Strebungen noch auf ganz andere Weise miteinander zu versöhnen weiß
-als der Mythos vom Christus. In diesem Fall verkörperte der Mythos
-vom Krischna die Religion als solche, die einzige, die uns Menschen
-völlig gemäß wäre und frömmstes Hingegebensein an Gott mit innigstem
-Hingegebensein an den Menschen für immer verschmölze zu einer Formung,
-Bindung und Verpflichtung ohne Vorgang und Vergleich. Hier gattete sich
-höchstes Schöpferglück über ein welthaft irdisches Gestalten ohne Maß
-und Schranke mit tiefster Erlöserlust an weltlich-irdischer Entstaltung
-und Verlöschung. Hier brauchte sich nicht länger schmerzlich mehr der
-Gott des Menschen oder der Mensch des Gottes zu schämen und einer den
-anderen dreimal verleugnen, ehe daß es Tag wird...
-
-Inzwischen gibt es nirgendwo ein Leben, seines Namens würdig, das
-auf die Dauer ohne Unterschiede der inneren und äußeren Spannung,
-des leiblichen und seelischen Gefälles bestehen könnte. Nirgendwo
-gibt es ein solches Leben, weder im Umkreis des bloß gelebten, recht
-eigentlich noch pflanzenhaft-tierhaften Lebens, noch im Umkreis des
-schon vollbringenden und wirkenden, recht eigentlich menschlichen
-Lebens, -- so wenig wie es eine Musik aus lauter Pausen gibt. Wer
-näher an den Krischna-Mythos herantritt und die Goldworte dieses
-himmelschönen Gedichtes auf der Goldwage des Geistes prüfend wägt,
-der gewahrt denn auch bald in ihm die Kräfte schon heimlich am Werk,
-welche die Gewichte früher oder später nach der einen, nach der anderen
-Richtung hin verschieben müssen. Es mag vielleicht der seltensten,
-reichsten, reinsten Ahnung da oder dort enttagen, daß Gott und Mensch,
-Wesen und Wirklichkeit, Selbst und Dasein in Wahrheit Eins-und-Alles
-sind. Derartiger Ahnung mag es in gnädiger Geberstunde wohl enttagen,
-daß Gottes Urselbst gewissermaßen drei Gürtel, drei Zonen, drei Lagen
-mit sich selber fülle: nämlich die Zone der gestaltlosen Gottheit
-oder auch die Brahman-Âtman-Zone; die Zone ferner der gestalthaften
-Götter oder auch die Brahmâ-Wischnu-Schiva-Zone oder schlechtweg die
-Krischna-Zone; die Zone endlich der Weltwirklichkeit-Menschwirklichkeit
-oder auch die Prakriti-Zone, das ist die Zone der natürlichen Schöpfung
-oder _natura naturata_. Diese drei Zonen, Gürtel oder Lagen des
-Seins, sag’ ich, fülle das göttliche Urselbst mit seines Urselbstes
-Götterkräften, und daß sich dieses also verhält, werde der Erkenntnis
-in Offenbarungstunden offenbar. Ob aber indes Gottes Urselbst auch
-diese Lagen der Dreiwelt zu seinem Teil stätig fülle, wie etwa ein und
-derselbe Wind das Segel der oberen, das Segel der mittleren, das Segel
-der unteren Ra füllt, -- der Mensch ist zu seinem Teil doch zu wenig
-Gott, um die Dreiwelt gleichmäßig und stätig zu seinem Teil zu füllen.
-Sicherlich! Für Gott und von Gott her schließen sich mitnichten aus:
-Krischna das ewige Selbst der Welt, Krischna-Brahmâ Krischna-Wischnu
-Krischna-Schiva jenseit hiesiger Menschenwelt, und Krischna der blonde
-Hirtenjüngling auf den Gefilden der Yamunâ. Für Gott und von Gott her
-schließen sich diese drei nicht aus und vielleicht auch nicht für den
-Brahman-Kenner und vom Brahman-Kenner her, wenn sich auch freilich
-hier schon Schwierigkeit auf Schwierigkeit türmt. Jedoch der tätige
-Erdensohn, der es im Wissen allein und ununterbrochen nicht aushält,
-ja der nicht einmal als Brahman-Kenner und -erkenner den Zustand
-Brahman-Âtman dauernd aushält: er drängt zu eindeutiger Entscheidung,
-welch einer der Dreiwelten Gottes er sich nun seinerseit heilstätig und
-werksälig zu widmen habe. Zwar gibt es der Zugänge zu dieser ummauerten
-Feste der göttlichen Dreiwelt gleichfalls drei, sämtliche ins Herz der
-Feste führend. Zum Âtman-Brahman führt der Erkenntnis-Vertiefungs-Pfad
-empor oder sonst _jñâna-mârga_ geheißen; zum
-Brahmâ-Wischnu-Schiva-Krischna führt der Verehrung-Andacht-Pfad empor,
-sonst etwa Minne-Liebes-Pfad oder _bhakti-mârga_ geheißen; und wo Gott
-nicht ist, vielmehr Prakriti die Natur alleinig waltet und neben,
-außer, mit ihr vielleicht Puruscha, der Geist, das Ich noch, da führt
-am ehesten der Taten-Werke-Pfad zum Heil, sonst wohl auch _karma-mârga_
-geheißen. Von diesen drei Pfaden bewirkt nun freilich jeder einzelne
-auf völlig gleiche Weise das, was Not tut und Not wendet, und kein
-Suchender geht fehl, der einen von ihnen auswählt und diesem in Treuen
-folgt. Aber das ist es ja eben, daß von diesen dreien ein einziger
-erwählt sein muß, da unmöglich alle drei von ein und demselben Menschen
-zugleich: mit einiger Hoffnung auf Erfolg nicht einmal nacheinander
-beschritten werden können. Keineswegs gedeiht ja jedes Wesen in
-jeglicher Umwelt; keineswegs bewegt sich ja dasselbe Lebendige im
-Wasser, auf der Erde, in der Luft mit ähnlicher Leichtigkeit und
-Behendigkeit; keineswegs wohnt ja ein und derselbe Mensch in jedem
-Gürtel der göttlichen Dreiwelt mit demselben Behagen, mit derselben
-Angemessenheit. Die Bhagavad-Gîtâ zwar, ihr Christen, sie finden
-wir mit übermenschlicher Gerechtigkeit beflissen, allen drei Pfaden
-die nämliche Wahrheit, Zuverlässigkeit, Richtigkeit zuzugestehen,
-und wenig indische Fragen haben der europäischen Gelehrsamkeit so
-viel fruchtlos scharfsinniges Kopfzerbrechen verursacht wie diese
-großmütige Unbefangenheit, mit welcher hier das Geheimnis menschlicher
-Erlösung _sub specie_ Gottes und göttlicher Allgerechtigkeit durchaus
-erörtert und gewiesen wird. Nur dürfen wir nie vergessen, daß hier Gott
-Krischna von seinem göttlichen Adspekt aus spricht, und wem würde es
-entgehen, wie unermeßlich hoch und fern dies göttlich Lied über das
-Menschengehör Arjunas hinaustönt! In unausschöpflicher Symbolik ist es
-gerade hier der Gott, der Erkenntnis-Vertiefung, Verehrungs-Andacht,
-Taten-Werke gleichmäßig gelten läßt, indes schon Arjuna dies übermäßige
-Gleich-Maß Gottes nicht fassen und noch weniger zum Muster nehmen kann
-und kann, -- und dieser sehr fromme Prinz Arjuna ist doch wahrhaftig
-nicht jeder Beliebige, wahrhaft noch nicht ‚Mensch schlecht-weg‘ oder
-‚Mensch schlecht-hin‘... Wie wahr und richtig, -- der Herr der drei
-Reiche wählet nicht: denn seiner sind ja die drei Reiche! Wie wahr und
-richtig, -- vor Gott ist alles gleich, denn schon wofern es ‚ist‘,
-wird es von Gott mit gleicher Kraft gesetzt, mit gleicher Kraft
-erhalten! Aber den Menschen schielt alles aus einer Ecken an und wird
-darum schief und verkürzt sich und verwinkelt sich, -- ewig bleibt dem
-Menschen die Welt als Gleichung unausrechenbar mit ihrer Einen und
-Ewigen Unbekannten. So hat denn in der Folge geschichtlich die Religion
-des Vedânta die Heilsübung Erkenntnis-Vertiefung vorwiegend geübt und
-die Heilsübung Verehrung-Andacht oder Taten-Werke vernachlässigt. So
-hat die Religion der Bhagavatas die Heilsübung Verehrung-Andacht oder
-Minne-Liebe vorzüglich geübt und die Heilsübung Erkenntnis-Vertiefung
-und Taten-Werke vernachlässigt. So hat die Religion des Sânkhyam
-die Heilsübung Taten-Werke mit Vorliebe geübt und die Heilsübung
-Andacht-Verehrung und Erkenntnis-Vertiefung vernachlässigt. Was hilft
-es uns Heils-Wählern und Heils-Wägern also, das göttliche Urselbst
-der Welt Krischna als den Herrn der drei Reiche zu preisen, indes wir
-uns gezwungen sehen, die eindeutige Auswahl unter den drei Reichen
-ohne Schwanken zu treffen? Was hilft uns der göttliche Adspekt des
-göttlichen Lieds, indes wir sehr menschlich eins dem andern vorzuziehen
-haben und eins vor dem andern zu bewerten, indes wir die Rangordnung
-zu wahren, die Gewichte zu verteilen, das Wichtigere hervorzuheben
-und auszuzeichnen, die Stelle zu beziffern, die Stufe zu zählen, das
-Wahre vom Falschen zu sondern und die Gewißheit vom Wahn, das Seiende
-am Nicht-Seienden zu prüfen und den Schein vom Wesen abzuschäumen
-haben, und dies alles, wir mögen uns drehn und wenden wie wir wollen,
-so menschlich als irgend nur möglich? Was nützt und hilft es uns
-Heils-Wählern und Heils-Wägern, Krischna das hohe Selbst der Welt
-als Wissen zu verehren, wenn sich das Wissen sofort im Geist dem
-Nicht-Wissen paart und widerpaart; -- was nützt und hilft es, Krischna
-als die Wahrheit anzubeten und zu verkünden: Gott ist die Wahrheit,
-wenn sich der Wahrheit unverzüglich im Geist die Täuschung zugesellt
-und widergesellt: also daß Krischna der Gott Wissen und Nicht-Wissen,
-Wahrheit und Irrtum zumal ist! Dem Diener Gottes obliegt es, zwischen
-diesen leidigen Gegenwelten genau zu scheiden und was der Gott göttlich
-zusammensichtet, menschlich zu entzweien. Krischna, ja Krischna ist
-alles. Aber welcher Mensch wäre Krischna und welcher Mensch wäre --
-alles? Im Ozean von Krischnas Dreiwelt treibt der Mensch als Wrack und
-sucht mühsälig ein Steuer, um etwas wie einen Kurs einzuschlagen und
-eine Richtung zu halten auf seiner Fahrt, die wahrlich nicht gefahrlos
-ist...
-
-Mit einem erhabenen Freimut, der in unseren eigenen Heiligen Schriften
-nirgends seinesgleichen hat, offenbart gerade der Mythos diesen
-fragwürdigen Sachverhalt. Wo die Bhagavad-Gîtâ einen köstlichen
-Atemzug lang die exzentrische Stelle einzunehmen imstand ist, von
-welcher her der Mensch die Welt als göttliches Erlebnis seiner
-menschlichen Tat anpaßt, verfährt der Mythos umgekehrt sehr menschlich,
-indem er den Gott schonunglos just dort entblößt, wo diesem die
-Blöße am peinlichsten sein muß. Gegen Ende des Mythos nämlich hält
-Krischna-Wischnu seinen Reitvogel Greif vor der Burg des Himmels an,
-um dort gemäß der guten Sitte der Göttermutter Aditi seine Aufwartung
-zu machen. Bei diesem Empfang nun geschieht es, daß seltsame Worte von
-der Göttin zum Gott gesprochen werden, vorwurfsvolle und anklägerische
-Worte, die den Gott aufs äußerste belasten müssen, wenn anders er
-hinter ihre Höflichkeit zu horchen feinhörig genug ist, die auch
-hier eine indisch vollendete ist. „Du bist alle Götter“, mit dieser
-Gebetformel leitet auch Aditi ihre Ansprache huldigend ein, „du bist
-alle Götter, alle Genien und Menschen; du bist alle Tiere, Bäume und
-Gräser: alles Große, Mittlere und Kleine, alles Ungeheure und Winzige,
-alles Einfache und alles Zusammengesetzte. In Trug hüllst du die ein,
-die deine wahre Art nicht kennen, die Toren, wenn sie im Wesenlosen
-das Wesen suchen. Die Vorstellung ‚Ich bin‘ und ‚Das gehört mir‘ sind
-trügerischer Schein, den die Mutter des Wandeldaseins im Verein mit
-dir, o Herr, hervorbringt. Die tüchtig sind und dich verehren, gelangen
-über diesen Trug hinweg und finden Freiheit im Herzen. Brahmâ und
-alle Götter, Menschen und Tiere sind insgesamt einzeln in das dichte
-Dunkel des Wahns getaucht, in den Abgrund deiner Täuschungen. Daß
-einer, der dich verehrt, doch Wünsche hegt und am Leben hängt, auch
-das, o Herr, ist nur ein Trugbild, von dir geschaffen. Du spielst mit
-deinem Zauber und verführst die Menschen, daß sie, dich verehrend,
-Ruhm und Nachkommen und Vernichtung der Feinde begehren statt ewiger
-Erlösung. Es ist die Folge ihrer falschen Taten, daß Toren dich um
-solches anflehn, gleichwie als ob man, um seine Blöße zu bedecken,
-den Wunschbaum, der alles gewährt, um einen Fetzen Tuch anflehte! Sei
-gnädig, Unvergänglicher, du Urgrund des Irrtums, der die Welt einhüllt!
-Zerstöre den Trug, der sich aus der Wahrheit erhoben hat“...
-
-Welch ein Gebet aber ist dies, ihr Christen, an dieser denkwürdigen
-Stelle von Aditi, der Mutter der zwölf Adityas, der Mutter aller
-Götter, zum Gott in höchster Person gesprochen; -- ein Gebet, wie
-es gleich erschütternd vielleicht nur einmal noch in den Heiligen
-Schriften Indiens emporstieg, und zwar in der Mahâbhâratam-Episode
-von Nala und Damayantî, wenn Damayantî, die Liebliche, zu den vier
-Himmlischen fleht, die alle die Gestalt ihres Geliebten Nala angenommen
-haben, um sie bei der Gattenwahl schmählich zu täuschen: die Götter
-möchten sie doch länger nicht mit Trug und List umgaukeln und ihr
-die Wahrheit offenbaren... Welch ein Gebet ist dies aus unerhörter
-Ratlosigkeit des Herzens und Gewissens, die sich getrieben fühlt, den
-Gott selber als Urheber jenes tiefsten Mangels anzuklagen, welcher
-recht eigentlich den Menschen zum Geschöpf des Elends stempelt: des
-Mangels an zuverlässigen Unterscheidung-Merkmalen zwischen Wissen
-und Nicht-Wissen, zwischen Wesen und Un-Wesen, zwischen Wahrheit und
-Wahn, -- des Mangels an einem runden Ja-oder-Nein, an einem klippen
-Entweder-Oder, an einem lauteren Icht oder Nicht! Welch ein Gebet zum
-‚Urgrund des Irrtums‘, der von Aditi auf solch eigene Art gepriesen
-noch nach dem Wort des Mythos ‚fein lächelt‘ und fein lächelnd dankt!
-Welch ein Gebet des höchsten Gottes zu ihm selber, des All-Einen,
-All-Einzigen und Ein-und-Alles zu ihm selber, der diese Dreiwelt
-selber ist, aber eben darum das menschlich Unentbehrlichste stets
-schuldig bleibt, das zweifellösende, entscheidungfällende: ‚Wähle
-dieses und lasse jenes! Bevorzuge vor jenem dieses! Meide solches und
-vollbringe solches! Verwirf dies eine um des andern willen!‘ Welch
-ein zermalmendes Eingeständnis der grundsätzlichen Unverrückbarkeit
-der Grenzen Gottes und des Menschen, der ewigen Geschiedenheit ihrer
-Beschaffenheiten und Standorte, ihrer Gewichte und Maße, ihrer Wege und
-Ziele. Welch eine Waberlohe, an des eigenen Lebens, an des Eigenlebens
-Flamme himmelhoch entzündet, die unüberschreitbar Mensch wie Gott
-umlodert und umloht wie jenen alten Vorzeitkönig Mutsukundo in der
-Felsenhöhle, den Krischna der Gott selber nicht zu wecken wagen darf,
-will er nicht selber stracks zu Asche weiß verbrennen... Gott also ist
-es selber, der seinen Zauber lügnerisch spielen lässet den Menschen zur
-Verführung, daß sie törichtste Wünsche hegen und statt ewiger Erlösung
-entbehrlichste Güter erstreben. Gott selber umgaukelt frevlerisch den
-Sinn und umbuhlt die Sinne mit den Fratzen der Gestalt, um von den
-Dummen dort am ehesten ernst genommen zu werden, wo er am mutwilligsten
-spaßt. Gott selbst pflanzt dem Menschen die blinden Leidenschaften
-ein und zieht selbst seine Triebe ab von dem Ziele, was ihm hüben wie
-drüben zum Heil gereicht. Gott selbst flößt dem Menschen die Welt ein
-wie den Rauschtrank Soma und macht ihn auf den Beinen torkeln und im
-Haupte schwindlig, so daß er auf ebener Straße stolpert und über seine
-eigene Zunge stürzt. Gott selbst wertet alle Dinge gleichviel, und das
-heißt gleichwenig; -- gleichviel, und das heißt gleichwenig, gilt vor
-ihm der vedische Gesang und ein Gassenhauer. Gott selbst, der alles
-angleichende und ausgleichende, gleicht einem liebestollen Weibe, dem
-alle Männer recht sind und alles Mannes-Ähnliche am Weibe, wenn es
-nur Wollust schafft und dort am heftigsten kitzelt, wo die Wollust
-ihren Nerv hat. Zu allem aber, was du sagst und nicht sagst, o Aditi,
-lächelt der ewige Krischna mit jenem ewigen Zynismus, der unstreitig
-das göttlichste Vorrecht seiner Götterrechte je gewesen ist. Er lächelt
-fein zum Abschied, und unergründlich eher noch als fein, und küßt dir,
-menschkundigste Mutter du der Götter, zum Abschied deine liebe Hand und
-huldigt seinerseit auch dir, in jeder Geste _uomo galante_ und jeder
-Zoll ein _caballero_ (vergebens schau’ ich hier, ihr Deutschen, nach
-einem deutschen Worte aus): „Sei gnädig auch du, und gewähre mir deine
-Gunst“...
-
-In dieser Ansprache, unsäglich zart die Andacht zum Gott fädelnd an die
-Anklage wider Gott, in ihr, wie glatt und anmutig sie auch dahinfließe,
-gärt und siedet dennoch eines der stärksten unterirdischen Beben,
-welche die Religiosität der indischen Menschheit je erschüttert
-haben. Noch ist Krischna Meister, Herr und Mahâdeva, noch ist er
-Gott aller Götter und Auge der Welt, noch ist er Eins-und-Alles und
-All-Eines, noch ist er Urselbst und Kern der drei Reiche. Aber schon
-meldet sich der bedürftige Mensch und mehr noch die menschliche
-Bedürftigkeit, welche beide der Gott, aller Allmacht unbeschadet, nicht
-zu stillen weiß. Hinter den vielkantig geschliffenen Worten dieser
-Andacht-Anklage geistert eine unausgesprochene und unaussprechliche
-Hinterwelt von schweren Zweifeln und Anfechtungen, wie hinter den
-Rautenflächen eines vielkantig geschliffenen Diamanten die Urfeuer
-der Tiefe sprühen. Denn je mehr Gott Er selber ist, desto weniger ist
-es ihm gegeben, die menschliche Bedrängnis wirklich zu teilen, und
-je weniger er diese teilt, desto weniger vermag er sie abzustellen.
-Der vollkommene Gott, vollkommen, weil nichts ihm gebricht und er an
-jeder Stelle dicht ist und stätig, rund und ausgefüllt, er gleicht
-fürwahr dem ewigen Sphairos jenes griechischen Xenophanes: wie sollte
-er da der unvollkommenen Menschlichkeit ‚in ihres dritten, zweiten,
-ersten Viertels bedauerlicher Schwindung‘ innewerden, -- wie sollte
-er gewahren, was diesem armen Menschen taugt und frommt. Aus Laune,
-Zufall, Spielerfreude oder aus Gott weiß für Gründen oder Ungründen
-schuf der vollkommene Gott diese Welt; aber diese Welt geriet ihm
-leider minder vollkommen, als er selbst, der Gott, vollkommen ist, und
-so leidet der Mensch, auf unvollkommener Welt der unvollkommene Nächste
-seines Gottes, schwer unter der Unvollkommenheit der Welt und am
-schwersten unter der Unvollkommenheit des Menschen. Die Gürtel, Zonen
-und Striche dieser Welt füllt Gott mit seinem Atem, aber des Menschen
-Atem bläst unendlich schwächer als der Atem Gottes, und so bläst er
-schnell sich leer, und leer geblasen deucht ihn seine Umwelt. Gewiß ist
-da verkündigt und gewiesen: wer den Erkenntnis-Vertiefungs-Pfad eifrig
-und treu bis ans Ende wandelt, dem winkt Vergottung, und gleicherweis
-wer den Verehrung-Andachts-Pfad eifrig und treu bis ans Ende wandelt,
-dem winkt Vergottung. Wer Brahman-Âtman durchaus kennt und erkennt,
-wird Brahman-Âtman; wer Brahmâ-Wischnu-Schiva von ganzem Herzen verehrt
-und liebt, wird Brahmâ-Wischnu-Schiva. Aber das ist es ja eben, daß
-weder das Brahman jenseit aller Maske und Gestalt noch die heilige
-Trimûrti oder Gottdreigestalt einen Finger rühren oder auch nur eines
-Fingers Glied, damit der Gottsucher an seinem Ziel anlange. Das Brahman
-zu wissen, das ewige Es und Überstaltige, dies ruht ausschließlich auf
-dem Menschen, der des Brahmans bedürftig ist, nicht aber umgekehrt
-das Brahman des Menschen, -- und genau so ruht es auf dem Menschen,
-den höchsten Brahmâ und Brahmâs Trimûrti, das ewige Du aller Götter
-und in der Eigenschaft des Du der Eingestaltig-Vielgestaltige, in
-Liebe zu umfangen: _qui deum amat conari non potest, ut deus ipsum
-contra amet..._ Nicht zieht Gott den Menschen zu sich, und noch viel
-weniger zieht Gott den Menschen an, vielmehr ziehet der Mensch Gott
-an, wie es in den paulinischen Schriften auch geschrieben steht, --
-der Mensch ist’s, der da in Gott einzugehen, in Gott aufzugehen, in
-Gott unterzugehen trachtet, aber mit seinem armsäligen Tröpflein den
-vollen Krug Gottes nimmer überfließen macht. Was also ist es zuletzt,
-das Heil erwirkt und befördert? Die menschliche Tat ist es, menschlich
-getätigt und getan, heiße die Tat Wissen oder Liebe, Erkenntnis oder
-Andacht, Ehrfurcht oder Vertiefung, ja heiße sie Tat selber oder auch
-Werk. Wer diesen Sachverhalt in seiner Strenge erfährt und erfaßt, wer
-sich mit allen seinen Seelenkräften mit ihm durchdringt, wer sich mit
-allen seinen Seelenkräften zu ihm durchringt: der bringt als Protestant
-den unausgetragenen Widerstreit im Mythos Krischnas klar und bewußt
-zum Austrag und das Zeitalter einer rein katholischen oder gemischt
-katholisch-protestantischen Religiosität zum einstweiligen Abschluß.
-Als Täter der Heilstat löst er den Gott ab, der dem Menschen dauernd
-das Eine schuldig bleibt, was einzig Not wendet: jene ‚ewige Erlösung‘,
-um welche die Himmelskönigin und Weltmutter Aditi den blonden Gott
-vergeblich anfleht. So löst der Mensch Gotamo, gezeugt vom Fürsten
-Suddhodano, das ist verdeutscht der ‚saubere Milchreis(-Spender)‘,
-und empfangen von der Fürstin Mâyâ, geboren zu Kapilavatthu auf der
-königlichen Burg und als Krieger, nicht als Priester auferzogen,
--- so löst der Mensch Gotamo den Gottmenschen Krischna auf dem
-Weltenschauplatz ab, und mit ihm gleichsam der Mensch überhaupt den
-Gott überhaupt. Und die indische Seele, die wahrhaft allwissend alles
-weiß, allahnend alles ahnt, allfühlend alles fühlt, was Gott und Götter
-betrifft oder betreffen könnte, vergegenwärtigt sich auch diesen
-entwicklunggeschichtlichen, gestaltwandlerischen Sachverhalt auf eine
-eindruckvolle Weise. Im Wischnu-Mythos nämlich verkörpert sich Wischnu
-im ersten Weltalter viermal in gewissermaßen organisch aufsteigender
-Lebensform als Fisch und Schildkröte, als Eber und Mensch-Löwe, um
-jedesmal die Welt von einer dämonischen Plage oder Zwingherrschaft zu
-befreien; im zweiten Weltalter einmal als Zwerg; im dritten Weltalter
-zweimal als Krischna und Râma; im vierten Weltalter aber wiederum
-einmal als Buddho, ehe er im fünften und eisernen Weltalter, abermals
-im Tier verleiblicht, als das weiße Pferd Kalki die Welt vernichtet und
-verjüngt und aller Dinge Wiederherstellung vollbringt: ein Mythos von
-so unausdenklichen Adspekten auf den Wechsel von Weltzeitaltern und
-Wiederkunftkreisläufen hin, daß ihn bis heute noch keine Konzeption
-westlicher Wissenschaft genügend deuten könnte. Auf Krischna-Râma die
-Gottmenschen folgt Buddho der Mensch als Vorsteher seiner Zeit und
-als Verrichter dessen, was bisher Gott verrichtet oder auch nicht
-verrichtet hat, -- dies ist die mythische Umschreibung des historischen
-Tatbestandes, daß mit Gotamo Buddho der Protestant in Erscheinung trat!
-(Denn für den indischen Geist gibt es eben historische Tatbestände
-nur in mythisch-mythologischer Umschreibung und Umdeutung). Mit Gotamo
-Buddho ist der Protestant als solcher, der Protestant schlechthin in
-die geschichtliche Erscheinung getreten, zunächst für das mittlere
-und nördliche Indien. Dann für das indische Festland und Inselland,
-dann für Südasien, Mittelasien, Ostasien, und am Ende, wer kann es
-heute wissen, für diese ganze runde Erdenmenschenwelt, die gegenwärtig
-mehr, als sie selber ahnt und ahnen kann, mit ihrem inneren Gehör
-nach Magadhâ hinhorcht und dem vernehmlich durch die Jahrtausende
-hindonnernden Löwenrufe lauscht...
-
-
-Enthülsen wir dieses aber, ihr westlichen Protestanten, als den
-überwestlichen, aber wesentlichen Kern des Protestantismus, sofern
-er in die kosmischen Ordnungen hineingehört, daß nämlich der Mensch,
-eben durch seine Menschlichkeit zur Tat getrieben, wo sich der Gott
-keinerlei Tat bedürftig fühlt, -- daß der Mensch eine Melodie in
-diesem unendlichen Orchester spiele, wenn der Gott gewissermaßen eine
-Pause macht: alsdann verschiebt der Protestantismus alle Gewichte
-des religiösen Interesses selbsttätig zugunsten des Menschen.
-Alsdann leuchtet ein verborgener (und bisher mit einer gewissen
-Geflissentlichkeit verborgen gehaltener) Zusammenhang auf zwischen
-Protestantismus und Atheismus; alsdann ist der Protestant kraft
-seines Protestantismus in irgendwelcher Rücksicht ein Atheist,
-Atheismus schlecht und recht für Gott-Losigkeit, Gott-Ledigkeit,
-Gott-Entbehrlichkeit genommen. Diese Gott-Losigkeit, Gott-Ledigkeit,
-Gott-Entbehrlichkeit ist sozusagen auf der linearen Verlängerung
-des Protestantismus gelegen, wenngleich auch vermutlich auf einer
-Verlängerung, die in keinem Endpunkt ihr Ende und Ziel findet,
-sondern fort und fort ins Unendliche läuft und darin verlaufen muß:
-weil ja die Vorstellung des verneinten Gottes menschliche Denkkraft
-offenbar nicht weniger übersteigt und überflügelt wie die Vorstellung
-des bejahten Gottes. Ändern doch Vorzeichen in dieser Beziehung an
-den Begriffen nichts und können nichts ändern, und kaum dürfte das
-Minus-Unendlich minder unendlich sein wie das Plus-Unendlich, o
-unendlich-ewiges Geheimnis!... So aber ist von vornherein zu erwarten,
-Buddho der Protestant, in der Zeitreihe indischer Weltalter der Erbe,
-Vollstrecker und Nachfolger des Gottmenschen Krischna, er werde sich
-in dieser oder in jener Bezugnahme als Buddho der Atheist erweisen,
--- Buddho der Atheist freilich in einem Denk- und Sprachsinn, wie
-er dem Abendländer bislang kaum zugänglich und jedenfalls alles
-andere als geläufig gewesen ist. Waren wir Abendländer doch, um der
-Wahrheit nicht ins Gesicht hineinzulügen, der Regel nach Atheisten
-aus Frechheit oder Flachheit oder Unfähigkeit oder Überheblichkeit,
-selten nur aus Ehrfurcht, und bis auf verschwindende (aber doch nicht
-verschwundene) Ausnahmen niemals in den Jahrtausenden seit den Griechen
-aus Frömmigkeit und Göttlichkeit. Wo wir die Götter leugneten, da
-leugneten wir in der übergroßen Mehrzahl der Fälle auch die göttliche
-Bindung und Treue (_religio_); da leugneten wir mit furchtbarem Erfolg
-unser eigenes besseres Leben und besseres Bewußtsein mitsamt seinen
-Niederlagen und Siegen. Nur einmal vielleicht vernahm ich ein Gebet von
-einem Gottlosen unserer späten Zeit, das die Gebete aller Gläubigen
-an Innigkeit und wahrer Liebe zu Gott ganz unermeßlich übertroffen
-hat: „... Nicht wahr, du bist doch nicht? Du würdest nicht so müßig
-sein mit Allmacht? Du würdest ruhen nimmer wie ein träger Faulpelz,
-der’s nüchtern ansieht, wie die Untat herrscht? Wie Niedrigkeit
-erhöht steht, und was hoch ist, niedrig? Du würdest deine Arme nicht
-so lässig kreuzen, als ginge dich das Weltall, dein Geschöpf, nichts
-an? Du bist doch nicht, nicht wahr?... Auf, auf, du Gott, der nicht
-besteht, hilf mir!“... Gottlos und ehrfurchtvoll, gottlos und gläubig,
-gottlos und fromm, gottlos und heilig, gottlos und göttlich, das in
-der Tat reimt sich europäischen Ohren, den mit soviel Schmalz und
-Schmutz und Kot und Seim verklebten, so schlecht wie nur immer möglich,
-und wer auf diesem Reim zu dichten wagte, dem antwortete entrüstet
-jedermann: Hab’ ich recht gehört?... Als Sklaven einer unduldsamen
-Vernunft und engstirnigen Weisheit erblickten wir schlechten Europäer
-ein herrisches Entweder-Oder, wo die duldsame Vernunft Asiens und
-die weitstirnige Weisheit des Asiaten ein Sowohl-Als-Auch vernimmt
-und wahrnimmt mit noch so mancherlei Zwischentönen. Wer Atheist war
-in unseren mehr mäßigen als gemäßigten Breiten, der strich gar zu
-gern wie der entlassene Schulmeister im Grünen Heinrich landauf und
--ab durch Berg und Tal und lehrte und überredete und beschwor und
-verkündigte und beschrie als ein echter Schulmeister: Gott ist tot! Und
-noch Zarathustra, der Gepriesene und Hochpreisliche, glich er fürwahr
-in diesem Betracht nicht allzusehr noch einem Schulmeister? Wo aber
-Gott noch ein weniges lebte und heimlich mit den Gliedern zappelte
-und leisen Atems röchelte, vielleicht von gefährlicher Ohnmacht schon
-umnachtet, da schlug ihn der Atheist flugs vollends tot und warf ihn
-ins Dickicht und erregte allenthalben Ärgernis gegen sich, daß er
-einen Schlafenden zu Tod schlug: Weh’, Macbeth mordete den Schlaf,
-den heiligen Schlaf!... Denn wie gesagt, wir sind allzu steil auf
-Nein und Ja gestellt, wir Abendländer. Wir wandeln auf einer Brücke
-von Rasierklingenschärfe über den offenen Abgründen des Lebens und
-mehr noch des Todes dahin, und stoßen gnadenlos in den Abgrund, was
-auf der schmalen Schärfe zwischen Nein und Ja ausruhen will. Und wer
-da sein Haar um ein Tausendteil einer Haaresbreite dünner oder dicker
-spaltet wie wir selber und um diese tausendstel Haaresbreite von
-uns abzuweichen sich gedreistet, den bellen wir hart an mit unseren
-wütendsten Worten und erdolchen ihn stracks mit unseren giftigsten
-Blicken: Pack’ dich, Hund, und scher’ dich dem Teufel zu, von welchem
-du herkamst! Was hab’ ich mit dir zu schaffen? _Apage Satanas! Anathema
-sis!..._ Also wandeln wir zwischen Ja und Nein auf der Brücke von
-Rasiermesserschärfe und fluchen lästerlich jedem Begegnenden, dieweil
-uns der Raum fehlt, um freundlich zur Seite zu weichen. Und jeder
-Begegnende ist unser besonderer Feind und jeder Erwidernde unser
-besonderer Widersacher, und unser Leben gleicht einem fort- und
-fortgesetzten Zweikampf, dessen grausamer Ausfall von Tag zu Tag aufs
-neue heißt: Du -- oder Ich. Ich -- oder Du...
-
-Gotamo jedoch, der Protestant des südöstlichen Festlandes Indien, er
-wandelt nicht zwischen Ja und Nein. Er wandelt, auch hier durchaus Erbe
-und Rechtsnachfolger Krischnas, wie es in der Bhagavad-Gîtâ wörtlich
-heißt: „über die Paare hinausgegangen oder der Gegen- und Widersätze
-ledig: _dvantvâtîta, nirdvandva_“... Vor die Frage des Du-oder-Ich,
-will meinen Gott-oder-Mensch gestellt, würde Gotamo uns mutmaßlich
-desselbigen Lächelns gar fein zulächeln, mit welchem Gott Krischna, der
-Blondlockige, der Göttermutter Aditi zuzulächeln geruhte. Denn dieses
-weiß Gotamo besser als irgend ein Sterblicher und Unsterblicher der
-östlichen oder westlichen Halbkugel, daß Gott und Göttern nichts so
-verhaßt ist als zwischen die Schere allzumenschlichen Ja-oder-Neins
-geklemmt und von ihr entzweigeschnitten zu werden. Wo Gott geglaubt
-wird, dieses hat wohl Gotamo der Protestant, Gotamo der Atheist tiefer
-und gewisser erfahren als alle Protestanten und alle Atheisten vor,
-neben oder nach ihm, da ist Gott auch und da gibt es Gott. Die Frage
-ist nicht, ob es Gott gäbe oder nicht gäbe, die Frage ist, ob Gott
-geglaubt oder nicht geglaubt wird. Gott aber, ihr Christen, und dies
-sei uns das ewig christliche und das überchristliche Faktum aller
-Religion überhaupt, Gott selber wird ewig sowohl geglaubt wie nicht
-geglaubt und so ist Gott selbst darum ewig und ist ewig nicht, -- dies
-sei uns schlechthin die Gewißheit in Ansehung Gottes, in Ansehung der
-Götter. Dies sei uns die vornehmste und unumstößliche und ‚unpaarige‘
-Gewißheit jenseit von Ja und Nein, oder strenger und richtiger
-noch diesseit von beidem und in diesem Diesseit gegensatzentrückt,
-_dvantvâtîta, nirdvandva_... Wo Gott also geglaubt wird, da ist auch
-Gott; wo Gott nicht geglaubt wird, ist Gott nicht. Umsonst sucht daher,
-wer in den Heiligen Schriften des Pâli-Kanons ein glattes, rundes
-Urteil sucht, ob es Gott gäbe oder nicht gäbe. Just dieses Ur-Teil
-deucht einen Weisen wie Gotamo, einen Erwachten wie Gotamo -- „‚der
-Erwachte, o Keniyo, sagst du?‘ ‚Der Erwachte, o Selo, sag’ ich‘... Da
-gedachte nun Selo der Priester: ‚Das ist ein Wort, das man gar selten
-vernimmt in der Welt, der Erwachte!‘“ -- just dieses Ur-Teil, sag’ ich,
-deucht einen ‚Buddho‘ also wie Gotamo allzusehr ein Nur-Teil, um das
-Ganze zu umspannen.
-
-In der Neunzigsten Rede zwar aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo
-frägt der König Pasenadi von Kosalo den Erhabenen geradezu: „Wie aber,
-o Herr, gibt es Götter?...“ Die Antwort jedoch ist eine Gegenfrage:
-„Warum denn, großer König, sprichst du also: ‚Wie aber, o Herr, gibt
-es Götter?‘“ ... Diese Gegenfrage und ihren tiefsten Sinn würde kein
-westlicher Mensch verstanden haben und vielleicht kann sie auch heute
-noch kein westlicher Mensch verstehen, denn der Westen hat bisher von
-der Entscheidung über diese Frage alles abhängig gemacht, nicht allein
-die Religion, vielmehr jedes höhere Leben des Geistes und der Seele,
-das aus Religion hervorblüht. Er sagte sich: Wenn schon Gott nicht
-ist, dann will ich ein Vieh, ein Tiger, ein Haifisch, ein Werwolf, ein
-Ungeheuer sein, -- dann will ich bei Gott diese ganze Welt mit meinen
-Zähnen zerreißen und mit meinem Maul verschlingen... Der Buddho aber
-wirft diese selbe Frage wie einen ihm zugeworfenen Ball anmutig auf
-den Fragenden zurück und spielt gleichsam ein weniges mit ihr, weil er
-sie in ihrer Bedeutunglosigkeit durchschaut hat. Ob Götter, ob keine
-Götter: ihm liegt es unter allen Umständen ob, die Welt zu retten und
-zu tun, was Gott nicht tun kann. Der leichte Spott, die leise Ungeduld,
-die aus der Gegenfrage an den König etwa herauszulesen wäre, hat nichts
-anderes zu besagen als: Sprechen wir von wesentlichen Dingen, o König,
-und schweifen nicht zu unwesentlichen ab...
-
-Umsonst also sucht, wer hier nach jenen gesalzenen Schmähungen,
-Schimpfreden, Grobheiten sucht, wie sie die protestantischen Hellenen
-beliebten, die es unter dem Himmel Homers nicht länger aushalten
-konnten, zu schweigen von den klobigen und klotzigen Flegeleien, mit
-welchen der große Rüpel Martinus die Kirche Roms und ihren Papst
-gleichsam wie mit Kübeln überschüttete. In diesen Schriften wird
-nirgends geschimpft, es sei denn von einem unbelehrigen Brahmanen; in
-diesen Schriften wird niemand beschimpft, es sei denn der Erwachte
-selber von einem blindwütigen Priester. Hier, wo es in vieler Hinsicht
-keine Gläubigen und weniger noch Recht-Gläubige gibt, hier gibt es
-erst recht keine Anders-Gläubigen, denen man eins wischen müßte. Die
-europäischen Propheten des Protestantismus haben an den Anhängern
-des Katholizismus jeweils gehaßt, was sie in sich selber überwunden
-(oder auch nicht überwunden) hatten, -- aber der indische Protestant
-Buddho weiß nichts von diesem Haß gegen die eigenen Überwindungen.
-Der weltgeschichtliche Kampf zwischen den Urformen der Religiosität
-wurde und wird in Europa der bösen Beschaffenheit des Europäers
-entsprechend mit vergifteten Waffen geführt, aber Gotamo führet ihn
-nicht einmal mit Waffen, geschweige denn mit vergifteten. Der indischen
-Haupttugend vollendeter Herzenshöflichkeit wie kein zweiter religiöser
-Stifter mächtig, verliert der Erhabene kein Wort gegen die unendlichen
-Götterreihen, welche der Brahmanismus wie einen Berg unendlich
-gestaffelt und gestuft bis zum Himmel und Überhimmel aufgetürmt hatte.
-Der Berg wuchtet und ruht in ihm selber heilig weiter, aber Gotamo
-nimmt auf seinem höchsten Gipfel Platz, um dort die Weihe der vier
-Schauungen (_jhânâni_) zu begehen. So redet der Buddho in jeder Rede
-ohne Befangenheit von den unzähligen Göttern des Veda, und was etwa
-noch wichtiger scheinen könnte, so schweigt er ohne jede Befangenheit
-von ihnen, wo ihm das Schweigen angebracht zu sein deucht. Er redet und
-er schweigt in seinen Reden von den Göttern mit Takt, mit Wohlwollen,
-ja mit Großmut, wie ein erzogener Abendländer über abwesende Gäste
-redet und auch schweigt, deren Menschliches er längst durchschaut hat.
-Dieser unbedingteste Protestant aller Vergangenheiten, gewissermaßen
-ein protestantisches Absolutum, verfährt mit göttlicher Milde gegen
-die Götter, deren schöne Überflüssigkeit in Ansehung dessen, was Not
-wendet, er als der erste Mensch menschheitlicher Gattung erkannt
-hat. Für oberflächliche und grobkörnige Beobachter hat sich in den
-Jahrhunderten zwischen dem Veda, den Upanischaden, den großen Epen und
-dem Auftritt Gotamos, was die Götter anbetrifft, nichts Besonderes
-zugetragen. _Ex officio_ bleiben sie in allen Hoheitrechten ungekränkt
-und unbehelligt, in die sie eine fromme Urzeit einst göttersälig
-eingesetzt hatte. Noch wimmelt Welt, Unterwelt und Überwelt von den
-Heerhaufen der Heiligen und Vollendeten und Engel und Genien und
-Dämonen und sinnlichen und himmlischen Gottheiten bis herauf zum
-Himmelsjüngling Brahmâ selber, -- erst die Zone des Brahman-Âtman
-ist es, die ernsthaft in Frage gestellt, ja verneint erscheint, und
-zwar aus Gründen, die sich gewissermaßen ganz von selbst in eine
-doppelte Gruppe scheiden und die schließlich an dieser Stelle wo nicht
-ausführlich entwickelt, doch wenigstens grundsätzlich erwähnt werden
-müssen.
-
-Die erste Gruppe dieser Gründe findet sich mit wundervoller Klarheit
-herausgearbeitet und zusammengestellt in der Ersten Rede aus der
-Längeren Sammlung Dîghanikâyo, ‚Das Priesternetz‘ betitelt, wo der
-Buddho auf eine beinah erschöpfende Weise die Trennung zieht zwischen
-seiner eigenen Lebensführung und Weltauffassung und der Lebensführung
-und Weltauffassung brahmanischer Priester und Asketen. Eine durchaus
-kunstgerechte oder gar gelehrtwissenschaftliche Auseinandersetzung à
-la Çankara mit der Götter-, Welt- und Seelenlehre des Brahmanismus
-darf freilich niemand hier erwarten, denn weder sind Gotamos Zwecke
-und Ziele gelehrtwissenschaftliche, noch erhebt er persönlich jemals
-den geringsten Anspruch auf maßgebliche Kennerschaft vedischer
-Theo-Kosmologie und Scholastik. Trotzdem werden hier mit einer
-Dialektik von manchmal glänzender Überlegenheit die wichtigsten
-Standpunkte der brahmanischen Götterlehre, Weltlehre, Seelenlehre im
-Zusammenhang aufgezeigt und in ihrer Nichtzulänglichkeit erhärtet.
-Nicht weil diese Götterlehren, Weltlehren, Seelenlehren falsch wären,
-sondern im Gegenteil, weil sie richtig sind, richtig nämlich als eine
-Reihe von einander sich ausschließenden Vernunftaussagen, gleichmäßig
-zulässig, gleichmäßig ‚wahr‘, -- eben darum sind sie alle zusammen
-doch nur als bloße Vorläufigkeiten, wenn nicht als Unerheblichkeiten
-(ἀδιάφορα) zu bewerten und zu verwerfen. Als Standpunkt der Erkenntnis
-können, ja müssen sie von den Erkennenden eingenommen werden, und
-wenn sie sich im einzelnen dann kontradiktorisch widersprechen,
-beweist das nicht, daß sie erkenntnismäßig unzulässig sind: aber es
-beweist, daß es von Übel sei, wenn sich die Vertreter der einzelnen
-Standpunkte innerlich gleichsam mit ihnen für verwachsen erklären
-und so ihr persönliches Heil mit einer jeweiligen Ansicht-Sache,
-Meinung-Sache verwechseln. Über Götter, Welt und Seele mag jeder
-denken, was seinen Verständniskräften am besten entspricht und ihn am
-innigsten befriedigt. Und vielleicht gibt es unter allem, was bisher
-von menschlichen Wesen über diese Gegenstände ausgeheckt worden ist,
-gar nichts, das grundsätzlich und in jedem Sinn falsch oder verkehrt
-wäre. Nur ziemt dem Erwachten ein Standpunkt, unendlich über alle diese
-Standpunkte erhöht, wofern der Erwachte seinerseit alle einzelnen
-Standpunkte durchlaufen und in ihrer verhältnismäßigen Berechtigtheit
-durchschaut hat: nun aber sich selbst die unbedingte Freiheit
-streng zu wahren entschlossen ist, auf keinem als einem endgültigen
-auszuruhen und zu beharren und ihn für den einzig richtigen, den einzig
-angemessenen auszugeben. Sich auf keinen erkenntnismäßigen Standpunkt
-festzulegen und sich für keinen zu entscheiden, das ist der Standpunkt
-des Buddho gegenüber allen üblichen Lehren von Gott, Welt und Seele.
-Der Protestant Gotamo protestiert gegen jedwede dogmatische Bindung
-zugunsten einer bloßen Ansicht oder Annahme, Meinung oder Auffassung.
-Er protestiert dagegen nicht wie der Protestant Kant, um die ewigen
-Rechte der Kritik gegen das Dogma zu vertreten, vielmehr aus der tiefen
-und religiösen Selbsterfahrung heraus, daß sich mit dem eigenen Wesen
-und Wesensziel keine sogenannte Wahrheit wirklich deckt: daß hier
-stets und immer eine Leere bleibt, die nach anderer Erfüllung heischt,
-als sie die Doktrin gewähren könnte. „Da erkennt denn, ihr Mönche,
-der Vollendete: ‚Solche Ansichten, also angenommen, also beharrlich
-erworben, lassen dahin gelangen, lassen eine solche Zukunft erwarten.‘
-Das erkennt der Vollendete, und erkennt, was darüber hinausreicht.
-Bei dieser Erkenntnis beharrt er aber nicht, und weil er dabei nicht
-beharrt, findet er Einkehr eben in sich“...
-
-Eine zweite Gruppe von Einwürfen gegen die Brahman-Âtman-Zone, nicht
-ohne einen gewissen inneren Zusammenhang mit dieser, erörtert der
-Buddho vielleicht am durchsichtigsten in der Hundertundneunten Rede
-aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo, die den Titel ‚Vollmond‘
-führt. In dieser Rede rechtfertigt und begründet Gotamo eine der
-umstürzlerischsten Überzeugungen des Buddhismus überhaupt, und
-zwar überraschenderweise, obwohl es sich unstreitig um einen rein
-religiösen Sachverhalt handelt, in enger Bezugnahme auf Kants Kritik
-des ersten Paralogismus in der transzendentalen Dialektik seines
-ersten Hauptwerkes: die Überzeugung nämlich, daß alles, was wir
-unser Ich, unsere Persönlichkeit, unser Selbst nennen und was der
-Brahmanismus als Âtman, Brahman, Lebensurgrund, Weltwesen verehrt,
-in Wahrheit gar kein ontologisch zu verstehendes _substratum_,
-_subjectum_, ὐποκείμενον unserer Bewußtseins-Welt sei, sondern im
-besten Fall ein bloßer Bestandteil, bloßer Inhalt dieser nämlichen
-Welt, der genau wie jeder andere Bestandteil und jeder andere Inhalt
-des Bewußtseins über die rein vorstellungmäßige Gegebenheit hinaus
-immer für fragwürdig gelten müsse. Es gibt kein Ich, es gibt kein
-Selbst als Träger der Bewußtheit-Mannigfaltigkeit, und vollends gibt
-es kein Urselbst als Träger der gesamten Weltwirklichkeit und als
-ihr Urheber und Erhalter, wie es der Brahmanismus unter dem Namen
-Âtman anruft, bekennt, voraussetzt. Wenn der Brahmanismus das ‚_Eso
-’ham asmi_: Das bin Ich‘ und vielleicht mehr noch das gleichsinnige
-‚_Tat tvam asi_: Das bist Du‘ zur Weltformel erhoben hat, und wenn
-er mit dieser Weltformel zuletzt nur das schlechthin unwiderlegliche
-religiöse Urerlebnis auf eine mitteilbare Aussage bringen will:
-die Wahrnehmungen bin Ich-Selbst, die Gegenstände bin Ich-Selbst,
-die Zustände bin Ich-Selbst, die Widerstände bin Ich-Selbst, die
-Wirklichkeiten bin Ich-Selbst, die Unwirklichkeiten bin Ich-Selbst,
-die Überwirklichkeiten bin Ich-Selbst, das Ich und das Du und das
-Nichtich bin Ich-Selbst! -- nun wohl, dann weiß Gotamo dieser aus
-unwiderleglichem Erleben geschöpften Formel die aus nicht minder
-unwiderleglichem Erleben geschöpfte Gegenformel mit einer steinernen
-Wucht entgegenzustemmen, ‚_N’etam mama_: Das gehört Mir nicht‘,
-die Wahrnehmungen bin Ich nicht, die Gegenstände bin ich nicht,
-die Zustände bin Ich nicht, die Widerstände bin ich nicht, die
-Wirklichkeiten bin Ich nicht, die Unwirklichkeiten bin Ich nicht,
-die Überwirklichkeiten bin Ich nicht, das Ich und das Du und das
-Nicht-ich bin Ich nicht!... Dem nicht zu entkräftenden Erfahren des
-Brahmanismus, wonach Alles das Selbst ist, antwortet der Buddho mit
-dem nicht zu entkräftenden eigenen Erfahren, wonach Nichts das Selbst
-ist. Dem Abendländer aber, der hier mit seiner Schere Ja-oder-Nein
-dazwischen fährt und die lediglich wissenschaftliche, nicht jedoch
-religiöse Frage aufwirft: wer von beiden recht habe? -- ihm antworte
-ich selbst mit aller Entschiedenheit: Beide!... Wiederum gelangt
-nämlich hier im Buddhismus eine tief protestantische Auffassung zu
-ihrem weltgeschichtlichen Durchbruch, -- eine Auffassung, der es gemäß
-ist zu denken und zu sprechen: Es gibt keine Grundlegung und keine
-Grundfestung, es gibt keine Trägerschaft und keine Verankerung, es gibt
-keine _substantia_ und kein _principium_, es gibt kein ὐποκείμενον
-und keine ἀρχή. Sondern es gibt nur einen stätigen Vorstellungablauf,
-eine stätige Tätigkeitänderung, einen stätigen Erlebniswechsel. Es
-gibt kein Sein und weniger noch ein Wesen, sondern allein ein Tun
-und ein Werden, -- es gibt kein _esse_, sondern nur ein _fieri_ oder
-_operari_; ganz wie dies von den naturforschenden Wissenschaften des
-Westens und von ihrem kritisch-kritizistischen Protestantismus längst
-auf die Spitze getrieben und infolgedessen überspitzt ward. Nicht aber
-auf die Spitze getrieben und infolgedessen auch nicht überspitzt
-ward dieser Protestantismus vom Buddho, wie man in der erwähnten Rede
-‚Vollmond‘ aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo leicht nachlesen
-kann. Denn kaum ist hier ein Mönch im Begriff, aus dem von Gotamo
-entwickelten Gedanken der Selbst-Losigkeit und Selbst-Ledigkeit alles
-Geschehens und Tuns den etwas voreiligen, aber folgerichtigen Schluß
-zu ziehen: also gibt es auch keines Selbstes Täterschaft getaner Taten
-und keines Selbstes Verantwortlichkeit für diese! -- da muß sich
-auch schon der scharfsinnige Fürwitz dieses Mönches, der gleichsam
-die Rolle unserer hemmunglosen Wissenschaftlichkeit vorwegnimmt, die
-derbste Zurechtweisung von Gotamo gefallen lassen. Denn dieser Mönch
-steht auf dem Sprung, den großartigen Protestantismus Gotamos von der
-Selbst-Losigkeit und Selbst-Ledigkeit des Erlebens dadurch um seine
-religiöse Geltung zu bringen, daß er ihn allzu gradlinig weiterdenkt
-bis dahin, wo das Denken nicht mehr mit dem Leben und Erleben in
-Einklang zu bringen ist. Alles bin Ich nicht und Nichts gehört Mir, --
-das ist ganz einfach eine Erfahrung, die umso erschütternder erfahren
-wird, desto tiefer ein Mensch sich seiner selbst bewußt und inne wird;
-und völlig vergeblich suchen wir aus irgend einer Erscheinung oder aus
-irgend einer Gegebenheit das Sein des Selbstes, das Sein der Person,
-das Sein der Seele herauszuklauben. Aber über diese erschütternde
-Erfahrung heraus nun um Gottes willen keine weltzersetzenden und
-selbstzersetzenden Betrachtungen, um Gottes willen keine Angriffe
-und Eingriffe in solche unumstößlichen Gewißheiten wie die, daß
-jegliche Tat ihren Täter habe und jeder Täter seine persönliche
-Beschaffenheit, Eigenheit, Umschriebenheit. Es ist nicht die Sache der
-Weisheit und noch weniger die Sache der Frömmigkeit und Heiligkeit, die
-Widersprüche des Daseins fortzudenken, sondern ihre Sache ist es, diese
-Widersprüche lauter herauszustellen und an ihnen hinauf gütig über sie
-hinauszuwachsen ‚_dvantvâtîta, nirdvandva_‘...
-
-Trotz aller Höflichkeit gegen die alten Götter bedeutet also Gotamos
-Verkündigung und Auftritt, wir können es jetzt ungefähr ermessen,
-eine religiöse Katastrophe, die in keinem Göttersturz östlicher oder
-westlicher Welten ihresgleichen findet. Dieser Gotamo, auf dem Gipfel
-des unendlich schichtigen Göttertempelberges des Brahmanismus thronend
-wie der höchste Stûpa auf der Kuppe des Boro-Budur, er behält sich
-im Unterschied zu allen Heiligen der Vorzeit alle ersten und letzten
-Entscheidungen der Tat selber vor. Mag immerhin ein Brahmâ oder sonst
-ein Mahâdeva diese und manche andere Welt geschaffen und geballt haben,
--- erlösen wird sie und vor allem erlösen wird sich nicht dieser
-Brahmâ und nicht ein Mahâdeva, sondern erlösen wird sie und erlösen
-wird sich Gotamo der Mensch allein. Fortan sind diese Götter zu einer
-Art von idealischer Zuhörerschaft, Zuschauerschaft bestimmt, uns
-Europäern vom Chor der attischen Tragödie her nicht ganz unbekannt.
-Diese Götter sind nunmehr Chor im Drama, dessen Held und Heldentäter
-der Ewige Mensch ist. Diese Götter schauen und hören nicht ohne
-Teilnahme zu, was hienieden sich begibt in Magadhâ, was sich begibt
-im Udener Park, im Garten der Gotamiden, im Siebenmangohain, auf dem
-Hügel mit dem Vierblätterlaub, am Grabmal an der Sarandadâ, im Pâvâler
-Baumfrieden und ich weiß nicht wo sonst. Es schaut zu der tausendfache,
-fünftausendfache, hunderttausendfache Brahmâ, es schauen zu die zwölf
-Âdityas und die Dreiunddreißig, es schauen zu die Götter Lustig und
-Nicht-Lustig im Dämmerlicht, es schauen zu die Götter Sinnig im
-Dämmerlicht, und die Schattengötter. Es schauen zu die Säligen Götter,
-die Götter der unbeschränkten Freude und Jenseit der unbeschränkten
-Freude, die glänzenden Götter und die hellerglänzenden Götter, die
-leuchtenden, die strahlenden und die hellerstrahlenden Götter, die
-unermeßlich strahlenden und die strahlengewordenen Götter, die
-gewaltigen und die wonnigen Götter, die herrlichen und die erhabenen
-Götter... Und das ist die Katastrophe ohnegleichen, welche die Götter
-seit dem Auftritt Gotamos betroffen, daß sie von Szene und Orchestra
-hinaus auf die Sitze des Theaters gedrängt worden sind und nicht mehr
-selber spielen, nicht mehr selber ernsten. In einem erschreckend
-strengen Wortsinn war der Gott Mensch geworden: im vierten Weltalter
-erlöst der Mensch sich selber, indessen Gott von ferne zusieht,
-vielleicht nicht ohne eine Regung von Ergriffenheit in die Erinnerung
-ans dritte Weltalter brütend verloren, da Er einst Gott und Mensch
-zumal war...
-
-Wo Gott geglaubt wird, sagte ich vorhin (und sprach dabei in der
-Sprache unserer westlichen Welthälfte), da sei auch Gott. Jesus, der
-Christus und Heiland dieser westlichen Welthälfte in ihrem nunmehr
-vielleicht abgelaufenen Weltalter, er sagte zu dem geheilten Samariter:
-Steh’ auf, geh’ hin! Dein Glaube hat dir geholfen! Der Glaube also,
-ihr Christen, hat hier geholfen, denn der Glaube schlägt vom Menschen
-zum Gott die Brücke und vom Gott zum Menschen, darauf beide in der
-Mitte hinüber-herüber sich begegnen und durcheinander hindurchgehen.
-Der Glaube zeuget als Mann Gott und gebiert als Weib Gott, und Gott
-spendet der Seele, woran sie darben muß, und so bedünkt den Gläubigen
-alles recht und gut. Es kann jedoch geschehen, ihr Christen, und wie
-vielmals ist es nicht bereits geschehen, daß der Mensch zwar glaubt und
-‚reich ist in Gott‘, aber dennoch arm an der Tat, die einzig Not tut
-und einzig Not wendet. Es kann geschehen, und wie vielmals ist es nicht
-bereits geschehen, daß die Welt in die Vaterhände Gottes fromm gelegt
-ward, wo sie gar rund und schön und fertig ruht, aber das Werk, das
-unerläßliche, unterlassen bleibt und diese nach außen schön geballte
-Welt nach innen ungeformt bleibt. Es ist gewiß, daß der Glaube geholfen
-hat, hier und da, vor Zeiten und in der Gegenwart, und darüber ist dann
-freilich nichts weiter zu sagen. Es ist aber nicht weniger gewiß, daß
-der Glaube auch nicht geholfen hat, hier und da, vor Zeiten und in der
-Gegenwart, -- und offenbar, um nur eines anzuführen, ihr Christen,
-hat er dem Christ selber nicht geholfen, als er am Marterholz nach den
-Elohim schrie und der Sohn vom Vater sich verlassen und verraten fand.
-Der Christ selber hatte den Vater gerufen und der Vater hatte nicht
-gehört; der Christ hatte anderen geholfen, aber konnte sich selber
-nicht helfen. Was aber dann, wenn sich der Glaube selbst nicht hilft?
-Da möchte einer sein, der glaubt aus ganzem Herzen, Gott sei für ihn
-ans Kreuz gehangen worden, und er findet sich dabei getröstet und
-von der Welt frei. Indes ein anderer möchte sein, der sich desselben
-Glaubens rühmt, aber in bittere Betrübnis fällt ob des Gottes, der für
-ihn ans Kreuz gehangen ward, und er kann nicht erraten -- warum? Ein
-solcher spricht dann etwa zu sich (und seufzet dabei viel): Weshalb,
-mein Gott, mußte Gott am Kreuze sterben und weshalb mußte Er sterben
--- für mich? Was taugt es meiner Schmerz- und Sehnsuchtseele, daß
-Gott am Kreuz gestorben ist? Was frommt mir Lebendem Gottes Tod,
-gesetzt, dies Leben bleibe doch bis ins Mark hinein ungöttlich oder
-widergöttlich? So haben die Christen, ihr Christen, viel hinüber und
-herüber und hinum und herum geglaubt, aber man könnte der Meinung
-sein, es sei wenig dabei herausgekommen, daran ein rechtschaffener
-Gott Seine rechtschaffene Freude haben möchte... Ihr Christen habt
-viel geglaubt, habt viel gehofft, habt viel sogar geliebt, wenn anders
-eueren Beteuerungen wohl zu trauen ist, -- denn wenigstens habt ihr
-vieles von der Liebe geschwatzt, das euch wie Speichel von den Lefzen
-einer alten Vettel geflossen ist und manchmal auch wie Rotz aus den
-Nüstern eines gelbsüchtigen Gaules... Aber wie schaut es bei euch
-aus, ihr Christen? Und Greuel über Greuel: wie schaut es in euch
-aus? Ist euer mildes Christenherz nicht eine Wolfsfalle für grobes
-Raubzeug geworden, -- und was wäre dem westlichen Menschen, der nun
-des Menschen Wolf kaltblütig und entschlossen geworden ist, nicht
-grobes Raubzeug? Ist dieses liebende Christenherz nicht eine Falle, vom
-Jäger arglistig bestreut mit dem grünen Laub des Glaubens, überblüht
-mit der braunen Knospe der Hoffnung, goldig und blau umlockt von der
-Rankenblume der Liebe? Wer aber dies euer leeres Herz betastete,
-verschlackt von der Feuerkohle ungeläuterten Liebens, zerfressen vom
-Rost zuchtlosen Hoffens, verdorrt in den Glutbränden und Blutbränden
-blindwütigen Glaubens, Anders-Glaubens, Aberglaubens, -- wie könnte
-er länger daran zweifeln, daß es eben der Glaube war, der euch nicht
-geholfen hat, ihr Christen! Nein, hier hat der Glaube nicht geholfen,
-und weniger noch hat er dort geholfen, wo heute die Besucher aller
-Kaffee-Häuser und die Gäste bei allen Fünf-Uhr-Tänzen nach dem Neuen
-Gott winseln und nach einem netten, runden Glauben an Gott. Dieses
-hündische Gott-Gewinsel, ihr Christen und Nichtmehr-Christen, dies
-ist fürwahr das Schändlichste gewesen, was ihr euch leisten konntet.
-In Kaffeehäusern und Nachtlokalen, in Spielhöllen und Bordellen, in
-Parteiversammlungen und Literatenzusammenkünften schrieet ihr euch die
-Hälse heiser nach dem Neuen Gott, damit er die Last des Verhängnisses
-von euch nähme, das ihr über euch gewälzt habt. Wie hungrige Ferkel
-nach den Zitzen des Mutterschweins schrieet und grunztet ihr nach Gott,
-damit ihr wie vormals in den Tag (und lieber noch in die Nacht) hinein
-leben könntet, als ob wenig oder nichts geschehen wäre... Nun ihr die
-Scham vor euch selber und die Ehrfurcht vor der Welt verloren hattet,
-die heilig über jede Heiligkeit hinaus ist, da schaltet ihr die Welt
-gottlos und euch selbst entgöttert. Ach, daß wir doch wieder glauben
-dürften, möchten, könnten! Ach, daß wir doch wieder in Kindereinfalt
-die Hände falten lernten und beten: „Lieber Gott, mach’ mich fromm,
-daß ich zu dir ins Himmelreich komm!“ Ach, daß wir doch wieder würden
-wie die Kinder, nachdem die Kinder, Gott sei’s geklagt, längst wie wir
-Erwachsenen geworden waren! Ach, daß wir doch auf allen Vieren füßelnd
-und etwas Wau! Wau! bellend ins Himmel-Bimmelreich der Nesthäkchen
-kriechen könnten! Ach, daß wir doch unsere Unschuld so frühzeitig und
-so gründlich einbüßen mußten und vermeinten, für unsere Schuld keine
-Buße tun zu müssen! Ach, daß die herrenlose Herde einmal wieder den
-Herrn verspürte und den Hirten oder zum wenigsten doch den Hund des
-Hirten! Ach, daß die Führerlosen ihren Führer fänden, die sich selbst
-nicht zu führen wissen, und alle Schwachen ihren starken Mann! Ach, daß
-der Herr-Gott doch über Böse und Gute wieder aufginge und insonderheit
-über die Zahlungunfähigen und Bankerotten, wie der keusche Mond
-aufgehet über die Gassen der Buhlerinnen und Huren! Ach, daß Gott den
-Unrat und Unflat von uns fegte, der uns mästete und von dem wir über
-die Maßen fett wurden!...
-
-Euch allen aber, Christen wie Nicht-mehr-Christen, hat Gott nicht
-geholfen und wird Gott nicht helfen. Selber habt ihr euch alle nicht
-geholfen, wie hätte Gott da eingreifen sollen oder helfen wollen? Wer
-aber glaubt, der soll sich selber helfen, und wer nicht glaubt, der
-soll erst recht sich selber helfen: so spricht der Gott-Lose zu euch
-Christen und ist fürwahr der Frömmere von euch Christen. Alleinig
-trachtsam nach selbstretterischer Tat, wird er der Tat trächtig und
-wohl auch mächtig und lässet in höchster Ehrerbietung Gott Gott sein,
-der es wissen muß, was er tun und was er lassen will. Der Gott-Lose
-lässet Gott Gott sein, sag’ ich, und vollbringt ohne Gott, was dem
-Menschen not ist. Kann sein, daß er glaubt, kann sein, daß er nicht
-glaubt, -- beides verrückt ihm nicht die groben und die feinen
-Gewichte mehr. Er selber hebt die Gewichte; er selber hält den Berg
-Govardhana über die Welt, wie weiland Krischna der Heiland und Held
-über die Hirten seiner Heimat, als Indra der Zürnende in der Sintflut
-sie ersäufen wollte. Nicht ist er begierig und nicht ist er fähig,
-endgültig den Knoten der Welt zu entknoten, der Gott heißt; nicht
-gilt ihm der bloße Glaube mehr wie der Nicht-Glaube. Aber den Berg zu
-halten über die Welt, die unbeschirmte und unbeschützte, und mit dem
-Berg als Schild die Hagelschauer des Schicksals und die Sonnenstiche
-des Todes aufzufangen, des ist er begierig, des ist er fähig. Hier ist
-die Rose, hier tanzt er; hier ist seine Treue, die er eisern hält. Der
-rechte Gläubige aber, das mögt ihr vorgeblich Gläubigen und vergeblich
-Gläubigen euch noch gesagt sein lassen: der rechte Gläubige ist ein
-Meerwunder. Ich glaube nicht an seinen Glauben, er weise mir denn
-seinen Berg Govardhana, den er von seiner Stelle versetzte und aus
-seiner Wurzel hob...
-
-Gotamo der Protestant also verlegt den Weltschauplatz aus Gott hinaus
-in sich selbst hinein, von der Erfahrung gewitzigt, daß Gott der Welt
-bisher allzu wenig geholfen hat und wesentlich mehr auch der Glaube
-an Gott nicht. Für Gotamo den Protestanten ist Gott ein Zuschauer wie
-ein Baum in einem Obstgarten, der eine Weile ausruht. Eine Legende des
-späteren, auf nördlicher Überlieferung fußenden Mahâyânam-Buddhismus,
-der sonst als eine völlige Umdeutung und Verkehrung der ‚reinen‘, das
-ist hier ‚protestantischen‘ Lehre ins Katholische zurück durchaus
-betrachtet werden muß, hat dessen unerachtet just diesen entschiedenen
-Protestantismus Gotamos auf glücklichste Weise zu versinnbildlichen
-vermocht. Sie nämlich lässet Gotamo, bevor er in der Nacht der
-vollkommenen Erwachung die Würde des vollkommen Erwachten (das ist im
-Pâli eben ‚Buddho‘) erwirbt, -- „Der Erwachte, o Keniyo, sagst du?“
-„Der Erwachte, o Selo, sag’ ich!“ -- sie also lässet den zwar noch
-nicht Erwachten, wohl aber bereits Erwachsamen (in den Pâli-Texten nur
-sehr selten vorkommend als der ‚_bodhisatto_, _bodhisaktas_‘, späterhin
-dann bekanntlich in die Sanskrit-Texte als ‚_bodhisattva_‘ fälschlich
-übertragen) ein feierlich Gelübde tun. Es ist das heilige Gelübde zu
-vollbringen, was er beschworen habe, und zu vollenden, was er gewillt
-sei, -- ganz offenbar hier in der Erinnerung vorgebracht an den Dritten
-Bericht aus dem Großen Verhör über die Erlöschung Mahâparinibbânasuttam
-aus der Längeren Sammlung der Reden Dîghanikâyo, wo der vom Tode, von
-Mâro zur Erlöschung gemahnte Gotamo die folgenden Worte spricht: „Nicht
-eher werde ich, Böser, zur Erlöschung eingehn, solange Mönche bei mir
-nicht Jünger geworden sind, solange Nonnen bei mir nicht Jüngerinnen
-geworden sind, solange Anhänger und Anhängerinnen bei mir keine Jünger
-geworden sind, solange da bei mir das Asketentum nicht mächtig wird
-aufgediehen sein, nach allen Seiten hin, unter vielem Volke verbreitet,
-jedem zugänglich, bis es eben den Menschen wohlbekannt geworden ist.“
-Die Gebärde nun dieses großen Schwures, mit einer wahrhaft asketischen
-Enthaltsamkeit des bildnerischen Aufwandes, aber freilich auch mit
-einer nirgends überbotenen Gewalt des Ausdrucks dargestellt vielleicht
-am erhabensten in den Nischen jenes obgedachten Stûpa Boro-Budur auf
-Java, -- diese Gebärde besteht unsäglich schlicht nur in einer leis
-leisen Berührung der Erde mit der rechten Hand, die mit dem Rücken
-nach außen leicht auf dem Unterschenkel des rechten unterschlagenen
-Beines liegt. Berühren der Erde, _bhûmisparçamûdra_, heißt die Gebärde,
-heißt der Eid selbst dieser höchsten Buddho-Treue in der hieratischen
-Sprache der späteren und nördlichen Urkunden, die hier ganz ohne
-Frage den innigen Sinn der seelischen Begebenheit zu treffen, wenn
-nicht zu steigern wissen. Ein Berühren der Erde und ein Gelöbnis, bis
-zur endgültig gebrochenen Bahn auf dieser Erde zu verrichten und zu
-erwirken, was Gott und alle Götter bisher nicht zu erwirken vermocht
-haben: das ist, das bleibt im reinsten Geist des Buddho eigentlicher
-Protestantismus...
-
-
-
-
-DIE ZWEITE UNTERWEISUNG:
-
-BUDDHO DER ERLEBENDE
-
-
-DAS HEILIGE NEIN LASST UNS BEKENNEN DENN NEIN UND JA SIND WIE
-DIE SCHENKEL DER NÄMLICHEN PARABEL, UND WO SICH DIESE SCHEITELT,
-DURCHDRINGEN BEIDE SICH IN EINEM PUNKT -- DENN NEIN UND JA SIND
-WIE DER ABSTEIGENDE UND ANSTEIGENDE KNOTEN DER WELT, UND WO SICH
-BEIDE SCHÜRZEN, SCHWEBT GIPFELND DAS GESTIRN DER WELT DURCH SEINEN
-MITTAGSKREIS -- DENN NEIN UND JA SIND WIE DAS AUSSENBLATT UND
-INNENBLATT DESSELBEN KEIMLINGS, IM SCHOSSE DER GEBÄRERIN WIE BETERHÄNDE
-STRENG GEFALTET -- GEFALTET ZUM AUSSEN-INNEN-BLATT REIFT ERST DER
-KEIMLING DER GEBURT ENTGEGEN: GEFALTET ZUM NEIN-JA REIFT ERST DIE SEELE
-IHRER WELT ENTGEGEN -- DAS NEIN ZERSPELLT DAS GOLDENE EI DER WELT,
-DAS MÜTTERLICH VOM PHÖNIX GEIST BEBRÜTETE -- JEDOCH DES JUNGEN ADLERS
-SCHNABELSCHÄRFE IST ES, DIE SICH MIT FRÜHFLÜGGER WEISHEIT LICHTBEGIERDE
-DAS DUNKLE EI ZERSPELLT -- O WELT, VON DEINER SONNE EMPFING ICH
-TRÄUMEND EINEN HIMMELSTRAHL IN MEINEM AUG, ALS ES NOCH SCHLIEF, ZUM
-PFAND, DASS ICH DEREINST MICH AN DIR SONNEN WÜRDE, WANN ICH DURCH DEINE
-BITTERSCHALE BRACH -- O AUGE ICH DER WELT, O HIMMELSAUGE ICH, ZU DIR,
-O WELT, ERWACHEND -- O ICH ERWACHTER DANN, VOLLKOMMEN ERWACHTER ICH ZU
-DIR, O WELT --
-
- DIES IST DIE ZWEITE UNTERWEISUNG
-
-
-Ein jeder von uns, ihr Christen, pflegt aus einer wüsten Menge
-gleichgültiger Begebenheiten seines Daseins das eine oder andere
-Ereignis herauszuheben, welches er vor sich selber gern als sein
-Erlebnis wahrzeichnet. Ein jeder von uns lebt vielleicht Jahre
-hindurch, lange und langweilige Jahre, nur so dahin, -- bis ihn zu
-irgendeiner Stunde ein Blick aus einem Menschenauge trifft; bis ihn
-ein Wort, ein Ruf, ein Haß, eine Freundschaft, ein Todesfall, ein
-Lebensfall erreicht, der ihn im Innersten aus seiner Bahn wirft oder
-ihm umgekehrt seine Bahn erst weist. Zweierlei ist es also, was ein
-Begebnis zum Erlebnis stempelt. Einmal die scharfe Abgrenzung und
-Abhebung von allem andern, was bisher gemeinhin als Erfahrungstoff
-aufgenommen, verarbeitet und ausgewertet ward. Das andere Mal
-aber die Aneignung und Besitzergreifung eines Vorkommnisses als
-einer ausschließlich auf diese besondere Person und keine sonst
-zugeschnittenen Begebenheit. So daß in einem zwiefachen Wortverstand
-das Erlebnis als Ausnahmefall und Einmaligkeit angesprochen wird: im
-Vergleich nämlich mit allen sonstigen Erfahrungen einer Person, wie sie
-von der Gewohnheit gleichsam in der Handmühle der Alltäglichkeit klein
-und fein gemahlen werden oder wie sie gleichfalls von der Gewohnheit
-ohne die geringste Spur zu hinterlassen aufgebraucht und eingeschluckt
-werden; im Vergleich ferner mit den Erlebnissen aller übrigen Personen,
-welchen die Möglichkeit zu eben diesem Erlebnis der höchsteigenen
-Person schlankweg aberkannt wird, -- und zwar mit gutem Fug aberkannt
-wird, wie wir uns bald überzeugen werden...
-
-Was also heißt Erlebnis? Da ist etwa ein Mensch in langen Jahren jeden
-Morgen um dieselbe Stunde denselben Weg zu seinem Geschäft gegangen;
-entlang denselben Straßenzügen, vorbei an denselben Häusern, Gärten,
-Mauern. Er weiß genau die Zahl der Schritte, die er zurückzulegen hat.
-Er kennt die Straßen, Häuser, Gärten, Mauern längst auswendig, und ihr
-immer gleicher Anblick berührt ihn so wenig mehr wie das immer gleiche
-Gelärm der Straßenbahnen, Kraftwagen, Droschken und Lastfuhren, der
-Dampfpfeifen, Sirenen und Hupen, der Ausrufer und Gassenkinder. Bis
-er an einem Morgen unter den ungezählten Morgen etwa von ungefähr den
-Zweig eines blühenden Goldregens über eine Mauerecke im Winde schaukeln
-sieht, und von diesem Anblick, der möglicherweis oft schon auf seine
-gleichmütige Netzhaut gefallen war, ganz seltsam berührt, betroffen und
-beglückt sich fühlt. Diesen im Morgenwind wiegenden Goldregenzweig über
-der Mauerecke verleibt er sich als einen nie wieder zu verlierenden
-köstlichen Besitz in seiner Erinnerung ein, -- und nicht nur wird
-er diesen Eindruck nie, nie wieder vergessen können, sondern auf
-unbegreifliche Art von ihm im Innersten durchsäuert und durchwühlt,
-durchpflügt und durchschüttert werden. Dieser Goldregen über der
-Mauerecke hat ihm plötzlich Beziehungen aufgeschlossen und Gesetze
-enthüllt, die ihm bis zu dieser Stunde schlechterdings verborgen
-geblieben waren. Wie ist die Welt so hell, wie ist die Welt so reich,
-wie ist die Welt so schön, fällt ihm jetzt vielleicht als unvermittelte
-Offenbarung in die Seele, die selbst für einen ewigen Augenblick hell,
-reich und schön wird... So dünkt den Erlebenden der Goldregenzweig über
-der Mauerecke an jenem Morgen der Seelen-Öffnung wie ein Schicksal,
-das sich früh auf die Beine gemacht hat, ihm an der richtigen Stelle
-zu begegnen. Aus der verstaubten Reihe von täglichen und ähnlichen
-Erfahrungen, die niemals Erlebnis geworden sind, hebt sich glänzend
-dieses eine Glied heraus, wie sich etwa aus einer Kette von Wachsperlen
-eine echte und wirkliche Perle herausheben würde. Was dieser Mensch,
-sonst vielleicht ein elender Spießbürger oder ein verhärteter Krämer,
-hier erlebt, das unterscheidet sich für ihn selber auf das bestimmteste
-von seinem gesamten sogenannten Leben: und mehr noch unterscheidet es
-sich für ihn vom Erleben aller anderen Lebendigen. Denn eben, indem
-er die Wahrnehmung ‚Goldregen über einem Mauerwinkel‘ zu dem Erlebnis
-steigerte: ‚Wie ist doch diese Welt hell, reich, schön‘, verhaftet und
-vereignet sich dieses Erlebnis auf eine kaum zu beschreibende Weise
-mit ihm selber. Sein Erlebnis ist nicht allein eine Begebenheit außer
-allem Vergleich mit den übrigen Begebenheiten seines persönlichen
-Lebensablaufs, -- es ist außerdem auch noch eine Begebenheit, an
-welcher kein anderer Mensch Teil hat und Teil haben kann. Denn im
-Erlebnis fließt ein Stück Welt in ein Selbst über und fließt ein Selbst
-in ein Stück Welt über, so daß beide fortan untrennbar eins sind. Der
-Erlebende hat die Gewißheit, er darf sie haben, daß sein Erlebnis
-in einem unbedingten Wortsinn Sein ist, nur ganz allein von ihm und
-niemandem sonst erlebt: ein großes oder kleines Schicksal, welches
-sich nur in ihm erfüllen konnte, -- sein eigenstes und urpersönliches
-Glück oder Verhängnis, welches seine einmalige und unvergleichbare
-innere Geschichte bildet. Das Erlebnis eines Menschen aber, sehen
-wir nun, ist ohne Einschränkung und Abzug auch das Geheimnis eines
-Menschen. Und um die Wahrheit zu gestehn, ihr Christen, so trennt uns
-Menschen gemeinhin nichts so unüberbrücklich wie dies, daß wir nicht
-einerlei sondern vielerlei Erlebnis haben, nicht einerlei sondern
-vielerlei Geschick, nicht einerlei sondern vielerlei Geschichte.
-Verschiedenes Erleben verwirrt die Zungen und noch mehr die Sinnesarten
-der vielen, -- verschiedenes Erleben läßt gegenseitiges Verständnis und
-Ein-Verständnis nirgends auf kommen, oder wenn schon aufkommen, nicht
-Bestand und Dauer haben. Denn wer nicht seines Nächsten Erlebnis hat,
-wie soll der seinem Nächsten wirklich nah sein? Wenn aber so: ist dann
-das Erlebnis nicht schon von Haus aus ein Verhängnis, das wie ein
-Keil, das wie ein Beil in den Stamm der Gemeinschaft getrieben wird und
-die Gemeinschaft spaltet?...
-
-Und in der Tat! Es ist schwer zu sagen, wie es infolge dieses
-Sachverhaltes mit unserer Gemeinschaft, ja mit der menschlichen
-Gattung überhaupt beschaffen wäre und ob sich diese Gattung nicht
-schon seit langem selber aufgerieben hätte, wenn nicht von Zeit zu
-Zeit in dieses stäte Auseinanderleben und Gegeneinanderleben aller
-wohltätig ein Einzelner und Auserlesener träte, der gewissermaßen gar
-nichts Besonderes, Eigenartiges, Unterscheidendes für sich erlebte,
--- vielmehr nur eben das, was ausnahmlos alle irgend einmal erfahren
-haben oder doch erfahren werden. Zum Heil nämlich dieser ganzen
-Gattung Mensch und zu ihrer zeitweiligen Errettung geschieht es nicht
-gar häufig zwar, aber doch immerhin hie und da, daß ein Einzelner in
-unerhört verstärktem Maß berührt und betroffen werde von dem Erlebnis
-aller Einzelnen, welches er kraft einer gleichsam stellvertretenden
-Erleberschaft zu seinem besondern Schicksal macht und dadurch dann
-zugleich ent-einzelt: derart vollzieht sich hier eine Individuation
-der Spezies, oder wenn man recht verstehen will, eine Spezifikation
-des Individuums, wie sie etwa der heilige Thomas von Aquino, ihr
-Christen, in seiner scharfen und strengen Bezeichnungweise einen
-‚Engel‘ zu nennen einst beliebte, -- einen Engel in einem tieferen
-als nur dogmatischen Sprachverstand, wie wir jetzt wohl bemerken
-können... Es gibt mithin, ihr Christen, Engel! Es gibt Einzelne, die
-stellvertretend das Erlebnis der Gattung zu dem ihrigen machen und in
-dieser Hinsicht zur Gattung sich erweitern! Es gibt Persönlichkeiten,
-hier in dieser Welt und mit der Vernunft dieser Welt zu umfassen und
-zu erraten, welche als Einzelwesen durch ihre Erlebnisart gleichsam
-gattungmäßige Bedeutsamkeit erreichen! Es gibt spezifisch geweitete,
-spezifisch verallgemeinerte Individuen und individuell verengerte,
-individuell besonderte Spezies! Es gibt, wie ein _pater ecstaticus_
-des hohen Mittelalters sagt, ‚Allgemeine Menschen‘, und diese
-Allgemeinen Menschen sind einzig und allein die Wort- und Seelenführer
-menschheitlicher Gruppen in den Angelegenheiten von menschheitlicher
-Erheblichkeit und Würde. Eine Persönlichkeit also wie der indische
-Buddho Gotamo, durch Wille und Vergunst der Sprache schon sprachlich
-als ‚Der‘ Buddho über das Bereich des Nur-Persönlichen deutlich
-herausgesteigert, -- eine solche Persönlichkeit erlebt auf einzige
-Weise nicht sowohl ihr eigenes, einmaliges, persönliches Schicksal, als
-vielmehr das Schicksal des menschheitlichen genus überhaupt, welches
-man nicht ohne schmerzliche Ironie das _genus_ des _homo sapiens_
-bezeichnet hat... Ein Mensch wie Gotamo erlebt somit generell; nicht
-eigentlich individuell, sondern generell zu erleben ist Sein Geheimnis
-und Seine Bestimmung, Sein Geschick und Seine Geschichte. Befragt um
-sein entscheidendes und schöpferisches Erlebnis, könnte der Buddho
-keine andere als diese Antwort geben: ich erlebte, was du und du und
-du erlebt hast, was du und du und du erlebst, was du und du und du
-erleben wirst. Ich erlebte das Menschliche, Ewig-Menschliche. Ich
-erlebte Alter, Krankheit, Tod, -- Alter, Krankheit, Tod...
-
-Darüber hat nun Gotamo seinen Jüngern berichtet, in Gestalt zwar einer
-Legende, die als die Ausfahrt Vipassî-Buddhos gefunden wird in der
-Vierzehnten Rede aus der Längeren Sammlung Dîghanikâyo. Dort lebt Prinz
-Vipassî, der erste der Buddhos in der Reihe der Sieben, in den drei
-Palästen seines königlichen Vaters und im Genuß jener vollkommenen
-Wunschbeglückung, wie sie bei den Fürsten und Königsöhnen des indischen
-Märchens herkömmlich ist, -- und leicht kann man sich übrigens bei
-dieser Gelegenheit davon überzeugen, daß Gotamo als Dichter und
-Erzähler von Märchen mit jedem Kâlidâsa seiner Heimat zu wetteifern
-vermöchte: er, der unstreitig der erste Gleichnissprecher aller Zeiten
-und Völker gewesen ist... Jahrtausend also um Jahrtausend seiner
-mythischen Jugend verlebt Prinz Vipassî in diesen Palästen, bis es ihn
-eines Tags gelüstet, eine Ausfahrt in die Umgebung des Schloßgartens
-zu machen. Der Wagenlenker schirrt ein und der Prinz besteigt mit dem
-Hofstaat die kostbaren Gefährte. Den königlichen Gärten kaum enteilt,
-stoßen sie da auf eine befremdliche Gestalt, -- gebeugt, kopfwackelnd,
-ausgemergelt, weißhaarig, zitterig, tapperig, zahnlos, triefäugig. ‚Was
-hat der Mann dort getan?‘ fragt der Prinz seinen Wagenlenker. ‚Er sieht
-doch nicht aus wie andere Leute?‘ ‚Das ist ein Greis,‘ antwortet der
-Wagenlenker, ‚ein Alter, der nicht mehr lang zu leben hat.‘ ‚Und werde
-auch ich dereinst diesem Alten gleichen?‘ frägt der Prinz entgegen.
-‚Auch du,‘ versetzt der Wagenlenker, ‚auch du wirst dem Alter nicht
-entrinnen‘... Nun hat der Prinz für heute genug. Er befiehlt die Umkehr
-und zieht sich ins Innerste zurück des Palastes, ins Innerste seiner
-selbst zurück, wo er über diesen ungemeinen Vorfall grübelt, brütet. „O
-Schande sag’ ich da über die Geburt, da ja doch am Geborenen das Alter
-zum Vorschein kommen mu߫...
-
-Zweimal noch nach Ablauf so manchen vergessenden und beschwichtigenden
-Jahrtausends befiehlt Prinz Vipassî seinem Wagenlenker den Wagen
-anzuschirren und zweimal bricht der Jüngling vorzeitig die Ausfahrt
-ab. Beim zweitenmal stößt er auf einen Siechen, hilflos im eigenen Kot
-und Harn liegend und in jeder kleinsten Bewegung auf fremder Menschen
-Beistand angewiesen; beim drittenmal begegnet er einem Leichenzug, von
-vielerlei Volk geleitet in düsteren Gewändern. Und nach jeder Ausfahrt
-geschieht es, daß er eine lange lange Weile grübelnd und brütend in
-sich selbst versinkt: „O Schande sag’ ich über die Geburt, da ja doch
-am Geborenen das Alter zum Vorschein kommen muß, die Krankheit zum
-Vorschein kommen muß, der Tod zum Vorschein kommen muß“... Dann aber
-ist’s von allem wieder still. Das Leben in den Wunschgenüssen nimmt
-seinen Fortgang, und kein Anzeichen verrät, wie jene Begegnungen
-im Gemüt des Prinzen weiterwirken, -- kein Anzeichen verrät, ob
-sie weiterwirken. Und einmal noch nach tausend und tausend Jahren
-heißt Prinz Vipassî die herrlichen Gespanne einschirren, um dieses
-vierte und letztemal dann einen Pilger, einen Mönch, einen Bettler zu
-gewahren, mit kahlgeschorenem Schädel und in fahler Gewandung. Einmal
-noch eine Frage an den treuen Wagenlenker, und nach der Antwort ist
-die Entscheidung endlich gefallen. Das dreifache Erlebnis hat die Tat
-reifen lassen und die letzte Ausfahrt läßt sie zur Ausführung gedeihen.
-Daheim scheert sich Vipassî seinen Schädel kahl, hüllt sich in ein fahl
-Gewand und verläßt die königlichen Paläste der Jahreszeiten, um sich
-auf Pilgerfahrt, Bettlerfahrt, Büßerfahrt zu begeben, -- will heißen,
-um sich selbst zu finden, selbst zu retten, selbst zu lösen. Als ob ein
-einzelner und einziger Mensch von Alter, Krankheit, Tod ein erstesmal
-erfahren könne und erfahren habe, stellt die Legende von Vipassîs
-Ausfahrten das Erlebnis des Buddho mit einer großartigen Einsilbigkeit
-heraus, die das Gemüt betäubt wie das gleichmäßige Getrommel des Regens
-in einer Herbstnacht auf ein Blechdach... Und in der Tat! Irgendwie
-hat Gotamo die drei Kernübel des Menschseins mit der Gewalt der
-Erstmaligkeit erfahren, mit der Heftigkeit der Erstmaligkeit erlitten:
-gleichsam er der erste Mensch, der die sonnige Schwelle göttlicher
-Wunschwelten mit Bewußtsein überschreitet und mit Bewußtsein das Ödland
-der Wirklichkeit betritt...
-
-Vergänglichkeit, Leidbeschaffenheit, Wesenlosigkeit heißt mithin das
-Urerlebnis Gotamos, das Urerlebnis des ‚Allgemeinen Menschen‘, -- und
-wer wollte leugnen, daß dies in vielerlei Bezugnahme das Urerlebnis
-unserer Gattung ist und bleibt. Dieses Urerlebnis stets sich von neuem
-zu vergegenwärtigen fordert er denn auch in erster Linie von jedem, der
-ihm nachzufolgen oder anzuhängen willens ist. In zahllosen Variationen
-und Varianten kehrt an zahlreichen Stellen wieder, was dieser Bericht
-von den vier Ausfahrten Vipassîs in einer mächtig vereinfachenden
-Sinnbildlichkeit so einprägsam veranschaulicht denn für kaum eine
-zweite geschichtliche Gestalt gilt ja des jüngeren Nietzsche Wort vom
-Welt-Vereinfacher wie für den Buddho. Eine der eindrucksvollsten dieser
-Stellen findet sich in der Sammlung der Bruchstücke Suttanipâto, die
-zu den ältesten Schriften des Heiligen Kanons gehört. Aus bestimmten
-Gründen führe ich sie in zwei Übertragungen, einer prosaischen und
-einer metrischen an: „Unbemerkt und unerkannt ist das Leben der
-Menschen hienieden, kummervoll, vergänglich und mit Leid verbunden. Es
-gibt keinen Ausweg, auf dem die Geborenen dem Tod entrinnen könnten;
-ist das Alter erreicht, da naht der Tod: so ist das Gesetz aller
-Lebewesen. Wie für unreife Früchte schon früh die Gefahr des Abfallens
-besteht, so besteht für die Menschen ständig die Gefahr des Sterbens.
-Wie allen vom Töpfer angefertigten Tongefäßen das Ende des Zerbrechens
-bestimmt ist, so auch dem Leben der Sterblichen. Die Jungen und die
-Großen, die Toren und die Weisen, alle gelangen in die Gewalt des
-Todes, aller Ende ist der Tod. Von denen, die vom Tod überwältigt
-in das Jenseit gegangen sind, -- nicht rettet der Vater den Sohn,
-noch auch die Verwandte die Angehörigen. Sieh! Während die Verwandten
-zusehen und laut wehklagen, wird einer der Sterblichen nach dem anderen
-hinweggeführt wie das zum Tod bestimmte Rind“...
-
-Und nun die nämliche Stelle, die wohl echt gotamidisch zu sein
-scheint, denn die Worte von des Hafners Töpferware finden sich (in
-etwas erweiterter Fassung) auch am Ende des Dritten Berichtes aus
-dem Großen Verhör über die Erlöschung Mahâparinibbânasuttam, wo sie
-der Buddho in seinen letzten Tagen zu seinen Jüngern spricht, --
-nun diese nämliche und ‚echte‘ Stelle in der vollkommen würdigen,
-ja erhabenen Eindeutschung Neumanns. Hier ist sie angeschwollen
-zu einem Klagegesang, zu einem Schicksallied von hymnischer
-Gewalt und Schönheit, seltsam überdies gemahnend an jenes letzte
-Gedicht-Bruchstück des Florentiners Buonarotti, dessen zermalmende
-Schwermut als ‚_Canto de’ Morti_, Was geboren ist, muß sterben‘ in Hugo
-Wolfs Vertonung etwa manchen deutschen Ohren widertönen mag:
-
- „Unbestimmbar, unerkennbar
- Sterblichen ist hier das Leben,
- Kümmerlich und karg erlesen
- Und in Leiden eingewunden.
-
- Keines kennt man doch der Mittel,
- Daß Gebornes nicht verderbe,
- Und dem Altern folgt das Sterben;
- Also ist es Art der Wesen.
-
- Früchten ähnlich, reif gewordnen,
- Fallen und im Fallen fürchten
- Sich die sterblichen Gebornen
- Immer vor dem Todessturze.
-
- Wie des Hafners Töpferware,
- Vielgeformte Tongefäße,
- Alle doch zerbrechen endlich:
- Unser Dasein ist nicht anders.
-
- Junge starke, Alte schwache,
- Toren, Weise, wer es sei auch,
- Alle wandeln Todesbahnen,
- Todesuntertanen alle.
-
- Da vom Tode sie umfangen
- Weiter wandern durch die Welten,
- Hilft kein Vater hier dem Sohne
- Und kein Vetter dem Gevatter.
-
- Hinterbliebne, Kinder, Eltern,
- Sieh nur, wie ein jedes wehklagt,
- Eines nach dem andern hinstirbt,
- Weggeschleppt wie ein Stück Schlachtvieh“ ...
-
-Unstreitig also, ihr Christen, ist Gotamos Erleben ein Leiden. Ein
-Leiden, sage ich: zunächst ein Leiden, und noch lange nicht das Leiden
-schlechtweg, wie zu früh verallgemeinernd und darum nicht durchaus
-richtig oft behauptet ward. Gotamos Erleben ist ein Leiden, und
-zwar zunächst ein gleichsam örtlich festgelegtes und umgrenztes. Es
-ist ein Leiden zunächst nicht eigentlich am Leben und am Grundgesetz
-des Lebens, vielmehr ein Leiden ganz offenbar am Leibe und am Gesetz
-der Leiblichkeit. Der Leib ist es und des Leibes Vergänglichkeit,
-Hinfälligkeit, Gebrechlichkeit, Verweslichkeit, Wesenlosigkeit, die in
-diesem gotamidischen _Canto de’ Morti_ und an so ungezählten Stellen
-der Lehre immer wiederkehrend sonst mit der dämonischen Melancholie des
-Michelangelo melodisch beseufzt, betrauert und besungen werden: die
-Bestimmung der Leiblichkeit, die unumgängliche ist es, welche Gotamos
-festes und wohlverwahrtes Herz bis in das Fundament erbeben lässet. Daß
-dieser Leib nicht dauert und nicht dauern kann, daß dieser Leib sich
-eines Tages nicht mehr aufrichten und erheben wird, um dann in allen
-Regenbogenschillertinten als stinkendes Aas anzulaufen und schließlich
-bis auf Nägel, Haare, Zähne zu Staub und Asche zu vermodern, das hat
-den Jüngling Gotamo in einem Augenblick, wo ihm die ganze Wahrheit
-wie ein Gespenst aus jener Welt vor die Seele trat, wie mit einem
-wohlgezielten Blattschuß getroffen und hingeworfen. Wer aber von dem
-Geschick des Körpers derart betroffen und hingeworfen wird, der muß
-ein Mensch von leidenschaftlicher Liebe zu seinem Körper sein, denn
-nur die leidenschaftlichste Liebe zu einem Ding schafft sich soviel
-Leiden um den Verlust dieses Dings. Wem da nur wenig oder gar nichts
-an seinem Leibe liegt, der wird kaum heftig leiden unter dem Altern,
-Welken, Siechen, Sterben dieses Leibes: wer aber vollends den Leib
-verachtet, wie sollte den des Leibes Tod berühren. Nichts wäre mithin
-so verkehrt und irrig, als diesem Jüngling Gotamo betreff des Leibes
-jene hellenisch-asketisch-christliche Auffassung zu unterstellen,
-die man unter Bezugnahme auf ein geflügeltes Wort des Sokrates aus
-dem platonischen Gorgias (in etwas freier Verdeutschung freilich)
-die Leib-Leiche- oder die Körper-Kadaver-Auffassung -- griechisch
-die σῶμα-σῆμα-Auffassung -- zu nennen wohl berechtigt wäre.
-Pythagoreer, Orphiker, Platoniker, Neuplatoniker und Christen mögen
-im Körper den Kerker und mehr noch die Gruft der Seele von Haus aus
-mißachtet haben; Gotamo weiß von dieser Mißachtung nichts, weiß von
-dem ganzen abendländischen Leib-Seele-Zwiespalt nichts: zum mindesten
-weiß er von Haus aus davon nichts. Darum ist es an uns Christen der
-westlichen und westlich zerrissenen Welthälfte, dem Umstand von
-höchstem Belang unsere höchste Aufmerksamkeit zu widmen, daß dieser
-Gotamo, Sohn des Fürsten Suddhodano zu Kapilavatthu, durchaus nicht
-etwa priesterlichem, sondern kriegerischem Geblüt entstammt und
-noch in seiner Jugend den Hochgebirg- und Alpenatem der indischen
-Heldenzeit eines tiefen, vollen Zugs geatmet hat... Gotamo war
-Krieger, Prinz und Ritter, nicht Priester und weniger noch Priesters
-Freund; und er war dies als Sohn eines Volkes, welches weder von
-einem gleichzeitigen noch von einem späteren je übertroffen worden
-ist in seiner Freude an gesunder, wohlgepflegter, spielgeübter
-Leiblichkeit. Gotamo war Krieger, Prinz und Ritter in jener indischen
-Heldenspätzeit noch, die vor reifem Welt- und Sinnenglück inbrünstig
-strahlte und bei dem festlichen Anblick edler Krieger gleichsam
-hell und zärtlich wieherte wie ein junger Hengst, der eine Stute
-wittert. Sproß eines fürstlichen oder adligen Geschlechts, wurde
-der Jüngling Gotamo sicherlich auferzogen in den Waffen für die
-Waffen, -- wie hätte er seinen gelenken, behenden Jünglingleib nicht
-lieben sollen, der unter allen Umständen des Kriegers beste und
-höchste Tugend ist. Wurde der junge Prinz und Ritter dann im Ablauf
-der Zeit zum Heiligen und Erwachten seiner Weltzeit, -- nun um so
-besser! Hierin wurde kein Widerspruch befunden nach der Auffassung
-einer Rasse, welcher ursprünglich die Heiligkeit und Erwachsamkeit
-keineswegs ein mönchischer Stand, sondern ein menschlicher Zustand
-bedeutete, zu welchem man in einem gewissen Lebensalter bei richtiger
-Lebensführung gleichsam von selbst heranreift. Sollte in guten Zeiten
-doch der Waldeinsiedler (_vânaprastha_) die vorangehenden Stadien des
-Brahmanjüngers (_brahmacârin_) und des Haushalters, Hausverwalters
-(_grihastha_) seinerseit nur ablösen, wie der Waldeinsiedler eine
-Weile später zum eigentlichen Pilger, Bettler- und Büßermönch
-(_bhikshu_ oder _bhikkhu_) aufrücken konnte und aufrücken sollte:
-erst wenn der Mann der Gemeinschaft gedient und sich gewissermaßen
-in der Welt selbstverwirklicht hatte, winkte ihm als höherer
-Zustand Weltlosigkeit und Einsiedlerschaft, in welchem er seine
-Selbstheiligung zu vollbringen hoffen durfte. Asketenschaft entsprang
-hier keinem weltfeindlichen Verhalten oder Fühlen, sondern krönte das
-Menschenleben, in innigstem Einklang mit jeder tieferen Erfahrung,
-wonach der Mensch und namentlich der Mann sich selbst gemächlich aus
-der Welt heraus und über die Welt hinaus lebt, ohne Enttäuschung, ohne
-Flucht, ohne Bitterkeit, ohne Bodensatz, in reinster Übereinstimmung
-mit der Eigenbewegung, Eigenrichtung seines Seelenwachstums. Der
-Mensch, wo er dieser Bewegung und Richtung seines Seelenwachstums nicht
-absichtlich entgegen lebt, lebt seiner Seele zu und eben deshalb über
-die Welt hinaus und über den Leib hinaus; denn ist auch diese Seele
-in keinem Sinn eine Widerwelt oder ein Widerleib, so ist sie doch der
-höhere Grad, die höhere Stufe der Weltlichkeit und Leibhaftigkeit. Der
-Leib wird darum in jener Zeit auch noch nicht grundsätzlich kasteit
-oder mißhandelt oder gar abgetötet, vielmehr er wird überwunden und
-überwachsen. Mit seinem Dahinschwinden mehrt sich die Seele, ähnlich
-wie mit dem Abwelken der Kartoffelstaudenblüte der Knollen im Boden zur
-Genießbarkeit heranreift...
-
-Verwundern wir uns also nicht, daß es in den Schriften des
-Pâli-Kanons eben der Heilige seines Weltalters ist, der zu
-vollkommener Makellosigkeit des Leibes verpflichtet, von allen
-übrigen Menschen gerade er am unerläßlichsten verpflichtet ist. Für
-den Buddhismus ist es ganz einfach eine Selbstverständlichkeit,
-was der europäisch-christlichen Erkenntnis-Zwiesal mit ihrer
-grundsätzlich gegensinnigen Leib-Seelenwirklichkeit schlechterdings
-unbegreiflich erscheint und erscheinen wird: Gotamo wäre durch einen
-minder vollkommenen Körper von vorn herein widerlegt, nicht allein
-vor den andern, sondern am meisten vor sich selber. Wo in einem
-vornehmen Haus ein Knabe geboren wird, berechtigt er in dem Maß zu
-höheren Hoffnungen, desto untadeliger sein Leib gebildet ist, -- zur
-höchsten Hoffnung aber dann, wenn er die zweiunddreißig Male des
-‚Großen Mannes‘ aufweist, die für den Kanon herkömmlich geworden sind.
-Alsdann ist der Welt nämlich in heiliger Stunde ein Eroberer oder
-ein Überwinder erschienen: der Kaiser-König oder der Erwachte einer
-nunmehr eingeleiteten Weltzeit. Vielleicht ist kein anderer Umstand
-geeignet, die wundervolle Einheitlichkeit des indischen Denkens
-und Wertens auszudrücken, als dieses beziehungreiche ‚oder‘, das
-jeden Spielraum freiläßt zwischen der Typik einer die Macht restlos
-erfüllenden und die Macht restlos verschmähenden Menschlichkeit.
-Innerhalb des Umkreises menschheitlicher Selbstverwirklichungen
-verhält sich der Kaiser-König zum Erwachten, wie sich der Leib zur
-Seele verhält, -- zuletzt sind sie irgendwie dasselbe und treten nur
-verschiedenartig, kaum aber verschiedenwertig in Erscheinung: wenn
-ich hier vorhin die Seele den höheren Grad des Leibes nannte, so
-ist wahrscheinlich auch dieses noch viel zu abendländisch, viel zu
-platonisch, viel zu christlich ausgedrückt gewesen... Was aber jene
-indische Gleichwertung des Kaiser-Königs mit dem Erwachten anlangt,
-so dürfte bei ihr noch der andere Gedanke mit hineinspielen, daß es
-sozusagen der Wahlfreiheit des mit den zweiunddreißig Kennzeichen
-Ausgestatteten anheim gestellt ist, ob er sich späterhin für den
-Typus des Eroberers, ob für den Typus des Überwinders tatsächlich zu
-entscheiden geruhe. Für indisches Auffassen liegt es durchaus innerhalb
-des Bereichs gotamidischer Fähigkeiten und Möglichkeiten, zum Beispiel
-noch außerdem ein Asoko zu werden, -- wie es umgekehrt durchaus im
-Bereich asokischer Fähigkeiten und Möglichkeiten liegt, noch außerdem
-ein Gotamo zu werden. So war Gotamo wirklich in seiner Jugend
-Fürst und Krieger; so war Asoko wirklich in seinem Alter Büßer und
-Einsiedler: in weltaufschließender Symbolik verbringt er seine letzte
-Lebenszeit nach siebenunddreißig Jahren glorreicher Machtherrschaft
-auf jenem nämlichen Goldenen Felsen Suvannagiri im Lande Magadhâ,
-wo einst der Jüngling Gotamo geweilt hatte... Ursprünglich also
-wohl Leib-Geist und Körper-Seele in letzter Ununterschiedenheit und
-Ununterscheidbarkeit, erwählt der Mensch gleichsam das Leben des
-überwiegenden Leibes oder des überwiegenden Geistes, des überwiegenden
-Körpers oder der überwiegenden Seele. Bevor er indes selber wählt, hat
-ihn seinerseit unter Unzähligen die Natur erwählt, indem sie ihn mit
-den Schönheitmalen makellosen Leibes und makelloser Seele leibhaftig
-begnadete. Diese klar ausgebildeten zweiunddreißig Male sind Gotamos:
-die wohlgefesteten Füße, die Tausendspeichenräder mit Felge und Nabe
-auf beiden Sohlen, die schmalen Fersen, die sanften zarten Händ’ und
-Füße, die breitgeschweifte Bindehaut zwischen Fingern und Zehen, die
-Muschelwölbung des Ristes, die schlanken Beine, die Fähigkeit zur
-Berührung der Kniescheibe ohne Vorwärtsbeugen des Rumpfes, das hinter
-der Kleidung unerkennbare Schamglied, die Goldfarbe des Körpers,
-Goldfarbe der Haut, die Schmeidigkeit der Haut, die Einzelflaumigkeit
-des Haares in seiner Pore, die Aufgerichtetheit, Schwärze, Ringelung
-des Flaums, die Erhabenheit des Wuchses, die Heiterkeit des Aussehens,
-die breite Löwenbrust, die Klafterhöhe, die Verhältnismäßigkeit der
-Körperlänge zur Armlänge, die Gleichform der Schultern, die Mächtigkeit
-der Ohrmuscheln, das Löwenkinn, das vollständige Gebiß, das festgefügte
-Gebiß, die Weiße der Zähne, die Größe der Zunge, der Wohllaut der
-Stimme, die Flocke zwischen den Brauen und zuletzt der Scheitelkamm.
-Dies ist Gotamos Leiblichkeit, so haben wir uns den Erwachten
-vorzustellen, der in mehr wie einem Sinn die Erbschaft Krischnas
-antrat. Derart stellt sich der Buddho in seinen Reden selber vor und
-derart ist er uns in Stein und Holz und Erz überliefert. Bis auf das
-Haar, das einständig einzelflaumige in seiner Pore, ist des Vollendeten
-Leiblichkeit vollendet geformt und gebildet, -- nie ist dem Leib eine
-größere Verherrlichung widerfahren. Wenn überhaupt, dann war in jenen
-gotamidischen Tagen die Gestalt des Leibes heilig; wenn überhaupt, ward
-in jenen gotamidischen Tagen die Schönheit des Leibes angebetet. Der
-Leib nicht Grab, sondern Gral der Seele, das war Indiens Bekenntnis
-in jenen Tagen, da des Lebens Übermaß und Überschwang sogar die
-prunkenden Wortfugen des Mahâbhâratam glühend auseinandersprengte, wie
-es tausend und mehr Jahre später abermals (oder vielleicht immer noch?)
-die Tempelwände des buddhistischen Parthenon Boro-Budur gesprengt
-hat. Der Leib, nach Indiens Bekenntnis der Gral seiner Seele, Gefäß
-und Schrein der Seele und edel wie die Seele, -- fürwahr! es ist
-bei dieser leibhaften Herrlichkeit des Erwachten zu Magadhâ schwer
-vermeidlich, nicht der leibhaften Herrlichkeit eines Erwachten unseres
-Westens zu gedenken, der in gotamidischem Alter dahingegangen ist,
-nachdem er wie kein anderer zuvor die Erde zu seiner Wohnstatt sich
-bereitete, allwo er wie ein Gott sälig an jedem Ort zu Hause war: „Der
-Körper lag nackend in ein weißes Bettuch gehüllt... Friedrich schlug
-das Tuch auseinander, und ich erstaunte über die göttliche Pracht
-dieser Glieder. Die Brust überaus mächtig, breit und gewölbt; Arme
-und Schenkel voll und sanft muskulös; die Füße zierlich und von der
-reinsten Form, und nirgends am ganzen Körper eine Spur von Fettigkeit
-oder Abmagerung und Verfall. Ein vollkommener Mensch lag in großer
-Schönheit vor mir...“
-
-Dieser Leib nun, in allen Spielen des Laufens, Ringens, Springens,
-Schwimmens, Fechtens, Rossetummelns, Bogenschießens geübt, in allen
-Künsten der Verschönerung erfahren, in Wohlgerüchen gebadet, von
-Räucherwerk durchduftet, mit feuchtem Sandel eingesalbt und mit Safran
-und Lakkaröte geschminkt, -- dieser Leib nun wird unabwendbar eines
-Tages in Regenbogentinten schillernd angelaufen sein. Er wird wie ein
-aufgetriebener Blasbalg von den Gasen der Verwesung angeschwollen sein.
-Er wird an hundert Stellen aufplatzen und stinkend in den Jauchepfützen
-seines eigenen Aufbruchs liegen. Aus seinen Löchern und Höhlen wird
-madiges Gemeiß kriechen. Das Fleisch wird von den Sehnen und die Sehnen
-werden von den Knochen fallen. Die Knochen werden von den Überbleibseln
-der Fäulnis braun bestäubt sein, bis auch sie zu Staub vermodert sind.
-Und dies ist die Gewißheit des Leibes: dies ist der Kummer am Leibe für
-den, der den Leib lieb hat. Dies ist die Gewißheit des Leibes: dies ist
-das Leiden am Leibe, wie es der junge Ritter Gotamo erlitt, der da noch
-den Atem der Heldenfrühe des indischen Festlands atmete. Er selbst hat
-später am Seherstein im Wildpark zu Benâres die Wahrheit des Leidens
-eine heilige genannt, und die Frage war für ihn nur diese, ob es derlei
-Leidens auch eine Abstellung, Verwindung, Überwältigung gäbe? Die Frage
-war eigentlich nur, ob dieser dauerlose Körper zur Dauer erstarken, ob
-dieser hinfällige Körper zur Rüstigkeit gedeihen, ob dieser sterbliche
-Körper zur Unsterblichkeit erblühen könne? Ist es möglich, ist es auch
-nur denkbar, daß die weltherkömmliche Ordnung für den Körper umgestürzt
-werde und das Leiden am Körper zu seiner Aufhebung gelange, indem der
-Körper durch Anspannung, Übung, Umgestaltung außerhalb dieser Ordnung
-gleichsam neu gepflanzt und neu aufgebaut würde?
-
-Der Abendländer zweifelt und verneint. Der Abendländer stellt sich Leib
-und Seele vor als zwei nebeneinander herlaufende Erscheinungreihen
-und Erlebnisverknüpfungen, die wirkunglos und beziehunglos zueinander
-ihren leiblichen und seelischen Gegengesetzen folgen müssen. Gotamo
-hingegen zweifelt nicht und bejaht. Leib und Seele zuletzt ein und
-des nämlichen Seins und Wesens, stehen für ihn in einem stätigen
-Wechselverhältnis, ja Austauschverhältnis, wobei der Leib die Stelle
-der Seele vertreten kann und die Seele die Stelle des Leibes. Der Wille
-eines jeden hat es in der Hand, den Leib gleichsam mit den Spezereien
-der Seele einzubalsamieren, wie es der Arzt seit unvordenklichen
-Zeiten in der Hand hat, die Verweslichkeiten des Leibesinnern gegen
-pflanzliche Dauerstoffe auszuwechseln und dadurch unverweslich zu
-machen. Gotamo verneint die Unerläßlichkeit des Leidens am Körper
-und bejaht des Leidens Abstellung, Verwindung, Umgestaltung aus der
-Einsicht heraus in die Herkunft und die Beschaffenheit des Leibes. So
-wie die Ordnung der Natur ist, entsteht der Körper und vergeht der
-Körper. So wie es aber der Wille des Menschen will, der unablässig um
-Dauer ringende, kann eine Versetzung des Leibes stattfinden in eine
-andere Lage der Wirklichkeit, in einen anderen Urstand des Seins, wo
-die Gesetze der Schöpfung, als welches die Gesetze des Werdens sind,
-ganz von selbst außer Kraft treten müssen. Wir Abendländer kennen als
-Beispiel einer gewissen Umgestaltung den Vorgang der Versteinerung.
-In die schneller verweslichen Teile eines Tier- oder Pflanzenleibes
-dringen unverwesliche Teile ein von mineralischer Beschaffenheit
-und bauen die Gestalt des Lebewesens in eben dem Zeitmaß von sich
-aus wieder auf, in welchem diese Gestalt durch die Zersetzung ihrer
-organischen Grundstoffe und durch deren Verbindung mit dem Sauerstoff
-abgebaut wird. Wo der Zellenleib zerfällt, erscheint allmählich ein
-Steinleib zu seiner Stellvertretung, so daß man in Wahrheit von einer
-Umgestaltung reden dürfte, -- von einer Umgestaltung, die freilich
-nur den toten Leib ergreift und diesen gegen den nicht minder toten
-Ersatzleib eintauscht. Indessen ist uns Abendländern doch auch manch
-anderes Beispiel lebendiger Umgestaltung nicht völlig unbekannt. Wir
-selber pflegen die Kräfte unseres Lebens, unseres Selbstes an unsere
-Arbeit zu setzen, sei sie nun Wort oder Werk oder Tat oder überhaupt
-Leistung; in Wort Werk, Tat, Leistung setzen wir selbst uns um, setzen
-wir unserer Selbstheit Gestalt um und schaffen uns auf diese etwas
-plumpe Art eine verhältnismäßige Unsterblichkeit in einem Bereich der
-sogenannten Werke oder Werte oder Sachverhalte oder Gültigkeiten, -- in
-einem Bereich mithin, welches uns in gewissem Sinn sehr wohl des Lebens
-Jenseit bedeuten darf. So fangen wir gleichsam die Essenz unseres
-Lebens von uns selber ab und versetzen unser persönlich-sterbliches
-Sein an den Himmel sachlicher Unsterblichkeiten. Auf allen Wegen, wo
-wir gehen und stehen unsere Unsterblichkeit angelegentlich betreibend,
-gestalten wir auf solche Weise die Gestalt unseres Selbstes um in Wort,
-Werk, Tat und Leistung, welche offenbar länger dauern als die lebendige
-Gestalt und dennoch des Lebens nicht in jedem Sinn entbehrt. In Worten,
-Werken, Taten verewigen wir uns selber, fortwährend ohne unser Wissen
-in einem wunderlichen Unsterblichkeitzauber, Apathanatismos von hoher
-Wirksamkeit befangen...
-
-Noch ein Schritt weiter, und wir stoßen auf Gotamos eigenen
-Unsterblichkeitzauber, auf Gotamos eigenen Apathanatismos. Beruht
-dieser doch im wesentlichen darauf, daß der Leib in zunehmenden Graden
-durchsetzt und durchseelt, durchwaltet und durchwürzt, durchdrungen und
-durchflutet werde mit den erworbenen Grundbestimmungen des Gemütes. Das
-gotamidische Verfahren besteht vornehmlich darin, die von der Seele
-hervorgebrachten und einstweilen durch Übung befestigten Zustände
-gleichsam als stätige Gebilde den unstätigen Gebilden des Leibes zu
-unterstellen, und zu diesem Ende weiß der Buddho sich der älteren
-Praxis der Yoga trefflich zu bedienen. Insonderheit ist es die übrigens
-auch im alten China geübte Praxis des regelentsprechenden Aus- und
-Einatmens, die Hatha-Yoga, welche Gotamo für seine Makrobiotik, für
-seinen Apathanatismos anzuwenden gesonnen ist. Die Aus- und Einatmung
-nämlich wird ganz planmäßig mit Vorstellungen verknüpft, die sie
-begleiten sollen, und diese Vorstellungen verschmelzen allmählich
-derart mit den Atemvorgängen selber, daß sie gewissermaßen an deren
-Stelle treten: die körperliche Tätigkeit, zuerst von einem Ablauf
-von Bildern und Gedanken regelmäßig begleitet, wird bei geregelter
-Führung von diesen Bildern und Gedanken bis zu einem gewissen Grad
-geradezu verdrängt, der Vorgang in der Lunge wird umgesetzt in einen
-Zustand des Gehirns, ja des Bewußtseins. Die Atmung wird etwas anderes
-wie Atmung, die Körpertätigkeit setzt sich in etwas anderes um als
-Körpertätigkeit, und zwar vollzieht sich diese ‚Selbstvergeistigung‘
-gradweis und stufenweis mit den erlangten Graden und Stufen der
-erworbenen Gemütszuständlichkeit. In der Hundertundachtzehnten und
-Hundertundneunzehnten Rede aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo
-hat sich der Buddho ausführlicher, obzwar leider immer noch nicht
-ausführlich, über diese Atemübungen vernehmen lassen, und insbesondere
-in der letzten dieser Reden wird das Ziel dieser seltsamen Vornahme
-ein wenig deutsam. Der Leib soll dazu bereitet, ja dazu abgerichtet
-werden, an dem Erwerb der Seele teilzunehmen: der Leib soll lernen,
-sich bis zu den tiefsten Versenkungen der Seele mit zu versenken und
-sich in den reinsten Läuterungen der Seele mitzuläutern. Der Leib soll
-nicht länger ein unbeeinflußtes und unbeeinflußbares Außerhalb der
-Seele bleiben, sondern in jedem Muskel, in jeder Zelle den erreichten
-Seelenstand selbst erreichen. Auf leibliche Weise soll sich der Leib
-solange in Seele wandeln, als sich auf seelische Weise die Seele in
-Seele wandelt. Die christliche Seele, ihr Christen, hält ihre höchste
-Andacht beiseit vom Leib, als _forma separata_ entrückt, entrafft,
-entleiblicht, -- aber die Seele Gotamos hält ihre höchste Andacht mit
-dem Leib zusammen, den Leib völlig in Seele einbettend, umbettend.
-Die christliche Seele, ihr Christen, ist unsterblich abseit des
-sterblichen Leibes und überlässet den sterblichen Leib dem allgemeinen
-Verhängnis der Sterblichkeit, -- aber die Seele Gotamos gedenkt
-unter keinen Umständen den Leib sich selber und seinem Verhängnis zu
-überlassen, sondern ihn vielmehr mit ihrer eigenen Dauer zu begaben und
-zu begnaden. Dem Fleisch der Früchte, dem Fleisch der Tiere, welches
-wir erhaltsam und bewahrsam machen wollen, setzen wir etwa Zucker,
-Salz, Säure, Weingeist, Hitze, Trockenheit zu. Dem Fleisch des Leibes,
-vom Buddho Erhaltsamkeit und Bewahrsamkeit ernstlich zugedacht und
-zugesprochen, setzt der Buddho gleichsam Seele zu, und so erwirbt es
-durch diesen Zusatz beide Tugenden. „Und ferner noch, ihr Mönche: der
-Mönch, gar fern von Begierden, fern von unheilsamen Dingen, verweilt in
-sinnend gedenkender, ruhegeborener, säliger Heiterkeit, in der Weihe
-der ersten Schauung. Diesen Körper durchdringt und durchtränkt, erfüllt
-und sättigt er mit ruhegeborener säliger Heiterkeit, so daß nicht der
-kleinste Teil seines Körpers von ruhegeborener säliger Heiterkeit
-ungesättigt bleibt. Gleichwie etwa, ihr Mönche, ein gewandter Bader
-oder Badergeselle auf ein Metallbecken Seifenpulver streut und mit
-Wasser versetzt, verreibt und vermischt, sodaß sein Schaumball völlig
-durchfeuchtigt, innen und außen mit Feuchtigkeit gesättigt ist und
-nichts herabträufelt: ebenso nun auch, ihr Mönche, durchdringt und
-durchtränkt, erfüllt und sättigt der Mönch diesen Körper da mit
-ruhegeborener säliger Heiterkeit, so daß nicht der kleinste Teil seines
-Körpers von ruhegeborener säliger Heiterkeit ungesättigt bleibt“...
-
-Dies also ist das überschwänglich übermenschliche Ziel des
-gotamidischen Unsterblichkeitwillens, den Leib den Ordnungen des
-Werdens, als welches die Ordnungen des Entstehens-Vergehens sind,
-gewaltsam durch Anstrengung, Übung, Umgestaltung zu entreißen und
-seiner völligen Durchseelung zuzuführen. Und mit viel Besonnenheit
-entnimmt Gotamo die Mittel zu diesem erfahrung-jenseitigen Ziel dem
-unausschöpflichen Vorrat an Selbsterfahrungen, den die Yoga, das ist
-die überlieferte Kunst der unbedingten Leib- und Geistbeherrschung,
-durch den Willen, in den Jahrtausenden aufgespeichert hat. Durch
-strenge Anpassung erfahrungmäßiger Zucht- und Abrichtungmittel an den
-schlechterdings überschwänglichen Zweck entsteht ein Langlebigkeit-
-und Unsterblichkeitzauber von beispielloser Unentwegtheit und
-Folgerichtigkeit, dem nur wenige unter den anderen maßgebenden
-Religionen der Erde etwas Ähnliches an die Seite zu stellen haben
-dürften. Durch eine mit planmäßiger Führung und Regelung des Ein- und
-Ausatmens einzuleitende Entkörperlichung des Körpers beschwichtigt
-der Buddho sein Leiden am Körper und überwindet es: durch eine mit
-hoher diätischer Besonnenheit betriebene Umgestaltung des Leibes
-durchbricht der Buddho die Ordnung der Leiblichkeit und steigert
-den Körper gewissermaßen zu einem Urstand der Seele, -- oder
-vielleicht zutreffender und richtiger noch: er steigert ihn zu einer
-Eigenschaft der Seele, welche Dauer, Ständigkeit, Langlebigkeit,
-ja geradezu Unsterblichkeit heißt. Wer diesen Tatbestand von
-grundlegender Bedeutsamkeit begreift, der und nur der wird das
-wunderliche Wort Gotamos wirklich zu würdigen vermögen, welches in der
-Hundertundneunzehnten Rede aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo
-die Einsicht in den Körper als den Inbegriff aller heilsamen Dinge
-preist. Gleichwie einer, der das große Meer im Geiste gefaßt habe,
-damit auch alle Ströme und Flüsse gefaßt hat, die sich ins Meer
-ergießen, so hat sich die Summe alles heilfordernden Wissens zu eigen
-gemacht, wer die Einsicht in den Körper erwarb. Als ein Umgestalteter,
-jedenfalls aber als ein Umgestaltender, ist er dem Werden entronnen.
-Ungeworden, vergeht er nicht, unvergänglich, dauert er. Wer die
-Einsicht in den Körper pflegt, der wird nicht, sondern ist, und wer
-ist, hat bereits im Jenseit dieser Werdewelt und Wandelwelt festen Fuß
-gefaßt. ‚Spender der Unsterblichkeit‘ aber, das ist einer der Titel
-des Erhabenen, die er sich durch diese Anweisung zur Umgestaltung des
-Leibes in einem vielleicht buchstäblicheren Sinn verdient zu haben
-scheint, als es unsere höchst lückenhafte, höchst unzulängliche, höchst
-unzuständige Abendlands-Erfahrung auf den ersten Anblick wohl wahr
-haben möchte...
-
-Verstehn wir Christen uns indes, ihr Christen, reichlich schlecht
-auf diese wie auf alle sonstigen unsterblichen Dinge, so sind
-wir dennoch mit derlei geheimnisvollen Vornahmen nicht völlig
-unbekannt oder sollten es wenigstens nicht völlig sein. Auch dem
-Heiland unserer westlichen Welthälfte ist ja die Umgestaltung bei
-Lebzeiten widerfahren, von welcher das Evangelium nach Lukas in
-seiner schmucklosen Art trocken berichtet: „Und während er betete,
-ward die Gestalt (εἶδος) seines Angesichts eine andere und sein
-Gewand ward weiß und blitzete“... Was hier mit Jesus geschah, als er
-in der Gesellschaft des Petrus, Johannes, Jakobus den hohen Hügel
-bestiegen hatte, umschreibt das Evangelium der Kirche ein klein
-wenig völliger, wenn es wörtlich erzählt: „und er ward umgestaltet
-(μετεμορφώτη), und es leuchtete sein Antlitz wie die Sonne und
-seine Gewänder weißten sich wie das Licht“... Der Verfasser dieser
-Heiligen Schrift der Christen gebraucht an dieser Stelle geradezu das
-Wort Umgestaltung selbst, welches dann Luther in einer auffälligen
-Ungenauigkeit mit ‚Verklärung‘ wiedergegeben hat. Was aber hier
-sofort im Unterschied zum buddhistischen Kanon schwer ins Gewicht
-fällt, ist weniger die Beiläufigkeit und Folgenlosigkeit des für den
-Buddhismus so entscheidenden Vorgangs, als vielmehr die Tatsache,
-daß die Umgestaltung des Evangeliums als eine Wirkung der Gnade oder
-des göttlichen Eingriffs zu gelten hat, während die gotamidische
-Umgestaltung das selbsttätig erworbene Gut der Freiheit erscheint.
-Auch in dieser Bezugnahme bleibt der Buddho seinem Protestantismus
-unentwegt treu, denn Gotamo der Protestant, Gotamo der Atheist weiß
-nichts von Gnade, weiß nichts von Eingriffen Gottes, weiß nichts von
-Gott selber, dessen Wolke ihn überschatten und dessen Stimme ihn
-als den vielgeliebten Sohn verkünden könne. Wenn der Leib Gotamos
-seiner Umgestaltung tatsächlich teilhaftig geworden ist, so wird die
-Umgestaltung der unermüdlichen Arbeit, Zurichtung und Zucht des eigenen
-Selbstes verdankt. Sie stellt sich nicht ein von ungefähr, sondern
-ist der Ertrag eines unablässig diesem Ziele zugewandten Strebens.
-Gleichsam um diesen Sachverhalt anzudeuten, widerfährt die sichtbare
-Verklärung des Leibes dem Buddho (nach dem Dritten Bericht aus dem
-Großen Verhöre zur Erlöschung Mahâparinibbânasuttam) erst wenige
-Stunden vor dem Ende, am Tage vor der Nacht, da der Vollendete wirklich
-voll-endet. In einer Szene von mehr wie kalidasischer Reinheit,
-Helligkeit und Zartheit der Farbe weiß der Bericht zu erzählen, daß
-der Mallerprinz Pukkuso dem sterbenden Heiligen einen doppeltgewebten
-goldfarbenen Schleier habe darreichen lassen als kostbares Sterbekleid,
-des kostbaren Sterbenden würdig. Vom Lieblingjünger Ânando dann mit
-diesem schimmernden Schleier bekleidet, beginnt der Leib des sterbenden
-Meisters, gleichsam im Feuer der eigenen Seele zu völliger Gediegenheit
-geläutert, wie der Mond in der Nacht seiner Rundung zu leuchten und
-zu gleißen, also daß der doppeltgewobene goldfarbene Schleier des
-Mallerprinzen in fahler Glanzlosigkeit verbleicht. Nun ist der Leib
-des Erhabenen endgültig und restlos umgestaltet, vollkommen dauerhaft
-geworden. Aber in dieser Stunde der ewigen Selbstvollendung besteht der
-Vollendete nicht mehr auf seiner Dauer, -- in dieser Stunde übergibt er
-den verklärten und durchsättigten Leib eben jener Werdewelt, die er in
-fünfzig Jahren ununterbrochener Selbstläuterung überwunden hat!...
-
-Vollkommen dauerhaft geworden, sag’ ich, bestünde in diesem Augenblick
-der Herr Gotamo dennoch nicht auf seiner Dauer: vollkommener Spender
-der Unsterblichkeit geworden, verschmähe der Herr Gotamo zuletzt
-dennoch seine Unsterblichkeit. Dieses in der Tat sehr seltsamen,
-sehr unverständlichen, ja widersinnigen Sachverhalts müssen wir
-an dieser Stelle noch gedenken, wenn anders wir von dem Geheimnis
-dieses geheimnisvollsten aller Menschen auch nur einen Zipfel zu
-lüften hoffen dürfen. Das Leiden am Leibe aufzuheben, hat der Buddho
-die Praxis der Hatha-Yoga samt allem, was an seelisch-körperlichen
-Übungen (‚_exercitia_‘) mit ihr zusammenhängt, in den Dienst eines
-unbeirrbaren Unsterblichkeitwillens gestellt. Und in der Fähigkeit,
-den Leib mit seelischen Kräften wie mit den Wellen von einer annoch
-unbekannten Ordnung zu durchstrahlen, dauerhaft zu machen und ihn
-gleichsam aus der Bewegunglage in die Ruhelage hinüberzubetten (und
-nicht nur hinüberzurechnen, wie die europäischen Mathematiker und
-Physiker mit den materiellen Systemen des Kosmos tun!) -- in dieser
-Fähigkeit hat er mutmaßlich die Heilande und Heiligen aller anderen
-Religionen der Erde weit hinter sich zurückgelassen. Er hat sie soweit
-hinter sich zurückgelassen, daß von den Brosamen, so von dieses
-Reichen Tische fallen, noch immer alle die Hündlein satt geworden
-sind, die, von den Verkümmerungen, Verzerrungen, Fehldeutungen dieses
-gotamidischen Gedankens zehrend, als Theo- und Anthroposophen heute
-einem Krypto-Buddhismus Pseudo-Buddhismus in allen fünf Weltteilen
-zumal frönen. Eine Nachprüfung, eine Nachtätigung, wieweit der
-Körper durch solche Anstalten wirklich bis zu einem gewissen Grade
-unsterblich zu machen wäre, ist freilich aus allbekannten Gründen
-mindestens uns Europäern bis auf weiteres versagt. Haben wir keinen
-Grund, die Möglichkeit dieser und ähnlicher Umgestaltungen schlankweg
-zu verabreden, so sind wir im Hinblick auf unsere eigenen Erfahrungen
-freilich dazu berechtigt, auch dieser Umgestaltung keine tatsächlich
-unbegrenzte, sondern etwa nach Wirkunggrad und Reichweite immerhin
-begrenzte Beeinflussung zuzuschreiben. Genug, daß der Buddho selber
-zur Erlöschung eingegangen ist, trotzdem das Unsterblichkeit- und
-Dauerziel eines der vornehmsten seiner Lehre und seines Wandels
-gewesen ist. Der Herr eines der Werdewelt und ihren Gesetzmäßigkeiten
-grundsätzlich entrückten Leibes geworden, macht der Buddho, wie ich
-schon sagte, im entscheidenden Augenblick von dieser erworbenen
-Ewigkeit dennoch keinen Gebrauch! Und wahrscheinlich ist es der
-Bestürzung der Jüngerschar über dieses erschütternde Begebnis zu
-danken, -- in vielen Punkten der Bestürzung einer anderen Jüngerschar
-nicht unähnlich, -- daß der Dritte Bericht aus dem Großen Verhör
-über die Erlöschung Mahâparinibbânasuttam in stark legendarischer
-Fassung auf diesen ganz und gar unbegreiflichen Umstand zurückkommt
-und gewissermaßen eine Erklärung _a parte post_ zu geben bemüht ist,
-warum der Erhabene seinen zur Dauer gehärteten Körper nun doch dem
-Vergehen überantwortet. Es ist dies nach dem Wortlaut des Berichtes
-einem Versäumnis des Ânando zur Last zu legen, der in den fraglichen
-Tagen mit der persönlichen Aufwartung beim Erhabenen betraut war. Ihm
-nämlich hat der Buddho dreimal die Bitte auf die Zunge gelegt, nicht
-zur Erlöschung einzugehen, vielmehr fortab unter den Jüngern zu weilen
-in dem Zustand der leiblichen Beharrung, zu dem er sich in einem halben
-Jahrhundert unerhörter Läuterungen emporgeläutert hat. Dreimal legt
-der Buddho diese Bitte seinem Lieblingjünger auf die Zunge und dreimal
-verstehet Ânando seinen Meister nicht und schweigt. Also mißverstanden
-und unverstanden vom teuersten Menschen bei unwiderbringlicher
-Gelegenheit, beschließt der Erhabene, dem dreimal schon ausgesprochenen
-Wunsche Mâro des Bösen zu willfahren und zur Erlöschung einzugehen.
-Mit der Gebärde jener göttlichen Traurigkeit, welche auch noch die
-schönsten Siege des Menschen über sich, über die ‚Welt‘ umflort, gibt
-der Erwachte die lebenslang erkämpfte Dauer seines Leibes preis. Auch
-der Mensch, der ihm längst der werteste und nächste war, hat sich
-das Geschenk stätiger Gegenwart des Erhabenen nicht erbeten. Auch
-der innigste Freund, der ‚siebenschrittige‘, war ihm in der rechten
-Stunde innerlich unendlich fern und hat das Wort des Herzens nicht
-gefunden: Μεῖνον μεθ’ἡμῶν, Bleib’ bei uns! ὅτι πρὸς ἑσπέραν ἐστιν, denn
-es naht gen Abend! Hier bricht ein tödlicher Schmerz durch, mit keinem
-Laut preisgegeben und trotzdem zermalmend fühlbar, ein Schmerz über
-alle Schmerzen an der Vergänglichkeit, Hinfälligkeit, Wesenlosigkeit
-des Leibes. Hier bricht ein Schmerz durch, ein nie besieglicher,
-über die untilgbare Menscheneinsamkeit der Seele, ein Schmerz, den
-auch der großgeistige Buddho nicht mehr zu verwinden weiß, -- nun
-war es Zeit sogar für ihn, den Großgeistigen, zu gehen... „Wer auch
-immer, Ânando, die vier Machtgebiete geübt, gepflegt, ausgeführt,
-ausgebildet, angewendet, durchgeprüft, durchaus entrichtet hat, der
-könnte, Ânando, wenn ihn darnach verlangte, ein Weltalter hindurch
-bestehen, oder bis zu Ende des Weltalters. Der Vollendete hat, Ânando,
-die vier Machtgebiete geübt, gepflegt, ausgeführt, ausgebildet,
-angewendet, durchgeprüft, durchaus entrichtet; bei Verlangen darnach,
-Ânando, könnte der Vollendete ein Weltalter durch bestehen oder bis zu
-Ende des Weltalters. Ob dir gleich also, Ânando, vom Vollendeten ein
-wichtiger Wink, ein wichtiger Hinweis gegeben war, hast du es nicht
-zu merken vermocht, hast nicht den Vollendeten gebeten: ‚Bestehn möge
-der Erhabene das Weltalter durch, bestehn möge der Willkommene das
-Weltalter durch, vielen zum Wohle, vielen zum Heile, aus Erbarmen zur
-Welt, zum Nutzen, Wohle und Heile für Götter und Menschen.‘ Hättest
-du, Ânando, den Vollendeten gebeten, so hätte wohl zweimal deine Worte
-der Vollendete abgewiesen, aber das dritte Mal ihnen entsprochen. Darum
-aber, Ânando, hast du eben hier es versehen, hast du eben hier es
-versäumt...“ Ein Weltalter hindurch hätte also der Erhabene nach seinem
-eigenen Bedünken bestehen können bei Verlangen darnach. Ein Verlangen
-darnach hat aber niemand von den Jüngern im rechten Augenblick zum
-rechten Ausdruck gebracht, und so verlangt den Erhabenen selber nicht
-länger darnach. Und so entläßt denn der Erhabene (nicht ohne einen
-unendlich sanften Tadel Ânandos) den lebenslang gehegten Dauergedanken,
-entläßt den lebenslang gestärkten Unsterblichkeitwillen, entläßt den
-lebenslang gepflegten Wunsch nach weltzeitwährender Trostgegenwart...
-Wer hat da von euch, ihr Christen, noch eine Frage auf dem Herzen?...
-
-
-Wir westlichen Menschen, ihr Christen, haben öfters wohl als billig
-dies gotamidische Leiden am Leibe für das Merkmal genommen einer
-übermüdeten Gesellschaft und ihrer übermüdeten Gesittung. Pochend
-auf die eigene und vermeintliche Jugendlichkeit haben wir oftmals
-zu uns selber gesprochen: Greisenhaft ist dieses gotamidische
-Leiden an der Leiblichkeit; welk, absterbend und untergangsüchtig
-ist das gotamidische Leiden am Leibe. Und noch der Prophet unseres
-eigenen Untergangs, -- ein falscher Prophet übrigens sogar dort,
-wo er recht hat! -- hält es für angemessen, jede Vergleichung
-etwa unseres westlichen Heilands mit dem Heiland des Ostens als
-‚unwissenschaftlich‘ zu verbieten, weil beide Heilande in der Reihe
-der geschichtlichen Lebensalter an verschiedenen Stellen der Zeit
-stünden: der eine am Eingang, der andere am Ausgang hingegen einer
-geschichtlichen Periodos. Und dieses der geschichtlichen Wahrheit zum
-Trotz, daß just der Auftritt Gotamos für Indien gewissermaßen das
-Zeichen war, im nächstfolgenden Jahrtausend die große Architektur,
-die große Skulptur, das große Drama, das große Imperium zu schaffen
-in allerengster Berührung mit dem Geist des Asketen aus Magadhâ...
-Davon jedoch abgesehen, wage ich darüber hinaus die entschiedene
-Behauptung, daß eben jenes Leiden am Schicksal der Leiblichkeit das
-untrügliche Kennzeichen einer menschheitlichen Jugend, und nicht
-eines menschheitlichen Greisentums sei. Nur eine verhältnismäßig noch
-jugendliche Menschheit nämlich ist eindrucksfähig genug, um vor der
-Tatsache Alter, Krankheit, Tod so jäh erschreckt zu werden wie Gotamo
-von ihr erschreckt ward. Nur eine noch jugendliche Menschheit erliegt
-den Eindrücken des Lebens in diesem Maß und ersiegt sich ein zweites
-Leben über diese Eindrücke hinaus. Wer wirklich alt ist, dem hat das
-Alter jedwede Schrecknis längst verloren. Wer wirklich krank ist, den
-ängstigt hinfort keine Möglichkeit, krank zu werden. Und wer vollends
-schon sterbend ist, wie sollte er sich noch des Todes fürchten? Die
-Legende von der Ausfahrt Vipassîs erzählt von einem Jüngling, der
-ausfuhr, und es scheint, daß hiermit in mehr wie einem Sinn die Legende
-die Wahrheit berichtet habe, denn jedenfalls war der Buddho selbst von
-der Unbeeindruckbarkeit des Greisenalters so stark durchdrungen, daß
-er von jedem Belehrungversuch, Überredungversuch, Bekehrungversuch an
-Alten durchaus abriet und seinen Jüngern wiederholt einschärfte, sich
-bei ihrem Heilswerk an die Jugend zu halten: ganz einhellig übrigens
-mit dem griechischen Sprichwort, wonach einen Greis belehren wollen
-nichts anderes heißt als einem Toten eine Arzenei einflößen. Es ist
-dies eine Erwägung von großer Schlichtheit, aber eben darum jedem
-sich nahelegend, der ein Urteil über der Völker Jugend oder Alter
-zuverlässig abzugeben sich getraut...
-
-Beim Buddho persönlich entspringt also das Leiden an der Leiblichkeit
-einem ungemein heftig erfühlten Bewußtsein der Ewigkeit des Selbstes:
-wie ungereimt dies auch anzuhören sei nach der weiter oben schon
-festgestellten stracks gegensinnigen Tatsache, wonach eben der
-Gedanke des Selbstes, der brahmanisch-vedische Gedanke, von Gotamos
-Protestantismus und protestantischer Kritik ausdrücklich zersetzt
-worden ist. Und zwar zersetzt durch das neue religiöse Erlebnis des
-‚_N’etam mama_, das gehört Mir nicht, das bin Ich nicht, das ist
-nicht mein Selbst‘. Diese Formel bricht gleichsam den Stab über den
-brahmanisch-vedischen Âtman, wofern eine Erlebnis-Gegebenheit, die
-Mir gehört, die Ich bin, die mein Selbst ist, nirgends aufgewiesen
-werden kann. Aber gleichzeitig bricht sie den Stab über den Âtman
-nur darum, weil alle Erlebnis-Gegebenheiten nur vergänglich, nur
-wehe, nur wandelbar erscheinen. Dieses Vergängliche, dieses Wehe,
-dieses Wandelbare gehört Mir nicht, -- aber wer ist so schwerfällig
-und schwerhörig, daß er in dieser Verneinung die heimliche Bejahung
-völlig überhört, die da lautet: das Unvergängliche, das Leidbefreite,
-das Unwandelbare gehört Mir; das Unvergängliche, das Leidbefreite,
-das Unwandelbare bin Ich; das Unvergängliche, das Leidbefreite,
-das Unwandelbare ist mein Selbst!... Was irgendwie Dauer hat und
-Beharrung zeigt und nicht Wehe ist, das gehört Mir, selbst wenn es
-im Umkreis der Wahrnehmbarkeiten nirgends auszumitteln ist. Sehr
-wahrscheinlich, ja so gut wie sicher gibt es gar nichts Vorhandenes
-und Wirkliches und Daseiendes im Sinn dieser Wunschforderung, folglich
-gibt es auch nichts Vorhandenes und Wirkliches und Daseiendes, das Mir
-gehörte oder das Ich wäre. Aber was beweist diese Tatsache gegen die
-Wunschforderung als solche? Gotamo heischt Dauer, und weil er Dauer
-nirgends verwirklicht findet, leidet er an der Wirklichkeit. Mit einer
-ungeheuern Strenge und Unbeugsamkeit zerstört er den Sinnenschein der
-Dauer überall, wo sie nichts anderes für sich anzuführen hat als eben
-bloß den -- Sinnenschein. Aber die Dauer an und für sich, sie bleibt
-nichtsdestoweniger das unantastbare Ziel seines gesamten religiösen
-Verhaltens, -- das umso ausschließlichere Ziel, destoweniger es
-durch Erfahrungen bekräftigt wird. Die Dauer ist ihm der große und
-grundsätzliche Wert, der ‚Wert ersten Ranges‘, wie einhellig mit
-ihm Macchiavelli und Nietzsche sagt. Die Dauer ist ihm der Wert der
-Werte oder der Wert schlechthin, schon weil sie allem Lauf der Dinge
-so unbedingt zuwiderläuft, ja weil sie der Zeit und ihrem Werdestrom
-selbst zuwiderläuft. Die Dauer, wenn überhaupt Dauer ist, ist im
-tiefsten Sinn zu erkämpfen, zu erstreiten, zu ersiegen im Widerstreit
-mit der gesamten Welt- und Lebensordnung, und schon darum ist sie
-wie kein zweiter Wert weltüberwindend, wirklichkeitüberflügelnd. In
-einem mehr wie nur homerischen Wortverstand ist die Dauer ‚wider
-das Geschick‘, -- sie ist nämlich wider das Urgesetz der Schöpfung
-selber, welches der unübertreffliche metaphysische Spürsinn Indiens in
-der herrlichen Sâvitrî-Episode des Mahâbhâratam mythologisch in die
-Tatsache des Todes selber zu verflechten wußte: ich beziehe mich auf
-das berühmte Zwiegespräch jener indischen Alkestis Sâvitrî mit dem
-Todesgott Yama, wo sie mit einer unfehlbaren Einsicht in den wahren
-Sachverhalt den Tod als das Urgesetz und das Urgesetz als den Tod
-preist. Dharma wird hier als höchstes Gut, als höchster Wert verehrt,
-aber Dharma ist Yama, und weil dem so ist, trachtet der Buddho am
-ersten nach der Dauer als der Welt- und Todesordnung Jenseit: „Wie
-wenn ich nun mit weitem, tiefem Gemüte verweilte und hätte die Welt
-überwunden, über ihr stehend im Geiste?“... Über ihr stehend im
-Geiste, das aber hieße über ihr stehend in der Dauer, und von dieser
-Wunschforderung der Menschenseele lässet auch dann Gotamo nicht ab,
-wenn sie von keiner Gegebenheit der Sinne oder des Sinns befriedigt,
-gestillt, erfüllt wird. Die Dauer ist das _Plus Ultra_, welches die
-Menschenseele über jede Wirklichkeit hinauswirft wie einen Ball, der
-dem Begriff der gleichförmigen Bewegung zufolge in die Unendlichkeit
-rollt und rollt. Dauer ist Seltenheitwert, Dauer ist Ausnahmewert,
-Dauer ist Unmöglichkeitwert, das ist Gotamos Meinung, um derentwillen
-er darnach trachtet und trachten muß, diesen verweslichen Leib in
-einen unverweslichen umzugestalten. Wer aber hier allzu flink bei
-der Hand ist, von Völker-Jugend oder von Völker-Greisentum zu reden,
-der greife zunächst einmal in sein eigen Herz und dann ins Herz
-aller Vergangenheiten, aller Vergänglichkeiten, ob nicht gerade
-dies Wunschverlangen nach Dauer, nach Ewigkeit, nach Stätigkeit der
-ewige Apathanatismos sei, auf welchen jede Menschheit von einigem
-Menschheitwert in allen ihren Wert- und Werkverwirklichungen bewußt
-oder unbewußt hingezielt habe, jegliche Menschheit in summa von der
-Gestalt jenes babylonischen Gilgamesch am würdigsten versinnbildlicht,
-der da einst auszog, glücklicher Finder und vielleicht Erfinder seiner
-Unsterblichkeit zu werden... Gotamos Urerleben heißt also Leiden; sein
-Leiden aber heißt Alter, Krankheit, Tod: das Schicksal der Leiblichkeit
-schlechthin. Das Schicksal der Leiblichkeit indes, das ist das Gesetz
-der Gattung, und so ist Gotamos Leiden an der Leiblichkeit das Leiden
-der Gattung, welches er sozusagen als Stellvertreter der Gattung
-mit besonderer Heftigkeit und Gewalt an sich erfährt: das ward mit
-ziemlichem Nachdruck oben schon verkündet. Das Leiden aller, von einem
-Einzelnen und Einzigen mit ausnahmweiser Wucht als die Bestimmung
-aller erfühlt, ist mithin zwar einenteils das Leiden der Gattung
-selber, welches jedes Glied der Gattung kosten muß, -- ist andernteils
-aber auch das Leiden an der Gattung, als welche den drei Kernübeln
-des Alterns, Siechens, Sterbens ohne Rettung verfallen ist. Gotamo
-leidet wie kein zweiter die Not des Menschen. Aber eben darum leidet
-er auch wie kein zweiter am Menschen selber, der hoffnunglos dieser
-Not verhaftet ist. Nur leidet er am Menschen nicht, wie Jesus oder
-Zarathustra am Menschen gelitten haben, -- bis zum Überdruß, bis zum
-Ekel, bis zur Verzweiflung gelitten haben an des Menschen Trägheit,
-Feigheit, Grausamkeit, Käuflichkeit, Treulosigkeit, Seelenlosigkeit...
-Diese herkömmlichen Menschenschändlichkeiten scheinen den Buddho sogar
-weniger berührt zu haben als sonst die Mehrzahl der geschichtlichen
-Heiligen und Helden, denn etwa mit Ausnahme jener sanften Traurigkeit
-über das Stillschweigen Ânandos kurz vor der Erlöschung stoßen wir
-kaum auf Spuren, geschweige denn auf Narben jenes Leidens, welches die
-tödlichste Heimsuchung des höheren Menschen zu sein pflegt. Gewiß!
-Dieser Großgeistige wird in der Kenntnis der Menschen, wie sie sind, so
-wenig übertroffen als in der Kenntnis des Menschen, wie er ist. Aber
-nirgends schmerzt ihn das Menschliche, weil es etwa böse oder schlecht
-oder weil es gar teuflisch wäre; nirgends leidet er
-
- „Daran, daß der Mensch unmenschlich
- Ist und bleibt und nur der Gott
- Sich als Mensch kann offenbaren,
- Aber keinem von den Menschen...“
-
-Nein, der Erhabene leidet, weil diese Gattung Mensch, in die Werdewelt
-hineingeflochten, an der Dauerwelt keinen Anteil hat. Des Buddho
-Schmerz an der Gattung ist im Kosmos gegründet und in dessen Nomos,
-dessen Dharma. Es wäre nur die Hälfte wohl der Wahrheit, zu sagen, daß
-Gotamo an der Gattung allein gelitten habe: aber wofern er wirklich an
-der Gattung litt, da litt er an ihrem kosmischen und nicht an ihrem
-ethischen Zustand. Und hier bedarf die bisherige Darlegung allerdings
-einer Erweiterung und Vervollständigung von höchster Wichtigkeit.
-Denn um es mit Einem Wort zu sagen: das Leiden der Gattung und an der
-Gattung umspannt zwar das eigentliche Urerleben Gotamos, wie es die
-Legende von Vipassîs Ausfahrt ein für allemal versinnbildlicht, -- aber
-dieses Urerleben füllt unter keinen Umständen den vollen Kreis des
-Leidens selber aus, wie es im Kosmos durchaus verwurzelt erscheint, um
-dann im Ethos freilich seine bittere Frucht zu tragen. Vergänglichkeit,
-Hinfälligkeit, Wesenlosigkeit sind also wohl die Leiden des Geschöpfes,
-durch die es seine Gebundenheit an die Schöpfung, seine Bedingtheit
-in der Schöpfung unzweideutig zu erkennen gibt. Wohl erleidet jeder
-Einzelne zu seinem Teil das Urverhängnis der ganzen Art, ja der ganzen
-Wandel- und Werdewelt, und ein Einzelner vollends von der Würde des
-Buddho erleidet weit über seinen persönlichen Anteil hinaus kraft
-seiner Eigenschaft als ‚Engel‘ das Urerleben aller, als ob er selber
-in eigener Gestalt ‚alle‘ wäre! Aber daneben, man wolle es bemerken,
-sind jedem Einzelnen die ganz besonderen Leiden seiner Einzelnheit
-und Einmaligkeit einmalig auferlegt. Sie sind ihm auferlegt, und
-auch dies wolle man bemerken, nach altindischem Dafürhalten als die
-unabwendbare Wirkung und Folge aller Taten, die einer getan oder
-unterlassen hat zu Zeiten früherer Verkörperlichungen. Gotamo hätte
-kein rechter Inder sein müssen und noch weniger jener Herzenskündiger,
-der da „der anderen Wesen, der anderen Personen Herz im Herzen schaut
-und erkennt: das begehrliche Herz als begehrlich und das begehrlose
-Herz als begehrlos, das gehässige Herz als gehässig und das haßlose
-Herz als haßlos, das irrende Herz als irrend und das irrlose Herz
-als irrlos, das gesammelte Herz als gesammelt und das zerstreute
-Herz als zerstreut, das hochstrebende Herz als hochstrebend und das
-niedrig gesinnte Herz als niedrig gesinnt, das edle Herz als edel
-und das gemeine Herz als gemein, das beruhigte Herz als beruhigt und
-das ruhelose Herz als ruhelos, das erlöste Herz als erlöst und das
-gefesselte Herz als gefesselt“; -- Gotamo, sage ich, hätte nicht jener
-unvergleichliche Herzenskündiger sein müssen, begabt mit dem
-‚χάρισμα διακρίσεως πνευμάτων‘, wenn er an diesem Leiden von höchster
-persönlicher Bedeutsamkeit gleichmütig vorbeigegangen wäre. Möchte
-Gotamo der Erlebende immerhin an sich selber das Leiden als ein
-kosmisches Vorkommnis, als ein kosmisches Gesetz kosmisch erlebt und
-als eben solches kosmisch überwunden haben: unmöglich, ganz unmöglich
-konnte er sich gegen jenes anders geartete Leiden abstumpfen und
-verblenden, welches jeder Einzelne in einem wahrhaft abgründlichen
-Sinn und Hintersinn über sich selber verhängt. Über sich selber
-verhängt in seiner unumgänglichen Eigenschaft, in jeder zeitlichen
-Verkörperlichung als Täter seiner Taten, als Erbe seiner Werke das
-erleiden zu müssen, was er in früherer Verkörperlichung getätigt hatte.
-Um es mit Einem Wort auszusprechen, so hat ja auch dieser Gotamo die
-Lehre vom Karman angetreten, und das will heißen, die Lehre vom Leiden
-in seiner persönlichsten, verantwortlichsten, einmaligsten Form,
-dessen Maß, Beschaffenheit und Art bei jedem Einzelnen aufs genaueste
-vorherbestimmt erscheint durch Maß, Beschaffenheit und Art seiner
-vormaligen Taten. Hier hatte seinen härtesten Sieg zu erstreiten,
-wer des Leidens Sieger zu sein trachtete. Dieses Leiden hieß Schuld
-und Buße, Vergeltung und Sühne, Gericht und Strafe; dieses Leiden
-hieß Werk und Tat, Wirkung und Verursachung, Selbsturheberschaft und
-Selbstbestimmung. Wie nun ist dieses Leiden, welches aufs innigste
-mit dem Grundgesetz des Lebens, und diesmal zwar mit dem sittlichen
-Grundgesetz des Lebens zusammenhängt, wie ist es abzustellen oder
-zu verwinden, ohne dabei das sittliche Grundgesetz des Lebens zu
-gefährden? Die kosmische Ordnung der Welt konnte gewissermaßen
-außer Kraft gesetzt werden durch die Umgestaltung vergänglicher
-Leiblichkeiten in die Dauer: gut! Wie aber kann die ethische Ordnung
-der Welt durchbrochen werden, ohne daß das Ethos selber aufgehoben
-erscheint?
-
-Vergegenwärtigen wir uns inzwischen, ihr Christen, diese so seltsam
-fremde und dennoch seltsam anheimelnde Lehre vom Karman, das ist
-die Lehre vom ‚Werk‘, etwas mehr von der Nähe, und suchen wir
-völlig zu begreifen, in welchem Grade eben die Absicht Gotamos auf
-Leidensabstellung, Leidensauflösung, Leidensverwindung notgedrungen
-durch diese Lehre aufs äußerste verschwierigt werden mußte. Gemäß dem
-kosmischen Grundgesetz des Leidens von vorhin ist jedes Einzelwesen
-ohne Dauer und somit dem Leiden an der Dauerlosigkeit verfallen.
-Besteht jedoch ein Verfahren, welches Dauer irgendwie zu ermöglichen,
-ja zu verwirklichen verspricht, dann ist dieses Leiden an der
-Dauerlosigkeit getilgt und in kosmischem Betracht ein Zustand der
-Leidlosigkeit erreicht und errungen. Gemäß dem ethischen Grundgesetz
-des Leidens ist aber daneben und außerdem jedes Einzelwesen in jedem
-einzelnen Fall durchgängig das, was zu sein es sich in früherer
-Verlebendigung höchsteigentätig und höchsteigenwillig selbst erschuf.
-Ein gewisses Etwas nämlich reicht von der früheren Verlebendigung und
-ihren Werken, ihren Taten bis zur jetzigen Verlebendigung herüber:
-und dieses Etwas bestimmt das Sein der jetzigen Verlebendigung in
-jedem Zug, in jeder Falte. Was diesen sogenannten Leib betrifft, so
-steht ja unumstößlich fest, daß er nicht dauert und seine Lebenszeit
-nicht übersteigt. Und was die sogenannte Seele betrifft, so steht es
-zwar nicht unumstößlich fest, ob sie dauert oder ob sie nicht dauert,
-weil der Streit der Schulen ja darüber noch nicht entschieden ist und
-auf irdische Sicht hin schwerlich so bald entschieden werden wird;
--- immerhin dauert aber wenigstens nach altindischer Auffassung auch
-diese Seele eigentlich nicht oder fast nicht. Denn wo die Seele der
-alljährlich darzubringenden Totenopfer, Totenspenden der Söhne und
-Sohnessöhne entbehren muß, da entartet sie, da verelendet sie, da
-schrumpft sie gleichsam ein zu einem bloßen Wander- und Irrgespenst
-(_piçâca_), dessen wunderlicher Zwischenstand zwischen Sein und
-Nichtsein jede Wiederverleiblichung ausschließt, die sozusagen
-an der Reihe wäre, und derart die Seele um die ihr eigentümliche
-Auswirkungmöglichkeit, Auswirkungnotwendigkeit verhängnisvoll
-bringt. Was hingegen der dauerlose Leib und die grundsätzlich
-kaum dauernde Seele in der Zeit ihrer irdischen Gemeinschaft in
-gemeinsamer Urheberschaft wollen und vollbringen: das dauert, das
-beharrt, das stirbt nicht, das überlebt und übersteht. In der
-Brihadâranyaka-Upanischad, die allerdings nach der Annahme ihres
-deutschen Übersetzers schon den buddhistischen Einfluß widerspiegelt,
-legt der Frager Ârtabhâga dem alleswissenden Brâhmanen Yâjñavalkya
-die Frage vor: „‚Wenn nach dem Tode dieses Menschen seine Rede in das
-Feuer eingeht, sein Odem in den Wind, sein Ohr in die Pole, sein Leib
-in die Erde, sein Âtman in den Akâra (Weltraum), seine Leibhaare in
-die Kräuter, seine Haupthaare in die Bäume, sein Blut und Samen in das
-Wasser, -- wo bleibt dann der Mensch?‘ Da sprach Yâjñavalkya: ‚Faß
-mich, Ârtabhâga, mein Teurer, an der Hand; darüber müssen wir beide
-uns allein verständigen, nicht hier in der Versammlung.‘ -- Da gingen
-die beiden hinaus und beredeten sich; und was sie sprachen, das war
-Werk, und was sie priesen, das war Werk. Fürwahr! Gut wird einer durch
-gutes Werk, böse durch böses...“ Das Werk des Menschen also, sein
-Werk, will heißen seine Tat und seine Handlung, sie reicht über das
-Dasein der einzelnen Verkörperlichungstufe unendlich hinaus, nicht
-anders ungefähr, wie nach der Ansicht der dynamischen Naturphilosophie
-des Westens die Wirkung einer Krafteinheit unendlich hinausreicht
-über den raumlosen Punkt, in welchem sie ihren Sitz und damit ihr
-eigentliches Dasein hat. Mit dem nicht unerheblichen Unterschied
-freilich, daß diese Wirkung in die Unendlichkeit bei der natürlichen
-Krafteinheit nach allen Lagen und Richtungen des Raumes sich
-zerstreut und in der Zerstreuung sich verliert, indes die unendliche
-Wirkung beim Karman auf geheimnisvolle und nicht zu enträtselnde
-Weise gesammelt und aufgestaut wird, bis sie sich in einer neuen
-Persönlichkeit gleichsam wiederverstofflicht und wiederverlebendigt
-hat. Diese neue Persönlichkeit ist dann, wie sich von selbst
-versteht, mit Leib und Seele die Erschaffenheit der Wirkungweisen,
-die von der vorigen Persönlichkeit als Taten oder Werke ins All
-hinausgestrahlt, hinausgestreut, hinausgeschleudert wurden. Wie die
-auseinanderlaufenden Strahlen einer Linse wohl vom Brennpunkt einer
-zweiten Linse wieder aufgefangen und vereinigt werden können, so werden
-die Werk-Ausgießungen eines beliebigen Wesens von einem zweiten Wesen
-wiederum aufgefangen und vereinigt, -- abermals mit dem Unterschied
-freilich, daß es nach der Lehre vom Karman die Werk-Ausgießungen
-selber sind, die sich zu der neuen Verstofflichung zusammenfinden
-und verfestigen. Das Werk wirkt also in seiner Eigenschaft, Sämling
-oder Keimling oder Schwängerling zu sein, in alle Zukunft fort und
-fort im All: es pflanzt sich selbst als Schößling des Wirkenden in
-irgend eine unbekannte Äther-Erde ein. Urzeugend bildet hier das Werk
-das ihm im innersten entsprechende Wesen hervor; ungeschlechtlich,
-übergeschlechtlich setzt sich das Wesen fort im Werk. Werk aber und
-Wesen, Wesen und Werk schließen sich als die Glieder der ewigen Kette
-‚Zeit‘ in stätigem Wechsel stätig zusammen...
-
-Dem sei im übrigen, wie ihm sei. Auf jeden Fall macht Indien durch
-diese Lehre, die ihren Grundzügen nach vielleicht doch schon
-vorgotamidisch gewesen ist, bitteren Ernst mit dem Gedanken des ‚_esse
-sequitur operari_, Sein erfolgt aus Wirken‘, -- mit einem Gedanken
-folglich, der zwar auch unserem alten Europa nicht fremd geblieben ist,
-aber mit welchem dieses nur hin und wieder etwas zu liebäugeln gewagt
-hat: im ganzen und großen immer wieder von dem thomistischen ‚_operari
-sequitur esse_, Wirken erfolgt aus Sein‘ in den Bann gezogen. Gerade
-weil der Aquinat mit diesem Grundsatz ohne weiteres recht hat und den
-Nagel auf den Kopf trifft, gerade darum muß auch die Umkehrung im Recht
-sein und den Nagel auf den Kopf treffen. Wirken erfolgt aus Sein, das
-lehrt die platteste Erfahrung stündlich. Aber nicht minder, wenn auch
-sicherlich mit minderer Sinnfälligkeit, erfolgt Sein aus Wirken: aus
-dieser meiner Tat wächst das ihr gemäße Sein wie umgekehrt die Tat aus
-ihr gemäßem Sein erwachsen ist. Die heutige Tat von mir erschafft mich
-selber als morgige Person; meine Tat von heute, mir heute noch selber
-fremd, unheimlich, unzugehörig und gleichsam in einem dunkeln Ungefähr
-von einem namenlosen Es getätigt, -- sie schafft sich zuverlässig
-morgen ihren Täter, in mir selber zu mir selber sprechend: das bist
-du... Das Werk der Tat, noch heute von mir selbst als meines Selbstes
-blindes Jenseit geleugnet und nur wie ein Erdblitz aus irgendeiner
-Falte, irgendeinem Spalt meiner Selbstheit tödlich zuckend, -- dies
-Werk meiner Tat wirbt bald um seinen Täter unablässig, bis sich mein
-Selbst als Täter morgen ihm vermählt. Wenn aber ein tragischer Dichter
-Europas sich zu dem immerhin bemerkenswerten Ausspruch hat bestimmen
-lassen, daß böse Tat fortzeugend stets Böses müsse gebären, so würde
-ein indischer Denker dies vielleicht sinngemäß dahin abzuändern
-wünschen: daß böse Tat fortzeugend stets Böse müsse gebären, wie gute
-Tat eben so fortzeugend Gute. Denn die Tat tätigt nicht allein die Tat,
-sondern tätigt je und je den Täter, wie dies der nicht ganz echte,
-aber doch um Echtheit eifrig bemühte Gotamide Schopenhauer wenigstens
-dem Willen an und für sich (ob auch leider nicht der Tat an und für
-sich) buchstäblich zuerkannte: du bist, wer du willst, _esse sequitur
-velle_, aber du tust, wer du bist, _operari sequitur esse_. Für den
-Inder jedoch ist es nicht der Wille, nicht eine geistig-seelische
-Wesenheit, nicht ein geistig-sinnlicher Eigenschaftträger, der das
-Dasein und Sosein der Person bestimmt, sondern die Tathandlung als
-solche, wie sie sich schlechterdings überhalb und außerhalb jeder
-physisch-metaphysischen Trägerschaft oder Täterschaft auswirkt. Es
-ist das Werk, das sich das Wesen baut, und zwar jegliches Werk das
-ihm gemäße Wesen. Es ist das Werk, das gleichsam erst in seinem ihm
-gemäßen Wesen ausruht, ungefähr wie eines jener emsig quabbelnden
-Einzellentierchen des Männersamens erst im Kern des weiblichen Eies
-ausruht. Das Werk rastet nicht und beharrt in dauernder Bewegung,
-bis es das Wesen, so ihm zugehört, mit aller Sorgfalt ausgeformt und
-ausgebosselt hat. Das Werk währt ewig und ewig wirkt es sich Strafe,
-Sühne, Vergeltung im erschaffenen Wesen, je nach seinem eigenen Wert;
-und ewig wirkt es sich Lohn, Förderung, Verdienst im erschaffenen
-Wesen, je nach seinem eigenen Wert. Und fast schon könnte ein
-weiterdenkender Abendländer sagen: der Wert währt ewig und ewig erwirkt
-er sich Strafe, Sühne, Vergeltung im erschaffenen Wesen, ewig Lohn,
-Förderung, Verdienst im erschaffenen Wesen... Hier aber, wie sonstwo
-nirgends, sage ich, tötet der Buchstabe und macht der Geist lebendig.
-Der Buchstabe der Lehre vom Karman tötet vielleicht wie kein zweiter
-Buchstabe den Geist selber, -- den Geist selber aber hat Gotamo ein
-für allemal selber ehern in das Wort gehämmert: „Eigner der Werke sind
-die Wesen, Erben der Werke, Kinder der Werke, Geschöpfe der Werke,
-Knechte der Werke“. Das ist gotamidisch gefaßt das ethische, nicht mehr
-kosmische Grundgesetz und Urgesetz der Welt, das ist das Ethos selber
-als Grundgesetz und Urgesetz der Welt. Werk wirkt Wesen, Tat tätigt
-Täter: das ist in drei Worten aufgefangen, aufgegangen die Lehre vom
-Karman, wie sie Gotamo vielleicht angetreten und anerkannt, sicherlich
-aber vertieft und gegründet, abgerundet und zum Glaubenssatz erhoben
-hat...
-
-Werk wirkt Wesen, Tat tätigt Täter, also lautet die erste und
-unverlierbare Überzeugung. Aber schon schließt diese eine zweite ein,
-die hier nur mehr besonders erwähnt, nicht mehr besonders abgeleitet
-und entwickelt zu werden braucht: Werk nämlich wirkt Leiden, und Tat
-tätigt Leiden! Denn Wesen und Täter als Erschaffenheit von Werk und
-Tat, das sind eben Leidende und Erleidende von Werk und Tat; -- Zug
-um Zug, Falte um Falte ihres Daseins, wie ich schon sagte, bedingt
-und bestimmt durch Karman, verhalten Täter und Wesen in bezug auf
-Tat und Werk sich leidend. Sie verhalten sich leidend, ihr Christen,
-in der allgemeineren Sprachbedeutung dieses Wortes, ohne Beziehung
-zunächst auf die Unlust des Gefühls, die wir in engerer Wortbedeutung
-Leiden nennen. Leidende sind vielmehr Wesen und Täter, wofern ihr
-Sein der Tat verdankt wird, durch Tat ihnen angetan wird, ohne daß
-sie selbst an dieser Tat beteiligt sind, -- Leidende mithin im
-Wortsinn des Getätigt-Seins und Angetan-Werdens, des Bedingt-Seins und
-Bestimmt-Werdens von einem Etwas, welches sie nicht selber sind. Als
-Eigner der Werke, ja Knechte der Werke, sind die Wesen recht eigentlich
-die Leidner und Erleidner der Werke. Ihre innerste Kernschaffenheit,
-Kernrüstigkeit ward ihnen vom Karman angetan, wie etwa nach der
-Auffassung Kants die Eindrücke der Sinnlichkeit uns angetan werden
-vom Ding an sich. In manchem Betracht selber Eindrücke, Fährten,
-Spuren, die das Karman in dem bildsamen Grundstoff das All hinterläßt,
-bleibt den Wesen und Tätern keine Wahl, als nach dem Gesetz sich
-auszuleben, das sie von Karmans Gnaden angetreten, und auf solche Weise
-unerbittlich streng die Wirkung der Werke in sich zu verkörpern. Werk
-und Wesen, Tat und Täter aber verhält sich darnach nicht allein wie
-sich ein Tun zu seinem genau entsprechenden Leiden verhält, sondern
-mehr noch wie sich eine Ursache zu ihrer genau abgestimmten Wirkung
-verhält. Das Werk ist geradezu Ursache, Bedingung, Bestimmunggrund des
-Wesens, wie umgekehrt das Wesen geradezu Folge, Wirkung, Erscheinung
-des Werkes ist. Die Welt als Ganzheit aber stellt sich dem indischen
-Genius nicht anders dar als die Summe aller dieser Werk-und-Wesen-,
-aller dieser Tun-und-Leiden-Knüpfungen, deren fest umschriebenes
-Wechselverhältnis dem All seine Ordnung und sein Gesetz, sein Maß und
-sein Sinn verbürgt. Wenn wir Europäer und Christen, ihr Christen, dem
-Geschehen dieser Welt die unzerreißliche Schürzung Ursache-Wirkung als
-weltsetzende und weltverfassende Unveränderliche aus- und eindeutend
-unterstellen, so unterstellt der Inder und Buddhist dem nämlichen
-Geschehen, -- schon ist es aber nicht mehr das nämliche Geschehen! --
-die Schürzung Werk-Wesen, die Schürzung Tun-Leiden. Derart stellt das
-Karman durchaus dar, was der europäische Biologe bei dem Vergleich
-tierischer Organe miteinander eine ‚Analogie‘ zu nennen pflegt: das
-Karman ist die Analogie der Kausalität, deren erkenntnismäßige Leistung
-es haarscharf vertritt (und wie wir gewahren werden: übertrifft!),
-obschon es von ihrer erkenntnismäßigen Gestalt und Art unverkennbar
-abweicht. Das Karman, sag’ ich, sei die indische Analogie der
-europäischen Kausalität, wenn anders dieser naturwissenschaftliche
-Begriff auf geistige Verhältnisse übertragen und angewendet werden
-darf. Gleichsam in ihrer Anatomie verschiedenartig, sind Karman und
-Kausalität sozusagen in ihrer Physiologie gleichwertig, und wie dem
-Fisch die Kieme Lunge ist, so ist dem Inder das Karman Ursächlichkeit
-und ursächliche Schürzung. Das Karman ist die Kausalität, wie sie der
-Inder auffaßt: das Karman ist die erste und letzte sinnspendende,
-ordnungstiftende Eindeutung, welche aus wüsten Urmassenwirbeln eine
-Welt herausklärt. Die Knüpfung des Karman leistet dem indischen Geist
-das, was dem europäischen die Knüpfung der Kausalität leistet oder
-vielleicht auch nicht leistet, aber leisten soll und will. Die Knüpfung
-des Karman vertritt dem Inder die Knüpfung der Kausalität, nicht
-anders wie dereinst die Schürzung des Tun-Leidens, ποεῖν-πάσχειν dem
-Griechen die Schürzung der Kausalität vertreten hat und insonderheit
-auf der Tafel der zehn Kategorien des Aristoteles auch vertritt, --
-was denen zur Beruhigung gesagt sei, die sich immer noch den Kopf
-zerbrechen, wieso ein streng wissenschaftliches Weltbild wie das
-der Griechen ohne den Urgedanken der Ursächlichkeit habe überhaupt
-bestehen können. In Wahrheit hat es eben gar nicht ohne diesen
-Urgedanken bestanden, auch wenn das Wort Ursächlichkeit wirklich zu
-fehlen scheint. Die Ursächlichkeit der Griechen heißt ποεῖν-πάσχειν,
-heißt Tun-Leiden, heißt Antun-Angetanwerden: und wenn je in ihrer
-vielschichtigen geistigen Geschichte schlagen sie hier die Brücke zum
-großen Osten, wo der unverbrüchliche Knoten ποεῖν-πάσχειν eben --
-Karman heißt. Noch haftet ja dieser Ursprung sogar unserem heutigen
-Gedanken der Ursächlichkeit und Verursachung unabstreiflich an. Noch
-immer ist ja die Ur-Sache zuguterletzt Ur-Tat und Ur-Tun, noch immer
-ist die Wirkung ein Angetan-Werden und Erleiden-Müssen. Noch hat sich
-jede europäische Erkenntnislehre auseinanderzusetzen, wenn nicht
-abzufinden mit der seltsamen Auffassung, daß die sogenannte Empfindung,
-will heißen der Stoff und Inhalt des Erlebens, auf irgendeine
-unerforschliche Weise die Angetanheit, die Erlittenheit sei, die
-der bewußten Persönlichkeit aus unbekannten und unnennbaren Fernen
-aufgedrungen wird. Noch lebt in jeder abendländischen Philosophie
-mehr oder minder stark die Überzeugung, daß der persönliche Träger
-und Inhaber des Bewußtseins die Welt von außen her erleide und
-erdulde; noch lebt in jeder abendländischen Philosophie mehr oder
-minder stark die Auffassung, daß die ‚Sinnlichkeit‘ ein Vermögen des
-Aufnehmens, Empfangens, Über-sich-ergehen-Lassens sei. Auch jetzt
-noch ‚erleidet‘ der einzelne Mensch die Wirklichkeit, auch jetzt noch
-erliegt er der Wirklichkeit. Weltduldend, weltleidend wird selbst
-dieser europäisch starke und eigenwillige Mensch von der Wirklichkeit
-und ihrer Zeichenflut überschwemmt und überwallt, also daß sogar uns
-verhärteten Christenseelen, ihr Christen, der Tat-Bestand Leiden und
-der Tat-Bestand Leben in der Wurzel fest zusammenwachsen...
-
-Aus unbekannten, unnennbaren Fernen, sagte ich vorhin, strömten dem
-einzelnen Bewußtsein die Eindrücke zu, die es als sein Erlebnisstoff,
-Erlebnisinhalt zu erleiden hat. Gilt dies für abendländisches Auffassen
-ohne Einschränkung, so hebt sich dieses Auffassen freilich just hier
-am schärfsten vom indischen Auffassen ab, wo es diesem sich am engsten
-angenähert zu haben scheint. Denn diese namenlosen Fernen, dieses
-‚Außerhalb‘ des Bewußtseins, dieses kaum mehr zu verdeutlichende
-Bereich von Dingen an sich oder von dem Ding an sich, welches auf
-geheimnisvolle Art das Bewußtsein mit Zeichen, Reizen, Eindrücken,
-Empfindungen versieht, -- dieses Bereich des unergründlichsten Ungefähr
-verlegt die indische Lehre eben wieder in den Tat-Ort als solchen: in
-das Karman. Auch der Abendländer, wir sahen es, fühlt sich in seinem
-Erlebnisumkreis bedingt und bestimmt, beeindruckt und erleidend.
-Auch ihm werden Empfindungen, Erlebnisstoffe, Bewußtseinsinhalte von
-verborgenen Herkunftstätten zugeteilt, für welche die wissenschaftliche
-Topologie keine Ansatzpunkte mit irgendwelcher Zuverlässigkeit
-auszukunden vermag. Ist dieses bisher durchaus auch indisch, so
-gestattet sich indes gerade der Inder hier die entscheidende Abweichung
-von der europäischen Überzeugung, indem er nämlich seinerseit den
-dort vermißten Ansatzpunkt für die Auswirkungen der Dinge an sich im
-Karman gefunden zu haben glaubt. Die Kraftquellen der Welt, welche
-dem Einzelwesen seine Lebensreize spenden, versickern nicht auf dem
-durchlässigen Grund einer ewig fragwürdigen Dingansichheit, sondern
-werden ins Karman wie in ihr Sammelbecken unversieglich geleitet. Die
-Welt, die jedem angetan wird auf seine Weise, sie wird ihm von ihm
-selber angetan, sie wird ihm von seinem Werk, von seiner Tat, von
-seinem Willen angetan. Die Welt, die einer in der Jetztzeit seines
-Daseins erleidet, die hat er sich selber in Gestalt seines Karman
-in der Zeit erwirkt. Die Zeichen, die einem jeden als Lebensreize
-zustoßen, die hat sich ein jeder selber zugesendet, auf diese hat
-sich ein jeder selber abgestimmt. Die Welt erleidend, erleidet jeder
-zuletzt sich, als Empfänger gleichsam mit magnetischen Kräften an sich
-ziehend, was er als Sender magisch ins All hinausgestrahlt und gefunkt
-hat. Die Reiz- und Erlebnisumwelt, anscheinend jedem zufallend auf gut
-oder schlechtes Glück, ist in einem gedanklich nie zu erschöpfenden
-Sinn die Wahl-Welt, Werk-Welt, Tat-Welt eines jeden; und zwar dort am
-meisten, wo sie am unwiderstehlichsten beeindruckt und beeinflußt.
-Solchermaßen nimmt aber bereits die altindische Lehre unsere späte und
-kaum schon viel verbreitete Errungenschaft biologischer Einsichten
-geistreich genug vorweg, -- ich meine die höchst fruchtbare Erkenntnis,
-wonach jedes Lebewesen mindestens seiner morphologischen Typik nach der
-Urheber und Urtäter seiner eigenen und nur ihm zugemessenen, nur ihm
-angemessenen Umwelt, Reizwelt, Merkwelt ist und folglich wenigstens im
-biologischen Betracht nur das erleben kann, was es kraft schöpferischer
-Selbstgestaltung und Selbstentfaltung zuguterletzt erleben will. Der
-morphologische Typus einer jeglichen Spezies erschafft sich darnach
-physiologisch und psychologisch seine spezifische Erlebniswirklichkeit,
-die genau genommen nur für ihn besteht und nur ihm entspricht: die
-Schnecke die Schneckenwirklichkeit, die Möve die Mövenwirklichkeit,
-die Ameise die Ameisenwirklichkeit, der Affe die Affenwirklichkeit.
-Wie sich die Erde eine Lufthülle umlegt, in welcher sie atmen kann,
-und nun die Umwelt, Reizwelt, Merkwelt ‚Luft‘ erlebt, so umgibt sich
-selbstschöpferisch jedes Geschöpf mit einer Wirklichkeit, in der es
-wirken kann und die auf seine Wirksamkeit wiederum aufs wunderbarste
-zugeschnitten ist... Ein Schritt weiter vom Leben der Art und Gattung
-zum Leben des Einzelwesens hin, ein Schritt weiter vom Bios und
-allem, was mit ihm zusammenhängt, zum Ethos hin und allem, was mit
-ihm zusammenhängt: und Europa ist reif für die gotamidische Lehre,
-daß auch hinsichtlich des Ethos, und keineswegs allein des Bios, ein
-jedes Lebendige nur das, was es zu innerst will, erleben und empfangen,
-empfinden und erleiden, erreizen und ergeizen kann. Was da in dieser
-Welt Wasser zu erleiden hat, das hat eben als Karman Wasser getan;
-was da Erde zu erleiden hat, das hat Erde getan; was da Feuer zu
-erleiden hat, das hat Feuer getan; was da Luft zu erleiden hat, das
-hat Luft getan; was da Tod zu erleiden hat, das hat Tod getan; was da
-Hölle zu erleiden hat, das hat Hölle getan; was da Geist zu erleiden
-hat, das hat Geist getan; was da Säligkeit zu erleiden hat, das hat
-Säligkeit getan. Wer dieses über den Bios hinaus aus dem Ethos zu
-verstehen vermag, der hat die Lehre vom Karman endgültig verstanden,
-soweit das Verstand-Übersteigende verstanden werden kann. Ihm ist in
-Übereinstimmung mit dem Herrn Gotamo das Leben wohl in seiner Wurzel
-Leiden: aber das Leiden, ihr Christen, in seiner Wurzel Tat! Aber das
-Leiden, ihr Christen, in seiner Wurzel Tat!...
-
-Wie etwa an einem Herbstnachmittag aus falb leuchtenden
-Silbernebelmassen ganz plötzlich eine dunklere Linie sichtbar wird
-hoch in der Gegend des Raumes, wo wir den Himmel vermuten dürfen;
-wie sich dieser ungewisse Streifen alsbald zu erkennen gibt als die
-Rist- und Gipfelrandung ungeheuerer Gebirge; wie schließlich sich die
-Gletscherbänke und Firnfelder hintereinander gereihter Alpenketten
-bei zunehmender Klärung vom Himmel her bald leuchtend und bald
-schattend abwärts tasten und abwärts schieben, um zuletzt auf der
-Erde selbst gewaltig wuchtend Fuß zu fassen: also zeichnet sich hier
-erst in wenigen Zacken und Zinken, Schroffen und Stürzen, dann aber
-immer körperhafter, immer ausgerundeter, immer raumbeherrschender
-ein ganzes Welt-All ab, zuletzt vom vollen und goldenen Nimbus einer
-übermenschlichen, übergöttlichen Gerechtigkeit wundersam besonnt.
-Ein Welt-All zeichnet sich ab, wo alles bereinigt, alles beglichen,
-alles geschlichtet, alles gewogen, alles gerichtet scheint, -- ein
-Welt-All, untadelig und vollkommen in sich selber und darum keines
-Gotts bedürftig, der daran bessern oder schlimmern könnte, keines
-Gotts, der es ergänzen oder vervollständigen müßte in dem, was ihm
-von Haus aus gebricht. Ein Welt-All ohne schmierigen Geschäfte und
-Geschäftchen, wo niemand um das Heil seiner Seele feilscht und
-marktet, handelt und händelt, schwindelt und betrügt. Ein Welt-All,
-wo kein Mensch seine Götter prellt und noch weniger ein Gott seine
-Menschen. Ein Welt-All, wo keiner zu seinem Gott betet und bettelt,
-daß er die Welt-Ordnung doch für einen Augenblick zugunsten des Herrn
-Müller, Schultze, Schmidt ein wenig außer Kraft setzen möchte und die
-Welt-Fügung außer Fug. Ein Welt-All, wo keine Götter blinzeln oder
-zwinkern oder ein Auge zudrücken, wenn der Herr Müller, Schultze,
-Schmidt vom Pfad der Tugend abweicht und sich im Dickicht nebenan zu
-schaffen macht. Ein Welt-All, wo kein Priester über zulässige und
-unzulässige Ausnahmen von der Regel zu befinden sich gedreistet: ein
-Welt-All, so unverbrüchlich, unverwüstlich, daß nicht einmal der
-Wüsten-Gott Jahve drein zu sprechen sich getrauen dürfte. Ein Welt-All,
-wo kein Platz ist für Zufall und Zufälligkeiten, aber kein Platz auch
-für Zwecke und Zweckmäßigkeiten in der landläufigen Bedeutung. Ein
-Welt-All, wo sich alles abspielt in durchgängiger Wechsel-Abhängigkeit,
-Wechsel-Bezogenheit, Wechsel-Folgerichtigkeit, wo aber andererseit auch
-die Ursächlichkeit noch nicht entartet ist zu jener tief gleichgültigen
-Sächlichkeit und Sachlichkeit, welche sie zur alleinigen Angelegenheit
-der Wissenschaften, nicht aber mehr zum Sinn der Religionen stempelt.
-Ein Welt-All, das sich den Luxus der Gottlosigkeit wirklich leisten
-kann, weil es nicht wie das unsrige bloße Physis oder bloßer Bios,
-sondern unter allen Umständen ein Ethos ist: Physis und Bios und Ethos
-zumal verankert in dem einen und nämlichen Urgesetz des Kosmos... Von
-diesem Gesetz in jedem Teil und jedem Glied ewig und ehern durchwaltet,
-schenkt dieses Welt-All der Seele des Menschen, was des Menschen Seele
-bedürftig ist, bedürftig war und bedürftig sein wird: weshalb die von
-der Welt getränkte und gespeiste Menschenseele Gottes und der Götter
-nicht bedarf. So ist der Kosmos des Buddho, das sei uns Christen,
-ihr Christen, immer wieder eingehämmert, zwar durchaus ein Kosmos
-Atheos, aber dafür in jedem Zug vollkommenes Ethos, -- und das ist
-vielleicht nicht unbeträchtlich mehr, als man von unserm westlichen
-Welt-Bild und Welt-Gefüge seit dem griechischen Altertum und seit
-dem christlichen Mittelalter mit etlichem Recht nachrühmen darf. Aus
-dem Ethos herauf entstieg jenen Indern, welche die Anschauung vom
-Karman in sich empfangen hatten, die Anschauung ihres Kosmos: aus dem
-Tatbestand des Pathos aber, beeile ich mich hinzuzufügen, erwuchs
-ihnen das Ethos. Derart brauchte sich das Ethos nicht wie jeweils bei
-uns nach kurzem Antrieb leer zu laufen, sondern griff mächtig in den
-Kosmos ein. Wenn aber ein Grieche die beinah’ unsägliche Bedeutung
-dessen, was einem Griechen Ethos hieß, in drei Worte zusammenballte
-wie in eine geschlossene Faust, indes freilich auch noch die geballte
-Faust zu schwach war für die Stärke dieser Worte; wenn ein Grieche
-also vormals sagte: ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμων, Sinnesartung ist dem Menschen
-Schicksal! -- nun wohl, dann hat der Buddho auch dieses geflügelte Wort
-noch überflügelt durch sein gotamidisches: πάθος ἀνθρώπῳ ἦθος, πάθος
-κόσμῳ ἦθος! Leiden ist dem Menschen Seins- und Sinnesartung, Leiden dem
-Welt-All Seins- und Sinnesartung! Oder um den entscheidenden Gedanken
-mit noch größerer Schärfe auszuprägen: das Leiden ist dem Welt-All Sein
-und Sinn schlechthin! Aus des Leidens Urerleben, das gilt es jetzt mit
-einem Staunen ohne Ende zu begreifen, aus ihm läutert und keltert
-sich der Buddho den eigentlichen Sinn des Seins, den eigentlichen Sinn
-der Wirklichkeit. Der Tatbestand des Leidens als solcher vermittelt
-dem Buddho die Anschauung einer übermenschlich-übergöttlichen
-Welt-Gerechtigkeit, Welt-Vernünftigkeit, Welt-Vollkommenheit,
-Welt-Folgerichtigkeit. Wofern hier jedes Wesen leidet, was jedes Wesen
-tat, wofern hier jedes Wesen ist, was jedes Wesen tat, erblickt das
-Auge Gotamos, das ‚himmlische und geklärte‘, diese Welt in makelloser,
-untadeliger Sinngetreuheit und Sinndurchwirktheit, -- erblickt es sie
-mit jener zärtlichen Ergriffenheit vor allem Lebendigen, die dem Buddho
-allein in dieser Reinheit und Kraft eigen gewesen ist. „Gleichwie etwa,
-ihr Mönche, wenn da zwei Häuser wären, mit Türen, und es betrachtete
-ein scharfsehender Mann, in der Mitte stehend, die Menschen, wie sie
-das Haus betreten und verlassen, kommen und gehen: ebenso nun auch,
-ihr Mönche, seh’ ich mit dem himmlischen Auge, dem geläuterten, über
-menschliche Grenzen hinausreichenden, die Wesen dahinschwinden und
-wiedererscheinen, gemeine und edle, schöne und unschöne, glückliche und
-unglückliche, erkenne wie die Wesen je nach den Taten wiederkehren.
-Diese lieben Wesen sind freilich in Taten dem Guten zugetan, in
-Worten dem Guten zugetan, in Gedanken dem Guten zugetan, tadeln nicht
-Heiliges, achten Rechtes, tun Rechtes; bei der Auflösung des Körpers,
-nach dem Tode, kehren sie auf gute Fährte, in himmlische Welt wieder.
-Und auch diese lieben Wesen sind in Taten dem Guten zugetan, in
-Worten dem Guten zugetan, in Gedanken dem Guten zugetan, tadeln nicht
-Heiliges, achten Rechtes, tun Rechtes; bei der Auflösung des Körpers,
-nach dem Tode, kehren sie unter die Menschen wieder. Jene lieben Wesen
-sind aber in Taten dem Schlechten zugetan, in Worten dem Schlechten
-zugetan, in Gedanken dem Schlechten zugetan, tadeln Heiliges, achten
-Verkehrtes, tun Verkehrtes; bei der Auflösung des Körpers, nach dem
-Tode, kehren sie in das Gespensterreich wieder. Und auch jene lieben
-Wesen sind in Taten dem Schlechten zugetan, in Worten dem Schlechten
-zugetan, in Gedanken dem Schlechten zugetan, tadeln Heiliges, achten
-Verkehrtes, tun Verkehrtes; bei der Auflösung des Körpers, nach dem
-Tode, kehren sie in die Tierheit wieder. Und auch jene lieben Wesen
-sind in Taten dem Schlechten zugetan, in Worten dem Schlechten zugetan,
-in Gedanken dem Schlechten zugetan, tadeln Heiliges, achten Verkehrtes,
-tun Verkehrtes; bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, kehren
-sie abwärts, auf schlechte Fährte, zur Tiefe hinab, in höllische Welt
-wieder“...
-
-Haben wir dieses, ihr Christen, einmal erschöpfend gewürdigt, wie
-für den Buddho die ganze Sinnerfülltheit und Sinnbedingtheit der
-Welt ausschließlich an der Lehre vom Karman hängt, will heißen an
-der Vorstellung von einem ewigen Wechsel- und Abhängigkeitverhältnis
-zwischen Werk und Wesen, Tat und Täter, Tun und Leiden, -- dann
-vermögen wir endlich etwa auch zu würdigen, warum der Buddho gegen
-jede Anzweiflung dieses weltordnenden, ja weltstiftenden Zusammenhanges
-so ungewohnt scharf ausfallen mußte, wie dies zum Beispiel, ich
-erwähnte es schon, in der Hundertundneunten Rede aus der Mittleren
-Sammlung Majjhimanikâyo jenem vorwitzigen Mönchlein geschah, das aus
-der dort entwickelten Formel des ‚_N’etam mama_, das gehört Mir nicht‘
-die Unzugehörigkeit von Tat und Täter folgern wollte. Diese Verknotung
-von Pathos und Ethos, übrigens in ungefähr gotamidischer Zeit doch
-auch in unserem Westen von den Griechen auf ihre eigene Weise erahnt,
-sei es orphisch, sei es tragisch, ja sogar sei es philosophisch
-geschehen (wie die aristotelische Tafel von den Kategorien erweist
-und beweist: und eben durch die aristotelische Philosophie in das
-wissenschaftliche Weltbild Europas eingeschmolzen), -- diese Verknotung
-knotet und schürzt überhaupt erst die Wirklichkeit zur Welt, welche
-ohne sie zu einem unentwirrbaren Knäuel abgerissener Fäden aller
-Art wie ausgekämmtes Frauenhaar verfilzen würde. Wer das Karman
-anficht, ficht die Verfassung des All, das Grundgesetz des All, den
-Ursinn des All an, „ein eitler Mensch, aus Unwissen in Unwissenheit
-geraten, vom Durst im Geiste überwältigt“... Das Karman heftet die
-Mannigfaltigkeit der Dinge und Begebenheiten zusammen, wie der Einband
-die losen Blätter eines Buchs zum Buch zusammenheftet. Das Karman
-einigt die Unterschiedlichkeiten der Dinge und Begebnisse, wie der
-Sinn die verschiedenen Buchstaben eines Wortes, die verschiedenen
-Worte eines Satzes, die verschiedenen Sätze einer Rede einigt. Das
-Karman durchtönt und durchdringt die Wirklichkeit mit seiner Farbe,
-wie eine Kugel Waschblau das Wasser des Zubers bläut und mit ihm alle
-Wäschestücke, die im Zuber abgespült und ausgerungen werden. Das Karman
-fügt Tun und Leiden, Tat und Dasein vollkommen passend aneinander,
-wie ein geschickter Zimmermann Nud und Feder vollkommen passend
-aneinanderfügt. Das Karman verstätigt die bloße Aufeinanderfolge von
-Werk und Wesen, Tat und Täter in der Zeit zu einer bedingend-bedingten
-Auseinanderfolge in der Zeit und schweißt alle Auseinanderfolgen in
-einen unverbrüchlich lückenlosen Ring. Für immer erzeugt gemäß dem
-Karman das gleiche Werk das gleiche Wesen, für immer gebiert gemäß ihm
-die gleiche Tat den gleichen Täter: dauernd dreht sich dieser Ring
-der Werke-Wesen um des Karmans Achse wie ein wohlgeschmiertes Rad.
-Weil aber hier stets die gleiche Ursache gleiche Wirkung, die gleiche
-Urtat gleiche Wirkung, das gleiche Werk das gleiche Wesen, das gleiche
-Tun das gleiche Leiden nach unabänderlicher Satzung setzen werden,
-geschieht es ganz von selbst, daß der Künder des Karman in einer
-gewissen Weise der Künder der Ewigen Wiederkehr zu sein gar nicht umhin
-kann: als welchen ihn denn auch das Buch vom Gestaltwandel der Götter
-dem europäischen Leser schon vorgestellt hat. Der Buddho, der zwischen
-den zwei Häusern Platz genommen hat, aus welchen diese Wesen ausgehn
-und wohin sie eingehn: jedesmal in neuer Maske, neuer Verpuppung und
-neuer Gestalt, -- er wird doch immer derselben Schürzung gewahr
-zwischen Werk und Wesen, Tat und Täter, Tun und Leiden: wird derselben
-Schürzung nicht ohne Überdruß gewahr! Denn das ewige Gesetz durchwaltet
-zwar diese Welt wohltätig mit Sinn, durchwärmt diese Welt wohltätig
-mit Sinn. Aber das ewige Gesetz verzerrt auch den Sinn dieser Welt zum
-Un-Sinn, Wider-Sinn und läßt den Sinn zum Un-Sinn, Wider-Sinn erkalten.
-Mit zermalmender Gleichform setzt das Gesetz von sich aus immer nur das
-Gleiche; gleiches Tun, gleiches Leiden; gleiches Werk, gleiches Wesen;
-gleiche Handlung, gleiche Erscheinung: das ist der Ring des Gesetzes,
-das ist das Rad des Gesetzes. Trostspendend, heilwirkend dem, der vor
-der Willkür und dem Zufall des Geschehens zum Gesetz sich rettet,
-wird das Gesetz fürchterlich dem, der aus der Regel zur Ausnahme, aus
-der Abhängigkeit zur Freiheit hinstrebt. Durch des Leidens Urerleben
-ist Gotamo zum Weltgesetz, zur Weltordnung, zum Weltsinn gekommen.
-Aber wiederum kommt durch des Gesetzes, durch der Ordnung, durch des
-Sinnes Urerlebnis Gotamo zurück zum Leiden, von dem er eben ausging.
-Der Lehrer und Künder des Karman als dem Dharma beginnt am Karman,
-beginnt am Dharma selbst zu leiden: und diesem Leiden gleichsam am Sinn
-weiß freilich kein Sinn mehr Abstellung zu erwirken. An der Erfahrung
-des Leidens ist Gotamo herangereift für ein Welt-All, vollkommen
-makellos, untadelig und gerecht. Aber zugleich kehrt in diesem All das
-Gleiche in der Zeit wieder, und derart erweist sich das All seinem
-tiefsten Deuter als eine Stätte ewiger Wiederbringung, als ein Ring
-ewiger Wiederkehr, als ein Rad ewiger Wiederkünfte: „Ewig ist Seele
-und Welt, starr, giebelständig, grundfest gegründet; und diese Wesen
-wandern um, wandeln um, verschwinden und erscheinen wieder: es ist
-immer das Selbe“... Gesetzt durch das Gesetz, verletzt also die Welt
-am unheilbarsten durch das Gesetz den, der die Freiheit im Gesetz
-und in der Welt sucht. Am Gesetz erlabt sich die Seele, wofern ihr
-das Ungesetz verhaßter wie die Schande ist: aber wider das Gesetz
-empört sich dieselbe Seele, wofern sie die Freiheit mehr liebt wie
-sich selber. „Und es gibt eine Freiheit, höher als diese sinnliche
-Wahrnehmung“, begütigt sich die Seele selber, die am Gleichschritt des
-Geschehens tödlich leidet... Es gibt eine Freiheit, da das Gesetz stets
-nur Notwendigkeiten setzt und dennoch die eigentliche Not nicht wendet:
-es gibt eine Freiheit, welche die Not des Gesetzes selber wendet...
-
-Als Krischna, der Hirtenknabe -- wir entsinnen uns, ihr Christen,
-dieser liebenswürdigen Legende -- als Krischna, der Hirtenknabe, eines
-Tages sich erging am Ufer der heiligen Yamunâ und sich ergötzte, wie
-der Strom so flink und schimmernd wallte, da ward er auf der Oberfläche
-dieses schönen Flimmerspiegels einer Stelle ansichtig, von welcher her
-Rauch und Gestank schwelte. Er sah das Wasser sieden und mit plötzlich
-aufsprudelnden Springfluten das Laub der Bäume am Gestade versengen,
-die Vögel auf den Zweigen verbrühen. Sofort gedachte er, wie dies
-gewiß Kâliya sei, die Weltenschlange, die hier mit ihrem giftigen
-Gezücht Wasser, Land und Luft verpeste. Und er gedachte ferner, wie es
-jetzt an der Zeit sein möchte, mit dieser Weltenschlange auf dem Grund
-der himmelspiegelnden Yamunâ ein Wort zu reden und sie, koste es was es
-wolle, zum Abzug aus diesen göttlichen Gefilden zu bewegen. Das alles
-gedachte der Hirtenknabe Krischna bei sich und schon hatte er sein
-Kleid geschürzt und sich in den kochenden Strudel hineingeschwungen auf
-den Grund des Schlangenpfuhls, -- schon hatte er die Arme ausgereckt,
-die kindlichen, um das wütende Ungetüm zu würgen. Aber schon wand
-auch die hochgesträubte Schlange ihre tausend Leiber um den Knaben,
-schon schlug sie ihre tausend Zähne in sein golden Fleisch. Bald war
-nichts mehr von ihm zu erblicken, der von dem Metall der Schuppenarme
-rings umpanzert war wie von einer Rüstung, welche der Waffenschmied
-am Körper des Gerüsteten selber glüht und biegt und hämmert. So hatte
-sich Krischna übermütig in den Schlangenabgrund geschwungen, um von ihm
-verschlungen zu werden. Bestürzt, ratlos, verzweifelt liefen die Hirten
-und Hirtinnen der Heimat an den Ufern zusammen und rangen die Hände in
-Schmerz und Ohnmacht, indes des Knaben Mutter Yasodâ wie leblos auf die
-Erde fiel. Bis dann zuletzt Krischnas Leibesvater Nanda, unbewegt dem
-Sohn ins Auge blickend, die Worte in den Pfuhl hinunterwirft: Genug, o
-Gott der Götter! Du hast lange genug dich menschlich gezeigt; weißt du
-nicht, daß du göttlich und ewig bist?... Derart angerufen, aufgerufen
-zum Entschluß, sich endlich auf sich selber zu besinnen, sich endlich
-zu sich selber zu ergotten, lächelt der Knabe sanft seines zauberischen
-Lächelns. Und zieht sich leicht und spielend aus der tausendarmigen
-Umwindung, nicht anders etwa wie eine Dame der Gesellschaft ihre Hand
-anmutig und leicht aus dem Arm eines Herrn herauszieht, der sie zu
-Tisch oder zum Tanz geführt hat. Und tritt mit einer kaum merklichen
-Bewegung der Schlange auf den behaubten Kopf und immer wieder auf den
-Kopf, bis sie unter die Wippe der göttlichen Ferse immer und immer
-wieder gewippt, in ihren fruchtlosen Zuckungen und Krämpfen schließlich
-erlahmt und am Ende steif, speiend, geifernd vor Anstrengung ohnmächtig
-auf dem Grund des Stromes ausgestreckt liegt und in strengem Schwur
-den Abzug aus dem heiligen Bezirk verspricht... Die Weltenschlange
-Kâliya aber der Legende, wer wüßte es nicht, ahnete es nicht, ist das
-Urgesetz Karman selber, in welches Krischna-Gotamo sich verstrickt
-findet. Wie Krischna der Hirtenknabe steht der Erhabene da auf dem
-Grund des Schlangenpfuhls: lebendig eingeschmiedet in den lebendigen
-Ring des Weltgesetzes, den glühend schwingenden und kreisenden, --
-lebendig aufgeflochten auf das wälzende Rad des Weltgesetzes und von
-ihm gerädert. Aber indes ihm das Weltgesetz in tausendgliedriger
-Verschlingung stätig drehend die Gelenke bricht und ihm tausend Zähne
-ihr Gift in nimmer heilende Wunden träufen, da vernimmt er zwar nicht
-die Stimme seines Leibesvaters, aber doch seine innere Melodie:
-Genug, o Mensch der Menschen! Du hast lange genug dich zeitbedingt,
-gesetzabhängig, ursachverhaftet gezeigt: weißt du nicht, daß du ewig,
-daß du ledig, daß du frei bist? Genug, o Geräderter auf dem Rad aller
-Räder: weißt du nicht, daß diese Seele nimmer gerädert werden kann?
-Genug, o Geschmiedeter in den Ring aller Ringe: weißt du nicht, daß die
-Seele selbst des Feuers ist, des schmiedenden, aber weder des Erzes
-noch des Erd-Schmutz-Stoffes, der da geschmiedet werden kann und darf
-und muß?...
-
-Hier aber berühren wir, ihr Christen, die heikelste, die empfindlichste
-Stelle nicht nur des gotamidischen Erlebens, vielmehr alles Erlebens
-überhaupt von wirklich religiöser Beschaffenheit, religiöser Herkunft,
-religiöser Weihe. Die Erfahrung des Leidens hatte Gotamo dazu geführt,
-das All selber gleichsam zu erschaffen als die unverbrüchliche
-Aufeinanderfolge von Tun-Leiden, wo jedem Wesen kraft seiner
-Eigenschaft als Erscheinung und Gestalt in Raum-Zeit dasjenige als
-Reizwelt, Merkwelt, Unwelt ‚angetan‘ wird, was er selber kraft seiner
-Eigenschaft als Werk an und für sich, Tat an und für sich, Wille an
-und für sich gewählt und ausgesucht hat. Die Erfahrung des Leidens
-hatte auf diese Weise Gotamo zur Erfahrung einer Wirklichkeit geführt,
-in welcher jedes einzelne Wesen die Vergeltung seiner Werke darstellt
-und in welcher jede einzelne Geburt eine Wiedergeburt nach eigener
-Bestimmung ist. In dieser Wirklichkeit setzt jedes Lebendige seinen
-eigenen Rang und wählt jedes Daseiende seinen eigenen Wert als den
-ihm gegenwärtig allein zusagenden, angemessenen, erwünschten, -- in
-dieser Wirklichkeit lebt jede Erscheinung zuletzt als ihre eigene
-Wunschverkörperung, Willensversichtbarung, Wertverwirklichung. Wer da
-nach seinem Ableben in höllische Welt hinabfährt, dessen Karman wollte
-die höllische Welt, suchte und fand die höllische Welt. Wer da nach
-seinem Ableben in die tierische Welt hinabfährt, dessen Karman wollte
-die tierische Welt, suchte und fand die tierische Welt. Wer da nach
-seinem Ableben in die gespenstische Welt hinabfährt, dessen Karman
-wollte die gespenstische Welt, suchte und fand die gespenstische Welt.
-Wer da nach seinem Ableben in die menschliche Welt wiederkehrt, dessen
-Karman wollte die menschliche Welt, suchte und fand die menschliche
-Welt. Wer da nach seinem Ableben in die göttliche Welt aufsteigt,
-dessen Karman wollte die göttliche Welt, suchte und fand die göttliche
-Welt. Mit einer Notwendigkeit, die ebensosehr eine kosmisch gültige
-ist wie eine dem Sinn entsprechende und im Sinn gegründete, bewährt
-sich hier jedes Dasein als die Setzung seiner engsten Tat und Absicht:
-das ‚Ich‘ setzt sich hier in der Strenge einer Wortbedeutung, die
-sich wohl selbst jenem deutschen Denker noch nicht voll erschloß, der
-diese Wahrheit zum Grundsatz seiner Philosophie erhob... Trotzdem hat
-inmitten dieser eisernen Verkettung von Notwendigkeiten die Freiheit
-eine Stätte! Daß zwar ein Wesen in Raum und Zeit jemals auf eine andere
-Weise erscheine, als es durch seine Werke selbst vorherbestimmt habe,
-oder daß sich ein Ich jemals nicht in Übereinstimmung mit seiner
-Tathandlung der Selbst-Setzung selber setze, -- das freilich ist und
-bleibt völlig außerhalb jeder erdenklichen Freiheit gelegen; das Wie
-und das Was jedes einzelnen Daseins ist durchgängig festgelegt vom
-Wie und Was dieser vorausgehenden Werktätigkeit. Nur das Wie und das
-Was dieser Werktätigkeit seinerseit untersteht keinem Zwang, keiner
-Bestimmung, keiner Verursachung, vielmehr entscheidet das Wie und
-Was der Tat selbstherrlich und frei über das Wie und Was der eigenen
-Wesenheit: eben der Vorgang der Wahl wird nach der Lehre vom Karman als
-schlechthin ‚unbedingter‘ Vor-Gang aller Bedingungen und Bedingtheiten
-herausgeschält. Er spielt sich außerhalb der Reihe der Dinge und
-Dinglichkeiten ab und ist in dieser Hinsicht un-bedingt; er löst sich
-aus der Wechsel-Verknüpftheit aller Wirklichkeiten heraus und ist
-in dieser Hinsicht heraus-gelöst und ab-gelöst, das ist lateinisch:
-absolut. Inmitten des geschlossenen Kreislaufs des welthaften
-Tun-Leidens und der welthaften Werke-Wesen bleibt eine einzige
-Stelle offen, ungefähr wie in einem rings mit glänzender Eiskruste
-zugefrorenen Binnensee eine einzige Stelle offen (und zugleich dunkel)
-bleibt: dort nämlich, wo dem Boden der Born des Zuflusses entquillt,
-der den See speist. Auf ähnliche Weise bleibt im Umkreis der lebendigen
-Notwendigkeiten die Zufluß-Stelle, Eintritt-Stelle frei, wo die rang-
-und wertbestimmenden Wahlhandlungen, Tathandlungen in den Umkreis
-münden. Die Tat, die von neuem ihre Selbstverkörperung als Täter
-setzt, das Werk, das von neuem seine Selbstverleiblichung als Wesen
-setzt, ist frei und kann Täter, Wesen dahin, dorthin setzen, in
-höllische, tierische, gespenstige, menschliche, göttliche Welt, just
-wie der Wille ist, wie der Wunsch ist, wie die Wahl ist...
-
-So daß sich jetzt wie von selbst die Frage ungerufen stellt und
-einstellt: ob nicht zuletzt doch eine Tat erdenklich wäre, die nicht
-mehr verkörpernd diesen oder jenen Täter an seine tatbestimmte Stelle
-der Werdewelt und Wandelwelt setze, sondern eine Tat, die gleichsam
-selbsttätig sich selber mitsamt der Person des tatfolgenden Täters
-aus dem geschlossenen Kreis der irdischen Kräfte und Kräfteträger
-auszuschalten fähig wäre? Ob es nicht zuletzt ein Werk gäbe,
-auf welches ein ihm zugehöriges Wesen und Dasein nicht mehr mit
-ursächlich bedingter Notwendigkeit folgen müsse? Ob nicht zuletzt ein
-Wille vorhanden sei, der neben seiner Freiheit zum Was und Wie der
-Wiederverwirklichung eine höhere Freiheit aufwiese, eine Freiheit auch
-zu dem Daß und Ob dieser Wiederverwirklichung? Ob nicht zuletzt eine
-Wahl, eine Entscheidung getroffen werden könne, die nicht allein frei
-zu nennen wäre in Ansehung der künftig einzunehmenden Stelle in diesem
-All und in Ansehung des darin einzunehmenden Stellen-Wertes, sondern
-frei überdies in Ansehung der Wiederkunft und Nicht-mehr-Wiederkunft in
-diese Werde- und Wandelwelt? Ob nicht zuletzt ein Karman zu betätigen
-sei, welches weder in den Schoß der Hölle eingehe, noch in den Schoß
-der Tierheit, noch in den Schoß der Gespensterheit, noch in den Schoß
-der Menschheit, noch in den Schoß der Göttlichkeit, -- nein, ein Karman
-vielmehr, welches ganz einfach in gar keinen Schoß mehr eingehe irgend
-welcher Geburten und Wiedergeburten, ein Karman, welches in der Sprache
-der Lehre ‚keine Fährte‘ hinterlasse? Denn setzen wir den Fall, ihr
-Christen, ein Wesen habe die Stockwerke dieser Welt von unten nach
-oben in der gehörigen Reihe erstiegen und sei in niemals erlahmender
-Selbststeigerung, Selbstveredelung, Selbstvollendung von teuflischer
-Gestalt zu göttlicher Gestalt über Tier, Gespenst, Mensch hinweg nach
-oben geklommen: schwebt dieses Wesen, wofern es doch auch jetzt noch
-dem Weltgesetz ewiger Verkettung von Tat-Täter, Werk-Wesen, Tun-Leiden
-durchaus unterworfen bleibe, -- schwebt es nicht in furchtbarer
-Gefahr, von seiner erklommenen Höhe wieder herabzugleiten, und just
-jenen ‚Fall‘ zu tun, den jeder Gott tat, wenn er versucht ward, eine
-Welt zu schaffen und dieser Versuchung alsbald auch erlag? Setzen
-wir also den Fall, ihr Christen, -- und der Buddho hat diesen Fall
-wahrhaftig schon gesetzt! -- auch diese Götter gehörten ohne Vorbehalt
-und Einschränkung dem Kreislauf der Wiederverkörperungen in der Zeit
-an und lebten keineswegs ungebunden, unverpflichtet hinter oder außer
-oder über dieser Welt: gilt dann nicht auch für sie ganz ohne Vorbehalt
-und Einschränkung das Grundgesetz der Welt von der Wiederverkörperung
-der Tat im Täter, des Werks im Wesen, des Tuns im Leiden? Wäre ein
-Wesen mithin sogar als Gott wiedergeboren, es bliebe auch als Gott
-geknüpft an die stätige Wechselwirkung, die die Lehre vom Karman als
-die unverbrüchliche Satzung dem Weltbau unterstellt. Auch im Himmel
-bliebe diesem Wesen das Leiden nicht erspart, und sei es auch nur ein
-Anflug jenes echten Götter-Leidens, durch Götter-Tat diese leidende
-Welt dem Heile nicht entgegenführen zu können, weil auch der Gott ja
-eisern in den Ring der Geburten eingeschmiedet ist und bleibt. Auch ein
-Gott in Person würde ja die Mitleid-Bitte der Himmelskönigin Aditi um
-‚ewige Erlösung‘ anhören müssen, ohne ihr willfahren zu können: denn
-auch Gott in Person, das hat jener Krischna-Mythos ein für allemal
-mit hoher Frömmigkeit geoffenbart, ist nur ein Teil des Ganzen, nur
-ein Dasein unter Daseienden, nur eine Gestalt unter oder über anderen
-Gestalten. Im gotamidischen Kosmos kann jeder Unermüdliche und
-Bewährte im Ablauf der Weltenjahre Gott werden, -- und dies ist die
-unendliche Tröstlichkeit, die unvergleichliche Hoffnungfröhlichkeit,
-die unwiderstehliche Herzensinnigkeit dieser Religion, die unter diesem
-Zeichen einen erheblichen Bruchteil der Menschheit für sich erobert
-hat. Aber zugleich bleibt im gotamidischen Kosmos auch der Gott aufs
-strengste an die heilige Verfassung der Welt gebunden, als welche
-Karman heißt oder Wiederkehr des Gleichen oder ewige Wiedergeburt oder
-Ring der Wiederbringungen oder Rad der Werke-Wesen oder Kreis des
-Tun-Leidens... Darum schweift Gotamos Blick voll sinnender Schwermut
-über die fernsten Nebelbänder, Sonnenräder und Kometenschweife dieser
-unbegrenzten Welt und aller möglichen unbegrenzten Welten weit hinaus.
-Darum fällt gelegentlich in der Zwölften Rede aus der Mittleren
-Sammlung Majjhimanikâyo jenes für Christenohren so hocherstaunliche und
-vermutlich hochanstößige Wort: „Und sollt’ ich auch, Sâriputto, nur
-unter Reinen Göttern kreisen: ich mag in diese Welt nicht wiederkehren.
-Und sollt’ ich auch, Sâriputto, nur unter Reinen Göttern geboren
-werden: ich mag in diese Welt nicht wiederkehren. Und sollt’ ich auch,
-Sâriputto, nur unter Reinen Göttern leben: ich mag in diese Welt nicht
-wiederkehren“...
-
-Wie eng verzahnt und genau ineinandergepaßt dies nicht alles ist!
-Wie stätig und zusammenhängend geschichtet, auch wo die Schichtungen
-einmal eine Bruchstelle zeigen und eine Verwerfung erfahren haben!
-Wer das Leiden als das Gesetz der Welt erkannt und gedeutet hat, wer
-am Weltgesetz selber leidet und an dessen ewiger Wiederkunft des
-Gleichen zum Gleichen, dem kann in Wahrheit nicht einmal die Geburt
-als Gott zu des Leidens Überwindung taugen. Dies Leiden durchaus und
-von innen her überwinden, hieße die Welt selbst durchaus und von innen
-her überwinden, in welche das Leiden bedingend und verursachend,
-bedingt und verursacht je und je verflochten ist. Der Gott aber
-stehet in der Welt, wenn auch der Welt zuoberst, und nicht außer ihr.
-Wer da am Leiden leidet, weil in das Fundament der Welt das Leiden
-gleichsam eingemauert ist wie in das Fundament mittelalterlicher
-Türme ein lebendiges Wesen (mit seinen Todesqualen) eingemauert
-ward, -- dem taugt von allen Taten nur die eine: die Durchbrechung!
-Die Durchbrechung des Kreises der Geburten und Wiedergeburten, die
-Durchbrechung des Dharma und des Karman, die Durchbrechung der ganzen
-unendlichen Reihe Tat-Täter und Werk-Wesen. Solang ein Mensch solcher
-Fühlung sich der Welt verhaftet weiß, weiß er sich abhängig von der
-Welt und abhängig von der Welt Entstehungen und Vergehungen; weiß er
-sich abhängig von Alter, Krankheit, Tod; weiß er sich abhängig von
-aufsteigenden und absteigenden Lebensknoten ... Aber „Unabhängigkeit,
-sag’ ich, ihr Mönche, ist höchstes Labsal der Gefühle!“ Unabhängigkeit
-von dieser Welt und ihrer falschen Notwendigkeit, die nirgends Not und
-Nöte wendet, sondern stets nur neue Not und Nöte schafft und schafft;
-Unabhängigkeit von allen Drohungen der Wirklichkeiten und Möglichkeiten
-jetzt und künftighin; Unabhängigkeit von dem Zwang der abermaligen
-Entstehung, abermaligen Vergehung: sie gilt es irgendwie zu bewirken
-und zu befestigen. Eine Stelle gilt es ausfindig zu machen, über
-welche keine Flut des Werdens mehr hinwegbrandet und wo Sicherheit,
-Stätigkeit, Standfestigkeit winkt, eine weltlose Stelle außerhalb
-aller Stellen und Stätten der Welt. Und derart geschieht hier, ihr
-Christen, das Ungeheuere und ganz Unausdenkliche und jeden Begriff bei
-weitem Übersteigende, daß Gotamo diese von ihm selbst so groß und schön
-geordnete Welt um dieser höchsten Unabhängigkeit willen eigenhändig
-wie eine tadellose Glocke von reinstem Guß und reichstem Klang mit
-nerviger Faust in Trümmer hämmert! Am Leiden leidend, folglich an der
-Welt leidend, folglich an der Welt Gesetz und Ordnung leidend, folglich
-am Kreislauf der werkvergeltenden Geburten leidend, folglich am Karman
-leidend, setzt Gotamo dies Karman mit derselben Machtvollkommenheit
-der Seele außer Kraft, mit welcher er es einst in Kraft gesetzt hatte.
-Dieselbe Seele, die einen unveräußerlichen Anspruch hat auf Gesetz und
-Gesetzes Wohltat, hat einen unveräußerlichen Anspruch auch auf Freiheit
-und der Freiheit Säligkeit. So gilt das Karman für die Welt der
-Wirklichkeit und Wirksamkeit unaufheblich, aber gilt nicht für diese
-Seele, die sich die Freiheit von der Welt und von der Wirklichkeit auf
-irgendeine Weise zu erkämpfen, zu ersiegen weiß. Das Karman ist der
-Dharma der Welt, und sicherlich müßte das Gerüst der Welt im Nu in sich
-zusammenstürzen, sicherlich müßte das Gefüge der Welt im Nu aus allen
-Fugen springen, wenn das Karman nicht alle seine Balken und Stützen
-und Bretter mit eisernen Klammern fest aneinanderhaftete. Die Seele
-aber besitzt ihren eigenen Dharma, welcher vom Dharma der Welt nicht
-weniger verschieden ist als die Welt von der Seele selbst verschieden
-ist. Der Dharma der Welt heißt Notwendigkeit, Gesetz, Verhaftung,
-Wechselbedingtheit, Verhältnismäßigkeit; der Dharma der Seele heißt
-Freiheit, Ledigkeit, Selbstherrlichkeit, Unbedingtheit, Abgelöstheit.
-In Leidens-Freiheit, Leidens-Ledigkeit, Leidens-Abgelöstheit
-bewährt die Seele sich selbst als unbedingt und selbstherrlich; in
-Welt-Freiheit, Welt-Ledigkeit, Welt-Abgelöstheit bewährt die Seele sich
-selbst als unbedingt und selbstherrlich...
-
-Um es mit Einem Wort zu sagen: es stehet in der Macht der sogenannten
-Seele, wenn sie nicht länger leiden will, nicht mehr zu leiden. Es
-stehet in der Macht der Seele, aus der Verklammerung von Tun und
-Leiden, welche wir als ‚Wirklichkeit‘ nun kennenlernten, sich sanft und
-sacht zu lösen: nicht anders, wie sich der Gottmensch Krischna aus der
-Umwendung der Weltenschlange sanft und sacht gelöst hat. Aber freilich!
-zu Lebzeiten des Buddho gab es da etliche, welche die Befreiung von
-allem Leiden dadurch zu vollbringen wähnten, daß sie jedwede sündhafte
-Tat im Zustand früherer Geburten zu verbüßen gedenken, wenn sie selbst
-sich freiwillig Leiden über Leiden, Pein über Pein antun. Es gibt da
-etliche, -- und ihrer scheinen gar nicht so wenig zu sein! -- welche
-ganz einfach auf rechnerische Weise jedes schlimme Tun durch ein
-entsprechendes Leiden tilgen zu können vermeinen: bis sie zuletzt
-die Summe aller Taten durch die Summe aller Leiden quitt gemacht
-haben und Gleiches gegen Gleiches rund zur Aufhebung brachten. Solche
-hoffen das Karman zu durchbrechen, indem sie das Karman buchstäblich
-erfüllen, Leiden um Tat, Leiden um Tat, bis das durch ‚übermäßiges
-Verdienst‘ erworbene und angehäufte Leiden die Tat gleichsam bis
-zum Stumpf getilgt hat. Das ist der Weg der Leidensbefreiung,
-den beispielweis die ‚Freien Brüder‘ beschritten haben, welche es
-für heilfördernd und bekömmlich erachten, das Leiden der Kreatur
-durch Mehrung des Leidens in freiwillig geübter Schmerzensaskese zu
-überwinden und beinahe schon nach der Regel Schopenhauers verfuhren,
-daß nicht die Schmerzen, sondern die Genüsse zu verneinen seien: die
-Schmerzen vielmehr zu bejahen und abermals zu bejahen ... Gegen diese
-Praxis indes, die nach dem buchstäblichen Wortverstand so durchaus
-auf der Linie der gotamidischen Lehre vom Karman gelegen scheint,
-erhebt niemand schärferen Einspruch als der Buddho selber. Mit einem
-merklichen Beischmack von überlegenem Spott, ja von Hohn wendet sich
-Gotamo wider diese Freien Brüder, die da in ihrer Schmerzensaskese
-das Leiden der Welt vorsätzlich vervielfältigen, statt es vorsätzlich
-abzustellen. Sie, die von dem unanfechtbaren Grundsatz des Karman
-ausgehen: „Was immer auch ein Mensch empfindet, sei es Wohl oder
-Wehe, oder weder Wohl noch Wehe, all das ist vorhergewirkt,“ -- sie,
-die durch gewissenhafte Leidens-Übung etwa begangene Frevel früherer
-Verkörperungen peinlich rechnend auszugleichen trachten, sie rechnen in
-Wahrheit falsch. Wohl ist der Knüpfung Tun-Leiden entsprechend alles,
-was das einzelne Wesen von Natur leidet, vorherbestimmt, vorhergewirkt.
-Aber das ist es eben, daß diese Knüpfung nur eine Tatsache, nur
-eine Ordnung, nur ein Zwang der Natur ist, der ‚bösen‘, dort jedoch
-ihre Gültigkeit verliert, wo das Joch der Natur zerbrochen wird.
-Diese scharfe Wendung Gotamos gegen die eigenen Voraussetzungen und
-Unterstellungen, diese schroffe Abweisung des Buchstabens von seiten
-des Geistes scheint die Reihen der eigenen Jünger, soweit diese nicht
-zu den völlig Eingeweihten zählen, in nicht geringem Maß überrascht,
-erschreckt, ja teilweis außer Fassung gebracht zu haben. Der Buddho,
-der als strengster Vollender der Lehre vom Karman den Satz der Freien
-Brüder ‚alles ist vorhergewirkt‘ mit äußerstem Nachdruck bestreitet
-und das darauf gestellte Heilsverfahren schier als ein lächerliches
-abweist und abschätzt, -- dieser Buddho geht manchem Mönch des heiligen
-Ordens schlechterdings über den Begriff. So beispielweis jenem Mönch
-Arittho, dem ehemaligen Geierjäger, der nach der Zweiundzwanzigsten
-Rede aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo die folgende Äußerung
-gewagt hat, die unverzüglich dem Erhabenen als besonders ketzerisch
-berichtet ward: „Also fasse ich die vom Erhabenen verkündete Lehre auf,
-daß jene vom Erhabenen als verderblich bezeichneten Handlungen dem
-Täter nicht notwendig zum Verderben gereichen“... Dieser Mönch zwar
-wird unverzüglich vorgeladen, befragt, getadelt und zurecht gewiesen,
--- aber wir, die wir zu Zeugen dieses Vorgangs gemacht werden, können
-nicht umhin zu gestehen, daß dieser Mönch in einem gewissen und sehr
-tiefen Sinn die Wahrheit, nichts als die Wahrheit ausgesprochen habe!
-Darüber lassen die Reden gegen die Freien Brüder nicht den mindesten
-Zweifel obwalten; darüber läßt Gotamos Lehre von des Leidens
-Aufhebung, Abstellung und Ablösung selber keinen Zweifel obwalten.
-In der für diese Frage hochwichtigen Hundertundsechsunddreißigsten
-Rede aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo hat der Buddho selber
-ausdrücklich die vier Möglichkeiten dargelegt und entwickelt, daß
-die gute Tat gute Fährte, die gute Tat aber auch schlechte Fährte
-hinterlassen könne, wie umgekehrt die schlechte Tat zwar schlechte
-Fährte, aber die schlechte Tat auch gute Fährte. Das Karman ist die
-irdische Ordnung, welche Wirklichkeit und Welt in ursächlich-urtätigen
-Zusammenhang bringt und in diesem Betracht allerdings unaufheblich
-gilt. Aber die Seele des Menschen bleibt dem Karman nur unterworfen,
-wofern sie ihm unterworfen bleiben will. Ihr bleibt es anheimgestellt,
-auch wenn sie von allen Lastern, Bosheiten, Scheußlichkeiten wie ein
-pestverseuchter Leib mit Blattern, Beulen und Geschwüren bedeckt wäre,
-durch einen einzigen und übermenschlichen Entschluß sich jenseit ihrer
-eigenen Lasterhaftigkeit, Bosheit und Scheußlichkeit zu begeben und --
-rein zu sein. Es stehet der Menschenseele, es stehet der Schächerseele
-frei, das zu tun, was auch der Heiland des Westens seinen Gläubigen
-als Trostvermächtnistat unvergeßlich hinterlassen hat: nämlich heut
-noch, jetzt noch, schon ans Kreuz geschlagen und vom Tod umnächtigt,
-dennoch ‚im Paradies zu weilen‘. Es ist der Menschenseele letztes
-und unmittelbarstes Hochgeheimnis, mit einem einzigen Federzug die
-unendlich angelaufenen Posten von Schuld und Sühne, Tat und Leiden,
-Werk und Wesen glatt durchzustreichen und alles Leidens ledig, aller
-Ursächlichkeiten ledig, aller Gründ- und Folglichkeiten ledig, sie
-selbst zu sein und das heißt frei zu sein. „Ist da nun, Ânando, ein
-Mensch, der ein Mörder und Dieb, ein Wüstling, Lügner, Verleumder,
-ein Zänker und Schwätzer, voll Gier und Haß und Eitelkeit war, bei
-der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, auf gute Fährte geraten, in
-himmlische Welt, so hat er seine günstige Tat, die freudig empfunden
-wird, eben früher begangen oder später begangen, oder hat in seiner
-Sterbezeit eine rechte Erkenntnis vollzogen und vollbracht: darum ist
-er, bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, da hinauf geraten.
-Wenn er aber hier also übel gewandelt war, hat er sich die Folge davon
-schon bei Lebzeiten fühlbar gemacht, oder bei der Auferstehung, oder
-bei nachmaliger Wiederkehr“...
-
-Die Freien Brüder setzen dem Leiden das Leiden entgegen, um die Tilgung
-des Leidens im Weg freiwillig übernommener Schmerzens- und Bußübung zu
-bezwecken. Aber was sie bezwecken, ist die ganz überflüssige Mehrung
-des schon mit Notwendigkeit vorhandenen Leidens. Gotamo hingegen,
-der nach höchst bedeutsamem eigenen Geständnis Schmerzensaskese,
-Selbstquälerei und Kasteiung bis zur Selbstvernichtung geübt hat und
-hier aus grausamer Selbsterfahrung schöpft, -- Gotamo setzt dem Leiden
-eine Tat entgegen, eine unbedingte, nicht und nichts mehr bedingende
-Tat, welche die Freiheit vom Leiden erwirkt, weil sie Freiheit von der
-Welt, Freiheit vom ‚Gesetz‘ erwirkt. Was alle religiöse Erleber wußten,
-vom Heiland des Christentums, ja sogar vom Stifter des Christentums an
-bis zu Lew Nikolajewitsch Tolstoi, der dieses gotamidische Mysterium
-‚der rechten Erkenntnis in der Sterbezeit‘ klassisch dargestellt hat
-in der Heiligen Schrift vom Tod des Iwan Iljitsch, das ist für den
-Buddho der Dreh- und Angelpunkt nicht allein der Lehre, sondern des
-Erlebnisses geworden. Für ihn nämlich, -- wenn ich mich hier mit
-Nutzen europäisch und insbesondere schopenhauerisch ausdrücken darf,
--- gibt es einerseit Taten, welche ‚dem Satz vom Grunde‘ unterworfen
-sind und eben darum in den Gesamtkreislauf der Werdewelt wieder
-einmünden, dem sie entsprungen sind. Und für ihn gibt es anderseit
-Eine Tat, welche ‚dem Satz vom Grunde‘ nicht mehr unterworfen ist
-und eben deshalb aus dem Kreislauf dieser Werdewelt hinausführt.
-Jene Taten sind notwendig gewirkt, will heißen: sie sind nach
-Bestimmunggründen, Antrieben, Triebfedern gewirkt, die der Wirklichkeit
-selbst entstammen, und so ist es billig, daß sie in der Folge sich dem
-Bereich der Notwendigkeiten wieder einfügen, aus der Notwendigkeit in
-die Notwendigkeit führend. Diese Eine Tat hingegen ist frei gewirkt,
-will heißen, nach keinerlei Bestimmunggründen, Antrieben, Triebfedern,
-die der Wirklichkeit oder dem ihr entsprechenden Vorstellungablauf
-selbst entstammen, und so darf denn diese Tat der Taten, nach keiner
-Regel irgendwelcher Notwendigkeit getätigt, aus der Notwendigkeit in
-die Freiheit führen. Es ist dies aber die Tat einer unvergleichlichen
-Selbstverinnerlichung, Selbsteinigung, Selbstverinnigung, wo Selbst
-und Seele weltausschließend, weltausschließlich nur sie selber sind,
--- Selbst und Seele hier in der ewig fragwürdigen Sinnbildlichkeit
-ihres Begriffs genommen. Eine Tat ist möglich, wo Selbst und Seele
-mit der Tat als solcher gleichsam unmittelbar zusammenfallen; eine
-Tat ist möglich, wo der Tat selbst nicht mehr irgend eine ‚Sache‘ als
-Inhalt, Bestimmung, Beweggrund, Antrieb gegenständlich gegenübersteht
-und wo die Tat sich nicht zu irgend einer Sache mehr versachlicht, zu
-irgend einer Sache mehr enttätigt. Derart wird das Leiden der Welt und
-an der Welt zuletzt getilgt, verlöscht, verwunden werden, wofern die
-Welt selbst als die Unendlichkeit aller gegebenen und aufgegebenen
-Sachen durch die entsachte, durch die entursachte Tat getilgt,
-verlöscht, verwunden wird. Dies ist die ‚reine‘ Tat der ‚Freiung‘ und
-der ‚Ledigung‘, dem Satz vom Grunde nicht mehr unterworfen: folglich
-dem Grunde selbst nicht länger unterworfen und folglich der Folge und
-den Folgen nicht länger unterworfen, die sonst alle Taten als ihre
-‚Tat-Sachen‘ notwendig und unabänderlich nach sich ziehen müssen...
-
-Was also hier der Buddho (einigermaßen uneuropäisch dunkel) von sich
-selber fordert und nicht nur von sich, sondern von jedem, der das
-Leiden an seinem Stumpfe auszurotten willens ist, das läßt sich doch
-wohl nicht ganz unpassend mit dem vergleichen, was der Genius Kant in
-unseren westlichen Bezirken die ‚intelligible Freiheit‘ nannte, wie sie
-das ‚Ich an sich‘ außerhalb der Welterscheinung als _causa noumenon_
-wesentlich betätigt. Der Genius Kant, an dieser Stelle sorgfältiger als
-irgendwo sonst die Erbschaft alter deutscher Mystik betreuend, hat ja
-zu seinem Teil auf diese Tat der Taten keineswegs verzichten können,
-die weder bedingt oder bestimmt durch Anreize aus der Sinnenwelt wird
-wie etwa der instinktive Wille des natürlichen Menschen, noch bedingt
-oder bestimmt wird durch die Vorstellung einer gesetzgebenden ‚Form‘
-aus reiner Vernunft wie etwa des ‚guten‘ Menschen moralischer Wille:
-sondern die ganz einfach frei, weder bestimmt noch bedingt getätigt
-wird im Sinne des scholastischen _liberum arbitrium indifferentiae_...
-Diese zwar vielerörterte, kaum aber vielverstandene, vielleicht
-zutiefst gar nicht zu verstehende intelligible Freiheit Kants, sage
-ich, wäre vielleicht mit der Freiheit Gotamos nicht unpassend zu
-vergleichen. Ja, sie wäre am Ende völlig einerlei mit dieser, wenn
-nicht doch der Genius Kant, (hierin viel eher wiederum der Erbe der
-großen europäischen Scholastik statt der Mystik!) -- wenn er nicht eben
-diese transzendentale und transzendierende Freiheit leider als einen
-moralischen Vorgang aufgefaßt und der Moral dienstbar gemacht hätte:
-will heißen als einen Vorgang, der sich auf die Wahl des empirischen
-Ich durch das intelligible Ich bezieht und dadurch genau auf das, was
-Gotamo das Karman und seine Ordnung nennt. Auf diese Weise biegt
-die intelligible Freiheit Kants doch wieder bedingend, verursachend,
-bestimmend, begründend in die Wirklichkeit der Dinge ein, statt
-endgültig von ihr abzubiegen, und diesen Umstand hat Kant selber in
-voller Naivität gekennzeichnet durch den scheinbar ungereimten, in
-Wahrheit jedoch durchaus zutreffenden Begriff der ‚Kausalität durch
-Freiheit‘... Ganz unbesehen gerinnt mithin die Freiheit dem westlichen
-Denker sogar in ihrer transzendierendsten Bedeutung als _liberum
-arbitrium indifferentiae_ doch wieder nur zu einer Ur-Sache, statt zu
-einer Ur-Tat, -- zu einer Ur-Sache, die andere Sachen verursachend
-nach sich zieht: die Folgen, Wirkungen, Wirklichkeiten nach sich
-zieht. Die intelligible Freiheit Kants, zu einem moralischen Mysterium
-gestempelt statt zu einem religiösen, wird zu einer bloßen Ursache,
-die sich von allen übrigen Ursachen in der Welt nur eigentlich dadurch
-unterscheidet, daß sie die unendliche Reihe der Wirkungen nicht sowohl
-fortsetzt, als von vorn beginnt. Kants intelligible Freiheit ist ein
-grundloser Einsatz, ein unbedingter Anfang, mit welchem eine begründete
-und bedingte Reihe in der Zeit und Wirklichkeit beginnt. Oder mit einem
-Wort gesagt, -- diese intelligible Freiheit des westlichen Denkers ist
-Freiheit des Willens, etwa dem Ausspruch des Bernhard von Clairvaux
-gemäß: _ubi voluntas, ibi libertas_; oder besser und richtiger der
-Umkehrung dieses Grundsatzes gemäß: _ubi libertas, ibi voluntas_! Wo
-Freiheit, da ist hier Wille; wo aber Wille, da wird etwas gewollt: das
-Gute oder das Böse, das Richtige oder das Verkehrte, das Zweckvolle
-oder das Zwecklose, -- das Vernünftige oder das Törichte, das
-Sinnentsprechende oder das Unsinnige, -- unter allen Umständen aber ein
-zu Verwirklichendes, das in die Reihe der Wirklichkeiten gleichsam neu
-eingerückt werden soll, wie etwa die Anzeige einer neuen Erfindung in
-die Spalten einer Zeitung neu eingerückt wird...
-
-Hierzu im äußersten Widerspruch ist die intelligible Freiheit des
-Buddho nicht sowohl eine Freiheit des Willens, als vielmehr eine
-Freiheit vom Willen und jedenfalls eine Freiheit vom Wollen. Nicht
-mehr wollen, nicht mehr wünschen, nicht mehr heischen, nicht mehr
-gieren, nicht mehr schmachten, nicht mehr trachten, nicht mehr
-streben, nicht mehr verkörpern, nicht mehr verwirklichen, nicht mehr
-erscheinen, nicht mehr entstehen, nicht mehr vergehen, nicht mehr
-tun, nicht mehr leiden, -- das eben heißt gotamidisch ‚frei‘ sein.
-Kants unmittelbares Erlebnis der reinen Tat gilt einem Vor-Anfang und
-Ur-Anfang, womit eine unendliche Schöpfung in der Zeit sich einleitet.
-Die reine Tat setzt hier das (empirische) Ich und mit diesem alle
-Abhängigkeiten, Notwendigkeiten, Folgen dieser Setzung, -- und trotz
-aller verspäteten Einsprüche und Verwahrungen Kants war es doch nur
-im strengsten Geiste Kants weiter und weiter gedacht, wenn Fichte
-die reine Tat außer dem Ich das Nichtich und im Ich das Nichtich
-setzen ließ: mit dem Ich und Nichtich aber die ganze Welt abstufend,
-aufstufend zu der unendlichen Schöpfung in der Zeit. Das Ich gesetzt
-durch Freiheit, das Nichtich gesetzt durch Freiheit, das Nichtich im
-Ich gesetzt durch Freiheit und somit die ganze Welt gesetzt durch
-Freiheit, -- das ist von allen europäischen Konzeptionen vielleicht die
-europäischste gewesen, weil unentwegt forsch in die Unendlichkeit fort-
-und fortschreitend einen ‚unendlichen‘ Fortschritt ermöglichend und
-verwirklichend... Gotamos reine Tat indes ist nichts weniger als ein
-Vor-Anfang, Ur-Anfang unendlich fortschreitender Reihung oder Stufung.
-Vielmehr genau dort, wo Gotamo am engsten sich mit dem europäischen
-Gedanken, Ungedanken des _liberum arbitrium indifferentiae_ berührt,
-dort wird er auch (wie das stets so ist) am heftigsten von diesem
-abgestoßen. Des Buddho Tat ist Ende und Voll-Ende, ist Voll-Endung
-des Voll-Endenden: eben darum zwar, weil sie durch alle unendliche
-Satzung, Reihung, Stufung quer hindurchbricht und den Leitfaden des
-Karman, wenn nicht geradezu zerreißt, so sicherlich auch nicht mehr
-weiterspinnt, vielmehr ein für allemal verstätigt. Verneinenderweis
-ausgedrückt, gelangt diese Tat des gotamidisch Vollendenden also durch
-einen Austritt und Heraustritt zum Vollzug: durch einen Austritt und
-Heraustritt zwar, der den Täter zufall- und schicksallos macht (in
-der Sprache der Tragödie gesprochen); der den Täter willens- und
-tatfrei macht (in der Sprache der Moral gesprochen); der den Täter
-unbedingt und abgelöst, das heißt, ‚absolut‘ macht (in der Sprache der
-Metaphysik gesprochen); der den Täter unabhängig von den Gegenständen
-der Erfahrung und von der Erfahrung selber macht (in der Sprache der
-Transzendentalphilosophie gesprochen); der den Täter weltledig, arm
-und abgeschieden macht (in der Sprache der Mystik gesprochen); der
-den Täter wunschversiegt, wahnversiegt, daseinversiegt macht, zuletzt
-und endgültig in der Sprache des Buddho gesprochen... Bejahenderweis
-ausgedrückt ist aber diese selbe Tat der gotamidischen Vollendung doch
-zugleich ein Eintritt und Hereintritt, ein Eintritt und Hereintritt
-nämlich in das übersinnliche, überdingliche, überweltliche Bereich des
-An-und-für-sich-Seins der Welt: mithin in ein Bereich, für welches
-die Zunge weder des Tragöden, noch des Moralisten, Metaphysikers,
-Transzendentalphilosophen oder Mystikers, ja nicht einmal des Buddho
-selber Sprachzeichen und Lautgebärden hat, um es hinlänglich zu
-bezeichnen...
-
-Gotamo aber, nachdem er an der schlechten Unendlichkeit eines nimmer
-stockenden Entstehens und Vergehens unaussprechlich heftig und tief
-gelitten hatte, -- Gotamo, nachdem er (vorübergehend im Irrtum der
-Freien Brüder befangen) in beispielloser Selbstquälerei, Selbstfolter,
-Selbstabtötung das Leiden nur zwecklos gemehrt hatte, um mittels des
-gemehrten Leidens das mindere zu übertäuben, -- Gotamo, nachdem er
-das arme Fleisch des Leibes in erfinderischen Büßungen gleichsam mürb
-gebeizt hatte, bis es ihm von den Knochen gefallen war, auf daß er
-endlich dem armen Fleisch nicht länger unterworfen bliebe und sich
-fortab des ‚reinen‘ Geistes freuen dürfe: dieser Gotamo der Erlebende
-des Leidens erlebt eines Tages an ihm selber, wie er, o Wunder, des
-Leidens wirklich genesen ist, wahrhaft bei Lebzeit schon genesen!
-Nicht durch Mißhandlung oder Peinigung oder Entehrung des Körpers:
-vielmehr ganz einfach durch eine innerliche Wendung oder Drehung
-von dieser Weltlichkeit weg nach einer anderen Weltlichkeit, nach
-einer Gegen-Weltlichkeit hin, -- denn dieser Buddho, ihr Christen,
-wußte es ja schon zu seiner Zeit, daß es viele selbstgeschaffene
-Wirklichkeiten gäbe und also zu einer jeglichen von ihnen auch die
-Gegen-Wirklichkeit... Er, der Erlebende des Leidens, erlebt in einer
-ungeheueren Stunde plötzlich kein Leiden mehr, und sogar heute noch
-ahnen wir fern, fern das unermeßliche Gefühl von Frieden und von
-Stillung, wie es schwer und hell wie flüssiges Gold in seine Seele
-träufelt: „Da kam mir, Aggivessano, der Gedanke: ‚Wie, sollt’ ich etwa
-jenes Glück fürchten, jenes Glück jenseit der Wünsche, jenseit des
-Schlechten?‘“... Und nicht länger fürchtet sich jetzt der Buddho dieses
-Glückes, sondern erfüllt sich mit ihm, daß es aus allen seinen Poren
-strahlt und leuchtet: denn als ein Glück, eine Selbststeigerung ganz
-außerhalb jeder Vergleichbarkeit empfindet der Buddho diesen neuen und
-ungewohnten Urstand des Nicht-mehr-Leidens, des Ausgelittenhabens an
-der Werdewelt und ihrem ewigen Gesetz. Als eine Besäligung, ja als eine
-Säligkeit ganz außerhalb jeder Vergleichbarkeit empfindet der Buddho
-diesen neuen, ungewohnten Urstand, wo er sich endlich, endlich nicht
-länger eingeschmiedet findet in den Ring der Wiederkünfte und nicht
-länger aufgeflochten auf das Rad der Werke-Wesen: „...die aber da als
-Mönche heilig geworden sind, Wahnversieger, Endiger, die das Werk
-gewirkt, die Last abgelegt, das Heil sich errungen, die Daseinsfesseln
-vernichtet, sich durch vollkommene Erkenntnis erlöst haben, denen
-taugen diese Dinge um säliger Gegenwart zu genießen, bei klarem
-Bewußtsein“...
-
-Wunschversiegung, Wunschvernichtung, Wunschverwindung heißt aber in
-den Heiligen Schriften des Kanons jener Urstand der Leidensauflösung
-und Weltledigung, in welchem der Buddho zuletzt sich selbst vollendet.
-Wunschversiegung, Wunschvernichtung, Wunschverwindung heißt die ‚reine‘
-Tat der Freiheit selber: das ist im Pâli entweder _nibbânam_, oder im
-Sanskrit _nirvânam_, aus der Wurzel _van_ = Wunsch. _Nibbânam_ oder
-auch _nirvânam_ oder auch _brahmanirvânam_ oder auch _paramanirvânam_
-heißt in den beiden Mundarten der Überlieferung der Urstand der
-erlangten Heiligkeit, der bald das Schicksal aller erlesenen
-Dinge hatte, sowohl im Osten wie im Westen gleichermaßen gröblich
-mißverstanden zu werden. Denn nichtverstanden hat dieses Nibbânam
-zum Beispiel ein repräsentativer Chinese wie der sehr kluge und fein
-gebildete Ku Hung-Ming, wenn er sich etwa folgendermaßen ausläßt: „Auch
-die Methode des Buddhismus, die Welt zu erneuern, nimmt zum Boykott
-ihre Zuflucht. Wenn die Welt schlecht ist, so rasiert der Buddhist
-seinen Kopf, geht ins Kloster und boykottiert die Welt“... Nicht
-weniger mißverstanden hat ferner dies Nibbânam ein repräsentativer
-(gerade in seiner menschlichen Zweideutigkeit repräsentativer) Europäer
-wie der französische Poet Claudel, wenn dieser zwar etwas weniger
-platt, aber dafür um so orakelhafter zu sprechen wagt „vom Schweigen
-des Geschöpfes, das sich hinter eine völlige Verweigerung verschanzt
-hat“, oder gar von „der unreinen Ruhe der auf ihrem wesentlichen
-Anderssein beharrenden Seele“, oder wenn er sich vollends zu dem Satz
-versteigt, der sich angesichts der obigen Worte Gotamos freilich
-besonders unverständig ausnimmt: „Für mich hat das Nichts nur einen
-Sinn, wenn sich ihm die Säligkeit zugesellt“... Seltsamstes Spiel
-fürwahr, daß der Osten und der Westen des Planeten gleichermaßen den
-Urstand der Wunschverwindung nur als das große Nichts und Abernichts
-zu würdigen oder vielmehr nicht zu würdigen vermag! Seltsamstes Spiel,
-und doch nicht Laune bloß des Zufalls oder der Abgeschmacktheit, daß
-der Mensch sich vor dem Nichts zu fürchten beginnt, wo er nichts
-mehr zu fürchten, nichts mehr zu dulden, nichts mehr zu verlieren,
-aber freilich auch nichts mehr zu hoffen, nichts mehr zu wünschen,
-nichts mehr zu gewinnen hat! Wie tief, wie abschreckend irreligiös
-mußte der Mensch geworden sein, bis er jeden lebendigen Zusammenhang
-mit dem Walten einer reiferen Frömmigkeit so weit verloren hatte,
-daß er den Zustand ewiger Bedürftigkeit als den ihm zusagendsten
-und angemessensten bejaht, den Zustand der Gestilltheit aber als
-den schlechterdings unangemessenen und nichtseinsollenden verneint,
-will meinen: ihn als ‚Nichts‘ verleumdet! Denn brauch’ ich es nach
-allem Vorigen besonders noch zu beteuern, daß dies Nibbânam Gotamos
-sowenig etwas mit dem Boykott des chinesischen Reformers zu schaffen
-hat wie mit der völligen Verweigerung, mit der unreinen Ruhe oder gar
-mit dem ‚Nichts ohne Säligkeit‘ des französischen Mystizisten und
-Mystifikanten? Brauch’ ich zu sagen, daß vollends alle die eifrigen
-Gelehrten, fleißigen Professoren und scharfsinnigen Philosophen schier
-lächerlich, wenn nicht schon boshaft abwegig sind mit ihrer Mutmaßung,
-der Buddho habe das Nibbânam gleichsam als ‚Nichts-an-sich‘ ontologisch
-verdinglicht, vergegenständlicht oder verwesentlicht, um dies dinghafte
-Un-Ding der Welt gleichsam listig als ihren ‚Gott‘ zu unterstellen
-und derart den Brahman-Âtman des Brahmanismus als hoffnungloser
-Nihilist des Fühlens, Nihilist des Wollens, Nihilist des Denkens zu
-Ende zu denken: zu Tod zu denken? Brauch’ ich zu wiederholen, daß dies
-Nibbânam nichts weiter ist wie eine keusche Anspielung auf einen in
-unablässigen Seelenkämpfen errungenen Dauerstand des Selbstes, genau
-wie die Abgeschiedenheit, die nächste Armut, die weiselose Weise
-unserer westlichen Mystik eine solche keusche Anspielung gewesen
-ist? Brauch’ ich zu beweisen, daß dies Nibbânam das letzte Endziel
-zwar nicht aller Religionen, aber aller Religion ist, das Endziel
-aller auf Selbstvergöttlichung bedachten Selbstläuterungen, um
-wie Gott schließlich ganz weltunbedingt, ganz weltunabhängig, ganz
-weltunbedürftig zu sein? Brauch’ ich herauszuheben, daß dies Nibbânam
-als edelstes Ergebnis zwar alles Weltverzichts und aller Weltentsagung
-zugleich doch herrischste Forderung, unbeugsamster Anspruch ist auf
-Selbsterfüllung und Selbststillung? Brauch’ ich zu verraten, daß
-dies Nibbânam den Menschen mit einer beispiellosen Treue treu gegen
-sich selbst zu werden lehrt, damit er, treu gegen sich selbst, treu
-auch gegen das unendliche All, eben dieses unendliche All mit seiner
-unendlichen Dichtigkeit und Mächtigkeit in sich auszutragen vermöchte
-und also austragend, also ausgetragen in sich endige und vollende?
-Brauch’ ich zu begründen, daß es sich hier zuletzt um etwas ganz
-Einfaches und Selbstverständliches handelt, um das Ankern nämlich
-auf dem eigenen Grund, um das Ankern in der eigenen Tiefe, bis wohin
-kein Sturm mehr aus dem Luftraum blasen kann?... „Der ich also rede,
-also lehre, ihr Mönche, mich bezichtigen einige Asketen und Brâhmanen
-grundloser, nichtiger Weise, fälschlich, mit Unrecht: ‚Ein Verneiner
-ist der Asket Gotamo, des lebendigen Wesens Zerstörung, Vernichtung,
-Aufhebung verkündigt er.‘ Was ich nicht bin, ihr Mönche, nicht rede,
-dessen bezichtigen mich jene lieben Asketen und Brâhmanen, grundloser,
-nichtiger Weise, fälschlich, mit Unrecht: ‚Ein Verneiner ist der Asket
-Gotamo, des lebendigen Wesens Zerstörung, Vernichtung, Aufhebung
-verkündigt er.‘ Nur eines, ihr Mönche, verkündige ich, heute wie
-früher: das Leiden und des Leidens Ausrodung“...
-
-Brauch’ ich euch zu überreden endlich, ihr Christen, daß dies Nibbânam,
-taktlos mißhört, mißdeutet und mißechot im Osten der Erde wie im Westen
-und offenbar dazu in einem Spülicht hemmungloser Vielgeschwätzigkeit
-schwammig bis zum Unsinn, bis zum Irrsinn aufgeweicht und aufgedunsen,
--- brauch’ ich euch zu überreden, daß dies Nibbânam künftighin zu
-ehren ist mit jenem siebenfältigen Schweigen der Ehrfurcht, welches
-das Siebente Wort am Kreuz der Welt, Siebente Wort am Rad der Welt
-gleichermaßen ehrt wie fürchtet: Τετέλεσται, es ist vollbracht! _Katam
-karanîyam_, gewirkt ist das Werk!...
-
-
-
-
-DIE DRITTE UNTERWEISUNG:
-
-BUDDHO DER WISSENDE
-
-
-DAS HEILIGE NEIN LASST UNS BEKENNEN DENN NEIN UND JA SIND WIE
-DIE SCHENKEL DER NÄMLICHEN PARABEL, UND WO SICH DIESE SCHEITELT,
-DURCHDRINGEN BEIDE SICH IN EINEM PUNKT -- DENN NEIN UND JA SIND
-WIE DER ABSTEIGENDE UND ANSTEIGENDE KNOTEN DER WELT, UND WO SICH
-BEIDE SCHÜRZEN, SCHWEBT GIPFELND DAS GESTIRN DER WELT DURCH SEINEN
-MITTAGSKREIS -- DENN NEIN UND JA SIND WIE DAS AUSSENBLATT UND
-INNENBLATT DESSELBEN KEIMLINGS, IM SCHOSSE DER GEBÄRERIN STRENG
-GEFALTET -- GEFALTET ZUM AUSSEN-INNENBLATT REIFT ERST DER KEIMLING DER
-GEBURT ENTGEGEN: GEFALTET ZUM NEIN-JA REIFT ERST DIE SEELE IHRER WELT
-ENTGEGEN -- DAS NEIN ZERSPELLT DAS GOLDENE EI DER WELT, DAS MÜTTERLICH
-VOM PHÖNIX GEIST BEBRÜTETE -- JEDOCH DES JUNGEN ADLERS SCHNABELSCHÄRFE
-IST ES, DIE SICH MIT FRÜHFLÜGGER WEISHEIT LICHTBEGIERDE DAS DUNKLE
-EI ZERSPELLT -- O WELT, VON DEINER SONNE EMPFING ICH TRÄUMEND EINEN
-HIMMELSTRAHL IN MEINEM AUG, ALS ES NOCH SCHLIEF, ZUM PFAND, DASS ICH
-DEREINST MICH AN DIR SONNEN WÜRDE, WANN ICH DURCH DEINE BITTERSCHALE
-BRACH -- O AUGE ICH DER WELT, O HIMMELSAUGE ICH, ZU DIR, O WELT,
-ERWACHEND -- O ICH ERWACHTER DANN, VOLLKOMMEN ERWACHTER ICH ZU DIR, O
-WELT --
-
- DIES IST DIE DRITTE UNTERWEISUNG
-
-
-Es ward gesagt, ihr Christen, daß der Buddho die Geburt haftbar
-machte für die drei Kernübel dieser Welt, für Alter, Krankheit, Tod.
-Dreimal hat der Buddho in der Legende von Vipassîs Ausfahrt der Geburt
-geflucht: „O Schande sag’ ich über die Geburt, da am Geborenen das
-Alter zum Vorschein kommt, die Krankheit zum Vorschein kommt, der Tod
-zum Vorschein kommt...“ An die Geburt also knüpft sich das Leiden,
-an die Geburt knüpft sich Alter, Krankheit, Tod. Denn ohne Geburt,
-heißt es in den Reden schon fast mit einer wörtlichen Wendung Platons,
-ohne Geburt würde kein Mensch zur Menschheit, kein Vierfüßer zur
-Vierfüßerheit, kein Vogel zur Vogelheit geboren: ohne Geburt kein Wesen
-zu Krankheit, Alter, Tod. So findet Gotamo in der Geburt die Ursache
-aller drei grundsätzlichen Übel dieser Welt und in der Geburt die
-Ursache alles Leidens an der Welt. Die Geburt aber, dies bemerkten wir
-schon mit hinlänglicher Zuverlässigkeit, ist zwar Ursache, keineswegs
-jedoch etwas Letztes oder Unbedingtes, -- keineswegs Ur-Sache aller
-Sachen oder Ur-Grund aller Gründe. Vielmehr ist ja die Geburt jeglichen
-Wesens an und für sich schon Wieder-Geburt, verursacht und bedingt
-durch frühere Tat, wie umgekehrt frühere Tat ihrerseit die Frucht
-früherer Geburt gewesen ist. Und dies in unendlicher Schürzung und
-Neuschürzung in unendlichem Kreislauf, bis irgendwann einmal die reine
-Tat getätigt und irgendwann einmal der Kreis durchbrochen ward. Ins
-Werden eingeflochten ist mithin die Tatsache der Geburt, ins Werden
-eingeflochten bleibt sie. Und so versteht sich’s eigentlich von selbst,
-daß auf die Frage: was Geburt bedinge, der Buddho keine andere Antwort
-in Bereitschaft haben kann als eben: das Werden! Das Werden bedingt
-die Geburt; denn wenn es kein Werden gäbe, kein geschlechtliches
-Werden, kein formhaftes Werden, kein formloses Werden, dann gäbe es
-keine Geburt. Was aber bedingt das Werden, gesetzt den Fall, auch
-dieses Werden sei nichts Letztes, sei nichts Unbedingtes? Das Anhangen
-bedingt das Werden, antwortet der Buddho selber sich auf diese neue
-Frage. Denn wenn es keinen Hang gäbe, keinen Hang nämlich zur Lust,
-keinen Hang zur Selbstbehauptung (und dies heißt gotamidisch gedacht
-keinen Hang zum ‚Ich-Sagen‘!) -- wenn es keinen Hang gäbe ferner zur
-Ansicht, keinen Hang zu Tugendwerk, dann gäbe es auch kein Werden.
-Was aber bedingt das Anhangen, gesetzt den Fall, auch dieses Anhangen
-sei nichts Letztes, sei nichts Unbedingtes? Der Durst bedingt das
-Anhangen, der ungelöschte und unversiegte, antwortet der Buddho selber
-sich auf diese neue Frage. Denn wenn es keinen Durst gäbe, Durst nach
-Gestalten, Durst nach Tönen, Durst nach Düften, Durst nach Säften,
-Durst nach Tastungen, Durst nach Gedanken, dann gäbe es auch kein
-Anhangen. Was aber bedingt den Durst, gesetzt den Fall, auch dieser
-Durst sei nichts Letztes, sei nichts Unbedingtes? Das Gefühl bedingt
-den Durst, antwortet der Buddho selber sich auf diese neue Frage.
-Denn wenn es kein Sehgefühl, kein Hörgefühl, kein Tastgefühl, kein
-Riechgefühl, kein Schmeckgefühl, kein Denkgefühl gäbe, dann gäbe es
-auch keinen Durst. Was aber bedingt das Gefühl, gesetzt den Fall,
-auch dieses Gefühl sei nichts Letztes, sei nichts Unbedingtes? Die
-Berührung bedingt das Gefühl, antwortet der Buddho selber sich auf
-diese neue Frage. Denn wenn es keine Sehberührung, Hörberührung,
-Tastberührung, Riechberührung, Schmeckberührung, Denkberührung gäbe,
-gäbe es auch kein Gefühl. Was aber bedingt die Berührung, gesetzt den
-Fall, auch diese Berührung sei nichts Letztes, sei nichts Unbedingtes?
-Die erkenntnismäßige Doppeltheit Bild-und-Begriff, Begriff-und-Bild
-bedingt die Berührung, antwortet der Buddho selber sich auf diese neue
-Frage. Denn wenn es keine Wahrnehmungen und keine Vorstellungen, keine
-sinnlichen Eindrücke und keine begrifflichen Kennzeichen, Wahrzeichen,
-Bedeutungzeichen für solche Eindrücke gäbe, also platonisch gesprochen
-keine εἰκόνες und keine εἴδη, dann gäbe es keine Berührung. Was aber
-bedingt diese erkenntnismäßige Doppeltheit von Bild-und-Begriff
-und von Begriff-und-Bild, gesetzt den Fall, auch diese Doppeltheit
-sei nichts Letztes, sei nichts Unbedingtes? Das Bewußtsein bedingt
-Bild-und-Begriff, Begriff-und-Bild, antwortet der Buddho selber sich
-auf diese neue und nun doch schon beinahe ‚letzte‘ Frage, wofern er
-jetzt offenbar die Reihe der Verursachungen und Bedingungen der Geburt
-bis zur Ur-Sache und bis zum Un-Bedingten rückwärts verfolgt hat. Denn
-gäbe es kein Bewußtsein, gäbe es keine Setzung von Nichtich-Welten für
-das Ich, von Erlebnis-Mannigfaltigkeiten für die erlebende Einheit,
-von Objektivationen für das Subjekt, dann gäbe es eben auch keine
-Bilder und Bildesbilder, dann gäbe es auch keine Gegenständlichkeiten
-und Gedankenzeichen für Gegenständlichkeiten, dann gäbe es auch keine
-Wahrnehmungen und keine Vorstellungen, welche Wahrnehmungen vorstellen
-sollen und wirklich auch vor-stellen. Wer aber jetzt noch weiter
-forschen und weiter erklären wollte, der stieße bei der nächsten
-Frage: Was bedingt Bewußtsein? schon unfehlbar wieder auf die bereits
-erteilte Antwort: Bild-und-Begriff, Begriff-und-Bild bedingen das
-Bewußtsein, wofern sie in zweifacher Erscheinung als Nichtich-Welt
-bezogen auf ein Ich auftauchen, als Gegenstands-Vielheit bezogen auf
-eine Zustands-Einheit auftauchen. Denn dieses gerade nennen wir ja das
-Bewußtsein, daß für das unbegreiflich-unbegriffliche Selbst Begriffe
-und Bilder aus irgendwelchen Latenzen her _in actu_ auftreten und einem
-solchen Selbst erscheinen, wahrnehmbar werden, vorstellbar werden.
-In dieser Rücksicht heißt Bewußtsein offenbar Sich-Bewußt-Sein; sich
-einem Sein auf irgendeine Weise entgegengesetzt und widerstemmt finden;
-sich etwelcher Wahrnehmbarkeiten irgendwie inne werden, innerlich
-und erinnerlich werden. Bewußtsein und Bild-Begriff erweisen sich
-dem Buddho kurz gesagt als wechselbezüglich und wechselbezogen, als
-wechselbedingend und wechselbedingt: eine sowohl in philosophischem wie
-religiösem Betracht bedeutsame Lehre, die (wie man weiß) auch unserem
-westlichen Klima keineswegs fremd geblieben ist. Vor dem Bewußtsein
-als der Stätte entstehender Geburten steht schließlich der Frager
-still und still steht davor auch des Fragers unablässig bohrender
-und schraubender Verstand. Im Bewußtsein ist das Weh der Welt, das
-dreigestaltige, verwurzelt; im Bewußtsein sind Vergänglichkeit,
-Leidbehaftetheit, Wesenlosigkeit, _aniccam_, _dukkham_, _anattam_
-verwurzelt; im Bewußtsein ist die Werdewelt, Wandelwelt, Wehewelt
-verwurzelt. Gäbe es kein Bewußtsein, dann gäbe es ‚diese‘ Welt nicht;
-denn ‚diese‘ Welt gibt es nur dort, wo sie sich eben einstellt und
-vorstellt und nirgends sonst, ihr Christen...
-
-Bei dieser Lehre von des Leidens Abkunft aus dem Bewußtsein etwas
-zu verweilen, wie sie vom Buddho entwickelt wird vornehmlich
-in der Fünfzehnten Rede aus der Längeren Sammlung Dîghanikâyo,
-entwickelt wird aber außerdem auch sonst nicht selten in den Reden
-der Längeren und Mittleren Sammlung, -- bei dieser befremdlich
-anmutenden Lehre hier noch etwas zu verweilen, dürfte mancherlei
-Anlaß für uns bestehn, ihr Christen. Das Erlebnis des Leidens, von
-der Person Gotamos als Schicksal empfangen, als Schicksal verwunden
-und insofern sicherlich auch das Urerlebnis Gotamos, ist mithin
-doch nicht Urerlebnis im Hinblick auf seine Entstandenheit oder
-Unentstandenheit. Vielmehr gilt das Leiden als solches, und so auch
-das Erlebnis des Leidens, schlechterdings für entstanden, für bedingt,
-für verursacht, für geworden. Das Leiden an der Welt ist durchaus
-ableitbar aus dem Bewußtsein von der Welt, und in Ansehung dieses
-unumstößlichen Tatbestandes ist das Leiden auch in seiner Eigenschaft
-als gotamidisches Urerlebnis weder ein Erstes noch ein Letztes, noch
-gar ein Unbedingtes. Wohl aber, -- und dies entscheidet über vieles!
--- ist das Bewußtsein ein Erstes und ein Letztes und ein Unbedingtes.
-Das Bewußtsein ist gleichsam der Erfüllungort, wo die einzelnen
-Posten der unendlichen Summe ‚Wirklichkeit‘ in ihrem Lust- und
-Unlustwert gegeneinander verrechnet, gegeneinander ‚geklärt‘ werden.
-Das Bewußtsein ist gleichsam das Schiedsgericht, wo das rechtsgültige
-Urteil endlich ergeht in Sache des noch nie ausgetragenen Widerstreits
-zwischen Seele und Welt, Selbst und Wirklichkeit. Das Bewußtsein ist
-gleichsam die Walstatt, wo über Sieg und Niederlage nunmehr entschieden
-wird in dem Kampf der Freiheit gegen das Gesetz, der Willkür gegen
-den Zwang. Das Bewußtsein ist gleichsam der Schauplatz, wo die Welt
-sich selbst erscheint als die Einheit ihrer Mannigfaltigkeiten, als
-die Ganzheit ihrer Teile, als der Leib ihrer Glieder. Im Bewußtsein
-geschieht es, daß die Welt das Licht der Welt erblickt...
-
-Dieser bemerkenswerten Auffassung und Neufassung des Begriffes ‚Welt‘
-von seiten des Buddho entspricht ein Vorgang, der sich in unserer
-europäischen Vergangenheit nicht minder eindrucksvoll abgespielt
-hat als in der indischen: nicht nur einmal, sondern zweimal den
-menschheitlichen Zustand des jeweiligen _homo europaeus_ gründlich
-ändernd! Ich beziehe mich dabei, wie sich von selbst versteht, auf
-jene philosophische ‚Umbettung‘ der Ding-Welt, Ding-an-sich-Welt
-in eine Vorstellung- und Bild-Begriff-Welt, die wohl in unserem
-westlichen Bezirk für das erste Mal zum Vollzug bei den Hellenen
-kam, etwa in jenem merkwürdigen Zeitalter zwischen Demokritos und
-Sokrates einerseit, Platon und Aristoteles andererseit (unter der
-bestimmenden Mitwirkung der Sophisten); -- die aber später dann noch
-einmal zum Vollzug gelangte in dem weltgeschichtlich entsprechenden
-Zeitalter zwischen Descartes und Spinoza einerseit, Leibniz und Kant
-andererseit. Es ist dies jene Umbettung der Wirklichkeit, die ihre
-berühmte Fassung einstweilen in der Formel Schopenhauers gefunden
-hatte: die Welt ist Meine Vorstellung... übrigens eine Formel, welche
-ein neuerer Schriftsteller nicht ohne Geist und Einsicht in die
-richtigere umzuprägen vorschlug: Meine Welt ist Vorstellung!... Wie
-also schon gesagt: seit Demokritos von Abdera mit dürren Worten eine
-Welt des Seienden an und für sich unterschieden hatte von einer Welt
-des Daseienden für uns, eine Welt gesetzmäßig bewegter Unteilbarkeiten
-(ἄτομοι) draußen im leeren Raum und eine Welt auftauchender und
-versinkender Vorstellungen drinnen im Bewußtsein, -- seit dieser
-gewaltige Denker den Schritt gewagt und den Schritt gemacht hatte
-von der ‚Physik‘ zur ‚Ethik‘ und den Begriff des Abbilds (εἴδωλον)
-und der Vorstellung (πρόληψις) in die griechische Philosophie
-einführte, seither lagerte sich das sogenannte Sein unaufhaltsam um
-in ein Bewußtsein. War es die eigentliche Leistung der Vorsokratiker
-bis auf Demokrit, den furchtbaren Urwirbel einer noch nirgends
-verwissenschaftlichten Weltwirklichkeit in eine gesetzdurchwaltete
-Ordnung von Himmelskörpern und Gestirnen zu verwandeln, so verwandelte
-Demokrit selbst (und der hierin durchaus ihm nacheifernde Platonismus)
-wiederum die geordnete Gestirn- und Himmelswelt der ionischen
-Kosmologen in eine geistverwandte, menschverwandte Vorstellung- und
-Bilderwelt. Denn zwar vom Urwirbel aus scheint der Mensch den gebahnten
-Himmel zu erobern, -- erst vom gebahnten Himmel aber aus sich selber:
-und Chaos, Uranos und Makranthropos heißen wohl die wichtigsten
-Stationen, welche der menschliche Gedanke zweimal in Europa und einmal
-in Indien zeitlich zurückgelegt hat, ehe er wirklich in ihm selber
-Fuß fassen konnte. Daß Gotamos Lehre von der Entstehung des Leidens
-aus dem Bewußtsein dem indischen Festland denselben Dienst geleistet
-hat, welchen der ‚transzendentale Idealismus‘ und ‚Phänomenalismus‘
-in Altertum und Neuzeit dem europäischen Festland leistete, bedarf
-somit keiner besonderen Erläuterung, sondern ist ganz einfach so.
-Auch die gotamidische Lehre verlegt einen umspannenden Zusammenhang
-von Dingen an sich und ihren gesetzmäßigen Bewegungen aus der Lage
-des bloßen Seins in die Lage des Bewußtseins, um hier gewissermaßen
-eine Vermenschlichung, ja eine Vergeistigung zu vollziehen. Auch
-diese Lehre bettet eine ‚transzendente‘ Wirklichkeit außerhalb des
-Bereichs menschlicher Erkenntnismittel und Erkenntnismöglichkeiten
-in die sogenannte ‚Immanenz‘ der Vorstellungen, Bilder und Begriffe,
-wo sie dem Zugriff menschlicher Erkenntnismittel, menschlicher
-Erkenntnismöglichkeiten ausgesetzt erscheint. Auch diese Lehre
-bezeichnet innerhalb der Entwicklung des indischen Geistes genau die
-Stelle, wo eine Gestirn- und Himmelswelt des Kosmologen wesentlich
-durch eine Menschenwelt des Ethikers verdrängt wird: die ewige Stelle
-gleichsam auf der Kurve der Wissenschaftgeschichte, deren Scheitel
-einmal den Namen Platon, das andere Mal den Namen Kant bei uns im
-Westen trägt...
-
-Was aber hat, ihr Christen, diese mehrmals wiederkehrende Bewegung
-der Erkenntnis von einer unbewußt-blinden Weltwirklichkeit weg zu
-einer bewußten, sehenden Weltwirklichkeit hin im tiefsten zu bedeuten?
-Was hat die Wendung zu bedeuten, welche Bergson neuerdings nicht
-unzutreffend als die Wendung von der bloßen _science_ zur _con-science_
-hin bezeichnete? Was hat es zu bedeuten, daß die drei reifsten und
-sinnigsten Deutungen der Welt mit offenbar gleicher Notwendigkeit
-die Richtung vom Draußen nach dem Drinnen einschlugen? Was hat es
-zu bedeuten, daß jede schärfere Einstellung auf die Gegebenheiten
-der Sinne dazu führt, diese Gegebenheiten als Gegebenheiten ‚im
-Bewußtsein‘ aufzufassen? Was hat es zu bedeuten, daß mit steigender
-Genauigkeit der Beobachtung und Forschung das Rätsel des Seins
-gleichsam auf der Pfanne der Kritik eingedampft wird zum Rätsel des
-Bewußtseins? Was hat es zu bedeuten, daß auf einer gewissen Stufe
-philosophischer Besinnung plötzlich alle die Fäden und Leitfäden, an
-welchen die Erscheinungen aufgereiht sind, in einem einzigen Knoten
-zusammenschießen, der wundersam genug Ich und Nichtich aneinander
-knüpft und ineinander heddert? Was hat es zu bedeuten, daß die
-unsichtbare Linie, welche alle wissenschaftgeschichtlich eingenommenen
-Punkte und Stand-Punkte untereinander verbindet, jeweils so streng
-eindeutig gezogen ist, daß sie von einem irgendwie ‚naiv‘ sich
-gebenden Realismus bis zu einem kritisch geläuterten, ja kritizistisch
-überspitzten Idealismus verläuft? Was hat es zu bedeuten, daß im alten
-Griechenland jene ionischen Kosmologen und Physiker nicht weniger
-wie die eleatischen Ontologen und Metaphysiker auf ihrem rüstigen
-Wege eines Tags eingeholt, eines Tags sogar überholt wurden von den
-attischen Idealisten und Kritizisten? daß in Europa später die Dogmatik
-und Scholastik des christlichen Mittelalters nicht anders wie der
-Positivismus und Empirismus der nichtchristlichen Neuzeit ereilt ward
-und stets ereilt werden wird von der Transzendentalphilosophie, von
-der Phänomenologie, vom Apriorismus? daß in Indien die ungeheuern und
-wahrlich auch ungeheuerlichen Mythen brahmanischer Weltentstehungen und
-auch Welterschaffungen aus Brahmâs des Himmelsjünglings und der Mâyâ
-gemeinschaftlichen Traum- und Liebesspielen sanft aber unwiderstehlich
-verdrängt wurden durch die so nüchterne Entstehungkunde aus dem
-Bewußtsein, die hier der Buddho gibt? Was hat die immer gleiche
-Wandlung zu bedeuten von einer flutenden und wogenden Nebelwirbelwelt
-zu der Gestirn- und Himmelswelt der großen Physik Asiens und Europas,
--- dann aber von deren glänzenden Umschwüngen und Sonnenbahnen
-weg zu einer trockenen Bilder- und Begriffswelt hin, wie sie der
-Gegenstand von mancherlei Ideenlehren, Transzendentalphilosophien
-und Phänomenologien geworden ist? Weshalb geschieht es, daß zu einer
-Zeit der Mensch mitten unter dem Uranos lebt, wie der jüngste, wie
-der schönste aller Sterne unter älteren Brüdersternen, -- zu einer
-anderen Zeit jedoch nur als der Kleine Mensch mit dem Großen Menschen,
-das ist wie ein empirisches Bewußtsein mit einem transzendentalen
-‚Bewußtsein überhaupt‘? Was hat dieser über die Maßen befremdliche
-Standpunktwechsel zu bedeuten?
-
-Eine beginnende Bemächtigung der Welt hat er zu bedeuten, eine
-beginnende Bemeisterung, eine beginnende Überwindung der Welt,
-antworte ich darauf, -- nichts Geringeres und nichts Größeres, ihr
-Christen, hat er zu bedeuten! Es ist der geheimste Sinn dieser
-entwicklunggeschichtlichen Umbettung des Seins in das Bewußtsein,
-daß man das Wirkliche dadurch gleichsam in die Hand bekommt, dieweil
-es vorher sich offenbar jeder Handhabung entzog. Der Schwerpunkt
-der Welt wird aus dem Sein in das Bewußtsein hinein verlegt, wofern
-er im Bewußtsein jederzeit nach Absicht und Bedarf seine Stelle
-wechseln kann: vergleichungweis wie ein gewandter Turner jederzeit den
-Schwerpunkt seines Leibes nach Absicht und Bedarf seine Stelle wechseln
-lassen kann. Die Welt als bloßes Sein unterliegt dem Gesetz des bloßen
-Seins und bleibt insofern jeder Zuständigkeit bewußten Wollens,
-bewußten Strebens, bewußten Zielens entrückt. Die Welt als Bewußtsein
-dagegen unterliegt zumindest ‚auch‘ dem Gesetz des Bewußtseins, will
-heißen dem Gesetze dessen, der für den Inhaber, Träger, Herrn des
-Bewußtseins gilt. Das abgezogene und reine Sein verharrt ausschließlich
-auch nach eigenem Sinn, Nicht-Sinn oder Wider-Sinn: verharrt als
-unendliche Erstreckung unendlicher Mannigfaltigkeiten, welche nirgends
-einen Ansatz für menschliches Eingreifen, Beeinflussen, Gegenwirken
-darbieten (es geschähe denn durch Zauberei...). In dieser streng
-sachhaften Wirklichkeit findet der Mensch im Grunde wenig oder
-nichts für sich zu tun. Sie überwältigt und unterjocht ihn völlig,
-wie es in den gesellschaftlichen Bildungen des Orients denn auch bis
-auf Gotamo der Fall gewesen ist. Eingefügt, ja eingewalzt in die
-unerschütterlichen Ordnungen der Gestirne und Gezeiten des allmächtigen
-Himmels betätigt der Mensch sich wesentlich als Vollstrecker dieser
-Ordnungen, die zwar nicht geradezu widermenschlich, aber doch auch noch
-nicht menschlich sind. Der Mensch betätigt sich als kosmisches Werkzeug
-hier, gleichsam als astrales Organon des großen Himmels, und seine
-Siege, die in manchem Betracht alle künftigen Siege übertreffen, feiert
-er in diesem Zeichen. In gar nicht abzuschätzenden Graden sind diese
-Ordnungen astronomisch-astrologischer, physikalisch-kalendarischer,
-mathematisch-mantischer Beschaffenheit wohltätig gewesen, -- die
-Ordnungen einer vorzugweis ‚katholischen‘ Gesellschaft, wie sie
-in China, Indien, Babylon-Assur und Ägypten entstand und dauerte.
-Rhythmisch durchpulst von den Flutungen und Ebbungen des Himmels wie
-von den Blutwellen des eigenen Herzens atmet der Mensch hier noch den
-Atem der Schöpfung. Aber wir sahen es schon: mit der Zeit trachtet der
-Mensch auch diesen Atem in seine Gewalt zu bringen, zum Zeichen, daß
-er nicht länger der Vollstrecker, sondern der Gebieter des All sei.
-Es ist eine Tatsache von unverkennbarer Symbolik, daß just mit den
-Übungen der Hatha-Yoga die gleichsam protestantische Loslösung und
-Verselbständigung des Menschen beginnt, -- schon lange vor Gotamo,
-aber vollends durch Gotamo besiegelt, wenn er den unwillkürlichen
-Vorgang des Lebens dadurch dem Willen unterwirft, daß er jenem ganz
-regelmäßig eine bestimmte Vorstellung zuerst begleitend zugesellt, dann
-aber gewissermaßen verdrängend unterstellt. Langsam, aber unaufhaltsam
-verschwindet derart der Kosmos der Dinge, um einem Kosmos der
-Vorstellungen das Feld zu räumen, -- übrigens in der Bhagavad-Gitâ ganz
-buchstäblich das ‚Feld‘ (_kshetra_) des Feld-Kenners (_kshetrajna_)
-genannt! -- langsam, aber unaufhaltsam, gelangt eine transzendentale,
-will heißen immanente, will heißen phänomenologische Wirklichkeit als
-Inhalt des Bewußtseins ins Machtbereich des erlebenden Menschen. Die
-Reihe der kosmischen Kräfte wird um eine neue Kraft vermehrt, welche
-bald alle übrigen an Wirksamkeit übertrifft: denn eben von den bewußt
-entwickelten Vorstellungen hängt es künftig ab, welche Gestalt diese
-Welt annimmt und welche nicht. Wenn schon Kant, der transzendentale
-Idealist, auf seine stille Weise darüber frohlockt, daß sich in seiner
-kopernikanisch gewendeten Lehre die Erkenntnisse der Vernunft fürderhin
-nicht mehr nach den äußeren Dingen, Gegenständen, Wirklichkeiten
-richteten, vielmehr umgekehrt die Dinge, Gegenstände, Wirklichkeiten
-nach den Erkenntnissen der Vernunft und deren Bedingungen _a priori_;
-wenn schon in diesem stillen Frohlocken Kants deutlich vernehmbar
-die Freude des echten Protestanten an der Bewältigung, Bemeisterung,
-Beherrschung der Natur durch den Geist, der Notwendigkeit durch die
-Freiheit, der Unwillkür durch die Willkür zum Ausdruck kommt, --
-nun wohl! so weiß der Buddho dieselbe Genugtuung noch ganz anders
-auszudrücken: er, der dem entwickelten Vorstellungleben eine magische,
-ja eine okkulte Wirksamkeit im Umkreis der Verursachungen zuzuschreiben
-sich berechtigt fühlt. „Acht Gründe gibt es, Ânando, acht Ursachen,
-daß ein gewaltiges Zittern über die Erde zur Erscheinung kommt; und
-welche acht? Diese große Erde, Ânando, hat ihren Bestand im Wasser,
-das Wasser hat seinen Bestand im Winde, der Wind hat seinen Bestand im
-Raume. Zu einer Zeit nun, Ânando, wo gewaltige Winde wehen, lassen die
-gewaltigen Winde mit ihrem Wehen das Wasser erbeben: und erbebt das
-Wasser, erbebt die Erde. Das ist der erste Grund, die erste Ursache,
-daß ein gewaltiges Zittern über die Erde zur Erscheinung kommt. Ferner
-aber, Ânando, ist da ein Asket oder ein Priester, der ist machtvoll,
-hat die Herrschaft über seinen Geist, oder ein Gott, hochmächtig,
-hochgewaltig, -- der hat die Vorstellung ‚Erde‘ mäßig entwickelt,
-unermeßlich die Vorstellung ‚Wasser‘: so macht er diese Erde beben und
-erbeben, wanken und schwanken. Das ist der zweite Grund, die zweite
-Ursache, daß ein gewaltiges Zittern über die Erde zur Erscheinung
-kommt...“Diese erstaunlichen und doch auch wieder selbstverständlichen
-Worte des Dritten Berichtes aus dem Großen Verhör über die Erlöschung
-Mahâparinibbânasuttam führen die Vorstellung ein als eine Kraft
-eigener Art, als eine Ursache eigener Art, als einen Antrieb eigener
-Art innerhalb der Gesamtheit aller Kräfte, Ursachen und Antriebe der
-Welt. Auf magische oder auf okkulte Weise beeinflussen Vorstellungen
-den Zustand der Wirklichkeit und verteilen die vorhandenen Grundstoffe
-anders, als es vorher und ohne ihre Beeinflussung der Fall war.
-Je nachdem eine Vorstellung vom Vorstellenden unterdrückt oder
-entwickelt, begünstigt oder vernachlässigt, gestärkt oder geschwächt
-wird, greift sie als eine wirkende Ursache in die Unendlichkeit der
-wirkenden Ursachen ein. Weit entfernt, eine wesenlose, untätige,
-unwirkliche Begleiterscheinung der Körperlichkeit oder des Lebens zu
-sein, -- wie dies europäische Psychologen, Physiker und Philosophen
-häufig vermuten zu dürfen glaubten im sinnfälligen Widerspruch zu
-bestehenden Tatsachenreihen, -- erweist sich die Vorstellung hier als
-eine der treibenden Kräfte der Welt, ja als die Hauptkraft der Welt,
-wo sie richtig gebildet, richtig geübt, richtig gehandhabt wird.
-Veränderte Vorstellungen bewirken veränderte Dinglichkeiten: diese
-endlich auch von der abendländischen Wissenschaft gemachte Entdeckung
-verrät das eigentliche Geheimnis, warum gerade der Buddho die Wendung
-vom Kosmos Uranios zum Kosmos Noetos vollziehen mußte, -- warum gerade
-er den transzendentalidealistischen und phänomenologischen Standpunkt
-mit soviel Ausschließlichkeit vertreten und wahren mußte. Gotamo der
-Protestant, der von Anfang an nichts so folgerichtig und planmäßig
-anstrebte als die vollendete Freiheit und Unabhängigkeit des Gemüts
-von allen naturhaften Bedingungen und Gebundenheiten, er fand in
-der Vorstellung die Möglichkeit, diese Freiheit und Unabhängigkeit
-zielbewußt zu erwirken. Die Vorstellung, die ihm eine Kraft, eine
-Wirksamkeit sondergleichen ist, gestattet den ungeheuern Eingriff
-in die gesetzmäßig bestimmte Ordnung der Welt, auf welchen es vor
-allem abgesehen ist. Im Besitz seiner Vorstellungwelt schaltet der
-Vorstellende in den Stromkreis der Kräfte eine neue Kraft von der
-Ordnung X ein, die im Unterschied zu allen anderen Kräften durchaus
-dem Bereich der eigenen Machtvollkommenheit und Zielstrebigkeit
-angehört. Von den Vorstellungen aus ergehen fortab die Befehle,
-Winke, Zeichen, nach welchen die Wirklichkeiten abgeändert werden;
-von den Vorstellungen aus beherrscht die Absicht des Vorstellenden
-die gesamte Schöpfung, sobald er sie nur zu beherrschen willens
-ist. Mittels der Vorstellung bringt der Vorstellende grundsätzlich
-die unendliche Weltwirklichkeit in seine Gewalt: in der Form der
-Vorstellung wird sie ihm botmäßig, wenn nicht sogar dienstwillig.
-Schopenhauers etwas dürre Formel ‚die Welt ist Meine Vorstellung‘
-heißt in die Sprache Gotamos übersetzt fruchtbarer und sinngemäßer:
-die Welt ist abhängig veränderlich von Meiner Vorstellung der Welt...
-Und wenn dies auch nicht buchstäblich so zu denken ist, wie es Gotamo
-selbst dem aufhorchenden Ânando im Dritten Bericht aus dem Großen
-Verhör der Erlöschung Mahâparinibbânasuttam so eindringlich darlegt;
-wenn in Wahrheit auch nicht schon jede unermeßlich entwickelte
-Vorstellung ausreichend sein mag, diese Erde zum Zittern zu bringen
-wie die Vorstellung ‚Wasser‘ eines hochmögenden Asketen, -- daß eine
-‚unermeßlich‘ entwickelte Vorstellung zum mindesten die empfindenden
-und bewegenden Nerven, die Zellen und Gewebe und Muskeln eigener und
-fremder Leiblichkeit beeinflussen und bestimmen können, dies steht
-auch für unser europäisches Wissen nachgerade auch dann fest, wenn
-eine ausreichende Erklärung dieses Sachverhalts nicht gegeben werden
-kann. Mittels Vorstellungen auf lebendiges Plasma einzuwirken und
-es von diesem inneren Licht aus geradezu einer Art von Bestrahlung
-zu unterziehen, das ist möglich, denn es ist wirklich. Der Herr der
-Vorstellungen aber ist der Vorstellende, und so ist der Vorstellende
-der Herr über alles, was von der Vorstellung her beeinflußbar
-erscheint, -- grundsätzlich der Herr also über alles, was lebt und
-infolge seines Lebens selbst an einer Vorstellungwelt teil hat: sie
-sei dumpf oder besonnen, unbewußt oder bewußt. Als vorstellendes Wesen
-verfährt der Mensch mit seinen Vorstellungen, wie es ihm gefällt, und
-so verfährt er auch mit dem, was seiner Vorstellungkraft nah oder fern
-zugänglich ist, wie es ihm beliebt. Die Welt als Vorstellung restlos
-dem bewußten Wollen, der bewußten Absicht, dem bewußten Zweck gehorsam
-zu machen, gehört somit ganz einfach zum Ziel des gotamidischen
-Protestantismus, wie es (in etwas anderer Weise) zum Ziel des
-kantischen Protestantismus gehört: in dieser Hinsicht geschieht Gotamos
-Einstellung auf den ‚transzendentalen Idealismus‘ aus dem stärksten
-Instinkt des großen Protestanten heraus, der über die Welt Herr sein
-und nicht der Welt Knecht sein will. Sei nun die Welt wahrheitgemäß
-Meine Vorstellung, oder sei Meine Welt Vorstellung oder sei weder
-Meine noch Deine Welt weder Meine noch Deine Vorstellung, sondern die
-‚Welt überhaupt Vorstellung überhaupt‘, -- unter allen Umständen ist
-es erst diese Auffassung, die eine brauchbare Möglichkeit schafft,
-der Welt von innen her, vom Bewußtsein her, vom ‚Geiste‘ her habhaft
-zu werden. Erst als Bewußt-Sein von der Welt ist das Sein der Welt zu
-überwältigen, zu überweltlichen. Und umgekehrt: wo diese Überwältigung
-und Überweltlichung vornehmstes Ziel des Lebens ist, muß folgerichtig
-alles Sein in das Bewußtsein eingesenkt und eingeschichtet werden...
-
-Wie aber nun, ihr Christen? Heißet das Leiden verwinden recht
-eigentlich die Welt verwinden, die Welt verwinden aber die Vorstellung
-der Welt verwinden, -- heißet alsdann nicht das Leiden verwinden die
-Vorstellung der Welt, ja die Vorstellung-Welt selbst verwinden? Heißet
-das Leiden verwinden recht eigentlich das Sein verwinden, das Sein
-verwinden aber das Bewußtsein verwinden, -- heißet alsdann das Leiden
-verwinden nicht das Bewußtsein selbst verwinden? Und falls sich dieses
-wirklich so verhält, -- und es verhält sich so! -- was heißt in diesem
-zutreffenden Fall die Vorstellung verwinden, das Bewußtsein verwinden?
-Wie kann die Vorstellung als solche, wie kann das Bewußtsein als
-solches verwunden werden, wenn Vorstellung und Bewußtsein das Erste
-und Letzte, das Unbedingte und Unentstandene ist? Wie kann das Erste
-und Letzte, das Unbedingte und Unentstandene selbst verwunden werden,
-da doch Nichts mehr hinter und Nichts mehr über ihm ist, welches zur
-Verwindung berufen wäre?
-
-Auf zweierlei Arten kann dennoch auch das Bewußtsein verwunden werden,
-die beide unmittelbar durch die Beschaffenheit des Bewußtseins
-selber bestimmt sind. Das Bewußtsein nämlich kann unterschritten
-und kann überschritten werden. Es kann entweder soweit geschwächt,
-soweit getrübt, soweit verringert, soweit unterdrückt werden, daß es
-gewissermaßen unter seinen eigenen Schwellenwert hinabsinkt und sich
-ins Unbewußtsein allmählich verliert. Oder aber das Bewußtsein kann
-soweit gestärkt, soweit aufgehellt, soweit vermehrt, soweit gehoben
-werden, daß es gewissermaßen über sich selbst gesteigert erscheint
-und ins Überbewußtsein mündet. Denn um den entscheidenden Tatbestand
-mit einem einzigen Wort anzuführen: das Bewußtsein hat Grade! Das
-Bewußtsein hat Grade, und also verläuft es zwischen einem untersten und
-einem obersten Schwellenwert von der bestimmten Größe Null bis zu einer
-unbestimmbaren und vielleicht sogar unendlichen Größe. Das Bewußtsein
-hat Grade, wie schon einer der ersten Philosophen des Bewußtseins in
-Europa, Leibniz, mit großem Nachdruck behauptete; -- das Bewußtsein
-hat Grade, auch wenn sich im verflossenen Jahrhundert der Philosoph
-des Unbewußtseins für das Gegenteil dieser Behauptung hartnäckig
-eingesetzt hat. Zwischen der heftigsten, beinahe wütenden Gespanntheit
-auf ein erlebtes Vorkommnis und der vollkommenen Gleichgültigkeit
-gegen dasselbe, zwischen der angestrengtesten Überwachheit und der
-trägsten Dumpfheit, zwischen andauernder Aufmerksamkeit und andauernder
-Verschlafenheit, zwischen gleichmäßiger Geistes-Allgegenwart und
-gleichmäßiger Geistes-Abwesenheit, zwischen beherrschter Sammlung und
-zuchtloser Zerstreutheit durchmißt das Bewußtsein alle erdenklichen
-Grade: wie eine Klammer, die bald geschlossen, bald aber offen
-ist, umklammert das Bewußtsein erlebbare Gegenständlichkeiten mit
-eiserner Strenge oder entläßt sie in loser Ungebundenheit. So
-führt es entweder zu einem Zustand, der die Bezeichnung Bewußtsein
-noch kaum oder noch gar nicht verdient, oder zu einem anderen, für
-welchen die Bezeichnung Bewußtsein nicht mehr ausreichend ist. Im
-allgemeinen hält das Bewußtsein eine gewisse dämmerige Mitte ein
-zwischen Unbewußtsein und Überbewußtsein, wie etwa der Halbschlaf die
-dämmerige Mitte hält zwischen Wachheit und Vollschlaf. In der Tat,
-dem Halbschlaf gleicht das Bewußtsein in seinem gewöhnlichen Zustand:
-es ist eher eine Bereitschaftlage, in Bewußtsein überzugehen, als
-jederzeit selber Bewußtheit zu sein. Die zahllosen Vorstellungen die
-auch dem vorstellungärmsten Menschen noch durch den Kopf schwirren,
-beschäftigen das Bewußtsein gleichsam nur als Möglichkeiten. Damit
-sie als Vorstellungen ‚wirklich‘ werden, muß ihnen schon ein Zwang
-zur Aufmerksamkeit zu Hülfe kommen, sei es, daß von außen, sei es,
-daß von innen her ein Interesse geweckt werde, welches einzelne
-Vorstellungen aus der zudrängenden Menge auswählt und nun entwickelt.
-Wie beispielweis ein Landschafter eine lange Frist in einer Landschaft
-weilt, bis ihn in irgendeinem Augenblick ein ganz bestimmter
-Ausschnitt zum Bild anreizt und er zu sich spricht: alles andere wird
-nicht gemalt, aber dies wird gemalt, -- ebenso weilt der Mensch
-gewohnheithalber mitten und unter seinen Vorstellungen, bis ihn eine
-derselben aus erkennbaren oder unerkennbaren Gründen zur Entwicklung
-anreizt. Auf diese Vorstellung sammelt sich das Bewußtsein und führt
-sie mit Sorgfalt, Genauigkeit, Treue aus; bei dieser Vorstellung
-verweilt das Bewußtsein und umkreist sie in stätigem Flug; an dieser
-Vorstellung erwärmt sich das Bewußtsein und entzündet sich zu einer
-gleichmäßig hellen Flamme, indes alle übrigen Vorstellungen je und je
-ins Dunkel jenes Kraters zurückstürzen, dem sie rätselhaft entstiegen
-sind... Wer also das Bewußtsein verwinden will, dem steht die Wahl
-ins Unbewußtsein zurück ebenso offen wie die Wahl zum Überbewußtsein
-vor, und vielleicht ist es schwer zu sagen, ob die Verwindung durch
-Unbewußtsein oder die Verwindung durch Überbewußtsein leichter zu
-bewerkstelligen wäre, -- wie denn der eine zwar leicht einschläft, aber
-nur mühsam zu wecken ist, indes der andere schwer einschläft, aber
-leicht wieder aufwacht.
-
-Dies übrigens dahingestellt, bleibt dem Buddho jedenfalls die
-Wahl zwischen beiden Arten der Verwindung. Es bleibt ihm die Wahl
-zwischen Verringerung und Steigerung, zwischen der Annäherung ans
-Unbewußtsein und ans Überbewußtsein, zwischen der Bevorzugung des
-Schlafzustandes und des Zustands der Überwachheit. Wozu aber sich
-der Buddho entschließt, das geht unmißverständlich eben schon aus
-dem Namen hervor, den er trägt... „Der Erwachte, o Keniyo, sagst du?
--- Der Erwachte, o Selo, sag’ ich“... Denn wie sollte der Erwachte
-anderes als die Wachheit und Überwachheit des Bewußtseins als des
-Bewußtseins eigentliche Überwindung werten? Diese Wahl ist es dann
-auch freilich, welche den Buddho in einen tief bedeutsamen Gegensatz
-bringt zu der Praxis der Yoga, zu der Praxis des Brahmanismus, die
-ihrerseit den Tiefschlaf als den göttlichen Urstand schlechthin zum
-erstrebenswürdigsten Ziel ihrer geistlichen Übungen erhebt. Wobei wir
-freilich zu bedenken hätten, daß dem Buddho doch auch dieser Weg der
-Minderung und Verringerung, den alle Mystik immer wieder gegangen
-ist, keineswegs fremd geblieben ist. Ich sagte es schon mehrmals,
-daß zwischen Ja und Nein dem Buddho noch ein drittes, diesseit der
-Gegensetzungen, ‚_nirdvandva, dvantvâtîta_‘, vorschwebt, das weder Ja
-noch Nein und doch wiederum Ja und Nein in einem ist... Wählt somit
-Gotamo die Steigerung, so heißt dies nur in unserer europäischen
-Zwiesal-Sprache, daß er die Verringerung durchaus verwerfe. Seine
-Entscheidung gilt folglich zwar ohne diesen Vorbehalt nicht eindeutig:
-wohl aber gilt sie mit ihm so. Das Bewußtsein ist zu verwinden durch
-die höchstmögliche Steigerung des Bewußtseins, und diese Praxis haben
-wir jetzt in ihrer Wichtigkeit darzustellen.
-
-Unser Leben in Vorstellungen, wie wir’s uns selber überlassen führen,
-ist ein Spiel. Die Vorstellungen tauchen auf und sinken unter wie die
-Fische in einem Weiher. Jetzt schnellen und schnalzen sie sich, in
-der Sonne wie kleine Silberpfeile blitzend, über den Wasserspiegel
-des Weihers in munteren Sprüngen dahin; im nächsten Augenblick
-schwimmen sie in ihrem Element flink umeinander, -- und jetzt sind
-alle verschwunden. Gewiß hat auch dieses Spiel der Vorstellungen seine
-Regeln, sonst wär’ es doch wohl kaum ein Spiel. Denn einmal ist ihre
-Abfolge im Bewußtsein festgelegt durch die gleichsam physikalische
-Abfolge der Wirklichkeiten in Raum-Zeit, die sie im Bewußtsein zu
-vertreten haben. Zum anderenmal ist dieselbe Abfolge festgelegt durch
-die psychologischen Gesetze der Vergesellschaftung, durch welche sie
-bestimmt wird. Wer beispielweis durch die Straßenzüge einer großen
-Stadt schlendert, hat keine Freiheit, weite Täler, hohe Berge, einsame
-Wälder, bebaute Felder wahrzunehmen. Seine Vorstellungen bleiben
-wimmelnden Gassen verhaftet, rauchenden Schloten, zudringlichen
-Firmenschildern, lärmenden Plätzen. Und auch wenn er seine
-Vorstellungen von dieser Umwelt abzieht, und in sich selbst verloren,
-in sich selbst versonnen weiterschlendert, wechseln dieselben nach
-Regeln, auf welche er offenbar keinen Einfluß hat, solange er das Auf
-und Ab der Vorstellungen sich selber überläßt. Ein Spiel nach Regeln
-und Gesetzen ist also dieser Ablauf, wo die benachbarten Vorstellungen
-immer wieder die benachbarten, die verwandten Vorstellungen immer
-wieder die verwandten suchen. Sich selber überlassen, stellen sich die
-Vorstellungen niemals in einer Abfolge ein, die dem klaren Willen des
-Vorstellenden entsprechen würde, und niemals verschwinden sie diesem
-Willen entsprechend. Vielmehr schaut der Vorstellende selbst diesem
-Spiel nur wie ein müßiggängerischer Gaffer zu, der eine Szene auf dem
-Marktplatz oder im Theater als unbeteiligter Dritter anstaunt: wohl
-wechseln fortwährend seine Vorstellungen, aber nicht ist er es, der
-sie wechselt. Was unser Besitz sein sollte und richtig verstanden
-überhaupt unser einziger Besitz sein kann, das lassen wir als grobe
-Naturalisten, ja Anarchisten des Lebens einfach gewähren und geben uns
-willfährig seinem eigenen Sinn oder Unsinn gefangen. Diesem launischen
-Spiel, welches das verborgene ‚Es‘ mit uns allen spielt, ein sehr
-entschiedenes Ende zu setzen, und an Stelle des Naturalismus und der
-Anarchie gleichsam den ‚Stil‘, sogar den hieratischen Stil walten
-zu lassen und seine strengen Gesetze: das heißt in der Auffassung
-des Buddho den ersten Schritt tun zu der Verwindung des Bewußtseins
-durch Steigerung des Bewußtseins. Auf das Spiel, auf die Spielerei
-zu verzichten, die wir mit uns selber treiben, und endlich mit
-einem gewissen Ernste Ernst zu machen: das ist die erste Forderung,
-die an den Jünger des Erwachten ergeht. Er soll die Abfolge der
-Vorstellungen, die von Haus aus eigentlich in keinerlei Betracht die
-seine ist, zur seinigen machen; er soll der Abfolge der Vorstellungen
-die Regeln der Vergesellschaftung selber auferlegen, statt sie
-physikalisch-psychologischer Gesetzmäßigkeit anheim zu geben. Er soll
-den zuchtlosen Ablauf der Vorstellungen in die Zucht nehmen und ihm
-wie einem durchaus regulierten Fluß die rechte Richtung weisen, den
-rechten Wasserstand, die rechte Fahrtrinne, die rechte Stromstärke,
-das rechte Gefälle, -- dies ist das Unerläßlichste von allem.
-
-Ein Vorsatz von mehr als menschlicher Strenge gegen sich selbst,
-ihr Christen, wenn man’s recht bedenkt. Ein Vorsatz, der für die
-meisten christlichen Abendländer, wofern sie sich nicht zufällig
-mit den Geistlichen Übungen des heiligen Jgnatius vertraut gemacht
-haben, etwas Unheimliches, Unbegreifliches, Zermalmendes hat: für
-jene Abendländer, die es so sehr lieben, sich gehen und hängen zu
-lassen, wie es gerade kommt oder auch krumm kommt. Denn was will
-es heißen, alle die aufkeimenden und aufwuchernden Vorstellungen,
-die unser Selbst wie eine undurchdringliche Dornenhecke um sich zu
-ranken pflegt, nach der Zuständigkeit der heilstrebenden Absicht
-überall zu beschneiden und festzubinden? Es will heißen, daß jede
-Vorstellung, die nicht mit dieser bewußten Zwecksetzung übereinstimmt,
-ohne Gnade und Nachsicht zu unterdrücken ist, sei es auf die Gefahr
-hin jeglicher Vergewaltigung der eigenen Instinkte, Triebe und
-Neigungen. Es will heißen, daß jedes Gelüste, jede Anwandlung, jede
-Versuchung des Leibes und der Seele in des Wortes buchstäblicher
-Meinung schon von der Schwelle her abzuweisen ist, es sei nun, daß
-diese Vorstellung die Schwelle gar nicht überschreiten darf, es sei,
-daß sie sie nach erfolgtem Überschritt sofort wieder räumen muß. Es
-will heißen, daß alle Erlebnisinhalte und Bewußtseinsgegebenheiten,
-welche nicht unmittelbar oder mittelbar die Tat des Heils zu fördern
-geeignet erscheinen, als störend oder entbehrlich zu verabschieden
-sind. Es will heißen, daß alles, was bedrückt, was schmerzt, was
-umdunkelt, was hemmt, was niederzieht, was verderbt, was beschwert,
-was beeinträchtigt, was entwertet, was entwürdigt, was befleckt,
-was gefährdet, was erzürnt, was erschreckt, was verbittert, was
-verstockt, was kränkt, was aufwühlt, was entfesselt, was verstört, was
-verwildert, was verroht, was verkehrt, was versklavt, was umnebelt,
-was berauscht, was ausschweift, was ablenkt, was zerstreut, was
-verwirrt, was in Zweifel stürzt, was verzweifeln macht, was täuscht,
-was verblendet, was giert, was gärt, was verzehrt, was abstumpft, was
-versehrt, was entzweit, was zerreißt, was entfriedet, was entfremdet,
-was entkräftigt, was entnervt, -- daß alles dieses und was nicht noch
-alles sonst aus dem Bewußtsein zu verjagen und zu verbannen ist,
-nötigenfalls zu übermannen mit Einsatz aller Kräfte des Willens „mit
-aufeinandergepreßten Zähnen und an den Gaumen gehefteter Zunge“... Es
-will heißen, daß alle Erwägungen aufzugeben und einzustellen sind,
-die mit dem heiligen Ziel nicht nachweisbar zusammenhängen, und mit
-diesen Erwägungen und Erörterungen dann alle Reden und Gespräche,
-alle Belehrungen, Bestrebungen, Zwecksetzungen. Es will heißen,
-daß mit dem Eifer eines Teufelaustreibers die urwüchsigsten Triebe
-auszutreiben sind wie die geistigsten Bildungen, sobald sie vom Ziel
-abführen oder auch nur nicht zu ihm hinführen. Es will heißen, daß alle
-Wahrnehmungen und Erinnerungen und Absichten, sobald das Bewußtsein
-ihrer ansichtig geworden ist, auf die goldene Wage zu legen sind, ob
-recht oder nicht recht, ob statthaft oder verboten, ob heilfördernd
-oder heilhemmend. Es will heißen, daß alle ‚rechten‘ Vorstellungen
-zum Gedeihen, alle ‚unrechten‘ aber zum Eingehen zu bringen sind, ja
-daß die rechten geradezu zum Kampfe aufgeboten werden, um diese zu
-verdrängen und ihre Stelle einzunehmen. „Gleichwie etwa, ihr Mönche,
-ein geschickter Maurer oder Maurergeselle mit einem feinen Keil einen
-groben heraustreiben, herausschlagen, herausstoßen kann, ebenso nun
-auch, ihr Mönche, soll ein Mönch, wenn er eine Vorstellung faßt,
-eine Vorstellung sich vergegenwärtigt, und ihm dabei böse, unwürdige
-Erwägungen aufsteigen, Bilder der Gier, des Hasses und der Verblendung,
-aus dieser Vorstellung eine andere gewinnen, ein würdiges Bild“...
-Denn daß die Triebe und Begehrungen, die Leidenschaften und Neigungen,
-die mit der Wesenheit der Person lebendig verwurzelten, aus dem
-Bewußtsein unter keinen Umständen verdrängt werden könnten, oder falls
-dennoch verdrängt, in unterschwelligen, unterschwürigen, unterbewußten
-Bezirken der Seele erst recht und viel unbezwinglicher noch ihr Unwesen
-fortsetzen müßten, -- dieses Ergebnis abendländischer Seelenerkundung
-hätte Gotamo vermutlich nicht anerkannt. Wofern auch der Trieb oder
-Hang als eine Vorstellung ins Bewußtsein tritt, da betritt er eben die
-Walstatt, wo gegen jede unerlaubte Vorstellung ihre Gegen-Vorstellung,
-Gegen-Stellung ins Gefecht geführt wird: betritt also der Trieb
-oder Hang die Stätte einer zum Austrag gelangenden Zucht-Wahl, wo
-die durch Zucht erwählte Gegen-Vorstellung die gleichsam wild und
-zuchtlos aufgeschossene Vorstellung aus dem Feld schlägt. Ein etwaiger
-Rückzug aber aus dem Bewußtsein in die Höhlen und Unterschlüpfe des
-Unterbewußtseins, wie ihn alsdann die moderne Seelenlehre des Westens
-für unvermeidlich erachtet, wird schlechterdings nicht geduldet, --
-aus Gründen, die wir bald in den Umkreis der Betrachtung zu ziehen
-haben werden. Jedenfalls ereignet sich somit im Bewußtsein der seltsame
-Kampf, der über die Rechtmäßigkeit jeder einzelnen Vorstellung
-entscheidet und folglich auch über ihren weiteren Verbleib, ihre
-weitere Entfaltung, ihre weitere Begünstigung. Unmöglich aber ist’s,
-hier aller Anstalten besonders zu gedenken, die der Buddho namhaft
-zu machen gewußt hat zur Beförderung dieses seines Zieles. Besteht
-doch in der Sammlung und Sichtung, Darlegung und Erläuterung dieser
-Anstalten im Grund die ganze Lehre des Buddho, -- die ganze Lehre ein
-beispiellos abgerundetes und wohlgeordnetes Gefüge von erzieherischen,
-von seelsorgerischen Maßnahmen, das Spiel der Vorstellungen in die
-Gewalt des selbstherrlichen Willens zu bekommen und dort gebieten zu
-lernen, wo wir alle am meisten gehorchen müssen. Diese Schule der Zucht
-und Selbst-Zucht macht sich sorgfältige Erfahrungen von Jahrtausenden
-mit einem nirgends mehr erreichten Aufwand von Menschenkenntnis und
--erkenntnis zu Nutz und ist darum auch für die Jahrtausende gültig,
-wahrhaft unsterblich und zeitlos. Sie durchaus in ihrem gesamten
-Aufbau und Ausbau zu überschauen, ist nur einem solchen möglich, der
-die Schriften des Kanons wieder und wieder durchforscht, indes unser
-abendländisches Wissen, unsere europäische Gelehrsamkeit vollkommen
-außerstand ist, im einzelnen zu billigen oder zu tadeln, hinzuzufügen
-oder fortzustreichen, zu urteilen oder zu entscheiden. Von dieser in
-der Tat ungemein schwierigen Praxis und Pragmatik des urwüchsigen
-Buddhismus einen Begriff zu geben erscheint desto schwieriger, je
-fortgeschrittener unsere eigene seelische Verwahrlosung ist. Ehe wir
-über sie annähernd würdig werden sprechen können, sprechen dürfen,
-werden Jahre und Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte einer neu
-erblühenden europäischen Religiosität vonnöten sein...
-
-Ein zur höchsten Meisterschaft gebrachtes Verfahren, das Ineinander
-und Durcheinander der bewußten Vorstellungen einer strengen Auslese
-zu unterziehen, dies, ihr Christen, ist also das eine, was dem Buddho
-die Verwindung des Bewußtseins bewirkt durch die Steigerung des
-Bewußtseins. Verdrängung aller wertwidrigen Bewußtseinsinhalte durch
-die wertentsprechenden, Entkräftung aller niedrigen Triebregungen durch
-Begünstigung und ‚unermeßliche Entwicklung‘ aller höheren, Vertauschung
-aller heilhemmenden Gegebenheiten gegen die heilförderlichen: das
-ist Ziel wie Weg, Zweck wie Mittel. Aber gleichzeitig erschöpft sich
-die angestrebte Steigerung des Bewußtseins doch keineswegs in dieser
-völligen Bemeisterung, Beherrschung, Regelung des Vorstellungablaufes
-in der Zeit. Die nicht zweckdienlichen und folglich verbotenen
-Bewußtseinsinhalte schon von der Schwelle fern zu halten, oder wo
-dieses mißlingt, von der Schwelle zu entfernen, ist eine unerläßliche
-Bedingung für die Entstehung jenes besseren, freieren, reineren
-Urstandes, der dem Buddho vorschwebt. Aber unter keinen Umständen
-ist das Bewußtsein schon verwunden wenn es gesäubert und entschlackt
-erscheint. Die starke Gefahr ward vorhin erwähnt, die nach heutiger
-Auffassung diesem Verfahren der Verdrängung eingewurzelter Triebe und
-Begierden verhängnisvoll zu werden droht. Die Gefahr nämlich, daß die
-verdrängten Regungen sämtlich in den unterschwelligen Bezirken der
-Seele sich festnisten und hier nach der Gepflogenheit aller Schmarotzer
-ein untilgbares und verwüstendes Unwesen führen möchten auf Kosten
-der wachen Bewußtheit, die sich ihrer entledigt hat. Denn wie es
-geschrieben steht, -- manche haben den Geist der Wollust aus sich
-herausgetrieben und sind hernach in die Säue gefahren, und häufig genug
-erwürgt ein verdrängter Hang nachträglich seinen eigenen Henker. In den
-dunkleren und dumpferen Lagen der Seele huldigt der Mensch auf eine
-ausschweifende und krasse Weise dem Dienst seiner Ahnen, deren Totem
-er zwar nicht nach Art der ehemaligen Indianer auf die Haut tätowiert,
-aber dennoch wie ein Mosaik in dem Kerngerüst seiner Keim-Zelle
-musivisch angelegt trägt: und wehe ihm selber, wenn er sie mit dem Blut
-der Opfer tränkt, die er auf dem Altar des Bewußtseins seinem edleren
-Trachten feierlich dargebracht und umgebracht hat! Was hier der Mensch
-im Menschen aus Ehrfurcht oder Scham vor sich selbst verwirft, das
-diente von jeher dem Tier im Menschen zu seiner am hitzigsten begehrten
-Kost. Und wenn sich die Hunde keineswegs ekeln, als die sonderlichsten
-aller Selbstverköster den eigenen Auswurf, ja den eigenen Kot
-gelegentlich wieder zu fressen, so heulen und bellen fürwahr diese
-selbigen Hunde in den Kellern der Seele bei Tag und bei Nacht und bei
-Nacht noch weiterhin vernehmlich wie am Tage. Die Gefahr mithin, in
-den oberen Geschossen, wo das Bewußtsein gleichsam seine Empfangräume
-hat, zwar eine peinliche Sauberkeit überall zu beobachten, aber den
-inwendigen Abfall und Kehricht in das Verlies hinunter zu fegen, wo
-Ratten und Schlangen in modrigen Löchern behaust sind, -- diese Gefahr
-ist in der Tat keine geringe. Aber sie besteht nicht, ohne daß Gotamo
-genau um sie wüßte, -- Gotamo, dessen Kennerschaft hier wirklich etwas
-von göttlicher Allwissenheit erworben zu haben scheint. Denn keineswegs
-bleibt diese tiefer geschichtete Zone der unterschwelligen Lebenskräfte
-sich selber überlassen. Vielmehr wird sie im Bewußtsein vom Bewußtsein
-unaufhörlich angeblinkt und belichtet, wie etwa des Nachts die
-Einfahrt eines Hafens unaufhörlich angeblinkt und belichtet wird.
-Und eben in dieser fortgesetzten Sammlung des Bewußtseins auf sonst
-unbewußte oder unterbewußte Vorgänge besteht das zweite gotamidische
-Verfahren, das Bewußtsein zu steigern und durch Steigerung zu
-verwinden. Die oben umschriebene Regelung des Vorstellungablaufs
-durch Auslese und Zuchtwahl der Vorstellungen untereinander ergänzt
-sich sinngemäß durch eine andauernde Beaufsichtigung der niedereren
-Körper- und Seelenbewegungen. Wo daher unstatthafte und unzweckmäßige
-Vorstellungreihen aus dem Bewußtsein verdrängt werden und aus dem
-Bewußtsein in tiefere Seelenlagen abwärts gleiten, da wird unverzüglich
-eine Gegenwirkung aufgerufen, welche die unterschwelligen Vorgänge
-ihrerseit wieder in den Lichtkegel der Bewußtheit rückt, ehe sie sich
-in den Falten einer Dämmerwelt schmarotzerisch festzunisten vermögen.
-Wohl werden also im Bewußtsein keine Vorstellungen geduldet, welche dem
-heiligen Ziel der Leidensüberwindung nicht irgendwie förderlich zu sein
-verheißen. Aber ebensowenig werden im Unterbewußtsein, Unbewußtsein
-Vorstellungen geduldet, welche um eben jenes heiligen Zieles willen
-aus dem Bewußtsein mit Anstrengung verdrängt wurden und sich darum der
-Aufsicht des Bewußtseins zu entziehen drohen. Um solchen oder ähnlichen
-Gefahren zu begegnen, hat der Mönch ein Maß von Selbstüberwachung
-zu bewähren, welches dem Wachstum unterschwelliger Seelenkräfte
-nicht nur so ungünstig wie möglich ist, sondern dasselbe vielleicht
-geradezu ausschließt. Von der allmächtigen und allgegenwärtigen
-Polizei des Bewußtseins werden alle unterschwürigen Lebensäußerungen
-und Willensantriebe wie eine Verbrechergesellschaft von Schlupfwinkel
-zu Schlupfwinkel aufgescheucht und zuletzt nach und nach vollständig
-aufgerieben. Das Gemüt des Asketen liegt faltenlos geglättet an
-der gleichmäßigen Helligkeit des Bewußtseins da; unbeaufsichtigte,
-ungewußte, unbemerkte Wallungen oder Begierden gibt es grundsätzlich
-in ihm nicht mehr. Dies ist der Grund, warum der Buddho die
-Verdrängung eingewurzelter Lebenstriebe durchaus und ohne Vorbehalt
-gebietet, und dennoch offenbar keines der Übel fürchtet, die nach dem
-Ergebnis europäischer Seelenkunde jeder derartigen Triebverdrängung,
-Triebunterdrückung auf dem Fuße folgen müßte. Und auch hier ist
-wiederum vorbildlich jene mehrfach schon berührte Zucht der
-Atemführung geworden. Wie diese Zucht in der Absicht geübt wird, die
-unwillkürlichen Bewegungen des Leibes in willkürliche zu verwandeln,
-so will eine letzte Zielsetzung überhaupt alle Lebensvorgänge aus
-dem Reich der Physis in das Reich der Psyche pflanzen. Stets von
-neuem wird der Mönch daher vom Buddho angehalten, die ‚vier Pfeiler
-der Einsicht‘ fest zu gründen und beim Körper über den Körper, bei
-den Gefühlen über die Gefühle, beim Gemüt über das Gemüt, bei der
-Erscheinung über die Erscheinung zu wachen. ‚Klar bewußt‘, dies wird zu
-einer der dringendsten Ermahnungen an die Jünger, und die evangelische
-Wachsamkeit bei Tag und bei Nacht, besonders aber bei Nacht, gilt im
-urwüchsigen Buddhismus noch viel mehr (wenn freilich auch in einem
-anderen Sinne) als in den evangelischen Schriften für die vornehmste
-aller religiösen Pflichten: „Den Arm über das Haupt gelegt, so sollte
-der Held ausruhn, so sollte er auch noch sein Ausruhn überwinden“ ...
-Nicht ziemte es dem vorgeschrittenen Asketen, auch nur eine einzige
-Verrichtung des Leibes mit schläfrigem Bewußtsein oder ‚aus Instinkt‘
-zu verrichten. Ein ständig arbeitendes Bewußtsein läßt vielmehr gar
-keine Instinkte aufkommen und unterbricht daher auch den Zusammenhang
-der Lebewesen fast gänzlich, der sonst zwischen dem Menschen und den
-übrigen Tieren der Schöpfung nur allzu deutlich wahrzunehmen ist. „Mit
-klarem Bewußtsein wollen wir uns wappnen. Klar bewußt beim Kommen und
-Gehn, klar bewußt beim Hinblicken und Wegblicken, klar bewußt beim
-Steigen und Erheben, klar bewußt beim Tragen der Gewänder und der
-Almosenschale des Ordens, klar bewußt beim Essen und Trinken, Kauen und
-Schmecken, klar bewußt beim Entleeren von Kot und Harn, klar bewußt
-beim Gehn und Stehn und Sitzen, beim Einschlafen und Erwachen, beim
-Sprechen und Schweigen, also habt ihr euch, meine Mönche, wohl zu
-üben“...
-
-Alle die wimmelnden Gefühle also, die aus der Sehnsucht stammen oder
-aus dem Verlangen oder aus dem Hang oder aus dem Weib oder aus der
-Begierde oder aus der Liebe oder aus dem Haß, sie werden gleichsam
-im Bewußtsein abgefangen und hier mit einem Hieb ins Genick zur
-Strecke gebracht. Und mit diesen vom Lebenssaft der tiefst gesenkten
-Bodenwurzeln tausendfach gespeisten Gefühlen wird die Sehnsucht selber,
-wird das Verlangen selber, wird der Hang selber, wird der Trieb selber,
-wird die Begierde selber, wird die Liebe selber, wird der Haß selber
-im Bewußtsein abgefangen. Sie alle gehören ein für allemal zu des
-Leidens Verursachung, zu den Leidenschaften, die da Leiden schaffen;
-sie alle werden im Bewußtsein abgetötet fast schon durch die schlichte
-Tatsache, daß sie dort zum Bewußtsein gelangen. Denn das im Übermaß
-erhellte Bewußtsein des Leidens, könnte man nicht unzutreffend sagen,
-die im Übermaß erhellte Vorstellung des Leidens vernichtet schon an und
-für sich alles Leiden. „Indem ich mir jener Leidensursache Vorstellung
-gegenwärtig halte, wird durch der Vorstellung Gegenwart die Liebe
-verwunden; indem ich wieder betrachtend die Betrachtung über jene
-Leidensursache in mir vollende, wird die Liebe verwunden“, -- so faßt
-einmal der Buddho dieses seltsame Seelengesetz in Worte, die man sich
-zu merken hätte. Durch angespannteste Aufmerksamkeit und sorgfältigste
-Selbstüberwachung erzielt Gotamo eine seelische Gesamthaltung, die
-freilich nicht leicht zu schildern und noch schwerer zu erläutern ist.
-Vielleicht ist sie uns einigermaßen bekannt von uns selber, wenn es uns
-beispielweis einmal vorübergehend gelingt, einen heftigen Körperschmerz
-durch nachhaltige Steigerung der Aufmerksamkeit bis zu einem gewissen
-Grad zu neutralisieren und ihn in einer von unserer Person entfernter
-scheinenden Sphäre zu objektivieren. Hierbei gelangt zwar der Schmerz
-nicht geradezu zum Verschwinden, aber immerhin belästigt er weniger wie
-vorhin: der im Bewußtsein zu einer Art von Versachlichung gediehene
-Schmerz löst sich zeitenweis von unserem Selbst ab, nicht unähnlich,
-wie sich etwa im Augenblick des Abschusses einer Pistole die Hand
-vom übrigen Körper ablöst und Pistole und Hand zusammen ein beinah’
-selbstherrliches Dasein gewinnen. Eine ähnliche Entpersönlichung
-des Erlebens trachtet der Buddho hervorzubringen und bringt er auch
-sicherlich hervor durch die innigere Gesammeltheit des Bewußtseins auf
-die Begebnisse des Leibes und der Seele.
-
-Auf solche Weise nun betätigt der ‚Erwachte‘ zwar vielleicht eine
-eigenartige, aber dennoch durchaus folgerichtige Anwendung des
-allgemeinsten und unumstößlichsten Ergebnisses unserer europäischen
-Transzendentalphilosophie: wonach im Bewußtsein das Sein sozusagen
-abgestreift und gehäutet wird, -- wonach vom Bewußtsein das Sein in
-einer unwirklichen Spiegelung zurückgestrahlt oder umgebogen wird.
-Im Bewußtsein des Bewußtseins aber oder im Bewußtsein höheren Grades
-stocken insbesondere die Unterschwellungen unterwüchsiger Lebenssäfte,
-welche im Leib und Geist des einzelnen Menschen unaufhörlich lust-
-und unlustspendend kreisen und durch mehr wie nur einen Nabelstrang
-mit dem Kreislauf des großen Lebens, All-Lebens zusammenhängen. Etwa
-wie die Stiele und Stengel von blühenden Gräsern oder Blumen an
-der Stelle dorren, wo sie unter die scharf belichteten Brennpunkte
-optischer Linsen gerückt werden, so dorrt und welkt pflanzenhaftes,
-tierisches, menschliches Leben nach des Buddho innerster Absicht,
-unter den Brennpunkt gerückt eines zu andauernder Wachsamkeit
-verpflichteten Bewußtseins und Überbewußtseins. Oder wie ein Chirurg,
-ein ‚Handwerkender‘ und ‚Handfertiger‘ die Messer, Scheren, Sägen
-seines ärztlichen Besteckes vor dem Gebrauch in eine Lösung von
-Sublimat eintaucht, um sie zuverlässig zu entkeimen, so taucht der
-Buddho alles Werdende und Lebendige in Bewußtheit, um es darin nochmals
-zu entkeimen. Oder wiederum, wie derselbe Chirurg und Therapeut
-ein krebsendes Gewebe der Einwirkung gewisser Strahlenbündel von
-der Ordnung X aussetzt, um die Wucherung mehrkerniger Körperzellen
-aufzuweichen, zu zersetzen, zu zerstören, so weicht der Buddho im
-Strahlenbündel des gesammelten Bewußtseins die Wucherung Leben auf,
-die Wucherung Werden auf, die Wucherung Leiden auf, zerstört sie und
-zersetzt sie... Solchermaßen verwindet der Buddho das Bewußtsein
-durch Steigerung des Bewußtseins, das Leiden durch Steigerung des
-Bewußtseins, das Leben durch Steigerung des Bewußtseins: im innersten
-Gemüt, wie es scheint, einhellig mit einem tief rätselhaften Wort
-Lao-Tses, wonach Leben schon an und für sich Mißbrauch des Lebens ist.
-Wie manche Körper aber das Licht einmal brechen, andere es zweimal
-brechen, so bricht das gemeine Bewußtsein das Leben schon gleichsam
-einmal, das Bewußtsein des Bewußtseins aber zweimal, -- und so wird das
-Leben denn von seiner anfänglichen Richtung zweimal abgelenkt, zweimal
-abgeknickt, zweimal zurückgeworfen. Im Bewußtsein empfängt der Bewußte
-das Leben und alle Wirklichkeiten des Lebens: aber das Bewußtsein
-des Bewußseins gibt vom Leben und seinen Wirklichkeiten nur noch die
-doppeltgebrochenen Bilder und Bildesbilder, indessen Wirklichkeit und
-Leben mit allen Gefühlsbetonungen, Gefühlsaufwühlungen weit draußen
-verebben, vergluten und verbrausen. Wie die übermäßige Helligkeit der
-tropischen Sonne die Farben der Gegenstände verzehrt und ihre Formen
-aufsaugt, so verzehrt die übermäßige Bewußtheit des Asketen die Farben
-des Lebens und saugt es die Formen der Wirklichkeiten auf sich, in
-sich. Das höhere Bewußtsein ist der luftleere Raum, in welchem die
-Körper die ihnen eigentümliche Schwere verlieren und insgesamt mit
-gleicher Geschwindigkeit fallen, und wiederum ist es ein chemischer
-Filter, durch den man die giftigen Gase des Tods und der Verwesung
-hindurchseiht. Nachdem sich der Weltstoff in den fünf Elementen
-verwirklicht und bald als Erde, bald als Wasser, bald als Luft, bald
-als Feuer, bald als Äther um- und umgestaltet hatte, wiederfährt ihm
-jetzt die letzte und endgültige Umgestaltung in ein sechstes Element,
-ins Bewußtsein, wo ihn der Buddho in gläserne Ruhe und kristallische
-Friedsamkeit feierlich einsargt und bestattet, ähnlich jenem lieben
-deutschen Märchen, allwo die Sieben Zwerge über den Sieben Bergen
-den blühenden Leib Schneewittchens ins gläsern-kristallische Bett
-einsargen und bestatten. Und wie nun darin der Leib der kleinen Prinzeß
-in himmlischer Geborgenheit ruht und dennoch den Sieben Zwergen zu
-ewiger Besäligung hold gegenwärtig bleibt, so ruht Welt, Leid, Leben
-fortab im Sechsten Element des Bewußtseins in himmlischer Geborgenheit
-und Stille, wie es der vollkommen Erwachte denn auch buchstäblich
-gesprochen und versprochen hat:... „den Wahnvernichtern taugen diese
-Dinge um säliger Gegenwart zu genießen“...
-
-
-Bei der Abkunft des Leidens aus dem Bewußtsein, wie sie in den
-Schriften des Pâli-Kanons gegeben wird, bezog ich mich bislang im
-wesentlichen auf jene Fünfzehnte der Reden aus der Längeren Sammlung
-Dîghanakâyo. Hier gilt in der Tat Bewußtsein für die letzte Stätte
-einer achtfachen Entstehung: es selber eine Unentstandenheit und
-Unbedingtheit, die nur noch durch sich selber verwunden werden konnte.
-Was hier aus diesem Umstand gefolgert ward, wird daher im ganzen und
-großen, ganzen und groben seine Richtigkeit haben, -- jedenfalls
-ließ es sich so ziemlich in allen Fällen fortlaufend erhärten an den
-gotamidischen Aussprüchen in den Heiligen Schriften. Im Bewußtsein fand
-der Erwachte den Angriffspunkt für seinen Hebel, von wo aus er die
-Werde- und Wandelwelt aus ihren Angeln drehte. Das Bewußtsein bot ihm
-Handhabe, und besser noch Geisthabe, den gesamten Vorstellungablauf
-(‚_stream of thought_‘ wie William James sagt) gemäß dem heiligen Ziel
-zu regeln und zu meistern. Das Bewußtsein half ihm gegen die wilde
-Überflutung durch ungerufene Erlebnisse und ungebetene Begebenheiten
-einen widerstandfähigen Damm aufzuführen. Im Bewußtsein wußte er das
-Sein zu treffen und all sein Leiden am Sein, im Bewußtsein kühlte er
-den brennenden Schmelzfluß der Wirklichkeit zum kalten Metall und
-Kristall ab... Dies alles verhält sich so und kann mit stichhaltigen
-Einwänden nicht bestritten werden. Nur muß es gesagt sein, sogar
-auf die Gefahr einer ungemeinen Verschwierigung des Tatbestandes
-hin, daß in Ansehung der Abkunft und Entstehung des Leidens in den
-Heiligen Schriften des Kanons noch eine andere Deutung steht. Diese
-widerstreitet der gegenwärtigen nicht geradezu in allen Stücken, denn
-sie läuft die größere Strecke des Wegs völlig mit ihr gleich, um sich
-erst zuletzt von ihr zu trennen. Trotzdem überschreitet sie dieselbe,
-denn sie läßt ihrerseit das Bewußtsein nicht mehr als ein Festes und
-Letztes und Unbedingtes bestehen. So bietet zum Beispiel die Elfte,
-die Achtunddreißigste, die Hundertundfünfzehnte Rede aus der Mittleren
-Sammlung Majjhimanikâyo eine Entstehung des Leidens nicht aus acht,
-sondern aus zehn Gliedern dar, und mit dieser zehngliedrigen Ableitung
-ließe sich alsdann auch das Zwölfte Bruchstück des Dritten Teils aus
-der Sammlung der Bruchstücke Suttanipâto zwanglos in Übereinstimmung
-bringen. So daß wir im Kanon ganz außer allem Zweifel zwei verschiedene
-Abkünfte des Leidens erörtert finden. Einmal das Leiden entwickelt
-aus dem Bewußtsein, wobei das Bewußtsein die Stelle und den Rang
-des Urphänomens, des unabgeleiteten und unableitbaren, einnimmt und
-behauptet, -- mithin eben die Stelle und den Rang, den es in der
-transzendentalidealistischen und phänomenologischen Philosophie des
-Westens seit den Griechen immer wieder zugewiesen erhielt und immer
-wieder zugewiesen erhalten wird. Das andere Mal das Leiden entwickelt
-aus -- --, ja! das ist die neue und offene Frage, die uns jetzt
-gestellt ist, die uns jetzt selber stellt. Schon ward erwähnt, daß
-diese neue Ableitung mit der alten auf die bei weitem längere Strecke
-hin völlig zur Deckung gelange: daß mithin die Auseinanderfolge Geburt,
-Werden, Anhangen, Durst, Gefühl, Berührung, Bild-Begriff und Bewußtsein
-als die klassische Genesis des Leidens eindeutig gewahrt bleibt. Nur
-nimmt in dieser zweiten Ableitung das Bewußtsein nicht mehr die Stelle
-der Unentstandenheit ein, vielmehr erscheint zu seinem Teil verursacht,
-geworden, bedingt, begründet. Ein Umstand, den der Buddho knapp und
-einprägsam in den Satz faßt: „Ohne zureichenden Grund entsteht kein
-Bewußtsein...“ Dort also ein unentstandenes Bewußtsein, welches mit der
-erkenntnismäßigen Doppelung Bild-Begriff oder Wahrnehmung-Vorstellung
-ganz einfach ins Dasein tritt, ohne daß man wissen kann wie. Hier
-dagegen ein entstandenes Bewußtsein und sein zureichender Grund,
-und mit ihm eine Verlängerung des Leitfadens Ursächlichkeit über
-das Urphänomen hinaus samt dem Versuch einer Entwicklunggeschichte
-des Bewußtseins, die einem der philosophischen Vertreter einer
-der europäischen Philosophien des Unbewußten aus dem verflossenen
-Jahrhundert (etwa zwischen dem älteren Fichte und Hartmann) alle Ehre
-gemacht hätte. Diese einander ausschließenden Auffassungen vom ‚Wesen‘
-des Bewußtseins einander mit einem gewissen unredlichen Eifer zur
-Synthetik anähneln zu wollen, wäre weder ehrlich noch klug. Und noch
-weniger stünde es unserer westlich denkenden, westlich schließenden
-Vernunft an, aus dem vorhandenen Widerspruch beider Auffassungen die
-Ungültigkeit der einen zugunsten der Gültigkeit der anderen folgern
-zu wollen. Die Frage, welche uns diese doppelte Abkunft des Leidens
-und diese doppelte Auffassung, als Urphänomen und bloßes Phänomen mit
-hoher Dringlichkeit stellt, ist vielmehr lediglich folgende: welche
-neue Aufgaben dem religiösen Leben und der religiösen Tat aus dieser
-neuen Auffassung erwachsen, nachdem die Aufgaben, so aus der ersten
-Auffassung sich ergeben, hier zwar nicht eigentlich mit Gründlichkeit,
-immerhin aber mit Grundsätzlichkeit aufgezeigt worden sind.
-
-Bevor wir uns indes dieser sehr ernsthaften Frage voll zuwenden dürfen,
-muß Klarheit obwalten über jene zweite Abkunft des Leidens selbst
-und die darin vertretene Deutung des Bewußtseins als eines Gliedes
-unter anderen Gliedern in der Reihe der Entstehungen. Es muß Klarheit
-obwalten über die Abkunft des Bewußtseins und über das, was der Buddho
-selbst den zwingenden Grund des Bewußtseins nennt. Die Antwort, die
-uns darauf wird, lautet denn auch bündig und schlicht genug: das
-Bewußtsein wird bedingt durch Unterscheidung, -- die Unterscheidung
-wird bedingt durch Nichtwissen! Unterscheidung und Nichtwissen heißen
-demnach die zwei letzten Grundlegungen, die das vorige Urphänomen
-Bewußtsein nunmehr als bloßes Phänomen begreiflich machen sollen. Wer
-sonach jetzt und von hier aus vor der Aufgabe steht, das Bewußtsein zu
-verwinden, wird sie nicht mehr in dem Sinn lösen können, wie sie oben
-gelöst worden ist. Sondern er wird sie neu in Angriff nehmen müssen
-nach Maßgabe der veränderten Stellung des Bewußtseins in der Reihe der
-Entstehungen. Nicht mehr wird er Bewußtsein zu verwinden fähig sein
-durch Steigerung des Bewußtseins, sondern er wird Bewußtsein verwinden,
-indem er Unterscheidung verwindet, und nach verwundener Unterscheidung
-Nichtwissen. Die Verkettung der Ursachen, vorhin lediglich bis zur
-Urtatsache des Bewußtseins entwickelt, wird jetzt übers Bewußtsein
-hinaus zur Unterscheidung entwickelt und über die Unterscheidung hinaus
-zum Nichtwissen, -- bis endlich im Wissen der Gedanke von des Leidens
-Abkunft seine letzte, allerletzte und auch von Buddho selbst nirgends
-überbotene Aufgipfelung erfahren hat...
-
-Wie aber dies, ihr Christen? Was will das heißen: die Unterscheidung
-zu verwinden und nicht mehr zu unterscheiden? Was will das heißen: das
-Nichtwissen zu verwinden und nicht mehr nicht zu wissen? Beruht denn
-nicht jeder Vorgang bewußten Wahrnehmens, bewußten Empfindens, bewußten
-Erfahrens just darauf, daß das annoch ungeschiedene Ineinander und
-Durcheinander erlebter Gegebenheiten durch die Tätigkeit der einzelnen
-Sinneswerkzeuge geschieden, zerlegt, unterschieden wird? Vermögen wir
-überhaupt wahrzunehmen, zu empfinden, wenn wir nicht gleichzeitig die
-Unterscheidung treffen: dies ist Gehör und Schall, dies ist Gesicht und
-Bild, dies ist Getast und Empfindung, dies ist Geruch und Duft, dies
-ist Geschmack und Nährstoff, dies ist Verstand und Gedanke? Scheidet
-und unterscheidet nicht ohne weiteres schon der Vorgang des Wahrnehmens
-alles Wahrnehmbare je nach der Beschaffenheit des wahrnehmenden Organs,
-so daß der Wust gemischter, noch nicht entmischter Sinnesreize sofort
-von Ohr, Auge, Haut, Nase, Zunge, Verstand entmischt wird in das Neben-
-und Nacheinander dessen, was dem Ohr und dem Auge, was der Haut und
-der Nase, was der Zunge und dem Verstand angemessen ist? Ja, hat nicht
-Gotamo in eigener Person Jahrtausende vor dem deutschen Physiologen
-Johannes Müller auf seine Weise das Gesetz von den spezifischen
-Energien der Sinne vorweg geahnt und vorweg genommen, wenn er in
-einer der Reden über die Abkunft seinen Mönchen erläutert: „Durch das
-Gesicht und die Formen entsteht Bewußtsein: gerade ‚Sehbewußtsein‘
-kommt da zustande. Durch das Gehör und die Töne entsteht Bewußtsein:
-gerade ‚Hörbewußtsein‘ kommt da zustande. Durch den Geruch und
-die Düfte entsteht Bewußtsein: gerade ‚Riechbewußtsein‘ kommt da
-zustande. Durch den Geschmack und die Säfte entsteht Bewußtsein:
-gerade ‚Schmeckbewußtsein‘ kommt da zustande. Durch das Getast und
-die Tastungen entsteht Bewußtsein: gerade ‚Tastbewußtsein‘ kommt da
-zustande. Durch das Gedenken und die Dinge entsteht Bewußtsein: gerade
-‚Denkbewußtsein‘ kommt da zustande...“ Wie also dies vom Buddho selbst
-verkündete Gesetz von den spezifischen Energien der Sinne verleugnen
-und wie die notwendige Unterscheidung in spezifische Gegebenheiten
-des Bewußtseins selbst verleugnen? Und um es gleich von vorn herein
-zu gestehen: kaum anderswo läßt Gotamo den, der ihm nachzudenken
-strebt, so sehr im Dunkeln tappen wie gerade hier, wo er im Verfolge
-der Entstehunggeschichte des Bewußtseins eine Forderung erhebt, die
-für Menschen unerfüllbar scheint. Das Bewußtsein stammt aus der
-Unterscheidung, wofern jedes einzelne Sinneswerkzeug und Sinnesgebiet
-ausschließlich jene Reize der Aufnahme und Verarbeitung zuführt,
-auf welche es seinerseit abgestimmt ist und welche es ihrerseit
-wiederum auf sich selber abstimmt. Wie aber unter diesen Umständen
-die Unterscheidung meiden, die unter dem Zwang leiblich-geistiger
-Beschaffenheit getroffen wird? Wie die Zerlegung der Einen Wirklichkeit
-in zahllose Eindrücke und Erscheinungen umgehen, die doch unmittelbar
-mit dem Arbeitvorgang der Sinne als solche zum Vollzug gelangt?
-
-Kaum eine allerschwächste Spur verrät die Richtung, welche die Absicht
-des Buddho hier genommen hat; kaum eine allerschwächste Spur den Weg,
-den hier sein sonst so köstlich unbeirrter Wille einschlug. Aber
-wenn diese Spur auch wirklich fast verweht erscheint im Flugsand der
-Wanderwüste ‚Zeit‘, so wird sie sich vielleicht für unser Auge doch
-etwas verstärken, sobald wir weiterrätselnd uns entsinnen, daß die
-Unterscheidung, aus welcher das Bewußtsein stammt und in welcher das
-Bewußtsein zu verwinden wäre, ihrerseit aus dem Nichtwissen stammt
-und unleugbar den Stempel des Nichtwissens trägt. Gotamo, der die
-Unterscheidung verwirft, die auf der Tätigkeit unserer aufnehmenden und
-verarbeitenden Erkenntniswerkzeuge beruht, verwirft die Unterscheidung,
-weil sie Nichtwissen ist. Die Unterscheidung entsteht ihm aus
-dem Nichtwissen, das Nichtwissen bedingt ihm die Unterscheidung:
-folglich steht ihm groß und unverrückbar der Zielgedanke eines
-nichtunterscheidenden Wissens im Gegensatz zu einem unterscheidenden
-Nichtwissen vor dem innern Blicke! Das mag ein überraschendes, am
-Ende sogar befremdliches Ergebnis sein, welches jedoch manches, wenn
-nicht das meiste von seiner Seltsamkeit abstreifen und verlieren
-dürfte, falls wir abermals weiterrätselnd uns entsinnen, daß eine
-ähnliche Zweiheit einander widersätzlicher Wissensauffassungen auch
-unserer abendländischen Scholastik durchaus vertraut gewesen ist. Auch
-wir abendländischen Menschen kennen seit den Enneaden des Plotinos
-ein Wissen, welches Unterscheidungen setzt und voraussetzt, Merkmal
-nach Merkmal durchläuft, Inhalt nach Inhalt durchmustert, Begriff an
-Begriff reiht, Urteil an Urteil knüpft, Schluß an Schluß kettet, --
-und ein bei weitem anderes Wissen, welches den vollen Weltgehalt zumal
-anschaut und unterschiedlos in eins sichtet. Auch wir abendländischen
-Menschen kennen ein durchlaufendes, aufreihendes, auseinanderfaltendes,
-aneinanderstückendes Wissen, welches unsere Scholastik diskursiv
-genannt hat, und ein ineinanderschauendes, vereinfachendes,
-zusammenfaltendes, unzerstücktes Wissen, welches unsere Scholastik
-simplex genannt hat. Und während nach europäischer Meinung das erstere
-wesentlich dem Menschen und seiner eingeschränkten Vernunft vorbehalten
-blieb, galt das letztere für göttlich. Und wenn dabei der Abendländer
-nicht so weit zu gehen wagte wie der Buddho, der das erstere Wissen
-kurzer Hand als Nichtwissen geringschätzt, ja entwertet, so hat er doch
-in seinen besten Zeiten nie einen Hehl daraus gemacht, wie unendlich
-überlegen das simplexe Wissen Gottes unserm diskursiven Wissen wäre...
-Den _dis-cursus_ also hätte der gotamidische Asket, wenn anders wir mit
-abendländischen Formeln indische Auffassungen bezeichnen dürfen, nach
-besten Kräften zu überwinden, -- wie alles übrigens, was der Lateiner
-mit der Silbe ‚_dis_‘ auszudrücken pflegte. Das _dis_ im _cursus_
-hätte der Asket zu überwinden, um mit dieser endgültigen Überwindung
-das Nichtwissen zu überwinden, das Unterscheiden zu überwinden,
-das Bewußtsein zu überwinden, die Doppelheit Bild-und-Begriff zu
-überwinden, die Berührung zu überwinden, das Gefühl zu überwinden,
-den Durst zu überwinden, das Anhangen zu überwinden, das Werden zu
-überwinden, die Geburt zu überwinden, das Leiden zu überwinden...
-Nichtwissen überwunden habend, würde der Asket zum Wissen aufgestiegen
-sein: als Wissender aber würde er die Erlösung, die Errettung, die
-Entledigung bewirkt haben im Wissen. Was also, ihr Christen, ist für
-den vollkommen Erwachten und Erhabenen -- das Wissen? Was also, ihr
-Christen, ist für den vollkommen Erwachten und Erhabenen das Wissen:
-was ist das Wissen nicht allein für ihn, sondern für jene ganze Welt
-des alten Indiens, die er für uns am weithin sichtlichsten vertritt?
-In der Chândogya-Upanischad ersucht der höchste jener brahmanischen
-Rischis, welche die Hymnen des Veda dichteten und sangen (wie einst
-auch die griechischen Aoiden die Epen des Homeros gedichtet und
-gesungen haben) den Kriegsgott Sanatkumâra um Belehrung. „‚Belehre
-mich, Ehrwürdiger!‘ -- Mit diesen Worten nahte sich Nârada dem
-Sanatkumâra. Der sprach zu ihm: ‚Bringe nur vor, was du schon weißt,
-so werde ich dir das darüber hinaus Liegende kundmachen‘. Und jener
-sprach: ‚Ich habe, o Ehrwürdiger, gelernt den Rigveda, Yajurveda,
-Sâmaveda, den Atharvaveda als vierten, die epischen und mythologischen
-Gedichte als fünften Veda, Grammatik, Manenritual, Arithmetik,
-Mantik, Zeitrechnung, Dialektik, Politik, Götterlehre, Gebetlehre,
-Gespensterlehre, Kriegswissenschaft, Astronomie, Schlangenzauber und
-die Künste der Halbgötter; -- das ist es, o Ehrwürdiger, was ich
-gelernt habe; und so bin ich, o Ehrwürdiger, zwar schriftkundig,
-aber nicht âtmankundig; denn ich habe gehört von solchen, die dir
-gleichen, daß den Kummer überwindet, wer den Âtman kennt; ich aber,
-o Ehrwürdiger, bin bekümmert; darum wollest du mich, o Herr, zu dem
-jenseitigen Ufer des Kummers hinüberführen!‘ -- Und er sprach zu ihm:
-‚Alles, was du da studiert hast, ist nur Name (nâman). Name ist der
-Rigveda, Yajurveda, Sâmaveda, der Atharvaveda als vierter, die epischen
-und mythologischen Gedichte als fünfter Veda, Grammatik, Manenritual,
-Arithmetik, Mantik, Zeitrechnung, Dialektik, Politik, Götterlehre,
-Gebetlehre, Gespensterlehre, Kriegswissenschaft, Astronomie,
-Schlangenzauber und die Künste der Halbgötter, -- das ist alles Name.
-Den Namen mögest du verehren! Wer den Namen als das Brahman verehrt, --
-soweit sich der Name erstreckt, soweit wird dem ein Umherschweifen nach
-Belieben zu teil, darum daß er den Namen als das Brahman verehrt.‘ --
-‚Gibt es, o Ehrwürdiger, ein Größeres als den Namen?‘ -- ‚Wohl gibt es
-ein Größeres als den Namen.‘ -- ‚Das wollest du, o Herr, mir sagen!‘
--- ‚Die Rede (_vâc_), fürwahr, ist größer als der Name‘...“ Die Rede
-ist größer als der Name: der vernünftige Wille (_manas_) aber größer
-als die Rede, fährt der Kriegsgott Sanatkumâra in seiner Erläuterung
-fort. Und wiederum ist der Entschluß (_samkalpa_) größer als der
-vernünftige Wille; der Gedanke (_cittam_) größer als der Entschluß; die
-Innenbetrachtung (_dhyânam_) größer als der Gedanke; die Erkenntnis
-(_vijñânam_) größer als die Innenbetrachtung; die Kraft (_balam_)
-größer als die Erkenntnis; die Nahrung (_annam_) größer als die
-Kraft; das Wasser (_âpas_) größer als die Nahrung; die Glut (_tejas_)
-größer als das Wasser; der Äther (_âkâça_) größer als die Glut; die
-Erinnerung (_smara_) größer als der Äther; die Hoffnung (_âçâ_) größer
-als die Erinnerung; das Leben (_prâna_) größer als die Hoffnung; die
-Unbeschränktheit (_bhûman_) größer als das Leben und alles übrige...
-
-Wir setzen hier beiseit die Wunderlichkeit in dieser sechzehnfach
-gestaffelten Führung zum ‚echten‘ Wissen, zum Brahman-Bhûman-Wissen.
-Wir setzen beiseit diesen für unser abendländisches Verständnis
-haltlosen und haltunglosen Wechsel von seelischen Grundbeschaffenheiten
-und Haupteigenschaften zu welthaften Urgegebenheiten und Urstoffen und
-wiederum von diesen zu jenen zurück, ehe über das alles die Woge der
-Allschrankenlosigkeit hinwegspült. Dies und was sonst noch hierher
-gehört, ihr Christen, lassen wir beiseit und fragen uns erst alsdann
-dringend: Was ist nach dieser heiligen Urkunde -- Wissen? Und was ist
-nach dieser Urkunde Wissen -- nicht? Das Wissen ist eine Emporstufung,
-Empormenschung, Emporgottung hier, ihr Christen: das ist der klare Sinn
-der Antwort, die der Kriegsgott sowohl dem fragenden Brahmanen wie dem
-fragenden Abendländer zu geben geruht. Was an Erfahrung, Forschung,
-Einsicht, Kenntnis, Urteil, Gedanke, Prüfung, Tatsache und Gesetz
-dieser Emporstufung zu dienen geeignet ist, ist Wissen. Was jedoch
-lediglich um seiner selbst betrieben wird, was der Anhäufung bloßer
-Gelehrsamkeit förderlich sein soll, das ist Wissen nicht, das ist ganz
-einfach Nichtwissen. Es kann einer alles wissen, was im Umkreis einer
-angetretenen Menschheitgesittung überhaupt zu erwerben ist, und es kann
-einer im Vollbesitz sein sämtlicher Kenntnisse auf theologischem und
-kosmologischem, auf philosophischem und logischem, auf mathematischem
-und grammatischem, auf astronomischem und astrologischem, auf rituellem
-und theurgischem, auf historischem und ästhetischem, auf strategischem
-und politischem Gebiet, -- und vor Gott Sanatkumâra weiß er nichts
-als die Namen und ist wie der Brahmane Nârada innig von seiner
-Unwissenheit durchdrungen. Nicht darum zwar von ihr durchdrungen, weil
-er sich überzeugt hätte von der grundsätzlichen Unvollständigkeit
-und Ergänzungbedürftigkeit des Wissens überhaupt oder gar von der
-Unzulänglichkeit und Begrenztheit der menschlichen Vernunft. Vielmehr
-darum, weil er erfahren hat, daß alles erreichbare Wissen auch bei
-massenhafter Aneignung nicht schon von sich aus den Wissenden auf einen
-würdigeren Zustand hebt. Das Wissen ist keine Tugend und ist noch
-weniger ein Heil oder das Heil. Aber es liegt im Begriff des Wissens,
-wie er hier gefaßt und vertreten wird, zur Tugend, ja zum Heil zu
-führen. „Denn ich habe gehört von solchen, die dir gleichen, daß den
-Kummer überwindet, wer den Âtman kennt, ich aber, o Ehrwürdiger, bin
-bekümmert!“... Wer also noch bekümmert ist, wer noch am Dasein krankt,
-wer seine Angst noch nicht verlernte, wer noch unterm Schicksal seufzt,
-der ist noch nicht ein Wissender geworden, selbst wenn er alles weiß.
-Wer nach Erwerb des Wissens menschlich auf der Stufe des Unwissenden
-verharrt, der zählt nicht zu den Wissenden; wer im Genuß des Wissens
-des Lebens noch nicht Rat weiß, der ist kein Wissender. Er gleicht
-da etwa einem Geizigen, der das Geld sammelt, aber nicht in Umlauf
-setzt. Oder einem Kranken, der die Arznei schluckt, aber nicht an ihr
-genest. Oder einem Zecher, der den Wein schlürft, aber durch ihn nicht
-fröhlicher wird. Ob mithin wirklich einer wisse oder nicht wisse, das
-hängt davon ab, in welchen Zustand ihn das Wissen brachte. Wie das Geld
-erworben wird, um umgesetzt zu werden, wie die Arznei genommen wird,
-um Gesundheit zu bringen, wie der Wein getrunken wird, um sorgenfrei
-zu machen, so soll das Wissen gewußt werden, um den Wissenden als eine
-menschliche Steigerung und Erhöhung des Unwissenden zu verwirklichen.
-Und diese Auffassung des Wissens ist eine so eingefleischt indische,
-daß es beinahe gleichgültig ist, ob das Gespräch zwischen Nârada
-und Sanatkumâra in den Upanischaden aufgezeichnet steht oder in den
-Reden Gotamo Buddhos: es könnte ebensogut hier geschrieben stehen,
-als es in der Tat dort geschrieben steht. Unter allen Umständen
-hätte der Buddho dem Frager dem Sinne nach dieselbe Antwort gegeben
-wie der vedische Kriegsgott, auch wenn er selbstverständlich die
-Aufwärtsstufung im einzelnen beträchtlich anders geführt hätte und
-wirklich auch anders geführt hat. Bewährt sich doch auch ihm im
-Gegensatz zum Nichtwissen das Wissen nur dadurch, daß es das Leiden
-verwindet und dem Wissenden das lösende Wort zu sprechen gestattet:
-„Nicht mehr, o Ehrwürdiger, bin ich bekümmert!“... Und so gehört es
-zu den unwiderleglichen Zeugnissen der tiefgewurzelten Einheit und
-Einheitlichkeit aller indischen Religionen, daß ihnen im wesentlichen
-die Leistung des Wissens stets die nämliche und gleiche bleibt. Wo
-das Wissen nicht zur Erlösung aufsteigen läßt, hat es seinen wahren
-Zweck verfehlt, der im Gegensatz zu unserer abendländischen Auffassung
-nicht das Wissen selbst ist, sondern die Beschaffenheit und der Rang
-des Wissenden. Wir Europäer haben ja mit der Gebärde unwillkürlicher
-und darum auch untrügerischer Selbstoffenbarung über unser Wissen das
-Wort gesprochen: Wissen ist Macht, Wissen ist Bewältigung, Wissen ist
-Beherrschung, -- aber wohlbemerkt nicht unserer selbst, sondern der
-Natur! Mit einer nicht minder offenbarenden Geste hat der gotamidische
-und der vedische Mensch, und das ist in manchem Betracht schon fast
-der asiatische Mensch, das Gegenwort verlautbart: Wissen ist Erlösung,
-Wissen ist Errettung, Wissen ist Überwindung, -- aber nicht der Natur,
-sondern unserer selbst! Diese Einstellung ist eine gesamtindische und
-bringt sich der europäischen Einstellung gegenüber mit einer ebenso
-großartigen wie eintönigen Strenge zur unbedingten Geltung. Und wenn
-Indien bis zu dieser Stunde von dem unmenschlichen Bruderzwist zwischen
-Religion und Philosophie, zwischen Glauben und Wissen, zwischen Kirche
-und Schule, zwischen Weisheit und Wissenschaft, zwischen Erziehung
-und Unterricht, zwischen Bildung und Gelehrsamkeit, zwischen Seele
-und Geist, zwischen Geistigkeit und Geistlichkeit verschont geblieben
-ist, dann verdankt es diese höchste Gunst und Gnade nicht zum
-wenigsten seiner Auffassung vom Wissen, die für solche Zuspitzungen,
-Gegensetzungen, Ausschließungen keinen Vorwand liefert. Wie nach des
-Buddho geflügelter Redeformel ‚im Erlösten die Erlösung ist‘, -- ‚ψυχὴ
-οἰκητήριον δαίμονος‘ heißt es gleichsinnig bei Demokritos von Abdera!
--- so ist im Wissenden das Wissen, dient es dem Wissenden, fördert es
-den Wissenden, bringt es Heil dem Wissenden.
-
-In dem Gespräch zwischen Nârada und Sanatkumâra ist das Sanskritwort
-‚_dhyânam_‘ gefallen, welches ich etwas eigenmächtig mit
-‚Innenbetrachtung‘ wiederzugeben mich erdreistet habe, indes es von
-Deussen unverbindlicher mit ‚Sinnen‘ verdeutscht wird. Wohlan denn!
-Dieses _dhyânam_, das unter den sechzehn Staffeln des Wissens eine
-einzige bedeutet und bezeichnet, die zwischen Gedanke (_cittam_) und
-Erkenntnis (_vijñânam_) ihre Stelle hat, -- dieses _dhyânam_ umspannt
-dem Buddho geradezu alles wesenhafte Wissen selber, wofern es in
-Wahrheit dem Wissenden die Erlösung bringt. Dieses _dhyânam_, nur
-wenig abweichend _jhânam_ in der Mundart des Pâli lautend, erschöpft
-in sich genau die Emporstufung des Wissens, die der Wissende in sich
-vollziehen muß. _Jhânam_, das ist die erlernte und geübte Fähigkeit
-der Seele, sich ohne Ablenkung auf sich selbst zu sammeln, in sich
-selbst hineinzusenken, unter sich selbst hinabzutauchen, sich in sich
-selbst zu verankern, in sich selbst zu feiern, in sich selbst zu
-andächtigen, sich in sich selbst zu einigen... Wie der römische Augur
-auf der grenzenlosen Erdfläche sich ein Viereck herausschnitt, welches
-er bei seiner vorsätzlichen Auskundung der Götterzeichen betrat und
-_templum_ nannte; wie derselbe Augur nicht allein aus dieser Erde,
-sondern obendrein aus dem unendlichen Himmel mit seinem Krummstab
-ein Stück abermals als das _templum_ herausschnitt, innerhalb dessen
-Gottes Blitz und Donner recht eigentlich erst gelten sollte, -- so
-schneidet Gotamo aus der unbegrenzbaren Erden- und Himmelsfülle aller
-Wißbarkeiten und Gewißheiten einen heiligen Bezirk heraus, um darin
-jenes Wissen, welches allein not tut, gleichsam zum Vollzug zu bringen.
-Von dem _templum_ römischer Auguren leitet sich sprachlich das Zeitwort
-_contemplari_ her, welches somit in seinem ursprünglichen Sinn nichts
-anderes bedeutet als „den heiligen Bezirk auf der Erde und am Himmel
-mit dem Blick einfassen“, -- welches somit in seinem ursprünglichen
-Sinn nichts anderes bedeutet als eben diese Tätigkeit, welche sich der
-Buddho als das _jhânam_ angelegen sein läßt: nur anstatt nach außen
-streng nach innen hin gewendet. Mit dem Blick einfassen den heiligen
-Bezirk, der sich hier zwar nicht am Himmel oder auf der Erde, aber
-in der Seele selbst befindet, und den jeder in sich selbst als sein
-eigener Zeichendeuter abzustecken fähig ist, das heißt das _jhânam_
-üben, heißt Andacht, Versenkung, Einkehr bewirken. So verstanden war es
-schließlich mehr als ein purer Zufall, wenn europäische Gelehrte das
-buddhistische _jhânam_ nicht selten mit der lateinischen _contemplatio_
-übersetzten. Denn diese Römer, von sämtlichen bekannten Völkern des
-sogenannten Altertums die ärmlichsten an Religion und dennoch das
-Wort _religio_ prägend („_Vinculo pietatis obstricti Deo et religati
-sumus, unde ipsa religio nomen accepit_“), -- sie prägen auch den
-Sprachausdruck _contemplatio_, obschon von sämtlichen bekannten
-Völkern des Altertums am wenigsten mit der Neigung zu dieser irgendwie
-behaftet. Was alsdann bei ihnen nach auswärts gerichtet _contemplatio_
-heißt, ist im Buddhismus nach einwärts gerichtet _jhânam_, und wie
-jenes _templum_ in seiner Ausdehnung durch vier sich schneidende Gerade
-bestimmt wird, ist das _jhânam_ in seiner Hinaufstufung durch vier
-ansteigende Grade bestimmt. Vier Grade oder Weihen innerlicher Schauung
-gibt es, ja vier Schauungen oder _jhânâni_ selber gibt es, die in den
-Reden stets mit derselben formelhaften Wendung wiederkehren: in den
-berühmten vier _jhânâni_ staffelt der Buddho das Wissen in die Höhe,
-welches zuletzt mit der Erlösung eins ist.
-
-Noch liegt bei dem ersten _jhânam_ aller Nachdruck darauf, daß
-jene oben erörterte Bemeisterung des Vorstellungablaufs wirklich
-erworben werde. Alles kommt auf die zielbewußt geübte Handhabung der
-auftauchenden und versinkenden Bewußtseinsinhalte an, so zwar, daß
-eine Absonderung, Entfernung, Loslösung, Verabseitigung, Abriegelung
-von allen Gegebenheiten des Erlebens geschieht, die dem Heil
-hinderlich sein könnten. In einer Art von sehr tätigem, sehr wachsamem
-Vergessenkönnen besteht dieser erste Grad der Selbstvertiefung, welcher
-den Zustand des Nichtwissens, Nochnichtwissens allmählich in den des
-Wissens überleiten soll. Der andachtsame Mönch wirft einen hohen Wall
-um sich und zieht einen breiten Graben um sich, die beide ihn wie eine
-Festung von der unbehüteten Außenwelt abschließen und vor feindlichen
-Überrumpelungen bewahren sollen. In dieser Festung widmet er sich dann,
-ungestört durch allfallsige Eindrücke oder Empfindungen, die ihn von
-außen her zu beschäftigen oder gar zu überwältigen drohen, dem Sinnen
-und Gedenken, dem Erwägen und Ermessen, dem Betrachten und Überlegen
-aller der Gewißheiten, die ihm die heilige Lehre gewährt. Was ihm nicht
-angehören darf, wirft er über diesen Wall, wie ein Gärtner etwa einen
-Glasscherben über die Gartenmauer wirft, auf den sein Spaten beim
-Umstechen des Bodens gestoßen ist. Was ihm den Frieden stört, was sein
-Gemüt bedrückt, was seine Heiterkeit trübt, das ersäuft er in diesem
-Graben, wie ein Kind etwa einen Sack voll frischgeworfener Katzen im
-Bach ersäuft, die nicht aufgezogen werden können. ‚Geboren aus der
-Abgeschiedenheit‘, verdeutscht ein zeitgenössischer Gelehrter mit
-verständlicher (und verständiger) Anspielung auf die Mystik Eckharts
-den Ausdruck _vivekajam_ in den heiligen Texten, -- ausnahmweis,
-wie mich bedünkt, ein wenig sinnfälliger und sprechender noch wie
-Karl Eugen Neumann, der dafür das mattere ‚ruhegeboren‘ hat. Geboren
-aus der Abgeschiedenheit, will sagen geboren aus der Abscheidung
-und Abstreifung aller seelischen und körperlichen Fesseln ist das
-erste _jhânam_, welches den Nichtwissenden zum Wissenden befördert
-und alsbald durch eine Anstrengung geringeren Grades ins zweite
-_jhânam_ überführt. Denn diese Abscheidung und Abstreifung einmal
-vollzogen habend, braucht der Andachtwillige von jetzt an weniger
-darauf gerichtet zu sein, das Unheilsame vom Raum des Bewußtseins
-fernzuhalten, als vielmehr den jetzt errungenen Zustand zu genießen.
-Hat sich der Mönch die erste Weihe selber durch andauernde Übungen
-abgezwungen, hat er den Vorstellungablauf völlig in seiner Gewalt
-und vermag er mit höchster Sammlung bei den Heilsgewißheiten der
-Lehre zu verweilen, so entläßt er nun, der zweiten Weihe mächtig,
-sämtliche Erwägungen dieser Art, etwa wie ein Gebieter und Fürst seine
-Beauftragten entläßt, deren Dienste er weiter nicht benötigt. Herr
-und Herrscher nunmehr im Haus seiner Triebe und Begierden, Herr und
-Herrscher sogar über alle Wahrnehmungen und Vorstellungen, Denkinhalte
-und Erkenntnisvorgänge, stimmt er ganz rein mit sich selber überein.
-Wie wenn zwei feindliche Heere, die einander mit Erbitterung und
-Haß bekämpfen, indes ihre Häupter doch schon über Waffenstillstand
-und Frieden verhandeln, plötzlich verständigt werden von der
-Unterschreibung der Verträge, und jetzt eine erschütternde Kampf- und
-Feuerpause eintritt zur unermeßlichen Freude aller: so kehrt hier im
-Innern des hart streitenden Mönchs der Friede mit ihm selber ein zu
-seiner unermeßlichen Besäligung. Jene Meeresglätte und Windstille der
-Seele auf großer Fahrt nach schauerlichen Stürmen stellt sich ein, die
-sogar dem seelenfremden Abendländer seit dem γαλενισμός des großen
-Demokritos und des kleineren Epikurios nicht völlig unbekannt sein
-dürfte, -- wenigstens geschichtlich nicht. Aus der Einigung mit sich
-selbst geboren, ja in der Einigung mit sich selbst geboren, wie Neumann
-übersetzt, ist die zweite Schauung der vier _jhânâni_, welche den
-Andächtigen in den Genuß mühsälig erkämpfter Güter setzt. Ein reifes,
-sattes, reiches Säligkeitgefühl beginnt von da an wie von der Mitte des
-Gemütes her den Körper des Andächtigen in linden Wellen zu durchströmen
-und ohne Rest gleichsam zu durchsüßen, ähnlich wie eine Flüssigkeit
-von einem aufgelösten Stückchen Zucker ohne Rest durchsüßt wird. Die
-erstrittene Ruhe wird nicht mehr, wie noch kurz vorher, als Ausgleich
-und Entspannung vorangegangener Spannungen empfunden, sondern als der
-selbstverständliche, angemessene und würdige Urstand des Daseins.
-Wie die heftigen Stöße des stampfenden und zuckenden Herzens in dem
-feinröhrigen Adergeflecht des Blutes mählig zu kaum spürbaren Pulsen
-sanft verebben, so verebbt dann das klingende Gefühl der Besäligung
-der zweiten Schauung in der dritten zum unbewegten Gleichmut. „Der
-gleichmütig Einsichtige lebt beglückt“, -- er lebt beglückt im
-Gleichmut seiner Einsicht und Besonnenheit, im Gleichmut seiner
-Einigung und Stillung. Bis dann nach Durchlebnis der drei _jhânâni_ das
-vierte _jhânam_ von ihnen sich dadurch auszeichnet, daß es vollkommen
-befreit erscheint von jeder Gefühlsbetontheit, und sei sie auch
-die leiseste, nach der Lust- oder Unlustseite hin. Was bisher der
-Andächtige etwa noch als Beglückung, Aufheiterung, Besäligung genossen
-hat, ja was ihn möglicherweis dazu verleitete, das wesentliche Ziel
-seiner Selbstvertiefung in solchen Lustgefühlen zu vermuten, -- das
-alles muß in diesem vierten _jhânam_ auf Nimmerwiedersehn und bis auf
-die letzte Spur verschwinden. „Das aber nenn’ ich, Udâyî, unzulänglich,
-und sage ‚Verwerft es‘, sage ‚Überwindet es‘“... Begleitende Gefühle
-lustvoller oder leidvoller Tönung und Beschaffenheit werden hier
-nicht länger geduldet und die Seelenzone des Gefühls wird überquert
-und überschritten. Wie ein Hochgebirgserkletterer am Fuß der Alpen
-noch in den Wäldern der benachbarten Ebene rüstig dahin wandert,
-dann aber in einen Gürtel hineingerät von nur noch zwerghaftem und
-verkrüppeltem Baumwuchs, schließlich inmitten eine halbe Wüste
-gelangt von baumlosen Matten und mit allerlei Buschwerk, Strauchwerk
-inselhaft bestanden, zuletzt aber, nachdem er einen mit vielerlei
-Geröll bestreuten Moos- und Flechtenteppich überturnt hat, auf nackten
-Gletschern und an kahlem Firn mühsam hinaufstrebt und die wirtliche
-Breite pflanzlichen Wachstums hinter sich und unter sich läßt, -- also
-läßt der Mönch der vierten Weihe die Welt der Gefühle hinter und unter
-sich. Aug’ in Auge mit ihm selber und vielleicht nicht einmal mehr mit
-ihm selber, sondern mit einem unsäglichen und nicht zu benennenden
-Etwas, verweilt er ohne Freude und Leid, ohne Frohsinn und Trübsinn,
-ohne Wonne und Schmerz. Denn wo solche Gefühle entstehen, entstehen
-sie als Rückäußerungen des Gemüts auf die ständige Wechselwirkung
-zwischen Ich und Nichtich, zwischen Selbst und Welt, zwischen Seele
-und Wirklichkeit, zwischen Bewußtsein und Sein, zwischen Bedürfnis
-und Erfüllung, zwischen Forderung und Leistung. Das _templum_ dieser
-Wechselwirkung aber, wo der Austausch zwischen der Persönlichkeit
-und ihrer Umwelt stattzufinden pflegt, ist jetzt geräumt und das
-_templum_ vollkommener In-sich-Beharrung feierlich betreten. Längst
-dringen von der Außenwelt keine Reize mehr über die Schwelle, deren
-Wert und Größe vom selbstvertieften Mönch gleichsam selbsttätig
-auf Unendlich erhöht ward, damit ein Zustrom von außen nach innen
-überhaupt nicht mehr stattfände. In einer höchsten Anspannung des
-Gemütes sperrt der Mönch alle die Zeichengebungen und Meldungen und
-Botschaften, die sonst von sämtlichen Wesen der Welt grundsätzlich an
-sämtliche Wesen der Welt ergehen, und er selbst gleicht einer Station
-für Funkspruch, die zwar einen vorzüglich wirksamen Sender aufweist,
-aber des Empfängers entbehrt. Drum also ist das _templum_, sag’ ich,
-einer unerbetenen Empfängerschaft von Eindrücken aus der Wirklichkeit,
-durch welche vielleicht schlummernde Gefühle aufgeschreckt und in
-fiebrige Bewegung gesetzt werden könnte, von jetzt an geräumt und das
-_templum_ regloser Seelenstarre friedlich betreten: das _templum_, wo
-der Mönch sein eigen Stand- und Steinbild, so er in Vollkommenheit
-von sich gemeißelt, still verehrt... Und wie unsere transzendentale
-Philosophie nach dem Vorgang Kants die Vernunft ‚rein‘ genannt hat,
-wofern sie sich unbeeinflußt durch äußerliche Reize selbst bestimmt
-und selbst Gesetze auferlegt, so nennt der Buddho den Andächtigen
-dieser vierten Schauung ‚rein‘, wofern er sich von allem Anders-Sein
-unberührt und ungerührt, unversehrt und unverstört, unbenetzt und
-unbespritzt zu halten und erhalten weiß, -- nunmehr in eigener Person
-nicht zwar geradezu ‚reine Vernunft‘ geworden, aber immerhin ein
-reines erkennendes und wissendes Vermögen und Verhalten geworden.
-Denn was geschah nun eigentlich, ihr Christen? Was geschah mit dieser
-unendlich schwer zu vollbringenden, aber schlechthin unerläßlichen
-Emporstufung zu den vier gotamidischen _jhânâni_? Die Erzeugung und
-Hervorbildung eines neuartigen und vorher noch nicht vorhandenen
-Organon geschah, ihr Christen. Die Erzeugung und Hervorbildung eines
-Werkzeuges, welches der Buddho unbedingt für notwendig erachtet,
-um Nichtwissen endgültig in Wissen überzuführen. Durch die stätig
-vervollkommnete Übung der vier Stufen der Selbstversenkung trachtet
-der Buddho ein erkennendes Vermögen, ja geradezu einen ‚Sinn‘ zu
-erschaffen, der imstand wäre, dasjenige Wissen zu erwerben, welches
-ihm vor allem andern Wissen heilsam zu sein scheint. In demselben Maße
-nämlich, als der Mönch sich in sich selbst vertiefend die Quellen
-jener äußeren Erfahrung verstopft, aus denen wir Abendländer fast
-unser gesamtes Wissen und sicherlich unsere gesamte Wissenschaft zu
-schöpfen pflegen, -- in eben dem Maß beginnen sich ihm verborgene
-Quellen zu erschließen, deren sehr fernes, raunendes Gemurmel sein
-ungemein geschärftes Ohr näher bald und näher vernimmt. Wer in der
-vierfachen Selbstvertiefung stark geworden ist, hat tatsächlich einen
-neuen Sinn derart gehärtet und gestählt, daß er wie ein Bohrer in den
-Händen eines Gesteinkundigen vortrefflich gebraucht werden kann, eine
-unterirdische Ader metallreicher Erze nach der andern genau an der
-richtigen Stelle anzubohren. Wissend geworden in sich selber und von
-sich selber, dann aber durch dieses Wissen irgendwie höherer Mensch
-geworden, Selbstbefreier, Selbsterretter, Selbsterlöser, vermag dieser
-Mönch vor allen Dingen -- sich zu erinnern. Erlösendes und erlöstes
-Wissen ist auch hier (und hier erst recht) Erinnerung: in dieser
-allgemeinen Formel begegnet sich Gotamo wirklich mit den tiefsten
-Einsichten der europäischen Philosophie von Platon bis auf Bergson,
--- vorausgesetzt, daß diese tiefste Einsicht nicht auf irgendwelchen
-Umwegen dem mittelmeerbefahrenden, mittelmeerabenteuernden Platon aus
-dem Osten zugetragen worden ist. Das Wissen also ist Erinnerung, und
-zwar Erinnerung im Unterschied und Gegensatz zum bloßen Gedächtnis
-durchaus zu verstehen als ἀνάμνησις etwa im Unterschied und Gegensatz
-zur bloßen μνήμη, oder als _souvenir-image_ im Unterschied und
-Gegensatz zur bloßen _mémoire_. Der höhere Mensch erinnert sich,
-der höhere Mensch vermag sich zu erinnern! Wenn kürzlich noch bei
-uns Europäern ein Denker immerhin von dem Rang Weiningers diese
-mehr wie rätselhafte Fähigkeit der Seele, Gewesenes als daseiend,
-Vergangenes als gegenwärtig nach Belieben gleichsam zu wiederholen oder
-zutreffender vielleicht noch ‚wieder zu holen‘, schlechterdings als
-Merkmal und Kennzeichen überhaupt des höheren Menschen namhaft macht:
-dann bekräftigt, dann bestätigt er auf seine Weise nur, was für den
-Buddho von jeher unerschütterlich feststand. Nach Weininger ist es
-gleichsam die Gnade des höheren Menschen, sich erinnern zu können, und
-zwar sich erinnern zu können im wesentlichen seines eigenen Selbst,
-seines eigenen Erlebens. Der höhere Mensch lebt und hat gelebt, nicht
-um zu vergessen, sondern um bei beliebigen Anlässen die Bilder dieses
-Lebens in aller urwüchsigen Frische und Sinnfälligkeit gleichsam
-aus dem Schlaf zu rütteln. Derart sich jederzeit zu erinnern wissen
-der eigenen Lebensalter und Lebensstufen, der vollen und leeren
-Augenblicke, der wichtigen und nichtigen Begebenheiten, der Taten und
-der Leiden, der Genüsse und der Schmerzen; derart die schöpferische
-Neuvergegenwärtigung, Wiederverlebendigung vergangenen Geschehens
-willkürlich betreiben zu können: das hieße nach Otto Weiningers
-Dafürhalten menschlich vor anderen Menschen minderer Erinnerlichkeit
-als ‚bedeutend‘ hervorragen... Der mit Erinnerung Begnadete ist
-‚genialisch‘, und just diese ungewöhnliche Auffassung begegnet sich
-mit der tiefsten Selbsterfahrung, die Gotamo mit sich machte. Daß der
-Asket sich aller seiner Lebensumstände bis in die geringste Einzelheit
-hinein aufs lebhafteste und untrüglichste erinnere, das ist der
-erste, vollwichtige Ertrag der vier _jhânâni_, -- das ist das erste
-gewissermaßen ‚heilige‘ Wissen. Indischer Denk- und Betrachtungweise
-gemäß kann dies freilich nichts anderes besagen wollen, als daß eben
-der Asket Erinnerung erworben, Erinnerung erbohrt habe an seine
-sämtlichen ehemaligen Verkörperungen und Lebensläufe, die er je und je
-durchlitten. „Solchen Gemütes, innig, geläutert, gesäubert, gediegen,
-schlackengeklärt, geschmeidig, biegsam, fest, unversehrbar, richtet
-er das Gemüt auf die erinnernde Erkenntnis früherer Daseinsformen. So
-kann er sich an manche Daseinsform erinnern, als wie an ein Leben,
-dann an zwei Leben, dann an drei Leben, dann an vier Leben, dann an
-fünf Leben, dann an zehn Leben, dann an zwanzig Leben, dann an dreißig
-Leben, dann an vierzig Leben, dann an fünfzig Leben, dann an hundert
-Leben, dann an tausend Leben, dann an hunderttausend Leben, dann an
-die Zeiten während mancher Weltenentstehungen, dann an die Zeiten
-während mancher Weltenvergehungen, dann an die Zeiten während mancher
-Weltenentstehungen-Weltenvergehungen. ‚Dort war ich, jenen Namen hatte
-ich, jener Familie gehörte ich an, das war mein Stand, das mein Beruf,
-solches Wohl und Wehe habe ich erfahren, so war mein Lebensende; dort
-verschieden trat ich anderswo wieder ins Dasein: da war ich nun,
-diesen Namen hatte ich, dieser Familie gehörte ich an, dies war mein
-Stand, dies mein Beruf, solches Wohl und Wehe habe ich erfahren, so
-war mein Lebensende; da verschieden trat ich wieder ins Dasein‘: so
-erinnert er sich mancher verschiedenen früheren Daseinsform, mit je den
-eigentümlichen Merkmalen, mit je den eigentümlichen Beziehungen.“
-
-Nach Begängnis der vier _jhânâni_ weiß also der Mönch sich zu erinnern
-an jeden Urstand, jeden Umstand seines Lebens in allen Verkörperungen.
-Diese Gnade des Erinnerns ist der Gewinn geübter Selbstvertiefung,
-ist der Gewinn des nunmehr Geweihten, Bewährten, Wissenden. Und
-diese nicht zu überbietende Einschätzung der Erinnerung ist nicht
-etwa als eine bloße Eigenheit oder gar eine Schrulle des Buddho
-zu betrachten, sondern gehört offenbar dem geistigen Stammbesitz
-indischer Wertungen überhaupt an. Auch in der Bhagavad-Gîtâ ist es
-die Gabe der Erinnerung, welche den göttlichen Vorzug des _bhagavân_
-Krischna ausmacht. Eine sicherlich uralte Auffassung, die eben im
-Krischna-Mythos selbst eine überaus sinnige Darstellung gefunden
-hat. So wenn berichtet wird, daß der blonde Gott im Garten seiner
-Gattin Satyabhâmâ den himmlischen Korallenbaum gepflanzt habe, den
-er einstmals als Kampfpreis davongetragen hatte: „einen Baum, dessen
-tiefrote Blüten viele Meilen in der Runde ihren Duft verbreiten. Wer
-aber von diesem Duft eingesogen, der erinnert sich in seinem Herzen
-langer, langer Vergangenheit, längst entschwundener Zeiten, in früheren
-Leben.“ Auf eine sehr erfahrene Art, welche insonderheit die große
-Bedeutsamkeit der Gerüche für die Erinnerung durchaus erfaßt zu haben
-scheint, wird hier die Fähigkeit der Wiedervergegenwärtigung bereits
-verklungenen Geschehens im Bewußtsein als ein Geschenk des Lebens-
-und Erkenntnisbaumes an den Menschen versinnbildlicht: wobei übrigens
-im Unterschied zum Alten Testament noch beide Bäume eines Stammes,
-einer Wurzel, einer Krone sind... Erinnerung gewinnen, das geht mithin
-schon sehr weit in die göttlichsten Vorrechte der Himmlischen hinein.
-Und wiederum: Erinnerung verlieren, gilt als Verlust von kaum zu
-ermessender Härte und Schwere, -- was sich besonders der europäische
-Leser der Sakontalâ gesagt sein lassen möge, wenn anders er den Fluch
-der Erinnerunglosigkeit wirklich erfühlen will, der hier den liebenden
-König Duschyanta trifft... Indes der Grieche Lethe trinkt, saugt der
-Inder den Duft des himmlischen Wunsch- und Weltbaumes ein; dem einen
-gilt Vergessen und dem anderen Erinnerung als die höchste Wohltat. Und
-sogar der Pessimist Gotamo ist so wenig Grieche und so sehr Sohn seines
-heimischen Weltteils, daß auch er Erinnerung statt Vergessenheit wählt.
-Zwar vermögen wir ihm leider ja (es sei denn, daß wir Anthroposophen
-sind!) in der Art und Weise nicht zu folgen, wie er mit Asketen
-die Erinnerungen aufsteigen läßt an hundert Leben, tausend Leben,
-hunderttausend Leben zwischen Weltenentstehungen und Weltenvergehungen.
-Denn uns selbst pflegt hier jedwede brauchbare Erfahrung zu mangeln und
-schon darum steht es uns nicht frei, dem Buddho billigend zu folgen
-oder mißbilligend die Nachfolge zu verweigern. In einem aber, deucht
-mich, hat er auch jetzt wieder den Sachverhalt der Erinnerung geradezu
-ins Herz getroffen: Erinnerung ist, wie wir sie auch deuten mögen,
-eine Vervielfältigung dessen, der sich zu erinnern vermag, -- und in
-dieser Rücksicht freilich die Häufung zahlloser Lebensstufen in diesem
-jetzigen und einmaligen Leben. Vervielfältigt um die unausdenkliche
-Zahl seiner Ahnen und Urahnen ist in Wahrheit das erinnernde
-Einzelwesen, wenn wir, Erinnerung im Sinn unserer europäischen
-Naturerkenntnis (und damit allerdings eher doch als μνήμη wie als
-ἀνάμνησις, eher doch als _mémoire_ wie als _souvenir-image_, eher doch
-als Gedächtnis wie als Erinnerung) nehmend, unter ihr zum Beispiel
-alle sogenannten Dispositionen oder Instinkte verstehen dürfen,
-welche jeden lebendigen Vertreter seiner Art um sämtliche erworbenen
-Anlagen und Geschicklichkeiten seiner Art bereichert zeigen. Denn im
-Kerngerüst der unsterblichen Keimzelle samt ihren Vererbungträgern
-lebt ja doch das Leben aller Eltern und Vorfahren genau so fort wie in
-der Grundrichtung der angeborenen Triebe, -- und fort mit ihrem Leben
-leben ihre Werke und Taten, ihre Gesinnung und Zielstrebigkeit, ihre
-Erfahrungen und Listen, ihre Verteidigungmittel und Angriffwerkzeuge,
-ihre Weisheit und Vorsicht, ihre Tugenden und Laster. Und ebenfalls
-vervielfältigt um die unausrechenbare Zahl seiner Ahnen und Urahnen
-ist das erinnernde Einzelwesen, wenn wir, Erinnerung etwa im Sinn des
-biogenetischen Grundgesetzes nehmend, unter ihr die (abkürzende)
-Wiederholung der Verkörperung- und Erscheinungformen verstehen wollen,
-welche der Keim während seines Wachstums vom befruchteten Ei bis zum
-fertigen Geschöpf zu durchlaufen pflegt in Nachahmung der Verkörperung-
-und Erscheinungformen des ganzen Stammes: in den Kiemen einer
-menschlichen Frucht oder in ihrem Stummelschwänzchen blitzt sozusagen
-eine Erinnerung auf an Echse, Fisch und Säugetier und mit ihr ein
-gestalthaftes Gedenken an so manche Weltenentstehung, Weltenvergehung
-zwischen Trias, Jura und Alluvium, zwischen Kalkstein, Malm und
-Schlick; -- derart sehn wir noch unseren Menschenleib (wie ich schon
-sagte) dem Totemismus huldigen, auch wenn von ihm der Menschengeist
-schon längst nichts mehr wissen sollte. Und abermals und letztmals
-vervielfältigt um die unnennbare Zahl seiner Ahnen und Urahnen ist
-das erinnernde Einzelwesen, wenn wir Erinnerung endlich nehmen im
-Sinn der forschenden und dichtenden Geschichte (und jetzt allerdings
-wirklich als _souvenir-image_, jetzt wirklich als ἀνάμνησις) und
-unter ihr jenes künstlich-künstlerische Nacherleben in der Einbildung
-verstehen, welches uns Spätlinge in allen Jahrtausenden der Völker und
-der Helden geistig Wurzel schlagen läßt: denn wo immer auch Geschichte
-als Wissenschaft oder Kunst, als Forschung oder Dichtung ernsthaft
-betrieben ward, entsprang sie nach vorwärts gerichtet zwar dem starken
-Wunsche nach Unsterblichkeit des Sterblichen, nach rückwärts gerichtet
-jedoch dem nur wenig schwächeren Wunsch, sich um die volle Zahl
-womöglich aller dagewesenen Werk- und Werteschöpfer menschheitlich zu
-vermehren; -- hundertseelig, tausendseelig, hunderttausendseelig möchte
-der geschichtlich fühlende Mensch werden, ganz wie der Buddho sagt und
-tut, ganz wie der Buddho sagt und tut. Ist doch zuletzt in Wahrheit
-alles, was irgend da war, wir selbst, wenn wir es recht verstehen
-wollen, und wo Völker und Helden untergingen, machten sie sich nur von
-der dummen Einmaligkeit der Zeitlichkeit frei, um für immer in das
-Wissen der Erinnerung einzugehen...
-
-Das erste Wissen, vom Vollzug der vier _jhânâni_ erwirkt, heißt
-also Erinnerung und bemächtigt sich der früheren Daseinsformen und
-Lebensstufen. Das zweite Wissen aber -- „drei Wissen weiß der Asket
-Gotamo!“ -- folgt unmittelbar aus dem ersten, ja fällt nach der
-Denkweise des Buddho sogar geradezu mit dem ersten mehr oder weniger
-restlos zusammen. Wo der Erinnernde nämlich die Selbstverkörperungen
-ins Bewußtsein hebt und die Folge seiner eigenen Geburten aufsteigen
-und verschwinden sieht, da sieht er sie aufsteigen und verschwinden
-nach dem Gesetz vom Karman. Der Wiederkünfte sich entsinnen und sich
-des Gesetzes der Wiederkünfte entsinnen, ist von Gotamos Einstellung
-aus ein und derselbe Vorgang, und wenn überhaupt einmal die sachliche
-Richtigkeit auch nur einer einzigen dieser vom Buddho entwickelten
-Verkettungen und Aneinanderreihungen über jedem Zweifel befunden
-wird, so ist das sicherlich hier der Fall. Dasselbe Wissen, welches
-Erinnerung heißt und um alle früheren Geburten weiß, es weiß auch
-um das Gesetz, nach welchem die Geburten immer von neuem wieder
-stattfinden. Derselbe Asket, der inne wird: dieses war ich, jenen
-Namen trug ich, so und so erschien ich, -- derselbe Asket wird auch
-der gesetzmäßigen Verknüpfung inne, welche Wiederkehr an Wiederkehr
-flicht. Dem Erinnernden gibt sich die Aufeinanderfolge seiner
-Selbstverkörperungen als Auseinanderfolge sehr bald zu erkennen,
-und die Erinnerung selbst formt aus der Folge der Geburten in der
-Zeit eine Folge der Geburten nach Ursach’ und Wirkung. Das ist der
-allgemeine Gang des Wissens, wie er hier mit einem erratenden Spür-
-und Merksinn ohnegleichen ausgemittelt wird: der Gang des Wissens und
-der Wissenschaft von der reinen Zeitenfolge der Erscheinungen fort
-bis zur Erkenntnis ihrer ursächlichen Schürzung hin. Das ist der Gang
-des Wissens und der Wissenschaft, wie er in Indien offenbar nicht
-anders sich ereignet hat als in unserem Europa. Mit welcher Feinheit
-und Zuverlässigkeit übrigens diese mythisch-mystische Enthüllung dem
-wissenschaftgeschichtlichen Tatbestand gerade des Westens entspricht,
-das kann freilich nur der Kenner abendländischer Philosophie von Platon
-bis auf Kant völlig ermessen, dem seinerseit die Beziehungen der
-platonischen Lehre von der Anamnesis zu der Abkunft und Anwendung der
-Knüpfung Ursache-Wirkung als einer kantischen ‚Bedingung a priori der
-Möglichkeit jeder Erfahrung‘ durchsichtig geworden sind.
-
-Dies indes hier beiseite, so läßt sich nichts Wundersameres denken als
-diese intuitiv erfühlte Richtigkeit der gotamidischen Darstellung des
-Wissens, wie sie ein Mensch gibt, der jedes wissenschaftliche Interesse
-als solches kurzerhand verwirft und außerdem einem Weltalter und einer
-Rasse angehört, die beide mit der europäischen Entwicklung nicht im
-mindesten zusammenhängen...
-
-Im Besitz der Erinnerung an frühere Geburten und Verkörperungen weiß
-sich also der Erinnernde, ich sage es noch einmal, bald auch in den
-Besitz der Erkenntnis des Gesetzes zu setzen, nach welchem die Geburten
-und Verkörperungen stattfinden und stattfinden müssen. Der Asket kann
-„mit dem himmlischen Auge, dem geläuterten, über menschliche Grenzen
-hinausreichenden, die Wesen dahinschwinden und wiedererscheinen sehen,
-gemeine und edle, schöne und unschöne, glückliche und unglückliche,
-er kann erkennen, wie die Wesen je nach den Taten wiederkehren.“
-Solchermaßen hat der Asket das zweite Wissen dann erworben. Die
-Summe seiner früheren Geburten als Zeitreihe in der Erinnerung sich
-vergegenwärtigend, erfährt und erfaßt er noch einmal mit geschärftem
-Sinn das ewige Gesetz dieser Geburten als Ursache-Wirkungreihe, --
-jenes Gesetz, das ihm vormals schon die Welt erschloß, das Leben
-erschloß, das Leiden erschloß. Durchschauend und immer klarsichtiger
-durchschauend, wie alles gekommen ist und wie alles kommen mußte, fällt
-ihm auf dieser gehobenen Stufe noch einmal mit dem Gesetz der Welt ihr
-ganzes Weh und Ach auf die wissend gewordene Seele: noch einmal blickt
-er auf das Leid zurück, wie man etwa auf eine Landschaft zurückblickt,
-in der man vieles erlebte und die man sich jetzt zu verlassen
-anschickt. Und mit dem Leid und Weh und Ach der Welt wird ihm das
-dritte Wissen, -- „drei Wissen weiß der Asket Gotamo!“ -- das da alles
-vorige Wissen endgültig krönen wird. Jetzt ist die Bahn durchmessen,
-jetzt schlingt sich das Ende um den Anfang wieder, jetzt ist der Kreis
-geründet und der Ring geschlossen. Aus vierfacher Selbstvertiefung ward
-Erinnerung geboren, aus der Erinnerung ward das Gesetz geboren, aus dem
-Gesetz aber wird die Freiheit geboren. Also hat nunmehr der Asket drei
-Wissen nach Vollzug der vier _jhânâni_ gleichsam vollbracht, also hat
-er drei Wissen gleichsam verwirklicht. „‚Das ist das Leiden‘ erkennt
-er der Wahrheit gemäß. ‚Das ist die Leidensentwicklung‘ erkennt er der
-Wahrheit gemäß. ‚Das ist die Leidensauflösung‘ erkennt er der Wahrheit
-gemäß. ‚Das ist der zur Leidensauflösung führende Pfad‘ erkennt er
-der Wahrheit gemäß. ‚Das ist der Wahn‘ erkennt er der Wahrheit gemäß.
-‚Das ist die Wahnentwicklung‘ erkennt er der Wahrheit gemäß. ‚Das
-ist die Wahnauflösung‘ erkennt er der Wahrheit gemäß. ‚Das ist der
-zur Wahnauflösung führende Pfad‘ erkennt er der Wahrheit gemäß. Also
-erkennend, also sehend wird da sein Gemüt erlöst vom Wunscheswahn,
-erlöst vom Daseinswahn, erlöst vom Nichtwissenswahn. ‚Im Erlösten ist
-die Erlösung‘, diese Erkenntnis geht auf. ‚Versiegt ist die Geburt,
-vollendet das Asketentum, gewirkt das Werk, nicht mehr ist diese Welt‘
-versteht er da“...
-
-Drei Wissen weiß der Asket Gotamo. Drei Wissen vollbringt der Asket
-Gotamo. Drei Wissen verwirklicht der Asket Gotamo.
-
-
-Wofern es, ihr Christen, Wahrzeichen und Merkmal des Wissens ist,
-‚daß den Kummer überwindet, wer den Âtman kennt‘, dann weist kein
-anderes Wissen so deutlich dies Wahrzeichen und Merkmal auf wie das
-Wissen des Buddho, -- obschon es schlechterdings kein Âtman- und kein
-Brahmanwissen ist. Über die vier _jhânâni_ hinweg eigentlich mehr
-einwärts als aufwärts dringend, erbohrt der gotamidisch Wissende die
-Schächte des Unbewußtseins; erbohrt er die Erinnerung an die früheren
-Geburten; erbohrt er die Erkenntnis der Wiederkünfte und ihres ewigen
-Gesetzes; erbohrt er die heilige Wahrheit selbviert des Leidens, der
-Leidensentstehung, der Leidensverwindung und des zur Leidensverwindung
-führenden Weges. Dies Wissen ist ein unteilbares σύστημα, ein
-unteilbarer Zusammenhang, vollkommen in sich geschlossen, rund und
-fertig. Mit ihm ist der Wissende instand gesetzt, das heilige Ziel
-alles Wissens zu erreichen und unbekümmert, kummerlos zu wandeln. Mit
-ihm hat sich der Wissende alles angeeignet, was nach buddhistischer,
-aber auch nach brahmanischer Auffassung allein zu wissen not tut und
-was der verpflichtenden Bezeichnung ‚Wissen‘ alleinig wert erscheint.
-Keine Zweifel, daß auch dieses indisch-buddhistische Wissen hin und
-wieder enger sich berührt mit der Errungenschaft, die wir Abendländer
-unsererseit mit diesem Ausdruck zu benennen pflegen, und namentlich
-trifft diese engere Berührung zu bei der Erinnerung, die uns in vielem
-an die bis heut noch nicht außer Kraft gesetzte Wissenschaftlehre
-Platons wie an das liebe Gesicht eines alten Bekannten mahnt. Aber
-im ganzen und großen bleibt dieses Büßer- und Erlöserwissen doch so
-fern von unserem Forscher- und Gelehrtenwissen, daß wir hier auf
-hohe Schwierigkeiten stießen, uns von diesem gotamidischen Wissen an
-manchen Stellen ein zulängliches Verständnis zu verschaffen, -- gesetzt
-den sehr günstigen Fall, es gäbe von solch fremden Dingen überhaupt
-ein zulängliches Verständnis oder könne wenigstens grundsätzlich ein
-solches geben. Denn was hat es doch, besinnen wir uns gefälligst, mit
-unserem eigenen Wissen und mit unserer eigenen Wissenschaft für eine
-Bewandtnis? Und was ist nach unserer eigenen landläufigen Auffassung
-Wissen und Wissenschaft? Doch offenbar in einem beides: erstens sowohl
-nämlich eine nach Regeln verfahrende Tätigkeit des Verstandes, der
-Vernunft, der Urteilskraft, die sogenannte Wahrheit zu vermitteln,
--- zweitens aber auch das Ergebnis dieser Tätigkeit, der geordnete
-Besitz oder ‚Schatz‘ aller dieser Wahrheiten. Was wir Europäer zu
-wissen glauben, glauben wir als die Wahrheit zu wissen, wie schon
-der heilige Thomas von Aquino uns bedeutet, wenn er gelegentlich
-den Begriff des Wissens folgendermaßen umschreibt: „_Scire aliquid
-est perfecte cognoscere ipsum; hoc autem est perfecte apprehendere
-ejus veritatem_“... Wissen und die Wahrheit an und für sich wissen,
-das deucht uns Europäern mithin ohne weiteres ein und dasselbe. Daß
-es eine solche Wahrheit an und für sich irgendwie gäbe und geben
-müsse als die maßgebliche Voraussetzung jeder Erkenntnisarbeit, die
-nicht schimärisch ins Blaue hinein spinnen und schwindeln, faseln
-und schwafeln will: dieser Satz steht seit dem weltgeschichtlichen
-Kampf des Pythagoreers Platon gegen den antiken Relativismus nicht
-nur unerschüttert fest, sondern er steht: steht als der _rocher
-de bronce_ aller Wissenschaft- und Erkenntnislehren, auch wenn
-die unsterbliche Sophistik unsterblicher Sophisten immer wieder
-dagegen Sturm gelaufen ist und eben heuer wieder aufs heftigste
-dagegen Sturm läuft. Es muß eine Wahrheit geben an und für sich
-(oder wie der Pythagoreer Platon gesagt hat ‚αὐτὸ καθ’ἁυτό‘), es muß
-einen überhimmlischen Ort, τόπος ὑπερουρανιός geben von gültigen
-Sachverhalten an und für sich, wenn anders ein Wissen und eine
-Wissenschaft im europäischen Wortsinn möglich sein sollen. Auch wer
-da behauptete ‚Es gibt keine Wahrheit‘ beriefe sich bei dieser seiner
-Behauptung auf die Wahrheit und beanspruchte für sie allgemeine
-Geltung, überpersönliche Verbindlichkeit, notwendige Verpflichtung.
-Im Zeichen dieser stehenden und standhaften Wahrheit an und für sich
-ist die europäische Wissenschaft tatsächlich seit den Griechen von
-Sieg zu Sieg geschritten, welterobernd und weltherrschend wie kaum je
-eine zweite Macht der Menschheit; ein unermeßlicher Schatz gesicherter
-und gesichteter Erkenntnis ward als ein hoffentlich nicht mehr zu
-verlierender Besitz des _homo sapiens_ angehäuft und auch wiederum
-verschwendet, gesammelt und auch wiederum verausgabt. Wer wollte
-angesichts solch überwältigenden Erfolges so kleinlich sein und an die
-Opfer denken, die er gekostet hat. Wie selten denken Menschen an ihre
-Opfer, solange ihnen der Erfolg winkt, -- frühestens dann, wenn der
-Erfolg zur Frage wird, fällt ihnen bei, einen Überschlag zu machen und
-zu rechnen, und zu rechten...
-
-Unversehens also ist der abendländischen Menschheit das Wissen um
-die Wahrheit an und für sich zum Ziel und Zweck des Wissens selbst
-geworden. Durchaus in einer erkennenden Bewegung begriffen nach dem
-An-und-für-sich-Sein der Wahrheit hin, gilt ihr deren Ergründung ohne
-weiteres als Selbstzweck. Was dem Wissen um die Wahrheit an und für
-sich dem menschlichen Leben und Dasein, dem Geist und der Seele etwa
-bedeuten könnte, wird nicht gefragt, -- nicht wird gefragt, was die
-Wahrheit als solche im Zusammenschluß menschheitlicher Wesensäußerungen
-und für diesen Zusammenschluß zu leisten vermöchte. Das Ideal
-dieser Wahrheit an und für sich, von allen asketischen Idealen der
-europäischen Menschheit unzweifelhaft das asketischste, -- aber
-freilich asketisch im Sinn Nietzsches und nicht im Sinn des Buddho!
--- dieses Ideal heischt unbedingte Selbsthingabe, ja Selbstaufgabe
-dessen, der ihm dient: und so war man über seinen Wert beruhigt,
-weil Selbsthingabe, Selbstaufgabe unter allen Umständen für gut
-befunden worden. Es mußte eine tiefe Genugtuung sein für jeden, der
-am babylonischen Turm der Wahrheit bauen helfen durfte, daß er daran
-bauen helfen durfte, und sei’s auch nur, daß er Ziegel strich oder
-Mörtel mengte. Die Wahrheit aber wuchs und wuchs Sandkorn um Sandkorn
-wie eine Düne, wie eine Wüste, nach allen Erstreckungen des Geistes
-hin. Denn unendlich ist die Zahl dessen, was gewußt werden kann, was
-gewußt werden soll; unendlich sind auch die Verfeinerungmöglichkeiten
-des eingeschlagenen Verfahrens und Forschens, Wägens und Erwägens,
-Messens und Untersuchens, Zählens und Errechnens. Wer auch nur eine
-einzige Wahrheit, ein Wahrheitchen, zum erstenmal ausgesprochen,
-eine einzige kleine Beobachtung zum erstenmal gemacht, eine einzige
-kleine Regelmäßigkeit zum erstenmal entdeckt hat, der half das _summum
-bonum_ der Wahrheit an und für sich mehren und das unendliche Ganze
-der Wissenschaft fördern. „Wenn ein Mann durch Jahre hindurch die
-Magnetnadel, deren eine Spitze immer nach Norden weist, tagtäglich
-zu festgesetzten Stunden beobachtete und sich die Veränderungen, wie
-die Nadel bald mehr bald weniger klar nach Norden zeigt, in einem
-Buch aufschriebe, so würde gewiß ein Unkundiger dieses Beginnen für
-ein kleines und für Spielerei ansehen: aber wie ehrfurchterregend
-wird dieses Kleine, wenn wir nun erfahren, daß diese Beobachtungen
-nun wirklich auf dem ganzen Erdboden angestellt werden und daß aus
-den daraus zusammengestellten Tafeln ersichtlich wird, daß manche
-kleine Veränderungen an der Magnetnadel oft auf allen Punkten der
-Erde gleichzeitig und in gleichem Maße vor sich gehen, daß also ein
-magnetisches Gewitter über die Erde geht, daß die ganze Erdoberfläche
-gleichzeitig gleichsam ein magnetisches Schaudern empfindet“...
-Uneigennütziger und entsagungbereiter Fleiß des europäischen Gelehrten
-legt also hier wirklich Körnchen neben Körnchen, Stäubchen neben
-Stäubchen, bis die Masse der Wißbarkeiten und Gewißheiten zum Berg,
-ja zum Gebirg gestockt ward, dessen Gipfel zuletzt niemand mehr zu
-ersteigen vermag. Und wie die europäische Wirtschaft, seit sie nach
-dem Ausgang des Mittelalters ‚frei‘ betrieben ward, jeweils Ware
-um Ware auf Vorrat anzufertigen pflegt, ohne sich um ein wirklich
-bestehendes Bedürfnis nach Waren irgendwie zu kümmern, um dann fast
-in regelmäßigen Zeitabschnitten empfindliche Stockungen im Absatz und
-Umsatz zu erleiden, -- so erzeugt die europäische Wissenschaft auch
-ihre Wißbarkeiten und Gewißheiten gleichsam auf Vorrat, ohne darauf
-bedacht zu sein, ob die aufnehmenden und verarbeitenden Fähigkeiten
-des Menschen mit den hervorbringenden noch Schritt gehalten haben
-möchten. So hat sich die Wissenschaft bei uns daran gewöhnt, um der
-Wissenschaft willen zu forschen, und dieses _l’art pour l’art_,
-_science pour science_ ist eigentlich seit Platon und Aristoteles,
-will sagen seit den Anfängen des Hellenismus, in Europa auf lange
-Zeitstrecken hin immer wieder das große Verhängnis des Abendländers
-geworden. Ebenso planlos, ebenso frei, ebenso unverantwortlich wie die
-Wirtschaft in hochkapitalistischen Weltaltern hervorbringt, ebenso
-bringt in den hochintellektualistischen Weltaltern die Wissenschaft
-hervor, also daß beide von Krisis zu Krisis, von Katastrophe zu
-Katastrophe taumeln. Wo die Wissenschaft ausschließlich um der
-Wahrheit willen betrieben wird, da gibt es kein Ziel und kein Maß
-ihres sogenannten Fortschritts: da wälzt sie ihren unwiderstehlichen
-Schwall über alle Ufer und schwemmt alles An- und Eingewurzelte von
-seinem festen Platz, wo es würdig stand und fußte. In dem toten
-Meere der Wißbarkeiten und Gewißheiten muß der Einzelne rettunglos
-ertrinken, noch eh’ er an den eintönig-einsilbigen Horizonten ein
-Fahrzeug wahrnimmt, das ihn bergen könnte. Die unvermeidlichen Folgen
-dieser wissenschaftlichen Übererzeugung heißen Wissensmüdigkeit,
-Wissensmißachtung, Wissensüberdruß, genau wie die Folgen der
-wirtschaftlichen Übererzeugung Absatzstockung, Arbeiterentlassung,
-Zahlungeinstellung heißen. Und in vierfacher Beziehung erweist die
-Tatsache der europäischen Wissenschaft eine Fragwürdigkeit, welche
-geradezu ihre Daseinsberechtigung zweifelhaft erscheinen läßt:
-
-Als Stoff betrachtet wird das Wissen formlos, weil es Form offenbar nur
-von der aufnehmenden Persönlichkeit her empfangen kann.
-
-Als Besitz betrachtet wird das Wissen herrenlos, weil es Eigentumswert
-offenbar nur bei der aneignenden Persönlichkeit erwerben kann.
-
-Als Tätigkeit betrachtet wird das Wissen zwecklos, weil es
-Zweckmäßigkeit offenbar nur durch die zwecksetzende Persönlichkeit
-gewinnen kann.
-
-Als Leistung betrachtet wird das Wissen stellenlos, weil es Stellenwert
-offenbar nur in der stellgewährenden Persönlichkeit erlangen kann...
-
-Die tödliche Gefahr dieses entfesselten Wissens, wie ein gefräßig
-Element auf den unbeschützten Menschen losgelassen, hat indessen
-gerade der ewige Platon als der geschichtliche Urheber des αὐτὸ
-καθ’ἁυτό der Wahrheit (oder des ‚in Wahrheit Seienden, des ὄντως
-ὄν‘) am dringendsten schon gespürt. Denn eben er, dem wir Europäer
-die erste und wuchtigste Vision einer Wahrheit an und für sich zu
-danken und -- wer weiß? -- vielleicht auch zu fluchen haben: eben er
-ist gleichzeitig doch auch der Schöpfer gewesen der unvergänglichen
-Gestalt seines Sokrates. Diesen platonischen Sokrates, der einzige,
-der noch heute mitten unter uns lebt und mit welchem wir leben, ihn
-hat sich augenscheinlich Platon selber als Gegengift verordnet gegen
-das unmenschliche ὄντως ὄν, gegen das unmenschliche αὐτὸ καθ’ἁυτό und
-beider lauernde Gefahren. Diesen Sokrates hat sich Platon in eigener
-Person verordnet, will heißen er hat sich den klassischen ‚Weisen‘ des
-Abendlandes verordnet, der das bloße Wissen in sich selbst in Weisheit
-umzusetzen versteht. Der also das Wissen
-
- als Stoff betrachtet formt,
- als Besitz betrachtet einer Herrschaft untertänigt,
- als Tätigkeit betrachtet einem Zweck unterwirft,
- als Leistung betrachtet einer Stelle verhaftet.
-
-Warum nämlich ist just Platon, der Erfinder der Wahrheit an und
-für sich und des Wissens um der Wahrheit willen, zum Dichter des
-platonischen Sokrates geworden? Weil er mit dieser noch immer
-atemversetzend nahen Gestalt des klassischen Weisen sich selber am
-erfolgreichsten zu begegnen vermochte: sich selber und dem schmerzlich
-gefühlten Schicksal, das er mit seinem asketischen Ideal des ‚in
-Wahrheit Seienden‘ über die abendländische Menschheit heraufbeschwor.
-Denn dieser platonische Sokrates will ja zwar die Wahrheit, wie sie an
-und für sich selbst ist, ohne Einschränkung und Abzug ‚wissen‘. Aber
-er will sie nicht wissen dieses Wahrseins wegen. Sondern er will sie
-wissen seiner selber wegen, seines Tuns und Handelns wegen, seiner
-Selbstgestaltung wegen, seiner ‚Wohlbeschiedenheit‘ (εὐδαιμονία)
-wegen... Das Wissen als solches gilt ihm für unerläßlich und
-unentbehrlich, und insofern verdient er selbst durchaus ein Platoniker
-genannt zu werden. Aber in keinem Augenblick seines Lebens ist ihm das
-Wissen ein unbedingter Selbstzweck, was es dem strengen Platoniker
-eigentlich sein müßte. Und in diesem Betracht ist er freilich durchaus
-Sokrates, durchaus _sui generis_, durchaus Anti-Platoniker, durchaus
-Gegenmine des Platonismus: wenn auch alles dies von Platons Gnaden.
-Alles in allem mithin das Gegenstück des Gelehrten, das Gegenstück des
-Wissenschafters. Der Weise soll wissen und muß wissen. Aber er soll und
-muß nicht wissen, damit er eben wisse: vielmehr damit er wisse, was zu
-tun und zu lassen, was zu wünschen und was zu verwerfen, was zu suchen
-und was zu meiden sei. (Denn Weisheit, hat man in diesen Tagen gesagt,
-ist Leben in der Form des Wissens, -- ist Wissen, wie ich noch lieber
-sagen würde, in der Form des Lebens...) Sokrates also will wissen, um
-Sokrates sein zu können, ein Mensch, der sein Leben zu seiner Zeit und
-an seinem Ort recht zu führen versteht. Derart bringt der Weise eine
-gewisse Versöhnung zustand zwischen den zwei einander gegenstrebenden
-Urgewalten oder Grundtätigkeiten alles Lebens, welche die Pythagoreer
-als Unbegrenztes und als Grenze zu bezeichnen wagten. Mitten im
-Unbegrenzten aller Wißbarkeiten und Gewißheiten setzt der Weise dem
-Unbegrenzten eine Grenze in ihm selber, indem er sein Menschenrecht auf
-die ihm allein zuträgliche, ihm allein bekömmliche Wahrheit geltend
-macht. Wohl zeltet der unendliche Himmel des ‚in Wahrheit Seienden‘
-in seiner Unwandelbarkeit auch über der Gestalt des Weisen, wie er ob
-allen Wandelwesen zeltet. Aber gleichzeitig übt doch mit Nachdruck der
-Weise das Grundrecht aller Wandelwesen aus, sich aus dem unendlichen
-Himmel mit der ihm nützlichen Gewißheit zu versehen und sich unter
-allen Wahrheiten an und für sich diejenige auszuwählen und anzueignen,
-die ihm am passendsten für den Aufbau seiner Persönlichkeit zu sein
-scheint. Denn das Gestirn des ‚in Wahrheit Seienden‘ funkelt nicht in
-die Nacht der Welt, um rein ‚platonisch‘ angestaunt, verehrt, angebetet
-zu werden, vielmehr um dem sokratisch Wandernden zu Wasser und zu Land
-den dunkeln Weg zu hellen. Wegweisend ist die Wahrheit für den Weisen,
-wegweisend erzeugt sie Weisheit im Weisen. Aber weise sein heißt
-zuletzt nichts anderes, als daß womöglich jedermann Besitz ergreife
-von seiner Wahrheit und mit unwiderruflicher Entschlossenheit Hand auf
-seine Wahrheit lege, die keineswegs die Wahrheit jedermanns ist und
-sein kann. In Übereinstimmung mit diesem Zielgedanken der Weisheit
-nimmt der platonische Sokrates sich die Freiheit, eine Menge von
-Wahrheiten nicht zu wissen, welche nicht zu wissen seine Vorgänger in
-Milet, Elea, Ephesos, Klazomenai, Kolophon, Abdera für unverzeihlich,
-wenn nicht für unanständig gehalten hätten, -- so zum Beispiel das
-Wissen von der gesamten außermenschlichen, außersittlichen Natur mit
-seinen Tatsachen und Gesetzen. Nirgends mehr ist die Weisheit des
-Sokrates mit der längst üblich gewordenen Überschrift betitelt ‚Περὶ
-Φύσεως‘, sondern mit der neuen, aber einseitigen und ausschließenden
-‚Περὶ Ἀνθρώπου‘. Die Gültigkeit der Wahrheit überhaupt steht dem Weisen
-außer allem Zweifel, weil sie die Voraussetzung darstellt für jede
-erkenntnismäßige Betätigung als solche. Aber neben dieser Wahrheit
-überhaupt und (was Wichtigkeit und Dringlichkeit anlangt) über ihr
-steht meine Wahrheit, deine Wahrheit; steht die Weisheit, mit welcher
-ich lebe, mit welcher du lebst: und damit bricht der platonische
-Sokrates dem Platonismus die gefährlichste Spitze ab, mit welcher er
-Fleisch und Geist der europäischen Menschheit hätte vergiften können,
-wenn es keine Weisen und keine Weisheit gab, -- mit welcher er Fleisch
-und Geist dieser Menschheit vergiftet hat, seit es weder Weise noch
-Weisheit mehr gibt... Dem Weisen jedoch ist nicht allein die Tugend
-ein Wissen, sondern umgekehrt das Wissen auch eine Tugend: will meinen
-eine innerliche Richtungnahme des ganzen Menschen auf jene Sachverhalte
-hin, die zwar ‚in Wahrheit sind‘, aber für ihn, den Einzelnen und
-Besonderen, nur je nach ihrer Eignung zur Führung eines rechten
-Wandels gelten. Und ist schon nicht der Mensch das Maß der Dinge, --
-er ist es aber, trotzdem just der platonische Sokrates ingrimmig und
-verbissen den Urheber dieses Erkenntnis aushöhnt! -- so ist unmittelbar
-doch der Weise das Maß alles Wissens: Maß, Form, Herr, Ziel, Ort und
-Verlebendiger alles Wissens...
-
-Daß dieser Typus des Weisen trotz Kyniker und Kyrenaiker, trotz
-Stoiker und Epikureer im Fortgang der Zeit immer sicherer vom Typus
-des Gelehrten und Wissenschafters verdrängt ward, mußte freilich
-die schleichende Krisis des platonischen Ideals das Wissen um der
-Wahrheit willen wieder von neuem zum Ausbruch bringen. Oder sage ich
-vorsichtiger und richtiger: dieser Umstand hätte die Krisis wieder
-zum Ausbruch bringen müssen, wenn nicht alles bald durch den Sieg des
-Christentums eine völlig neue und von niemandem zu erwartende Wendung
-genommen hätte. Vorher bietet allerdings das alexandrinische Zeitalter
-gewissermaßen das Schauspiel eines späten Wettkampfes zwischen dem
-Typus des Weisen und des Wissenschafters. Und wenn auch jener erstere
-herauf bis zu dem ehrwürdigen Demonax des Lukian nie völlig aus der
-Öffentlichkeit des antiken Lebens verschwand, wo er Pflichten der
-Seelsorge vielmals rühmlich bis zuletzt erfüllte, -- die entscheidenden
-Bewegungantriebe gehen doch nicht von der Weisheit des Weisen, sondern
-von der Forschung des Wissenschafters aus: denn dieser und nicht jener
-bereicherte die Zeit um eine neue Geistesäußerung. Bis dann eben
-in den ersten Jahrhunderten der werdenden Kirche sowohl der Weise
-wie der Wissenschafter für die Dauer von rund tausend Jahren kalt
-gestellt werden und damit die Krisis im Platonismus behoben ist. Der
-geschichtliche Stifter des Christentums bekämpft den Weisen bekanntlich
-mit der ihm eigenen heißblütigen Leidenschaftlichkeit, trotzdem er
-selbst in starkem Maß vom Ideal der Stoa miterzogen und mitgebildet
-erscheint. Genug! Die Weisheit vor den Menschen wird als Torheit vor
-Gott verlästert, verlästert insonderheit darum, weil sie sich in
-heidnischem Dünkel vermißt, aus eigener Menschenkraft zu bewirken,
-was bestenfalls der Gnade Gottes vorbehalten wäre. In der Hauptsache
-aus diesem, aber auch aus manch anderem Grunde sonst kann die neue
-Religion den Weisen nicht mehr gebrauchen, und noch weniger freilich
-dessen geschichtlichen Gegenspieler, den Wissenschafter und Gelehrten.
-Die menschliche Weisheit war Torheit vor Gott, aber die menschliche
-Wissenschaft war gegenstandslos schlechthin; -- einer sich selbst
-rechtfertigenden Wissenschaft aber, welche platonisierend die Wahrheit
-um der Wahrheit willen zu erforschen behauptete, ihr hätte man wohl mit
-dürren Worten die abspeisende Antwort gegeben: die Wahrheit, o Mensch,
-ist Gott und Gott ist die Wahrheit! Wer Gott hat, der hat die Wahrheit.
-Wer aber Gott nicht hat, -- was soll ihm die Wissenschaft? Daß Gott
-die Wahrheit sei und die Wahrheit Gott, dies war der grundsätzliche
-Ertrag, den das junge Christentum von der gesamten Wissenschaft und
-Wissenschaftlehre der Griechen übernahm. Dies war gewissermaßen der
-Saldo, den es als zu überschreibenden Rechnungbetrag auf das neue Blatt
-der Weltgeschichte eintrug...
-
-Ein höchst bedeutungreicher Saldo, ihr Christen, wenn es recht bedacht
-wird! Denn jetzt löste die junge Kirche dieselbe Aufgabe theologisch
-und ontologisch, welche der platonische Sokrates pragmatisch und
-ethisch zu lösen versucht hatte. Die Wahrheit an und für sich, welche
-seit Platons Auftritt sozusagen frei in der Luft geschwebt hatte,
-um erst in der Person des Weisen nachträglich einen Haft und Halt
-zu finden, sie fand hier Haft und Halt von vornherein in der Person
-Gottes. Seit Platon und Aristoteles ein logischer Begriff, wurde die
-Wahrheit seit Augustinus, ja seit Plotinos ein ontologischer Begriff:
-die bloße Eigenschaft gewisser Denkverknüpfungen dort ward zum Sein
-und Wesen hier. Überraschend buchstäblich nahm die neue Lehre das Wort
-Platons von dem ‚in Wahrheit Seienden‘ und machte mit ihm Ernst in
-alle erdenklichen Konsequenzen: Gott selbst ist fortab das in Wahrheit
-Seiende, Gott selbst ist der in Wahrheit Seiende. Die Wahrheit wissen,
-hieß darnach Gott wissen auf Grund der Gleichung Wahrheit = Gott,
-Gott = Wahrheit, -- und damit war in Ansehung des Wissen und seiner
-wesentlichen Leistung jeder Zweifel vollständig beseitigt. Von dieser
-theologischen und ontologischen Umdeutung des Begriffes Wahrheit her
-konnte dann allerdings auch vom Standpunkt des Christentums und seiner
-Kirche aus Wissen und Wissenschaft um der Wahrheit an und für sich
-willen zugelassen werden, -- hatten doch jetzt diese nach Heidentum
-schmeckenden Namen einen vollkommen unheidnischen Sinn unterstellt
-bekommen. In dieser Wissenschaft, deren einziger Gegenstand und Vorwurf
-Gott heißt, kann sich der Mensch nicht wie in den Ideen Platons ziel-
-und richtunglos verlieren, hier muß er sich im Gegenteil erst richtig
-finden. Wer Gott auf wahrheitgemäße Weise weiß, der ißt gleichsam
-von Gott, -- _qui mange du pape, en meurt; qui mange de Dieu, en
-vit!_ -- und es ist fast doch mehr wie ein bloßes Gleichnis, wenn ich
-zu behaupten wage, die Scholastik des Mittelalters habe wenigstens
-ihre Haupt- und Grundwissenschaft Theologie in nächste Nachbarschaft
-der Sakramente gebracht, was Leistung, Erfolg, Bedeutung dieser
-Wissenschaft für den Ausübenden anbetrifft. Das scholastische Wissen
-von Gott ist in der Tat etwas wie ein Sakrament, wobei Gott durch
-die Erkenntniskraft des Menschen geradezu eingenommen, einverleibt,
-einvergeistet erscheint: _sacramentum_ im Sinn von ‚Heilsmittel‘, weil
-dieses Wissen von Gott das Heil in Gott vermittelt; χάρισμα im Sinn
-von ‚Gnadengabe‘, weil dieses Wissen von Gott ohne Beistand der Gnade
-Gottes nicht zu erlangen ist; μυστήριον im Sinn von Einweihung, weil
-dieses Wissen von Gott den Wissenden zu Gottes Sohn und Kind weiht. Im
-Vorgang dieses Wissens geschieht es, daß Gott bei der Gestaltung seines
-eigenen Gedankens im Geist des Wissenden aus allen seinen Kräften
-selbsttätig in Mitwirkung, oder wie Luther wahrscheinlich gesagt
-hätte, in ‚Konkomitanz‘ mit diesem Geiste tritt; im Vorgang dieses
-Wissens geschieht es, daß der gewußte Gott die Vernunft des menschlich
-Wissenden seiner eigenen Gottvernunft anähnlicht. Diese sakramentale
-(und nicht mehr alleinig ‚mentale‘) Auffassung des Wissens wird dann
-noch, das versteht sich für jeden ungefähren Kenner des Mittelalters
-ganz von selbst, aufs nachdrücklichste verstärkt durch die realistische
-Doktrin, wonach die erfaßten Denkinhalte, je allgemeiner sie nach
-Inhalt und nach Umfang werden, einen umso höheren Grad von Wirklichkeit
-gewinnen, bis in dem Denkinhalt von höchster Allgemeinheit zugleich der
-höchste Grad von Wirklichkeit erreicht ist: und das ist wiederum Gott.
-An den Graden begrifflicher Allgemeinheit steigt mithin der Wissende
-von Wirklichkeit zu Wirklichkeit aufwärts bis zur allerallgemeinsten
-und allerwirklichsten Wirklichkeit. Weit entfernt davon mit den
-Begriffen zu spielen, wie man mit Gespinsten des Gehirns spielt,
-bemächtigt man sich im Begriff der höchsten Wirklichkeit der Welt. Hier
-stoßen hart im Raum sich die Gedanken, wenn leicht beieinander alle
-Sachen wohnen. Begriffe sind Wirklichkeiten über die Gegebenheiten
-der Sinneswahrnehmung hinaus und sogar noch die ‚falschen‘ Begriffe
-sind unter Umständen Wirklichkeit, nur mit dem höllischen Vorzeichen
-der Widersacherschaft gebrandmarkt. Daher die furchtbare Gefahr
-der falschen Meinung, irrigen Lehre, verkehrten Ansicht, die dem
-mittelalterlichen Menschen so etwas ganz anderes bedeuten als dem
-antiken oder gar modernen Wissenschafter dieser oder jener Denkfehler.
-Denn wer da nicht das Wahre denkt, schließt sich der Widerwelt des
-Wahren an und so dem Widersacher Gottes. Wissen, das heißt hier fast
-die Entscheidung treffen, ob einer gewillt sei, des Lebens Kampf auf
-seiten der himmlischen Heerscharen oder der höllischen Mächte zu
-kämpfen, und dieserhalb war es von der scholastischen Auffassung aus
-nur folgetreu gedacht, dem Irrenden nicht mit dem Holzschlegel zwar,
-aber mit dem prasselnden Scheiterhaufen ‚seelsorgerisch‘ bedacht zu
-winken...
-
-Die menschliche Leistung dieses Wissens kann, wie ich schon sagte,
-nicht gut einem Zweifel unterliegen. Hier verschwimmt die Wahrheit
-nicht in den rauchenden Horizonten zwischen Himmel und Erde in einer
-überall gleich fernen Unendlichkeit von Sachverhalten an und für
-sich, welche das Mißliche an sich haben, daß sie ausnahmlos denselben
-Anspruch auf Anerkenntnis und Geltung erheben und erheben dürfen.
-Solange die Wahrheit Gott ist und Gott die Wahrheit, findet sie in Gott
-Haft und Halt, und mit der Wahrheit findet der Mensch in Gott Haft und
-Halt, der sich ihre Ergründung angelegen sein läßt. Beklagenswert war
-nur, daß diese Gleichsetzung von Gott und Wahrheit doch nicht dauernd
-in Kraft bleiben konnte, sondern daß eben der ontologisch-theologische
-Charakter des ‚in Wahrheit Seienden‘ bestritten ward. Die Formel
-Wahrheit = Gott und Gott = Wahrheit hatte seit Augustinus, wir wissen
-es, den unangetasteten Besitz der Patristik und Scholastik gebildet,
-und vermutlich ist es ein starkes Gefühl der Unentbehrlichkeit dieser
-Formel gewesen, welches die Kirche veranlaßt hat, die ersten und
-ach! so tastend zaghaften Regungen des Nominalismus in der jungen
-Wissenschaft des mittelalterlichen Abendlandes durch Machtspruch zu
-unterdrücken und den vielleicht führenden Nominalisten Roscellinus
-von Armorika auf dem Konzil zu Soissons zum Widerruf zu nötigen:
-denn in der Tat ist es der aufkommende Nominalismus, der dann die
-Voraussetzungen dieser Formel aufhebt. Wenn die Begriffe nicht mehr
-wirklich sind, geschweige denn, daß ihre Wirklichkeit mit wachsender
-Allgemeinheit selber wächst und vollkommener wird, dann büßt auch der
-allgemeinste aller Gemeinbegriffe, nämlich das _universale_ ‚Gott‘,
-seine Wirklichkeit ein und seine Wahrheit im Sinn der realistischen
-Auffassung wird fragwürdig. Selbst nämlich wenn Gott auch dann noch
-in Person in irgendeinem Wortverstand ‚wahr‘ bleiben sollte, bleibt
-er’s doch länger nicht mehr im Wortverstand jenes _ens realissimum,
-ens generalissimum_. Just die allgemeinsten Begriffe und Vorstellungen
-verlieren ihre Wirklichkeit und damit auch ihre Bindung an den
-vollkommenen Inbegriff aller Wirklichkeiten, an die Urwirklichkeit
-schlechthin oder Gott. Jetzt lösen sich die Wahrheiten von der Einen
-Wahrheit ab und diese bleibt gleichsam entblättert zurück wie der
-Stumpf einer Palme, deren Schaft aus den leeren Scheiden längst
-abgestoßener Blätter besteht... Gibt es aber ‚wahre‘ Begriffe, die
-abgesondert vom Ursein der höchsten Wahrheit zu bestehen vermögen, ja
-die sogar nur in dieser Abgesondertheit bestehen, dann gibt es auch
-wieder (wie einst im Platonismus!) eine Wahrheit, die weder Gott selber
-noch göttliche Dinge irgendwie betrifft. Dann gibt es auch wieder eine
-Wissenschaft, die nicht um Gottes willen, sondern eben um der Wahrheit
-an sich willen betrieben wird. Dann ist das Abendland zum zweitenmal
-der beklemmenden Gefahr ausgesetzt, die alle Wissenschaft bloß des
-Wissens wegen und alle Erkenntnis bloß der Wahrheit wegen je und je
-verfolgt...
-
-Es ist somit die nominalistische Scholastik, welche den Begriff
-Wahrheit wieder auf seine eigenen Beine zu stellen wagt, nachdem die
-realistische Scholastik Wahrheit und Gott, nur gleichsam in der Mitte
-zusammengewachsen, wie siamesische Zwillinge auf den europäischen
-Jahrmärkten herumgezeigt hatte. Die Anstrengungen aber, wie sie in
-den folgenden Jahrhunderten des siegreich vordringenden Nominalismus
-gemacht werden zugunsten einer endgültigen Verselbständigung der
-abendländischen Wissenschaft, sie werden vervielfältigt durch
-die entsprechenden Anstrengungen der Reformatoren. Ein Mann wie
-Luther lernt auf der Universität die Scholastik nur noch in der
-nominalistischen Ausprägung kennen, und wenn er im Ungestüm der ersten
-Kämpferjahre geradezu den Fortbestand europäischer Wissenschaftlichkeit
-als solchen schwer gefährdet und vorübergehend eine massenhafte
-Entvölkerung von Deutschlands hohen Schulen bewirkt, ist er bei der
-Weiterführung seines Werkes doch zu sehr auf die Mitarbeit gelehrter
-Humanisten angewiesen, um nicht zuletzt diesen neu erstandenen Typus
-Wissenschaft und Wissenschafter seinerseit nach besten Kräften zu
-fördern. Eine im Humanismus jener Tage schüchtern auflebende Freude
-an der Gestalt des Weisen -- am anziehendsten vielleicht verkörpert
-in dem gothaer Humanisten Konrad Mudt, der unter dem Namen Mutianus
-Rufus einen schier sokratischen Einfluß auf die ihm ergebenen Jünglinge
-ausübt, mit denen verbunden er innig „nach Gerechtigkeit, Mäßigkeit,
-Geduld, Eintracht, Wahrheit und einmütiger Weisheit“ strebt! -- eine
-solch schüchtern auflebende _rinascènza_ antiker Lebensführung und
-Wissensbewältigung findet freilich nicht den Beifall des Bruders
-Martinus und kann sie bei ihm nicht finden, dem der Weise seiner
-ganzen Veranlagung nach noch mehr gegen den Strich gehen muß wie seinen
-religiösen Vorkämpfern Paulus und Augustinus. Mit Weisheit war keine
-Reformation gemacht und ein kochender Geyser ist kein Kristall, nicht
-einmal ein flüssiger. Aber in der außerordentlichen Bewertung einer
-kritisch zu betreibenden Wissenschaft fühlt sich auch Luther durchaus
-mit dem Humanismus einig, -- war doch sein ganzer Evangelismus zutiefst
-nur eine besonders fruchtbare Anwendung des humanistischen Grundsatzes
-jener zeitgemäß verfahrenden Forschung: Zurück zu den Quellen! Zurück
-zu den Ursprüngen! Zurück zu den Urkunden!... Diese humanistische
-Wissenschaft, in ihrer Beschaffenheit ebensosehr nominalistisch und
-kritisch wie die scholastische Wissenschaft realistisch und dogmatisch,
-wird mithin seit der deutschen Reformation von dem mächtigen Atem des
-Protestantismus gebläht und geschwellt. Kritik heißt die Springwurzel,
-Kritik heißt die Sprengwurzel, welche die Schlösser soviel heimlicher
-Schatzkammern des Wissens krachend aufsprengt; Kritik heißt die Kunst
-der Vernunft, die Wahrheit an und für sich selbsttätig auszumitteln,
-die vormals der Scholastiker gleichsam auf Gnadenwegen als den Geist
-des Allerheiligsten in seinem Geist empfing. Jetzt besteht ein
-angeborenes Menschenrecht für jeden, der des Wissens bedürftig ist,
-die sich darbietenden Sachverhalte der Reihe nach zu prüfen auf ihre
-Richtigkeit oder Irrigkeit hin, -- jetzt besteht sogar eine angeborene
-Menschenpflicht, sich dieser selben Prüfung nicht in Feigheit oder
-Trägheit zu entziehen, sondern sie vorzunehmen nach ‚bestem Wissen und
-Gewissen‘. Der Kritiker, das ist der Richter über Wahr und Falsch:
-der Richter, der da Wahr und Falsch erst zu suchen, erst zu finden
-hat, ehe das Urteil ergehen kann, -- und just dieser Umstand ist von
-großer Tragweite in der Folgezeit gewesen. Denn von da an heißt ja
-Wissen nicht mehr einen von vornherein daseienden Besitz an ewigen
-Wahrheiten, ewigen Denkinhalten, ewigen Gewißheiten einfach anzutreten,
-wie beispielweis das Mittelalter die ewige Wahrheit ‚Gott‘ angetreten
-hat. Fortab heißt Wissen in unablässiger Prüfung und Überprüfung die
-Entscheidung über das, was gilt oder nicht gilt, durch eigenes Tun,
-eigenes Können herbeiführen und furchtlos die Verantwortung für die
-eigene Entscheidung auf sich nehmen. Ein gewaltiger Umschwung, der ein
-paar Jahrhunderte später seinen denkwürdigen Ausdruck in der Lehre
-Kants gefunden hat, wonach die Gegenstände des Wissens keineswegs
-schon fertig zum Gebrauch vor dem zugreifenden Verstand des Wissenden
-ausgebreitet liegen, wie bisher die übliche Meinung war, sondern
-durch die geregelte Zusammenarbeit sämtlicher Erkenntniskräfte erst
-erzeugt, hervorgebildet und erschaffen werden. Wenn der Platoniker nur
-sein geistiges Auge aufzuheben brauchte zu der Feste der ‚in Wahrheit
-seienden‘ Sinn-Bilder, nachdem er den Blick von dem Schein-Bild der
-Werdewelt abgewendet hatte: und er alsdann das Wahre an und für sich
-schaute; wenn der Peripatetiker nur in Übereinstimmung mit den
-Vorschriften des Vernunftschlusses zu folgern brauchte, nachdem ihm
-die ersten und grundlegenden Obersätze aller aufwärts und abwärts
-leitenden Schlüsse durch unmittelbare Kenntnisnahme gegenwärtig
-geworden waren: und er alsdann die Wahrheit an und für sich ergründete;
-wenn der Scholastiker nur in Berührung zu gelangen brauchte mit der
-Vollkommenheit des höchsten Wesens, nachdem er sich der begnadenden
-Mitwirkung dieses Wesens bei diesem geistigen Mahl geistiger
-Eucharistie versichert hatte: und er alsdann die Wahrheit als Gott und
-Gott als die Wahrheit empfing, -- so liegt es jetzt dem Kritiker und
-Kritizisten ob, sich ein für allemal die notwendige Klarheit darüber
-zu verschaffen, daß es eine an und für sich seiende Wahrheit in der
-bisher gültigen Auffassung eigentlich nicht gäbe, vielmehr durch die
-Arbeit des Wissens und Erfahrens und Erkennens erst hervorgebracht
-werden müsse. Mit dieser Einsicht erst, die der kantischen Kritik
-verdankt wird, ist die allmähliche Umdeutung des Begriffes Wissen und
-Wissenschaft zu Ende gebracht, welche im humanistischen Zeitalter mit
-der Zersetzung des scholastischen und realistischen Dogmatismus beginnt
-und dann vom Protestantismus so nachdrücklich gefördert wird. Und
-wie etwa Benvenuto Cellini, der Erzgießer, gelegentlich alle Teller,
-Schüsseln, Platten eines Geschirrs von Zinn, die er im Drang der
-Not erraffen kann, einfach in den Sutt seiner eben werdenden Statue
-hineinwirft, um sie darin für den Guß einzuschmelzen, -- so übergibt
-Kant, der Kritizist, alle Gegebenheiten, Wahrheiten, Gewißheiten der
-Erkenntnis, deren er überhaupt habhaft zu werden vermag, gleichsam dem
-Sutt werdender Vernunfturteile, um derart die spröden Gebilde fertiger
-Wissenschaft in die Tätigkeit der Wissenserzeugung einzuschmelzen. In
-einem bis zu den obersten Voraussetzungen des Erkennens rücklaufenden
-Verfahren hat mithin der Kritiker alles zu prüfen und immer wieder zu
-prüfen, was mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit und Geltung vor ihn
-tritt. Nichts in der Welt ist dazu berechtigt, sich unbeanstandet,
-unbeargwöhnt Wahrheit oder Gewißheit gar anzumaßen. Wofern jede
-Prüfung aber auf dem Besitz der Maßstäbe, jede Entscheidung auf
-dem Recht der Zuständigkeit fußt, obliegt dem Kritiker eine
-andauernde Selbstbesinnung auf diese seine Maßstäbe, eine andauernde
-Rechtfertigung dieser seiner Zuständigkeit. Die ganze unendliche Welt
-legt der kritisch Prüfende, kritisch Entscheidende auf die Wage: der
-kritisch Prüfende und Entscheidende wird sich und der Welt selber
-zur Wage, die nun niemals mehr zur Ruhe kommt, sondern beständig auf
-und nieder schaukelt, auf und nieder gaukelt. Jeder Einfall, jede
-Beobachtung, jede Entdeckung erzwingt eine Verschiebung der Gewichte
-und infolgedessen zittert und bebt, wankt und schwebt, tanzt und
-schwankt alles Gewußte und alles Wißbare ohne Aufhören. Nichts mehr in
-Raum-Zeit und Zahl steht fest, nichts mehr steht: und am wenigsten die
-Wahrheit. Wie vordem das Radjuwel das Kennzeichen gewesen ist für die
-Lehre Gotamos oder der Fisch das Kennzeichen für die Zugehörigkeit
-zum Christentum, so wird jetzt das Fragezeichen zum Kennzeichen des
-kritischen Wissensbegriffes und des ihm zugehörigen Weltalters,
--- das Fragezeichen das Kennzeichen und vielleicht eher noch das
-Kainszeichen einer zu geistiger Fried- und Heimatlosigkeit verdammten
-Menschheit. Unausgesprochen oder ausgesprochen, unausgeschrieben oder
-ausgeschrieben erscheint das Zeichen der Frage hinter allen Urteilen
-und Deutungen, Annahmen und Voraussetzungen der heutigen Wissenschaft
-als die _reservatio mentalis_, die jedes erkenntnismäßige Ergebnis zu
-einem nur einstweiligen, nur uneigentlichen, nur annäherungweisen,
-nur widerruflichen unrühmlich herabsetzt. Es kann sich alles ungefähr
-so verhalten, wie sich’s dem kritischen Bewußtsein zu dieser Stunde
-zu verhalten scheint. Aber es kann sich auch alles völlig anders
-verhalten, und der Möglichkeiten, wie sich’s verhalten könne, ist
-nirgendwo kein Ende abzusehen...
-
-Aus dieser verzweifelten Lage versucht sich der europäische Genius
-noch einmal zu retten, eh’ er sich stumpfsinnig und ergeben in
-das augenscheinlich Unvermeidliche schickt. Der kritische, ja der
-protestantische Begriff des Wissens ist es, der jedem Einzelnen
-die eiserne Pflicht auferlegt, die Aussagen des Verstandes, die
-Grundsätze der Vernunft, die Entscheidungen der Urteilskraft auf ihr
-Wahr oder Falsch, Richtig oder Irrig hin zu sichten und sich die
-Stellungnahme zu ihnen je nach dieser Sichtung vorzubehalten. Aber
-selbst in diesem Zeitalter der Kritik und des Kritizismus ist dem
-Abendländer das Bewußtsein noch nicht völlig verloren gegangen, daß
-die wesentlich menschheitliche Leistung des Wissens unmöglich auf
-die kritische Schlichtung der Erkenntnisse in gültige und ungültige
-allein beschränkt sein könnte. Sogar jetzt bleibt eine Ahnung wach, daß
-alles Wissen, wie es auch beschaffen sei, für den geistig-seelischen
-Aufbau der Person und für deren Selbstverwirklichung fruchtbar zu
-machen sei. Gleichzeitig mit der Hochtürmung des kritischen Gedankens
-in der kantischen Philosophie setzt eine neue humanistische Bewegung
-ein von ungleich stärkerer und umfänglicherer Artung als jene des
-fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts: und vor allem ist es ihr
-zu danken, wenn man sich wieder deutlicher besinnt auf das, was ich
-eben die menschheitliche Leistung des Wissens nannte. Das Wissen
-kann, nein das Wissen soll der Bildung dienen, die Bildung aber der
-planmäßigen Selbststeigerung, Selbstbereicherung, Selbstveredelung
-aller menschlichen Fähigkeiten. Wenn also in Wahrheit die kritische
-Auffassung des Wissens auf humanistische Ansätze im Zeitalter des
-Protestantismus zurückgeführt werden darf, dann schreitet sie ihrerseit
-auch wieder instinktiv zum Humanismus fort. Nur daß jetzt, -- wir
-sind im achtzehnten Jahrhundert, -- die immerhin schmächtigen und
-leibarmen Gestalten erfurter oder gothaer _doctores_ zu jenen stattlich
-ragenden Persönlichkeiten ausgewachsen sind, welche Deutschlands Parnaß
-damals bevölkerten. Noch einmal geben sich auf deutscher Scholle der
-sokratisch Weise und der humanistisch Gebildete ein Stelldichein;
-noch einmal treffen sich beide wenigstens in dem einen Gedanken enge,
-daß jede menschliche Person die Anwartschaft auf ihre eigene Wahrheit
-habe, um mit ihr zu leben und zu sterben, -- ja nicht allein auf ihre
-eigene Wahrheit, sondern etwa auch auf ihren eigenen Irrtum, wie
-Lessing so herzhaft tapfer erkannt und Goethe so natürlich schön gelebt
-hat. Dieser humanistische Begriff der Bildung anerkennt zwar also
-jegliche Pflicht zur Prüfung und Entscheidung über das Wahr-Falsch des
-Wissens durchaus, aber ordnet dieser grundsätzlich protestantischen
-Verpflichtung doch sofort die zweite als die höhere über, sich aus
-dieser schlechten Unendlichkeit von Wahrheiten diejenigen gleichsam
-auszusuchen, welche geeignet erscheinen, die eigene Persönlichkeit
-ihrer äußersten Steigerung zuzuführen: und gleichfalls aus der
-Unendlichkeit aller Irrtümer sogar auch solche Irrtümer, die demselben
-Zweck dienlich sein möchten. Dem Weisen von ehedem war noch genau das
-zu wissen nötig, was er in seiner Eigenschaft als Mensch, Mitmensch,
-Bürger zu tun oder zu lassen habe, um als ein ‚Wohlbeschiedener‘ zu
-wandeln, -- darüber hinaus durfte getrost alles Wissen überhaupt auf
-sich beruhen bleiben. Der Gebildete indes nimmt es als sein bestes
-Vorrecht, alles, wie sich’s eben fügt und schickt und trifft, seinen
-aneignenden und anpassenden Tätigkeiten zu unterwerfen, womit er
-freilich den schmalen Rahmen zerbricht, in welchen der Weise sein
-schlichteres Bildnis von sich selber einzufassen liebte... In dem Maß,
-als mithin der Zielgedanke der Weisheit den Zielgedanken der Bildung an
-innerer Standfestigkeit und Unerschütterlichkeit übertrifft, in dem Maß
-übertrifft auch der Zielgedanke der Bildung den der Weisheit an innerer
-Umfänglichkeit und Spannungkraft. Der Weise ist immer auch zugleich ein
-Geiziger, aber der Gebildete verschwendet, und zwar am meisten sich
-selbst. Baustoff zum Aufbau seiner selbst, seines Selbst deucht ihn
-alles, was überhaupt noch in die Grenzen menschlichen Aufnahmevermögens
-fällt, nicht allein das ihm eigentümliche Wahre, sondern auch das
-ihm eigentümliche Irrige. Der Gebildete weiß, daß Wahrheit und Wahn
-aller Völker, Helden und Zeiten bilden können und gebildet haben, und
-je stärker sich der Gebildete von dieser unumstößlichen Gewißheit
-durchdrungen fühlt, desto weiter spannen sich die Grenzen dessen, was
-er zu seiner Selbstverwirklichung verwerten kann. Das Wissen des Weisen
-trachtet darnach, ein Mindestmaß zu werden; das Wissen des Gebildeten
-eifert nach dem Höchstmaß schlechterdings, und wenn einen, so lockt
-ihn der goldene Überfluß der Welt. Was da das Aug’ erblickt, das Ohr
-vernimmt, die Hand ertastet, der Sinn erdenkt, die Einbildungkraft
-erträumt, die Sehnsucht erwünscht, der Geist erdichtet, das wird ihn
-unter günstigen Bedingungen formen und gestalten. Denn Bildung ist
-Selbstvervielfältigung um alle die Erfahrungstoffe und Erlebnisinhalte
-der Welt, und in diesem Wortverstand deckt sie sich schon beinah’ mit
-der Erinnerung, die vorhin gleichermaßen gekennzeichnet ward als
-eine Art von Selbstvervielfältigung. So spinnt der neue Humanismus
-seidene Fäden über alle Länder und Erdteile, über alle Zeiten und
-Gesittungen, über alle Äußerungen und Hervorbringungen, über alle
-Geschehnisse und Geschichten. Neben das Rom der älteren Humanisten
-tritt überragend Griechenland, neben Griechenland der Balkan,
-Judäa, Arabien, Kleinasien, der Jrân, Ägypten, Indien, China...
-Eine Weltwanderschaft beginnt, eine zweite _conquista_, nur ohne
-Grausamkeit und Teufelei, ohne Blutvergießen und Verrat, ohne
-Leibesmord und Seelenvergiftung, vielmehr alleinig mit der göttlichen
-Waffe des Geistes. Der materiellen Besitzergreifung dieser Erde
-folgt die spirituelle, und sie tilgt die blutigen Spuren jener mit
-der Barmherzigkeit eines Engels. Denn diese Bildung -- ich nutze die
-Gelegenheit, es endlich einmal auszusprechen! -- diese Bildung zeigt
-ihre ehrwürdigen Träger und Vertreter wundersam begütigt: begütigter
-vielleicht als die Heiligen der bisher bekannten Religionen in Europa.
-Fast sieht es aus, als sei der Mensch dieses bösen Kontinentes hier zum
-erstenmal wirklich Mensch, hier zum erstenmal wirklich gut geworden,
-jetzt, wo er sich zum erstenmal bildet. Nicht aus Zufall auch wird in
-diesem Weltalter der Bildung gleichfalls zum erstenmal die Duldung
-zum Ideal der Zeit erhoben, nachdem sämtliche frühere Zeiten von
-einer Tugend solchen Namens nicht nur nichts wußten, sondern nichts
-wissen wollten. Zu dieser Stunde aber konnte, ja mußte die Duldung
-ernstlich geboten werden, -- obschon diese Duldung natürlich eine
-vieldeutige Erscheinung von mancherlei verschiedenen Ursachen gewesen
-ist, die keineswegs alle auf dem Gebiet des Geistes liegen. Die Duldung
-konnte, ja mußte in dieser Stunde geboten werden, weil der Gebildete
-endlich begreift, wie gleichmäßig fruchtbar jede Tatsache des Wissens,
-jede Tatsache des Glaubens sogar vom Menschen gemacht werden kann,
-unbeschadet seiner protestantisch-kritischen Pflicht zur Prüfung
-über Wahr und Falsch. Weil aber und wofern es der Gebildete ist,
-welcher dies begreift, vermag er den kritischen Begriff des Wissens
-von innen her zu überwinden. Wahr ist zwar nur, was die Vernunft in
-Übereinstimmung mit ihren eigenen Grundlagen und Voraussetzungen
-findet: aber in einem freien Sinn ist außerdem alles wahr, was den
-Menschen bändigt und erzieht, veredelt und aufklärt, läutert und
-verschönert, barmherzig und liebreich macht wie beispielweis jede
-der drei bekannten großen Religionen. Und weshalb nur jede der drei
-großen? weshalb nur jede der sogenannten Religionen? weshalb nicht
-alle in der Seele empfangenen und aus der Seele geborenen Religionen,
-Bekenntnisse, Glaubensvorstellungen, Moralen, Weltbilder, Künste,
-Heil- und Heiligtümer? So aufgefaßt aber machen die geflügelten Worte
-des Juden Nathan zum Kalifen Salah-ed-Din einen bislang unbekannten
-Zustand unseres Festlands kenntlich: einen bislang unbekannten Zustand
-nicht nur unseres Europa, sondern gleichsam eines neuen und eben
-erst erstehenden Kontinentes, der vielleicht nicht ganz unpassend
-Europasien zu nennen wäre, wenn anders man mir dieses Wort verzeihen
-will, welches eines Tages, wer weiß es, ein kaum mehr zu entbehrender
-Begriff sein wird... Genau diese nathanische Toleranz aber ist es,
-die jetzt dem europäischen Gebildeten den Zugang, den lang und
-fest versperrten, zum mütterlichen Festland wiederum entriegelt.
-Denn daß in diesem Augenblick einer der kritischsten, ja einer der
-polemischsten Köpfe seines kritischen Jahrhunderts diese durchweg
-männliche Duldsamkeit verkündigt, -- es gibt auch eine weibische
-Duldsamkeit, von der hier nicht geredet werden soll! -- daß just der
-Kritiker zur Toleranz sich bildet und in der Toleranz seine Kritik
-überwindet: das ist schon ein Stück Asien mitten im Herzen Europas.
-Das ist die erste Regung asiatischer, ja schon fast gotamidischer
-Groß- und Langmut, die sich unerschüttert-unerschütterlich genug weiß,
-alles unter dieser irdischen Sonne Auf- und Niedergehende in seiner
-Art an seinem Platze gelten zu lassen. Hier spricht die Menschlichkeit
-Asiens, wenn just der leidenschaftlichste Anti-Dogmatikus, der
-hitzigste Anti-Theologus das uralte Gleichnis von den drei Ringen
-wieder aufgreift und es der europäischen Welt, nein der Welt überhaupt
-als das nie mehr preiszugebende _tertium testamentum_ hinterläßt. Der
-glänzendste Vertreter mittelalterlicher Bildung, der Fürst, an welchem
-das glorreiche Deutschland des Mittelalters zugrunde ging, konnte auf
-die nämliche Frage noch, welche Saladin dem weisen Nathan stellt, die
-Antwort von den drei Betrügern finden. Lessing jedoch fand darauf die
-tiefere und schönere Antwort von den drei Wahrheiten: und so fand er
-auf seine Weise eine Spur von jener Lehre, „deren Anfang begütigt,
-deren Mitte begütigt, deren Ende begütigt“...
-
-Das Zwischenspiel der europäischen Bildung, die endlich wieder einmal
-wußte, weshalb der Mensch wissen soll und wissen muß, war herrlich
-aber kurz. Es versprach überschwänglich viel und vieles, und das
-war mehr, als es halten konnte. Ein Jahrhundert, in wesentlichen
-Stücken deutsch trotz aller staatlichen Unbedeutung Deutschlands, ein
-Jahrhundert zwischen den Mannesjahren Herders, Wielands, Lessings
-und dem Tod der beiden Humboldts, -- und vorbei! Dasselbe Volk aber,
-welches den Begriff der Bildung in einem ruhmreichen Geschlecht von
-Denkern, Künstlern, Dichtern und Gelehrten auf seinen europäischen
-Gipfel getrieben hatte, schändet diese Bildung und schändet sich selber
-mit einem niemals zu verzeihenden Zynismus. Was seit dem Sieg des
-schlechteren Deutschland über das bessere in Deutschland selber und
-folglich auch in Europa Bildung heißt, verhält sich zu der Bildung des
-achtzehnten Jahrhunderts wie sich ein Mann etwa von der Würde Schillers
-zu einem einjährig-freiwilligen Prüfling mit ‚erlangter Reife‘ verhält,
-oder wie sich ein Kunstwerk von dem Wert des Palazzo Pitti zu einem
-Schweinekoben verhält. Darüber ist längst jedes Wort zuviel; -- genug,
-daß sich seit jenem schlimmsten Höllensturz, den vielleicht die
-europäische Geschichte vor dem November 1918 zu verzeichnen hat, die
-kritisch-protestantische Wissenschaftlichkeit des Abendlandes ohne
-jede selbst auferlegte Hemmung gehen läßt und austobt wie ein Mönch,
-der sein Gelübde brach. Jetzt hat ein jeglicher die Pflicht und auch
-das Recht, nach Möglichkeit alles zu wissen, alles zu begutachten,
-alles zu beurteilen, alles zu richten, alles zu entscheiden, alles
-zu erlauben, alles zu verbieten. Wahrheiten, die nicht Wahrheiten
-jedermanns sind und nicht ‚allgemein und notwendig‘ gelten oder nicht
-gelten, gibt es von jetzt an nicht mehr. Wahrheiten, die vielleicht
-nach dem strengen Wortgebrauch des Wissenschafters keine sind, vielmehr
-eher Irrtümer, die aber trotzdem ‚wahr‘ in einem anderen Wortgebrauche
-sind, weil sie Leben spenden und Entwicklungen fördern und Kräfte
-entfesseln und Bewegungantriebe übermitteln und Spannungen bewirken
-und Lösungen vorbereiten, -- sie gibt es von jetzt an nicht mehr.
-Wahrheiten, die mit den einzelnen Lebensaltern wachsen und wieder mit
-ihnen welken und darum stets wieder ihre Zeit haben wie die Gezeiten
-des Himmels und der Erde, gibt es von jetzt an nicht mehr. Wahrheiten,
-die furchtbar auszuhalten sind wie eine verlorene Schlacht und dennoch
-eines Helden persönlichsten Sieg über die Welt und über sich selber
-darstellen, gibt es von jetzt an nicht mehr. Wahrheiten, die zwar nicht
-in Hörsälen nachgeschrieben, mit dem Steiß ersessen, mit dem Experiment
-erhärtet werden, dafür aber etwa mit dem eigenen Leben beglichen und
-mit dem eigenen Blut bezahlt sind, gibt es von jetzt an nicht mehr:
-desgleichen nicht mehr Wahrheiten, die zwar nicht in staatlichen
-Prüfungen öffentlich erprüft, dafür aber in vielerlei heimlichen
-Proben erprobt sind, nämlich in der Feuerprobe, in der Wasserprobe,
-in der Wollustprobe, in der Todesprobe, wie ein Adept altägyptischer
-Mysterien... Fortab verhält sich eine Sache so oder anders, und sobald
-dies ausgemacht ist, ist dieselbe Sache eigentlich im ersten wie im
-zweiten Fall erledigt, -- denn ausgemachte Wahrheiten pflegen uns
-gemeinhin ebenso wenig zu bekümmern wie ausgemachte Unwahrheiten. Die
-Kriterien aber sind in jedermanns Besitz, wofern ja die Vernunft und
-ihre Verfahrungweisen wenigstens grundsätzlich in jedermanns Besitz
-sind. Kritik braucht daher nirgends haltzumachen, soll und darf
-sogar nirgends haltmachen. Jeder stempelt alles ab, fertigt alles
-ab, nimmt zu allem Stellung, wahrt zu allem Abstand, behält sich die
-letzte Entscheidung gegenüber allem vor, unterwirft seinem Recht- und
-Richterspruche alles. Denn Wissen, das heißt Gerichtstag halten, wie
-einmal ein Dichter über das Dichten sagte; aber Gerichtstag halten
-diesmal nicht über sich selber, wahrhaftig nicht! sondern über diese
-ganze sicht- und unsichtbare Welt. Bis zuletzt keiner mehr woaus woein
-weiß. Bis zuletzt keiner mehr eine Stätte weiß, wo er sein Haupt zur
-Ruhe betten kann. Bis zuletzt keiner mehr Ursach’, Grund und Zweck
-weiß, warum er weiß. Bis zuletzt keiner mehr in Wahrheit weiß, ob er
-weiß oder ob er nicht weiß...
-
-Europa aber oder die Christenheit, ihr Christen es litt und leidet
-unbeschreiblich unter dieser verhängnisvollsten Konsequenz des
-europäischen Protestantismus, die da Kritik heißt: Kritik ohne
-Einschränkung oder Zügelung, Kritik ohne Pause oder Ruhepunkt, Kritik
-ohne Grenze oder Maß, Kritik ohne Anstand oder Zucht. Mit dieser
-Kritik ist der Protestantismus des Westens außer Rand und Band
-geraten, und außer Rand und Band geraten sind mit ihm die Protestanten
-und Nichtprotestanten alle, die sich ihm freiwillig oder gezwungen
-gefügt haben, weil sie nicht das Odium der Unwissenschaftlichkeit
-auf sich nehmen wollten. Indes dieser Kritizismus am Leib und mehr
-noch an der Seele und am Geist der westlichen Menschheit frißt
-und wahrscheinlich alle drei noch einmal auffrißt, zeigt sich der
-Protestantismus Indiens von dieser Krankheit schlechthin unergriffen.
-In einer unverhältnismäßig entschiedeneren Art Protestant als
-irgend wer unter den repräsentativen Protestanten des Abendlandes,
--- den einzigen Nietzsche ehrenvoll ausgenommen! -- verbietet eben
-dieser Protestant κατ’ ἐξοχήν Gotamo seinem Orden alles, was der
-Westen als die weltgeschichtlich bedeutsamste Errungenschaft des
-protestantischen Zeitalters immer noch mit vollen Backen auszuposaunen
-liebt: das uneingeschränkte Recht der Persönlichkeit auf Kritik,
-die uneingeschränkte Pflicht der Persönlichkeit zur Kritik, die
-uneingeschränkte Freiheit der Persönlichkeit zur Kritik. Wir Europäer,
-die wir seit Platons Tagen gelernt haben, das Wissen um der Wahrheit
-willen zu betreiben und bestenfalls in den Hoch- und Glanzzeiten
-unserer drei oder vier klassischen Kulturen den zersetzenden
-Wirkungen des _l’art pour l’art_ ausgewichen sind, -- wir Europäer
-wurden durch eben dieses _l’art pour l’art_ die frechen _libertins_
-des Wissens und der Wahrheit, mit nur geringer Hoffnung, uns diese
-_libertinage_ noch einmal selber zu verbieten, selber zu verbitten:
-ganz einfach aus der Erkenntnis ihrer Gefährlichkeit heraus. Der
-indische Mensch hingegen, von allem Anfang an das Wissen als eine
-Leistung von ganz anderem Sinn bewertend, bedient sich auch nirgends
-der Kritik, um von ihr aus das Wissen zu rechtfertigen, zu erhärten,
-zu bewähren. Vielmehr liegt es durchaus in der Machtvollkommenheit des
-Wissenden, das Wissen über jede Möglichkeit der Anzweiflung hinaus zu
-rechtfertigen, zu erhärten, zu bewähren. Dadurch nämlich, daß er mit
-Hülfe des Wissens jenen menschlichen Zustand verwirklicht, welchen
-das denkwürdige Gespräch der Chândogya-Upanischad zwischen Nârada
-und Sanatkumâra als die Überwindung des Kummers bezeichnet: „Ich
-aber, o Ehrwürdiger, bin bekümmert...“ -- „Ich aber, o Ehrwürdiger,
-bin nicht mehr bekümmert!“... Wo der Wissende denen, die um ihm sind
-oder die sich ihm nähern, zu erkennen gibt, daß er diesen Zustand
-wirklich in sich verkörpert, da hat der Wissende nicht allein sich
-selber, sondern außerdem auch sein Wissen über jeden Einwand gewiß
-gemacht. An seinem persönlichen Zustand und Urstand liest man die
-Stufe erlangter Wissenschaft unmittelbar ab, wie man an den Zahlen
-eines Wärmemessers die Grade der Wärme oder Kälte unmittelbar abliest.
-So wird die Fragestellung nach Wahr oder Falsch nicht geradezu
-abgewiesen, denn dazu ist sie für die Lebensführung in jedem Sinn
-viel zu unentbehrlich. Wären wir nämlich außer stand, Wahr und Falsch
-zu unterscheiden, dann könnten wir wohl auch Wahrheit von Lüge nicht
-unterscheiden, und dieser Mangel an notwendigstem Wissen würde
-sofort in den Mangel an notwendigstem Gewissen umschlagen. Gehört
-doch gerade nach der Lehre des Buddho die Lüge zu den fünf gröbsten
-Hemmungen, die unbedingt beseitigt werden müssen, ehe die feinere
-Arbeit der Selbstläuterung und Selbstheiligung von statten gehen kann.
-Schon also um nicht lügen zu müssen, muß man Wahrheit von Wahn zu
-unterscheiden vermögen, und in diesem Betracht läßt freilich auch die
-buddhistische Heilslehre Kritik nicht nur zu, sondern fordert sie mit
-aller Strenge. Auf der Erkenntnis der Wahrheit im Gegensatz zur Lüge
-beruht auch hier jede höhere Menschlichkeit, und nur, was Wahrheit im
-Gegensatz zu Irrtum, Irrtum im Gegensatz zu Wahrheit betrifft, trennt
-sich die Auffassung Indiens, insonderheit die Auffassung Gotamos mit
-Bestimmtheit von der unseren. Indes Wert oder Unwert des Wissens bei
-uns ausschließlich davon abhängig gemacht wird, ob es Wahrheit, ob es
-Irrtum mitteilt, entscheiden dort Wahrheit und Irrtum von sich aus
-nicht über Wert oder Unwert des Wissens. Wesentlich für das Wissen
-ist ausschließlich das eine, daß es den Wissenden emporstufe und
-empormensche gemäß der Lehre, gemäß der Regel. Ein Wissen jedoch,
-nur dazu erworben, um Wahres von Verkehrtem, Falschem, Irrigem zu
-sondern, ist in den Augen Gotamos wofern nicht wertlos, so doch
-vollkommen belanglos: Adiaphoron! In dem berühmten Gleichnis vom
-vergifteten Pfeil in der Dreiundsechzigsten Rede aus der Mittleren
-Sammlung Majjhimanikâyo fertigt der Buddho alle diesbezügliche
-Neubegier mit einem unübertrefflich feinen und geistreichen Spott ab,
-und wer hier zwischen den Zeilen und nicht allein auf ihnen zu lesen
-verstünde, der würde vielleicht gewahr, daß für Gotamo unter den
-Inbegriff ‚wissenschaftlicher‘ Neubegier so ziemlich alle die ‚ewigen‘
-Fragen unserer Europäerwelt mit ihren Disjunktionen, Alternativen,
-Paralogismen, Subreptionen, Antinomien fallen, -- tausendunddrei und
-ihr seid auch dabei!...
-
-Nur Eine Wissenschaft, nur Eine Wahrheit tat hier also wirklich not.
-Sie aber, und dies ist die hohe Überraschung für den Protestanten des
-Westens, ist keiner Kritik unterworfen. Das Wissen, ein Verfahren der
-Verwirklichung und Vollendung des ‚heiligen Zieles‘, erträgt in dieser
-Eigenschaft schlechterdings keinen Einspruch, keinen Abstrich, keine
-Verbesserung, keine Erweiterung: weder im großen und ganzen noch im
-einzelnen und kleinen. Hier steht jeder Buchstab’, jedes Wort und jeder
-Satz, und weh’ dem eitlen Besserwisser, der sich nach Abendländersitte
-hier gedreistet, kritische Glossen an den Rand zu schreiben. Der
-Buddho, unstreitig die edelste Verkörperung menschlicher Duldsamkeit,
-zeigt sich durchaus unduldsam in Ansehung der Lehre und versteht
-bezüglich ihrer wahrlich keinen Spaß. Wir Europäer, unduldsam bis ins
-Mark und aus Unduldsamkeit unsäglich böse, tückisch und rachsüchtig,
-wir haben die ‚Freiheit der Kritik‘ erfunden, um uns vor uns selbst
-zu schützen, -- und haben damit kraft ungeschriebenen Gesetzes auch
-der dreckigsten Nase erlaubt, ja geradewegs geboten, die reinlichsten,
-heiligsten, göttlichsten Dinge zu beschnüffeln. Aber Gotamo, dessen
-Muttersprache nicht einmal ein Wort für Ketzerei enthält, geschweige
-denn einen Begriff, -- wie fertigt er seine Mönche ab, wenn sie sich
-herausnehmen wollen, eine eigene Meinung hinsichtlich der Lehre zu
-haben! Mit welch ätzender Schärfe, mit welch schneidender Härte weist
-er den leisesten Versuch zurück, an der Lehre zu kritteln und zu
-deuteln: mit einer Härte und Schärfe, welche kein römischer Papst hat
-jemals übertreffen können. Das Wort sie sollen lassen stahn, dieses
-Prooimion überschreibt groß und wuchtig die Pforte, durch welche der
-Mönch Einlaß findet in diesen heiligsten Orden der Welt. Undenkbar,
-ganz unausdenkbar, daß jeder grünere oder reifere, jeder dümmere
-oder klügere Mensch ein Recht dazu besäße, die Lehre zu erörtern
-oder vollends über ihren Wert oder Unwert (der diesseit-jenseit von
-Wahr und Falsch ist!) die Entscheidung zu treffen. Undenkbar, ganz
-unausdenkbar, daß ein beliebiger Jemand den lebendig gewachsenen
-Wunderbau dieser ‚Wissenschaft‘ etwa hätte auf einem neuen Grundriß
-errichten, daß er hier eine Wand hätte einziehen, dort eine Mauer
-hätte ausbrechen lassen dürfen. Wohl hat der Buddho nicht verhindern
-können, daß nach seiner endgültigen Erlöschung manche ‚unechte‘ Rede
-unter dem Stempel ‚Das hab ich gehört‘ in Umlauf kam, -- manche Rede,
-die er nie gesprochen oder wenigstens nie in diesen Worten gesprochen
-hatte. Wohl hat er ferner nicht verhindern können, daß sein Bild im
-Gedächtnis der Nachlebenden solang aufgehöht und übermalt ward, bis
-es zuletzt zu jener Völligkeit des erhabenen Reliefs gedieh, welche
-unerläßlich zu sein scheint, damit unberatene Völker das geistige
-Walten eines ‚Herrn‘ verspüren. Und am wenigsten hat er verhindern
-können, daß die Legende, will heißen das zu ‚Sagende‘ und zu ‚Lesende‘,
-ihn schließlich mit der Aureole von Majestät umspann, die stets das
-Wahrzeichen einer vollzogenen Göttlichsprechung des Menschen durch die
-Menschheit gewesen ist. Jedoch was in der Folgezeit auch geschehen
-sein mochte, damit aus dem urwüchsigen Buddhismus des _Hînayânam_
-(das ist ‚Kleines Fahrzeug‘) der Buddhismus des _Mahâyânam_ (das ist
-‚Großes Fahrzeug‘) werden konnte und mithin aus der Religion des
-Buddho die eine Kirche oder die mehreren Kirchen der Âdhibuddhas,
-Dhyânibuddhas, Dhyânibodhisattvas, -- in keinem Fall verliert sich der
-Protestantismus Gotamos in den Kritizismus, wie das dem europäischen
-Protestantismus zugestoßen ist. In keinem Fall beschwört folglich der
-indische Protestantismus über seine Heimat die Krisis herauf eines
-Wissens um der Wahrheit an und für sich selbst willen, wie das der
-Kritizismus des Westens getan hat. Wieviel starke oder schwache Fäden
-daher auch gezwirnt sein mögen, die zwischen indischem und europäischem
-Protestantismus hin- und widerschießen, und wie vertraulich nah’
-der Buddho bald einem Eckhart, bald einem Kant, bald einem Nietzsche
-rücke, -- was seine Lehre anlangt, gehört sie mit ihrem Anspruch auf
-unbedingte Geltung eher den katholisch-dogmatischen Lebensordnungen
-an als den protestantisch-kritischen. Oder sag’ ich vorsichtiger
-und richtiger: sie würde eher jenen als diesen zugehörig sein, wenn
-sie nicht zu guter Letzt weder mit dem Dogma noch mit der Kritik in
-unserem europäischen Wortverstand im geringsten etwas zu schaffen
-hätte. Denn faß’ ich jetzt einmal noch alles hier Gesagte zusammen
-und frage einmal noch: was hat es für eine Bewandtnis mit dieser
-Lehre, diesem Wissen _sui generis_ diesseit wie jenseit von Dogmatik
-und Kritik? -- so ist nur eine Antwort darauf möglich: diese Lehre,
-dieses Wissen ist kein Urteilen mehr und kein Schließen, kein Besondern
-mehr und kein Verallgemeinern, kein Rechnen mehr und kein Zählen,
-kein Verbinden mehr und kein Trennen, kein Ergründen mehr und kein
-Erklären, kein Messen mehr und kein Wägen, kein Unterscheiden mehr und
-kein Ineinandersichten, kein Voraussetzen mehr und kein Beweisen, kein
-Zergliedern mehr und kein Verknüpfen, kein Begriffbilden mehr und kein
-Sinndeuten. Sondern ist recht und schlecht ein Tun und Vollbringen,
-durch welches der Mönch nach erworbener Meisterschaft sein Verhältnis
-zur Welt und sein Verhalten zu ihr regelt. Verwinder des Nichtwissens,
-Verwinder des Wähnens, Verwinder des Leidens, strahlt der Wissende
-das Licht seines Wissens in alle Richtungen und Winkel des erfüllten
-Raums. „Liebevollen Gemüts weilend strahlt er nach einer Richtung,
-dann nach einer zweiten, dann nach der dritten, dann nach der vierten,
-ebenso nach oben und nach unten: überall in allem sich wiedererkennend
-durchstrahlt er die ganze Welt mit liebevollem Gemüte, mit weitem,
-tiefem, unbeschränktem, von Grimm und Groll geklärtem. Erbarmenden
-Gemütes -- freudevollen Gemütes -- unbewegten Gemütes weilend strahlt
-er nach einer Richtung, dann nach einer zweiten, dann nach der dritten,
-dann nach der vierten, ebenso nach oben und nach unten: überall
-in allem sich wiedererkennend durchstrahlt er die ganze Welt mit
-erbarmendem Gemüte, mit freudevollem Gemüte, mit unbewegtem Gemüte, mit
-weitem, tiefem, unbeschränktem, von Grimm und Groll geklärtem“...
-
-Der Mönch der unbeschränkten Gemüterlösung, der Strahlende Mönch,
-ihr Christen, das also ist der gotamidisch Wissende. Der Strahlende
-Mönch, das ist der Wissende, der da sein Wissen, indem er’s übt und
-vollbringt, wider jeden Einwand feit und sichert. Der Strahlende
-Mönch, das ist der Wissende, der sein Wissen gültig in sich selber und
-gültig durch sich selber rechtfertigt, erhärtet und bewährt. Europa
-aber, ihr Christen, das berstende Haupt der Erde, -- es möchte sein,
-ihr Christen, daß es in dunkelster Stunde seines Mönches harre, der
-da wissend geworden in die Verfinsterung hinein sein Licht strahlt:
-erbarmenden Gemütes, freudevollen Gemütes, unbewegten Gemütes...
-
-
-
-
- DIE VIERTE UNTERWEISUNG:
- BUDDHO DER ÖST-WESTLICHE
-
-
-DAS HEILIGE JA LASST UNS BEKENNEN DAS HEILIGE JA ÜBER DIE AUF- UND
-NIEDERGÄNGE -- DAS HEILIGE JA ÜBER GEBURT UND TOD, GESTIRN UND
-SCHICKSAL -- DAS HEILIGE JA ERSCHAFFE DIESE WESEN UND ERHALTE SIE,
-DAMIT SIE IN DER FÜLLE STEHN WIE EINE HUNDERTBLÄTTERROSE IN IHRES
-MITTSOMMERS MITTAGGLÜCK -- DAS HEILIGE JA ZERSCHMELZE DIESE WESEN IN
-SEINES EWIGEN FEUERS TIEGEL UND HÄRTE SIE DARIN, BIS SIE GEDIEHEN
-SIND, BIS SIE GEDIEGEN SIND -- UND ALSO VERLÖSCHE DAS HEILIGE JA
-DIESE WESEN IN SEINES EWIGEN WASSERS BORN UND BRING IN IHM DIE WESEN
-WIEDER EWIGLICH -- WILLKOMMEN DEM JA-SELBST ALLE WESEN UND WILLKOMMEN
-IHM GLEICHERMASSEN DIE GEGEN- UND WIDERWESEN ALLE -- DIES IST DAS
-HEILIGE JAWORT UND FROHWORT UND DES FROHWORTES HEILIGE GRUSSSPENDE,
-ANDACHTSPENDE, OPFERSPENDE -- DIES IST GELÄUTERTEN HERZENS ERSTGEBURT,
-DARGEBRACHT IM FESTWEIHTEMPEL DER WELT -- WER DU AUCH BIST, O MENSCH,
-IN VIERTEN VIERTELS EDLER MONDSCHWELLUNG DEINER MENSCHLICHKEIT ODER IN
-IHRES DRITTEN, ZWEITEN, ERSTEN VIERTELS BEDAUERLICHER SCHWINDUNG:
-
- -- ICH WILL DIR WOHL --
-
- DIES IST DIE LETZTE UNTERWEISUNG
-
-
-Es ist uns etwas zugestoßen, ihr Christen, während dieser
-Mitternachtstunde in der Völkergruft Europas. Es ist uns etwas
-zugestoßen, wofür es noch keinen Namen gibt; es ist uns ein Zeichen
-geworden, welches noch niemand deuten kann. Mit nichten aber ist es
-dieser Krieg oder was ihm noch folgen wird auf seiner qualmenden Bahn.
-Auch der drohende Niedergang ist es nicht einer dreitausendjährigen
-Gesittung, die ihren Weg einst vom Südosten des Festlands aus
-genommen hatte, dann den Westen und die Mitte wie mit artenreichem
-Pflanzenwuchs verschwenderisch berankte, und jetzt im Nordosten des
-Festlands jählings endigt. Gehört doch derlei jeweils zu dem Leben
-der Geschichte: daß Siebenjährige, Dreißigjährige Kriege wüten, daß
-volkreiche Staaten gegründet und zerstört werden, daß rühmliche
-Gesittungen reifen und entarten. Sogar Umwälzungen von heftigster
-Gewaltsamkeit, die wir, käme es nur auf uns an, höchstens als grausame
-Ausnahmen gelten ließen, gehören offenbar zu den gebräuchlicheren
-Mitteln der Geschichte. Wären wir zum Beispiel genauere Kenner unseres
-Mittelalters, als wir in der Regel sind, dann wäre uns bewußt, daß
-in unserer eigenen Vergangenheit ein gesellschaftlicher Umsturz nach
-dem andern pausenlos eintrat wie das Feuern aus den Geschützen einer
-Batterie. Erlauchte Rassen und Stämme, eben noch Träger weithin
-wirkender geschichtlicher Bewegungen, sind schon einen Augenblick
-später von den Wirbeln des Todes fast spurlos verschlungen. Und wo
-die Rassen oder Stämme als solche dauern, da schichten sich ihre
-Stände in desto stärkeren Erschütterungen um und um. Was das für ein
-Trauerspiel gewesen sein mag, wenn etwa die freien Bauernschaften der
-taciteischen Germanen unter den fränkischen, sächsischen, salischen
-Königen unwiderstehlich zu Hintersassen, zu Hörigen erniedrigt wurden,
-das ahnen wir vielleicht in diesen Tagen, wo ein blühender Mittelstand
-einem ähnlichen Verhängnis verfallen zu sein scheint. Was damals den
-freien Bauern der Dorf- und Markgenossenschaft geschah, ist später dem
-Laienadel nicht erspart geblieben, der seinerseit vom Aufstieg der
-Städte und von der Ausbreitung der Geldwirtschaft an in fortschreitende
-Abhängigkeit vom bürgerlichen Geldgeber gerät. Bis dann im
-Dreißigjährigen Krieg auch diesem Bürger wiederum die Stunde geschlagen
-hatte und er zu seinem Teil dem _dominus terrae_ mehr oder minder
-schimpflich untertänig ward... Umwälzungen dieser Art, wie bitter sie
-von den Betroffenen empfunden werden und wie zahlloses Menschenglück
-ihnen zum Opfer fällt, gehören also dennoch dem unbegreiflichen
-Leben und Weben der Geschichte an. Wir Gegenwärtigen verwundern uns
-mutmaßlich über sie nur darum so ungemein, weil wir in vierzig Jahren
-gleißender Befriedung und Verbürgerung die schicksalhafte Härte und
-Unabänderlichkeit geschichtlichen Geschehens höchstens noch in den
-Annalen der Vergangenheit fanden. Welch ein unterschwürig bedrohtes,
-stets der Bedrängnis seitens des Mächtigeren ausgesetztes Dasein der
-geschichtliche Mensch bis dahin zu fristen verdammt war, hatten wir
-gründlich vergessen, -- vielleicht mit alleiniger Ausnahme derer,
-die sich mit Recht oder Unrecht die Enterbten zu nennen pflegten.
-Erschüttert und aufgewühlt, ja in tiefster Seele recht eigentlich
-außer uns gesetzt, erfühlen wir’s erst seit Neunzehnhundertundvierzehn
-wieder, was es heißt, um Luft und Licht, Freiheit und Leben zu ringen
-auf jenem fürchterlichen Kampfschauplatz, der Geschichte heißt...
-
-Trotzdem kann es nicht diese mit Blut und Tränen erkaufte Erkenntnis
-sein, die uns aus jedem wohltätigen Gleichgewicht der Seele gebracht
-hat. Da es der geschichtlichen Menschheit nur in wunderseltensten
-Feierstunden besser erging als uns, meist jedoch wesentlich schlechter,
-müßte sie folgerichtig auch ihrerseit die Merkmale, und zwar die
-verstärkten Merkmale unserer dermaligen Gemütsverfassung aufweisen,
--- weist sie aber dessen unerachtet nicht auf! Im Gegenteil. Je
-unsicherer, gesetzloser, verbrecherischer die Zeiten waren, je heftiger
-der Einzelne unter sittlicher und bürgerlicher Willkür zu leiden
-hatte, je fragwürdiger sich sein ganzes gesellschaftliches Dasein
-ausnimmt, desto hochwertiger bedünken uns oft die Leistungen unserer
-geschichtlichen Vorfahren. In einer Chronik des dreizehnten oder
-sechzehnten Jahrhunderts blätternd, verstehen wir’s schlechterdings
-nicht, wie es die Menschen unter den geschilderten Verhältnissen
-hatten überhaupt nur aushalten können. Uns aber dann von diesen
-Chroniken her den Denkmalen jener Zeiten zuwendend, den Denkmalen in
-Erz und Stein, in Holz und Glas, auf Leinwand und auf Pergament, --
-wie sind wir nicht erstaunt und ergriffen von der Weitatmigkeit des
-Schwungs, der die Besten ihres Zeitalters zu solchen Werken, solchen
-Taten hinriß! Und wie wir denn im Leben wohl hie und da einen Mann
-kennenlernen, der von wilden Leidenschaften hin- und hergetrieben
-wird und dennoch auf dem Grunde seines Wesens einen tiefen, schönen
-Frieden göttlich spiegelt, so scheinen just die Zeitalter klassischer
-Erfüllung nach außen hin zwar stürmischer als alle anderen bewegt,
-jedoch nach innen in jenem Zustand seelischer Ausgeruhtheit durchaus
-zu verharren, wie er nach traumlos erquickendem Schlaf das menschliche
-Gehirn allein zu seinen schöpferischen Eingebungen stärkt und befähigt.
-Diesen beneidenswerten Anblick indes bieten wir selbst heute in
-keinerlei Betracht dar, wenigstens nicht für uns selbst als unsere
-eigenen Beobachter und Beurteiler. Im Unterschied zu so begünstigten
-Zeitaltern ist das unsrige vielleicht, nach außen gewendet, nicht
-einmal stürmisch bewegt zu nennen, -- wie ungereimt dies auch
-klingen mag! -- geschweige, daß es, nach innen gewendet, den Zustand
-gestärkten Ausgeruhtseins, Ausgeruhthabens nach irgend einer Richtung
-hin darbieten würde. Die entnervende Unruhe, die uns ergriff, ist
-nicht die Unruhe des aufbrandenden Lebens, sondern des fiebernden
-Blutes. Unserm Betätigungdrang fehlt bei aller Rastlosigkeit der weit
-ausholende Pendelschlag organischer Rhythmik. Unserm Übereifer zu
-Lebenserneuerungen um jeden Preis mangelt die sichere Einstellung in
-die letzten Welt- und Lebensziele. Unserer Geschwätzigkeit über Gott
-und Geist gebricht das unbeirrbare Zutrauen zu uns selbst und der von
-uns gewählten Richtung. Darum überzeugt keiner den andern, traut keiner
-dem andern, glaubt keiner dem andern. Ein unbestimmbares Etwas, eine
-Tugend, eine Gnade ist uns offenbar abhanden gekommen, welche unsere
-Vorfahren in den schlimmsten Zeiten der Vergangenheit nicht zu missen
-hatten. Irgend ein Gut, dessen der geschichtliche Mensch unerläßlich
-zum Leben bedarf, wurde uns entwendet; irgend welche Gewichte, die den
-Uhrgang unserer Zeitlichkeit zu regeln haben, sind ausgehängt worden.
-Aber es ist wahrhaftig schwer, ein Ding zu suchen und wieder zu finden,
-von welchem man nicht einmal eine deutliche Vorstellung hat und das man
-trotzdem verlor...
-
-Vor einem halben Jahrhundert, etwas früher oder etwas später, mag es
-sich zugetragen haben, daß unsere europäische Gesellschaft allmählich
-in diese seltsame Schwankunglage hineinglitt, von der hier die Rede
-ist. Mit einigen ganz unverkennbaren Anzeichen von beängstigender
-Übereinstimmung setzt ein Zeitalter ein, das mit einigem Fug das
-Zeitalter der Entblößungen genannt werden dürfte: denn eine Entblößung
-der Gattung Mensch vor sich selbst beginnt, wie sie mit ähnlicher
-Unerbittlichkeit, mit ähnlicher Schamlosigkeit von keinem der
-geschichtlich bekannten Zeitalter geübt worden ist. Das war wie wenn
-ein vornehm und kostbar gekleidetes Weib sich eines Abends vor dem
-Stehspiegel auszöge und nun, da sie ein Kleidungstück nach dem andern
-ablegt, erst mit Befremden, dann mit Mißbehagen, dann mit Kummer, dann
-mit Abscheu, dann mit Haß auf sich selber die vormals nie beachteten
-Mängel ihres unvollkommenen Leibes wahrnähme: dies also bin ich, dies
-ist mein dünnes, ausgekämmtes Haar, dies mein verbrannter Hals und
-Nacken, dies meine abgeblühte Büste, dies meine wulstig gepolsterten
-Hüften, dies meine kurzen und gekrümmten Beine, dies mein flach und
-platt geformter Fuß... Ähnlich einem solchen Weibe, das sich vor ihrem
-Spiegel peinlich entkleidet und ihre arme Nacktheit nach all ihren
-Häßlichkeiten streng durchmustert, zornig und traurig zumal, daß
-sie nur ist wie sie ist, und dennoch außerstand, auf ihre grausame
-Selbstprüfung zu verzichten, -- ähnlich beginnt der europäische Mensch
-zu einer ganz bestimmten Zeit im abgelaufenen Jahrhundert sich vor
-sich selber ohne Schonung zu entblößen und alles, was er bisher tat
-und schuf, auf seinen Unwert hin zu erforschen. Da ist vor allem sein
-höchster Stolz und Abgott, der sogenannte Staat: bei Licht besehen nur
-die Anstalt einer kleinen Anzahl Mächtiger zur dauernden Knechtung
-und Entrechtung machtloser Massen. Da ist des ferneren die sogenannte
-Gesellschaft: bei Licht besehen nur die angemaßte Herrschaft einer
-Kaste, einer Klasse über andere Kasten und Klassen, die herkömmlich
-als nicht geeignet für die Ausübung der Herrschaft gelten. Da ist
-die sogenannte Wirtschaft: bei Licht besehen nur die regelrecht
-betriebene Ausbeutung menschlicher Arbeitkräfte als einer käuflichen
-Ware durch den einzelnen oder vergenossenschafteten Unternehmer. Da
-ist die sogenannte bürgerliche Lebensordnung: bei Licht besehen nur
-die als Ehrbarkeit vermummte Heuchelei und die als Sittenstrenge
-sich aufspielende Zuchtlosigkeit. Da ist die sogenannte Ehe: bei
-Licht besehen nur der Lebens- und Todeskampf der ewig feindlichen
-Geschlechter. Da ist die sogenannte Liebe: bei Licht besehen nur die
-wilde Gier der gegenseitigen Besitzergreifung. Da ist die sogenannte
-Sittlichkeit: bei Licht besehen nur die Bemäntelung selbstsüchtiger
-Leidenschaften durch angeblich selbstlose Beweggründe und Triebfedern.
-Da ist die sogenannte Religion: bei Licht besehen nur die Übertragung
-niemals erfüllter und unerfüllbarer Menschenwünsche auf die Gestalten
-erdichteter Götter. Da sind die sogenannten Ideale: bei Licht besehen
-nur die bewußten Widerspiegelungen jeweils wirtschaftlicher Vorgänge
-und Verhältnisse, wenn nicht am Ende gar die aus Angst vor der
-Wirklichkeit erzeugten Welt- und Selbstbeschönigungen. Da ist die
-sogenannte Seele: bei Licht besehen nur ein Bündel von unersättlichen
-Trieben und Begehrungen, von denen niemand wissen kann, welche in der
-nächsten Sekunde die Oberhand gewinnen werden. Da ist der sogenannte
-menschliche Verstand, die menschliche Vernunft sogar: bei Licht
-besehen nur eine Waffe mehr im Kampf ums Dasein, um den Nächsten zu
-überlisten und womöglich über seine Leiche eine Stufe höher zu turnen
-hinauf zum Besitz, zur Macht und zum Erfolg. Da ist das sogenannte
-Recht: bei Licht besehen nur die Verewigung menschlicher Rachsucht
-und Vergeltungwut, die das Verbrechen ahndet, indem sie’s wiederholt,
-und den Verbrecher straft, indem sie ihn foltert oder tötet... Dieser
-Art fühlte sich der _homo europaeus_ jener Jahrzehnte gedrungen, die
-Summe seiner bisherigen Anstrengungen mit einer gewissen Lust an
-Selbstzerstörung dämonisch zwangsläufig zu ziehen; -- solchermaßen fand
-er alles Geleistete verdammungwürdig, verächtlich, schlecht. Nicht
-wollte und konnte er eher ruhen, bis er sich die letzten Fetzen jener
-prachtvollen, aber lügenhaften Verhüllungen von seinem Leib gerissen
-hatte, -- Verhüllungen, die ihm bisher prahlerisch verheimlicht hatten,
-daß er das böse Tier der Eis- und Steinzeit je und je geblieben war:
-„säuischer als Schweine, grimmiger als Löwen, geiler als Böcke,
-neidiger als Hunde, unbändiger als Pferde, gröber als Esel, versoffener
-als Rinder, listiger als Füchse, gefräßiger als Wölfe, närrischer als
-Affen und giftiger als Schlangen und Krotten,“ wie unser herzhafter
-Simplizissimus derb und heftig herausgesagt hat... Der Mensch, das
-Tier der Urzeit: so zweigte ihn ja jetzt die Wissenschaft selber
-zoologisch, morphologisch ein in den Stammbaum der lebendigen Wesen,
-die das Tierreich bilden. Aber der Mensch ist nicht nur das Tier der
-Urzeit, sondern das böse Tier der Jetztzeit, weil er sich trotz seiner
-Abkunft aus dem Tierreich ein menschliches Wissen um Böse und um
-Gut erworben hatte. In dieser Jetztzeit ist der Augenblick für ihn
-gekommen, in dieser Jetztzeit, und keineswegs schon am Anfang, wie es
-das Alte Testament will, wenn es vom ersten Menschenpaar berichtet:
-„da wurden ihrer beiden Augen aufgetan, und wurden gewahr, daß sie
-nacket waren“... In dieser Stunde der gnadenlosen Selbstentblößung und
-Selbstbeschämung sieht sich der europäische Mensch nacket, -- hier
-übermannt ihn die Erkenntnis, daß alles, was er aufgewendet hatte in
-den Jahrtausenden, die seine Erinnerung umspannt und mehr noch in
-den anderen, die seine Erinnerung nicht umspannt, dem eigenen Urteil
-nirgends standhalten konnte. Nun er mit unsäglichem Aufgebot dies wilde
-böse Tier in sich gebändigt hatte, mußt’ er sich überzeugen, daß er von
-seiner Wildheit zwar manches abgegeben, die Bosheit jedoch bewahrt und
-gemehrt hatte, und daß verrucht war, was ihm von Herz und Händen ging...
-
-Jahraus jahrein hatte so der europäische Mensch durch die Zunge solch
-unentwegter Selbstankläger zu sich selbst gesprochen. Jahraus jahrein
-hatte er sich mit eigener Zunge selbst gestochen und zerstochen, bis
-er zuletzt noch einmal durch die Stimme dreier Propheten sprach,
-die am Werk der Selbstentblößung ihrerseit am eifrigsten beteiligt
-waren. Und was sie lautbar machten, hörte sich freilich schon wie der
-zerberstende Hornstoß Heimdalls, des Zeichengebers an, als er von der
-Zinne Walhalls Schiff Naglfar draußen am Rand des brüllenden Nordmeers
-kreuzen sah... Von diesen denkwürdigen Dreien durchlitt der Erste zum
-voraus in eigener Person alles Leid, welches in Bälde eine Menschheit
-würde überkommen müssen, wenn sie wirklich die letzte Scham von sich
-geworfen hatte und mit der eigenen Nacktheit Unzucht trieb. Wie er
-indes in Wahrheit keines Rats sich wußte, und sogar nicht einmal ein
-Wort, ein trostspendendes oder aufrichtendes, finden konnte, verbeugte
-er sich nur tief bis auf die Erde, etwa wie sich der Staretz Sossima
-vor Mitjä Karamassoff verbeugt hat, -- und ging vorüber. Der Zweite
-dieser Drei aber tat sich in eigener Person alle Qualen an, mit welchen
-binnen kurzem der arme Teufel Mensch seinen Mitmenschen foltern würde:
-er weiß es selber nicht, warum und zu wessen größerer Ehre. Zwar fand
-auch dieser Zweite nicht eigentlich einen Rat, aber immerhin doch ein
-Wort der Klage. Und legte sein Wort, seltsam genug! der Tochter des
-indischen Himmelskönigs in den Mund, welche wie weiland der blonde Held
-Krischna auf die Erde herabgefahren war, damit ihr des Menschlichen
-ferner nichts fremd bleiben möchte. Mit innigem Erbarmen sagt Indras
-Tochter immer nur das eine, was allerdings wenig helfen oder bessern
-konnte: Es ist schade um die Menschen, es ist schade... und also
-wehklagend ging auch der zweite Prophet vorüber. Der Dritte jedoch,
-höheren, helleren Geistes als die beiden andern und von dem Merkmal auf
-des Merkmals Ursache schließend, erkannte die elende Unzulänglichkeit
-der bisherigen Gattung Mensch, die soviel schwerer zieht und wiegt
-als sogar ihre Bosheit. Dieser erschütternden Unzulänglichkeit gewahr
-werdend, leuchtet ihm eine Botschaft auf, die Rat zu schaffen scheint,
-wenn nicht schon für den Augenblick, so doch für die Zukunft: der
-Mensch ist Etwas, das überwunden werden muß. Diese Botschaft ging nicht
-vorüber, auch wenn ihr Künder vorüberging, und haftete zitternd wie der
-Schuß eines befiederten Pfeiles in den Herzen...
-
-Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muß; die menschliche
-Unzulänglichkeit ist Etwas, das überwunden werden muß! Es wird also
-eine Zeit sein, wo sich der Mensch seiner Nacktheit vor dem Spiegel
-nicht mehr länger zu schämen braucht, weil sie ihm keine Mängel
-und Gebresten, sondern Schönheiten und Vollkommenheiten zeigt.
-Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muß und folglich auch
-hoffentlich überwunden werden kann? -- dies Ziel lockt stärker als
-irgend eines. Aber wie kann er denn überwunden werden? Den Menschen
-zu überwinden, roh, tierhaft und unmenschlich, wie er aus den Händen
-der Schöpfung hervorging: darauf hatten doch sicherlich schon alle
-die Anstalten gezielt, welche der ehrlichen Selbstprüfung von vorhin
-nicht standgehalten hatten. Den Menschen zu überwinden waren die
-sämtlichen Erfindungen, Einrichtungen, Gründungen, Hervorbildungen
-gemacht worden, die eine wesentlich menschheitliche Werkwelt zu
-unserer Genugtuung umfassen. Mit welcher Sorgfalt hatte der Mensch
-nicht diese Werk- und Werkzeugwelt, die er Kultur nennt, zwischen
-seinen frühesten Ursprung und seine späteste Mündung geschichtet. Mit
-welcher Künstlichkeit hatte er nicht seine Sinne vervielfältigt und
-seinen Sinn geschärft, um mit vervielfältigten Sinnen und geschärftem
-Sinn eine höhere und menschenwürdigere Umwelt selbsttätig um sich
-zu schaffen. Jede Erfindung und jedes Werkzeug bedeutete ja oder
-sollte wenigstens bedeuten eine Steigerung menschlichen Könnens, eine
-Verringerung menschlichen Arbeitaufwandes, eine Bewehrung menschlicher
-Schutzlosigkeit, eine Ausweitung menschlichen Machtbereichs. Jede Kraft
-und Eigenschaft der Natur wurde derart zu einer Kraft und Eigenschaft
-des Menschen erhoben, und so ging an ihm schier buchstäblich das
-hoffmannsche Märchen von Klein-Zaches, genannt Zinnober, in Erfüllung,
-wonach alles Nützliche, Angenehme, Tüchtige, das in Gegenwart dieser
-kleinen Mißgestalt von anderen geleistet ward, durch eine wunderliche
-Übertragung dieser Mißgestalt selber als dem eigentlichen Urheber
-dankbarst zuerkannt wurde... Das bevorzugte Mittel also, welches
-insonderheit dem europäischen Menschen zur Überwindung des Menschen,
-wie er sie verstand und allein verstehen konnte, verhelfen sollte,
-heißt infolgedessen mit einem einzigen Wort umschrieben: Werkwelt,
-Werkzeugwelt. Die Werk- und Werkzeugwelt sollte ihn über sich selbst
-hinaus steigern, über sich selbst hinaus erhöhen. Mußte er jetzt, aufs
-bitterste enttäuscht, mit sich selber die Erfahrung machen, daß diese
-Werk- und Werkzeugwelt als Mittel zu diesem Ziel versagte und er
-umsonst Pelion auf Ossa getürmt hat, um den Olymp zu zwingen, -- was
-bleibt ihm übrig oder was kann er ins Auge fassen, dies Ziel auf andere
-Weise zu erreichen? Wie kaum eine geschichtliche Menschheit zuvor hatte
-der Europäer diese Werkwelt nach Umfang und Inhalt, Beschaffenheit
-und Zahl gemehrt und alle seine Geisteskräfte, Seelenkräfte dafür
-hingegeben. War es jetzt nicht mehr wie nur ein bloß zufälliger
-Fehlschlag, daß es just bei ihm schlimmer als in irgend einer Vorzeit
-menschelte: war es in Wahrheit ein zwangsläufig getaner Fehlgriff, --
-wo kann, wie soll der Europäer alsdann noch Hoffnung für sich selber
-schöpfen?
-
-Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muß, -- so spricht zu
-allen Zeiten jede Religion, die ihren Blick auf die nächst höhere
-Verkörperung des Menschen heftet, die sie Gott nennt. Der Mensch
-ist Etwas, das überwunden werden muß, -- so lautet die knappste,
-treffendste und erschöpfendste Formel aller Religionen, die ihren
-eigenen Willen zur Selbstvergöttlichung als das ewige Bedürfnis
-erkennen müssen, welches sie stets wieder von neuem zur Erscheinung
-bringt: als „_la tendence, qui les a produit_“, wie Jean Marie
-Guyeau sinngemäß sagt. Zugleich aber ist dies die ewige Tragödie
-aller Religionen, daß sie das hauptsächliche Mittel zur Erzielung
-dieser angestrebten Überwindung, nämlich die Herausstellung jener
-wesentlich menschheitlichen Werk- und Werkzeugwelt, die wir Kultur
-nennen, als ungeeignet zu ihrem Endzweck schlechterdings verneint
-und sich auf diese Weise mit dieser Werk- und Werkzeugwelt selbst
-aufs entschiedenste entzweit und überwirft. Denn keine einzige der
-bekannten höchsten Religionen, am wenigstens aber die Religion
-als solche, gebietet ihren Anhängern und Bekennern: Erfinde du
-Werkzeuge und vervielfältige deine Sinne! Gründe du Staaten, schaff’
-Rechts- und Wirtschaftordnungen, laß’ Gesittungen erstehen, ersinne
-Wissenschaften, befleißige dich der Verbürgerung, alles damit du in
-dir selbst den Menschen überwindest! Wenn solche oder ähnliche Gebote
-je ergangen sind, wie beispielweis in der ursprünglichen Verkündigung
-des iranischen Zarathuschtra, ist sich die Religion ihres stärksten
-Antriebes noch nicht inne geworden. Wo sie sich aber dieses Antriebs
-wirklich inne geworden ist, findet sie sich im günstigsten Fall mit
-der Gegebenheit dieser Werk- und Werkzeugwelt ab, aber fördert sie von
-sich aus keineswegs, geschweige denn, daß sie dieselbe fordert. Die
-Welt gewinnen und dadurch die Seele schädigen, -- die Welt verlieren
-und dadurch die Seele erfüllen: das ist in schroffer Unzweideutigkeit
-die Wahl, vor welche jede der höheren Religionen ihre Gläubigen stellt
-und auf diese Weise in tödlichen Widersatz bringt zu allen sonstigen
-Bemühungen um Fortschritt und Aufstieg, Entwicklung und Gesittung.
-Ist es also dem Menschen im heiligsten Sinne Ernst mit des Menschen
-Überwindung, so weiß die Religion unstreitig dafür Rat, -- nur daß eben
-dieser Rat allen eingeborenen Neigungen zur Selbststeigerung durch
-Kultur stracks zuwiderläuft. Und in der Tat, ihr, die ihr euch Christen
-nennt! Sogar in dieser Kummerstunde, da niemand mehr woaus woein weiß,
-sogar in dieser Stunde vollkommener Ratlosigkeit ist keiner unter euch,
-der nicht in der heimlichsten Falte seines Herzens mindestens ein
-einziges unfehlbares Mittel wüßte, diese eisige Hölle um uns herum in
-ein blühendes Paradies umzuzaubern. In der Kenntnis dieses Mittels, ich
-sage nicht in seiner Anwendung, sind wir Europäer unfehlbare Christen
-und werden Christen bis zu unserem bitteren Ende bleiben, ob wir nun
-wollen oder widerstreben. Wir haben das Gebot empfangen, welches die
-Verirrungen des Lebens ins gleiche zu setzen vermöchte: Ἀγαπήσεις
-τὸν πλησίον σου ὡς σεαυτόν, -- wolle du deinem Nächsten wohl wie dir
-selbst... Dies Wort, melodisch aus dem Königreich der Himmel tönend,
-von dem geschrieben steht, es sei mitten in uns, -- dies Wort konnten
-wir in der Wüste unserer Gehässigkeit verschmachten und in der Sintflut
-unserer Begierden ertrinken lassen: aber wir konnten die Tatsache
-nicht aus der Welt entfernen, daß es an uns ergangen ist. Dies Wort
-ist an uns ergangen und auch der Verstockteste ist außerstand, sich
-weiszumachen, er habe nie etwas davon vernommen. Ist es somit wirklich
-die Religion, die da befiehlt, den Menschen in sich zu überwinden,
-dann ist zumindest uns westlichen Bekennern des Christentums von
-diesem das rechte Mittel zu diesem rechten Ziel bezeichnet worden.
-Denn wer seinem Nächsten wohl will wie sich selber, der überwindet in
-seinem Wohlwollen sich selber und seinen Nächsten dazu; der überwindet
-in sich und seinem Nächsten alles, was nicht das Wohlwollen selber
-ist; und derart überwindet er den Menschen in sich, der noch nicht
-Wohlwollen selber ist, und mit dem Menschen die ganze Welt, die noch
-nicht Wohlwollen selber ist. Drum lüge oder leugne keiner, daß er nicht
-wissen könne, wie der Mensch den Menschen zu etwas überwinden könne,
-das mehr oder höher und stärker ist wie der Mensch. Das Mittel ist
-erfunden, die Botschaft ist ergangen, das Wort steht und steht ewig...
-
- Das Mittel ist erfunden, -- und hat dennoch seinen Zweck verfehlt.
- Die Botschaft ist ergangen, -- und hat dennoch nichts gefruchtet.
-
-Das Wort steht und steht ewig, -- aber schwindelnd fällt der Mensch in
-der Zeit von einem Abgrund in den andern...
-
-Wie aber dies, ihr Christen? Sind wir denn in Wahrheit so bös, so
-unmenschlich, so teuflisch, daß wir zwar auf unsern Lippen den Honig
-der frohen Botschaft zu schmecken geben, in unsern Herzen aber
-schwarze Galle keltern? Liegt es in Wahrheit nur auf uns, daß uns
-jener evangelische Weg zur Überwindung unserer Menschheit zum Ab-
-und Irrweg sondergleichen geworden ist? Müssen wir uns in diesem
-unwiederbringlichen Augenblick der Selbsteinkehr und Gewissensprüfung
-in Wahrheit als den Auswurf aller geschichtlichen Geschlechterfolgen
-verdammen, weil wir mit dem Bekenntnis des Wohlwollens und Brudersinnes
-die Tat des Wohlwollens und Brudersinns am sichersten erstickten?
-Heute, wo die Schuppen der Beschönigung von den Augen fallen, ziemt
-uns vor allen Fragen diese Frage: von der Antwort auf sie hängt
-jede Zukunft ab. Rund tausend Jahre sind es, daß wir des Nazoräers
-Bekenntnis zur Nächstenliebe als unsere erwählte _religio_, will
-heißen Bindung, Verpflichtung, Treue angenommen haben. Und nun
-ängstigt uns nach rund tausend Jahren mehr fast als alle Angst der
-Argwohn, wir könnten vielleicht nicht trotz dieses Bekenntnisses,
-sondern wegen seiner, nur immer böser und schlechter, liebloser und
-härter, unedler und grausamer geworden sein seit jenen Tagen etwa,
-da der große Sachsenkaiser Otto dem mittelalterlichen Reich Europa
-seine dreihundertjährige Verfassung gab. Am Ende ist es eben diese
-Verpflichtung, diese Bindung gewesen, die unsere Anlage zum Wohlwollen
-und Brudersinn, die wir doch auch in uns wie in jedem lebendigen
-Geschöpf vermuten müssen, verkümmern und verkrüppeln ließ. Verkümmern
-und verkrüppeln ließ zwar nicht deshalb, weil etwa diese Religion
-uns Menschen, wie wir einmal sind, zu hoch und schwer wäre, -- denn
-jede Religion, ihr Christen, ist dem Menschen, wie er einmal ist, zu
-hoch und schwer: und daß sie’s ist, macht ihren unschätzbaren Wert
-als Religion aus! Verkümmern und verkrüppeln ließ aber trotzdem, weil
-sie befahl und forderte, gebot und heischte, was durch Befehl und
-Forderung, Gebot und Heischung nimmer zu bewirken ist. Es könnte
-demnach sein, ihr Christen, daß uns just das Christentum zeitweilig zum
-Verhängnis geworden ist, indem es eine übermenschlich-überschwängliche
-Botschaft zwar erließ, aber auf keine Weise andeutete oder zeigte,
-wie der irdische Mensch, das wilde böse Tier, nun dieser Botschaft
-auch entsprechen könne. Wohlwollen unserm Nächsten, Brudersinn unserm
-Fernsten noch, wer wäre Wolf genug zu leugnen, daß beides heute noch
-die Welt zum Paradies gestalten würde, wo wir sie alle christlich
-übten. Aber der Mensch, obschon von Natur ganz offenbar mit einer
-Anlage zum Wohlwollen und Brudersinn begnadet, ist darum noch lange
-nicht wirklich wohlwollend, wirklich brudersinnig, -- und wird es
-auch nicht, wenn man ihm kurzerhand gebietet: Sei’s! Das aber ist das
-letzte und schleichendste Unheil, welches uns Abendländer betroffen
-hat und unsern dermaligen Höllensturz mit verursacht: wir wissen,
-wissen alle unheimlich genau, was not tut, um die Not zu wenden und den
-Menschen seiner nächst höheren Verkörperung des großen Wohlwollenden
-und Brudersinnigen zuzuführen. Aber es war niemand, der uns gewiesen
-und bedeutet hätte, wie das geschehen könne. Wir wissen, wissen es,
-aber können es nicht. Und sogar wo es einer als Land- und Meerwunder
-wirklich kann, da ist er’s nicht, sondern kann es nur. Das aber, ihr
-Christen, ist des Abendländers Untergang...
-
-Das aber, ihr Christen, ist des Morgenländers Aufgang, ist insonderheit
-des Buddho Gotamo Aufgang! Denn wo wir nur wissen, hat er das Können
-aufgewiesen, und wo wir nur können, hat er angeleitet und geweckt
-zum Sein. Dabei ist sein heiliges Ziel in Ansehung menschheitlicher
-Emporstufung haargenau das christliche. Vielleicht mit dem einzigen
-Unterschied, daß der Buddho die Gestalt des großen Wohlwollenden mit
-soviel höherer Künstlerschaft umrissen habe wie der Christus, -- eben
-jene Gestalt nämlich, die ich zum Beschluß der Dritten Unterweisung
-dem christlichen Abendland als das Urbild des Strahlenden Mönches
-vorzustellen gewagt habe: „Liebevollen Gemütes weilend strahlt er nach
-einer Richtung, dann nach einer zweiten, dann nach der dritten, dann
-nach der vierten, ebenso nach oben und nach unten: überall in allem
-sich wiedererkennend, durchstrahlt er die ganze Welt mit liebevollem
-Gemüte, mit weitem, tiefem, unbeschränktem, von Grimm und Groll
-geklärtem. Erbarmenden Gemütes -- freudevollen Gemütes -- unbewegten
-Gemütes strahlt er“... In Ansehung dieses göttlich Wohlwollenden,
-übermenschlich Wohlwollenden also ist das religiöse Endziel im Westen
-und im Osten streng dasselbe, und nichts würde von dieser Gewißheit
-aus einer völligen Durchdringung des Christentums mit dem Buddhismus
-hinderlich sein, -- wenn eben nicht die Art und Weise, wie Jesus und
-wie Gotamo die Verwirklichung dieses Zustands betreiben, so stracks
-einander zuwiderliefe, daß hier die Grundkräfte europäischer und
-indischer Religiosität als Gegenkräfte in Erscheinung treten. Das
-evangelische Wohlwollen nämlich für den sogenannten Nächsten wurzelt
-ausgesprochenermaßen im Wohlwollen für das eigene Selbst, will
-heißen in der Selbstliebe und Eigensucht. Ἀγαπήσεις τὸν πλησίον σου
-ὡς σεαυτόν, wolle du deinem Nächsten wohl wie dir selber, gebietet
-der Herr des Evangeliums, -- und manches spricht dafür, daß wir hier
-auf die ausschlaggebende Ursache stoßen, warum die Nächstenliebe
-des Christentums ein freundlicher Traum geblieben ist und sehr
-wahrscheinlich sogar hat bleiben müssen. Denn wie verhält sich’s doch
-damit? Jesus erachtet Wohlwollen für Mitmensch und Bruder durchaus für
-möglich, sonst würde er es nicht als Notwendigkeit gefordert haben.
-Aber nicht hält er’s für möglich, dies Wohlwollen auf andere Weise zu
-erzielen als gleichsam auf dem Umweg über das eigene Ich und Selbst.
-Das Ich und Selbst der eigenen Person steht hier im Brennpunkt aller
-Wirklichkeiten, und folglich im Brennpunkt auch aller Handlungen
-und Taten, die sich auf Wirklichkeiten beziehen. Die vorzüglich
-religiöse Leistung der Persönlichkeit krönt sich darin, dem fremden
-Ich grundsätzlich denselben Grad von Wirklichkeit zuzubilligen wie
-dem eigenen Ich und aus dieser Billigung heraus ihm keine mindere
-Berechtigung zu schenken wie diesem. Der naive Mensch, heißt das
-der selbstische Mensch, wird hier sozusagen feierlich aufgeboten
-zur freiwilligen Anerkenntnis des fremden Du, -- durch die Erwägung
-zwar, daß auch dies Du zuletzt ein Ich mit sämtlichen Eigenschaften
-und Merkmalen eines solchen sei. Der naive, will sagen selbstische
-Mensch ist also böse nicht eigentlich deshalb, weil er seine eigene
-Persönlichkeit und persönliche Eigenheit instinktiv als Wirklichkeit
-setzt und voraussetzt, sondern weil er jede fremde Persönlichkeit
-und Eigenheit nur als eine Wirklichkeit zweiten, dritten, zehnten
-Grades gelten läßt, -- kurz als eine Wirklichkeit derart verminderten
-Erlebensgrades, daß er kaltblütig über ihre Ansprüche und Rechte, über
-ihr Sosein und Dasein wegschreitet, nicht anders, wie man im Gedränge
-über viele menschlische Schatten auf der Straße schreitet. Und kein
-Zweifel! Wer jemals ein wenig über die Beschaffenheit des Verbrechens
-und mehr noch des Verbrechers nachgedacht hat, wird hier, in dieser
-von Jesus berührten Tatsache, fast jeden gewünschten Aufschluß finden:
-daß der Verbrecher von Haus aus unfähig ist, in rein erkenntnismäßiger
-Schätzung sein Opfer in dieselbe Reihe von Wirklichkeiten mit sich
-selber einzustellen, -- er selber füllt diese Reihe mit sich ganz
-alleinig. Überall, wo ein Mensch in gräßlicher Verhärtung gegen Wohl
-und Weh des Mitmenschen beharrt und dieser Verhärtung entsprechend
-handelt, darf man behaupten, er sei Verbrecher, darf man behaupten,
-ihm sei die heilige Um- und Neuschöpfung der fremden Wesenheit zum
-vertrauten Ich, zum Ich überhaupt, noch nicht gelungen. Tatsächlich
-macht Jesus hier die erste, unerläßlichste Bedingung der Möglichkeit
-menschenwürdigen Gemeinschaftlebens namhaft: jedwedes menschengleiche,
-ja nur menschenähnliche Geschöpf ist im Bewußtsein ebenso als wirklich,
-ebenso als seiend, ebenso als wesenhaft zu erschaffen wie das eigene
-Ich und Selbst. Auch Du ein Ich, wie Ich zuletzt nur Du, folglich
-auch Du meines Wesens Mark und Mitte nicht abgelegener als Ich ihm
-bin: das ungefähr wäre die rechte Formel für Jesu Auffassung von
-Wohlwollen, Brudersinn, Nächstenliebe; -- auch Du, Du ein Ich, wie
-Ich zuletzt ein Du, und folglich all meiner Taten und Gedanken nicht
-minder Sinn, Zweck und Ziel als Ich es ihnen selber bin. Das Maß der
-Welt, in welches sie gefüllt und geschöpft wird, ist durchaus hier das
-menschliche Selbst und seine unerschütterliche Wirklichkeit. Im besten
-Fall kann jeder Einzelne sich selber höchstens dazu bestimmen, jedem
-Anderen das gleiche Maß von Wirklichkeit im Bewußtsein einzuräumen. Ein
-übermenschlich verwegenes Ideal aber wäre dieses, wenn jeder Einzelne
-seine Bewußtheit derart unendlich auszuweiten vermöchte, daß darin die
-Wirklichkeiten aller menschlichen Welterscheinungen in einem einzigen
-brüderlich umhalsten Chore miteinander reigten, -- jeder Fernste in
-solch gottgeweiteter Bewußtheit zum Nächsten aufgerückt und nahgerückt,
-jeder Nächste aber gleichbürtig, gleichgewichtig, gleichwertig mit Mir
-selbst...
-
-Das Selbst also, ihr Christen, die eigene Person ist dem Herrn unseres
-Evangeliums die Schwelle, über welche jedes Ich getragen werden muß,
-um überhaupt als Ich geehrt zu werden. Das Selbst, sag’ ich, die
-eigene Person und ihre ganz unumstößliche Wirklichkeit und Gewißheit
-ist die Schwelle, die vom Ich zum Du, vom Ich zum Wir führt, -- was
-aber jenseit dieser Schwelle stehn oder liegen bleibt, kann dem
-Bereich ichbürtiger Wesenheiten auch nicht angehören. Wobei schon
-hier keineswegs übersehen und vergessen werden darf, daß auch im
-günstigsten von allen möglichen Fällen alles jenseit der Schwelle
-stehn und liegen bleibt, was nicht menschengleich oder menschenähnlich
-ist, was mithin nicht Nächster und nicht Bruder werden kann... Dem sei
-indes, wie ihm wolle. Unter allen Umständen besteht das evangelische
-Mysterium, wie nochmals mit Nachdruck ich zusammenfassend sagen
-möchte, in der Verwirklichung des Mitmenschen als Nächster und als
-Bruder, und diese Verwirklichung zwar vollzogen auf dem Umweg über
-die Wirklichkeit des eigenen Selbstes. Das gotamidische Mysterium
-hingegen, so einig es im Hinblick auf menschheitliche Emporstufung
-zur Gestalt des großen Wohlwollenden mit dem evangelischen Mysterium
-offenkundig ist, wird dennoch gerade durch die Umdrehung dieses
-evangelischen Verfahrens erwirkt. Nicht dadurch wird das ausnahmlose
-Wohlwollen beim Strahlenden Mönch gegen alle Wesen (nicht nur gegen
-den Nächsten und den Bruder) erzeugt, daß er diese durch eine
-Tathandlung fortschreitende Erkenntnis auf dieselbe Wirklichkeitstufe
-mit seiner eigenen Person befördert. Sondern ganz im Gegenteile
-dadurch, daß er den Wirklichkeitgrad der eigenen Person, den
-scheinbar unbezweifelbaren, auf den Wirklichkeitgrad aller übrigen
-Welterscheinungen herunterdrückt, kraft einer nicht zu widerlegenden
-religiösen Selbsterfahrung, Selbstbewertung, die er an sich und mit
-sich macht. Wenn daher Jesus befiehlt: Wolle du deinem Nächsten wohl
-wie dir selber; wenn somit der nämliche Jesus das Wohlwollen für
-das eigene Selbst ohne weiteres als die gegebene Voraussetzung des
-Wohlwollens für andere hinnimmt und bestätigt, -- so fußt der Christus
-auf einer Einstellung, welche den Buddho sicherlich über die Maßen
-befremdet haben würde, falls er hätte Kenntnis von ihr erlangen können.
-Denn eben dieses Selbst der eigenen Persönlichkeit, in europäischer
-Sprache das Individuum oder die unzerstückelbare Lebenseinheit,
-Wirkungeinheit, Zweckeinheit geheißen, welche jeder westliche Mensch
-mit der ganzen Heftigkeit seiner Instinkte gleichsam als sein _ens
-realissimum_ umklammert hält und niemals fahren läßt solang er lebt, --
-eben diese Ur- und Musterwirklichkeit aller sonstigen Wirklichkeiten
-hat sich ja dem Buddho längst entlarvt als ein Ding, welches um keinen
-Deut wesenhafter oder wirklicher als jedes andere Ding unter der Sonne
-genannt werden darf. Und hier, wo die Religiosität des Ostens mit der
-Religiosität des Westens wie Ja und Nein zusammenstößt, aber leider
-nicht zusammenklingt, hier ist es angezeigt, uns noch einmal jenes
-herzlich seltsame Wort in den Sinn zurückzurufen, welches uns in der
-Ersten Unterweisung hat so scharf aufhorchen machen. _N’etam mama_,
-das gehört Mir nicht, hat dies Wort gelautet, zu welchem der Buddho
-sein schneidendstes Nein gleichsam gerinnen und erhärten lassen.
-_N’etam mama_, das gehört Mir nicht: was da entsteht und vergeht, was
-da gezeugt wird und verwest, was da wechselt und abändert, was da
-erscheint und verschwindet. Solches alles gehört Mir nicht, solches
-alles bin Ich nicht: folglich gehört auch diese Meine eigene Person
-Mir nicht, folglich bin auch Meine eigene Person Ich nicht! Alles
-Wirkliche aus zweiter, dritter und letzter Hand gehört Mir nicht und
-bin Ich nicht. Aber auch alles Wirkliche aus erster Hand gehört Mir
-nicht und bin Ich nicht: nämlich Ich selber nicht, wie ich mir in
-der raumzeitlichen Gliederung bewußtes Erlebnis und Begebnis ward!
-Diese ganze Erscheinungunendlichkeit, wie sie gestalthaft abgegrenzt
-im Bewußtsein auftaucht und gestalthaft abgegrenzt im Unbewußtsein
-wieder untersinkt, einschließlich meiner höchsteigenen Icherscheinung,
-sie gehört Mir nicht und sie bin Ich nicht! Sie gehört Mir nicht
-und sie bin Ich nicht, weil sie eben auf Grund ihrer Eigenschaft
-als Erscheinung nicht bis dahin reichen kann, wo ich als religiös
-Erlebender zutiefst Mich Wesen weiß. Keine Verkörperlichung und
-keine Verpersönlichung, nicht einmal meine eigene, faßt dort noch
-Fuß und Grund, wo Ich -- oder vielmehr nicht mehr Ich! -- in dem
-Augenblicke gesammeltster Selbstvertiefung Grund und Fuß zu fassen
-fähig bin. Damit jedoch ist des evangelischen Jesus Selbsterfahrung,
-den die Wirklichkeit des Ich aller Wirklichkeiten Ur- und Musterbild
-zu sein bedünkte, durch eine Selbsterfahrung entgegengesetzter Art
-zwar nicht getilgt und aufgehoben, aber eingeschränkt und ergänzt.
-Nicht ist fremdes Ich für ebenso wirklich, daseiend und wesenhaft wie
-eigenes Ich zu erachten: sondern umkehrt eigenes Ich hier für ebenso
-unwirklich, nichtseiend, wesenlos wie fremdes Ich. Jene bevorzugte
-Wirklichkeit, vom evangelischen Herrn als Hebelpunkt gebraucht, um
-von ihr her die eingefleischte Eigensucht und Selbstliebe, die bruder-
-und nächstenmörderische, aus ihrem natürlichen Schwerpunkt zu wälzen,
--- jene Wirklichkeit gilt dem Buddho auf keine Weise für bevorzugt.
-Im Gegenteil ist sie es, die sich dieselbe Dämpfung gefallen lassen
-muß, welche das ‚_N’etam mama_‘ auf alle Wirklichkeiten legt. Auch ich
-selber gehöre Mir nicht; auch ich selber erschöpfe Mich nicht in der
-Erscheinung Meiner, die sich gestalthaft vor meinen Sinnen ausbreitet;
-auch Ich selber bin über Meine raumzeitliche Wirklichkeit hinaus noch
-Etwas, das die Sprache einer Wirklichkeit nicht mehr zu verlautbaren
-vermag: wenn auch sicherlich nicht ‚Ich‘ mehr...
-
-
-Wer aber, ihr Christen, von dieser beziehungreichen Tatsache her seinen
-Blick nun schweifen ließe in die beiden Welten, in welchen getrennt
-voneinander der Buddho und der Christus eingebürgert hausen, der fände
-sich wohl nicht wenig überrascht: so buchstäblich weltverschieden,
-weltgeschieden stellten ihm sich beide Welten dar. Den christlichen
-Erlöser erblickte ein derartiger Betrachter inmitten einer Wirklichkeit
-wimmelnd bis zum Rand mit gestalthaften Lebenseinheiten nach Art
-der menschlichen Persönlichkeit. Wie etwa ein stätig fortlaufendes
-Gebilde der Anschauung, eine geometrische Gerade oder Fläche, von der
-Einwirkung des Gedankens in zusammenhanglose Einzelpunkte zerlegt wird,
-oder wie eine stätig zusammenhängende Flüssigkeit unter der Einwirkung
-von Wärme oder Witterung zu einem Haufen einzelner Flocken stockt,
--- nicht anders zersetzt sich unter dem Einfluß dieser evangelischen
-Einstellung eine vorher noch kaum gestalthaft belebte Umwelt zu einer
-immer ausschließlicher gestalthaft belebten. Wenn unsere europäische
-Wissenschaft, vielleicht mehr als sie ahnt ‚christliche‘ Wissenschaft,
-nie und nimmer geruht hat, bis sie jede Wahrnehmungstätigkeit der
-Sinne allmählich in eine womöglich zahlenhaft zu erfassende Menge von
-letzten, das heißt unteilbaren Beziehungknoten zergliederte; wenn sie,
-um altbekannte Beispiele anzuführen, den Einen Grundstoff der Welt
-in viele Kräfte, die Eine Materie in viele Atome, das Eine Leben in
-viele Lebenseinheiten, die eine Zelle in viele Zellteile, das Eine
-Licht in viele Farben, die Eine Farbe in viele Bewegungvorgänge, die
-Eine Qualität in viele Intensitäten, ja zuletzt das Eine Atom in einen
-ganzen Kosmos von zentralen Kernen und umlaufenden Elementarquanten
-aufgelöst hat, -- sie folgte damit ihrem christlichen Instinkt, der
-unersättlich ist nach Wirklichkeiten im Sinn der eigenen Individuität.
-Christentum ist Individualismus, Christentum ist Personalismus,
--- von diesem Gedanken aus läßt sich unschwer so etwas wie die
-Kurve der abendländischen Seele aufzeichnen, die schicksalhaft
-die christliche Seele gewesen ist und ist, so sehr, daß sie auch
-nach ihrer bevorstehenden Umgestaltung des christlichen Einschlags
-nie völlig mehr entbehren wird. Christentum ist Individualismus,
-Christentum ist Personalismus; folglich erschafft es sich überall
-individuelle, individuierte, personifizierte Wirklichkeiten. Diese
-feststehende Tatsache ist für das westliche Festland Europa, welches
-das Christentum aufgenommen und verarbeitet hat, geradezu Fatum
-geworden. Wo das Christentum aufblüht, blüht der persönlich gestaltete,
-persönlich ausgeformte Mensch auf, denn dem evangelischen Christus
-bedeutet das raumzeitlich verkörperte Selbst Alpha und Omega aller
-Wirklichkeit überhaupt. Und wiederum: wo das raumzeitlich verkörperte
-Selbst Alpha und Omega aller Wirklichkeit als solcher erscheint, da
-müssen folgerechterweise alle Kräfte des Geistes und der Seele der
-möglichst plastischen Herausmeißelung der jeweiligen Lebenseinheit
-und Lebenseinzelnheit dienen. Die Wirklichkeit trachtet nach
-Verwirklichung, und wo das Selbst erste und letzte Wirklichkeit für
-sich beansprucht, trachtet das Selbst zuerst und zuletzt nach seiner
-eigenen Verwirklichung. Der Christ beginnt sich demnach vielkantig
-nach allen Achsen des Raumes auszuwachsen. Zwar ist des Wunderns seit
-langem schon kein Ende gewesen, daß das geschichtliche Christentum aus
-dem Europäer so etwas ganz anderes gemacht habe als den friedfertigen,
-selbstverleugnenden, bruderlieben Heiligen der evangelischen
-Schriften. Heut’ wäre es endlich an der Zeit, sich darüber erschöpfend
-ausgewundert zu haben. Denn alle diese evangelischen Tendenzen haben
-zu ihrer unanfechtbaren Voraussetzung die unanfechtbare Wirklichkeit
-der eigenen Person nebst den auf sie selbst bezüglichen Trieben
-und Begierden, Neigungen und Leidenschaften. Das Grundrecht auf
-Selbsttrotz und Eigensucht ist der _rocher de bronce_, vom Herrn des
-Evangeliums in eigener Person feierlich stabiliert und sanktioniert,
--- das ist der Fels, in welchen die Fundamente der sichtbaren und
-unsichtbaren Kirche eingesprengt worden sind. Wer sich darüber
-Klarheit verschafft hat, wird es auch nur als aufrichtige Konsequenz
-aus diesem Umstand betrachten, wenn gerade der europäische Christ den
-Anblick nie gesehener Härte und Ungerührtheit darbietet: es ist ein
-heute nicht mehr statthafter Irrtum, wenn immer noch die weichmütigen
-Romantiker eines unverfälschten Urchristentums dem evangelischen
-Heiland die römische Kirche oder die Kirchen überhaupt als die
-gesellschaftlichen Verkörperungen des eigentlichen Antichristentums
-entgegenzustellen und zu verdammen belieben. Die Kirche ist nun einmal
-nicht die babylonische Hure, sondern sie hat nur im Übermaß Ansätze
-entwickelt, die im Evangelium selber vorhanden sind. Diese ganze
-romantische Auffassung, am übertreibendsten bekanntlich in Dostojewskis
-Großinquisitor herausgestellt, ja wie eine weltgeschichtliche Fanfare
-herausgeschmettert, ist ungerecht nach beiden Seiten. Denn in der
-Christustendenz evangelischen Wohlwollens glimmt und glutet eben
-heimlich schon die Tendenz des Antichrists, das Selbst zu behaupten
-über jedes Maß und Ziel hinaus: glimmt und glutet mithin heimlich
-schon der Funke, der das ganze europäische Mittelalter hindurch
-Scheiterhaufen um Scheiterhaufen entzündet hat, bis nach dem Krieg von
-Dreißig Jahren das mittlere Europa selbst nur noch ein Scheiterhaufen
-war... Dieser Scheiterhaufen gemahnt uns, ihr Christen, daran, daß
-Jesus Christus schon geboten hat: wolle du wohl deinem Nächsten wie dir
-selbst, -- daß mithin schon Jesus Christus die Selbstliebe (und die
-Puritaner wußten das sehr genau!) in die Rechte feierlich eingesetzt
-hat, die sie seither für sich in Anspruch nimmt. Nie wäre von diesem
-Gebot her einzusehen, warum das eigene Selbst etwa zugunsten des
-fremden hätte verleugnet oder unterdrückt werden sollen, -- nie, warum
-es auch nur nach Tunlichkeit abgeblendet hätte werden sollen. Sogar den
-äußersten Fall gesetzt, es hätte der evangelische Herr geboten, was
-er in Wahrheit nicht geboten hat: Wolle du deinem Nächsten wohl mehr
-als dir selbst, -- wie wäre da nicht sofort die Gegenfrage zu stellen
-gewesen: Warum denn, o Herr, dem Nächsten mehr Wohlwollen als mir
-selber? Mit welchem Fug wird sein Selbst dem meinigen vorgezogen? Sind
-wir nicht just vom Urteil der Selbstschätzung, Selbstwertung aus alle
-gleich? Bin ich mir minder Ich als sich mein Nächster Ich ist? Oder wie
-könnte mir das Ich des Nächsten näher sein als mein Ich! Was stellt das
-Ich des Andern über Mich und weshalb sollte ich Mich auslöschen, damit
-Er heller brennt, flackert und zackert? Mit welchem Recht der Götter
-oder Menschen geht des Nächsten Selbstsucht über meine eigene? Und sind
-wir Brüder für uns selbst nur vor uns selbst, wie darf der Bruder hier
-über dem Bruder stehen, der Bruder hier vor dem Bruder gehen? Wahrlich
-und Wehe! der Altruismus ist immer nur der Egoismus des Nächsten..
-
-Ziehen wir derart die Summe von zwei christlichen Jahrtausenden für
-Europa, so muß sich also notwendig ergeben, daß niemals noch sonstwo
-die menschliche Person zu diesem Grad von Stärke und Selbstherrlichkeit
-heraufgezüchtet ward wie im christlichen Europa. Was unter günstigen
-Bedingungen ein Christ und Europäer aufbringt an Entschlossenheit
-und Arbeitkraft, Willen und Umsicht, Kaltblütigkeit und Tapferkeit,
-Genauigkeit und Zähigkeit, -- es übertrifft alles Dagewesene bei
-weitem. Mit dem alleinigen Ziel vor Augen, sich durchzusetzen gegen
-jeden Widerstand, setzt dieser Christ und Europäer sich denn in
-Wirklichkeit auch durch, -- mit welchen Mitteln freilich oft, das frage
-niemand. Tatmensch, Geschäftmensch, Gewaltmensch noch wider jeden
-Einwand des Gewissens, betreibt er von früh bis spät ausschließlich
-seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Selbstverwirklichung.
-In dem Bewußtsein seiner persönlichen Einzelnheit und Einzigkeit,
-in dem Bewußtsein folglich seiner unbedingten Einmaligkeit und
-Unersetzlichkeit, welches ihm eine streng christliche Philosophie
-anerzogen, angezüchtet hat, findet er eine höchste Rechtfertigung
-für die rücksichtloseste Ausprägung seiner Eigenheit; in eben dieser
-Ausprägung vermutet er den Endzweck und das Amen alles Geschehens
-überhaupt. Sei der, der du bist und werde, der du bist, beides in
-seiner Aufgipfelung und Vollendung, -- diese Quintessenz der religiösen
-Belehrung, welche in der Bhagavad-Gîtâ Gott Krischna dem Prinzen
-Arjuna widerfahren läßt, ist auch die Quintessenz, wir wissen es seit
-Pindaros, aller europäischen Wirklichkeitauffassung: nur freilich
-aus dem Indischen ins Europäische übersetzt und damit einigermaßen
-entseelt, entadelt, entgeistigt. Der europäische Mensch wird, der er
-ist; das heißt er setzt sich durch um jeden Preis und auf jede Weise.
-Die Erste Unterweisung hat es erwähnt, die Vierte erinnert hiermit
-daran, wie der Erfolg dieses persönlichen Sich-Durchsetzens in der Welt
-vom Kalvinismus und Puritanismus geradezu als der schlüssige Beweis vor
-Gott und Menschen erachtet wird, daß einer berufen und erwählt sei. Wer
-seine Eigenheit zur Anerkennung bringt, wer den Erfolg an seine Seite
-zwingt, wer das Glück zur Treue überredet, der hat sich bewiesen, genau
-wie er sich im entgegengesetzten Falle widerlegt hat. Solchermaßen
-statuiert der christliche Europäer ein Recht auf Persönlichkeit, und
-wer feiner hinhorcht, wird sich vielleicht davon überzeugen, daß er
-sogar eine Pflicht zur Persönlichkeit statuiert. Lediglich unter diesem
-Gesichtswinkel vermag er sich überhaupt noch ein erstrebenswertes
-Lebensziel vorstellig zu machen. Nur um Gottes willen von der formlosen
-Masse und Massenhaftigkeit abrücken! Nur um jeden Preis ein eigenes
-Gesicht, und sei es ein hoffärtiges und freches, zur Schau tragen! Nur
-unter allen Umständen aus der flüssigen Mutterlauge zum festen Kristall
-aufschießen! Das ist der heiß begehrte Preis, der dem Sieger nach
-zermürbendem und zerrüttendem Kampfe winkt...
-
-Denn Kampf bis aufs Messer, Kampf in einer noch nirgends zu erfahrenden
-Grausamkeit des Begriffs ist das Leben dieses christlichen Europäers.
-Die Selbstverwirklichung bis zum äußersten als die einzig anerkannte
-Lebenspflicht muß selbstredend in heftigen Widerstreit geraten mit
-derselben Lebenspflicht jeder Persönlichkeit, welche der ersten
-gesellschaftlich oder wirtschaftlich irgendwie benachbart ist,
--- ein selten eindringliches Beispiel übrigens, wie manchmal die
-Möglichkeit einer Gemeinschaft nicht durch Verschiedeninhaltlichkeit
-der ergriffenen Zwecke, sondern durch Gleichinhaltlichkeit derselben
-vernichtet wird. In diesem christlichen Europa will in Wahrheit
-jedermann genau dasselbe: nämlich die denkbar reichstgeschliffene
-Ausformung seiner jeweiligen Eigenheit und Einzelnheit. Und das
-Ergebnis davon heißt eben Kampf, Krieg, Wettbewerb, ἀγών, _struggle
-for life_, Zuchtwahl... Kampf der Vater aller Wirklichkeiten, das ist
-in Wirklichkeit die Überschrift, welche der Vater der europäischen
-Menschlichkeit auf seiner Völkerbrücke zu Ephesos an das Tor zu unserm
-Festland schlug und hämmerte. Kampf der Vater und Kampf die Mutter,
-das ist die Wahrheit geblieben, die auch vom Christentum nicht nur
-nicht widerrufen, sondern bestätigt worden ist, denn der Herr des
-Evangeliums scheint es erraten zu haben, warum er, vorzugweis er sich
-als denjenigen bezeichnete, der nicht den Frieden, aber das Schwert
-bringen werde: nicht einmal das Kreuz von Golgatha konnte die Pforten
-des Janustempels sperren, die ewig offenklaffenden, und tatsächlich
-hat das Christentum sein Öl der Linderung ins Feuer statt aufs Wasser
-ausgegossen... Kampf brandet und Kampf entbrennt also schon im kaum
-befruchteten Keim, wo offenbar das Männliche mit dem Weiblichen im
-Hader liegt, bis entweder das Männliche über das Weibliche oder das
-Weibliche über das Männliche Herr ward und dadurch das Geschlecht
-des künftigen Wesens entschied. Und derselbe Kampf wird ausgetragen,
-wo die vererbten Eigenschaften einer Ahnenreihe mit den vererbten
-Eigenschaften anderer Ahnenreihen streiten, oder wo den vererbten
-Eigenschaften neue hinzuerworbene von Grund auf widerstreben. Wohin
-der Blick des Christ-Europäers fällt, gewahrt er Kampf und Krieg im
-Kleinen wie im Großen, und sogar noch wenn er an Sommerfeierabenden,
-an endlos schwalbenzwitschernden und grillenzirpenden, besinnlich auf
-der Gartenbank vor seinem Hause sitzt und eine Weile ruht, fühlt er
-vom Grausen plötzlich sich geschüttelt beim Anblick eines räuberischen
-Tausendfüßlers, wenn dieser sich auf einen verzweiflungvoll
-aufbäumenden Regenwurm stürzt und dessen unbewehrten Leib mitten
-entzweibeißt: so hat dem Rabbi von Bacharach die Eiskralle des
-Entsetzens ins Herz gegriffen, als er am Vorabend vor Pascha unter dem
-schimmernden Tafellinnen plötzlich die eingeschmuggelte Leiche eines
-Kindes sah... In einem Augenblick derart hellsehenden Weltverstehens
-mag es sein, daß dem Christ-Europäer das furchtbare Gesetz des Lebens
-aufleuchtet, welchem zufolge jedes organische Gebild der glücklich
-Überlebende und Überstehende zahlloser sicht- und unsichtbarer
-Einzelkämpfe ist. Weit entfernt, daß ihm als Menschen, ihm als Christen
-diese Kämpfe erspart blieben oder wenigstens in ihrem Grad gemildert,
-in ihrer Form ‚vermenschlicht‘ würden, findet er ganz im Gegenteil
-gerade sich in seiner Eigenschaft als Mensch zu einer Kampfweise
-genötigt, wie sie gleich wahllos in den Mitteln und gleich böse die
-außermenschliche, untermenschliche Natur nicht kennt. Wohl frißt auch
-dort ein Tier das andere Tier, ein Tier die Pflanze und gelegentlich
-auch eine Pflanze das Tier ganz unbedenklich. Aber im allgemeinen
-spielt sich dieser Kampf doch meist zwischen den verschiedenen Arten
-als solchen ab, seltener zwischen den Vertretern ein und derselben Art,
-was leider bei uns Menschen die selbstverständliche Regel wird. Sind
-wir ganz offenkundig schon dadurch gegen das Tier vielfach im Nachteil,
-daß mit verhältnismäßig geringen Schwankungen die geschlechtliche
-Brunst bei uns das Jahr über ununterbrochen dauert, was für nicht
-wenig Menschen eine Hölle von Anfechtungen bedeutet, so sind wir
-auch in dieser Beziehung schlimmer daran als das Tier, daß wir uns
-fortwährend gegen unsresgleichen wenden und wehren müssen, -- und dies
-wie gesagt obendrein mit Mitteln, Pfiffen, Schlichen, die das Tier
-verschmäht: „Denn heimlich wie die Höhle, o Herr, ist der Mensch, und
-offen wie die Ebene, o Herr, ist das Tier“, sagt Pesso, der Sohn des
-Elefantenlenkers, zum Erhabenen...
-
-Der sogenannte Kampf ums Dasein also, von seinem europäischen Entdecker
-zu seiner Zeit sicherlich zu Unrecht herangezogen, um die Wandlung
-einer Art zur anderen und ‚höheren‘ erklärlich zu machen, -- zu Unrecht
-herangezogen, sag’ ich, weil er sich zwischen verschiedenen Arten
-eigentlich gar nicht ereignen kann, wofern verschiedene Arten jeweils
-auch in verschiedenen Umwelten leben, verschiedenen Daseinsbedingungen
-unterliegen und darum streng genommen um diese Daseinsbedingungen
-auch nicht wirklich kämpfen können! -- beim Menschen wird dieser
-Kampf ums Dasein dennoch schauerliche Wahrheit. Kämpft doch der
-Mensch mit dem Menschen in der Tat um die nämliche Ackerscholle, um
-die nämlichen Bodenschätze, um die nämlichen Weideplätze, um die
-nämlichen Absatzmärkte, um die nämliche Arbeitstelle, um den nämlichen
-Güteranteil, um das nämliche Weib, um das nämliche Glück, um die
-nämliche Ehre, um den nämlichen Rang. Der Mensch kämpft ums Dasein,
-das heißt, er kämpft um sich selber und um seine Selbstverwirklichung,
-und beides winkt ihm nur, wo er seinen Wettbewerber übermächtigt.
-Schon daß er lebt, bedeutet unter allen Umständen eine Übermächtigung
-unbekannt wie vieler Ansätze und Möglichkeiten, die zum gleichen Leben
-drängten; so kann er von allen Wesen am buchstäblichsten von sich
-selbst bekennen: denn wir sind teuer erkauft. _Sub specie_ dieses
-Gedankens war es dann nicht weniger als Die europäische Vision, das
-Leben überhaupt als Willen zur Macht aufzufassen und zu entlarven.
-Zum mindesten sind alle Gipfelungen und Aufhöhungen des Lebens in
-diesem unserm christlichen Europa unmittelbar eins mit dem stolzen
-Gefühl erworbenen Machtzuwachses durch den Sieg über andere Mächte,
-andere Mächtige. Die Macht ist die einzige und letzte Tugend des
-Christ-Europäers, an die er noch wirklich glaubt, zu welcher er betet
-und der er opfert. Macht über den Feind ist die Tugend des Kriegers,
-Macht über den Sklaven die Tugend des Freien, Macht über das Weib die
-Tugend des Mannes, Macht über den Stoff die Tugend des Künstlers,
-Macht über das Werkzeug die Tugend des Handwerkers, Macht über das
-Betriebsmittel die Tugend des Unternehmers, Macht über die Masse die
-Tugend des Führers, Macht über das Element die Tugend des Technikers,
-Macht über die Unordnung die Tugend des Wissenschafters, Macht über
-den Zufall die Tugend des Weisen, Macht über den Trieb die Tugend des
-Bändigers. „Jeder von uns“, so steht im pseudoplatonischen Theages zu
-lesen, „möchte womöglich aller Menschen Herr sein, am liebsten Gott...“
-Der Wille zur Macht als der oberste und im Grund sogar einzige Wert des
-Lebens, die Macht und ihre Ausbreitung, Steigerung das eigentliche Ziel
-und der eigentliche Sinn des Lebens, das ist der kardinale europäische
-Gedanke, und wer wird zu behaupten wagen, er sei nicht irgendwie auch
-der kardinale christliche Gedanke gewesen? Denn war der christliche
-Gott nicht vorzugweis der _pater omnipotens_, war nicht die All-Macht
-an und für sich das _summum bonum_ oder der höchste Wert: nur eben
-in der Sprache der Scholastik statt in der Sprache Nietzsches? Wer
-unbefangen hinsieht, gewahrt denn auch gerade in jenem Mittelalter
-die ragendsten Vertreter des Machtgedankens überhaupt, welche unser
-Festland bis auf die neue Zeit hervorgebracht hat, -- sei es in der
-Gestalt jenes Innozenz des Dritten oder Bonifaz des Achten, sei es in
-der Person jenes Heinrich von Hohenstaufen, der Deutschland, Italien,
-Sizilien als ein einziges Reich kaiserlich beherrschte und über das
-Mittelmeer schon seine gewaltige Hand auf Kleinasien gelegt hatte,
-als er alexandrisch früh und unbegreiflich aus einer ungeheuern Bahn
-geschleudert ward: seit Heinrich des Dritten gleichfalls allzu jungem
-Tod das zweite Beispiel übrigens aus unserer deutschen Geschichte,
-wie eine Entwicklung mit schwindelerregenden Adspekten verhängnisvoll
-abgerissen ward... Schon damals also, und wie erst recht heute,
-kommt der Europäer erst zu sich im Gefühl der Macht; in ihm allein
-genießt er seiner selbst und schwelgt er in seinem Selbst. Unter
-den Gesichtswinkel der Macht gerückt, erscheint dem Europäer jedes
-vorhandene Dasein und jeder vorhandene Gegenstand ein Widerstand, an
-welchem er sich mißt: vermag er ihn wirklich zu überwinden, so fühlt er
-triumphierend das verstärkte Bewußtsein seiner Eigenheit. Was ihn nicht
-umwirft, macht ihn mächtiger, -- folglich wirft der Europäer vieles, ja
-alles um, damit er dadurch mächtiger würde...
-
-Im Zeichen dieses machthaft gesteigerten, machthaft gespannten Daseins
-beginnt dann dieser _homo europaeus_, _homo christianissimus_ sich
-auf eine Art rein biologisch auszuleben, wie sich das keine einzige
-Menschheit der bekannt gewordenen Geschichte vorher je gestattet
-hatte. Vernunft, Maß, Mitte, Zweck, Ziel, Übereinkunft, Herkommen,
-Norm, Gesetz, Urteil, Geschmack, die ehemals aus einer begründeten
-Angst vor dem Leben zwischen den Menschen und das Leben absondernd
-eingeschaltet wurden, liegen jetzt zertrümmert an der großen Straße,
-die das Leben selbstherrlich wie nie zuvor beschreitet. Der Bios
-und der Logos, mutmaßlich von Heraklit zum erstenmal in ihrer
-Gleichwertigkeit und Gleichunentbehrlichkeit trotz ihres verschiedenen
-Vorzeichens miteinander verkoppelt zu jenem doppelten System von
-Kräften, dessen Arbeitertrag eben Europa heißt, -- der Bios und der
-Logos werden jetzt durch die Vehemenz des Lebens, Nichts-als-Lebens,
-auseinander gerissen, und der Bios dem Logos unbedingt und unbedenklich
-übergeordnet. Womit ein Rangstreit voreilig und unsachlich entschieden
-wird, der in zwei langen Jahrtausenden vielleicht der stärkste Antrieb
-zu dem Aufbau unserer europäischen Gesittung war und uns jedenfalls
-in dieser ganzen Zeit geschichtlich bei Atem erhalten hatte. Nunmehr
-aber heißt der Zweck und Sinn des Lebens Leben selbst und darf dem
-Leben nicht länger durch eine metaphysische, richtiger metabiotische
-Einlegung vom Geist oder der Vernunft her unterstellt werden. Die
-einmal angetretene Erscheinung aber des Lebens, sei sie _collectivum_,
-sei sie _individuum_, gilt als das höchste Gut, dem gegenüber jedes
-Lebendigen höchste Pflicht darin besteht, sich selber bis zum eigenen
-Untergang und noch darüber hinaus lebendig auszuwirken: koste es,
-was es wolle; koste es sogar die Vernichtung, die Zerstörung aller
-übrigen Erscheinungen des Lebens. Das Leben selbst, im christlichen
-Europa ganz folgerichtig ergriffen und begriffen als das höchste
-Gut, schwillt tosend über alle Dämme, und da ist kein Opfer vornehm
-und edel genug, -- am wenigsten aber das einst so gefürchtete, jetzt
-leichthin dargebrachte _sacrifizio dell’intelletto_! -- welches nicht
-mit Recht von ihm gefordert werden dürfte. Kindlich über die Maßen das
-alte Vorurteil, menschlicher Verstand oder Geist könnten das Leben
-meistern oder wenn nicht geradezu meistern, so wenigstens gängeln
-oder zügeln. Kindlicher noch das Vorurteil, das Leben als solches
-sei da, um höheren Vernunftabsichten, sittlichen Weltordnungen,
-göttlichen Heilsplänen irgendwie zu dienen. Bis hierher freilich war
-das Menschenleben in seiner vorbildlichsten Führung wesentlich ein
-Dienen, und wer am würdigsten gelebt hatte, der durfte am rühmlichsten
-zuletzt von sich bekennen: _In serviendo consumatus sum_, im Dienen
-hab’ ich mich aufgezehrt... Aber derlei Romantik ist jetzt wahrlich
-nicht mehr an der Zeit, der fortgeschrittenen. Das Leben ist erfaßt als
-Unbedingtheit, Unbezüglichkeit. Vielleicht als das letzte sogenannte
-_absolutum_ unserer abendländischen Philosophie hat es niemanden
-und nichts mehr über sich, dem es selbst beim besten Willen dienen
-könnte, -- indes ihm selber, wohlverstanden, alles dienen muß und
-soll. _Ars longa, vita brevis_, sagte sich vormals der europäische
-Mensch zu seinem Trost und seiner Stärkung, wenn er sein kleines Leben
-an große Dinge demütig und dennoch stolz dahin gab. _Vita longa, ars
-brevis_, lächelt er jetzt (etwas beklommen und beklemmend freilich)
-sich selber zu, wenn er im heißatmigen Föhn des Lebens all’ die zarten
-und zartesten Flocken schmelzen sieht, die er im Ablauf der Zeit zu
-den herrlichen Kristallgebilden seiner geschichtlichen Kulturen, wie
-er einst meinte und hoffte, für die Ewigkeit geformt hat. Weh’, ihm
-schmolz im Föhn des Lebens auch der Kristall der Ewigkeit dahin,
-und unter dem niederschmetternden Eindruck dieses unvergleichlichen
-Verlustes geschieht es denn, daß er seine letzte Rückkehr zur Natur,
-zum Leben in Szene setzt, -- diese Rückkehr, zu welcher man ihn seit
-anderthalb Jahrhunderten mit immer größerer Dringlichkeit zu überreden
-bemüht gewesen ist: bezeichnenderweis von demselben Frankreich aus,
-welches nunmehr in Henri Bergson den Vollender und Vollstrecker unseres
-europäischen Biologismus verkörpert zeigt. Der Europäer, sag’ ich,
-kehrt einmal noch zurück zur Natur, enttäuscht von allen bisherigen
-Kulturen. Er kehrt zurück zur Natur, will meinen, er beginnt sich
-biotisch, biologisch auszutoben, auszurasen, auszutanzen, -- und dieser
-Vorgang ist am Ende immer noch wichtig genug, um unsere Aufmerksamkeit
-ein wenig auf sich zu ziehen.
-
-Denn vergessen wir, ihr Christen, vor allen Dingen dieses eine nicht,
-daß der Europäer der heutigen Zeitläufte, längst ehe er zum Biotiker
-wurde, er Energetiker gewesen war. Energetiker zwar nicht etwa im
-Sinn einer besonderen physikalischen Auffassung und Deutung, sondern
-Energetiker ganz unmittelbar in der Betätigung seiner schaffenden und
-gestaltenden Kräfte. Aus dieser sehr beachtenswerten Ursache heraus
-kann er gar nicht umhin, sich nun auch die Tatsache des Lebens selber
-energetisch zurechtzulegen. Auch das Leben, ja das Leben erst recht
-offenbart sich ihm als ein energetisches Geschehen, als ein Umsatz von
-Energie in Energie, und der Lebendigste ist ihm ganz ohne Zweifel der,
-welcher den ‚größten Umsatz‘ hat. Wer da die meiste Arbeitfähigkeit
-und Arbeitkraft entwickelt, wer sich mit Energie am unerschöpflichsten
-geladen zeigt, ist der Lebendigste von allen und als Lebendigster ohne
-Frage auch der Wirklichste. Unter allen anderen, die gleichzeitig
-mit ihm leben und mit ihm wirken, hat er am unwiderleglichsten zu
-Allem recht: erlaubt ist, was da lebt, verboten nur der Tod. So lädt
-sich denn jeder Einzelne mit einer Menge von Lebenskräften, das ist
-Arbeitkräften, welche genügen würden, ihn selber samt der Hälfte
-der Welt in die Luft zu sprengen. Und Gott weiß, ihr Christen, die
-Luft um uns herum zittert von den Stößen der Sprengungen, die sich
-ringsherum alle Augenblicke ereignen: irgendwer, irgendwas fliegt in
-jedem Zeitteil dieser vorgerückten Zeigerstellung in die Luft... Der
-Einzelmensch ist nur mehr eine Zusammenballung und Zusammenkernung von
-positiven Kräften, die ihre Umgebung negativ laden und mit furchtbarer
-Gewalt von sich abstoßen. Eine unheimliche Spannung zwischen den
-einzelnen Lebensträgern entsteht und steigert sich schnell bei ihnen,
-ob sie nun im engern Sprachverstand als _individua_ oder im weiteren
-als _collectiva_ anzusprechen sind, zur wahren Unerträglichkeit: jedes
-_collectivum_, jedes _individuum_ empfindet das andere schlechthin
-als unerträglich. Eine schreckliche Einsamkeit zieht sich um jeden
-Menschen zusammen wie eine schwarze Wolke, die nur noch in flammenden
-Blitzen redet, wenn sie nicht dann und wann etliche Tropfen auf die
-verschmachtende Erde fallen läßt, die aussehen wie Blut... Kaum in den
-wildesten Vergangenheiten mögen sich Einzelmenschen, Stände, Berufe,
-Klassen, Stämme, Völker, Staaten, Rassen derart indianerhaft bis zum
-Tod am Marterpfahl gehaßt haben wie heute, wo die frohe Botschaft vom
-Leben wie ein Fünftes Evangelium ergangen ist. Zu einem Sammelbecken
-der Energie staut jeder das Gefälle seines Lebens, aber weil er wegen
-der allzu großen Nähe und Widerstandskraft anderer diese gestauten
-Energien nirgends abfließen lassen kann, beginnt er sehr bald unter
-seinem eigenen Zuviel zu leiden. Aus diesem unvermeidlichen Leiden
-am andern nährt sich ebenso unvermeidlich sein Haß auf den andern.
-In diesem an sich schon übervölkerten Europa bedeutet jedes einzelne
-dieser lebendigen Energiezentren, Energiequanten ein Höchstmaß an
-Störung, Hemmung, Ablenkung für die andern mit lauter magnetischen und
-elektrischen Gewittern in der Folge. In unglaublichem Ausmaß hat sich
-ein ahnungvolles Wort Nietzsches aus seinen Niederschriften zu einer
-Philosophie des Willens zur Macht als ein prophetisches erwiesen:
-„Die europäische Tatkraft wird zum Massenselbstmord treiben“... Die
-europäische Tatkraft, will sagen der europäische Energismus und
-Biologismus, der den Europäer ohne jede Schutzmaßregel dem Leben und
-seinen Entladungen preisgibt, hat wirklich zum Selbstmord der Massen
-getrieben. (Was wir aber darunter ungefähr zu verstehen haben, hat
-der nunmehr sieben Jahre gegen Deutschland geführte Vernichtungkrieg
-einigermaßen offenbar gemacht)...
-
-So hat das Leben, das Nichts-als-Leben und Nur-noch-Leben die
-europäische Menschheit dieser Stunde angefallen, wie es dann und wann,
-anscheinend grund- und ursachlos, eines jener chemischen Elemente
-anfällt, die der Gruppe von radioaktiven Stoffen zugehören. Das Leben
-befiel uns und überfiel uns gleichsam, und es leitete mit diesem
-Überfall anscheinend bei uns denselben Zustand des Zerfalls ein wie
-bei diesen mehr wie rätselhaften Elementen. Wunderbar zwar, wir alle
-wissen es, beginnt ein solch’ plötzlich auflebendes Element leuchtende
-Teilchen von sich selber fort und fort zu schleudern und alle jene
-märchenhaften Phänomene aufzuweisen, welche zu unserm unermeßlichen
-Erstaunen ein für alle mal an den Namen Radium klassisch geknüpft sind.
-Dies wie gesagt wissen wir alle. Aber wir wissen auch das andere,
-daß eben mit diesen fortgeschleuderten und vergeudeten Teilchen der
-atomistische Zerfall des ganzen Elementes zum Vollzug gelangt: das
-Element lebt auf, indem es seine eigene Substanz verausgabt. Zum Leben
-irgendwie gereizt, verführt, bestimmt, -- das alles ist ja vollkommener
-Mythos innerhalb der Grenzen strengster Wissenschaft! -- gestaltet
-das Element sein bisher ausschließlich physikalisch-chemisches Dasein
-in ein biologisches um, wobei ihm just wiederum diese Umgestaltung
-Sterblichkeit, Tod und Untergang bringt. Etwas ganz Ähnliches, deucht
-mich, geschehe nun auch hier, wo wir europäische Menschen, die wir
-vormals wohl ein wesentlich humanes, ja humanistisches Dasein zu
-führen wenigstens beflissen waren, vom Leben als solchem nun gereizt,
-verführt, bestimmt sind, uns einem vorwiegend biologischen Dasein
-unbedingt hinzugeben, -- und so bringt auch uns diese Umgestaltung
-Sterblichkeit, Tod und Untergang. Luziferisch glutend wie ein
-feuerspeiender Berg in der Nacht loht heute Europa in den Bränden
-seiner Lebenswut und Lebensgeilheit, -- aber wer wäre im ernstlichen
-Zweifel, was dieses prachtvolle Nachtschauspiel, Machtschauspiel zu
-bedeuten hätte! Ein oder zweitausend Jahre europäischen Christentums
-haben endlich auch die verborgensten Voraussetzungen des Christentums
-zum Reden und das Eis des Schweigens unter weithin vernehmlichem
-Krachen zum Bersten gebracht. Und sieh’ da, es zeigte sich folgendes:
-diese Voraussetzungen waren nicht geradezu nachweisbar falsch oder
-irrig, aber sie mußten irgendwie dennoch lückenhaft und unvollständig
-gewesen sein, denn ihnen mangelte offenbar etwas zum Schutz gegen
-des Lebens Un- und Übermaß. Sicherlich hat das Christentum niemals
-Ja gesagt zu den selbstzerstörerischen Konsequenzen, welche ein
-nunmehr abgelaufener Äon mit zunehmender Unzweideutigkeit aus dem
-Christentum selbst gezogen hatte. Aber ebenso sicherlich hilft ihm
-auch die ehrlichste Verwahrung und Entrüstung nichts, daß es trotz
-alles Gegenscheins zuletzt doch christliche Voraussetzungen gewesen,
-oder sagen wir etwas vorsichtiger und gerechter: mit-gewesen sind,
-welche diesen Konsequenzen zugesteuert haben. Genau diesen nämlichen
-Konsequenzen würde _homo europaeus_, _homo christianissimus_
-unabänderlich noch einmal zusteuern, falls er durch die Vergangenheit
-noch nicht genug gewitzigt, noch einmal sich entschließen würde oder
-entschließen könnte, als Christ seine Geschichte von vorne zu beginnen:
-„Noch einmal sattelt mir den Hippogryphen, ihr Musen, Zum Ritt ins
-alte romantische Land“... Unabänderlich würde der europäische Christ
-auch bei einer Wiederholung seines weltgeschichtlichen Pensums seine
-persönliche Selbstverwirklichung, Selbstverlebendigung um jeden Preis
-zum letztgewollten Ziel seines Daseins machen, nachdem es nun einmal
-sogar seine Religion nicht besser kennt und weiß, als daß Lebenseinheit
-und Ichgestalt, Individuität und Personität die letztmögliche und
-höchstmögliche Ausformung des Wirklichen überhaupt darstellten ...
-Gegen diese Wucherungen der Individuität, die sich notwendig aus
-dieser Auffassung ergeben müssen, kann man _post festum_ mancherlei
-taugliche Maßregeln ergreifen, wie sie der Herr des Evangeliums und
-die sogenannte christliche Ethik denn auch in der Folge mit größerer
-oder geringerer Entschiedenheit ergriffen haben. Aber alle diese
-Maßregeln sind im besten Fall nur dazu geeignet, die Selbstsucht und
-den Eigentrutz der einzelnen Person etwa ein wenig abzuschwächen
-oder gelegentlich sogar zu unterdrücken zugunsten der Selbstsucht
-und des Eigentrutzes einer anderen Person: beides jedoch von innen
-heraus zu überwinden, vermögen auch diese Maßregeln keineswegs bei
-der Grundsätzlichkeit der christlichen Gesamteinstellung zu Welt und
-Wirklichkeit Dasein und Leben...
-
-Indessen sei es nochmals hier mit allem Nachdruck bemerkt, daß uns
-nichts dazu berechtigen würde, diese Gesamteinstellung des Christentums
-zu Welt und Wirklichkeit eine irrtümliche oder falsche zu nennen. Wahr
-oder Falsch, Wahr oder irrig, das sind wahrhaftig nicht die Maßstäbe,
-die an die entscheidenden Einstellungen des Menschen zur Welt und zur
-Wirklichkeit gelegt werden dürfen, wenn sie nicht zu Weiterungen führen
-sollen, die handgreiflich unzulässig, weil unsinnig und widersinnig
-sind. Es geht nicht an zu sagen, zwei Jahrtausende europäischen
-Christentums seien abwegig, irrig oder falsch gewesen. Das Schicksal
-ganzer Kontinente ist so wenig wie das Schicksal eines Individuums
-rückblickend anders vorstellig zu machen, als es eben gewesen ist, und
-wenn jemals das gewaltige Wort vom _amor fati_ angewendet zu werden
-verdient, so hier. Ist es aber, ihr Christen, unter keinen Umständen
-zulässig zu behaupten, zweitausend Jahre christlichen Weltauffassens,
-Lebensgestaltens seien verkehrt gewesen, -- so dürfte andererseit
-freilich die Behauptung doch ihren guten Sinn haben, daß diese zwanzig
-Jahrhunderte ein Verhältnis zur Wirklichkeit für allein möglich,
-allein wertvoll und allein sälig machend erachtet hätten, dessen
-Einschichtigkeit, Unvollständigkeit, Halbschlächtigkeit uns unter dem
-Druck und Eindruck gegenwärtiger Erfahrungen offenbar geworden ist.
-Die Behauptung ist erlaubt, die Behauptung ist gefordert, daß wir mit
-dieser christlichen Einstellung allein nicht länger als Menschen zu
-leben vermögen: nicht länger zu leben mit einer Einstellung, welche
-just das Dasein europäischer Menschheit und Christenheit, wie es heute
-geführt werden muß, zum mensch- und tierunwürdigsten aller Zeitalter
-stempelt. Wer die Europa-Dämmerung dieser Jahre erlebt, wer sie
-erlitten hat, der wird den Argwohn nimmer in sich unterdrücken können,
-daß diese ganze christliche Gesittung bei der Veranschlagung des Lebens
-eine unbekannte Größe, -- es braucht mit nichten ein unbekannter Gott
-zu sein! -- vergessen haben möchte, welches Vergessen dann in der Folge
-zu all den unsäglichen Störungen des Lebens führt, die wir heute an uns
-selbst und am Körper der Gesellschaft beobachten müssen...
-
-Vielleicht wär’ es dabei von etlichem Gewinn, uns an dieser Stelle
-zuletzt der nicht ganz unähnlichen Krisis zu entsinnen, welche
-auf wissenschaftlichem Gebiet heute bekanntlich die klassische
-Mechanik durchzumachen hat. Diese klassische Mechanik, seit
-langem das verwöhnteste Kind europäischer Wissenschaftlichkeit,
-wankt heute ja, genau wie der Bau unserer ganzen Gesellschaft,
-in ihren unterirdischsten Gewölben, und dieser Tatbestand hat
-seither zur Entdeckung eines Weltgesetzes Anlaß gegeben, welches
-den Gebildeten unter dem Namen des Satzes von der Relativität, das
-ist: Verhältniswertigkeit, allgemein bekannt geworden ist. Nun
-wohl! Was ist dabei im letzten Sinn geschehen? Etwas im Grunde sehr
-Schlichtes, Einfältiges, Allzumenschliches, wie mir scheinen will. Eine
-Wissenschaft nämlich, bis vor kurzem die Wissenschaft schlechthin,
-hat als die sogenannt klassische Mechanik der Galilei, Kepler,
-Newton, Descartes ein Weltbild in Begriffen entworfen und bis in die
-feingliedrigsten Einzelheiten hinein durchdacht und durcharbeitet,
-welches gewissermaßen die Wirklichkeit, wie sie an und für sich sei,
-darzustellen beflissen war: die Wirklichkeit mithin ganz ohne jene
-erkenntnismäßigen Zutaten, Zusätze, Formungen, mit welchen sonst
-(nach philosophischer Auffassung wenigstens) das erkennenwollende und
-erkennende Ich diese Wirklichkeit ‚subjektiv‘ zu färben und zu tönen
-pflegt. Auf diese Weise hatte die klassische Mechanik von Masse,
-Geschwindigkeit, Bewegung, Schwerkraft, Raum und Zeit gesprochen, --
-nicht anders, als ob derlei Wesenheiten vollkommen unabhängig von allen
-Einstellungen und Beeinflussungen jenes erkennenden, beobachtenden und
-rechnenden Ich an und für sich bestünden. Das ging solang es ging:
-just nämlich solang, bis zuletzt sogar die Planeten widerspenstig
-wurden und nicht mehr in den errechneten Zeiten ihre errechneten Bahnen
-zurücklegten. Die klassische Mechanik der Galilei, Kepler, Newton,
-Descartes hatte so getan, als ob eine wissenschaftliche Darstellung
-des unbegrenzt großen Körpers ‚Welt‘ zu geben wäre, ohne daß man die
-Einwirkungen weiter berücksichtigte, welche der kleine und begrenzte
-Körper ‚Mensch‘ auf jede derartige Darstellung notwendig schon durch
-seine unumgängliche Gegenwart ausüben mußte. Jetzt endlich unter dem
-Druck der gedachten Umstände begann man sich dieser Einwirkungen
-des physiopsychischen Systems Mensch auf das maschinelle System
-Welt grundsätzlich zu besinnen; jetzt traf man Anstalten, jenes
-System als den lebendigen und insofern auch abhängig-veränderlichen
-‚Bezugknoten‘ in die Maschen des wissenschaftlichen Begriffsgespinstes
-hinein zu stricken. Die vorher unbedingt gedachte, unbedingt gesetzte
-Wirklichkeit bewegter Massen im Raum erwies sich jetzo als bedingt,
-nämlich durchaus als zugeordnet und folglich als verhältniswertig
-und verhältnismäßig zu diesem lebendigen Bezugknoten Mensch. Dieser
-Gedanke war kaum in seiner grundsätzlichen Bedeutsamkeit zugelassen
-worden, als die Störungen zum Verschwinden gebracht werden konnten,
-welche schließlich die gesamte klassische Mechanik in Frage gestellt
-hatten. Im wesentlichen handelte es sich nur noch darum, jenen neu
-aufgefundenen Bezugknoten in seinem veränderlichen Wert irgendwie
-mathematisch-analytisch in die Rechnung einzufügen, -- ein Vorgang,
-dessen Wie uns hier begreiflicherweis nichts weiter angeht. Wohl
-aber gibt uns das Daß desselben, obgleich auch seinerseit in erster
-Linie eine Angelegenheit der Mechanik, einen schätzbaren Wink, wie
-man etwa auch außerhalb der strengen Wissenschaft Unstimmigkeiten und
-Störungen einschneidender Art zu beheben vermöchte: Unstimmigkeiten
-und Störungen wahrhaftig nicht in den Umlaufbahnen des Merkur oder in
-der Fortpflanzungrichtung der Lichtstrahlen, sondern Unstimmigkeiten
-und Störungen in der Gesamtlebensführung eines Zeitalters, --
-Unstimmigkeiten und Störungen so schwerster, ausschweifendster,
-verderblichster Art, daß sie schließlich die allgemeine Tatsache
-des Lebens selber gefährden müssen. Jene klassische Mechanik euerer
-Galilei, Kepler, Newton, Descartes, ihr Christen, hatte den wechselnden
-Bezugknoten Mensch und menschlicher Beobachter bei ihrer mathematischen
-Substruktion einer dreidimensionalen Weltwirklichkeit in Anschlag zu
-bringen vergessen: einen veränderlich-abhängigen Wert also je nach
-der örtlichen Einstellung zu den wahrgenommenen Erscheinungen und
-Erscheinungabläufen. Das Christentum aber, welches nun einmal euer
-europäisches Schicksal geworden ist, ihr Christen: dies Christentum hat
-unzweifelhaft etwas anderes vergessen. Was dieses andere freilich sei,
-ist schwer zu sagen, schwer zu suchen, schwer zu finden...
-
-
-Sichten wir noch einmal alles ineinander, was hier gesagt ward
-über das Verhältnis des europäischen und mithin doch wohl auch des
-christlichen Menschen zu seiner Welt, so wäre etwa als grundsätzlicher
-Ertrag das Urteil festzuhalten: der Abendländer formt diese Welt
-aus seinen Sinnen und mit seinem Sinn restlos in eine Unendlichkeit
-gestaltartiger Gebilde aus. Das All zerlegt sich ihm in wechselnd
-wechselseitige Beziehung solch wohl ausgeformter, festabgegrenzter
-Gegenständlichkeiten zueinander, und vollends das Leben erscheint ihm
-lediglich unter dem Gesichtswinkel ewig bewegter und veränderlicher
-Grundgestalt. Die Wirklichkeit des Europäers ist durchgängig aufgeteilt
-in letzte Einzelnheiten, letzte Einheiten, die er schon früh in
-seiner dreitausendjährigen Geschichte die Unteilbarkeiten, ἄτομοι,
-_individua_ zu nennen liebte. Nichts liegt seiner Gewohnheit ferner
-als der Argwohn, diese vielfach gegliederte Wirklichkeit könne am Ende
-doch nicht das Wirkliche schlechthin sein, und buchstäblich hat er
-sein Sach’ auf Sich gestellt, wofern er sich die ganze wahrnehmbare
-und unwahrnehmbare Welt so deutet, als ob sie sich zusammensetze aus
-lauter mehr oder weniger ähnlichen Wiederholungen seiner eigenen
-Individuation. Im fließenden Wandel der Gestaltungen deucht ihn die
-Gestalt allein das Dauernde und Beharrliche, und sein Blick erlischt,
-sein Auge erblindet jäh, wo man es abzuziehen trachtet von den streng
-ausgeprägten Gegenständen und genau abgegrenzten Besonderungen
-seiner vielgegliederten Wirklichkeit. Die Welt unterworfen dem
-Gesetz fortschreitender Besonderung, das ist die vorzugweis
-abendländische Welt, und wo das Gesetz nicht mehr gilt, wird mit naiver
-Selbstverständlichkeit angenommen, daß auch die Welt selber nicht mehr
-gelte. Diesseit und jenseit der Unterscheidung beginnt das Nichts
-und Abernichts, -- das ist europäische Einstellung und Überzeugung,
-und wir hier vermögen jetzt sogar zu begreifen, inwiefern dies
-christliche Einstellung, evangelische Überzeugung gewesen ist. Wie der
-mathematische Dividendus einer rationellen Zahl durch Teilung restlos
-aufgeht in seine Divisoren, so geht die abendländische Wirklichkeit
-restlos in ihre Besonderungen auf. In dieser Auffassungweise verrät
-sich ein gar nicht auszurottender Rationalismus europäischen
-Weltdenkens und Weltwissens, auch wenn dieses Weltdenken und Weltwissen
-seit der Mathematik der Griechen aufs tiefste sich beunruhigt zeigt
-von dem Problem des Irrationalismus, bis dieser Irrationalismus
-schließlich in der gegenwärtigen Philosophie Deutschlands, Frankreichs,
-Amerikas Trumpf geworden ist. Die Welt ein aufteilbares Ursein, die
-Welt grundsätzlich ein _Dividuum_, und nur die letzten Einheiten ihres
-Bestands unteilbares Dasein oder _Individuum_: in dieser Deutung krönt
-die Abendlandsmenschheit ihr höchstes Wissen von der Wirklichkeit.
-
-Nicht aber krönt in derselben Deutung die indische Menschheit dieses
-ihr Wissen, und am wenigsten der Buddho mit Namen Gotamo. Wer die
-unermeßliche Paradoxie, welche für abendländischen Geschmack der Lehre
-und Tat des Buddho immer anhaften wird, mit ihrer ungeminderten Wucht
-auf sich prallen lassen will, braucht sich nur diesen nämlichen Umstand
-zu vergegenwärtigen: denn die Erfahrung einer vollkommen entstalteten
-und entformten Wirklichkeit diesseit und jenseit aller Besonderungen
-und Unterscheidungen, diese Erfahrung aller Erfahrungen macht geradezu
-das religiöse Erlebnis des Buddho aus: namentlich aber besteht das
-gotamidische Mysterium der Erlösung einzig und ausschließlich in der
-vollbrachten Ablösung von eben dieser Wirklichkeit restloser Ausformung
-und Ausgestaltetheit. Wo Sinn und Sinne des europäischen Menschen
-unermüdlich in eine gestalthafte Welt schweifen und mit der Schärfe
-astronomischer Refraktoren sogar noch jede nebelungewisse Milchstraße
-am Himmel in ein Gewimmel von lauter einzelnen Sternen optisch
-zerbrechen, da sammelt sich der Geist des gotamidischen Menschen in
-stiller Einfaltung auf das versiegelte Geheimnis einer Gegen-Welt,
-für welche jeder Begriff von Gestalt, Form, Mannigfaltigkeit,
-Unterschied, Einzelheit, Größe oder Zahl seine Gültigkeit einbüßt.
-Diese Wirklichkeit des Abendländers ist mehr oder weniger eine
-Vervielfältigung seiner selbst, eine Vervielfältigung seines Selbstes.
-Jede Erscheinung seiner Umwelt dünkt ihn gleichsam ein Doppelgänger
-seines Ich, wie er denn unbefangen genug eben sein Ich der gesamten
-Wirklichkeit als ihr individuelles Modell philosophisch unterstellen zu
-dürfen wähnt. Das Ich setzt Sich und das Ich setzt das Nicht-Ich, sagt
-Fichte bekanntlich mit einer verräterischen Offenherzigkeit, und er
-hätte vielleicht gut getan hinzuzufügen: das Ich setzt das Nicht-Ich
-als das Spiegelbild und Ebenbild des Ich...
-
-Natürlich kann und darf man nun nicht behaupten, daß diese gestalthaft
-besonderte und ausgeformte Wirklichkeit für Gotamo und den
-gotamidischen Menschen nicht vorhanden wäre. Auch der östliche Mensch,
-das versteht sich, schafft sich seine Welt und seine Wirklichkeit ihm
-zum Bilde, wenn er auch in der Ausformung und Aufteilung dieser Welt,
-in ihrer Zerlegung und Zerfällung nicht annähernd so weit gegangen ist
-wie der wissenschaftlich verfahrende Europäer. Im Unterschied zu diesem
-betrachtet er jedoch diese instinktiv betriebene Vermenschlichung der
-Welt keinen Augenblick als Endgültigkeit, und zwar eben darum nicht,
-weil sie der Welt sein menschheitlich geprägtes Selbst zugrunde legt:
-denn just dieses menschheitlich geprägte Selbst betrachtet er keinen
-Augenblick lang als Endgültigkeit. Vielmehr wertet er es kühl und
-besonnen, wie etwa ein scharfer Denker eine wohlgelungene Gleichnisrede
-bewertet, von der er nur allzu gut weiß, daß sie das Unsägliche
-zwar immerhin in einer gewissen Sinnfälligkeit verdeutlicht, --
-verdeutlicht aber eben doch nur in der Weise einer Gleichnisrede. Allzu
-treuherzig, allzu leichtgläubig nimmt dagegen der Abendländer sein
-eigenes Selbst für bare Münze, mit welcher er alle großen und kleinen
-Forderungen der Welt begleichen zu können wähnt, indes der Buddho,
-längst nicht mehr treuherzig und noch weniger leichtgläubig, die mehr
-wie fragwürdige Beschaffenheit auch dieses Selbstes durchschaut hat:
-er ahnt ein rätselhaftes Sinnbild, wo sich der Abendländer kindisch
-an die sogenannte Wahrheit klammert. Die Annahme, diese durchgängig
-menschheitlich gebildete Wirklichkeit, welche den Kosmos als den
-Makranthropos, Megistanthropos, den Anthropos und Autos zuletzt aber
-als den Mikrokosmos begreiflich zu machen glaubt, sie könnte die
-Wirklichkeit schlechthin oder die einzig ‚wahre‘ Wirklichkeit sein, --
-diese Annahme hätte der Buddho schwerlich für glaubwürdiger erachtet,
-als wenn zum Beispiel aus der Schar der Wesenheiten ein Wurzelfüßer,
-eine Koralle, ein Ringelwurm, eine Schnecke, eine Wespe, ein Sperling
-vor ihn hingetreten wären mit der geflissentlichen Beteuerung: Diese
-meine Wurzelfüßerwelt, o Gotamo, ist die Wirklichkeit schlechthin,
-ist die einzige und wahre Wirklichkeit! Diese meine Korallenwelt,
-diese meine Ringelwurmwelt, diese meine Schneckenwelt, diese meine
-Wespenwelt, diese meine Sperlingwelt, o Gotamo, ist die Wirklichkeit
-schlechthin, ist die einzige und wahre Wirklichkeit! Wähne doch ja
-nicht, Herr, daß es da neben oder außer oder über oder unter oder
-zwischen dieser jeweiligen Welt noch eine andere Welt gäbe, etwa eine
-sogenannte Menschenwelt, oder gar, verzeih’ uns! eine gotamidische
-Welt, von der wir wahrlich weder etwas zu ertasten noch zu erriechen,
-zu erschmecken, zu erspähen vermögen!... Ich meine, das Lächeln ist
-zu erraten, mit welchem der Buddho diesen vielerlei Wesenheiten ihr
-ungebärdiges Drängeln, ihr unvernünftiges Schwören, ihr lästerliches
-Pressen beantwortet hätte. Ein begütigendes, ja ein überredendes
-Lächeln, welches am Ende die klügsten dieser unduldsamen Geschöpfe zu
-der neuen Einsicht geführt haben möchte, daß ihre jeweilige Welt, eben
-weil ihre, nur ihre Welt, nun und nimmer mit der Welt überhaupt dem
-Umfang und Inhalt nach sich decken könne. Und vielleicht, wer weiß,
-hätte sich der Buddho sogar noch zu der Erläuterung herbeigelassen:
-Ein jegliches von euch guten Wesen schuf sich seine Welt nach Maßgabe
-und Bedarf seiner eigenen Gestalt. Wie aber die Gestalt von euch
-Wurzelfüßern, Korallen, Ringelwürmern, Schnecken, Wespen, Sperlingen
-sowohl im einzelnen wie der ganzen Gattung nach vergänglich ist, so
-ist auch euere ganze Welt vergänglich. Unvergänglich, unsterblich,
-ewig aber ist allein, was nicht und nirgendwo Gestalt annahm nach
-euerer Gestalt, und darum nirgends auch Gestalt verlieren kann,
-ihr Wesen... „Weiter sodann, Ânando: nach völliger Überwindung der
-Formwahrnehmungen, Vernichtung der Gegenwahrnehmungen, Verwerfung der
-Vielheitwahrnehmungen gewinnt der Mönch in dem Gedanken ‚Nichts ist da‘
-das Reich des Nichtdaseins. Und was dabei noch fühlbar, wahrnehmbar,
-unterscheidbar, bewußtbar ist, solche Dinge sieht er als wandelbar,
-wehe, siech, bresthaft, schmerzhaft, übel, gebrechlich, ohnmächtig,
-hinfällig, eitel, als nichtig an. Und von solchen Dingen säubert er
-sein Herz. Und hat er sein Herz von solchen Dingen gesäubert, so lenkt
-er es zu ewiger Artung hin: ‚Das ist die Ruhe, das ist das Ziel:
-dieses Aufgehn aller Unterscheidung, die Abwehr aller Anhaftung, das
-Versiegen des Durstes, die Wendung, Auflösung, Erlöschung‘“...
-
-Es gibt also eine Welt diesseit und jenseit aller Unterscheidungen,
-diesseit und jenseit aller Besonderungen, diesseit und jenseit aller
-Gestaltungen, diesseit und jenseit aller Mannigfaltigkeiten. Es gibt
-eine Welt, von keinem Begriff zu umspannen und von keinem Wort zu
-treffen, und dennoch eine unumstößliche Gewißheit. So sicher wie es
-über der Wurzelfüßerwelt eine Korallenwelt gibt, über der Korallenwelt
-eine Ringelwürmerwelt, über der Ringelwürmerwelt eine Schneckenwelt,
-über der Schneckenwelt eine Wespenwelt, über der Wespenwelt eine
-Sperlingwelt, über der Sperlingwelt eine Menschenwelt, so sicher
-gibt es über der Menschenwelt eine solche, die überhaupt nicht mehr
-dieser oder jener Art von Lebewesen und ihren leiblich-geistigen
-Erkenntnismitteln entspricht: ein Welt-Sein nicht für diese oder jene
-Wesen, sondern ein Welt-Sein schlechtweg, ein Welt-Sein an und für
-sich, -- ein Welt-Sein mithin, wie es in ihren lichtesten Augenblicken
-sogar die europäische Philosophie geahnt hat. Von dieser Welt als ‚Ding
-an sich‘, die von keinem irgendwie beschaffenen Wissen erreicht wird
-und erreicht werden kann, weil es ein Wissen in unserm menschheitlichen
-Sinn nur dort gibt, wo unterschieden und besondert und gestaltet und
-vermannigfacht wird, -- von dieser Welt ist dennoch eine Kunde zu
-dem Buddho hingedrungen. Es ist eine Kunde zu ihm gedrungen in Form
-einer schwer erkämpften, schwerer noch bewahrten Seelenverfassung,
-die eben als solche nicht mehr dieser, sondern jener Wirklichkeit
-entspricht: „Das ist die Ruhe, das ist das Ziel; dieses Aufgehen
-aller Unterscheidung, die Abwehr aller Anhaftung, das Versiegen des
-Durstes, die Wendung, Auflösung, Erlöschung...“ Denn in der Tat gesetzt
-den Fall, diese Allerwelts-Wirklichkeit unserer menschheitlichen
-Sinneswahrnehmungen entstehe gerade dadurch, daß wir ihr unser
-vorgefundenes Selbst irgendwie als ihr Vorbild, Urbild, Musterbild
-zu beliebiger Vervielfältigung unterstellen, -- müßte es denn nicht
-in genialischer Umkehrung dieses Sachverhaltes grundsätzlich möglich
-sein, durch planmäßig betriebenen Abbau dieses Selbstes auch die ihm
-angepaßte, ihm entsprechende Wirklichkeit abzubauen? Dies muß möglich
-sein und dies ist möglich. Denn just dieser Abbau des Selbstes gelangt
-zum Vollzug, wenn der Buddho auch das Selbst der Grundformel seiner
-Heilslehre unterwirft: ‚_N’etam mama_, das gehört Mir nicht!‘ Auch Ich
-selbst gehöre Mir nicht, auch Ich selbst bin nur eine veränderliche
-Gestalt, ein gleitendes Werden unter veränderlichen Gestalten und unter
-gleitendem Werden. Auch Ich selbst habe weder Bestand noch Dauer; auch
-mein Selbst durchläuft nur die Grade der Wirklichkeit vom Nullwert bis
-zu einem bestimmten Höchstwert und von diesem Höchstwert wieder zum
-Nullwert...
-
-Dennoch ist es aber eben dieses Selbst, ich sagte es schon mehrmals,
-welches sich gleichsam quer wie eine starke Schwelle vor die Welt des
-Abendländers legt und nichts in das Erlebnis dringen läßt, was nicht
-irgendwie diesem Selbst gleich oder ähnlich ist: das _individuum_,
-von sich und seiner Erstgültigkeit, Letztgültigkeit ein für allemal
-durchdrungen, stimmt seinen gesamten aufnehmenden und empfangenden
-Apparat wiederum nur auf das _individuum_ ab und baut sich auf diese
-Weise seinen Kosmos, der zuletzt nichts anders ist als das, was nach
-dem Dafürhalten Platons das vollkommene Staatswesen sein sollte und
-sein wollte, -- nämlich der Mensch im Großen und Größesten, der
-Makranthropos, der Megistanthropos!... Nun wohl! Setzen wir jetzt
-einmal, dem Vorgang des Buddho folgend, den Wert dieser Schwelle
-gleichsam zum Versuch soweit herab, daß er sich der Null annähert:
-sind wir alsdann in diesem Fall unserer ganzen Voraussetzung gemäß
-nicht zu der Erwartung berechtigt, wenn nicht sogar verpflichtet,
-daß diesem veränderten Schwellenwert ein verändertes Erleben von
-Wirklichkeit und Welt wechselbezüglich entsprechen wird? Dürfen
-wir jetzt nicht mit Recht und Fug erwarten, daß über diese nunmehr
-beinah’ eingeebnete Schwelle ausgeformter Eigenheit, Einzelnheit
-und Besonderheit das Erlebnis einer zwar unausgeformten und darum
-auch unausdenklichen und unaussprechlichen, dennoch aber bestehenden
-Weltwirklichkeit auf wunderbare Art vorgelassen, zugelassen wird?
-Dies nun freilich keineswegs so, als ob diese Gegenwelt zu unserer
-Welt, unseren Erkenntnismitteln als solchen unzugänglich, trotzdem
-nachträglicherweis und hinten herum von unserem Verstand noch etwa
-auf frischer Tat zu ertappen wäre: als ob man doch irgendwie durch
-allerlei Künste der Verdrehung diese verborgene Welt auf Einen Nenner
-mit unserer offenbaren Welt zu bringen vermöchte. Davon ist keine
-Rede. In keinem Augenblick verfällt der Buddho auf den plumpen Irrtum
-der europäischen, insonderheit aber deutschen Philosophie nach Kant,
-die sich in totgeborenen Versuchen erschöpft, das verbotene Ding an
-sich einer Welt diesseit und jenseit aller Unterscheidungen doch noch
-heimlich auszukunden. Mit solchen Bemühungen einer sich in lächerlichen
-Graden selbst mißverstehenden Wissenschaftlichkeit hat der Buddho im
-mindesten nichts zu schaffen. Die vollkommen unverbrüchliche, niemals
-zu entsiegelnde Unerkennbarkeit dieser uns nun einmal abgekehrten
-Seite der Welt gilt gleichmäßig für die wissenschaftliche Neugier der
-Philosophen und Kosmologen wie für die nicht mehr wissenschaftliche,
-aber desto unbezähmtere Neugier der Theosophen und Okkultisten, und
-sie wird mit solcher Strenge geachtet, daß man umsonst im ganzen
-Pâli-Kanon nach einem Ausdruck fahnden würde, der diese Gegenwelt
-diesseit und jenseit aller Unterscheidungen auch nur durch Verneinungen
-zu bezeichnen bestimmt wäre. Denn was das gotamidische _nibbânam_
-oder _nirvânam_ betrifft, mit welchem wir neuzeitlichen Europäer
-denselben taktlosen Unfug, um nicht zu sagen dieselbe schamlose
-Unzucht getrieben haben wie mit dem Tao des großen Lao-Tse, dieses
-_nibbânam_ oder _nirvânam_ heißt ja doch, entsinnen wir uns, nichts
-anderes als Wunschversiegung, Wunscherlöschung, Wunschverwindung.
-Alles, was wir demnach von dieser Gegenwelt wissen können, beschränkt
-sich auf einen selbsttätig erzeugten Zustand und Urstand des Gemütes
-und schließt jedes Urteil, jedes Bild, jede Vorstellung von der
-Wirklichkeit aus, die diesem Zustand oder Urstand entsprechen mag.
-Was von jener entformten und entstalteten Welt diesseit und jenseit
-aller Unterscheidungen etwa als Ahnung in die Seele des entselbsteten
-Menschen dringt, das wäre höchstens jenem zarten, falben, feierlichen
-Abglanz zu vergleichen, der auch in mondlosen Nächten als schwer
-bestimmbarer Lichtschein von unbekannten Lichtursprüngen, unbenannten
-Lichtquellen her durch unser irdisches Geräume träuft und flutet...
-
-Dieser gotamidisch entselbstete, gotamidisch enteignete Mensch,
-soviel mag uns am Ende sacht umschreibend zu sagen vergönnt sein,
-weilt fortab in einer entselbsteten und enteigneten Wirklichkeit,
-wo mindestens er selbst keinen Anspruch mehr erhebt auf den Besitz
-eines lebendigen Wesens oder eines toten Dinges: wo mindestens
-er selbst nie mehr die Hand legt auf irgend jemanden oder irgend
-etwas, um es zu seinem Eigentum zu machen. Mit seiner unvergeßlich
-einprägsamen Formel ‚_N’etam mama_, das gehört Mir nicht, Ich
-selber gehöre Mir nicht, das All und Alles gehört Mir nicht‘, --
-mit dieser ewigen Formel eines allgemeinen Freispruchs, Losspruchs,
-Ledigspruchs streicht der Buddho aus dem Schatz unserer Sprache
-jedes besitzanzeigende Für-Wort und Wort: streicht er über das Wort
-hinaus jede Tat der Aneignung und Besitzergreifung aus der Vollzahl
-aller Taten. Mit diesem Handgriff, diesem Geistgriff von beispielloser
-Entschiedenheit versetzt sich der Buddho mitten hinein in eine vorher
-nie auch nur geträumte Wirklichkeit, wo jeder Titel des Besitzes
-selbst im geläutertsten Sprachverstand erloschen und jede Gebärde der
-Besitzergreifung verboten ist: „Das ist die Ruhe, das ist das Ziel! Das
-ist die Wendung, Auflösung, Erlöschung.“ An diese ganze hochgebäumte
-Menschenwelt und Menschenumwelt legt der Buddho seine Axt, indem er
-einen unübertrefflich genauen und nervigen Hieb durch die Wurzel führt,
-aus welcher die erstickende Wucherung aller irdischen Individuation
-und Spezifikation als Geiltrieb in das Kraut schießt. Denn Wille zur
-Besitzergreifung und Aneignung, Wille zum Nießbrauch und folglich auch
-zum Mißbrauch fremden Seins und fremden Wesens heißt die Wurzel dieser
-Menschenwelt: die Axt aber, die sie mitten auseinanderschneidet, ist
-die erlangte Einsicht, daß jegliches Verhältnis und Verhalten, durch
-welches ein Wirkliches Hand auf ein Wirkliches legt, zuletzt auf eine
-Täuschung, auf einen Irrtum hinauslaufen müsse. Ich selber gehöre ja
-Mir nicht, -- wie sollte oder könnte da Mir anderes gehören? Ich selber
-gehöre Mir nicht, oder in der Sprache unseres westlichen Evangeliums,
-welches hier in gewissem Sinn seinen eigenen Voraussetzungen
-vorübergehend untreu zu werden scheint: Unser keiner lebt ihm selber!
-Mir selber gehöre Ich nicht, oder abermals in der Sprache dieses
-Evangeliums: Unser keiner stirbt ihm selber! Wahrhaftig, wer diesen
-Sachverhalt mit dem Geist erfaßt und mit der Seele angenommen hat, er
-heiße Jesus oder Gotamo, der Gesalbte oder der Erwachte: wie sollte der
-noch nach Besitz von Wirklichkeit gieren?
-
-Von Haus aus gipfelt freilich alles Menschendichten und -trachten
-wesentlich darin, diese nun einmal angetretene Welt tunlichst mit
-Wirklichkeiten vollzustopfen, etwa wie ein wohlhabender Mann seine
-Wohnung tunlichst mit Geräten vollstopft, und diese planmäßige
-Vermehrung von Wirklichkeiten pflegt im weitesten Ausmaß als Vermehrung
-des Besitzes empfunden zu werden. In einem höchst eindeutigen, ja
-einsilbigen Wortverstand ist für uns alle das Gesetz der größten
-Zahl bestimmend: je mehr Wirklichkeit, desto besser für uns, die wir
-wirklich sind! Wie der Bauer einen unersättlichen Hunger nach Land
-verspürt, so hungert uns alle ganz unersättlich nach Wirklichkeiten
-gleichviel welcher Art, und es verdient bemerkt zu werden, daß
-wir diesen Hunger als die _sacra auri fames_ schon frühzeitig
-heilig gesprochen haben. Vermehrte Nachkommenschaft, vermehrte
-Bevölkerungdichte, vermehrte Arbeitleistung, vermehrte Gütererzeugnis,
-vermehrte Betriebsmittel, vermehrter Umsatz, vermehrter Verkehr,
-vermehrter Wissensstoff, vermehrte Weltgeltung, vermehrte Bedürfnisse,
-vermehrte Beeindruckbarkeit, vermehrte Reizquellen, vermehrte
-Lustgefühle, -- all das bedeutet grundsätzlich eine unendliche
-Steigerung dessen, was der Einzelne möglicherweis sich aneignen kann.
-Je zahlreicher die Wirklichkeiten, desto häufiger und mannigfaltiger
-die Gelegenheit, von ihnen her Wirkungen zu empfangen, auf sie
-Wirkungen zu übertragen und schließlich in beiderlei Geschehen die
-eigene Wirklichkeit zu bereichern. Jede neue Wirklichkeit, sei sie nun
-ein Gefühlsreiz, eine Erfindung, ein Kunstwerk, eine Gründung, eine
-Heilquelle, ein Weltbegriff, kann von jedem Mitglied der menschlichen
-Gesellschaft besessen und eben dadurch dem Zweck von dessen
-Selbstverwirklichung dienstbar gemacht werden: wird doch sogar das
-geliebte Weib vom Mann geliebt, damit er ‚von ihr Besitz ergreife‘, --
-will doch sogar die Liebe selbst (nach einer großen Aufrichtigkeit der
-Sprache) besitzen, was sie liebt, und im Besitz der Liebe Wirklichkeit
-genießen... Womöglich einmal aber in den Besitz aller Wirklichkeiten
-überhaupt zu gelangen und ihr Inhaber, ihr Herr, ihr Gott zu sein,
-womöglich einmal alle Wirklichkeit wie ein Weib zu umfangen, -- das ist
-der brünstige Traum, der vielleicht jeden einmal in einer schwachen
-oder starken Stunde anfällt. Denn wer mehr besitzt, der ist mehr; wer
-mehr ist, der ist auch mehr wert, -- diese ebenso naive wie zynische
-Schätzung, welche ganz unbedenklich Rang und Wert der Wesen nach ihrer
-Fähigkeit zur Aneignung und Besitzergreifung bemißt, entbehrt trotz
-aller Einwände, die wider sie erhoben werden können und müssen, dennoch
-von dieser gewohnheitmäßigen Einstellung her auf die Wirklichkeit nicht
-einer höheren Berechtigung. An Wirklichkeiten und durch Wirklichkeiten
-sich staffelweis selbst empor zu erwirklichen: das ist bewußt oder
-unbewußt das Ziel unbefangener Menschlichkeit. Das ist insonderheit
-das Ziel, dem unser heutiges Europäertum mitsamt seinen kolonialen
-Abkömmlingen mit Ausschließlichkeit zustrebt...
-
-Diesem Ziel aller Ziele nun stellt der Buddho Gotamo gleichsam seine
-reine Umkehrung entgegen, -- und dies ist wohl die weltgeschichtlich
-entscheidendste Leistung dieses stärksten Exponenten des indischen
-Kontinents! Was nach der Lehre Gotamos nottut, ist eben nicht diese
-Erwirklichung des eigenen Selbstes an den Wirklichkeiten der Welt
-neben und außer ihm. Was hier nottut, ist vielmehr ganz im Gegenteil
-die Entwirklichung aller Wirklichkeiten auf Grund einer zuerst zu
-vollziehenden Selbstentwirklichung. Und zwar hat diese notwendige
-Entwirklichung ganz schlicht zu geschehen durch die Besinnung auf
-eben jenen Sachverhalt, welchen der Buddho in die Mitte seiner
-Lehre rückt: Besitz von Dingen, Besitz von Wesenheiten, Besitz von
-Wirklichkeiten ist unmöglich, -- wo er aber möglich scheint, äfft uns
-ein ungeheuerer Irrtum. Noch eh’ wir uns dazu überredet haben, dies
-oder jenes zu besitzen, ward es uns auch schon aus der vollen Hand
-gerissen, und unverlierbar ist allein die Gewißheit, daß dem so ist,
-und also auch die Folge, die wir dieser Gewißheit geben. Diese Welt,
-von welcher der Europäer überzeugt ist, daß er sie beherrsche, und
-nicht allein beherrsche, sondern ganz und gar besitze, diese Welt ist
-in Wahrheit Niemandens Welt, am wenigsten aber die Welt des Menschen.
-Eine Niemands-Welt, eine Niemands-Wirklichkeit ist es, die wir arme
-Narren in verzeihlich-unverzeihlicher Selbsttäuschung die unsrige zu
-nennen pflegen, und erst jenes gotamidische ‚_N’etam mama_‘ ist es,
-welches wie ein Donnerkeil die Nebel dieser Selbsttäuschung zerstreut
-und zerteilt. Als Niemandens-Welt, die Mir nicht gehört und nicht
-gehören kann, als Niemandens-Wirklichkeit, die Mir nicht gehört und
-nicht gehören kann, entweltet der Buddho diese Welt und entwirklicht
-er diese Wirklichkeit. Denn was wir Welt heißen und was Wirklichkeit,
-ist eben nur die Gesamtheit alles dessen, von dem wir wähnen, daß es
-als möglicher Besitz von uns besessen, als möglicher Besitz von uns
-angeeignet, als möglicher Besitz von uns verbraucht werden könne, --
-das Verbum ‚besitzen‘ heißt bekanntlich im älterem Deutsch ‚vermögen‘.
-Wer uns diese Möglichkeit nimmt, der nimmt gewissermaßen auch den
-Dingen und Erscheinungen um uns her ihre Wirklichkeit, wofern diese
-Wirklichkeit eben nur der Ausdruck ist für die besitzergreifende
-Beziehung von uns zu allen Dingen und Erscheinungen. Und das ist wohl
-der letzte, das der tiefste Sinn dieser vielleicht hier allzuoft
-benutzten, hoffentlich aber darum doch noch nicht abgenutzten Formel
-‚_N’etam mama_, das gehört Mir nicht‘, -- wofern durch sie der
-Buddho vollkommen deutlich macht, daß es ein Verhältnis des Besitzes
-zwischen Mensch und Welt nicht gibt, leitet er damit gleichzeitig eine
-Entwirklichung größten Stiles dieser nie und nimmer zu besitzenden
-Welt ein! Denn was auch immer wir als Wirklichkeit erleben und
-als Wirklichkeit setzen, das erleben oder setzen wir im Interesse
-etwaniger Besitzergreifung als wirklich: indes uns alles zu fernster
-Unwirklichkeit verdämmert und verdampft, was ein Interesse künftiger
-Besitzergreifung grundsätzlich nicht zuläßt. Die scheinbar so
-unerschüttert wirkliche, unverwüstlich wirkliche Welt entwirklicht
-sich demnach in dem Augenblick, wo sie in des Wortes höchster und
-tiefster Bedeutung enteignet wird. Diesen paradoxen Zusammenhang von
-Wirklichkeit und möglicher Besitzergreifung, möglicher Aneignung dürfte
-von sämtlichen Menschen der Buddho zuerst durchschaut und zuerst --
-zerschnitten haben. Wer an die Welt der Dinge, bedeutet der Buddho uns,
-nicht mehr mit irgendeinem offenkundigen oder versteckten Anspruch des
-Besitzes herantritt, der erlebt sie auf eine andere Weise wie vorher.
-Was ihm vorher Wirklichkeit zu sein deuchte, das erscheint ihm jetzt
-gleichsam als Bild, und was er vorher rund als Körper sah, enttieft
-sich ihm nunmehr gleichsam zur Fläche. In unbeabsichtigter, aber
-darum nicht weniger eindrucksvoller Symbolik hat die buddhistische
-Plastik diesen Tatbestand auf ihre Art dargestellt, wenn sie den
-vielgestaltigen Schildereien des Menschenlebens, mit welchen sie
-verschwenderisch die Tempelwände des Boro-Budur schmückt, dennoch in
-keinem Fall die Tiefe der vollen Körperhaftigkeit zugesteht, sondern
-ihnen die aufgehöhte Fläche des Reliefs alleinig vorbehält: wogegen
-rund, körperlich, allseitig im Raum nur der Buddho selber thront,
--- freilich abseit vom eigentlichen Leben und seiner hinreißenden
-Bilderflucht, vollkommen aus- und abgeschieden in der Einsamkeit
-seiner ihm geweihten Nischen: „Das ist die Ruhe, das ist das Ziel“...
-
-Eine Entwirklichung der Wirklichkeit als Ziel der Ziele anstatt der
-sonst betriebenen Erwirklichung an Wirklichkeiten, -- hier wird der
-Europäer stutzig. Denn sei dieses asketische Ziel seinen lebendigsten
-Instinkten auch noch so widersprechend, ja widerwärtig, -- irgendwann
-hat doch auch er sich schon einmal mit diesem Ziel befaßt: irgendwann
-ist er auf diesem Weg dem Buddho schon einmal ein Stück weit entgegen
-gegangen. Entwirklichung der Wirklichkeit: weist nicht auch dieser
-fremdeste aller Gedanken zuletzt wie alles maßgeblich Europäische auf
-den Namen Kant zurück? Gibt es nicht auch nach der unzweideutigen
-Erklärung Kants ein menschheitliches Verhältnis zur Umwelt, dessen Sinn
-und Wert sich darin ausspricht, daß der Mensch Dinge und Wesenheiten
-auffaßt, als seien sie gar keine Wirklichkeiten als solche, sondern
-ein entwirklichter Schein? Fordert nicht Kant, dieser genugsam
-nüchterne und jeder Ausschweifung abholde _magister mundi europaei_ bei
-besonderer Gelegenheit geradezu die Preisgabe jedes menschheitlichen
-Interesses an dem, was eine Sache zur Wirklichkeit macht, zugunsten
-dessen, was eine Sache zum bloßen Schein herunterdrückt? Fußt nicht
-auf diesem ganz bewußten Verzicht auf das, was wirklich in allen
-Wirklichkeiten ist, nach dem Dafürhalten Kants die ungemeine Tatsache
-der sogenannten Schönheit, der sogenannten Kunst? Adelt nicht
-gerade das die Welt zur schönen Welt, daß der Mensch ihre einzelnen
-Gegebenheiten und Erscheinungen von ihren wirklichen Zwecken ablöst
-und sich selber jede Bezugnahme auf eine mögliche Besitzergreifung,
-mögliche Aneignung, mögliche Nutzbarmachung freiwillig zwar, aber
-mit desto größerer Entschiedenheit verbietet? Hat nicht mithin Kant
-auf seine Weise, auf europäische Weise, das ungeheuere Gesetz dieser
-gotamidischen Entwirklichung der Wirklichkeit anerkannt und mehr
-wie nur anerkannt, wenn er zwar nicht die europäische Religion,
-immerhin aber die europäische Kunst grundsätzlich auf den Tatbestand
-zurückzuführen lehrt, daß die Welt als Wirklichkeit erlebt niemals
-eigentlich schön sei, die Welt als Schönheit erlebt aber niemals
-eigentlich wirklich? Leuchtet dem europäischen Denker, wenn er
-also von jener Entwirklichung der Wirklichkeit durch den indischen
-Buddho Gotamo hört, nicht als das einzig gültige Gleichnis dieses
-Vorgangs eine freilich in anderer Absicht vollzogene, aber trotzdem
-doch vollzogene Entwirklichung auf, eine ästhetische Entwirklichung,
-mit welcher er sich in seiner eigenen Vergangenheit höchst sinnvoll
-beschäftigt findet? Und kann bei dieser seltsamen Entdeckung der
-europäische Denker umhin, sich volle Rechenschaft darüber abzulegen,
-daß diese Entwirklichung der Wirklichkeit, obzwar zugestandenermaßen
-viel weniger religiös als ästhetisch gemeint, des unerachtet einer
-Tathandlung zu verdanken ist, die man mit nicht geringerem Recht
-eine Ablösung, eine Entsagung, eine ‚Askesis‘ zu nennen befugt ist
-wie die entsprechende Tathandlung des Buddho? Wo wir uns jeglichen
-Interesses entschlagen an dem, was die Wirklichkeiten der Welt zur
-Wirklichkeit stempelt, sagt Kant, da schaffen wir die Möglichkeit
-einer schönen Welt, die uns interesseloses Wohlgefallen einflößt.
-Kaum aber ist dies in seinen Weiterungen so uneuropäische Bekenntnis
-den Lippen Kants entschlüpft, dieses Bekenntnis zur Schönheit als
-einem richtigen ‚asketischen Ideale‘ im Sinne Nietzsches, ja wenn man
-recht verstehen will sogar als einem Asketen-Ideal entwirklichter,
-das heißt entgifteter und entstachelter Wirklichkeit, -- kaum,
-sag’ ich, hat sich der repräsentative europäische Denker dieses
-Bekenntnis fast etwas widerwillig selber abgerungen, als schon
-der europäische Künstler, wir wissen es, die schwer zu ermessende
-Bedeutungsfülle dieses Bekenntnisses dahin erwägt und überschlägt,
-daß es seinerseit die Welt als Spiel zu nehmen und als Spiel zu
-genießen zuläßt. Kants Entwirklichung der Wirklichkeit im Vorgang
-der ästhetischen Einstellung zur Welt erlaubt in Wahrheit nämlich
-zweierlei: entweder dem Gang der Welt unbeteiligt, unverstört und
-ungekränkt als Zuschauer zu folgen, -- und das ist ungefähr die
-Folgerung Schopenhauers aus Kant gewesen. Oder aber als Mitspieler
-spielend in das ergötzliche Spiel selber einzugreifen, -- und das
-war die fruchtbarere Folgerung Schillers. Im einen wie im anderen
-Fall indes bedeutet dieses Verhalten _in aestheticis_ eine derart
-unverbrauchte und zukunftversprechende Möglichkeit, sich auch auf
-europäische Weise menschlich mit der Wirklichkeit abzufinden, daß der
-kantische Gedanke wie ein Frühlingsüdwind die Seele Europas sogar dort,
-wo sie bisher am härtesten zugefroren war, auftauen macht und einen
-schier schon verwinterten Samen unbegreiflich schnell ins Schwellen
-bringt. Als Spiel betrachtet oder gar als Spiel gespielt ist diese
-alte Welt sozusagen über Nacht jung und hell und schön geworden; als
-Spiel gewertet und erlebt wird sie überhaupt erst erträglich und
-aushaltbar: Spiel freilich jetzt am besten und glücklichsten in jener
-überaus sinnvollen Bedeutung genommen, welche Karl Bücher diesem
-Begriff gegeben hat, wenn er von einem gewissen Zustand sagt, daß „es
-nur eine Art der menschlichen Tätigkeit gibt, welche Arbeit, Spiel
-und Kunst in sich verschmilzt. In dieser ursprünglichen Einheit der
-geistig-körperlichen Betätigung des Menschen erkennen wir bereits
-die spätere wirtschaftlich-technische Arbeit, die Hauptformen des
-Spiels und aller Künste“... Interesseloses Wohlgefallen aber an einer
-Wirklichkeit, die eben durch den Verzicht auf jegliches ‚Interesse‘
-sich entwirklicht zeigt, das ist mit andern (und vielleicht auch
-etwas stärkeren) Worten lustvolles Genießen dieser entwirklichten
-Wirklichkeit: lustvolles Genießen mithin gerade dort, wo bisher der
-Mensch und insonderheit der christeuropäische Mensch so überwiegend
-von den Gefühlen dunkler Furcht und dumpfen Argwohns bedrängt war, daß
-er sich vor dieser seiner Wirklichkeit immer wieder zu den Göttern
-rettete. Als Kunstwerk oder Spielwerk aber scheint nun die Wirklichkeit
-mit einemmal entleidet, auch wenn sie voller Leids ist. Mag dieses
-Spiel nur niedere Komödie sein, wo sich die zerstörenden Gegenkräfte
-der Welt noch kurz, bevor der Vorhang fällt, in fröhlichem Gelächter
-innig gepaart zueinander finden, -- oder mag es im Gegenteil Tragödie
-höchsten Stiles sein, wo Götter und Helden, feierlich den Opferreigen
-tanzend, am Ende der Nacht wie Sternbilder des Himmels still
-verbleichen und edel untergehen: dies Spiel verlockt doch immerzu,
-umbuhlt doch immerzu, bestrickt doch immerzu mit jener feurig kecken
-Überredsamkeit des Don Giovanni, welcher nicht einmal der steinerne
-Komtur als leibhaftiges Symbol des Todes hat widerstehen können:
-„Willst du mein Gast sein? -- Ja!“...
-
-Ist aber die Wirklichkeit, von Kant zuerst bei uns zum schönen Schein,
-von Schiller dagegen zum schönen Spiel entwirklicht, nichts anderes
-als ein Gebild der Kunst, dann offenbar bedarf sie zu ihrer steten
-Neu-Hervorbringung des Künstlers. Als Kunstwerk, Spielwerk ist diese
-Welt das Werk des Künstlers: der Künstler aber eben der, der alle seine
-menschheitlichen Spannungen im Werk zur Lösung bringt. In diesem Sinn
-also Wirklichkeit und Welt als Werk des Künstlers aufzufassen, den
-Menschen aber eben als den Künstler dieses Werks, darin besteht der
-wesentlich europäische Vollzug einer Entwirklichung des Wirklichen.
-Wie wir übrigens jetzt doch sehr bestimmt wahrnehmen, von jenem
-gotamidisch-indischen Vollzug bei aller inneren Übereinstimmung
-des Zieles in den Mitteln tief verschieden. Denn diese europäisch
-entwirklichte Wirklichkeit, sie bleibt ja wohlgemerkt kraft ihrer
-Eigenschaft als Kunstwerk mit all den heißen Leidenschaften und
-Begierden, Sehnsüchten und Wünschen des Künstlers bis zum Rand geladen.
-Sie ist nicht trotzdem, sondern weil sie dem Künstler-Menschen nur
-noch Spiel ist, nicht matter, abgekühlter, lebensferner wie vorher,
-vielmehr im Gegenteil farbiger, glühender, atembeklemmender wie je.
-Der Künstler, das sehen wir jetzt deutlich, entwirklicht die Welt
-auf andere Art wie das Religiöse, und dementsprechend entwirklicht
-der Europäer die Welt auch auf andere Art wie der Inder. Selbst wo
-der Künstler sich seiner Absicht nach also in seinem Werk von seiner
-Welt erlöst und damit augenscheinlich eine religiöse Leistung zum
-Vollzug bringt, -- und welcher Künstler wäre erfahrener in diesen
-Selbst- und Welterlösungen gewesen wie Goethe? -- selbst dort erlöst
-er dessen unerachtet nur als Künstler und nicht als Religiöser. Er
-bringt den Lebensstrom nicht wie der Büßer in sich zum Stocken,
-sondern er schaltet ihn nur gleichsam wie einen Kraftstrom in einen
-anderen Kreislauf ein. Imgleichen bringt er den Lebensdrang in sich
-nicht zur Unterbindung, sondern verpflanzt ihn gleichsam nur in eine
-andere Welt-Seins-Lage, Welt-Scheins-Lage. Ist doch der Künstler
-schlechterdings der Schaffende und folglich sein Erlösen zuletzt nichts
-anderes als ein Schaffen: wogegen sich der Büßer in einer Gegenwelt
-aufhält, für welche der Begriff des Schaffens seinen deutbaren Sinn
-nicht minder wie der Begriff der Gestalt verlor. Ein Schaffen bleibt
-sonach das entwirklichende Spiel des Künstlers im Gegensatz zu den
-Erlösungen des Büßers, und derart gipfelt mit unentwegter Folgestrenge,
-Folgetreue dieser europäische Vollzug der Welt-Entwirklichung _more
-aesthetico_ im Schaffen. Als Schaffender lernt es der _homo europaeus_
-in dieser Welt endlich aushalten; als Schaffender weiß er sie endlich
-zu genießen; als Schaffender erlöst er sich endlich von ihrer
-Wirklichkeit zu ihrer Bildlichkeit und Sinnbildlichkeit. Nicht zufällig
-aber, wahrhaftig nicht! ihr Christen, heißt der europäische Oberbegriff
-alles europäischen Philosophierens schon beim alten, niemals alternden
-Platon -- ποίησις, das ist Erschaffung, das ist Schöpfung. „Denn
-die Ursache von jedwedem“, so lesen wir im Gastmahl, „was aus dem
-Nicht-Sein ins Sein übergeht, ist insgesamt ποίησις“. Als Schaffender
-wagt der Europäer, sonst vielleicht eine schlechte und mißratene
-_species_ Mensch, sein heiliges Ja zur Welt zu sprechen, da auch er
-als Nicht-Schaffender nur das Nein aufgebracht hatte. Als Schaffender
-verlernt er Leidender zu sein und an der Wirklichkeit, am Leiden selbst
-länger noch zu leiden. Als Schaffender verlernt er im Gesetz des
-Schaffens den Zufall des Leidens, dem er als Nicht-Schaffender wehrlos
-ausgesetzt bleibt. Unendlich beziehungreich hat darum der letzte
-Europäer, Nietzsche, dieses Erschaffen und Umschaffen der Welt zum
-Kunstwerk, Spielwerk, Künstlerwerk auf den Namen des Künstler-Gottes
-Dionysos getauft: seit Messer Ariosto bis zu Byron und Shelley, seit
-Cervantes bis zu Hoffmann und Keller, seit Shakespeare bis zu Büchner
-und Grabbe, seit Pier della Franceska bis zu Delacroix und Marées,
-seit Meister Rabelais bis zu Balzac und Rolland, seit Orlando di
-Lasso bis zu Mozart und Schubert befindet sich Europa auf seiner Höhe
-nur dann, wenn es die goldene Flöte des Dionysos bläst. Im Zeichen
-des dionysischen Schaffens vollendet sich Europa, -- der Rest, an
-Umfang ungeheuer, an Wert gering, gehört Fabrikarbeit und Werkeltag,
-Berufsfron und Geschäft, Gelehrsamkeit und Schulfuchserei, Dienst
-und Drill. Die Welt aber ein dionysisches Begebnis: so heißt bisher
-Europas beste Stunde, so heißt bisher Europas ewigste Vollendung,
-die ihm niemand, nicht einmal der Europäer, streitig machen soll;
--- zugleich das einzige Ergebnis, welches der Mühe lohnt, daß diese
-kleine Teil-Welt, kaum mit Fug ein Welt-Teil zu nennen, nicht auch
-geschichtlich nur Asiens Halbinsel und Anhängsel geblieben ist. Als
-dionysisch Schaffender indes, angesichts seiner zu einem Kunst-Werk,
-Spiel-Werk schöpferisch erlösten Europa-Welt erklimmt der Europäer den
-Gipfel seines Kontinents, der da die Wasser zwischen Europa und Asien
-scheidet und gleichsam der ‚Ewige Ort‘ ist für alle guten und hohen
-Geister seit den Tagen des Herakleitos und Pythagoras, des Empedokles
-und Platon bis hinauf zu der Gegenwart Kants und Jean Pauls, Goethes
-und Nietzsches. Nur noch ein einziger kurzer Schritt, und dieser
-dionysische Europäer, Künstler und nicht Büßer zwar, aber dennoch ein
-Entwirklicher der Wirklichkeit und ein Erlöser von der Wirklichkeit, --
-nur ein Schritt noch, und er bekommt seine große Aufgabe zu Gesicht und
-mit ihr den großen Orient. Nur ein einziger kurzer Schritt noch, und
-der dionysische Europäer erschaut das Wunder aller Wunder, wie nämlich
-Europas Gott Dionysos dem indischen Buddho auf der Ost-Westbrücke
-begegnet und magisch mitten durch ihn hindurch schreitet. Nur ein
-einziger kurzer Schritt noch, und die Zeit ist erfüllt, da ein neuer
-Held Alexandros Europa und Asien aus Einem Mischkrug trinken wird...
-
-Eine Begegnung, sag’ ich, werde sich ereignen zwischen dem Gott, der
-bisher trotz des biblischen _deus absconditus_ der vornehmste und
-edelste, sicherlich aber der unsterblichste Gott Europas gewesen ist,
-und zwischen dem indischen Buddho Gotamo. Denn es kommt ja der Gott
-Dionysos von dieser Welt geradewegs her, die er als Schaffender in
-ein säliges Spiel zu wandeln lehrt: und es kehrt ja der Buddho als
-‚Strahlender Mönch‘ zu dieser Welt geradeswegs zurück, nachdem er
-sich durch keine niederzerrende Fessel mehr an sie gefesselt weiß.
-Wie könnten mithin da die beiden sich verfehlen? In Wahrheit kehrt
-der Buddho aus jener unsäglichen Gegenwelt _nibbânam_ zu dieser
-Welt zurück und auf seinem Antlitz blüht etwa jetzt der warme Klang
-von Zärtlichkeit, wie er stets solchen eignet, die sich rein auf
-sich selber abzustimmen vermochten und nun aller Wesen Wider-Klang
-glockenhaft empfangen. Auf ähnliche Weise kehrt der Buddho jetzt
-zurück, nicht unähnlich vielleicht jenem allerglücklichsten Könige aus
-Sakontalâ, der als Gast in Indras Himmel eingeladen war und nun auf
-Indras Wolkenwagen mit Indras Wagenlenker sanft zur Erde, sanft zur
-Heimat gleitet: „Die Schnellfahrt abwärts verleiht der Menschenwelt ein
-wunderseltsam Aussehn!... Ja, -- diese Erde ist berückend schön“... Auf
-so beschaffener Rück- und Niederfahrt zur Welt also mag es geschehen
-sein, daß Indiens Buddho den orphischen Gott in Sicht bekam, von dem ja
-seinerseit die Sage vielsagend zu berichten weiß, daß er nach Indien
-gewallfahrtet sei. Wann dann der Buddho aber ihn, den ‚guten Europäer‘
-in Person, etwa die Worte sprechen hörte: „Wohlan ihr Freunde! Schaffen
-wir Schaffenden diese Wirklichkeit zu einem Kunstwerk, Spielwerk um,
-auf daß wir nicht an ihr zuschanden werden müssen“... wann ihn der
-Buddho dieser Art sich äußern hörte, -- dann dürften ihn mancherlei
-gute Gründe und Untergründe zu folgender Erwiderung bewegen: „Die
-Wirklichkeit zum Spiel entwirklichen, o Trefflicher, ist gut! Vergiß
-indes das eine nicht über deinem Spiel, daß es auch einen Einsatz
-hat! Vergiß den Einsatz nicht, Dionysos! Sei es uns Menschen immerhin
-verstattet, daß wir, was um uns her geschieht, unwirklicher und darum
-auch unwichtiger nehmen lernen wie vorher. Sei es immerhin verstattet,
-das jeglicher von uns die süßeste Miene auch noch zum bittersten
-Spiel machen lerne, dieweil es eben ein Spiel und Spiegel, Bild und
-Sinnbild ist. Der Einsatz aber unsres Spiels, Dionysos, muß bei
-weitem für ernster gelten als alles, was insonderheit ihr spaßhaften
-Europäer bis heute ernst zu nehmen pflegtet. Auf diesem Schauplatz
-Welt, auf diesem Spielplatz Welt, da geht es um Entscheidungen,
-Teuerster, deren Tragweite bis an die Grenzen dieser Welt reicht, --
-und falls diese Welt, wie ihr behauptet, keine Grenzen hätte, bis an
-die Grenzenlosigkeit der Welt. Ihr Europäer meint, wo um des Einzelnen
-Tod oder Leben gewürfelt werde, da handle sich’s um keine Kleinigkeit.
-Ich aber habe jederzeit verkündigt, daß jeder Einzelne in jedem
-Augenblick nicht allein um sein eigen Leben und um seinen eigenen Tod
-würfle, sondern um hundert hunderttausend Leben, die er leben muß und
-leben wird, und um hundert hunderttausend Tode, die er sterben muß
-und sterben wird. Ihr Abendländer gebt ja vor zu wissen, daß alles,
-was hier je geschieht, seine Folgen habe, wie es auch umgekehrt die
-Folge ist von allem, was je geschah, und euern Genius Jean Paul hörte
-ich mit hohem Staunen schon fast Mein Wort wörtlich sprechen: „daß
-jede Tat (noch) viel gewisser eine ewige Mutter wird, als eine ewige
-Tochter ist“... Trotzdem tut ihr aber alle ohne Ausnahme so, als ob
-das Grundgesetz der Welt, das unverbrüchliche und ausnahmlose, mit
-dessen wissenschaftlicher Fassung ihr euch so unerträglich spreizt und
-brüstet, in jedem besonderen Fall, der euch selbst betrifft, außer
-Kraft treten könne, außer Kraft treten müsse. Denn jeder von euch tut,
-als ob seine Tat überhaupt keine Folgen hätte, und niemand hat ein
-Gefühl dafür, was das heiße, Ursache zu sein, Urheber zu sein, Urtäter
-zu sein. Oder ist euer Sinn nicht immer so ganz und gar ein kurzer,
-blöder, daß ihr wähnt, ihr könntet etwas tun, Böses oder Gutes, ohne es
-für die Unendlichkeit zu tun, -- oder ihr könntet etwas unterlassen,
-Rechtes oder Schlechtes, ohne es für die Unendlichkeit zu unterlassen?
-Hinter der kleinen Muschel hört ihr das Meer zwar branden, aber
-welchem von euch donnert und rollt hinter der kleinen Tat der eiserne
-Gang der Welt anfanglos nach rückwärts und nach vorwärts endlos? Wem
-klirrt die Kette unendlicher Notwendigkeiten hinter jeder Wahlhandlung
-seiner Freiheit, oder wem dröhnt die Stille der Ewigkeit hinter jedem
-fallenden, hinter jedem hallenden Tropfen der Zeit? Solang’ ihr an
-euerer Seelen Unsterblichkeit glaubtet und an Gottes Vergeltung nach
-dem Tod, schien wenigstens den Bessern unter euch der gegenwärtige
-Entschluß nicht ganz unwichtig im Hinblick auf ein Künftiges, -- wenn
-ihr freilich sogar auch dann noch dumm-listig und pfiffig-dreist genug
-zu dem unlauteren Versuche waret, den jenseitigen Richter euerer Un-
-und Übeltaten mit Trink- und Schmiergelderchen kirren zu wollen und
-euch selbst zu überreden: Er ist einer wie wir! Er hat seinen Preis und
-lässet sich kaufen!... Seither indes, und es ist schon ziemlich lange
-her, fandet ihr Europäer eine bessere Unsterblichkeit, nicht von euern
-Priestern, sondern von euern Gelehrten entdeckt und die Unsterblichkeit
-der Keimzelle nüchtern und wissenschaftlich geheißen. Und von da an,
-damit ich dir’s gestehe, Lieber! -- von da an bezauberte mich die
-Hoffnung, daß ihr über diesen Umweg eines Tages den Weg sogar zu mir
-noch finden möchtet! Denn jetzt mußte es ja dem Blindesten hell vor
-den Augen werden, was eigentlich der Einsatz ist, um den gespielt wird
-im Spiel des Lebens. Jetzt mußt’ er’s mit den Händen tasten, -- wie
-er in eigener Person die Summe aller Vorfahren bis hinauf zum ersten
-Menschen, bis hinauf zum ersten Tier in sich verkörperte, verseelte und
-vergeistigte, so würde er umgekehrt sich selbst wiederum verkörpern,
-verseelen und vergeistigen bis hinauf zum letzten Menschen und wer
-weiß! bis hinauf zum ersten Wesen der nächst höheren Gattung. Als
-ich von dieser Unsterblichkeit der Keimzelle vernahm, da dachte ich
-euch mir hart auf der Spur, und hart auf der Spur dem ewigen Gesetz,
-das ich einst, wie du weißt, meinen Mönchen nachließ: „_Kammadâyâdâ
-sattâ ti_, -- Erben der Werke sind die Wesen, Erben der Taten sind die
-Wesen“... Als Erben der Werke, Erben der Taten, dacht’ ich damals,
-würdet ihr endlich alle Verkörperlichungen des Lebens bis hinab
-zum letzten Menschen und was nach ihm kommen wird betrachten. Als
-Selbst-Verkörperlichungen würdet ihr endlich die Körper euerer Enkel
-und Enkelsenkel bis ins letzte Glied begreifen lernen: und so würdet
-ihr endlich den Einsatz erraten, um den das königliche Spiel der Welt
-gespielt wird. War dies auch noch lange nicht Mein Weltgesetz, Meine
-Unsterblichkeit, Meine Lehre von der Wiederkunft, -- denn dir ist’s
-bekannt, Dionysos, daß ich vielschichtig denke und bin, wo ihr nur
-einschichtig denkt und seid! -- es war dennoch ein gutes Stück davon.
-Ein jeglicher würde als Ahne im Leib seiner Enkel wiederkehren, und
-so in ihrem Geist, in ihrer Seele; ein jeglicher würde wiederkehren
-nach Maßgabe seiner eigenen Seinsschaffenheit, zu welcher er sich
-selbstgestalterisch bestimmt hat und zu welcher er allen nachkommenden
-Samen mitbestimmt. Wie mußte euch der Sturm dieser ungeheuern
-Verpflichtung auf den Boden schmettern, -- wie mußte euch der Wirbel
-dieser übermenschlichen Verantwortung wieder aufrecht reißen: daß jeder
-ein Richter ist aller ungeborenen Wesen, wenn er über sich selbst
-entscheidet, daß jeder in die fernsten Sterne zielt, wenn er den Pfeil
-der Tat von seines Bogens Sehne schnellt, -- wie sagt doch, o Dionysos,
-euer großer Heraklit: „Nun aber heißt des Bogens Name Leben...“ Jetzt
-hattet ihr das Gewicht gefunden, das ich von meinem fernen Festland
-aus leider nicht an euch hängen konnte: jetzt ward es euch von euerer
-Wissenschaft geschenkt, damit ihr endlich als das Lot der Welt im Raume
-pendeln, schweben konntet. Ach, welche Hoffnungen setzte ich nicht
-damals in euch, auf euch, daß wir uns endlich, endlich finden würden...
-Aber was geschah? Auch dieses goldene Gewicht ließet ihr auf der Wage
-stehn. Auch jetzt verschmähtet ihr’s, selber Wage und Wagschale zu sein
-und als Gewichtstein dort hinabzusinken, wo es tief ist. Flaumleicht
-und daunenweich bliebt ihr auch jetzt, und anstatt hoch im Glockenstuhl
-der Zeit durch manches blaue Lichtjahr stolz zu schwingen, ließet ihr
-euch von jedem schwachen Hauch entwehen. Wie Irrwische sah’ ich euch
-hüpfen auf den Sümpfen eueres Kontinentes, Dionysos! Wohl lerntet ihr
-hier und da das Leben spielen, -- aber ihr lerntet die Regel nicht,
-wie euer Spiel gewonnen und verloren wird. Nun ich dich aber hier,
-Dionysos, an Einsatz, Regel, Sinn, Geist deines Welt-Spiels mahne, sei
-dir das tiefere Geheimnis euerer westlichen Bedrängnis nicht ferner
-vorenthalten. Ihr liebt es, liebt es heute insbesonders, euch selbst
-in dieser apokalyptischen Stunde des Abfalls von Gott zu bezichtigen.
-Manchmal sind sogar die Besten, Hellsten, Klügsten unter euch der
-Meinung, sie brauchten nur wieder Götter glauben, und alles, was
-seither aus den Fugen sprang, renke sich schnell dann wieder ein wie
-zuvor. Das aber ist euer Grund- und Lebensirrtum! Denn nicht, daß ihr
-gottlos geworden seid, macht euch so unbeschreiblich elend und gemein;
-nicht dies hat über euch gebracht das Messerstich-Alter, welches ich in
-der Sechsundzwanzigsten Rede aus der längeren Sammlung Dîghanikâyo --
-sie führt aber in Meinem Kanon seltsamerweis den Titel ‚Der Kaiser‘,
-wie du weißt! -- bis ins kleinste euch geweissagt habe. Sondern daß
-ihr weltlos geworden seid, ihr westlichen Menschen, weltlos wie keine
-andere Menschheit je zuvor. Ja, ihr lebt schlechterdings außer der
-Welt. Ihr lebt nicht vorwärts und nicht rückwärts; ihr lebt nicht ins
-Diesseit und nicht ins Jenseit; ihr lebt nicht in die Breite und nicht
-in die Tiefe. Selbst wo ihr Götter schufet, da schufet ihr sie viel
-lieber gegen die Welt als für sie. Ihr schufet Gott, damit er euch
-bei jeder Gelegenheit beausnahmen möchte von dem Gesetz der Welt, und
-selten, daß euere Götter etwas besseres waren als ein schiefer Vorwand
-für solch hochmütige Beausnahmung, -- übrigens zugleich mein stärkster
-Einwand gegen alle Götter, Dionysos, und mein stärkster Einwand
-sogar gegen dich, verzeih!... Wundert euch darum nicht, ihr weltlos
-Gewordenen, wenn die Welt schließlich an euch vorüberläuft. Schon jetzt
-hat sie euerer so gut wie vergessen, und über eine kleine Weile wird
-Gras über euch gewachsen, Sand über euch geweht sein. Mich selber nennt
-ihr gottlos, und in Wahrheit habe ich meinen Jüngern Gott verboten,
--- aus Gründen, die du jetzt vielleicht zu ahnen beginnst. Aber bin
-ich auch gottlos: nie und unter keinen Umständen war ich weltlos. Wenn
-ich mich von der Welt am strengsten abschied, war ich vielleicht am
-innigsten mit ihr vereint. Und nur weil ich Bürger dieser und jener
-Welt war, vermochte ich’s, diese Welt durch jene Welt zu überwinden:
-‚Ich aber, ihr Mönche, verstehe diese Welt und jene Welt‘...“
-
-Solche oder ähnliche Rede mochte der indische Buddho Gotamo mit dem
-orphischen Gott Dionysos bei ihrer denkwürdigen Begegnung gewechselt
-haben auf dem Brückenjoch der Festländer. Dionysos aber ließ das Haupt
-lange auf seine Brust herabsinken. Und er verharrte reglos in einer
-Schweigsamkeit, die sich wie der längste Schatten des kürzesten Tages
-dämmergrau und erkältend zwischen die Wächter der beiden Reiche legte.
-Dann aber hob er sein saphirnes Auge auf und lächelte dem Buddho sonnig
-zu: „Recht hast du mir mit allem, o Buddho! Wir Menschen des westlichen
-Reiches spielten bisher Welt und spielten Leben, ohne die Regel unseres
-Spiels zu kennen und den Einsatz zu bedenken. Und daran bin ich am
-meisten schuldig. Früh hab’ ich ja in meiner orphischen Vergangenheit
-die Unsterblichkeit verkündet, ganz wie du selber, Gotamo. Und oftmals,
-wenn ich nach sinnaufwühlenden Offenbarungnächten den ersten Strahl
-meines heiligen Gestirns den Giebel meines Tempels zu Tempe goldig
-kränzen sah und gleichzeitig mich durch den Mund des Orpheus als
-Seelenretter und Heiland preisen hörte, -- wie mußte ich da an dich,
-Spender der Unsterblichkeit denken, der du zu Maghadâ hast den Löwenruf
-erschallen lassen: ‚Leihet Gehör, ihr Mönche, die Unsterblichkeit
-ist gefunden‘... Das war damals, o Buddho, in jener ungeheuern Zeit
-des Götterfrühlings auf hesperischer Erde... Heut’ jedoch weiß ich
-auf das klärste, daß ich dich herzlich mißverstanden hatte. Mit
-ähnlichen Worten meintest du nicht das Ähnliche mit mir. Ich selber
-fühlte nur die zeugerische Lust des Werdens, das immer wird, und kaum
-geworden, wieder entwird. Ich selber war nur immer eingedenk des ewigen
-Schaffens, wie es in jeglicher Erschaffung sich selbst erscheint, in
-jeglicher Erscheinung aber die Erschaffenheit verneint, die nicht das
-Schaffen selber ist und sein kann. Als unzerstörliche Werdenskraft
-und Allkraft genoß und litt ich meine Ewigkeit, lebte und starb ich
-meine Ewigheit. Darüber vergaß ich, wundere dich nicht, das Gesetz des
-Werdens. Ich vergaß, daß alles Künftige in der Welt sich nur insoweit
-knoten würde, als es von einer eigenwilligen Gegenwart selbstherrlich
-geschürzt wird. Den Knoten der Welt und des Werdens, den an- und
-absteigenden in der Zeit, vergaß ich; vergaß, daß er an- und absteigt
-in der Zeit nur wie wir es selber ihm bestimmen. Wohl hatte ich während
-meiner Wallfahrt an euern heiligen Gangâ, dessen Silberquellen, wie ihr
-sagt, dem Gletschertor der Milchstraße klingend wie Sternschnuppentau
-entschmelzen, vom Strome her die Stimmen deiner Mönch’ und Nonnen
-häufig psalmodieren hören:
-
- „Und was der Mensch auch wirken mag,
- Verdammte Taten, edles Werk:
- Der Erbe ist er überall,
- Der Erbe seiner eigenen Tat...“
-
-Aber was ich von dorther hörte, obwohl mich’s manchmal wundersam
-berührte, verstand mein Sinn noch nicht. Einmal ist Keinmal, Einmal
-ist höchstens Einmal, hatten wir’s in unserem armsäligen Einmaleins
-je und je vernommen. Wie hätten wir da dein glühendes Richterwort
-fassen sollen: Einmal ist Immer! Einmal ist Unendlichmal! Einmal
-ist Ewig! Ach! allzulang waren wir westlichen Olympier nur ‚Götter
-Lustig im Dämmerlicht‘ gewesen... Aber du selber, Herr, sagtest es
-vorhin, wir seien endlich jetzt auf deiner Spur. Ja, wir sind dir, wir
-sind der Welt endlich auf der Spur, o Gotamo! Zwar ist vor Kurzem
-noch an dem furchtbaren Gesetz, das du zuerst der Welt gegeben und
-aufgegeben hast, der stärkste meiner Söhne mir zerbrochen, (er hieß
-mit Namen Gold-Stern, das ist Zarathustra, und du kennst ihn, liebst
-ihn als von deiner Art, Herr...) Noch hat also zwar nicht einmal er,
-von allen zukünftigen Geistern meines Reiches der Zukünftigste und
-der Geistigste, deinen Urgedanken der unendlichen Wiederkunft aller
-Wesen je nach ihren Werken unangefochten bis ans Ende auszudenken,
-auszuhalten vermocht: noch ist unser Stärkster zu schwach gewesen
-für dein Gesetz und deine Welt, o Buddho. Aber er hat ihn doch --
-und welch ein großer Anfang, Aufgang ist dies! -- als erster seit
-Jahrtausenden wieder religiös erlitten und gelebt, statt einfach
-wissenschaftlich festzustellen. Hier oder nirgends ahnte er, der neue
-_homo religiosus_, die neue Pflicht, die neue Bindung, welche demnächst
-auch uns in erneuter _religio_ dem All verpflichten und verbinden
-würde. Hab’ also noch Geduld mit uns, Erhabener! Beim zagen Schimmer
-dieses Stern-Gedankens werden auch wir endlich lernen, uns wieder in
-die feierliche Nacht der Welt hineinzutasten. Du bist der Buddho, du
-bist der Erwachte, vollkommen Erwachte! Du bist erwacht, vollkommen
-erwacht zur Welt, von der wir heute morgendlich noch träumen. Aber du
-kennst die tausend Zeichen, die alle, alle darauf deuten, daß auch
-wir demnächst die Erwachenden und Erwachsamen sein werden: ein neuer
-Aufgang mitten in Europas Untergängen... Für jetzt und heut’ indes, o
-Buddho, ist unser beider Äon wieder einmal abgelaufen, -- erst an des
-nächsten Ende werden wir uns wiedersehen. Dann aber wird der längste
-Schatten dieses kürzesten Tags, der jetzt graudämmerig und erkältend
-zwischen uns sich spreitet, dem kürzesten Schatten des längsten Tags
-gewichen sein. Dann wollen wir auf diesem Brückenjoch der Länder das
-nächste Mittsommerfest, Mittsommerglück gemeinsam feiern... Horch!..
-Läutete da nicht eine Glocke? Summte nicht ein Gong?.. Wie ein Kristall
-blaut wunderbar die Zeit! Schau um dich, Gotamo! Es weltet weit und
-breit!..“
-
-
-
-
- DIE WIEDERGABE DER BUDDHO-STATUE ERFOLGT MIT
- GENEHMIGUNG DES FOLKWANG-VERLAGES IN HAGEN
-
-
-
-
-AUS REICHLS VERLAGSBERICHT
-
-DER VOLLSTÄNDIGE VERLAGSBERICHT WIRD AUF VERLANGEN KOSTENLOS UND
-PORTOFREI GELIEFERT
-
-OTTO REICHL VERLAG DARMSTADT
-
-
-
-
-+LEOPOLD ZIEGLER+
-
-
-GESTALTWANDEL DER GÖTTER
-
-VON _LEOPOLD ZIEGLER_
-
-DRITTE AUFLAGE, ZWEI BÄNDE
-
-IN LEINWAND GEBUNDEN 240 M., IN HALBLEDER GEBUNDEN 360 M.
-
-+Inhalt:+ Erste Betrachtung: Weltheiligung, Sühnwirkung, Sinndeutung
-der Griechen. Zweite Betrachtung: Der Mythos vom Mittlergott und
-die Religion der Seele. Dritte Betrachtung: Der Heilsdreiweg der
-Christenheit. Vierte Betrachtung: Deutsche Reformation. Fünfte
-Betrachtung: Der Mythos Atheos der Wissenschaften. Sechste Betrachtung:
-Die Mysterien der Gottlosen.
-
-
-DER EWIGE BUDDHO
-
-EIN TEMPELSCHRIFTWERK IN VIER UNTERWEISUNGEN VON _LEOPOLD ZIEGLER_
-
-IN LEINWAND GEBUNDEN 150 M., IN HALBLEDER GEBUNDEN 250 MARK
-
-+Inhalt:+ Die erste Unterweisung: Buddho der Protestant. Die zweite
-Unterweisung: Buddho der Erlebende. Die dritte Unterweisung: Buddho der
-Wissende. Die vierte Unterweisung: Buddho der Öst-Westliche.
-
-
-DER DEUTSCHE MENSCH
-
-VON _LEOPOLD ZIEGLER_
-
-ZUR ZEIT VERGRIFFEN
-
-
-VOLK, STAAT UND PERSÖNLICHKEIT
-
-VON _LEOPOLD ZIEGLER_
-
-GEBUNDEN 9 M.
-
-+Inhalt:+ Das Volk und seine Souveränität. Der Staat und die
-Gerechtigkeit. Der Notstand der Persönlichkeit und seine Überwindung.
-
-
-DAS WELTBILD HARTMANNS
-
-VON _LEOPOLD ZIEGLER_ GEBUNDEN 15 M.
-
-+Inhalt:+ System und Zeit. Deduktion, Induktion und Wahrscheinlichkeit.
-Die Ableitung der Qualität. Die Entstehung des Bewußtseins. Monistische
-Philosophie. Induktion und genetische Metaphysik. Der Wahrheitsbegriff.
-
-
-ZUR METAPHYSIK DES TRAGISCHEN EINE PHILOSOPHISCHE STUDIE
-
-VON _LEOPOLD ZIEGLER_
-
-BROSCHIERT 6 M.
-
-+Inhalt:+ I. Die letzten Prinzipien des Tragischen. II. Die Postulate
-des Tragischen. III. Das Tragische als Antizipation des Weltprozesses.
-
-
-FLORENTINISCHE INTRODUKTION
-
-ZU EINER PHILOSOPHIE DER ARCHITEKTUR UND DER BILDENDEN KÜNSTE
-
-VON _LEOPOLD ZIEGLER_
-
-GEBUNDEN 24 M.
-
-
-
-
-+GRAF HERMANN KEYSERLING+
-
-
-DAS REISETAGEBUCH EINES PHILOSOPHEN
-
-VOM _GRAFEN HERMANN KEYSERLING_
-
-FÜNFTE AUFLAGE 1921. ZWEI BÄNDE IN LEINWAND GEBUNDEN MIT DEM BILDNIS
-DES VERFASSERS 240 M., IN HALBLEDER GEBUNDEN 360 M.
-
-
-WAS UNS NOT TUT -- WAS ICH WILL
-
-VOM _GRAFEN HERMANN KEYSERLING_ DRITTE AUFLAGE 1920 BROSCHIERT 6 M.
-
-
-DAS GEFÜGE DER WELT
-
-VERSUCH EINER KRITISCHEN PHILOSOPHIE VOM _GRAFEN HERMANN KEYSERLING_
-
-ZWEITE AUFLAGE 1920 GEBUNDEN 90 M., IN HALBLEDER GEBUNDEN 180 M.
-
-+Inhalt:+ I. Die Einheit des Universums. II. Kontinuität und
-Diskontinuität. III. Harmonices mundi. IV. Die Probleme des Geistes. V.
-Die Freiheit im Weltzusammenhange. Epilog: Was ist Wahrheit?
-
-
-UNSTERBLICHKEIT
-
-EINE KRITIK DER BEZIEHUNGEN ZWISCHEN NATURGESCHEHEN UND MENSCHLICHER
-VORSTELLUNGSWELT VOM _GRAFEN HERMANN KEYSERLING_
-
-DRITTE AUFLAGE 1920 GEBUNDEN 75 M., IN HALBLEDER GEBUNDEN 150 M.
-
-+Inhalt:+ I. Über den Unsterblichkeitsgedanken überhaupt. II.
-Todesgedanken. III. Das Problem des Glaubens. IV. Dauer und Ewigkeit.
-V. Das Bewußtsein. VI. Mensch und Menschheit. VII. Individuum und Leben.
-
-
-PHILOSOPHIE ALS KUNST
-
-Vom _GRAFEN HERMANN KEYSERLING_
-
-GEBUNDEN 75 M., IN HALBLEDER GEBUNDEN 150 M.
-
-+Inhalt:+ I. Philosophie als Kunst. II. Sterndeutung. III. Zeitliche,
-zeitlose, ewige Geister. IV. Entwicklungshemmungen. V. Individuum und
-Zeitgeist. VI. Idealismus und nationale Erziehung. VII. Germanische
-und romanische Kultur. VIII. Ost und West auf der Suche nach der
-gemeinsamen Wahrheit. IX. Die begrenzte Zahl bedeutsamer Kulturformen.
-X. Das Schicksalsproblem. XI. Vom Interesse der Geschichte. XII.
-Deutschlands Beruf in der veränderten Welt. XIII. Erscheinungswelt und
-Geistesmacht. XIV. Für und wider die Theosophie. XV. Was uns not tut --
-was ich will.
-
-
-DEUTSCHLANDS WAHRE POLITISCHE MISSION
-
-VOM _GRAFEN HERMANN KEYSERLING_ DRITTE AUFLAGE 1920 BROSCHIERT 6 M.
-
-
-POLITIK -- WIRTSCHAFT -- WEISHEIT
-
-VOM _GRAFEN HERMANN KEYSERLING_ ERSCHEINT IM JANUAR 1922
-
-
-DER WEG ZUR VOLLENDUNG
-
-MITTEILUNGEN DER SCHULE DER WEISHEIT IN DARMSTADT
-
-HERAUSGEGEBEN VOM _GRAFEN HERM. KEYSERLING_
-
-JEDES HEFT 7.50 M.
-
-
-DER LEUCHTER
-
-WELTANSCHAUUNG UND LEBENSGESTALTUNG JAHRBUCH DER SCHULE DER WEISHEIT IN
-DARMSTADT HERAUSGEGEBEN VOM _GRAFEN HERM. KEYSERLING_ JAHRBUCH 1920.
-GEBUNDEN 90 M.
-
-+Inhalt:+ Graf Hermann Keyserling: Worauf es ankommt. G. F. Hartlaub:
-Kritik der Geheimwissenschaft. Heinrich Nienkamp: Werten und Wirken.
-Leopold Ziegler: Buddho der Protestant. Herman Hefele: Die Idee
-des Kommunismus. Gerhard von Mutius: Humanität und Bildung. Max
-Scheler: Sozialismus und Persönlichkeit. Fritz Wichert: Sich selber
-beistehen. Friedrich Gogarten: Die Kirche. Peter Behrens: Das Ethos
-und die Umlagerung der künstlerischen Probleme. Rudolf Binding:
-Ethische Grundlagen eines Volkes. Günther Weitbrecht: Wertung und
-Erkenntnis. Günther Weitbrecht: Der Brunnen des Lebens. Alexander von
-Gleichen-Rußwurm: Unter Platanen.
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Der ewige Buddho, by Leopold Ziegler
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER EWIGE BUDDHO ***
-
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- The Project Gutenberg eBook of Der Ewige Buddho, by Leopold Ziegler.
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-<body>
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-<pre>
-
-The Project Gutenberg EBook of Der ewige Buddho, by Leopold Ziegler
-
-This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
-other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
-whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
-the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
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-to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
-
-
-
-Title: Der ewige Buddho
- Ein Tempelschriftwerk in vier Unterweisungen
-
-Author: Leopold Ziegler
-
-Release Date: May 7, 2016 [EBook #52015]
-
-Language: German
-
-Character set encoding: UTF-8
-
-*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER EWIGE BUDDHO ***
-
-
-
-
-Produced by Norbert H. Langkau, Reiner Ruf, and the Online
-Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
-
-
-
-
-
-
-</pre>
-
-
-<div class="transnote mtop3 break-before">
-
-<p class="s3 center"><b>Anmerkungen zur Transkription</b></p>
-
-<p class="p0">Der vorliegende Text wurde anhand der 1922 erschienenen
-Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben.
-Zeichensetzung und offensichtliche typographische Fehler wurden
-stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche sowie inkonsistente
-Schreibweisen wurden beibehalten, insbesondere wenn diese in der
-damaligen Zeit üblich waren oder im Text mehrfach auftreten.</p>
-
-<p class="p0">Fremdsprachige Begriffe und Zitate wurden ohne
-Änderungen aus dem Originaltext übernommen; lediglich in einem Fall
-wurde der griechische Begriff ‚αὑτὸ καδ’ αὐτό‘ zu ‚αὑτὸ καθ’ἁυτό‘
-harmonisiert.</p>
-
-<p class="p0">Der Link zu einer vergrößerten Version des Frontispizes
-ist möglicherweise nicht auf allen Lesegeräten aktiv.</p>
-
-<p class="p0 nohtml">Das Umschlagbild wurde vom Bearbeiter gestaltet und in die
-Public Domain eingebracht.</p>
-
-</div>
-
-<div class="figcenter">
- <a id="logo" name="logo">
- <img class="mtop1 mbot3" src="images/logo.jpg"
- alt="Leuchter; Logo des Otto Reichl Verlages" /></a>
-</div>
-
-<div class="figcenter">
- <a id="buddho" name="buddho">
- <img class="mtop1" src="images/buddho.jpg"
- alt="Sitzender Buddho" /></a>
- <p class="s5 center mbot2"><a href="images/buddho_hr.jpg">&#10063;<br />
- <span class="smaller">GRÖSSERE ANSICHT</span></a></p>
-</div>
-
-<hr class="r80" />
-
-<p class="s1 center break-before"><span class="s5">LEOPOLD ZIEGLER</span></p>
-
-<h1>DER<br />
-EWIGE BUDDHO</h1>
-
-<p class="s4 center">EIN TEMPELSCHRIFTWERK<br />
-IN VIER UNTERWEISUNGEN</p>
-
-<p class="s3 center topspace">DARMSTADT 1922</p>
-
-<p class="s2 center">OTTO REICHL VERLAG</p>
-
-<hr class="r80" />
-
-<p class="center">GEDRUCKT IN DER SPAMERSCHEN BUCHDRUCKEREI
-IN LEIPZIG</p>
-
-<p class="center topspace mtop3">ALLE RECHTE VORBEHALTEN,<br />
-BESONDERS DAS DER ÜBERSETZUNG<br />
-COPYRIGHT 1922 BY OTTO REICHL VERLAG<br />
-IN DARMSTADT</p>
-
-<hr class="r80" />
-
-<p class="s3 center topspace botspace">DEN<br />
-‚BÜRGERN DER VIER WELTGEGENDEN‘</p>
-
-<hr class="r80" />
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="nobreak" id="INHALT">INHALT</h2>
-
-</div>
-
-<table class="toc" summary="Inhaltsverzeichnis">
- <tr>
- <td class="cont">
- EINFÜHRUNG
- </td>
- <td class="pag">
- <a href="#Seite_11">11</a>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="cont">
- DIE ERSTE UNTERWEISUNG: BUDDHO DER PROTESTANT
- </td>
- <td class="pag">
- <a href="#Seite_37">37</a>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="cont">
- DIE ZWEITE UNTERWEISUNG: BUDDHO DER ERLEBENDE
- </td>
- <td class="pag">
- <a href="#Seite_123">123</a>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="cont">
- DIE DRITTE UNTERWEISUNG: BUDDHO DER WISSENDE
- </td>
- <td class="pag">
- <a href="#Seite_223">223</a>
- </td>
- </tr>
- <tr>
- <td class="cont">
- DIE VIERTE UNTERWEISUNG: BUDDHO DER ÖST-WESTLICHE
- </td>
- <td class="pag">
- <a href="#Seite_343">343</a>
- </td>
- </tr>
-</table>
-
-<hr class="chap" />
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_11" id="Seite_11">[S. 11]</a></span></p>
-
-<div class="chapter">
-
-<h2 class="nobreak" id="EINFUEHRUNG">EINFÜHRUNG</h2>
-
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_13" id="Seite_13">[S. 13]</a></span></p>
-
-<p class="initial">Es jährt sich nun heuer rund das einhundertdreißigste Mal, daß die
-Sakontalâ des Kâlidâsa ihre erste deutsche Übersetzung fand, von
-Goethe wie von Herder sofort als geistige Begebenheit ersten Ranges
-mit Bewunderung, ja mit Ergriffenheit gewürdigt und begrüßt. Ein
-paar Jahrzehnte später, und die Kenntnisnahme der Bhagavad-Gîtâ, als
-θεσπέσιον μέλος erstmals lateinisch von August Wilhelm
-Schlegel ausgegeben, macht in Wilhelm von Humboldts Leben warm
-beglückende Epoche, die er uns mit unvergeßlichen Worten schildert.
-Schopenhauer zwar findet den Zugang zu den ‚Geheimen Lehren‘, das ist
-‚Upanischaden‘, erst über den etwas krummen Umweg einer lateinischen
-Übersetzung des persischen Oupnek’ hat, &mdash; auf ähnlich krummen und noch
-krümmeren Umwegen ist dereinst der Stagirit zum Schicksal der Theologie
-und Philosophie des späteren Mittelalters geworden! &mdash; trotzdem aber
-werden jene wunderlich vermummten Urkunden ihm der Trost seines armen
-Lebens: indes er selber in vorgeschrittenerem Alter noch Scharfblick
-und Urteil genug aufbringt, Spence Hardys erste zuverlässige
-Darstellungen des zeilonischen Buddhismus in ihrer grundlegenden
-Wichtigkeit zu erkennen. Aus Köppens Religion des Buddha scheint
-sich Wagner ahnungweis ein erstaunlich zutreffendes und wesenhaftes
-Bild von Beschaffenheit und Art der Religion zu machen, die ihn in
-den unverfälschtesten und lautersten Jahren seines Daseins wie keine
-zweite tief und echt berührt. Was endlich Paul Deussens Lebenswerk
-angeht, so ist es in mehr wie einem Betracht dem<span class="pagenum"><a name="Seite_14" id="Seite_14">[S. 14]</a></span> Antrieb Nietzsches
-zu verdanken, der dauernd bemüht bleibt, eine zulängliche Kennerschaft
-seiner weltgeschichtlichen Gegenspieler im indischen Osten zu erwerben.
-<i>In summa</i>: der Einbruch Asiens, insonderheit der Einbruch Indiens in
-Europa erfolgt vor mindestens hundertunddreißig Jahren und wird bereits
-von allen Deutschen repräsentativer Geltung klar aufgenommen und
-sicher gedeutet als das, was er ist: der Aufgang eines funkelnd neuen
-Weltsterns an dämmernden Europahorizonten...</p>
-
-<p>Bald aber geschieht befremdlich Unerwartetes, Nie-Zu-Erwartendes! Das
-Jahr 1896 bringt den ersten Band einer Verdeutschung des sogenannten
-Majjhimanikâyo von Karl Eugen Neumann, und zwar gleich als Probestück,
-Gesellenstück, Meisterstück zu einer weitausgreifenden Lebensaufgabe.
-Diese setzt sich die womöglich lückenlose Übertragung des Suttapitakam,
-will heißen der ältesten und wertvollsten Urkunden der Reden Gotamo
-Buddhos zum Ziel, wie sie in den heiligen Schriften des Pâli-Kanons
-gesammelt und überliefert sind. Bis zu Neumanns Tod, der allzu früh
-an seinem fünfzigsten Geburtstag (am 18. Oktober 1915) in Wien
-erfolgt, ist denn auch wirklich diese Riesenaufgabe in der Hauptsache
-schier bezwungen: ist die Längere und Mittlere Sammlung vollständig,
-die Kürzere Sammlung wenigstens in ihren gewichtigsten Stücken
-übersetzt, wovon die kleine, ihres Alters wegen jedoch hochgeschätzte
-Spruchsammlung des Dhammapadam zu erwähnen wäre, indes aus anderen
-Bezirken der indischen Seele der Mythos von Krischnas<span class="pagenum"><a name="Seite_15" id="Seite_15">[S. 15]</a></span> Weltengang
-hinzutritt. Alles in allem bietet mithin Karl Eugen Neumann einer
-großen europäischen Nation zum erstenmal die ungeheuere Gelegenheit,
-aus tausend verflachenden, entstellenden, verzerrenden, umwuchernden
-Übermittelungen des Buddhismus heraus die Stimme des Buddho selber
-sprechen zu hören, &mdash; und das ist fast, wie wenn wir Christen heute
-unverhofft ein fünftes Evangelium entdeckten, älter und urwüchsiger als
-die andern vier und an vielerlei Stellen geradezu die treu erinnerten
-Urworte des evangelischen Herrn enthaltend. Solche religiösen Urkunden
-werden jetzt jedem gebildeten Deutschen zugänglich gemacht, und dies
-obendrein in einer Fassung der Sprache, welche alleinig hätte genügen
-müssen, alle mit der Sachwalterschaft dieses höchsten irdischen Gutes
-Betrauten aufhorchen, wenn nicht aufjubeln zu machen. Hat doch an
-diesem indischen Idiom der Reden Buddhos sich die deutsche Sprache &mdash;
-wer hört es nicht, der nur ein einziges dieser vollkommenen Kunstwerke
-mit den Ohren (und mehr noch mit dem Gehör) liest: wer hört es nicht?
-&mdash; hat doch an diesem Pâli sich das deutsche Wort, der deutsche Satz
-noch einmal märchenhaft erneuert. Hier zeigt sich unsere Muttersprache
-plötzlich um eine ganze Anzahl von Möglichkeiten des Ausdrucks
-bereichert, die ihr vorher niemand so leicht zugestanden hätte. So,
-um an dieser Stelle nur das Auffälligste herauszuheben, zeigt sie
-sich im höchsten Grad des <i>Andante Maëstoso</i> hieratisch fugenden
-Stiles fähig, bisher im religiösen Leben unseres Festlandes so gut
-wie ausschließlich<span class="pagenum"><a name="Seite_16" id="Seite_16">[S. 16]</a></span> dem Latein vorbehalten. Tempelfeierlich hört man
-dagegen hier die deutschen Laute in vollausatmenden Posaunenstößen
-pausenlos dahinorgeln und dann allmählich zart vertönen, &mdash; dennoch
-wiederum höchst zwanglos zu vielen Kadenzen melodisch aufgelöst und
-von anmutigen Figuren reich umtrillert... Dieser Sprachgestalter
-Neumann aber und sein Buddho, diese ganz einmalige und ganz
-unvergleichbare indisch-deutsche Doppelschöpfung macht niemanden im
-weiten Vaterland aufhorchen und noch weniger jemanden aufjubeln. Wo
-vor hundert Jahren noch eine rauschende Bewegung durch den Geist,
-oder sag’ ich wirklichkeitentsprechender durch die Geister der Nation
-gefahren wäre, da spürest du keinen Hauch. Die Herren vom Fach,
-immer mit dem Wichtigeren ernst beschäftigt und darum geschworene
-Feinde alles Wichtigsten, schweigen sich mit ihrer altbewährten
-Zurückhaltung hinsichtlich ‚persönlicher Werturteile‘ auch über diese
-große Sache fast ganz aus; gebildete Laien, welche diese berufenen
-Hüter wissenschaftlicher Geheimnisse (oder Geheimniskrämerei?) zum
-Sprechen hätten zwingen wollen und hätten zwingen können, gibt es in
-jenen Jahren schauriger Verödung nirgends. Und dies bleibt die Lage,
-solange Neumann selber lebt. Bis kurz nach seinem unbemerkten Hingang
-der einzige Rudolf Pannwitz die Schmach dieses Schweigens bricht und
-endlich das befreiende Wort spricht über die weltgeschichtliche Tat
-eines Brückenschlages zwischen West und Ost...</p>
-
-<p>Wie aber, wird der unbefangene Sinn hier fragen, war dies möglich?
-Wie war dies möglich zu einer<span class="pagenum"><a name="Seite_17" id="Seite_17">[S. 17]</a></span> Zeit, wo man diesseit wie jenseit
-des atlantischen Meeres wahrhaftig schon mehr Ursach’ hatte, wenn
-irgendwo die Rede ‚<i>de propaganda fide</i>‘ ging, an den Buddhismus und
-seine unwiderstehliche Werbearbeit in allen Kontinenten zu denken
-als hergebrachtermaßen an die Kirche Roms? Wie war dies möglich
-in den Jahrzehnten vor dem Krieg, wo bereits mit aller Stärke die
-theosophisch-anthroposophische Bewegung eingesetzt hatte, die
-ihrerseit absichtlich oder unabsichtlich, willig oder unwillig stets
-den Buddhismus mit verbreiten und mit fördern helfen muß? Wie war es
-möglich, wie war es überhaupt nur denkbar, daß zwar die Geheimlehren
-aller Religionen Asiens seit den Babyloniern durch ungezählte
-Rinnsale, sichtbare und unsichtbare, saubere und schmutzige, in die
-spiritistisch-okkultistischen Zirkel des Westens sickern konnten, aber
-daß das Wort des wirklichen Buddho in seiner oft immerhin ältesten und
-ehrwürdigsten Gestalt nirgends aufmerksameres Gehör, ja nicht einmal
-ein wenig &mdash; Neugierde fand?</p>
-
-<p>Werfe ich diese Frage auf diese Weise auf, so ist vielleicht aus
-ihr schon die eigentliche Antwort herauszuhorchen. Denn wie ich
-vermute, ist es eben diese vielsinnig buddhistische, neubuddhistische,
-afterbuddhistische Strömung gewesen, welche die voll ausgemeißelte
-Bildsäule des Buddho mit sich fortschwemmte und in der Masse
-mitgewälzten Gerölles und Geschlämmes unkenntlich ganz und gar
-begrub. Dieser Buddho ficht leibhaftig wider den Buddhismus, wie der
-synoptische Jesus leibhaft wider das Christen<span class="pagenum"><a name="Seite_18" id="Seite_18">[S. 18]</a></span>tum ficht, &mdash; oder
-vielmehr jener ficht wider den Buddhismus noch mit viel härterer
-Bestimmtheit wie dieser wider das Christentum, weil er mitsamt
-seiner religiösen Schöpfung sich in diesen Reden viel greifbarer
-und lebendiger erhalten zeigt wie der Christus in den Evangelien.
-Τἀλητὲς ἀεὶ πλεῖστον ἰσχύει λόγου, &mdash; dies von den Schülern
-Hegels einst dem Werk ihres Meisters als Leitspruch wohlbedacht
-vorausgestellte Kernwort des Sophokles verdiente wie kein zweites
-den heiligen Texten des Pâli vorausgestellt zu werden. Denn hier
-wie kaum noch sonstwo dauert das Wahre allein durch die Gewalt des
-Wortes: nur daß man, ehe man das ‚Wahre‘ dieser Reden unbefangen
-auf sich wirken lassen will, zuvörderst alle die ungefügen und
-grobschlächtigen Schlagworte vergessen haben muß, mit welchen seit
-Jahrzehnten jeder Europäer dumm geprügelt wird, der in Gesellschaft
-den Begriff Buddhismus zu erwähnen sich getraut. Diese Schlagworte
-fahren hier alle ungeschickt daneben und treffen statt den Nagel auf
-den Kopf nur die Finger des Hämmernden, der auf den Nagel zielte.
-Hat man es zum Beispiel niemals anders läuten hören, als daß der
-Buddhismus eine Religion, ja sogar die Religion schlechtweg des
-Pessimismus sei, so wird man zum eigenen Erstaunen den Buddho ganz im
-Gegenteil von einem unerschütterlichen Optimismus tief beseelt und
-besäligt finden, wie ihn vielleicht bisher kein Mensch von dieser
-schonunglosen Welt- und Lebenskenntnis zu vertreten wagte, &mdash; wenn
-ich dabei von Hartmanns immerhin vergröbernder Europäisierung<span class="pagenum"><a name="Seite_19" id="Seite_19">[S. 19]</a></span> dieses
-sinnreich verzahnten Pessimismus-Optimismus, Optimismus-Pessimismus
-absehen darf. Wirkt und lehrt doch dieser Buddho inmitten einer Welt,
-welche sogar ein Leibniz in Person als die ‚beste aller möglichen
-Welten‘ durchaus anerkennen müßte, und zwar eben darum, weil ein
-jedes ihrer Wesen und Geschöpfe grundsätzlich mit der Anlage zu
-einem Buddho ausgestattet ward und folglich zu der Hoffnung stets
-berechtigt ist, im Ablauf seiner Wiederverkörperlichungen stufenweis
-zu dieser übermenschlich-übergöttlichen Würde hinanzusteigen: wenn
-es nämlich dieses ernsthaft will! Und solch übermäßiger Optimismus
-gibt allerdings ein überraschend Gegenstück zu dem abgründlichen
-Pessimismus christlicher Gnadenwahl, die vor allem Anfang schon
-etliche Wenige für die Ewigkeit zur Säligkeit erkiest, eine unnennbare
-Mehrzahl jedoch gleichzeitig für die Ewigkeit verdammt.... Oder hat
-man fernerhin den Buddhismus jeweils als eine ausgemachte Praxis der
-Weltverneinung unserer europäisch vollbrachten Weltbejahung kurzerhand
-entgegengesetzt, so wird man nicht umhin können, selbst an dieser
-<i>cause jugée</i> stark irr’ zu werden, wenn man etwa den Buddho des
-Pâli-Kanons von einer so mütterlichen Zärtlichkeit erfüllt findet
-für alle Kreatur, wie sie gleich innig und gleich ausnahmlos kaum
-im Herzen unseres lieblichen <i>poverello</i> schlug: „O daß ich den
-kleinen verirrten Wesen ja nicht Schaden zufüge!“ So spricht meines
-Bedünkens bedingunglose Weltverneinung nicht; so zärtlich mitwesend
-und mitwebend spricht sie wahrlich nicht; so oder ähnlich<span class="pagenum"><a name="Seite_20" id="Seite_20">[S. 20]</a></span> hat es eher
-aus der Seele eines Weltverklärers, Weltliebhabers, Weltumarmers wie
-Jean Paul engelhaft gefiedelt und geharft. Weltverneinend hingegen im
-unmenschlichsten und verstocktesten Wortverstand erscheint durchweg
-der Kalvinismus, der jeden Eigenwert irdischer Erschaffenheiten <i>ad
-majorem Dei, ad majorem Diaboli gloriam</i> leugnet und in engster
-Übereinstimmung mit solch’ gehässigem Weltfühlen (wenn anders Max
-Webers vielbeachtete Untersuchungen über die protestantische Ethik
-und den Geist des Kapitalismus zu recht bestehen) den lieblosesten
-und darum auch weltvernichtendsten Typus Mensch in Gestalt des
-amerikanisch-europäischen Unternehmers heraufgezüchtet hat... Oder um
-ein letztes Beispiel anzuführen, man hat in dem Buddhismus schlecht
-und recht eine der geschichtlichen Spielarten des aus der Mystik aller
-Zeiten und Völker fließenden Quietismus zu erblicken sich gewöhnt,
-und wird jetzt, angesichts dieses Buddho, überraschend inne, daß
-Gotamo von der Person des dem Orden verpflichteten <i>bhikkhu</i> eine
-unausgesetzte Höchstanspannung und Höchststeigerung sämtlicher Kräfte
-des Leibes und des Geistes und der Seele fordert; eine Höchstanspannung
-und -steigerung, die, wenn sie auch nicht geradezu Arbeit im Sinn
-des europäischen Berufsmenschen zu nennen ist, doch auch erst recht
-nicht als Ruhe oder gar als Müßiggang, am ehesten vielleicht noch als
-‚tätige Muße‘ bezeichnet werden darf, und die zu ihrem Teil den Mönch,
-dem es bitter ernst ist, ausschließlich Tag und Nacht beansprucht,
-bis jeder Rest von Kraft für<span class="pagenum"><a name="Seite_21" id="Seite_21">[S. 21]</a></span> andere Lebensäußerungen aufgezehrt ist.
-„Wohlan denn, ihr Mönche: unermüdlich mögt ihr da kämpfen,“ &mdash; das
-ist die Summe der Gebote, das ist das Gebot aller Gebote, in welches
-der Buddho selbst im Augenblick der Erlöschung die gesamte Lehre
-knapp und einprägsam zusammenfaßt. Und abermals untersteh’ ich mich
-zu behaupten, daß so kein Quietismus und nicht einmal die Mystik an
-und für sich sprechen würde!... Alle derartigen Formeln, die man sich
-bei uns zurechtgelegt hat zu einem bequem handlichen Verständnis des
-Buddhismus, versagen infolgedessen kläglich vor diesem Buddho, der zwar
-eine der größten, stolzesten, ewigsten Formen des Lebens, aber mit
-nichten eine Formel ist und am wenigsten eine bequem zu handhabende.
-Was vielmehr jede Rede des Kanons eindringlicher zu erkennen gibt,
-das ist eine Menschlichkeit schlechthin <i>sui generis</i>, die jeder
-Einordnung in eine <i>species</i> oder <i>classis</i> durchaus spottet: eine
-Menschlichkeit von einer wunderbaren Fähigkeit der Selbstbegütigung
-ganz ohne Vorgängerschaft und Nachfolgerschaft. Hier ist ein Mensch
-und nichts weiter als ein Mensch, der dennoch die unmenschliche
-Wirklichkeit der Welt vollkommen meistert. Meistert freilich um den
-notwendig zu entrichtenden Preis des Verzichtes, der Entsagung,
-&mdash; aber eines Verzichtes, einer Entsagung, die ihn wiederum keine
-einzige seiner echt menschheitlichen Eigenschaften kostet und ihn
-keinesfalls jenen frommen Ungeheuern zugesellt, welche zu ihrem Teil
-die Heiligengeschichte anderer Religionen so zahlreich wie widerwärtig
-bevölkern. Der düster<span class="pagenum"><a name="Seite_22" id="Seite_22">[S. 22]</a></span> lohende und rußig schwälende Kienspan Mensch,
-hier glüht er sich himmlisch rein zum mildschimmernden Lichtgleichmaß
-einer Metallfadenlampe. Er selber schafft einen luftleeren Raum um
-sich, er selber gießt eine gläserne Glocke um sich, damit er fortab
-von Luftdruck, Zugwind, Nässe, Staub, Schmutz, Ungeziefer unbewegt und
-unbetrübt bleibe...</p>
-
-<p>Dieser Buddho des Pâli-Kanons <i>contra</i> den landläufigen Buddhismus,
-aber auch: dieser Buddho der südlichen Überlieferung <i>contra</i> die
-nördlich verherrlichten Scharen kosmischer und metakosmischer
-Mittlererscheinungen, die reihenweis geordnet und gestuft als
-Bodhisattvas, Dhyânibodhisattvas, Manushbuddhas, Dhyânibuddhas bis
-hinauf zu Mañdschuçri dem Demiurg, bis hinauf zu Avalokiteçvara dem
-Paraklet, bis hinauf zum Âdhibuddha dem schon wieder brahmanisch
-rückgedeuteten Âtman-Brahman einen katholischen Gnaden- und
-Errettunghimmel zwischen Mensch und Weltgrund göttlich füllen, &mdash; in
-solch’ ausgeprägter Gegenstellung darf man wohl eine der Ursachen
-vermuten, warum man auch bei uns die Reden des Gotamo Buddho ein
-Vierteljahrhundert lang nicht für der Rede wert hielt. Aber kaum
-dürfte dies die einzige Ursache gewesen sein und sicherlich nicht
-die ausschlaggebende. Noch kommt anderes dazu, das ernstlich
-beachtet sein will. Abgesehen nämlich von dem etwas hanebüchenen und
-derben Interesse, welches Theo- und Anthroposophie, Spiritismus und
-Okkultismus am Buddhismus als solchem zu nehmen pflegen, ein Interesse,
-welches unverhohlen zur dunk<span class="pagenum"><a name="Seite_23" id="Seite_23">[S. 23]</a></span>leren Hälfte geradezu der Magie, zur
-helleren Hälfte jedoch dem Apathanatismos gewidmet ist, &mdash; ich sage
-dies aber ohne jeden mißbilligenden Seitenblick oder Seitenhieb,
-weil es fürwahr eine Magie und erst recht einen Apathanatismos im
-Buddhismus gibt und beides sogar bei unserem Buddho! &mdash; abgesehen
-also von diesem eher irreligiösen als religiösen Interesse ist es im
-Abendland doch fast ausnahmlos das wissenschaftliche, das gelehrte
-Interesse gewesen, welches sich mit wachsender Vorliebe den Religionen
-des Ostens zugewandt hat. Diese wissenschaftlichen, diese gelehrten
-Interessen nun sind es, die in diesen Reden, wie ich vermute, weniger
-als sonstwo auf ihre Rechnung kommen. Gewiß gibt es keine historische,
-keine philologische, keine archäologische, kurz und gut überhaupt
-keine kritische Frage, die in Ansehung dieser gotamidischen Reden
-nicht mit ebendemselben Aufwand an Forscherscharfsinn aufzuwerfen und
-zu erörtern wäre, wie dies in Ansehung des Alten und Neuen Testaments
-längst geschah und immer noch geschieht. Und Karl Eugen Neumann selbst
-betrachtet es als erwünschtes, ob freilich auch noch fernes Ideal der
-Wissenschaft, einstmals die Reden des Kanons mit einem fortlaufenden
-Glossarium und Kommentar historisch-philologisch-archäologischer
-Feststellungen zu versehen. Wer fühlt indes gerade bei der Erwähnung
-solch gelehrtenhafter Ideale nicht vollkommen deutlich, wie belanglos
-sich alles bloße Wissen eben dieser religiösen Schöpfung gegenüber
-ausnehmen muß, die ihrerseit alles Forschen und Untersuchen als<span class="pagenum"><a name="Seite_24" id="Seite_24">[S. 24]</a></span>
-unwesentlich von der Hand weist, wenn anders es nicht mittelbar oder
-unmittelbar dem ‚heiligen Ziel‘ dient. Wie kaum ein zweites religiöses
-Dokument der Vergangenheit werben diese Reden des Buddho um religiöse
-Wertung, religiöse Stellungnahme, religiöse Verarbeitung: mithin just
-um das, was ihnen der Westen bisher am hartnäckigsten geweigert hat!
-An alle Bedürfnisse unserer Art darf sich der Buddhismus wenden,
-seien es selbst unsere rückständigsten, unsere unrühmlichsten, unsere
-niedrigsten. Nur wolle uns kein Buddho mit dem unbescheidenen Anspruch
-lästig fallen, daß er innerhalb dieser geographisch und kulturell
-abgegrenzten Zone, die gewohntermaßen dem Christentum und seinen
-erlöserischen Kräften allein vorbehalten ward, etwa seinerseit ein
-religiöses Werk zu vollbringen habe... Europa den Europäern! &mdash; dies
-ungeschriebene Gesetz, welches bei uns verhängnisvollerweise seinen
-Monroe noch immer nicht gefunden hat, tritt zwar gerade dann mit
-allzugroßer Leichtigkeit außer Kraft, wenn Europas Söhne blindwütig
-und menschenfresserisch im gegenseitigen Vernichtungkrieg begriffen
-sind und zu diesem frommen Ende die Völkerschaften aller dunkeln
-und dunkelsten Erdteile aufbieten. Aber Europa den Europäern, &mdash;
-das ist ein unbedingtes, unverbrüchliches Gesetz, wo sich’s um das
-uralt-unantastbare Grundvorrecht des Christentums handelt, dem
-europäischen Menschen ausschließlich von sich aus die ihm zukömmlichen
-religiösen Antriebe mitzuteilen: ist doch dies Christentum, wer weiß
-es nicht, von seinen ersten Anfängen<span class="pagenum"><a name="Seite_25" id="Seite_25">[S. 25]</a></span> Jesus, Paulus, Augustinus an das
-heimische Erzeugnis unvermischten Europäertums... Wie schändlich, ja
-wie hochverräterisch wär’ es da, auf solch ein streng umhegtes Leben
-sorgfältigster Inzucht den heidnischen Asiaten loszulassen!...</p>
-
-<p>Inzwischen ist bei allem grimmigen Hohn über die abstoßende Heuchelei
-einer derart gehandhabten Monroe-Doktrin dennoch das Eingeständnis
-geboten, daß in dieser Abwehr gegen asiatische Einflüsse in unserer
-gegenwärtigen Lage ein gesunder Instinkt wachsam zu werden scheint.
-Aus hunderterlei Gründen dürften wir selbst dann keine Buddhisten
-werden oder auch nur zu werden wünschen, wenn dies überhaupt im Bereich
-unserer seelischen Möglichkeiten läge: das versteht sich für jeden
-Einsichtigen von selbst und bedarf keiner besonderen Beweise. Und auch
-das andere versteht sich gleichermaßen von selbst, daß nämlich auch der
-Buddho in den herrlichen Texten des Pâli-Kanons keine der furchtbar
-drängenden Aufgaben löst oder lösen hilft, die uns heute auf den Nägeln
-brennen und zu deren Bewältigung uns leider einstweilen noch alle
-Kräfte fehlen. Stumm bleibt uns auch dieser Buddho auf die Fragen,</p>
-
-<p>wie wir den Staat abbauen und die Gesellschaft aufbauen sollen,</p>
-
-<p>wie Staat und Gesellschaft wieder auf religiöse Grundlagen zu stellen
-wären,</p>
-
-<p>wie der Staatenbund (oder Bundesstaat) europäischer Völker gegen die
-Dummheit und Bosheit<span class="pagenum"><a name="Seite_26" id="Seite_26">[S. 26]</a></span> dieser Völker selbst und mehr noch gegen die
-Ruchlosigkeit ihrer Führer zu erzwingen sein möchte,</p>
-
-<p>wie neue Zellen späterer Vergemeinschaftung nach innerlichen
-Wachstumgesetzen in ihrem Entstehn begünstigt werden könnten,</p>
-
-<p>wie die Wirtschaft zum Dienen und der Geist zum Herrschen zu bringen
-sei,</p>
-
-<p>wie wir wieder zu einem beispielgebenden Adel (nicht der Geburt und
-nicht des Besitzes) kommen möchten,</p>
-
-<p>wie wir Erzieher erziehen lernten,</p>
-
-<p>wie den Henkern der europäischen Gesittung die Maske des Richters vom
-Gesicht zu reißen sei,</p>
-
-<p>wie die lebenswichtigen Sachgüter am zweckmäßigsten erzeugt und am
-gerechtesten verteilt würden,</p>
-
-<p>wie aus dem Gegeneinanderleben aller gegen alle wieder ein
-Miteinanderleben, Füreinanderleben zu entwickeln wäre, oder mit andern
-Worten</p>
-
-<p>wie das losgelassene Mensch-Vieh wieder zu bändigen und die
-weltverheerende Masse zu ent-massen wäre, und so weiter, und so
-weiter...</p>
-
-<p>Auf diese sämtlichen, beliebig noch zu vermehrenden Fragen bleibt uns
-der Buddho jede Antwort schuldig, indes wir uns wohl zu der Erwartung
-berechtigt glauben, daß eine Religion, die unserm innersten Bedürfnis
-eines Tages voll entsprechen würde, in großen Linien wenigstens die
-Wege auch in diese ungebahnte Zukunft zu weisen fähig sein müsse.
-Denn was war es doch in Wahrheit, das das<span class="pagenum"><a name="Seite_27" id="Seite_27">[S. 27]</a></span> Christentum unseres
-Mittelalters fast ein Jahrtausend lang in den Seelen unserer Ahnen
-so tief die Wurzeln hat einsenken lassen, daß niemand bis zur Stunde
-sie hat ergraben können? Das eine war es, daß dieses Christentum
-zwar im höchsten Betracht Religion war und dies sogar in einer
-durchaus weltjenseitigen Bedeutung, &mdash; daneben und außerdem aber
-just kraft seiner Eigenschaft als Religion gleichzeitig eine Lebens-
-und Gesellschaftformung größten Stils. Hier ging die Bruderschaft
-in Christo fast ohne eine Stelle merklicher Unstätigkeit in die
-Genossenschaft, in die Gilde über. Hier wuchs der geistliche Orden
-nicht selten sich zur machtvoll weltbeherrschenden Partei aus, &mdash;
-ich nenne nur den Namen Cluny, für die europäische Politik zeitweis
-geradezu ein Programm (und wieviel mehr noch und Entscheidenderes als
-nur ein Programm!), deutsche Kaiser vom Rang des dritten Heinrich zu
-manchem wichtigsten Entschlusse nötigend... Vollends der Priester
-aber oder Mönch, in jenen Tagen ganz ohne Zweifel eigentlicher
-<i>homo religiosus</i>, ist er nicht Lehrer und Gelehrter, Staatsmann
-und Verwalter, Grundherr und Städtegründer, Landwirt und Siedler,
-Lehensträger und Landesfürst, Geschichtschreiber und Geschäftsmann,
-Seelsorger und Richter in seiner einzigen Person? Eine solche Religion,
-daran ist nicht zu zweifeln, wird uns Europäern langsam, langsam
-wieder wachsen, eine Religion, die alle Wirklichkeiten wieder göttlich
-gründet, göttlich ründet, &mdash; oder wir werden eines Tages nicht mehr
-sein, weil<span class="pagenum"><a name="Seite_28" id="Seite_28">[S. 28]</a></span> eine solche Religion nicht mehr aus uns wachsen konnte.
-Und niemand in Ost und West wird uns diese späte Religion offenbaren
-oder vorleben, wenn wir nicht beides selber tun. Wofern wir also
-eine Tat, deren Vollbringen durchaus uns obliegt, von irgend einem
-religiösen Künder der Vergangenheit getan erwarteten, und heiße er
-Gotamo Buddho, gäben wir uns freilich einem unverzeihlichen Irrtum
-gefangen, und in diesem Fall wären offenbar diejenigen im Recht, welche
-uns in dem Gedanken an unsere höchste europäische Aufgabe warnend
-und abmahnend zuriefen: Europa den Europäern! Denn dieses Europa von
-übermorgen, blank gefegt von der großen Sturmflut, die heute über ihm
-zusammenbrandet, &mdash; dieses Europa unserer frömmsten Europäer-Sehnsucht
-wird uns weder von Indien noch von Syrien und Palästina her geschenkt;
-es wird allein aus unserm Leib gebaut und aus unserm Geist gefügt...</p>
-
-<p>Nur mögen wir nicht vergessen, &mdash; bis diese Abtei Thelema errichtet
-sein wird, werden eher Jahrhunderte als nur Jahrzehnte vergehen,
-in welchen der Europäer auch religiös nur von der Hand in den Mund
-leben wird. Was aber den Buddho der Heiligen Texte des Pâli anlangt,
-so kommt er ja nicht zu jener künftigen <i>Europa felix</i> des Jahres
-2200, sondern zu dieser gegenwärtigen <i>Europa deserta</i>. Er kommt
-mithin in einer Stunde, wo sich der Komplexus der abendländischen
-Gesellschaft in seine Elemente zersetzt und mit ihm gleichzeitig
-alle anderen<span class="pagenum"><a name="Seite_29" id="Seite_29">[S. 29]</a></span> Komplexe der Auflösung verfallen, welche vormals die
-geschichtlichen Verwirklichungen der Gesellschaft darstellten.
-Kurz, dieser Buddho nähert sich uns in einem Augenblick, wo alles
-lebendig Gewordene unserer Kulturzone verwest und wo nur endgültig
-schon Versteinertes diese Verwesung übersteht oder was zur Zahl
-der unsterblichen Grundeinheiten des Lebens gehört. In diesem
-Augenblick und in keinem anderen wird uns der Buddho zugeführt: und
-wer wäre flach und weltunkund genug, um hier an pure Zufälligkeit zu
-denken? Jetzt aber konnte, jetzt mußte es geschehen, daß eben die
-Religion, früher einmal die stärkste gesellschaftstiftende Tatsache
-überhaupt, von allen persönlichen Angelegenheiten des Lebens die
-persönlichste wird und höchstens noch auf sehr mittelbare Weise
-gesellschaftliche Erheblichkeit gewinnt. Religion, das ist heute (und
-auf absehbare Zeit hinaus) die Unruhe und Unstäte, die Ratlosigkeit
-und Schwerpunktlosigkeit der Einzelnen, Abseitigen und Vereinzelten.
-Aber gerade diesen Einzelnen, Abseitigen und Vereinzelten vermag nun
-der Buddho ungleich bedeutsamer zu werden als je einer geschlossenen
-Gemeinschaft, die auf unserem Kontinent bisher doch immer wieder
-auf die Heilslehren des Christentums zurückgriff. Dem Einzelnen,
-Abseitigen, Vereinzelten hingegen stellt sich der Buddho als eine
-religiöse Möglichkeit dar, welche von den religiösen Möglichkeiten
-des Christentums weder entbehrlich gemacht, noch widerlegt wird: eben
-diesem Einzelnen, durch Abseitigkeit und Verein<span class="pagenum"><a name="Seite_30" id="Seite_30">[S. 30]</a></span>zelung empfänglicher
-Gewordenen und gleichsam religiös Bereiteten wird jetzt der Buddho
-nicht selten zum Ereignis, manchmal sogar zum Schicksal seines
-Lebens... Der einsam Bedrängte und Beklemmte, der in Anfällen
-grimmiger Verzweiflung an allem und zumeist an sich selbst etwa
-nach dem Majjhimanikâyo, nach dem Mahâparinibbânasuttam greift,
-wird unwiderstehlich durchwärmt von einem sanft wiegenden Gefühl
-der Weltgeborgenheit und Selbstunverletzlichkeit. Er findet sich
-beschwichtigt und geschlichtet, geeinigt und versöhnt, entspannt und
-zu sich selbst gebracht. Ihm wird zumut wie einem hitzig Fiebernden,
-dem eine linde Hand sich kühlend wie ein Umschlag auf die Stirne
-legt. Hier spricht uns (nunmehr ganz in unserer deutschen Zunge) ein
-Mensch zu, der jede Weltangst von sich abtat und jetzt wie aus dem
-Jenseit mit einer süßen Geisterstimme tröstend auf uns einsingt. Was
-wollen wir Umgetriebenen und Gehetzten, die wir zu liegen kamen, wie
-wir uns selber betteten? Hier gibt es Rat für hunderterlei Notlagen
-und Notstände, die schließlich insgesamt verursacht sind durch jene
-harte Selbstentfremdung, in welche wir Europäer uns zeitweis oder
-dauernd zu verlieren pflegen. Auf Grund einer seelischen Erfahrenheit
-ohnegleichen wird hier in einem Sinn Seelsorge betrieben und geübt,
-wie ihn der Abendländer bisher nicht und nirgends geahnt hat: und
-Seelsorger ist denn dieser Buddho auch in einer nirgends sonstwo
-anzutreffenden Vollkommenheit. Als Seelsorger gehört er längst nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_31" id="Seite_31">[S. 31]</a></span>
-mehr seiner Rasse, seinem Festland, seiner Weltzeit (<i>buddhakalpa</i>)
-an; als Seelsorger gehört er der Menschheit schlechthin, gehört
-schlechthin ihm die Menschheit in ihrer zeitlosen Wesentlichkeit
-und Alleinschließlichkeit. Geschichtliche Wandlungen, welche seine
-Weisungen und Winke, wie man des Lebens Herr wird, außer Kraft hätte
-setzen können, gab es bisher nicht. Sie sind auch kaum ausdenkbar, und
-nicht einmal von kommenden Religionen Europas erwarte ich, daß sie
-dies tun werden. Unser eigenes religiöses Ziel könnte von demjenigen,
-welches sich der Buddho stellte, beliebig weit abweichen, ja es könnte
-ihm vielleicht geradezu entgegengerichtet sein, ohne daß dadurch die
-religiöse Allgemeingültigkeit dieser Seelsorgerschaft im mindesten
-nur beeinträchtigt oder geschmälert wäre. Wie ich persönlich mir
-diese religiöse Zielsetzung für ein späteres und besonnteres Europa
-vorstelle, habe ich (vorläufig noch freilich mit unzulänglichen
-religiösen Kräften) in den Mysterien der Gottlosen, Gestaltwandel der
-Götter, Sechste Betrachtung, darzulegen unternommen. Ebendort glaube
-ich wenigstens für unbefangene Leser (ich rede nicht von befangener
-Kritik) keinen Zweifel übriggelassen zu haben, daß diese europäische
-Zielsetzung einer mensch-göttlich zu vollbringenden Welt-Schöpfung
-der gotamidischen Zielsetzung zwar nicht geradewegs widerspricht, &mdash;
-denn Religionen widersprechen sich zuletzt noch nicht einmal dann,
-wenn sie anscheinend wie Nein und Ja zueinander stehen! &mdash; daß sie
-diese aber gleichsam in dynamischem, oder<span class="pagenum"><a name="Seite_32" id="Seite_32">[S. 32]</a></span> wie Platon vielleicht
-lieber sagen würde, in poietischem Betracht bei weitem noch übersteigt
-und übersteigert, übertrifft und überflügelt: ποίησις als
-Schöpfung, als Erschaffung buchstäblich genommen und verstanden. Dieses
-entscheidendsten und entschiedensten Unterschiedes beider Zielsetzungen
-jedoch unerachtet, könnte sich, ich wiederhole es, zu jenen drei
-ewigen Mysterien unserer europäisch gereiften Religiosität ohne die
-kleinste Gewaltsamkeit als viertes Mysterium der Buddho und seine
-Heilstat innig gesellen. Das gotamidische Mysterium der Seelsorge ist
-ein unvergängliches und immer wiederkehrendes, sogar dann erst recht,
-wenn es auf Europas Erde eines Tages mit einem zutiefst poietischen,
-zutiefst dionysischen Mysterium zusammen gefeiert werden sollte. Denn
-was uns auch in diesen entfesselten Zeitläuften zustoßen möge: die
-eine Hoffnung wollen wir Europäer uns doch heilig wahren, daß unser
-letzter Gott Dionysos nicht nur in dem Zwiegespräch mit Indiens Buddho,
-das diese kargen Blätter hier beschließt, das letzte Wort zu sprechen
-haben wird. Nur mit dieser Einschränkung bedeucht mich Nietzsches
-Ausspruch im Willen zur Macht ein zukunfterratender Wahrspruch, wonach
-„ein europäischer Buddhismus vielleicht nicht zu entbehren sein
-könnte.“ Niemals wird uns Europäern dieser Buddho der Herr sein, der er
-Millionen von Asiaten ist, wie uns denn auch der Christus selber längst
-nicht mehr Herr ist. Aber möglicherweis wird den Besten unter uns der
-Buddho wieder dazu verhelfen, daß sie sich selber<span class="pagenum"><a name="Seite_33" id="Seite_33">[S. 33]</a></span> wieder Herren nennen
-dürften, Herren des Diesseit und Herren des Jenseit und Herren all der
-bleichen Schrecknis, die uns zwischen beiden quält und ängstigt...</p>
-
-<p>Ist demnach zwar nicht eigentlich der europäische Buddhismus, den
-Nietzsche für unentbehrlich hält, wohl aber der europäische Buddho mit
-Neumanns Eindeutschung des Pâli-Kanons geschichtlich in Erscheinung
-getreten, so wolle der Leser dies Werk als einen ersten Versuch
-bewerten, die Tatsache des europäisch umgestalteten Buddho religiös
-zu bezeugen. Wofern es mir an allen unumgänglichen Kenntnissen und
-Fähigkeiten gebrach, etwa als Wissenschafter, Forscher, Gelehrter
-zu diesem Ereignis Stellung zu nehmen, konnte ich mich desto
-unbehinderter und unbelasteter als <i>homo religiosus</i> mit Neumanns
-Buddho auseinandersetzen. Vermutlich hätte dieses Buch darum eines
-Tages auch dann geschrieben werden müssen, wenn die Anregung dazu
-von seiten des Herrn Verlegers ausgeblieben wäre: zu aufrüttelnd
-waren die Eindrücke dieser Reden aus dem Pâli, um nicht auf eine
-(einstweilen) abschließende Verarbeitung zu drängen. Stellte ich mir
-aber meine Aufgabe wesentlich als <i>homo religiosus</i> und kaum als
-Philosoph, am wenigsten als Historiker, dann ergab sich zwingend für
-die Form des Buches, diese religiöse Absicht so rein und voll und
-stark wie irgend nur zum Ausdruck zu bringen. In keinem Augenblicke
-durfte der Leser die Vermutung hegen, es handle sich hier um eine
-Vermehrung der belehrenden Schriften über diesen<span class="pagenum"><a name="Seite_34" id="Seite_34">[S. 34]</a></span> Gegenstand, &mdash; und
-alles, was den Leser vielleicht zunächst befremdet, alles, was ihn
-vielleicht sogar abstößt, ergibt sich streng aus der Notwendigkeit,
-eine religiöse Absicht nicht mit wissenschaftlichen Mitteln zu
-verwirklichen. Ein der Form nach Neues galt es hier zu schaffen, für
-welches in unserm Schrifttum nicht so leicht ein Beispiel oder Muster
-zu entdecken war. Als dieses Neue aber schwebte mir, seltsam genug!
-sofort etwas Ähnliches vor wie eine sehr freizügige, sehr eigenmächtige
-Übertragung jener Statue vom Boro-Budur, welche diesem Buch gleichsam
-als προοίμιον vorangegeben ist, aus ihrer bildhaften in eine
-worthafte Erscheinung. Ein Tempelbildwerk gleichsam umzusetzen in
-ein Tempelschriftwerk mit den Mitteln meiner Sprache und dadurch die
-plastische Gestalt zu wandeln in eine pneumatische Gestalt: das war,
-soviel ich selber davon weiß und wissen kann, mein heiß angestrebtes
-Ziel, &mdash; Tag und Nacht sah ich wenigstens nur noch diesen thronenden
-Buddho vor dem innern Auge, &mdash; Tag und Nacht, wer wird dies recht
-verstehen? war ich nur noch dieser Buddho... Unwiderstehlich fand ich
-mich gezogen zu jenem hieratischen Stil, der zuletzt einer ist in allen
-höchsten Versinnbildlichungen des asiatischen Gestaltungwillens: einer
-in den Sprüchen Lao-Tses und den Reden Gotamos, einer in den Veden
-und Upanischaden, einer in den Psalmen des Alten Testaments und in
-den Suren des Korans, einer in den Götterbildern und Tempeln Indiens,
-Chinas oder Japans. Diesen Stil freilich nachahmen zu wollen,<span class="pagenum"><a name="Seite_35" id="Seite_35">[S. 35]</a></span> wäre von
-allen europäischen Abgeschmacktheiten so ziemlich die abgeschmackteste.
-Aber muß er sich schließlich nicht auch bei uns gesucht oder ungesucht
-einstellen in dem Maß, als wir wieder zu begreifen beginnen, was
-Religion ist? Fünf oder sechs Jahrhunderte haben dies immer gründlicher
-vergessen lassen, und das Ergebnis war die Zerbröckelung jeder großen
-Form im Leben noch mehr wie in der Kunst. Sobald indes Religion wieder
-in uns lebendig wird, &mdash; wie kann sie sich dann wohl anders ausdrücken
-als in der echten Sprache der Religion, die wir europäischen Ästheten
-abwegig und unzutreffend genug eben nur als ‚hieratischen Stil‘ zu
-bezeichnen wissen?...</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_37" id="Seite_37">[S. 37]</a></span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="DIE_ERSTE_UNTERWEISUNG">DIE ERSTE UNTERWEISUNG:<br />
-BUDDHO DER PROTESTANT</h2>
-
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_39" id="Seite_39">[S. 39]</a></span></p>
-
-<p class="initial">DAS HEILIGE JA LASST UNS BEKENNEN DAS HEILIGE JA ÜBER DIE AUF- UND
-NIEDERGÄNGE &mdash; DAS HEILIGE JA ÜBER GEBURT UND TOD, GESTIRN UND
-SCHICKSAL &mdash; DAS HEILIGE JA ERSCHAFFE DIESE WESEN UND ERHALTE SIE,
-DAMIT SIE IN DER FÜLLE STEHN WIE EINE HUNDERTBLÄTTERROSE IN IHRES
-MITTSOMMERS MITTAGGLÜCK - DAS HEILIGE JA ZERSCHMELZE DIESE WESEN IN
-SEINES EWIGEN FEUERS TIEGEL UND HÄRTE SIE DARIN, BIS SIE GEDIEHEN
-SIND, BIS SIE GEDIEGEN SIND &mdash; UND ALSO VERLÖSCHE DAS HEILIGE JA
-DIESE WESEN IN SEINES EWIGEN WASSERS BORN UND BRING IN IHM DIE WESEN
-WIEDER EWIGLICH &mdash; WILLKOMMEN DEM JA-SELBST ALLE WESEN UND WILLKOMMEN
-IHM GLEICHERMASSEN DIE GEGEN- UND WIDERWESEN ALLE &mdash; DIES IST DAS
-HEILIGE JAWORT UND FROHWORT UND DES FROHWORTES HEILIGE GRUSSSPENDE,
-ANDACHTSPENDE, OPFERSPENDE &mdash; DIES IST GELÄUTERTEN HERZENS ERSTGEBURT,
-DARGEBRACHT IM FESTWEIHTEMPEL DER WELT &mdash; WER DU AUCH BIST, O MENSCH,
-IN VIERTEN VIERTELS EDLER MONDSCHWELLUNG DEINER MENSCHLICHKEIT ODER IN
-IHRES DRITTEN, ZWEITEN, ERSTEN VIERTELS BEDAUERLICHER SCHWINDUNG:</p>
-<p class="center mbot2">&mdash; ICH WILL DIR WOHL &mdash;<br />
-DIES IST DIE ERSTE UNTERWEISUNG</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_40" id="Seite_40">[S. 40]</a></span></p>
-
-<div class="section">
-
-<p class="initial">Geschieden, ihr Christen, in die Getreuen und die Ungetreuen der
-allgemeinen und allein sälig machenden Kirche, dünkt uns Christen
-Protestantismus die Frömmigkeit derer, die abseit von der Kirche als
-Abseitige das Heil ihrer Seele gesucht haben und noch heute suchen,
-gefunden haben und noch heute finden. Unübersehbar aber an Zahl und
-Mannigfaltigkeit ist die Art der Protestanten, welche der Mutter-Kirche
-die Zugehörigkeit künden mußten, um sich selber zugehörig bleiben zu
-können; unübersehbar an Zahl und Mannigfaltigkeit sind die Arten des
-Protestantismus, weil fast ein jeder Protestant allein seine eigene
-und bevorzugte Art von Protestantismus als die echte und wahre gelten
-lässet. Ob freilich die Frömmigkeit des Einzelnen von Fall zu Fall
-innerhalb der sichtbaren und allgemeinen Kirche noch auszuharren
-vermochte oder sich außerhalb ihrer den selbst erwählten Stock- und
-Steinpfad bahnen mußte, &mdash; dieses hing häufig genug von mancherlei
-Zufälligem ab und durchaus nicht von einem Hang zum Protestantismus
-als solchem. Es konnte wohl geschehen und ist geschehen, daß sich im
-Geist und Gemüt des Christen eine Bewegung regte, die als Gegenbewegung
-beabsichtigt war zu einem augenblicklichen Zustand der Kirche und von
-der Kirche selbst im Braus der ersten Überraschung und Zornwallung
-als ketzerisch verfemt, als protestantisch verworfen ward: und
-dennoch nach einiger Frist von der Kirche großmütig zurückgenommen
-und ihrem Gesellschaftkörper einverleibt. Möglicherweis waren alle
-ernsten und ein<span class="pagenum"><a name="Seite_41" id="Seite_41">[S. 41]</a></span>greifenden Reformen der Kirche seit Cluny in Kern
-und Ursprung protestantisch, und nicht selten haben die unwägbarsten
-Kräfte der Zeiten und Persönlichkeiten darüber entschieden, ob dieser
-Protestantismus dazu kam, rückwirkend die gesamte Verfassung der Kirche
-zu beeinflussen, ja umzugestalten, oder ob er veranlaßt wurde, jenseit
-der Kirche eine unkirchliche Gemeinschaft zu gründen, eine unkirchliche
-Bruderschaft zu verkörpern, eine unkirchliche Kirche zu stiften. Wie
-hing es doch an einem schwachen Haar, daß dem heiligen Franziskus die
-Orden, so auf die Entsagung des Besitzes gegründet waren, gestattet
-oder verboten wurden. In unserm blonden Norden vollends versah der
-Meister Eckhart von Hochheim noch das weithin reichende und weithin
-wohl sogar gefürchtete Amt eines Provinzialen der Dominikaner, als
-seine Jünger und Jüngerinnen schon grausam verfolgt und hingerichtet
-wurden. Trotzdem sind in der Folge die Bettelorden zum Pfeiler und
-Eckstein der Kirche geworden, insonderheit in den eben herrlich
-aufblühenden Städten und städtischen Genossenschaften, und ihrer
-halbwegs ketzerischen Herkunft unerachtet haben sie der Kirche das
-tauglichste Mittel dargeboten, sich einer neuen Zeit und Gesellschaft
-anzupassen. Was allerdings unsere Mystik betrifft, ward sie als
-schleichende Gefahr der Kirche mit äußerstem Mißtrauen stets betrachtet
-und in gewissen Abständen immer wieder mit ketzergerichtlichen
-Maßnahmen geängstigt und betroffen. Gegen die Albigenser wurde der
-Kreuzzug nicht nur gepredigt, und<span class="pagenum"><a name="Seite_42" id="Seite_42">[S. 42]</a></span> die Kriege mit den Husiten stürzten
-das mittlere Festland aus einer lebensgefährlichen Krisis in die
-nächste. Schwankend und schwebend blieb darnach der Inbegriff des
-Protestantismus. Wer heute sich selber verdächtig schien, in seinem
-Herzen der Ketzerei zu frönen, der fand sich etwa morgen schon völlig
-wieder in einer erneuerten und wiedergeborenen Kirche. Wer aber heute
-noch seine strengste Rechtgläubigkeit mit jedem Eid beschworen hätte,
-dem konnte es zustoßen, daß er morgen den großen Bann als Urteil (und
-als Unheil!) furchtbar über sich verhängt fand, fortab geschieden in
-einem Atem vom Frieden Gottes wie der Menschen.</p>
-
-</div>
-
-<p>Die deutsche Reformation zusammen mit den anderen Reformationen des
-sechzehnten Jahrhunderts war es nachher, die endgültig den Typus,
-den ‚Schlag‘ des Protestanten wie einen Stempel prägte oder wie
-einen Holzstock schnitt. Sie schuf den neuen Christen, der weder
-in der allgemeinen und allein sälig machenden Kirche seinen Platz
-länger einnehmen konnte, noch dessen sich dieselbige Kirche durch
-eine Maßregel gewaltsamer Unterdrückung, gewaltsamer Bekehrung,
-gewaltsamer Vernichtung zu entledigen imstande war. Seither ist der
-christliche Protestantismus eine religiöse und gesellschaftliche
-Wirklichkeit, beliebt oder mißfällig, geduldet oder verworfen:
-eine Wirklichkeit wie die Kirche selbst und durch keine Acht oder
-Ausstoßung aus den Tafeln der Wirklichkeit zu tilgen. Erst bei
-einem Einzigen und Einzelnen, dann bei Wenigen, dann bei Vielen,
-versagte der<span class="pagenum"><a name="Seite_43" id="Seite_43">[S. 43]</a></span> unendliche Aufwand von Dogmen, Sakramenten, Liturgien,
-Messen, und ihre Frömmigkeit spottete der Wohltaten der Seelsorge
-und Seelpflege; &mdash; auf Grund dieses nämlichen Umstandes aber fanden
-sie sich zusammen zu einer neuen Gemeinschaft, zu einer neuen Kirche
-abseit der bisherigen, und sie genossen neuer, will sagen urältest
-wiedererneuter Heils- und Gnadenmittel auf neue Weise: wenn sie nicht,
-wie beispielweis die Quäker, diese Mittel insgesamt als Magie verwarfen
-und das gemeinschaftstiftende Ereignis in einer Art geselliger und
-gleichzeitiger Erleuchtung fanden. Einmal soweit, konnte sich diese
-vollzogene Abkehr von der allgemeinen und allein sälig machenden
-Kirche ohne Ende wieder vollziehen und hat sich dann, wer wüßte es
-nicht, in der Tat ohne Ende bis auf den heutigen Tag wieder und
-wieder vollzogen. Und wie man, ihr Christen, in französischer Sprache
-das Sprichwort gesprochen hat, daß man stets der Rückschreiter und
-Rückschritter irgend jemands, <i>toujours le réactionaire de quelqu’un</i>
-sei, so dürfte man dies Treffwort ins Deutsche übertragen: daß man
-stets der Einsprecher, Widersprecher und Verwahrer, kurz der Protestant
-irgend jemands sei. Denn wie es unveräußerliches Recht jeder religiös
-verpflichteten Gemeinschaft ist, sich als die allgemeine und allein
-sälig machende, ja als die allein rechtgläubige Kirche aufzurichten,
-bleibt es gleichermaßen Recht aller auf abweichende Art Frommer, sich
-als Protestanten davon freiwillig auszuschließen, nachdem sie durch
-ihre eigene Erfahrung, unwiderleglich für jedwede andere<span class="pagenum"><a name="Seite_44" id="Seite_44">[S. 44]</a></span> und fremde
-Erfahrung, inne geworden waren, daß sie inmitten jener Genossenschaft
-dauernd des Heils entbehren würden und derart durch die Tathandlung des
-Protestes den Protestantismus zu besiegeln sich gedrungen fühlten.</p>
-
-<p>So also verhält sich dieses. Protestantismus im Wortverstand unserer
-christlichen Abendländerschaft erweist sich herkömmlich zwar als
-der geschichtliche Gegenbegriff der Kirche, die sich vom
-καθόλου her benannt hat, &mdash; sinngemäß aber weiterhin auch als
-der geschichtliche Gegenbegriff jeder Vereinigung, Gemeinschaft,
-Verbrüderung solcher Frommen, die abseit der Kirche selbst eine Kirche
-zu bilden übereingekommen sind. Protestantismus ist darnach innerhalb
-des Christentums jeweils Protestantismus irgend wessen in bezug auf
-irgend wen, und wer sich von der rein verhältnismäßigen Bedeutung
-dieser Tatsache Protestantismus überzeugt hätte, dürfte sich weder
-Irriges noch Falsches angeeignet haben. Eingeengt und beschränkt wäre
-seine Auffassung von Protestantismus aber trotzdem, eingeengt und
-beschränkt durch den stieren Hinblick auf das Christentum allein und
-ausschließlich, ihr Christen: auf das Christentum, welches weder die
-ersten der großen Religionen dieses Festlandes in sich begriffen hat
-noch die letzten in sich begreifen wird. Vom Christentum gilt wohl
-der Sachverhalt, daß es als Kirche geschichtlich in Erscheinung trat,
-und so bleibt der christliche Protestantismus recht und schlecht
-gekennzeichnet, ja ausgezeichnet durch seine religiöse Kampfstellung
-gegen<span class="pagenum"><a name="Seite_45" id="Seite_45">[S. 45]</a></span> die Kirche sowohl wie gegen die Kirchen. Aber das Christentum,
-ihr Christen, ist nicht ewig! Oder wenn schon ewig, dann nur ewig in
-der Zeit, mit einem Anfang in der Zeit und einem Ende in der Zeit
-und zeitlos allein in einem Sinne, den keine Zeit jemals umfaßt. Was
-jedoch ewig ist nur in der Zeit, das bleibt eine Versuchung für die
-Zeit, Ewiges mit Zeitlichem je und je zu verwechseln und Merkmale des
-einen für die Wahrzeichen des andern irrig zu nehmen und zu geben.
-Hiergegen haben wir uns, wir Nicht-mehr-Christen oder vielleicht
-auch Noch-nicht-Christen, scharf zu entsinnen, daß es europäische
-Religionen von hohem Rang ohne kirchliche Kristallisationen gab, heute
-noch gibt und künftighin erst recht geben wird: finden wir nicht auch
-in ihnen etwas wie Protestantismus? Und wenn Ja, &mdash; worin bezeugt es
-sich als Protestantismus, wofern es als Protestantismus mangels einer
-vorhandenen Kirche auch nicht eine Kampfstellung zur Kirche einnehmen
-und in dieser Kampfstellung nicht mehr sein Kennzeichen und Merkmal
-finden kann? Da nennen wir die Religionen etwa des griechischen
-Altertums, griechischen Jugendtums, zahlreich und blühend wie die
-hellenischen Stadtstaaten einst und dennoch nie Staats-Religionen in
-einem späteren oder gar gegenwärtigen Wortverstande: unterschiedlich
-und gegensatzreich wie die griechischen Landschaften und dennoch
-großherzig einander gelten lassend und duldend. Diese vormaligen
-Religionen, haben sie sich nun dem Widersatz versagt von katholischer
-und protestan<span class="pagenum"><a name="Seite_46" id="Seite_46">[S. 46]</a></span>tischer Frömmigkeit, nur weil sie Zeit ihres wundervoll
-fließenden und flüssigen Lebens niemals zur Kirche und nicht einmal
-zu Kirchen vereist oder versteinert sind? Oder stoßen wir nicht just
-auch dort auf die Gestalten unleugbar prophetischen Wuchses und
-unleugbar protestantischer Gebärde, die ohne Vorbehalt, wer fühlte es
-nicht, wüßte es nicht, der Zahl der bahnbrechenden Protestanten aus
-europäischen Vergangenheiten zugezählt werden müssen? Zugestanden euch
-Christen, der protestantische Geist habe seine kantigste Ausschnitzung
-dort erfahren, wo er den furchtbaren Kampf des Ketzers wider eine
-hochmögende, herrische, unbeugsame Kirche zu führen hatte, von Stunde
-zu Stunde der Bannflüche, Folterkammern, Scheiterhaufen, Ölkessel,
-Schand- und Marterpfähle gewärtig, &mdash; wo also <i>ecclesia militans</i>
-innig im unverfälschten Sinn des Nazoräers Jesus zu handeln glaubte,
-wahrhaftig glaubte, ihr Gleichgültigen, Lauwarmen und Glaubenslosen!
-wenn sie zahlreiche Ketzervölker (wie einst jene arianischen Goten
-der Nachfahren des erlauchten Theoderich) von der langmütigen Erde
-tilgte und darüber hinaus das ergriffene Gedenken im Gedächtnis aller
-Folgezeiten löschte... Dies also schlankweg zugestanden, braucht doch
-Protestantismus noch lange nicht dort zu fehlen, wo die Kirche fehlt
-und kraft selbstgesetzter Autorität über statthafte oder unstatthafte
-Auslegungen der Glaubenslehre befindet. Schließlich geschieht ja der
-Protest gegen die Kirche nicht ihres Kirch-Seins halber, nicht ihres
-Kirch-Seins an und für sich: vielmehr weil diese<span class="pagenum"><a name="Seite_47" id="Seite_47">[S. 47]</a></span> Kirchlichkeit eine
-Religion vertritt, die dem Geist anderer Religion widerläufig ist.
-Verwerfung der Kirche aus den Antrieben einer Frömmigkeit heraus,
-die innerhalb der Kirche nicht gestillt wird, ist das Wahrzeichen
-des christlichen Protestantismus gewesen, &mdash; nicht aber ist sie
-Wahrzeichen des Protestantismus schlechthin. Dieser Protestantismus
-schlechthin hört aber mit nichten auf, Protestantismus zu sein, wenn
-er eine Religion oder vielleicht eher noch eine Religiosität verwirft,
-die aus inneren oder aus äußeren, aus sachlichen oder aus zufälligen
-Gründen zur Kirche nicht ausgeformt ist. In dieser Bezugnahme nun,
-wir sehen das und greifen es mit Händen, gärt im Griechenland des
-sechsten und fast mehr noch des fünften Jahrhunderts ein Wirbel von
-leidenschaftlichster Gewalt, dessen Protestantismus gar nicht in Frage
-gestellt werden kann. Es gärt hier ein Wirbel, durchaus vergleichbar
-dem anderen, der zwei oder drei Jahrhunderte früher Israel jene
-Gottesmänner, Gottesknechte (<i>nêbiim</i>) gebar, in welchen sich seine
-Frömmigkeit am edelsten verkörpert zeigt. Für uns besteht die hohe
-Schwierigkeit nur darin, zu erkennen, wogegen diese hellenischen
-Protestanten eigentlich ihren Protest erhoben, gegen wen oder gegen
-was, da es in Griechenland weder eine allgemeine und allein sälig
-machende Kirche religiös zu überwinden gab, noch Priesterschaften
-oder Gemeinden der Baalim Syriens und Phöniziens. Herakleitos und die
-Eleaten, die Orphiker und die Tragöden sind Protestanten gewesen. Sie
-alle haben auf ihre Weise wider ein<span class="pagenum"><a name="Seite_48" id="Seite_48">[S. 48]</a></span> Fromm-Sein Verwahrung ausdrücklich
-und heftig eingelegt, welches aus guten Gründen nicht länger mehr ihr
-Fromm-Sein bleiben konnte. Nur daß diese guten Gründe heutzutag nicht
-leicht zu ergründen sind, nachdem sich seither so viel Wassers über
-diesen Gründen sammelte und über ihnen stand und sie zu braunen Sümpfen
-dickte...</p>
-
-<p>Von außen gesehen, das versteht sich ja von selber, war es die Religion
-Homers, die der Frömmigkeit jener Zeitläufte widerstrebte, und eben
-dieser Tatbestand hat Propheten so weltverschiedener Artung wie
-Herakleitos, Xenophanes, Aischylos wenigstens in der Geste der Abwehr
-durchaus geeinigt. In der Geste der Abwehr sage ich, sicherlich! Aber
-darum nicht auch schon in den bestimmenden Beweggründen, die ganz ohne
-Frage bei den verschiedenen dieser ragenden Protestanten bei weitem
-verschieden waren. Wenn der marsrotglutende Leuchtturm über die Meere
-Asiens und Europens, Heraklit, die Götter Homers in seiner dunkeln
-Flamme verbrannt hat wie ein Leuchtturm halt nächtlich flatterndes
-Gefalter, nächtlich schwirrendes Gevögel zu verbrennen pflegt, so
-geschah dies aus anderen Notwendigkeiten und aus anderen Nöten, als
-wenn der Kolophonier Xenophanes, kein Leuchtturm, aber ein Erleuchter,
-Fackelvoranträger und Aufklärer, Homers menschhafte Vielgestalten zur
-Kugel-Einheit unpersönlich zusammenballte und ‚mit dem All‘ verwachsen
-ließ. Und wiederum: wenn die ältesten der Tragöden von Eleusis nach
-ihrer Art Homerzerstampfer und -zertrümmerer<span class="pagenum"><a name="Seite_49" id="Seite_49">[S. 49]</a></span> waren wie nur je einer
-der Weisheitkünder zu Ephesos, Milet, Elea, so mögen sie vielleicht
-den Philosophen dabei noch mindere Beachtung geschenkt haben als die
-Philosophen ihnen. Orphisch gestimmt durch und durch, und das will
-fast schon sagen buddhistisch gestimmt und im Leiden des Gottes, im
-Leiden des Menschen selbst schon etwas wie ‚des Leidens Überwindung
-und Verlöschung‘ erfühlend und den Weg ertastend zu ‚des Leidens
-Aufhebung‘, brauchen diese ältesten Tragöden darum noch lange keine
-Orphiker gewesen zu sein. Hier bleibt vermutlich das Wichtigste für
-immer Geheimnis und mag für immer Geheimnis, wohl versiegeltes, bleiben
-&mdash; (und vielleicht nicht ohne tiefere Bedeutung für Verständige und
-Verstehende hieß dereinst in den kalifischen Reichen das Haupt aller
-staatlichen Geschäfte von Amts wegen ‚Verwahrer des Siegels‘)... So
-hat das eigentliche und persönlichste Warum seines Protestantismus
-jeder dieser Protestanten verschwiegen mit in sein Grab genommen samt
-allem übrigen, was nur an ihm persönlich, was nur sterblich an ihm war.
-Aber darüber hinaus getraue ich mir doch zwei unsterbliche Motive zu
-erraten, die für sie von ausschlaggebenden Gewichten gewesen sind. Sie
-alle, die Philosophen und die Mysten, die Tragöden und Propheten, litt
-es unter dem honighellen Himmel Homers nicht länger aus einem Grund
-unter den zweien: entweder weil ihnen diese Götter allzu menschlich
-waren und darum schon nicht mehr Gott genug, um menschlich-welthafte
-Geschicke<span class="pagenum"><a name="Seite_50" id="Seite_50">[S. 50]</a></span> kundig und weise, gütig und göttlich zu lenken, &mdash; oder
-umgekehrt, weil diese Götter ihnen in anderem Betracht nicht menschlich
-genug erschienen, um menschlich zu leisten und vollbringen, was der
-Mensch von sich selber fordert und von sich selber heischt, wenn
-er seine eigene Vergöttlichung mit Ernst betreibt und mit Ausdauer
-fördert. Entweder allzu menschlich oder nicht menschlich genug, ihr
-Christen, deuchte jenen gewaltigen Heiden der Gott, und eins von beiden
-machte die Tragöden und die Philosophen, die Propheten und die Mysten
-von damals zu den Protestanten von damals. Und dieser Protestantismus,
-er wiegt und wuchtet, gewogen in der freien Hand, goldschwer genug,
-um auf der Wage unserer morgigen Weisheit noch einmal nachgewogen zu
-werden. Nachgewogen von den Morgigen unter uns, die sich Schwer-Nehmen
-zur Pflicht der Stunde gemacht haben, nachdem wir zu leicht, zu leicht
-befunden, vom ersten Windstoß weithin entrafft und verschlagen wurden,
-&mdash; wer weiß, in welche brennenden Durst- und Glutwüsten Sahara, Schamo,
-Estakado hinein oder gar in den Feuersee Kilauea, wo unsere Seelen etwa
-dann gefegt werden...</p>
-
-<p>Der Gott also schon allzu menschlich, allzu unheilig, allzu wenig
-Gott: dies ist die große Verwahrung solcher, deren Frömmigkeit
-Anstoß nimmt an der erstmals durch Homer vollendeten Vermenschung,
-Verpersönlichung, Vergestaltung der Götter, und aus diesem nicht
-widerleglichen Fühlen heraus alles (und<span class="pagenum"><a name="Seite_51" id="Seite_51">[S. 51]</a></span> sich selber zuerst!) daran
-setzt, in der Folge jegliche Anthropomorphik und Anthropopathik Gottes
-wenigstens im Gedanken abzustreifen und als die alte Haut Gottes an
-der Straße faulen zu lassen. Dies ist die Verwahrung solcher, denen
-unter den Händen die Religion als Religion Philosophie geworden ist
-und der Gott, entmenschlicht, entpersönlicht und entstaltet, mit dem
-Wesen der Welt in eins fließt, &mdash; mit dem Wesen der Welt, mit dem
-Geist der Welt, mit der Unendlichkeit der Welt, mit der Seele der
-Welt, mit dem Atem der Welt, mit dem Ursein der Welt, mit dem Kern
-der Welt. Wenn vormals die Göttin der Liebe und Schönheit homerisch
-gestaltet und plastisch gegliedert dem Samen-Schaum des Weltmeers
-enttauchte, so taucht jetzt der homerisch gestaltete, plastisch
-gegliederte Götter- und Menschenvater Zeus als pherekydeischer ‚Zas‘
-in die flutenden Wirbel der Schöpfung namenlos zurück. Menschhaft
-geformt und geworden aus dem mystisch geahnten Element, entformt
-sich und entwird der menschlich gebildete Gott von neuem zum nunmehr
-freilich gnostisch erfaßten Element, zum Pan und Henkaipan: eine
-überall verbreitete und gleichsam ewige Spielart des Protestantismus,
-auf die wir bei allen höheren, will sagen bei allen philosophierenden
-Völkern stoßen, wo eines Tages die alternde Theologie durch die
-erneuernde Kosmognosie von mehr oder weniger wissenschaftlicher
-Haltung verdrängt wird und wo in feierlicher Wandlung der Theos
-zum Kosmos sich verjüngt. Der Gott ist Welt und strahlt welthaft
-in des Äthers<span class="pagenum"><a name="Seite_52" id="Seite_52">[S. 52]</a></span> Strahlen, so spricht und kündet der Protestantismus
-dieser philosophischen Protestanten, den menschheitlichen Gott als
-unzulänglich vor Geist und Erkenntnis verdächtigend und bald sogar
-nicht einmal dem Nichtwissen mehr verzeihend. Wohingegen derselbe
-und nämliche Gott, der diesen Weisheitfreunden und Wissenseiferern
-allzu menschenähnlich und menschengebrechlich, allzu menschenwinzig
-und menschenwitzig ein Ärgernis ward, den anderen noch lang nicht
-genug menschartig erscheint, wofern er als Gott zwar genug und
-übergenug von menschlicher Schwachheit befallen, von menschlicher
-Torheit ergriffen, von menschlicher Lasterhaftigkeit besudelt, von
-menschlicher Leidenschaft getummelt ward: dennoch aber der Menschheit
-in jenem anspruchvollsten Sinn ermangelt, als er die Heilung von
-diesen Übeln und die Wiederherstellung von diesen Mißschaffenheiten
-von sich aus nicht zu bewirken versteht. Möglich, daß der Gott diese
-Heilung und Wiederherstellung vormals bewirkt hat, &mdash; denn wozu hätte
-er selber sonst getaugt in einer Wirklichkeit, wo auch die Götter
-noch zu etwas taugen müssen, um sich vor den Menschen auszuweisen.
-Seither jedoch ist Unsägliches, Welterschütterndes, Verhängniswaltendes
-geschehen. Der Gott hat sich der Sünde hingegeben oder ist sonstwie
-von seiner Götterhöhe hinabgeglitten, unmerklich erst, dann schneller
-und jäher stürzend. Oder was möglicherweis dasselbe ist, der Mensch
-hat seinerzeit den Gott im Ablauf seiner eigenen Reifwerdung
-eingeholt und überstiegen, end<span class="pagenum"><a name="Seite_53" id="Seite_53">[S. 53]</a></span>lich in sich selbst die Fähigkeit zur
-Selbstvergöttlichung gewahrend; &mdash; wie denn die einen Wesenheiten
-hienieden aufwärts steigen, wenn die andern Wesenheiten fallen, die
-einen aber fallen, wenn die andern aufwärts steigen: ein jegliches
-nach eigenem Antrieb und Gesetz, wie Feuer aufwärts wirbelt und Wasser
-abwärts rinnt, ein jegliches nach seinem Ort, den es sich suchet...
-Kurz und gut also, der Gott Homers war wohl sehr menschlich, aber
-konnte das Urgeheimnis aller Menschheit nicht erraten, daß nämlich der
-Mensch selber göttlich zu werden trachte nach Wille und Bestimmung,
-Wunsch und Wahl. Der Lüfter dieses Urgeheimnisses geworden und damit
-aus dem Diener der Vollstrecker Gottes geworden, blieb dem Menschen
-nichts übrig, als den Gott von vorhin zur Abdankung zu zwingen und
-seine Entthronung zu verfügen, &mdash; und wahrlich! es geschah dies
-schweren Herzens und mit zitternden Knien! Das griechische Sinnbild
-aber dieses Protestantismus (es ward euch Christen seither geschildert
-und dargelegt, erläutert und gewiesen im Buch vom Gestaltwandel der
-Götter), das griechische Sinnbild richtete der Tragöde Aischylos auf in
-seinen Eumeniden, woselbst die Pflicht der Sühne und Wiederheiligung
-nach geschehenem Blutfrevel, ehemals eine der göttlichsten Pflichten
-von allen, dem Sühngott Apollon abgenommen und in festlicher
-Einsetzung dem Richtergewissen attischer Bürger auf dem Hügel des
-Ares anvertraut wurde. Hier entkleidet der protestantische Tragöde
-den Gott auf offener Szene<span class="pagenum"><a name="Seite_54" id="Seite_54">[S. 54]</a></span> gleichsam seines Kaiserpurpurmantels und
-legt ihn schwer um menschliche Schultern; hier salbt und krönt der
-Mensch den Menschen in unsterblicher Zeremonie zum Statthalter und
-Stellvertreter, zum Sachwalter und Treuhänder Gottes. Was Phoibos
-Apollon dereinst hinsichtlich der Erinnyen vollzogen, das vollzieht der
-tragische Prophet hinsichtlich Apollons. Als jüngerer, als jüngster
-Gott tritt er die Erbfolge, Nachfolge, Tatfolge des älteren Gottes
-an und schließt dadurch die vielen Götterstürze aufgewühltester
-Jahrhunderte mit einem letzten Göttersturze ab. Der Protestantismus
-der Philosophen hat den Fortgang wachsender Vermenschung des Gottes
-unterbrochen und zum Fortgang wachsender Entmenschung mit mehr und
-mehr Entschiedenheit gewendet. Der Protestantismus der Tragöden führt
-die homerische Vermenschung Gottes in freilich stark unhomerischem,
-ja widerhomerischem Geiste völlig zu Ende, nun den Gott erst recht
-vermenschlichend: der Gott fortab nicht mehr der nur ein wenig
-mächtigere, ein wenig dauerhaftere, ein wenig heiligere Mensch,
-vielmehr umgekehrt der Mensch ein zwar schicksalunterworfener und
-schuldbetroffener, aber auch schuldsühnender und schicksalüberwindender
-tragischer Halbgott, dionysischer Gott...</p>
-
-<p>Ein doppelter und doppelsinniger Protestantismus ist es, den der Kampf
-wider Homer auf der hellenischen Erde zeitigt. Ein Protestantismus
-erstens, der die gleichsam ‚geistige‘ Leistung des Gottes, den Geist,
-den Sinn, das Sein der Welt in sich zu sammeln und<span class="pagenum"><a name="Seite_55" id="Seite_55">[S. 55]</a></span> darzustellen,
-auf die Welt selber übergehen läßt und darnach diesen Welt-Gott
-vorzugweis als den allgemeinen Erkenntnis- und Erklärunggrund der
-einzelnen Welt-Erscheinungen aufgefaßt wissen will, &mdash; in des Wortes
-Buchstäblichkeit wirklich ‚wissen‘ will. Ein Protestantismus zweitens,
-der die gleichsam ‚tathafte‘ Leistung des Gottes, nämlich dem Menschen
-Heil und Heiligung, Tröstung und Rettung, Wiederherstellung und
-Erlösung zu erwecken, allmählich auf den Menschen selber überträgt, im
-Gott künftig höchstens noch den Vorläufer, Wegbahner, Vortäter ehrend,
-der aber im Gang der Zeiten vom Menschen in allen Stücken zunehmender
-Seelenreifung eingeholt, ja überholt wird. In geschichtlichem
-Betracht ist jener erste Protestantismus mit immer bestimmterer
-Eindeutigkeit die Sache reiner Erkenntnis, reiner Wissenschaft, reiner
-Wahrheitforschung geworden, welche dann nach und nach die Religion in
-Philosophie, in Scholastik, in Kritik umgesetzt hat, den Mythos aber
-in Metaphysik, in Kosmologie, ja in Physik und alles, was dem heutigen
-Europäer mit Physik zusammenhängt. Und dies wiederum mußte notgedrungen
-dazu führen, daß diese Sorte Protestantismus in den Wandlungen der
-eigentlichen Religionen die vormals ausschlaggebende Bedeutsamkeit in
-dem Maße einbüßte, als er selber sich in Philosophie und Metaphysik,
-in Scholastik und Kosmologie, in Kritik und Physik verlor; &mdash; wie
-denn vor allem er es war, der jene verhängnisvolle Spaltung von
-Religion und Wissenschaft hauptsächlich mitverursachte, welche die
-ehemals unteilbaren und ganzen<span class="pagenum"><a name="Seite_56" id="Seite_56">[S. 56]</a></span> Seelenkräfte des Abendländers in so
-viel zusammenhanglose Teile elend zerstückt und zerstückelt hat...
-Der Protestantismus zweiter Prägung hingegen ist der gewaltige
-Antrieb geblieben in all den religiösen Gegenbewegungen, die sich
-als Religionen der Selbstführung, Selbstheiligung, Selbstvergottung
-den ‚katholischen‘ Religionen der Fremdführung, Fremdheiligung,
-Fremdvergottung mehr oder weniger siegreich widersetzen; &mdash; in ewigem
-Widerstreit und Widerspiel zu ihnen scheint er die Kraft zu sein,
-welche die große Wirklichkeit europäischer <i>religio</i> überhaupt erst
-eigentlich in Schwung und Umschwung bringt. Derselbe Protestantismus
-ist es denn auch, der in den reformatorischen Versuchen unseres
-christlichen Mittelalters die Kirche an allen Ecken und Enden des
-Festlandes mit unter den nämlichen Forderungen bekämpft, die man in
-ihrer geheimsten Bedeutung erst verstanden hat, wenn man diese Absicht
-auf Selbstführung, Selbstheiligung, Selbstvergottung verstanden hat.
-Der Priester soll hier künftig nicht mehr des Kelchs allein genießen,
-sondern auch der Laie soll des Kelchs genießen, &mdash; das will besagen,
-daß jeder Christ ausnahmlos des magisch-sakramentalen Mittels der
-Vergottung ohne Abzug, ohne Minderung teilhaftig werden will. Der
-Priester soll hinfort nicht mehr die Ohrenbeichte entgegennehmen
-dürfen, sondern der Laie soll seine läßlichen und tödlichen Sünden
-seinem Herr-Gott selber beichten, &mdash; das will besagen, daß sich
-jeder Christ ausnahmlos die Kraft der Lossprechung und Entsündigung,
-der Sühne und der<span class="pagenum"><a name="Seite_57" id="Seite_57">[S. 57]</a></span> Buße selber vorbehalten weiß. Der Priester
-soll fürder nicht die Entscheidung treffen dürfen, was da in
-Glaubensangelegenheiten statthaft und verwehrt, was sinngemäß oder
-verkehrt sei, &mdash; das will besagen, daß die Vernunft jedes Christen
-ausnahmlos erleuchtet genug, daß sein Gewissen geschärft genug sei,
-um das für ihn gültige Urteil über die Lehre selbst zu fällen. Und
-wenn der Priester, wenn die Kirche ihre grenzenlose Macht über
-den mittelalterlichen Menschen ausschließlich dadurch erlangt und
-erhalten hatten, daß sie sich die alleinige Sachwalterschaft über die
-Gnadenmittel anmaßten und mit der Verweigerung dieser jeden einzelnen
-Christen außerhalb der christlichen Gemeinschaft stellten als einen
-nicht nur gesellschaftlich, sondern auch religiös Friedlosen und
-Geächteten, so trifft der folgerichtige Protestantismus diese Macht
-zu Tode, wenn er zuletzt die Gnadenmittel selbst verwirft. Nicht
-durch Brot und Wein vergöttlicht sich nach seiner Auffassung der
-Mensch, vielmehr er ist vergöttlicht vor Urbeginn der Zeiten durch
-die Auswahl Gottes, oder er ist’s nicht. Ausgewählt aber ist zuletzt
-jeder, der ausgewählt sein will: ausgewählt ist jeder, der sein Leben
-als ein Auserwählter selbst zu führen, selbst zu gestalten, selbst zu
-verantworten fähig ist. Der von Gott Erwählte erweist sich dieser Art
-ganz wesentlich als der von sich selbst Erwählte. Unerschütterlich
-bemüht, in allen Dingen des Wandels dem Urbild des Begnadeten gerecht
-zu werden, bestätigt er sich als der Begnadete. Augenscheinlich also
-in Kern und<span class="pagenum"><a name="Seite_58" id="Seite_58">[S. 58]</a></span> Wesen der Persönlichkeit bis zu einem schauerlichen
-Grade von Gott abhängig, von Gott erlesen oder von Gott verworfen und
-jedenfalls nur Gottes totes Werkzeug, verlegt in Wahrheit doch eben der
-kalvinistische, der independentistische, der puritanische Protestant
-die letzte Entscheidung über sich selbst durchaus in sich selbst: er
-selber hat es ja in der Hand, sich als Erlesener oder Verworfener zu
-bezeugen durch die Art, wie er sein Leben führt und meistert. Wer da
-der Herr seines Lebens ist, wie ein steingemeißelt Standbild auf sich
-selber fußend und für sich selber wesend, niemandem untertänig als der
-Pflicht schlechthin, als Auserwählter, als Begnadeter, als Erlesener
-sich zu bewähren, der ist wahrhaftig auserwählt, der ist begnadet, der
-ist erlesen...</p>
-
-<p>Aus diesem Sachverhalt heraus wage ich Protestantismus ganz allgemein
-die grundsätzliche Überzeugung zu nennen, wonach die religiöse Tat der
-Welt- und Seelenrettung dem Menschen selbst, dem diesseitigen in Zeit
-und Raum, obliege. Und dementsprechend heiße ich Katholizismus jede
-Zuversicht und jeden Glauben, wonach die religiöse Tat von Gott und
-Göttern, weltherrschenden und heilfördernden, vollbracht wird: dann
-aber von ihnen her dem Menschen magisch, liturgisch, sakramental auf
-Gnadenwegen übermittelt wird, genau wie dem Kommunikanten die Tat des
-Gott-Opfers in der Gestalt der Hostie als Speise zubereitet dargereicht
-und gespendet wird... Katholizismus also finden wir allerwärts, wo das
-ewige Mysterium der Heilstat in Himmeln<span class="pagenum"><a name="Seite_59" id="Seite_59">[S. 59]</a></span> und Überhimmeln weltrettendes
-Ereignis wird; Protestantismus finden wir imgleichen allerwärts, wo
-dasselbe Mysterium diesseit der Himmel inwendig in uns gefeiert wird,
-diesseit der Himmel und inwendig in mir, diesseit der Himmel und
-inwendig in dir, o Christ! Um einerlei Ding handelt sich’s darum beim
-Protestantismus unserer europäischen Wirklichkeit bei allen Völkern
-und zu allen Zeiten. Einerlei Ding ist zuletzt gemeint und einerlei
-Ding ist es bei Heiden und bei Christen, wenn der Prophet Aischylos
-die Sühne für Blutfrevel weder durch fletschende Erinnyen bewirkt
-werden läßt noch durch Apollon Phoibos, und solchermaßen die üblichen
-Sakramente der Wiederherstellung als unnütz kraft eigener Entscheidung
-kurzerhand verwirft; &mdash; und wenn Bruder Martinus in wütender
-Herzensqual die vollkommene Unwirksamkeit aller Gnadenmittel der Kirche
-an seiner sündigen Seele erfährt. Einerlei Sache ist gemeint bei Heiden
-und Christen, ob Aischylos einen attischen Areiopagos sinnbildlich
-einsetzt als Gewissens-Gericht, oder ob Luther das evangelische Urwort
-von der Sinnesänderung innig begrüßt als das Loswort von seinen Ängsten
-und Wirbeln. Es ist dies einerlei Ding, einerlei Sache, einerlei Sinn
-gewesen, für welches freilich der dröhnende Glockenmund des attischen
-Tragöden zuletzt so wenig das zutreffende Wort zu erstammeln wußte wie
-die erzschmelzende Flammenzunge des erfurter Doktors...</p>
-
-<p>Nach dieser Ausweitung und Vertiefung des Sachverhaltes
-‚Protestantisch‘ ziemt uns ein Blick zurück<span class="pagenum"><a name="Seite_60" id="Seite_60">[S. 60]</a></span> auf die Ursprünge des
-Christentums, ihr Christen. Was nämlich diese Ursprünge anbetrifft,
-so kann uns der vielleicht doch nicht erwartete Umstand nicht länger
-entgehen, daß sie selbst unleugbar protestantischer Beschaffenheit
-sind. Ein neuer Gott ist es, im Kampf mit sämtlichen alten Göttern,
-der hier die Tat der Welt- und Seelenrettung auf sich nimmt. Ein neuer
-Gott, im Kampf mit sämtlichen alten Göttern, sag’ ich, nimmt die
-Tat auf sich: aber doch nur dadurch, daß er in menschlicher Person
-erscheint und das Menschliche mit seinen Bitternissen menschlich
-teilt. Der Held des Christentums &mdash; und das ist keineswegs sein
-Stifter! &mdash; ist Gott und wird Mensch, weil er einzig in seiner
-Eigenschaft Mensch zu vollenden vermag, was Jahve-Hypsistos der
-Unmenschliche unter keinen Umständen zu vollenden fähig ist. Möget
-daher ihr Christen Ursprung und Herkunft des Christentums ansetzen,
-wie es euch zweckmäßig oder wie es euch richtig zu sein dünkt, &mdash;
-diese Grund-Tatsache liegt allem zugrunde, was immer auch später
-auf sie errichtet und getürmt sei. Der Gott mußte Mensch werden, um
-den Menschen fortan noch Gott zu sein; der Gott mußte des Menschen
-Kreuz auf seine Schulter bürden, damit der Mensch den Heiland bei
-sich glauben könnte: <i>Deum de deo, lumen de lumine, deum verum de deo
-vero, genitum non factum, consubstantialem Patri: per quem omnia facta
-sunt. Qui propter nos homines et propter nostram salutem descendit
-de coelo. Et incarnatus est de Spiritu sancto ex Maria virgine: Et<span class="pagenum"><a name="Seite_61" id="Seite_61">[S. 61]</a></span>
-homo factus est...</i> Dies war von allen Götterstürzen der Jahrtausende
-der weithin schmetterndste und abgründlichste. Nicht daß Jesus der
-Mensch in den Olympos eingedrungen ist, wo Zeus der hochbetagte und
-längst nicht mehr hochdonnernde Vater Kronion wachträumend schon
-eine lange Weile auf seinem Hochsitz eingedämmert war (wie Greise
-vor Tisch oder nachher ein wenig einzunicken pflegen), und wo Psyche
-fürbittend und vermittelnd die Hand des Eindringlings voll Demut
-greift, indes die anderen Olympier wie ein aufgestöbertes Volk Ameisen
-wild durcheinanderwirren, &mdash; dieses wahrhaftig nicht! Vielmehr daß
-dieser ‚vom heiligen Geist aus der Jungfrau Maria fleischgewordene‘
-Gott und Nicht-mehr-Gott, menschlich aus der Sphäre seiner Gottheit
-herausgetreten, nun auch den alten Jahve-Hypsistos, bisherigen
-Schöpfer- und Herrschergott schlechthin, aus dem Bewußtseinsraum
-eines gleichsam neu belichteten Menschheitgewissens unwiderstehlich
-verdrängte. Das war die große Tatsache der neuen Religion, die
-bahnbrach; und Gnostiker, paulinische Urchristen, Marcioniten, Arianer
-haben dies auf ihre verschiedene Weise alle mit Bestimmtheit begriffen,
-ehe die Kirche die klare Wahrheit dogmatisch beschattete und von allen
-ketzerischen Abweichungen die am grausamsten unterdrückte, welche in
-Jesus dem Gott-Menschen wesentlich den Menschen und nur diesen sah.
-Damit aber war schließlich das Merkwürdige geschehen, daß in eben
-dieser Kirche weder der Katholizismus noch der Protestantismus religiös
-zum völlig reinen<span class="pagenum"><a name="Seite_62" id="Seite_62">[S. 62]</a></span> Austrag gelangen konnte. Auch die Kirche, die sich
-die allgemeine nannte und ‚in diesem Zeichen‘ siegte, mußte in ihr
-Credo das christliche Urerlebnis aufnehmen: <i>Et homo facius est</i>.
-Auch die Kirche konnte den heimlichen Protestantismus, der in diesem
-<i>Credo</i> wie in verbotener Schwangerschaft keimte, höchstens in seinem
-Wachstum hemmen, aber nicht töten, &mdash; sie hätte denn mit dem Kind
-die Mutter selbst getötet. Gott ist Mensch geworden, um den Menschen
-göttlich zu erlösen; das Wort ist Fleisch geworden, um das Fleisch zu
-kreuzigen und im Wort zu geistigen: dies bleibt in allem Katholizismus
-der Kirche ein protestantischer Rest- und Rückstand von unzerstörbarer
-Keimkraft und Gärkraft in allen Jahrtausenden. Und wiederum mußte
-sich dieser selbe Protestantismus umgekehrt in seinem eigenen Dogma
-mit dem ‚katholischen‘ Artikel vom Schöpfer Himmels und der Erden und
-vom Vater des Erlösers und Herrn durch alle Zeiten hindurchschleppen,
-stets unter dem Zwang, diesen Katholizismus grundsätzlich nicht
-leugnen zu dürfen oder nicht leugnen zu können, vielmehr als ‚Christ
-überhaupt‘ ausdrücklich anerkennen, ja billigen zu müssen: <i>Credo
-in patrem omnipotentem, factorem coeli et terrae, visibilium omnium
-et invisibilium ...</i> In der Lehre vom dreieinigen Gott hat mithin
-die Kirche die glückliche Formel gefunden, welche Katholizismus und
-Protestantismus als die gegenwirkenden Potenzen jeglicher Religion,
-nicht nur der christlichen allein, in einem stätigen Gleichgewicht zu
-erhalten ermöglichte. Im Besitz dieser dogmatischen<span class="pagenum"><a name="Seite_63" id="Seite_63">[S. 63]</a></span> Lehre ist seither
-die katholische Kirche in Wahrheit nicht minder protestantisch wie
-katholisch, sind seither die protestantischen Kirchen und Sekten in
-Wahrheit nicht minder katholisch wie protestantisch. Mit ungeheuerer
-Kunst hat das christliche Glaubensbekenntnis bis zur Stunde die
-zwei unversöhnlichen Ur- und Widerkräfte des religiösen Lebens zu
-binden verstanden, also daß keine noch so eigensinnig protestantische
-Verwahrung den katholisch-judäischen Weltengott Jahve-Hypsistos dem
-christlichen Bewußtsein hat entfremden, hat entwenden können, &mdash; wie
-auf der anderen Seite keine noch so katholische Wiederherstellung des
-echten und wahren Glaubens den protestantisch-judäischen Gottmenschen
-Jesus preiszugeben oder zu opfern gewagt hat.</p>
-
-<p>Wie nun, ihr Christen?</p>
-
-<p>Bei uns westlichen Menschen ist es die Kirche gewesen, welche die
-Religion des fleischgewordenen Wortes als Mythos, als Dogma, als
-Liturgie zur Herrschaft gebracht hat, durch eben diese Tat einer
-gleichsam vorbeugenden Klugheit, die etwa doch schon als vorbeugende
-Weisheit verehrt, als vorbeugende Weisheit gepriesen zu werden
-verdiente. Die Kirche ist damit jeder einseitigen Entscheidung
-über eine ausschließliche Katholizität oder eine ausschließliche
-Protestantik frühzeitig zuvorgekommen, möchte dies nun zum Segen
-oder zum Unsegen westlicher Menschheit ausgeschlagen sein. Dieses
-in seiner unendlichen Fruchtbarkeit bedenkend und erwägend, wollen
-wir indes nicht übersehen, daß die von der Kirche<span class="pagenum"><a name="Seite_64" id="Seite_64">[S. 64]</a></span> gewissermaßen
-synkretistisch vollbrachte Lösung des drohenden Zwiespaltes &mdash; wenn
-diese Lösung nicht doch schon eine synthetische gewesen ist? &mdash;
-keineswegs christlicher Abstammung oder Erfindung gewesen ist, nicht
-einmal hellenischer oder hellenistischer, ja nicht einmal europäischer.
-Was der Kirche des Abendlandes und in tiefstem Einverständnis mit ihr
-den abendländischen Kirchen und sogar Sekten möglich ward, das ist
-schon viele Jahrhunderte vor dem entstehenden Christentum und seinen
-Urgemeinden daheim und in der Zerstreuung in Indien eine herrliche
-Wirklichkeit gewesen. Der indische Mythos vom Gottmenschen Krischna
-hat das nie mehr übertroffene, nie mehr erreichte Sinnbild vollendeter
-Durchdringung und Verschmelzung katholischer mit protestantischer
-Frömmigkeit aller Welt zum ewigen Muster dargestellt. Und wo wir vorhin
-der zusammensichtenden Leistung der Kirche Bewunderung zollten, ist
-jetzt die Besinnung auf jene Begebenheit am Platze, die im günstigsten
-Fall von der Kirche wiederholt, ob ich auch keineswegs sage: nachgeahmt
-wurde. Was dabei den indisch-brahmanischen Mythos vom christlichen
-einmal für alle mal auszeichnend unterscheidet, ist der Umstand,
-daß er keineswegs der metaphysisch unzulänglichen und philosophisch
-unhaltbaren Deutung einer Gott-Vaterschaft bedarf, um dem Verstand das
-Wunder des Mensch-Seins Gottes verstandesmäßig anzunähern. Keineswegs
-wird es hier für geboten oder auch nur für passend erachtet, daß
-der Eine Gott in die zwei Gegen-Tätigkeiten, Gegen-Wesenheiten der
-<i>Paternitas</i><span class="pagenum"><a name="Seite_65" id="Seite_65">[S. 65]</a></span> und <i>Filiatio</i> zerspalten werde, um dem Begriff den
-Vorgang von Gottes Erdenwallen ein wenig begreiflich zu machen. Zum
-Behufe eindringlicheren Verstehens glaubte sich der Abendländer auf
-das plumpe und rohe Gleichnis beziehen zu müssen von der doppelten
-Geburt Jesu Christi in der Ewigkeit und in der Zeit, bewirkt durch eine
-geschlechtlich-übergeschlechtliche Zeugung im Schoß des göttlichen
-Vaters und durch eine geschlechtlich-übergeschlechtliche Empfängnis im
-Schoß der menschlichen Mutter: <i>Et ex patre natum ante omnia saecula;
-Et incarnatus est de Spiritu sancto ex Maria Virgine...</i> Wo der
-Europäer sich in dem Labyrinth dieser halbwegs supernaturalistischen,
-halbwegs superspirituellen Ungeheuerlichkeiten hoffnunglos verirrt,
-da genügt dem so viel denkgeübteren Geist des Inders der schlichte
-Hinweis, daß dieser so und so gestaltige Krischna die diesmalige
-Erscheinung sei des ewigen Wesens, die diesmalige Verkörperlichung
-des körperlosen Eins-und-Alles, die diesmalige Versinnlichung und
-Versichtbarung des unsinnlich-unsichtbaren Urselbstes. Auch hier
-ruht die katholische und die protestantische Religiosität in einem
-feierlichen Gleichgewicht, aber dies Gleichgewicht ward hergestellt auf
-einer ungleich höher gelegenen, freieren, reineren Ebene der religiösen
-Erfahrung wie dort...</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_66" id="Seite_66">[S. 66]</a></span></p>
-
-<div class="section">
-
-<p class="initial">Gott Krischna ist Mensch geworden aus dem ritterlichen, aus dem
-abenteuerlichen Bedürfnis des echten Helden. Gott Krischna ist
-Mensch geworden, um den Schutzlosen beizustehen, um die Übeltäter
-zu bestrafen, um die Gewaltherrscher zu stürzen, um die Leiden der
-Wesen zu lindern, um den Edeln eine Stätte zu sein, um die Elenden
-zu trösten, um die Kranken zu heilen. Gott Krischna, ihr Christen,
-ist Mensch geworden, weil jedes Weltalter verloren geht, dem nicht
-zur rechten Zeit der Held geboren wird, &mdash; dem nicht zur rechten Zeit
-der Held sich selbst gebiert: denn wer würde je als Held geboren?
-Die Welt am Ende jedes Weltalters ist verloren, bis daß sie sich in
-der Geburt des Helden wiedergebiert und in des Helden Jugend selber
-sich verjüngt: also, ihr Christen, ist Krischna Mensch, ist Krischna
-Held geworden! Oder am Ende ist dieser Krischna Mensch geworden,
-damit ihm, dem Gott, zuletzt des Menschlichen nichts fremd geblieben
-wäre, <i>humani nihil a se alienum esse</i>, wie dieses am Schluß der
-zwölften Andacht streng wörtlich ausgesprochen wird. „Und was da
-immer Menschen bewegt, Menschen erregt und handeln läßt, im Verkehr
-untereinander, in ihren verschiedenen Werken, Zwecken und Absichten,
-sei es nun, daß sie mit Gewalt oder mit List, durch Überredung oder
-durch Geschenke oder selbst durch die Flucht ihre Ziele erreichen: dem
-allem wollte der Gott nicht fremd sein.“ Dem allem wollte der Gott
-nicht fremd sein, und so schlüpft er gleichsam in Gewand und Rüstung
-eines Helden, nicht anders wie<span class="pagenum"><a name="Seite_67" id="Seite_67">[S. 67]</a></span> in manchen Märchennächten am Tigris
-der Kalif Harûn-er-Raschîd in die Verkleidung eines Kaufmanns, eines
-Reisenden, eines Pilgrims schlüpfte, halbwegs um nach dem Rechten in
-allem Unrechten und Schlechten zu sehen, halbwegs um sich an Abenteuern
-zu ergötzen, vornehmlich aber um zu erleben, was sonst nur schlichte
-Erdensöhne im Guten oder Schlimmen zu erleben pflegen. Im übrigen, wozu
-die Rechtfertigung der hohen Selbstverständlichkeit, daß Gott wesenhaft
-alle Gestalten, Personen, Erscheinungen, Wirklichkeiten selber ist,
-daß er mithin auch jede einzelne von ihnen zu seiner bevorzugten Maske
-ausersehen kann, &mdash; Maske aber ist griechisch πρόσωπον: Eine
-Usia, Ein Gott in vielerlei προσώποις! &mdash; die er alsdann
-mit den unendlichen Kräften seiner Göttlichkeit zeitweilig lädt und
-anfüllt. Gott ist ja alles und verwirklicht sich in allem, warum
-für dieses eine mal nicht in der lieblichen Gestalt &mdash; Gestalt aber
-ist griechisch πρόσωπον: Eine Usia, Ein Gott, in vielerlei
-προσώποις! &mdash; dieses halkyonischen Jünglings? Warum für dieses
-eine mal nicht im Sohn des Kuhhirten Nanda und der Mutter Yasodâ, so
-manchen lieben Tag (wie dann späterhin wohl auch der evangelische
-Gottmensch) gewindelt und gewiegt im scharf duftenden Rinderstall:
-strahlend in goldener keuscher Fleischlichkeit, das Herz gewärmt am
-Busen der zärtlichen Gespielinnen auf den Fluren der Yamunâ, aber
-das Haupt geklärt, gekühlt am Gipfelfirn des Himâlayo; in wonnesamen
-Vollmond- und Erfüllungnächten mit den Mädchen seiner Heimat Reihen
-tanzend und<span class="pagenum"><a name="Seite_68" id="Seite_68">[S. 68]</a></span> mit ihnen in einem hold bukolischen Eleusis alle die
-eigenen Ruhm- und Wundertaten menschlich spielend, menschlich mimend,
-die Krischna der Gott begangen. Dieser Hirtenknabe ist der nämliche
-und selbe, der die Weltenschlange Kâliya besiegt, den Stier-Unhold
-Arischta an den Hörnern packt und auf die Erde schmettert, die Ringer
-des Königs Kamsa niederringt und Kamsa-Eurystheus-Herodes schimpflich
-tötet. Er ist der nämliche und selbe, der alleinig oder Schulter an
-Schulter mit dem Bruder Râma Heersäulen von Feindeskriegern in die
-Flucht schlägt und wiederum im anmutigsten, zartesten, lieblichsten
-aller Wunder das bucklichte Mädchen schlank und rank biegt, damit ihm,
-dem indisch-brahmanischen Herakles in Person, der zarte evangelische
-Einschlag nicht mangle vom Heiland als Arzt und Krankenheiler. Wie
-denn auch sonst, ihr Christen, evangelische Stimmung mit soviel
-Kraft und Reinheit angeschlagen wird, daß sie aus den Evangelien
-selbst nur noch wie ein schwacher später Nachklang sterbend zu uns
-herüberweht: so in der Schilderung adventischen Himmelfriedens,
-adventischer Weltwindstille in der Gnaden-Nacht der irdischen Geburt;
-so in der Erzählung vom bethlehemitischen Kindermord, den Kamsa, die
-Gottesgeißel, über die Länder verhängt aus Furcht vor dem Stärkeren und
-aus Neid auf den Edleren; so im Bericht von Krischnas Taufe durch Indra
-auf den Namen Govinda, das ist Rinder-Herr, mit dem heiligen Wasser der
-Yamunâ...</p>
-
-</div>
-
-<p>Kurz und gut, es hat Gottes Allmacht hier gefallen, in der Verkörperung
-als Hirtenjüngling mit<span class="pagenum"><a name="Seite_69" id="Seite_69">[S. 69]</a></span> Lächelnsgleichmut Menschenunmögliches zu
-vollbringen und das Wunder der Wunder gottmenschlich vorzuleben:
-wie der Gott der Götter, wie der Mahâdeva selber, erhaben über
-alle Schranken der Gestalt, Persönlichkeit und Bewußtheit und
-unergründlich sogar für die Ergründung und Andacht, die Vertiefung
-und Sammlung, die Einigung und Anspannung &mdash; Anspannung aber heißt
-Yoga! &mdash; der Denker, Büßer, Waldeinsiedler: wie Mahâdeva dennoch
-Zug für Zug dieser bestimmte Mensch, Jüngling, Hirte sein könne.
-Denn fürwahr! Dieser Mensch, Jüngling und Hirte ist wesenhaft
-Brahman und wesenhaft Âtman, ist wesenhaft Brahmâ, ist wesenhaft
-Wischnu, ist wesenhaft Schiva, ist wesenhaft Kubera, ist wesenhaft
-Varuna, ist wesenhaft Yama, ist wesenhaft alle sinnlichen und
-himmlischen Götter, ist wesenhaft alle Halbgötter, Gandharven,
-Genien, Dämonen, Engel, Elementargeister, Elemente, Grundstoffe,
-Gemütskräfte, Lebenserscheinungen, Weltbegebenheiten, Täter,
-Taten und Werke. Und wie um diese unendliche Reihe göttlicher
-Wesenselbigkeiten und Einerleiheiten ins Unendliche fortzusetzen,
-erkennt der hochstaunende Prinz Arjuna in der Schwesterdichtung des
-Krischna-Mythos, uns Abendländern seit mehr als hundert Jahren unter
-dem Namen Bhagavad-Gîtâ, das ist θεσπέσιον μέλος oder des
-Erhabenen Gesang vertraut und teuer wie keine zweite Heilige Schrift
-des Ostens geworden, &mdash; erkennt dieser hochstaunende Prinz Arjuna
-eben die menschhafte Verleiblichung des <i>bhagavân</i> Krischna gleichsam
-als den platonischen<span class="pagenum"><a name="Seite_70" id="Seite_70">[S. 70]</a></span> ‚Ort‘, den überhimmlischen, aller Arten und
-Gattungen, aller Dinge und Wirklichkeiten. Krischna, des Prinzen
-Wagenlenker, der ist der Urfeldherr und Urpriester, der Urseher und
-Ursänger, der Urstrom und das Urmeer, der Urelefant und das Urrind,
-der Urvogel und Urfisch, das Urroß und die Urschlange, das Urwort und
-Urwissen, die Urwaffe und das Urwerkzeug. Krischna der Großarmige
-mit Wurfscheibe und Schwert, mit Keule, Bogen und Fahne, der ist
-Ursprung und Heimgang, Geburt und Tod, Anmut und Einsicht, Entschluß
-und Sieg, Größe und Reichtum, Rede und Schweigen, Opfer und Gesang,
-Metrum und Ritus, Same und Frucht, Jahrzeit und Luftraum, Wolke und
-Stern. Die ewige Entstehung und Vergehung, die ewige Wandlung alles
-Geworden-Werdenden, die ewige Stätte in allen Wandlungen ist Krischna.
-Die ewige Brunst in allen Zeugungen und Begattungen ist Krischna und
-der ewige Rausch der Zerstörungen und Verheerungen: der ewige Schoß
-blutender Geburten ohne Maß und Zahl und das ewige Grab faulender
-Tier- und Pflanzenleichen. Fratzenhaft schauerlich ist Krischnas, des
-goldigen Hirtenjungen, göttlich Gesicht, wie es das übermenschlich
-erhellte Auge des Prinzen Arjuna plötzlich neben sich auf dem
-Streitwagen vor dem Beginn der Schlacht erspähet: ein tausendgliedrig,
-sterneblitzend, flammenrädrig Sonnenlohenungeheuer auf einem Sitz von
-Totenschädeln, ohne Einhalt Wesen Wesen Wesen von sich speiend mit
-der gebärerischen Wurf- und Schwungkraft jungender Katzen, &mdash; ohne
-Einhalt Wesen in sich<span class="pagenum"><a name="Seite_71" id="Seite_71">[S. 71]</a></span> schlingend mit der scheußlichen Gefräßigkeit
-nimmersatter Steppenwölfe... Verehrung aber jenem Seherauge, welches
-Krischna den Gott im Menschen Krischna schaute: Verehrung dem
-unbestechlichen Auge, welches Gott schaute, wie er ist, und dennoch an
-Gott nicht starb! Verehrung jenem Seher, welcher dem unbeschönigten
-Gott-Gesicht ehern standhielt, ohne im Irrsinn zu vergehen, ob ihn das
-Grausen auch im Eisstrom des eigenen Geblüts erfrieren und gerinnen
-ließ! Verehrung ihm, der ehrlich gegen Gott genug und tapfer gegen
-sich selbst genug war, um in Gottes Antlitz die Züge teuflischer
-Zerstörunglust und -wollust zu gewahren und sie sich selber nicht zu
-unterschlagen, wie es die Christen doch wohl (oder übel!) taten, die
-ihren Gott zum braven Lämmchen zähmten und zum ‚lieben Gott‘, dem
-jedermann sich bierbrüderlich und gemütlich zum Schmollis anbiedern
-darf... Verehrung insonderheit auch ihm, der als der erste in der
-glorreichen Drei-Gestalt Gottes des Schöpfers, Gottes des Erhalters,
-Gottes des Zerstörers just die Vernichtungmächte göttlich zu bejahen
-wagte. Und Verehrung endlich denen, die als namenlose Meister diese
-Mächte in steinernen Urgesichten sinn-bildender Skulptur zur Majestät
-jenes schivaitischen Typus zu gestalten wußten, dessen plastische
-Fragmente von der javanischen Hochfläche zu Dieng den späten Europäer
-dämonisch tief erschrecken, der sie aus seiner eigenen Selbst-Kenntnis,
-Dämon-Kenntnis tief zu erraten weiß...</p>
-
-<p>Jetzt also siehst du den Menschen, jetzt siehst du den Gott Krischna
-von Angesicht zu Angesicht.<span class="pagenum"><a name="Seite_72" id="Seite_72">[S. 72]</a></span> Jetzt wiederum siehst du kein Angesicht
-mehr, sondern gehst in dich selber, gehst in dein Selbst ein und in
-dir selbst ins Selbst und Herz aller Wesen und wirst des Wesens inne.
-Dich auf dein Du besinnend, einigst du dich mit dir selbst und mit
-dem Selbst der Welt, &mdash; dies ist fürwahr <i>Om</i> das Kleinod aus dem
-Lotos, <i>Om çom</i> das All und Selbst des All, ruhend in menschlicher
-Gestalt, ruhend in göttlicher Gestalt, ruhend in gar keiner Gestalt
-auf der weißen Blume deines Geistes im Tempelteich säliger Erkenntnis.
-Dermaßen mischt in diesem Mythos aller Mythen sich innigst katholische
-und protestantische Frömmigkeit, daß man in keinem Augenblick mit
-zuverlässiger Eindeutigkeit behaupten kann, der Gott, der Mensch sei
-Täter der heilwirkenden Handlung. Der Täter selbst verharrt in völliger
-Durchdrungenheit von Gott und Mensch; seine Gestalt verleiblicht
-in sich die Summe sowohl aller welthaften Gestalt überhaupt, wie
-dessen, was jeglicher Gestalt spottet. Und dies alles nicht etwa
-auf den Umwegen des Christentums, wo der Mensch Jesus an der Natur
-Gottes nur teil hat auf Grund seines Gezeugtseins durch den Heiligen
-Geist: vielmehr in einer dem Abendländer gar nicht erreichbaren
-metaphysischen Unschuld sozusagen auf Grund der Wesenselbigkeit
-lebendiger Gestalt überhaupt mit dem Lebensurgrund selbst und des
-Lebensurgrundes Selbst! Im Gegensatz zum Christentum gilt es hier für
-völlig selbstverständlich, daß jedes Wirkliche noch etwas anderes sei
-als das, was es eben sei und scheine, und der<span class="pagenum"><a name="Seite_73" id="Seite_73">[S. 73]</a></span> Inder wenigstens hat
-sich nie den Kopf zerbrochen über das Mysterium des Westens, wieso
-und auf welche Weise der Gott Mensch oder der Mensch Gott geworden
-sei. Hier wurde, die Wahrheit zu sagen, weder der Mensch Gott noch der
-Gott Mensch: hier war er’s, hier ist er’s von allem Anfang an und vor
-allem Anfang und braucht es darum nie zu werden oder nie geworden zu
-sein. Unser krampfhaft westliches, allzu westliches Bemühen, alle die
-Rätsel der Welt und Überwelt <i>more historico</i> durch die Geschichte
-ihres Geworden-Seins aufzulösen, entlockte dem Inder, wo er es
-überhaupt begriffe, nur ein Lächeln. Er, der geschichtlos Denkende und
-geschichtlos Wissende schlechthin, ist sich genau bewußt, daß nirgendwo
-in irdischen oder unirdischen Bezirken etwas wird, das nicht schon
-ist: daß folglich auch Gott je und je Mensch war und der Mensch je und
-je Gott, &mdash; nie aber Mensch wurde oder geworden ist, nicht einmal im
-Jahre Null oder im Jahre Eins einer gar absonderlichen Zeitrechnung,
-ihr Christen. Das Jahr des Herrn, da das Wort Fleisch ward, deucht den
-Schöpfer des Krischna-Mythos und der Bhagavad-Gîtâ von Ewigkeit her, &mdash;
-von Ewigkeit her ist der Gott Mensch, ist der Mensch Gott!</p>
-
-<p>Noch hat es aber damit für den Aufmerkenden eine andere Bewandtnis. Die
-abendländische Vernunft, Jahrtausende um dieses Rätsels Enträtselung
-sich befleißigend, sie hat sich bekanntermaßen zu ihrem eigenen
-Gebrauch etliche Hand- und Fußschellen angelegt, oder richtiger
-eigentlich Haupt- und Geistschellen, die<span class="pagenum"><a name="Seite_74" id="Seite_74">[S. 74]</a></span> sie an jeder freieren
-Beweglichkeit behindern müssen. Mit diesen Haupt- und Geistschellen
-fesselte die Vernunft des Abendlandes sich selber und nannte ihre
-Fesseln die Grundsätze der Logik, als da ist die Grundregel von
-der sogenannten Identität, Einerleiheit oder Dieselbigkeit, wonach
-jeder Denkinhalt mit sich selber einerlei, und zwar lediglich mit
-sich selber einerlei sei; &mdash; die Grundregel ferner vom Widerspruch,
-wonach von zwei einander ausschließend widersprechenden Urteilen nur
-eins wahr sein könne. Der Grundsatz von der Einerleiheit und der
-Grundsatz vom Widerspruch, das war der Bleikiel, der die schwanke
-Jacht des europäischen Denkens vor dem Kentern wahren sollte, wenn
-sie auslief. Denn offenbar erschien sich dieses Denken selber mit
-allzuwenig Gewicht beschwert, um die Gefahr des Kippens und Kenterns
-nicht vor allen Gefahren zu fürchten. Was nun allerdings die zweite
-dieser Vernunftregeln betrifft, die angeblich zeitlos gültig und
-allgemein sind, so kann es dem halbwegs vorurteilfreien Beobachter der
-europäischen Wissenschaften auf die Dauer ganz unmöglich ein Geheimnis
-bleiben, daß sämtliche Systeme der großen Dialektik den Satz vom
-Widerspruch entweder ausdrücklich mit Worten oder aber tatsächlich
-außer Kraft gesetzt haben. Von Herakleitos dem Hellen bis auf Nietzsche
-und von dem Stagiriten bis auf Kant, Hegel, Marx ist die abendländische
-Philosophie zuletzt nichts anderes gewesen als das mit mehr oder
-minder tauglichen Mitteln unternommene Wagnis, wenigstens diese
-hinderlichste aller Fesseln<span class="pagenum"><a name="Seite_75" id="Seite_75">[S. 75]</a></span> einer unbefangenen Erkenntnis zu sprengen:
-mit immer größerer Rücksichtlosigkeit ward der Vernunftwiderspruch,
-die Kontradiktion und Kontraposition, die Antithesis und Antinomie
-wie ein Sporn in die Flanke der Welt gebohrt, der sie vorwärts zu
-rasender Bewegung stachelt. In ihrer sogenannten Logik scheint mithin
-die Abendlandwissenschaft den Satz vom Widerspruch nur aufgestellt zu
-haben, damit sie ihn in ihrer sogenannten Dialektik wieder aufzuheben
-vermöchte, und gleichsam um sich für diese freche Verwegenheit selbst
-zu strafen, hat dann die Vernunft des <i>homo europaeus</i> an dem anderen
-Grundsatz von der Dieselbigkeit und Einerleiheit mit desto strengerer
-Treue festgehalten. Jedweder Denkinhalt ist mit sich selber einerlei
-und lediglich mit sich selber, so urteilt die westländische Vernunft
-in der unerschütterlichen Überzeugung, hier als ‚Vernunft überhaupt‘
-zu urteilen, &mdash; und noch hat sich keine Dialektik und noch nicht
-einmal eine Sophistik erdreistet, das Zeichen der Frage auch hinter
-diese Denkfessel und Denkhemmung zu setzen. Jeder Denkinhalt ist
-mit sich selber einerlei, urteilt nun freilich auch die Vernunft
-jener indischen Rasse, welcher wir Veda, Upanischaden und die großen
-Epen zu danken haben, &mdash; aber der Denkinhalt Gott, fügt dieselbe
-Vernunft eilends berichtigend hinzu (und eilends beschwichtigend), der
-Denkinhalt Gott ist einerlei mit sich selber und zugleich einerlei
-mit allen Denkinhalten und Weltinhalten sonst. Gott ist er selber,
-und hinsichtlich dieser Unumstößlichkeit bleibt der Satz von der
-Identität durchaus gültig.<span class="pagenum"><a name="Seite_76" id="Seite_76">[S. 76]</a></span> Aber Gott ist außerdem alles, was ist und
-doch nicht Gott ist, und hinsichtlich dieser Unumstößlichkeit gilt der
-Satz von der Identität für Gott nicht. Alles was ist und Gott nicht
-ist, ist letzthin doch Gott, ist letzthin doch Gott-Selbst; Gott als
-dem Urselbst ist es gemäß, Er-selbst und Es-selbst zu sein und daneben
-noch sämtliche Wesenheiten und Dinge, benennbare und unbenennbare,
-wahrnehmbare und unwahrnehmbare. Gott ist es gemäß, sich in das
-Doppel- und Wider-Sein des Ich-Nichtich zu spalten und jedwede Gestalt
-des Leibes, jedwede Gestalt des Geistes gütig anzunehmen und alle
-aneinander zu reihen, ohne sich mit einer einzelnen Gestalt der Reihe
-oder auch mit allen zusammen seinem Begriff nach zu decken. Gott ist
-Gott und Gott ist nicht Gott und Nicht-Gott, beides auf seine göttliche
-Weise. Gott ist Gott, aber Gott ist auch Ich-Nichtich, Gott ist auch
-Subjekt-Objekt, Gott ist auch Puruscha und Prakriti, Gott ist auch
-‚Feldkenner‘ und ‚Feld‘, Gott ist auch Prajâpati und Mahâmâyâ, Gott
-ist auch Sein und Nicht-Sein, Gott ist auch die fünf Elemente und die
-Qualitäten, Gott ist auch das Wesen und die Wesen zumal. Wohl sagt
-Gott: Ich bin Ich. Aber Gott sagt imgleichen: Ich bin Du und Du bist
-Ich, und Ich bin Es und Es ist Ich. In der Kauschîtaki-Upanischad wird
-der abgeschiedenen Seele die nie zu vergessende Antwort, das nie zu
-vergessende Urwort gleichsam als Lösewort in den Mund gelegt, wenn ihr
-der Himmelspförtner Mond die Frage aller Fragen vorlegt: Wer bist Du?
-&mdash; Du bin Ich! Mit diesem ‚Du<span class="pagenum"><a name="Seite_77" id="Seite_77">[S. 77]</a></span> bin Ich‘ kann die abgeschiedene Seele in
-den Himmel eingehn, von welchem sie herkommt, und mit dieser Antwort
-ist Indiens unsterbliche Seele wahrlich in den Himmel eingegangen. Du
-bin Ich, Mond bin Ich, Himmelspförtner bin Ich, alle Himmel selber bin
-Ich und aller Dinge Himmel und Überhimmel. Also vollendet sich die
-indische Schauung der Identität, indem sie alle Identitäten sprengt;
-also erfüllt die indische Selbst- und Gotterfahrung den Satz von der
-Einerleiheit und Dieselbigkeit, indem sie ihn aufhebt. Alles Seiende
-ist eins mit sich und eins mit allem anderen Seienden: Nichts ist
-eins mit sich allein und Nichts ist nicht eins mit allem anderen.
-Und nicht empedokleisch, ihr Christen, dürfen wir dies verstehen,
-als ob der indische Mahâdeva zu sich selber spräche: Einst war Ich
-Knabe und Mädchen und Busch und Vogel und flutenttauchender stummer
-Fisch. Sondern vedisch und upanischadisch und episch sollen wir es
-verstehen: Stets bin Ich Knabe und Mädchen und Busch und Vogel und
-flutenttauchender stummer Fisch: stets bin Ich alles, was ist und
-nicht ist zumal und jetzt und immerdar, und nicht etwa nach der Reihe
-im Nacheinander der Zeit. Dieweil der indische Gott Er selber und
-darüber hinaus das ist, was nicht Er selber ist, erweist er sich in
-der Sprache der Vernunft als einerlei und vielerlei in einem, als
-dieselbig und unterschieden in einem. Seine Identität aber beruht
-darauf, daß in bezug auf ihn alles die eigene Identität verliert, um
-die Identität Gottes zu gewinnen, die offenbar höher und tiefer ist
-als alle Vernunft.<span class="pagenum"><a name="Seite_78" id="Seite_78">[S. 78]</a></span> Daß ein Denkinhalt er selber ist und zugleich
-noch anderer, &mdash; das ist mithin in Rücksicht auf Gott die indische
-Fassung des Grundsatzes von der Einerleiheit und Dieselbigkeit,
-auf das Bedeutsamste unsere abendländische Fassung ergänzend und
-vervollständigend, aufhebend und überwindend.</p>
-
-<p>Und dennoch ist diese tiefste und fruchtbarste aller Paradoxien,
-Paralogien irgendwie eingedrungen auch in unsere westliche Welt, wenn
-nicht in die Wissenschaften und wenn nicht in die Religionen, so doch
-wenigstens in unsere Märchen, und zwar am duftigsten, ahnungreichsten,
-erinnerndsten, ihr Deutschen, in unser deutsches Märchen. Im deutschen
-Märchen, welches sich selbstherrlich seine eigenen Gesetze und seine
-eigene Vernunft zu schaffen wußte, im deutschen Märchen säuselt
-und wispert ein Hauch dieses indisch-unnennbaren Fühlens und hebt
-sehnsüchtig an zu singen und zu klingen, wie eine Quelle in der Nacht
-zu singen und zu klingen anhebt, da untertags der Tag dem Tag allein
-Gehör gab. Erinnerungen, köstliche und nie versiegte sind es, wenn
-beispielweise in den Volksmärchen des Musäus der Berg- und Erdgeist
-Rübezahl brahmanisch hinüber- und herüberwechselt in Gestalt und Person
-eines Riesen, eines Köhlers, eines Ritters, eines Handwerksburschen,
-eines Prinzen, eines Ratsherrn, und sich bald wischnuhaft als Erhalter
-und Beschützer, bald schivahaft als Verderber und Zerstörer kundgibt.
-Und lebhaftere, stärker glühende Erinnerungen an Indien sind es,
-vielfach schon am Bewußtsein der eigenen Sehnsucht<span class="pagenum"><a name="Seite_79" id="Seite_79">[S. 79]</a></span> bewußtgenährt
-und gekräftigt, wenn etwa in Hoffmanns romantisch-klassischem Kunst-
-und Künstlermärchen vom Goldenen Topf der Geheime Archivarius
-Lindhorst gar wundersam proteisch behaust ist in seinem Bücher- und
-Handschriftenzimmer zu Dresden, jetzt Archivarius und Beamter in
-Königlich Sächsischen Diensten, jetzt Element, jetzt Feuergeist,
-jetzt Geisterfürst, jetzt Salamander, jetzt Feuerlilienbusch, jetzt
-brennender Arrak; wenn ferner (und wer weiß wie ferne schon?)
-dieses Gemaches azurne Schimmerwände von goldenen Pilastern brauner
-Palmbaumschäfte edel aufgeteilt erscheinen, die Blattrippen aber der
-Palmbaumkronen sich zur runden Kuppel wölben aus Smaragd und Schaft
-wie Blatt und Krone in einem sanften Mittagwind sich wiegen; wenn
-unter dieser Kuppel dann von Smaragd Student Anselmus manch magisch
-Pergament mit Fleiß kopieret (als welches Lindhorst in Gestalt von
-Blättersprossen aus dem Schaft der Palmen zog), um sich das Schlänglein
-Serpentina, des Salamanders Tochter, durch peinlichst saubere,
-peinlichst genaue Nach- und Abschrift der unleserlichen Hieroglyphe
-‚Schöpfung‘ gleichsam zu erschreiben... Wenn irgendwo, so steigt es
-hier, ihr Abendländer, wahrhaftig in uns Abendländern purpurn auf mit
-einer Melodie, die Herz und Seele wie eine Traube herbstlich schwellen
-macht vom Saft des eigenen Bluts: Kennst du das Land?...</p>
-
-<p>Als Krischna der Hirtenjüngling, als Krischna der Held, als Krischna
-der Wohl- und Wundertäter abenteuert also, verstehen wir endlich
-diesen Sachverhalt<span class="pagenum"><a name="Seite_80" id="Seite_80">[S. 80]</a></span> in seiner unermessenen Wichtigkeit richtig, der
-ewige Gott Wischnu in der Welt umher, &mdash; gleichsam einem tiefsinnigen
-Wort zur vollkommenen Erläuterung, welches Hegel zur Kennzeichnung
-des indischen Geistes nutzte: „Es ist Gott im Taumel seines Träumens,
-was wir hier vorgestellt sehen.“ Es ist Gott im Taumel seines
-Träumens, ihr Christen, der hier als Krischna-Wischnu gottmenschlich
-die Welt durchstreift. Und eben weil dieses sich so verhält, wird
-nicht nur jedes Abenteuer des Helden Krischna zugleich als Heilswerk
-und Heilstat Gottes selbst gewerkt, sondern muß außerdem auch von
-der nachträglichen Betrachtung in solcher Doppelsinnigkeit durchaus
-gewürdigt werden. Unmöglich zu sagen, ob der Mensch als Mensch oder
-ob der Gott als Gott Urheber dieser Werke und Vollbringer dieser
-Taten sei. Entscheiden wir uns für Gott, so ist es Gott doch nur
-in der Gestalt des Hirtenjünglings Krischna, welchem kraft dieser
-angenommenen Gestalt des Menschlichen nichts fremd geblieben ist.
-Entscheiden wir uns aber für den Menschen, so ist es der Hirtenjüngling
-Krischna nur im Vollbesitz der göttlich in ihm angehäuften, angestauten
-Weltenkräfte, der soviel Wunderbares tut. Darin besteht eben nach
-indischem Erleben das Mysterium der Gottmenschheit, daß es in keinem
-Augenblick gottmenschlichen Daseins möglich ist, den Nachdruck
-allein aufs Göttliche oder allein aufs Menschliche zu legen: Gott
-ist Mensch, und Mensch ist Gott auf Grund einer nichtidentischen
-Identität beider, indes der abendländische Mythos den Heiland
-Mensch<span class="pagenum"><a name="Seite_81" id="Seite_81">[S. 81]</a></span> geworden sein läßt vermöge einer mehr wie fragwürdigen
-geschichtlichen und einmaligen Vaterschaft des Heiligen Geistes, der
-gewissermaßen in Stellvertretung des Jahve-Hypsistos den Schoß der
-Jungfrau Maria in übergeschlechtlicher Begattung schwängert. Derart
-ist Jesus bei Lebzeiten eigentlich nur Mensch, Gott aber wesentlich
-nur vor der Empfängnis im Fleische der Mutter Maria und abermals
-nach seiner Himmelfahrt, wohingegen Krischna just bei Lebzeiten und
-während des irdischen Wandels Gott ist. Mangels einer zureichenden
-Metaphysik bleibt Jesus im Weltbild des Abendländers eine einmalige
-Ausnahme-Erscheinung der Zeit, die wenigstens für den verständigen
-Christen etwas Anstößiges, ja Unheimliches nie ganz abzustreifen
-vermag: jedoch in Indien kann sich der Vorgang Krischnas unendlich
-und grundsätzlich wiederholen und hat sich wirklich auch wiederholt.
-In unterschiedlosem Durchdrungensein ist Krischna durchaus Mensch
-und durchaus Gott, dieweil es Gottes tiefste und höchste Eigenheit
-bedeutet, Er selbst und ein anderer zumal zu sein. Ob er aber für den
-Zuschauer von außen im Augenblick mehr dieser oder im Augenblick mehr
-jener sei, das hängt vom Zuschauer ab und des Zuschauers Stellungnahme,
-&mdash; das hängt von des Zuschauers Kraft der Zusammensichtung ab und von
-seiner Gabe der Ineinanderschau. In der religiösen Geographie und
-Kosmographie jedenfalls bedeutet Krischna die Mittaglinie oder den
-Gleicher, wo die Weltkugelhälfte Gott mit der Weltkugelhälfte Mensch
-in ihrem größten<span class="pagenum"><a name="Seite_82" id="Seite_82">[S. 82]</a></span> Kreis Berührung und Gemeinsamkeit findet, also daß
-eine bessere Ausgleichung zwischen Gott und Mensch schlechterdings
-nicht mehr vorstellbar ist. Dieser Mythos gibt mit unübertrefflicher
-Gerechtigkeit Gott, was Gottes ist, und dem Menschen, was des Menschen
-ist. Und wenn jemals auf dieser Erde die katholischen und die
-protestantischen Grundmächte der Religion in ihrer <i>balance of power</i>
-verharren, so geschieht es hier im Indien des epischen Weltalters
-und jener epischen Weltfrömmigkeit, von der uns die Bhagavad-Gîtâ
-eine Probe kosten läßt. Wäre ein menschlicher Zustand denkbar, in
-welchem alle geistleiblichen Spannungen gelöst erscheinen und wo kein
-innerlich-äußerliches Gefälle mehr zu bemerken ist, dann wäre kein
-Absehn, warum mindestens die führenden Religionen des Südostens diesen
-in seiner Art vollkommenen Urstand erworbenen Gleichgewichts der beiden
-Hauptgewichte des religiösen Daseins hätten aus freier Entschließung
-je preisgeben sollen. Gesetzt, ein solch vollkommener Urstand wäre
-auf die Dauer möglich oder könnte selber Dauer werden, &mdash; der Mythos
-vom Gottmenschen Krischna wäre als höchstgültige, ja endgültige
-Stufe menschlicher <i>religio</i> überhaupt zu werten, als schlechthin
-reifste Kristallisation religiöser Lebens- und Seelenmächte: ein für
-allemal dadurch ausgezeichnet, daß er katholische und protestantische
-Strebungen noch auf ganz andere Weise miteinander zu versöhnen weiß
-als der Mythos vom Christus. In diesem Fall verkörperte der Mythos
-vom Krischna die Religion als solche, die einzige,<span class="pagenum"><a name="Seite_83" id="Seite_83">[S. 83]</a></span> die uns Menschen
-völlig gemäß wäre und frömmstes Hingegebensein an Gott mit innigstem
-Hingegebensein an den Menschen für immer verschmölze zu einer Formung,
-Bindung und Verpflichtung ohne Vorgang und Vergleich. Hier gattete sich
-höchstes Schöpferglück über ein welthaft irdisches Gestalten ohne Maß
-und Schranke mit tiefster Erlöserlust an weltlich-irdischer Entstaltung
-und Verlöschung. Hier brauchte sich nicht länger schmerzlich mehr der
-Gott des Menschen oder der Mensch des Gottes zu schämen und einer den
-anderen dreimal verleugnen, ehe daß es Tag wird...</p>
-
-<p>Inzwischen gibt es nirgendwo ein Leben, seines Namens würdig, das
-auf die Dauer ohne Unterschiede der inneren und äußeren Spannung,
-des leiblichen und seelischen Gefälles bestehen könnte. Nirgendwo
-gibt es ein solches Leben, weder im Umkreis des bloß gelebten, recht
-eigentlich noch pflanzenhaft-tierhaften Lebens, noch im Umkreis des
-schon vollbringenden und wirkenden, recht eigentlich menschlichen
-Lebens, &mdash; so wenig wie es eine Musik aus lauter Pausen gibt. Wer
-näher an den Krischna-Mythos herantritt und die Goldworte dieses
-himmelschönen Gedichtes auf der Goldwage des Geistes prüfend wägt,
-der gewahrt denn auch bald in ihm die Kräfte schon heimlich am Werk,
-welche die Gewichte früher oder später nach der einen, nach der anderen
-Richtung hin verschieben müssen. Es mag vielleicht der seltensten,
-reichsten, reinsten Ahnung da oder dort enttagen, daß Gott und Mensch,
-Wesen<span class="pagenum"><a name="Seite_84" id="Seite_84">[S. 84]</a></span> und Wirklichkeit, Selbst und Dasein in Wahrheit Eins-und-Alles
-sind. Derartiger Ahnung mag es in gnädiger Geberstunde wohl enttagen,
-daß Gottes Urselbst gewissermaßen drei Gürtel, drei Zonen, drei Lagen
-mit sich selber fülle: nämlich die Zone der gestaltlosen Gottheit
-oder auch die Brahman-Âtman-Zone; die Zone ferner der gestalthaften
-Götter oder auch die Brahmâ-Wischnu-Schiva-Zone oder schlechtweg die
-Krischna-Zone; die Zone endlich der Weltwirklichkeit-Menschwirklichkeit
-oder auch die Prakriti-Zone, das ist die Zone der natürlichen Schöpfung
-oder <i>natura naturata</i>. Diese drei Zonen, Gürtel oder Lagen des
-Seins, sag’ ich, fülle das göttliche Urselbst mit seines Urselbstes
-Götterkräften, und daß sich dieses also verhält, werde der Erkenntnis
-in Offenbarungstunden offenbar. Ob aber indes Gottes Urselbst auch
-diese Lagen der Dreiwelt zu seinem Teil stätig fülle, wie etwa ein und
-derselbe Wind das Segel der oberen, das Segel der mittleren, das Segel
-der unteren Ra füllt, &mdash; der Mensch ist zu seinem Teil doch zu wenig
-Gott, um die Dreiwelt gleichmäßig und stätig zu seinem Teil zu füllen.
-Sicherlich! Für Gott und von Gott her schließen sich mitnichten aus:
-Krischna das ewige Selbst der Welt, Krischna-Brahmâ Krischna-Wischnu
-Krischna-Schiva jenseit hiesiger Menschenwelt, und Krischna der blonde
-Hirtenjüngling auf den Gefilden der Yamunâ. Für Gott und von Gott her
-schließen sich diese drei nicht aus und vielleicht auch nicht für den
-Brahman-Kenner und vom Brahman-Kenner her, wenn sich auch freilich
-hier schon<span class="pagenum"><a name="Seite_85" id="Seite_85">[S. 85]</a></span> Schwierigkeit auf Schwierigkeit türmt. Jedoch der tätige
-Erdensohn, der es im Wissen allein und ununterbrochen nicht aushält,
-ja der nicht einmal als Brahman-Kenner und -erkenner den Zustand
-Brahman-Âtman dauernd aushält: er drängt zu eindeutiger Entscheidung,
-welch einer der Dreiwelten Gottes er sich nun seinerseit heilstätig und
-werksälig zu widmen habe. Zwar gibt es der Zugänge zu dieser ummauerten
-Feste der göttlichen Dreiwelt gleichfalls drei, sämtliche ins Herz der
-Feste führend. Zum Âtman-Brahman führt der Erkenntnis-Vertiefungs-Pfad
-empor oder sonst <i>jñâna-mârga</i> geheißen; zum
-Brahmâ-Wischnu-Schiva-Krischna führt der Verehrung-Andacht-Pfad empor,
-sonst etwa Minne-Liebes-Pfad oder <i>bhakti-mârga</i> geheißen; und wo Gott
-nicht ist, vielmehr Prakriti die Natur alleinig waltet und neben,
-außer, mit ihr vielleicht Puruscha, der Geist, das Ich noch, da führt
-am ehesten der Taten-Werke-Pfad zum Heil, sonst wohl auch <i>karma-mârga</i>
-geheißen. Von diesen drei Pfaden bewirkt nun freilich jeder einzelne
-auf völlig gleiche Weise das, was Not tut und Not wendet, und kein
-Suchender geht fehl, der einen von ihnen auswählt und diesem in Treuen
-folgt. Aber das ist es ja eben, daß von diesen dreien ein einziger
-erwählt sein muß, da unmöglich alle drei von ein und demselben Menschen
-zugleich: mit einiger Hoffnung auf Erfolg nicht einmal nacheinander
-beschritten werden können. Keineswegs gedeiht ja jedes Wesen in
-jeglicher Umwelt; keineswegs bewegt sich ja dasselbe Lebendige im
-Wasser, auf der Erde, in der Luft<span class="pagenum"><a name="Seite_86" id="Seite_86">[S. 86]</a></span> mit ähnlicher Leichtigkeit und
-Behendigkeit; keineswegs wohnt ja ein und derselbe Mensch in jedem
-Gürtel der göttlichen Dreiwelt mit demselben Behagen, mit derselben
-Angemessenheit. Die Bhagavad-Gîtâ zwar, ihr Christen, sie finden
-wir mit übermenschlicher Gerechtigkeit beflissen, allen drei Pfaden
-die nämliche Wahrheit, Zuverlässigkeit, Richtigkeit zuzugestehen,
-und wenig indische Fragen haben der europäischen Gelehrsamkeit so
-viel fruchtlos scharfsinniges Kopfzerbrechen verursacht wie diese
-großmütige Unbefangenheit, mit welcher hier das Geheimnis menschlicher
-Erlösung <i>sub specie</i> Gottes und göttlicher Allgerechtigkeit durchaus
-erörtert und gewiesen wird. Nur dürfen wir nie vergessen, daß hier Gott
-Krischna von seinem göttlichen Adspekt aus spricht, und wem würde es
-entgehen, wie unermeßlich hoch und fern dies göttlich Lied über das
-Menschengehör Arjunas hinaustönt! In unausschöpflicher Symbolik ist es
-gerade hier der Gott, der Erkenntnis-Vertiefung, Verehrungs-Andacht,
-Taten-Werke gleichmäßig gelten läßt, indes schon Arjuna dies übermäßige
-Gleich-Maß Gottes nicht fassen und noch weniger zum Muster nehmen kann
-und kann, &mdash; und dieser sehr fromme Prinz Arjuna ist doch wahrhaftig
-nicht jeder Beliebige, wahrhaft noch nicht ‚Mensch schlecht-weg‘ oder
-‚Mensch schlecht-hin‘... Wie wahr und richtig, &mdash; der Herr der drei
-Reiche wählet nicht: denn seiner sind ja die drei Reiche! Wie wahr und
-richtig, &mdash; vor Gott ist alles gleich, denn schon wofern es ‚ist‘,
-wird es von Gott mit gleicher Kraft gesetzt, mit gleicher Kraft<span class="pagenum"><a name="Seite_87" id="Seite_87">[S. 87]</a></span>
-erhalten! Aber den Menschen schielt alles aus einer Ecken an und wird
-darum schief und verkürzt sich und verwinkelt sich, &mdash; ewig bleibt dem
-Menschen die Welt als Gleichung unausrechenbar mit ihrer Einen und
-Ewigen Unbekannten. So hat denn in der Folge geschichtlich die Religion
-des Vedânta die Heilsübung Erkenntnis-Vertiefung vorwiegend geübt und
-die Heilsübung Verehrung-Andacht oder Taten-Werke vernachlässigt. So
-hat die Religion der Bhagavatas die Heilsübung Verehrung-Andacht oder
-Minne-Liebe vorzüglich geübt und die Heilsübung Erkenntnis-Vertiefung
-und Taten-Werke vernachlässigt. So hat die Religion des Sânkhyam
-die Heilsübung Taten-Werke mit Vorliebe geübt und die Heilsübung
-Andacht-Verehrung und Erkenntnis-Vertiefung vernachlässigt. Was hilft
-es uns Heils-Wählern und Heils-Wägern also, das göttliche Urselbst
-der Welt Krischna als den Herrn der drei Reiche zu preisen, indes wir
-uns gezwungen sehen, die eindeutige Auswahl unter den drei Reichen
-ohne Schwanken zu treffen? Was hilft uns der göttliche Adspekt des
-göttlichen Lieds, indes wir sehr menschlich eins dem andern vorzuziehen
-haben und eins vor dem andern zu bewerten, indes wir die Rangordnung
-zu wahren, die Gewichte zu verteilen, das Wichtigere hervorzuheben
-und auszuzeichnen, die Stelle zu beziffern, die Stufe zu zählen, das
-Wahre vom Falschen zu sondern und die Gewißheit vom Wahn, das Seiende
-am Nicht-Seienden zu prüfen und den Schein vom Wesen abzuschäumen
-haben, und dies alles, wir mögen uns drehn und<span class="pagenum"><a name="Seite_88" id="Seite_88">[S. 88]</a></span> wenden wie wir wollen,
-so menschlich als irgend nur möglich? Was nützt und hilft es uns
-Heils-Wählern und Heils-Wägern, Krischna das hohe Selbst der Welt
-als Wissen zu verehren, wenn sich das Wissen sofort im Geist dem
-Nicht-Wissen paart und widerpaart; &mdash; was nützt und hilft es, Krischna
-als die Wahrheit anzubeten und zu verkünden: Gott ist die Wahrheit,
-wenn sich der Wahrheit unverzüglich im Geist die Täuschung zugesellt
-und widergesellt: also daß Krischna der Gott Wissen und Nicht-Wissen,
-Wahrheit und Irrtum zumal ist! Dem Diener Gottes obliegt es, zwischen
-diesen leidigen Gegenwelten genau zu scheiden und was der Gott göttlich
-zusammensichtet, menschlich zu entzweien. Krischna, ja Krischna ist
-alles. Aber welcher Mensch wäre Krischna und welcher Mensch wäre &mdash;
-alles? Im Ozean von Krischnas Dreiwelt treibt der Mensch als Wrack und
-sucht mühsälig ein Steuer, um etwas wie einen Kurs einzuschlagen und
-eine Richtung zu halten auf seiner Fahrt, die wahrlich nicht gefahrlos
-ist...</p>
-
-<p>Mit einem erhabenen Freimut, der in unseren eigenen Heiligen Schriften
-nirgends seinesgleichen hat, offenbart gerade der Mythos diesen
-fragwürdigen Sachverhalt. Wo die Bhagavad-Gîtâ einen köstlichen
-Atemzug lang die exzentrische Stelle einzunehmen imstand ist, von
-welcher her der Mensch die Welt als göttliches Erlebnis seiner
-menschlichen Tat anpaßt, verfährt der Mythos umgekehrt sehr menschlich,
-indem er den Gott schonunglos just dort entblößt, wo diesem die
-Blöße am peinlichsten sein muß. Gegen<span class="pagenum"><a name="Seite_89" id="Seite_89">[S. 89]</a></span> Ende des Mythos nämlich hält
-Krischna-Wischnu seinen Reitvogel Greif vor der Burg des Himmels an,
-um dort gemäß der guten Sitte der Göttermutter Aditi seine Aufwartung
-zu machen. Bei diesem Empfang nun geschieht es, daß seltsame Worte von
-der Göttin zum Gott gesprochen werden, vorwurfsvolle und anklägerische
-Worte, die den Gott aufs äußerste belasten müssen, wenn anders er
-hinter ihre Höflichkeit zu horchen feinhörig genug ist, die auch
-hier eine indisch vollendete ist. „Du bist alle Götter“, mit dieser
-Gebetformel leitet auch Aditi ihre Ansprache huldigend ein, „du bist
-alle Götter, alle Genien und Menschen; du bist alle Tiere, Bäume und
-Gräser: alles Große, Mittlere und Kleine, alles Ungeheure und Winzige,
-alles Einfache und alles Zusammengesetzte. In Trug hüllst du die ein,
-die deine wahre Art nicht kennen, die Toren, wenn sie im Wesenlosen
-das Wesen suchen. Die Vorstellung ‚Ich bin‘ und ‚Das gehört mir‘ sind
-trügerischer Schein, den die Mutter des Wandeldaseins im Verein mit
-dir, o Herr, hervorbringt. Die tüchtig sind und dich verehren, gelangen
-über diesen Trug hinweg und finden Freiheit im Herzen. Brahmâ und
-alle Götter, Menschen und Tiere sind insgesamt einzeln in das dichte
-Dunkel des Wahns getaucht, in den Abgrund deiner Täuschungen. Daß
-einer, der dich verehrt, doch Wünsche hegt und am Leben hängt, auch
-das, o Herr, ist nur ein Trugbild, von dir geschaffen. Du spielst mit
-deinem Zauber und verführst die Menschen, daß sie, dich verehrend,
-Ruhm und Nachkommen<span class="pagenum"><a name="Seite_90" id="Seite_90">[S. 90]</a></span> und Vernichtung der Feinde begehren statt ewiger
-Erlösung. Es ist die Folge ihrer falschen Taten, daß Toren dich um
-solches anflehn, gleichwie als ob man, um seine Blöße zu bedecken,
-den Wunschbaum, der alles gewährt, um einen Fetzen Tuch anflehte! Sei
-gnädig, Unvergänglicher, du Urgrund des Irrtums, der die Welt einhüllt!
-Zerstöre den Trug, der sich aus der Wahrheit erhoben hat“...</p>
-
-<p>Welch ein Gebet aber ist dies, ihr Christen, an dieser denkwürdigen
-Stelle von Aditi, der Mutter der zwölf Adityas, der Mutter aller
-Götter, zum Gott in höchster Person gesprochen; &mdash; ein Gebet, wie
-es gleich erschütternd vielleicht nur einmal noch in den Heiligen
-Schriften Indiens emporstieg, und zwar in der Mahâbhâratam-Episode
-von Nala und Damayantî, wenn Damayantî, die Liebliche, zu den vier
-Himmlischen fleht, die alle die Gestalt ihres Geliebten Nala angenommen
-haben, um sie bei der Gattenwahl schmählich zu täuschen: die Götter
-möchten sie doch länger nicht mit Trug und List umgaukeln und ihr
-die Wahrheit offenbaren... Welch ein Gebet ist dies aus unerhörter
-Ratlosigkeit des Herzens und Gewissens, die sich getrieben fühlt, den
-Gott selber als Urheber jenes tiefsten Mangels anzuklagen, welcher
-recht eigentlich den Menschen zum Geschöpf des Elends stempelt: des
-Mangels an zuverlässigen Unterscheidung-Merkmalen zwischen Wissen
-und Nicht-Wissen, zwischen Wesen und Un-Wesen, zwischen Wahrheit und
-Wahn, &mdash; des Mangels an einem runden Ja-oder-Nein, an einem klippen
-Entweder-Oder,<span class="pagenum"><a name="Seite_91" id="Seite_91">[S. 91]</a></span> an einem lauteren Icht oder Nicht! Welch ein Gebet zum
-‚Urgrund des Irrtums‘, der von Aditi auf solch eigene Art gepriesen
-noch nach dem Wort des Mythos ‚fein lächelt‘ und fein lächelnd dankt!
-Welch ein Gebet des höchsten Gottes zu ihm selber, des All-Einen,
-All-Einzigen und Ein-und-Alles zu ihm selber, der diese Dreiwelt
-selber ist, aber eben darum das menschlich Unentbehrlichste stets
-schuldig bleibt, das zweifellösende, entscheidungfällende: ‚Wähle
-dieses und lasse jenes! Bevorzuge vor jenem dieses! Meide solches und
-vollbringe solches! Verwirf dies eine um des andern willen!‘ Welch
-ein zermalmendes Eingeständnis der grundsätzlichen Unverrückbarkeit
-der Grenzen Gottes und des Menschen, der ewigen Geschiedenheit ihrer
-Beschaffenheiten und Standorte, ihrer Gewichte und Maße, ihrer Wege und
-Ziele. Welch eine Waberlohe, an des eigenen Lebens, an des Eigenlebens
-Flamme himmelhoch entzündet, die unüberschreitbar Mensch wie Gott
-umlodert und umloht wie jenen alten Vorzeitkönig Mutsukundo in der
-Felsenhöhle, den Krischna der Gott selber nicht zu wecken wagen darf,
-will er nicht selber stracks zu Asche weiß verbrennen... Gott also ist
-es selber, der seinen Zauber lügnerisch spielen lässet den Menschen zur
-Verführung, daß sie törichtste Wünsche hegen und statt ewiger Erlösung
-entbehrlichste Güter erstreben. Gott selber umgaukelt frevlerisch den
-Sinn und umbuhlt die Sinne mit den Fratzen der Gestalt, um von den
-Dummen dort am ehesten ernst genommen zu werden, wo er am mutwilligsten
-spaßt.<span class="pagenum"><a name="Seite_92" id="Seite_92">[S. 92]</a></span> Gott selbst pflanzt dem Menschen die blinden Leidenschaften
-ein und zieht selbst seine Triebe ab von dem Ziele, was ihm hüben wie
-drüben zum Heil gereicht. Gott selbst flößt dem Menschen die Welt ein
-wie den Rauschtrank Soma und macht ihn auf den Beinen torkeln und im
-Haupte schwindlig, so daß er auf ebener Straße stolpert und über seine
-eigene Zunge stürzt. Gott selbst wertet alle Dinge gleichviel, und das
-heißt gleichwenig; &mdash; gleichviel, und das heißt gleichwenig, gilt vor
-ihm der vedische Gesang und ein Gassenhauer. Gott selbst, der alles
-angleichende und ausgleichende, gleicht einem liebestollen Weibe, dem
-alle Männer recht sind und alles Mannes-Ähnliche am Weibe, wenn es
-nur Wollust schafft und dort am heftigsten kitzelt, wo die Wollust
-ihren Nerv hat. Zu allem aber, was du sagst und nicht sagst, o Aditi,
-lächelt der ewige Krischna mit jenem ewigen Zynismus, der unstreitig
-das göttlichste Vorrecht seiner Götterrechte je gewesen ist. Er lächelt
-fein zum Abschied, und unergründlich eher noch als fein, und küßt dir,
-menschkundigste Mutter du der Götter, zum Abschied deine liebe Hand und
-huldigt seinerseit auch dir, in jeder Geste <i>uomo galante</i> und jeder
-Zoll ein <i>caballero</i> (vergebens schau’ ich hier, ihr Deutschen, nach
-einem deutschen Worte aus): „Sei gnädig auch du, und gewähre mir deine
-Gunst“...</p>
-
-<p>In dieser Ansprache, unsäglich zart die Andacht zum Gott fädelnd an die
-Anklage wider Gott, in ihr, wie glatt und anmutig sie auch dahinfließe,
-gärt und<span class="pagenum"><a name="Seite_93" id="Seite_93">[S. 93]</a></span> siedet dennoch eines der stärksten unterirdischen Beben,
-welche die Religiosität der indischen Menschheit je erschüttert
-haben. Noch ist Krischna Meister, Herr und Mahâdeva, noch ist er
-Gott aller Götter und Auge der Welt, noch ist er Eins-und-Alles und
-All-Eines, noch ist er Urselbst und Kern der drei Reiche. Aber schon
-meldet sich der bedürftige Mensch und mehr noch die menschliche
-Bedürftigkeit, welche beide der Gott, aller Allmacht unbeschadet, nicht
-zu stillen weiß. Hinter den vielkantig geschliffenen Worten dieser
-Andacht-Anklage geistert eine unausgesprochene und unaussprechliche
-Hinterwelt von schweren Zweifeln und Anfechtungen, wie hinter den
-Rautenflächen eines vielkantig geschliffenen Diamanten die Urfeuer
-der Tiefe sprühen. Denn je mehr Gott Er selber ist, desto weniger ist
-es ihm gegeben, die menschliche Bedrängnis wirklich zu teilen, und
-je weniger er diese teilt, desto weniger vermag er sie abzustellen.
-Der vollkommene Gott, vollkommen, weil nichts ihm gebricht und er an
-jeder Stelle dicht ist und stätig, rund und ausgefüllt, er gleicht
-fürwahr dem ewigen Sphairos jenes griechischen Xenophanes: wie sollte
-er da der unvollkommenen Menschlichkeit ‚in ihres dritten, zweiten,
-ersten Viertels bedauerlicher Schwindung‘ innewerden, &mdash; wie sollte
-er gewahren, was diesem armen Menschen taugt und frommt. Aus Laune,
-Zufall, Spielerfreude oder aus Gott weiß für Gründen oder Ungründen
-schuf der vollkommene Gott diese Welt; aber diese Welt geriet ihm
-leider minder vollkommen, als er selbst, der Gott,<span class="pagenum"><a name="Seite_94" id="Seite_94">[S. 94]</a></span> vollkommen ist, und
-so leidet der Mensch, auf unvollkommener Welt der unvollkommene Nächste
-seines Gottes, schwer unter der Unvollkommenheit der Welt und am
-schwersten unter der Unvollkommenheit des Menschen. Die Gürtel, Zonen
-und Striche dieser Welt füllt Gott mit seinem Atem, aber des Menschen
-Atem bläst unendlich schwächer als der Atem Gottes, und so bläst er
-schnell sich leer, und leer geblasen deucht ihn seine Umwelt. Gewiß ist
-da verkündigt und gewiesen: wer den Erkenntnis-Vertiefungs-Pfad eifrig
-und treu bis ans Ende wandelt, dem winkt Vergottung, und gleicherweis
-wer den Verehrung-Andachts-Pfad eifrig und treu bis ans Ende wandelt,
-dem winkt Vergottung. Wer Brahman-Âtman durchaus kennt und erkennt,
-wird Brahman-Âtman; wer Brahmâ-Wischnu-Schiva von ganzem Herzen verehrt
-und liebt, wird Brahmâ-Wischnu-Schiva. Aber das ist es ja eben, daß
-weder das Brahman jenseit aller Maske und Gestalt noch die heilige
-Trimûrti oder Gottdreigestalt einen Finger rühren oder auch nur eines
-Fingers Glied, damit der Gottsucher an seinem Ziel anlange. Das Brahman
-zu wissen, das ewige Es und Überstaltige, dies ruht ausschließlich auf
-dem Menschen, der des Brahmans bedürftig ist, nicht aber umgekehrt
-das Brahman des Menschen, &mdash; und genau so ruht es auf dem Menschen,
-den höchsten Brahmâ und Brahmâs Trimûrti, das ewige Du aller Götter
-und in der Eigenschaft des Du der Eingestaltig-Vielgestaltige, in
-Liebe zu umfangen: <i>qui deum amat conari non potest, ut deus ipsum
-contra amet...</i><span class="pagenum"><a name="Seite_95" id="Seite_95">[S. 95]</a></span> Nicht zieht Gott den Menschen zu sich, und noch viel
-weniger zieht Gott den Menschen an, vielmehr ziehet der Mensch Gott
-an, wie es in den paulinischen Schriften auch geschrieben steht, &mdash;
-der Mensch ist’s, der da in Gott einzugehen, in Gott aufzugehen, in
-Gott unterzugehen trachtet, aber mit seinem armsäligen Tröpflein den
-vollen Krug Gottes nimmer überfließen macht. Was also ist es zuletzt,
-das Heil erwirkt und befördert? Die menschliche Tat ist es, menschlich
-getätigt und getan, heiße die Tat Wissen oder Liebe, Erkenntnis oder
-Andacht, Ehrfurcht oder Vertiefung, ja heiße sie Tat selber oder auch
-Werk. Wer diesen Sachverhalt in seiner Strenge erfährt und erfaßt, wer
-sich mit allen seinen Seelenkräften mit ihm durchdringt, wer sich mit
-allen seinen Seelenkräften zu ihm durchringt: der bringt als Protestant
-den unausgetragenen Widerstreit im Mythos Krischnas klar und bewußt
-zum Austrag und das Zeitalter einer rein katholischen oder gemischt
-katholisch-protestantischen Religiosität zum einstweiligen Abschluß.
-Als Täter der Heilstat löst er den Gott ab, der dem Menschen dauernd
-das Eine schuldig bleibt, was einzig Not wendet: jene ‚ewige Erlösung‘,
-um welche die Himmelskönigin und Weltmutter Aditi den blonden Gott
-vergeblich anfleht. So löst der Mensch Gotamo, gezeugt vom Fürsten
-Suddhodano, das ist verdeutscht der ‚saubere Milchreis(-Spender)‘,
-und empfangen von der Fürstin Mâyâ, geboren zu Kapilavatthu auf der
-königlichen Burg und als Krieger, nicht als Priester auferzogen,
-&mdash; so löst der Mensch Gotamo den Gottmenschen Krischna<span class="pagenum"><a name="Seite_96" id="Seite_96">[S. 96]</a></span> auf dem
-Weltenschauplatz ab, und mit ihm gleichsam der Mensch überhaupt den
-Gott überhaupt. Und die indische Seele, die wahrhaft allwissend alles
-weiß, allahnend alles ahnt, allfühlend alles fühlt, was Gott und Götter
-betrifft oder betreffen könnte, vergegenwärtigt sich auch diesen
-entwicklunggeschichtlichen, gestaltwandlerischen Sachverhalt auf eine
-eindruckvolle Weise. Im Wischnu-Mythos nämlich verkörpert sich Wischnu
-im ersten Weltalter viermal in gewissermaßen organisch aufsteigender
-Lebensform als Fisch und Schildkröte, als Eber und Mensch-Löwe, um
-jedesmal die Welt von einer dämonischen Plage oder Zwingherrschaft zu
-befreien; im zweiten Weltalter einmal als Zwerg; im dritten Weltalter
-zweimal als Krischna und Râma; im vierten Weltalter aber wiederum
-einmal als Buddho, ehe er im fünften und eisernen Weltalter, abermals
-im Tier verleiblicht, als das weiße Pferd Kalki die Welt vernichtet und
-verjüngt und aller Dinge Wiederherstellung vollbringt: ein Mythos von
-so unausdenklichen Adspekten auf den Wechsel von Weltzeitaltern und
-Wiederkunftkreisläufen hin, daß ihn bis heute noch keine Konzeption
-westlicher Wissenschaft genügend deuten könnte. Auf Krischna-Râma die
-Gottmenschen folgt Buddho der Mensch als Vorsteher seiner Zeit und
-als Verrichter dessen, was bisher Gott verrichtet oder auch nicht
-verrichtet hat, &mdash; dies ist die mythische Umschreibung des historischen
-Tatbestandes, daß mit Gotamo Buddho der Protestant in Erscheinung trat!
-(Denn für den indischen Geist gibt es eben historische Tatbestände<span class="pagenum"><a name="Seite_97" id="Seite_97">[S. 97]</a></span>
-nur in mythisch-mythologischer Umschreibung und Umdeutung). Mit Gotamo
-Buddho ist der Protestant als solcher, der Protestant schlechthin in
-die geschichtliche Erscheinung getreten, zunächst für das mittlere
-und nördliche Indien. Dann für das indische Festland und Inselland,
-dann für Südasien, Mittelasien, Ostasien, und am Ende, wer kann es
-heute wissen, für diese ganze runde Erdenmenschenwelt, die gegenwärtig
-mehr, als sie selber ahnt und ahnen kann, mit ihrem inneren Gehör
-nach Magadhâ hinhorcht und dem vernehmlich durch die Jahrtausende
-hindonnernden Löwenrufe lauscht...</p>
-
-<div class="section">
-
-<p class="initial">Enthülsen wir dieses aber, ihr westlichen Protestanten, als den
-überwestlichen, aber wesentlichen Kern des Protestantismus, sofern
-er in die kosmischen Ordnungen hineingehört, daß nämlich der Mensch,
-eben durch seine Menschlichkeit zur Tat getrieben, wo sich der Gott
-keinerlei Tat bedürftig fühlt, &mdash; daß der Mensch eine Melodie in
-diesem unendlichen Orchester spiele, wenn der Gott gewissermaßen eine
-Pause macht: alsdann verschiebt der Protestantismus alle Gewichte
-des religiösen Interesses selbsttätig zugunsten des Menschen.
-Alsdann leuchtet ein verborgener (und bisher mit einer gewissen
-Geflissentlichkeit verborgen gehaltener) Zusammenhang auf zwischen
-Protestantismus und Atheismus; alsdann ist der Protestant kraft
-seines Protestantismus in irgendwelcher Rücksicht ein Atheist,
-Atheismus schlecht und<span class="pagenum"><a name="Seite_98" id="Seite_98">[S. 98]</a></span> recht für Gott-Losigkeit, Gott-Ledigkeit,
-Gott-Entbehrlichkeit genommen. Diese Gott-Losigkeit, Gott-Ledigkeit,
-Gott-Entbehrlichkeit ist sozusagen auf der linearen Verlängerung
-des Protestantismus gelegen, wenngleich auch vermutlich auf einer
-Verlängerung, die in keinem Endpunkt ihr Ende und Ziel findet,
-sondern fort und fort ins Unendliche läuft und darin verlaufen muß:
-weil ja die Vorstellung des verneinten Gottes menschliche Denkkraft
-offenbar nicht weniger übersteigt und überflügelt wie die Vorstellung
-des bejahten Gottes. Ändern doch Vorzeichen in dieser Beziehung an
-den Begriffen nichts und können nichts ändern, und kaum dürfte das
-Minus-Unendlich minder unendlich sein wie das Plus-Unendlich, o
-unendlich-ewiges Geheimnis!... So aber ist von vornherein zu erwarten,
-Buddho der Protestant, in der Zeitreihe indischer Weltalter der Erbe,
-Vollstrecker und Nachfolger des Gottmenschen Krischna, er werde sich
-in dieser oder in jener Bezugnahme als Buddho der Atheist erweisen,
-&mdash; Buddho der Atheist freilich in einem Denk- und Sprachsinn, wie
-er dem Abendländer bislang kaum zugänglich und jedenfalls alles
-andere als geläufig gewesen ist. Waren wir Abendländer doch, um der
-Wahrheit nicht ins Gesicht hineinzulügen, der Regel nach Atheisten
-aus Frechheit oder Flachheit oder Unfähigkeit oder Überheblichkeit,
-selten nur aus Ehrfurcht, und bis auf verschwindende (aber doch nicht
-verschwundene) Ausnahmen niemals in den Jahrtausenden seit den Griechen
-aus Frömmigkeit und Göttlichkeit. Wo wir die Götter leugneten,<span class="pagenum"><a name="Seite_99" id="Seite_99">[S. 99]</a></span> da
-leugneten wir in der übergroßen Mehrzahl der Fälle auch die göttliche
-Bindung und Treue (<i>religio</i>); da leugneten wir mit furchtbarem Erfolg
-unser eigenes besseres Leben und besseres Bewußtsein mitsamt seinen
-Niederlagen und Siegen. Nur einmal vielleicht vernahm ich ein Gebet von
-einem Gottlosen unserer späten Zeit, das die Gebete aller Gläubigen
-an Innigkeit und wahrer Liebe zu Gott ganz unermeßlich übertroffen
-hat: „... Nicht wahr, du bist doch nicht? Du würdest nicht so müßig
-sein mit Allmacht? Du würdest ruhen nimmer wie ein träger Faulpelz,
-der’s nüchtern ansieht, wie die Untat herrscht? Wie Niedrigkeit
-erhöht steht, und was hoch ist, niedrig? Du würdest deine Arme nicht
-so lässig kreuzen, als ginge dich das Weltall, dein Geschöpf, nichts
-an? Du bist doch nicht, nicht wahr?... Auf, auf, du Gott, der nicht
-besteht, hilf mir!“... Gottlos und ehrfurchtvoll, gottlos und gläubig,
-gottlos und fromm, gottlos und heilig, gottlos und göttlich, das in
-der Tat reimt sich europäischen Ohren, den mit soviel Schmalz und
-Schmutz und Kot und Seim verklebten, so schlecht wie nur immer möglich,
-und wer auf diesem Reim zu dichten wagte, dem antwortete entrüstet
-jedermann: Hab’ ich recht gehört?... Als Sklaven einer unduldsamen
-Vernunft und engstirnigen Weisheit erblickten wir schlechten Europäer
-ein herrisches Entweder-Oder, wo die duldsame Vernunft Asiens und
-die weitstirnige Weisheit des Asiaten ein Sowohl-Als-Auch vernimmt
-und wahrnimmt mit noch so mancherlei Zwischentönen. Wer Atheist war
-in unseren<span class="pagenum"><a name="Seite_100" id="Seite_100">[S. 100]</a></span> mehr mäßigen als gemäßigten Breiten, der strich gar zu
-gern wie der entlassene Schulmeister im Grünen Heinrich landauf und
--ab durch Berg und Tal und lehrte und überredete und beschwor und
-verkündigte und beschrie als ein echter Schulmeister: Gott ist tot! Und
-noch Zarathustra, der Gepriesene und Hochpreisliche, glich er fürwahr
-in diesem Betracht nicht allzusehr noch einem Schulmeister? Wo aber
-Gott noch ein weniges lebte und heimlich mit den Gliedern zappelte
-und leisen Atems röchelte, vielleicht von gefährlicher Ohnmacht schon
-umnachtet, da schlug ihn der Atheist flugs vollends tot und warf ihn
-ins Dickicht und erregte allenthalben Ärgernis gegen sich, daß er
-einen Schlafenden zu Tod schlug: Weh’, Macbeth mordete den Schlaf,
-den heiligen Schlaf!... Denn wie gesagt, wir sind allzu steil auf
-Nein und Ja gestellt, wir Abendländer. Wir wandeln auf einer Brücke
-von Rasierklingenschärfe über den offenen Abgründen des Lebens und
-mehr noch des Todes dahin, und stoßen gnadenlos in den Abgrund, was
-auf der schmalen Schärfe zwischen Nein und Ja ausruhen will. Und wer
-da sein Haar um ein Tausendteil einer Haaresbreite dünner oder dicker
-spaltet wie wir selber und um diese tausendstel Haaresbreite von
-uns abzuweichen sich gedreistet, den bellen wir hart an mit unseren
-wütendsten Worten und erdolchen ihn stracks mit unseren giftigsten
-Blicken: Pack’ dich, Hund, und scher’ dich dem Teufel zu, von welchem
-du herkamst! Was hab’ ich mit dir zu schaffen? <i>Apage Satanas! Anathema
-sis!...</i> Also wandeln wir zwischen<span class="pagenum"><a name="Seite_101" id="Seite_101">[S. 101]</a></span> Ja und Nein auf der Brücke von
-Rasiermesserschärfe und fluchen lästerlich jedem Begegnenden, dieweil
-uns der Raum fehlt, um freundlich zur Seite zu weichen. Und jeder
-Begegnende ist unser besonderer Feind und jeder Erwidernde unser
-besonderer Widersacher, und unser Leben gleicht einem fort- und
-fortgesetzten Zweikampf, dessen grausamer Ausfall von Tag zu Tag aufs
-neue heißt: Du &mdash; oder Ich. Ich &mdash; oder Du...</p>
-
-</div>
-
-<p>Gotamo jedoch, der Protestant des südöstlichen Festlandes Indien, er
-wandelt nicht zwischen Ja und Nein. Er wandelt, auch hier durchaus Erbe
-und Rechtsnachfolger Krischnas, wie es in der Bhagavad-Gîtâ wörtlich
-heißt: „über die Paare hinausgegangen oder der Gegen- und Widersätze
-ledig: <i>dvantvâtîta, nirdvandva</i>“... Vor die Frage des Du-oder-Ich,
-will meinen Gott-oder-Mensch gestellt, würde Gotamo uns mutmaßlich
-desselbigen Lächelns gar fein zulächeln, mit welchem Gott Krischna, der
-Blondlockige, der Göttermutter Aditi zuzulächeln geruhte. Denn dieses
-weiß Gotamo besser als irgend ein Sterblicher und Unsterblicher der
-östlichen oder westlichen Halbkugel, daß Gott und Göttern nichts so
-verhaßt ist als zwischen die Schere allzumenschlichen Ja-oder-Neins
-geklemmt und von ihr entzweigeschnitten zu werden. Wo Gott geglaubt
-wird, dieses hat wohl Gotamo der Protestant, Gotamo der Atheist tiefer
-und gewisser erfahren als alle Protestanten und alle Atheisten vor,
-neben oder nach ihm, da ist Gott auch und da gibt es Gott. Die Frage
-ist nicht, ob<span class="pagenum"><a name="Seite_102" id="Seite_102">[S. 102]</a></span> es Gott gäbe oder nicht gäbe, die Frage ist, ob Gott
-geglaubt oder nicht geglaubt wird. Gott aber, ihr Christen, und dies
-sei uns das ewig christliche und das überchristliche Faktum aller
-Religion überhaupt, Gott selber wird ewig sowohl geglaubt wie nicht
-geglaubt und so ist Gott selbst darum ewig und ist ewig nicht, &mdash; dies
-sei uns schlechthin die Gewißheit in Ansehung Gottes, in Ansehung der
-Götter. Dies sei uns die vornehmste und unumstößliche und ‚unpaarige‘
-Gewißheit jenseit von Ja und Nein, oder strenger und richtiger
-noch diesseit von beidem und in diesem Diesseit gegensatzentrückt,
-<i>dvantvâtîta, nirdvandva</i>... Wo Gott also geglaubt wird, da ist auch
-Gott; wo Gott nicht geglaubt wird, ist Gott nicht. Umsonst sucht daher,
-wer in den Heiligen Schriften des Pâli-Kanons ein glattes, rundes
-Urteil sucht, ob es Gott gäbe oder nicht gäbe. Just dieses Ur-Teil
-deucht einen Weisen wie Gotamo, einen Erwachten wie Gotamo &mdash; „‚der
-Erwachte, o Keniyo, sagst du?‘ ‚Der Erwachte, o Selo, sag’ ich‘... Da
-gedachte nun Selo der Priester: ‚Das ist ein Wort, das man gar selten
-vernimmt in der Welt, der Erwachte!‘“ &mdash; just dieses Ur-Teil, sag’ ich,
-deucht einen ‚Buddho‘ also wie Gotamo allzusehr ein Nur-Teil, um das
-Ganze zu umspannen.</p>
-
-<p>In der Neunzigsten Rede zwar aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo
-frägt der König Pasenadi von Kosalo den Erhabenen geradezu: „Wie aber,
-o Herr, gibt es Götter?...“ Die Antwort jedoch ist eine Gegenfrage:
-„Warum denn, großer König,<span class="pagenum"><a name="Seite_103" id="Seite_103">[S. 103]</a></span> sprichst du also: ‚Wie aber, o Herr, gibt
-es Götter?‘“ ... Diese Gegenfrage und ihren tiefsten Sinn würde kein
-westlicher Mensch verstanden haben und vielleicht kann sie auch heute
-noch kein westlicher Mensch verstehen, denn der Westen hat bisher von
-der Entscheidung über diese Frage alles abhängig gemacht, nicht allein
-die Religion, vielmehr jedes höhere Leben des Geistes und der Seele,
-das aus Religion hervorblüht. Er sagte sich: Wenn schon Gott nicht
-ist, dann will ich ein Vieh, ein Tiger, ein Haifisch, ein Werwolf, ein
-Ungeheuer sein, &mdash; dann will ich bei Gott diese ganze Welt mit meinen
-Zähnen zerreißen und mit meinem Maul verschlingen... Der Buddho aber
-wirft diese selbe Frage wie einen ihm zugeworfenen Ball anmutig auf
-den Fragenden zurück und spielt gleichsam ein weniges mit ihr, weil er
-sie in ihrer Bedeutunglosigkeit durchschaut hat. Ob Götter, ob keine
-Götter: ihm liegt es unter allen Umständen ob, die Welt zu retten und
-zu tun, was Gott nicht tun kann. Der leichte Spott, die leise Ungeduld,
-die aus der Gegenfrage an den König etwa herauszulesen wäre, hat nichts
-anderes zu besagen als: Sprechen wir von wesentlichen Dingen, o König,
-und schweifen nicht zu unwesentlichen ab...</p>
-
-<p>Umsonst also sucht, wer hier nach jenen gesalzenen Schmähungen,
-Schimpfreden, Grobheiten sucht, wie sie die protestantischen Hellenen
-beliebten, die es unter dem Himmel Homers nicht länger aushalten
-konnten, zu schweigen von den klobigen und klotzigen Flegeleien, mit
-welchen der große Rüpel Martinus die Kirche<span class="pagenum"><a name="Seite_104" id="Seite_104">[S. 104]</a></span> Roms und ihren Papst
-gleichsam wie mit Kübeln überschüttete. In diesen Schriften wird
-nirgends geschimpft, es sei denn von einem unbelehrigen Brahmanen; in
-diesen Schriften wird niemand beschimpft, es sei denn der Erwachte
-selber von einem blindwütigen Priester. Hier, wo es in vieler Hinsicht
-keine Gläubigen und weniger noch Recht-Gläubige gibt, hier gibt es
-erst recht keine Anders-Gläubigen, denen man eins wischen müßte. Die
-europäischen Propheten des Protestantismus haben an den Anhängern
-des Katholizismus jeweils gehaßt, was sie in sich selber überwunden
-(oder auch nicht überwunden) hatten, &mdash; aber der indische Protestant
-Buddho weiß nichts von diesem Haß gegen die eigenen Überwindungen.
-Der weltgeschichtliche Kampf zwischen den Urformen der Religiosität
-wurde und wird in Europa der bösen Beschaffenheit des Europäers
-entsprechend mit vergifteten Waffen geführt, aber Gotamo führet ihn
-nicht einmal mit Waffen, geschweige denn mit vergifteten. Der indischen
-Haupttugend vollendeter Herzenshöflichkeit wie kein zweiter religiöser
-Stifter mächtig, verliert der Erhabene kein Wort gegen die unendlichen
-Götterreihen, welche der Brahmanismus wie einen Berg unendlich
-gestaffelt und gestuft bis zum Himmel und Überhimmel aufgetürmt hatte.
-Der Berg wuchtet und ruht in ihm selber heilig weiter, aber Gotamo
-nimmt auf seinem höchsten Gipfel Platz, um dort die Weihe der vier
-Schauungen (<i>jhânâni</i>) zu begehen. So redet der Buddho in jeder Rede
-ohne Befangenheit von den<span class="pagenum"><a name="Seite_105" id="Seite_105">[S. 105]</a></span> unzähligen Göttern des Veda, und was etwa
-noch wichtiger scheinen könnte, so schweigt er ohne jede Befangenheit
-von ihnen, wo ihm das Schweigen angebracht zu sein deucht. Er redet und
-er schweigt in seinen Reden von den Göttern mit Takt, mit Wohlwollen,
-ja mit Großmut, wie ein erzogener Abendländer über abwesende Gäste
-redet und auch schweigt, deren Menschliches er längst durchschaut hat.
-Dieser unbedingteste Protestant aller Vergangenheiten, gewissermaßen
-ein protestantisches Absolutum, verfährt mit göttlicher Milde gegen
-die Götter, deren schöne Überflüssigkeit in Ansehung dessen, was Not
-wendet, er als der erste Mensch menschheitlicher Gattung erkannt
-hat. Für oberflächliche und grobkörnige Beobachter hat sich in den
-Jahrhunderten zwischen dem Veda, den Upanischaden, den großen Epen und
-dem Auftritt Gotamos, was die Götter anbetrifft, nichts Besonderes
-zugetragen. <i>Ex officio</i> bleiben sie in allen Hoheitrechten ungekränkt
-und unbehelligt, in die sie eine fromme Urzeit einst göttersälig
-eingesetzt hatte. Noch wimmelt Welt, Unterwelt und Überwelt von den
-Heerhaufen der Heiligen und Vollendeten und Engel und Genien und
-Dämonen und sinnlichen und himmlischen Gottheiten bis herauf zum
-Himmelsjüngling Brahmâ selber, &mdash; erst die Zone des Brahman-Âtman
-ist es, die ernsthaft in Frage gestellt, ja verneint erscheint, und
-zwar aus Gründen, die sich gewissermaßen ganz von selbst in eine
-doppelte Gruppe scheiden und die schließlich an dieser Stelle wo nicht
-ausführlich entwickelt, doch wenigstens grundsätzlich erwähnt werden
-müssen.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_106" id="Seite_106">[S. 106]</a></span></p>
-
-<p>Die erste Gruppe dieser Gründe findet sich mit wundervoller Klarheit
-herausgearbeitet und zusammengestellt in der Ersten Rede aus der
-Längeren Sammlung Dîghanikâyo, ‚Das Priesternetz‘ betitelt, wo der
-Buddho auf eine beinah erschöpfende Weise die Trennung zieht zwischen
-seiner eigenen Lebensführung und Weltauffassung und der Lebensführung
-und Weltauffassung brahmanischer Priester und Asketen. Eine durchaus
-kunstgerechte oder gar gelehrtwissenschaftliche Auseinandersetzung à
-la Çankara mit der Götter-, Welt- und Seelenlehre des Brahmanismus
-darf freilich niemand hier erwarten, denn weder sind Gotamos Zwecke
-und Ziele gelehrtwissenschaftliche, noch erhebt er persönlich jemals
-den geringsten Anspruch auf maßgebliche Kennerschaft vedischer
-Theo-Kosmologie und Scholastik. Trotzdem werden hier mit einer
-Dialektik von manchmal glänzender Überlegenheit die wichtigsten
-Standpunkte der brahmanischen Götterlehre, Weltlehre, Seelenlehre im
-Zusammenhang aufgezeigt und in ihrer Nichtzulänglichkeit erhärtet.
-Nicht weil diese Götterlehren, Weltlehren, Seelenlehren falsch
-wären, sondern im Gegenteil, weil sie richtig sind, richtig nämlich
-als eine Reihe von einander sich ausschließenden Vernunftaussagen,
-gleichmäßig zulässig, gleichmäßig ‚wahr‘, &mdash; eben darum sind sie
-alle zusammen doch nur als bloße Vorläufigkeiten, wenn nicht
-als Unerheblichkeiten (ἀδιάφορα) zu bewerten und zu
-verwerfen. Als Standpunkt der Erkenntnis können, ja müssen sie von
-den Erkennenden eingenommen<span class="pagenum"><a name="Seite_107" id="Seite_107">[S. 107]</a></span> werden, und wenn sie sich im einzelnen
-dann kontradiktorisch widersprechen, beweist das nicht, daß sie
-erkenntnismäßig unzulässig sind: aber es beweist, daß es von Übel sei,
-wenn sich die Vertreter der einzelnen Standpunkte innerlich gleichsam
-mit ihnen für verwachsen erklären und so ihr persönliches Heil mit
-einer jeweiligen Ansicht-Sache, Meinung-Sache verwechseln. Über Götter,
-Welt und Seele mag jeder denken, was seinen Verständniskräften am
-besten entspricht und ihn am innigsten befriedigt. Und vielleicht
-gibt es unter allem, was bisher von menschlichen Wesen über diese
-Gegenstände ausgeheckt worden ist, gar nichts, das grundsätzlich und
-in jedem Sinn falsch oder verkehrt wäre. Nur ziemt dem Erwachten ein
-Standpunkt, unendlich über alle diese Standpunkte erhöht, wofern der
-Erwachte seinerseit alle einzelnen Standpunkte durchlaufen und in
-ihrer verhältnismäßigen Berechtigtheit durchschaut hat: nun aber sich
-selbst die unbedingte Freiheit streng zu wahren entschlossen ist,
-auf keinem als einem endgültigen auszuruhen und zu beharren und ihn
-für den einzig richtigen, den einzig angemessenen auszugeben. Sich
-auf keinen erkenntnismäßigen Standpunkt festzulegen und sich für
-keinen zu entscheiden, das ist der Standpunkt des Buddho gegenüber
-allen üblichen Lehren von Gott, Welt und Seele. Der Protestant Gotamo
-protestiert gegen jedwede dogmatische Bindung zugunsten einer bloßen
-Ansicht oder Annahme, Meinung oder Auffassung. Er protestiert dagegen
-nicht wie der Protestant Kant, um die ewigen<span class="pagenum"><a name="Seite_108" id="Seite_108">[S. 108]</a></span> Rechte der Kritik
-gegen das Dogma zu vertreten, vielmehr aus der tiefen und religiösen
-Selbsterfahrung heraus, daß sich mit dem eigenen Wesen und Wesensziel
-keine sogenannte Wahrheit wirklich deckt: daß hier stets und immer
-eine Leere bleibt, die nach anderer Erfüllung heischt, als sie die
-Doktrin gewähren könnte. „Da erkennt denn, ihr Mönche, der Vollendete:
-‚Solche Ansichten, also angenommen, also beharrlich erworben, lassen
-dahin gelangen, lassen eine solche Zukunft erwarten.‘ Das erkennt
-der Vollendete, und erkennt, was darüber hinausreicht. Bei dieser
-Erkenntnis beharrt er aber nicht, und weil er dabei nicht beharrt,
-findet er Einkehr eben in sich“...</p>
-
-<p>Eine zweite Gruppe von Einwürfen gegen die Brahman-Âtman-Zone, nicht
-ohne einen gewissen inneren Zusammenhang mit dieser, erörtert der
-Buddho vielleicht am durchsichtigsten in der Hundertundneunten Rede
-aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo, die den Titel ‚Vollmond‘
-führt. In dieser Rede rechtfertigt und begründet Gotamo eine der
-umstürzlerischsten Überzeugungen des Buddhismus überhaupt, und
-zwar überraschenderweise, obwohl es sich unstreitig um einen rein
-religiösen Sachverhalt handelt, in enger Bezugnahme auf Kants Kritik
-des ersten Paralogismus in der transzendentalen Dialektik seines ersten
-Hauptwerkes: die Überzeugung nämlich, daß alles, was wir unser Ich,
-unsere Persönlichkeit, unser Selbst nennen und was der Brahmanismus
-als Âtman, Brahman, Lebensurgrund, Weltwesen verehrt,<span class="pagenum"><a name="Seite_109" id="Seite_109">[S. 109]</a></span> in Wahrheit
-gar kein ontologisch zu verstehendes <i>substratum</i>, <i>subjectum</i>,
-ὐποκείμενον unserer Bewußtseins-Welt sei, sondern im besten
-Fall ein bloßer Bestandteil, bloßer Inhalt dieser nämlichen Welt,
-der genau wie jeder andere Bestandteil und jeder andere Inhalt des
-Bewußtseins über die rein vorstellungmäßige Gegebenheit hinaus immer
-für fragwürdig gelten müsse. Es gibt kein Ich, es gibt kein Selbst
-als Träger der Bewußtheit-Mannigfaltigkeit, und vollends gibt es kein
-Urselbst als Träger der gesamten Weltwirklichkeit und als ihr Urheber
-und Erhalter, wie es der Brahmanismus unter dem Namen Âtman anruft,
-bekennt, voraussetzt. Wenn der Brahmanismus das ‚<i>Eso ’ham asmi</i>:
-Das bin Ich‘ und vielleicht mehr noch das gleichsinnige ‚<i>Tat tvam
-asi</i>: Das bist Du‘ zur Weltformel erhoben hat, und wenn er mit dieser
-Weltformel zuletzt nur das schlechthin unwiderlegliche religiöse
-Urerlebnis auf eine mitteilbare Aussage bringen will: die Wahrnehmungen
-bin Ich-Selbst, die Gegenstände bin Ich-Selbst, die Zustände bin
-Ich-Selbst, die Widerstände bin Ich-Selbst, die Wirklichkeiten bin
-Ich-Selbst, die Unwirklichkeiten bin Ich-Selbst, die Überwirklichkeiten
-bin Ich-Selbst, das Ich und das Du und das Nichtich bin Ich-Selbst!
-&mdash; nun wohl, dann weiß Gotamo dieser aus unwiderleglichem Erleben
-geschöpften Formel die aus nicht minder unwiderleglichem Erleben
-geschöpfte Gegenformel mit einer steinernen Wucht entgegenzustemmen,
-‚<i>N’etam mama</i>: Das gehört Mir nicht‘, die Wahrnehmungen bin Ich
-nicht, die Gegenstände<span class="pagenum"><a name="Seite_110" id="Seite_110">[S. 110]</a></span> bin ich nicht, die Zustände bin Ich nicht,
-die Widerstände bin ich nicht, die Wirklichkeiten bin Ich nicht,
-die Unwirklichkeiten bin Ich nicht, die Überwirklichkeiten bin Ich
-nicht, das Ich und das Du und das Nicht-ich bin Ich nicht!... Dem
-nicht zu entkräftenden Erfahren des Brahmanismus, wonach Alles das
-Selbst ist, antwortet der Buddho mit dem nicht zu entkräftenden
-eigenen Erfahren, wonach Nichts das Selbst ist. Dem Abendländer aber,
-der hier mit seiner Schere Ja-oder-Nein dazwischen fährt und die
-lediglich wissenschaftliche, nicht jedoch religiöse Frage aufwirft:
-wer von beiden recht habe? &mdash; ihm antworte ich selbst mit aller
-Entschiedenheit: Beide!... Wiederum gelangt nämlich hier im Buddhismus
-eine tief protestantische Auffassung zu ihrem weltgeschichtlichen
-Durchbruch, &mdash; eine Auffassung, der es gemäß ist zu denken und zu
-sprechen: Es gibt keine Grundlegung und keine Grundfestung, es gibt
-keine Trägerschaft und keine Verankerung, es gibt keine <i>substantia</i>
-und kein <i>principium</i>, es gibt kein ὐποκείμενον und keine
-ἀρχή. Sondern es gibt nur einen stätigen Vorstellungablauf,
-eine stätige Tätigkeitänderung, einen stätigen Erlebniswechsel. Es
-gibt kein Sein und weniger noch ein Wesen, sondern allein ein Tun
-und ein Werden, &mdash; es gibt kein <i>esse</i>, sondern nur ein <i>fieri</i> oder
-<i>operari</i>; ganz wie dies von den naturforschenden Wissenschaften des
-Westens und von ihrem kritisch-kritizistischen Protestantismus längst
-auf die Spitze getrieben und infolgedessen überspitzt ward. Nicht aber
-auf die Spitze getrieben und infolgedessen auch nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_111" id="Seite_111">[S. 111]</a></span> überspitzt
-ward dieser Protestantismus vom Buddho, wie man in der erwähnten Rede
-‚Vollmond‘ aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo leicht nachlesen
-kann. Denn kaum ist hier ein Mönch im Begriff, aus dem von Gotamo
-entwickelten Gedanken der Selbst-Losigkeit und Selbst-Ledigkeit alles
-Geschehens und Tuns den etwas voreiligen, aber folgerichtigen Schluß
-zu ziehen: also gibt es auch keines Selbstes Täterschaft getaner Taten
-und keines Selbstes Verantwortlichkeit für diese! &mdash; da muß sich
-auch schon der scharfsinnige Fürwitz dieses Mönches, der gleichsam
-die Rolle unserer hemmunglosen Wissenschaftlichkeit vorwegnimmt, die
-derbste Zurechtweisung von Gotamo gefallen lassen. Denn dieser Mönch
-steht auf dem Sprung, den großartigen Protestantismus Gotamos von der
-Selbst-Losigkeit und Selbst-Ledigkeit des Erlebens dadurch um seine
-religiöse Geltung zu bringen, daß er ihn allzu gradlinig weiterdenkt
-bis dahin, wo das Denken nicht mehr mit dem Leben und Erleben in
-Einklang zu bringen ist. Alles bin Ich nicht und Nichts gehört Mir, &mdash;
-das ist ganz einfach eine Erfahrung, die umso erschütternder erfahren
-wird, desto tiefer ein Mensch sich seiner selbst bewußt und inne wird;
-und völlig vergeblich suchen wir aus irgend einer Erscheinung oder aus
-irgend einer Gegebenheit das Sein des Selbstes, das Sein der Person,
-das Sein der Seele herauszuklauben. Aber über diese erschütternde
-Erfahrung heraus nun um Gottes willen keine weltzersetzenden und
-selbstzersetzenden Betrachtungen, um Gottes willen keine<span class="pagenum"><a name="Seite_112" id="Seite_112">[S. 112]</a></span> Angriffe
-und Eingriffe in solche unumstößlichen Gewißheiten wie die, daß
-jegliche Tat ihren Täter habe und jeder Täter seine persönliche
-Beschaffenheit, Eigenheit, Umschriebenheit. Es ist nicht die Sache der
-Weisheit und noch weniger die Sache der Frömmigkeit und Heiligkeit, die
-Widersprüche des Daseins fortzudenken, sondern ihre Sache ist es, diese
-Widersprüche lauter herauszustellen und an ihnen hinauf gütig über sie
-hinauszuwachsen ‚<i>dvantvâtîta, nirdvandva</i>‘...</p>
-
-<p>Trotz aller Höflichkeit gegen die alten Götter bedeutet also Gotamos
-Verkündigung und Auftritt, wir können es jetzt ungefähr ermessen,
-eine religiöse Katastrophe, die in keinem Göttersturz östlicher oder
-westlicher Welten ihresgleichen findet. Dieser Gotamo, auf dem Gipfel
-des unendlich schichtigen Göttertempelberges des Brahmanismus thronend
-wie der höchste Stûpa auf der Kuppe des Boro-Budur, er behält sich
-im Unterschied zu allen Heiligen der Vorzeit alle ersten und letzten
-Entscheidungen der Tat selber vor. Mag immerhin ein Brahmâ oder sonst
-ein Mahâdeva diese und manche andere Welt geschaffen und geballt haben,
-&mdash; erlösen wird sie und vor allem erlösen wird sich nicht dieser
-Brahmâ und nicht ein Mahâdeva, sondern erlösen wird sie und erlösen
-wird sich Gotamo der Mensch allein. Fortan sind diese Götter zu einer
-Art von idealischer Zuhörerschaft, Zuschauerschaft bestimmt, uns
-Europäern vom Chor der attischen Tragödie her nicht ganz unbekannt.
-Diese Götter sind nunmehr Chor<span class="pagenum"><a name="Seite_113" id="Seite_113">[S. 113]</a></span> im Drama, dessen Held und Heldentäter
-der Ewige Mensch ist. Diese Götter schauen und hören nicht ohne
-Teilnahme zu, was hienieden sich begibt in Magadhâ, was sich begibt
-im Udener Park, im Garten der Gotamiden, im Siebenmangohain, auf dem
-Hügel mit dem Vierblätterlaub, am Grabmal an der Sarandadâ, im Pâvâler
-Baumfrieden und ich weiß nicht wo sonst. Es schaut zu der tausendfache,
-fünftausendfache, hunderttausendfache Brahmâ, es schauen zu die zwölf
-Âdityas und die Dreiunddreißig, es schauen zu die Götter Lustig und
-Nicht-Lustig im Dämmerlicht, es schauen zu die Götter Sinnig im
-Dämmerlicht, und die Schattengötter. Es schauen zu die Säligen Götter,
-die Götter der unbeschränkten Freude und Jenseit der unbeschränkten
-Freude, die glänzenden Götter und die hellerglänzenden Götter, die
-leuchtenden, die strahlenden und die hellerstrahlenden Götter, die
-unermeßlich strahlenden und die strahlengewordenen Götter, die
-gewaltigen und die wonnigen Götter, die herrlichen und die erhabenen
-Götter... Und das ist die Katastrophe ohnegleichen, welche die Götter
-seit dem Auftritt Gotamos betroffen, daß sie von Szene und Orchestra
-hinaus auf die Sitze des Theaters gedrängt worden sind und nicht mehr
-selber spielen, nicht mehr selber ernsten. In einem erschreckend
-strengen Wortsinn war der Gott Mensch geworden: im vierten Weltalter
-erlöst der Mensch sich selber, indessen Gott von ferne zusieht,
-vielleicht nicht ohne eine Regung von Ergriffenheit in die Erinnerung
-ans dritte Weltalter brütend verloren, da Er einst Gott und Mensch
-zumal war...</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_114" id="Seite_114">[S. 114]</a></span></p>
-
-<p>Wo Gott geglaubt wird, sagte ich vorhin (und sprach dabei in der
-Sprache unserer westlichen Welthälfte), da sei auch Gott. Jesus, der
-Christus und Heiland dieser westlichen Welthälfte in ihrem nunmehr
-vielleicht abgelaufenen Weltalter, er sagte zu dem geheilten Samariter:
-Steh’ auf, geh’ hin! Dein Glaube hat dir geholfen! Der Glaube also,
-ihr Christen, hat hier geholfen, denn der Glaube schlägt vom Menschen
-zum Gott die Brücke und vom Gott zum Menschen, darauf beide in der
-Mitte hinüber-herüber sich begegnen und durcheinander hindurchgehen.
-Der Glaube zeuget als Mann Gott und gebiert als Weib Gott, und Gott
-spendet der Seele, woran sie darben muß, und so bedünkt den Gläubigen
-alles recht und gut. Es kann jedoch geschehen, ihr Christen, und wie
-vielmals ist es nicht bereits geschehen, daß der Mensch zwar glaubt und
-‚reich ist in Gott‘, aber dennoch arm an der Tat, die einzig Not tut
-und einzig Not wendet. Es kann geschehen, und wie vielmals ist es nicht
-bereits geschehen, daß die Welt in die Vaterhände Gottes fromm gelegt
-ward, wo sie gar rund und schön und fertig ruht, aber das Werk, das
-unerläßliche, unterlassen bleibt und diese nach außen schön geballte
-Welt nach innen ungeformt bleibt. Es ist gewiß, daß der Glaube geholfen
-hat, hier und da, vor Zeiten und in der Gegenwart, und darüber ist dann
-freilich nichts weiter zu sagen. Es ist aber nicht weniger gewiß, daß
-der Glaube auch nicht geholfen hat, hier und da, vor Zeiten und in der
-Gegenwart, &mdash; und offenbar, um nur eines anzuführen, ihr<span class="pagenum"><a name="Seite_115" id="Seite_115">[S. 115]</a></span> Christen,
-hat er dem Christ selber nicht geholfen, als er am Marterholz nach den
-Elohim schrie und der Sohn vom Vater sich verlassen und verraten fand.
-Der Christ selber hatte den Vater gerufen und der Vater hatte nicht
-gehört; der Christ hatte anderen geholfen, aber konnte sich selber
-nicht helfen. Was aber dann, wenn sich der Glaube selbst nicht hilft?
-Da möchte einer sein, der glaubt aus ganzem Herzen, Gott sei für ihn
-ans Kreuz gehangen worden, und er findet sich dabei getröstet und
-von der Welt frei. Indes ein anderer möchte sein, der sich desselben
-Glaubens rühmt, aber in bittere Betrübnis fällt ob des Gottes, der für
-ihn ans Kreuz gehangen ward, und er kann nicht erraten &mdash; warum? Ein
-solcher spricht dann etwa zu sich (und seufzet dabei viel): Weshalb,
-mein Gott, mußte Gott am Kreuze sterben und weshalb mußte Er sterben
-&mdash; für mich? Was taugt es meiner Schmerz- und Sehnsuchtseele, daß
-Gott am Kreuz gestorben ist? Was frommt mir Lebendem Gottes Tod,
-gesetzt, dies Leben bleibe doch bis ins Mark hinein ungöttlich oder
-widergöttlich? So haben die Christen, ihr Christen, viel hinüber und
-herüber und hinum und herum geglaubt, aber man könnte der Meinung
-sein, es sei wenig dabei herausgekommen, daran ein rechtschaffener
-Gott Seine rechtschaffene Freude haben möchte... Ihr Christen habt
-viel geglaubt, habt viel gehofft, habt viel sogar geliebt, wenn anders
-eueren Beteuerungen wohl zu trauen ist, &mdash; denn wenigstens habt ihr
-vieles von der Liebe geschwatzt, das euch wie Speichel von den<span class="pagenum"><a name="Seite_116" id="Seite_116">[S. 116]</a></span> Lefzen
-einer alten Vettel geflossen ist und manchmal auch wie Rotz aus den
-Nüstern eines gelbsüchtigen Gaules... Aber wie schaut es bei euch
-aus, ihr Christen? Und Greuel über Greuel: wie schaut es in euch
-aus? Ist euer mildes Christenherz nicht eine Wolfsfalle für grobes
-Raubzeug geworden, &mdash; und was wäre dem westlichen Menschen, der nun
-des Menschen Wolf kaltblütig und entschlossen geworden ist, nicht
-grobes Raubzeug? Ist dieses liebende Christenherz nicht eine Falle, vom
-Jäger arglistig bestreut mit dem grünen Laub des Glaubens, überblüht
-mit der braunen Knospe der Hoffnung, goldig und blau umlockt von der
-Rankenblume der Liebe? Wer aber dies euer leeres Herz betastete,
-verschlackt von der Feuerkohle ungeläuterten Liebens, zerfressen vom
-Rost zuchtlosen Hoffens, verdorrt in den Glutbränden und Blutbränden
-blindwütigen Glaubens, Anders-Glaubens, Aberglaubens, &mdash; wie könnte
-er länger daran zweifeln, daß es eben der Glaube war, der euch nicht
-geholfen hat, ihr Christen! Nein, hier hat der Glaube nicht geholfen,
-und weniger noch hat er dort geholfen, wo heute die Besucher aller
-Kaffee-Häuser und die Gäste bei allen Fünf-Uhr-Tänzen nach dem Neuen
-Gott winseln und nach einem netten, runden Glauben an Gott. Dieses
-hündische Gott-Gewinsel, ihr Christen und Nichtmehr-Christen, dies
-ist fürwahr das Schändlichste gewesen, was ihr euch leisten konntet.
-In Kaffeehäusern und Nachtlokalen, in Spielhöllen und Bordellen, in
-Parteiversammlungen und Literatenzusammenkünften<span class="pagenum"><a name="Seite_117" id="Seite_117">[S. 117]</a></span> schrieet ihr euch die
-Hälse heiser nach dem Neuen Gott, damit er die Last des Verhängnisses
-von euch nähme, das ihr über euch gewälzt habt. Wie hungrige Ferkel
-nach den Zitzen des Mutterschweins schrieet und grunztet ihr nach Gott,
-damit ihr wie vormals in den Tag (und lieber noch in die Nacht) hinein
-leben könntet, als ob wenig oder nichts geschehen wäre... Nun ihr die
-Scham vor euch selber und die Ehrfurcht vor der Welt verloren hattet,
-die heilig über jede Heiligkeit hinaus ist, da schaltet ihr die Welt
-gottlos und euch selbst entgöttert. Ach, daß wir doch wieder glauben
-dürften, möchten, könnten! Ach, daß wir doch wieder in Kindereinfalt
-die Hände falten lernten und beten: „Lieber Gott, mach’ mich fromm,
-daß ich zu dir ins Himmelreich komm!“ Ach, daß wir doch wieder würden
-wie die Kinder, nachdem die Kinder, Gott sei’s geklagt, längst wie wir
-Erwachsenen geworden waren! Ach, daß wir doch auf allen Vieren füßelnd
-und etwas Wau! Wau! bellend ins Himmel-Bimmelreich der Nesthäkchen
-kriechen könnten! Ach, daß wir doch unsere Unschuld so frühzeitig und
-so gründlich einbüßen mußten und vermeinten, für unsere Schuld keine
-Buße tun zu müssen! Ach, daß die herrenlose Herde einmal wieder den
-Herrn verspürte und den Hirten oder zum wenigsten doch den Hund des
-Hirten! Ach, daß die Führerlosen ihren Führer fänden, die sich selbst
-nicht zu führen wissen, und alle Schwachen ihren starken Mann! Ach, daß
-der Herr-Gott doch über Böse und Gute wieder aufginge und insonder<span class="pagenum"><a name="Seite_118" id="Seite_118">[S. 118]</a></span>heit
-über die Zahlungunfähigen und Bankerotten, wie der keusche Mond
-aufgehet über die Gassen der Buhlerinnen und Huren! Ach, daß Gott den
-Unrat und Unflat von uns fegte, der uns mästete und von dem wir über
-die Maßen fett wurden!...</p>
-
-<p>Euch allen aber, Christen wie Nicht-mehr-Christen, hat Gott nicht
-geholfen und wird Gott nicht helfen. Selber habt ihr euch alle nicht
-geholfen, wie hätte Gott da eingreifen sollen oder helfen wollen? Wer
-aber glaubt, der soll sich selber helfen, und wer nicht glaubt, der
-soll erst recht sich selber helfen: so spricht der Gott-Lose zu euch
-Christen und ist fürwahr der Frömmere von euch Christen. Alleinig
-trachtsam nach selbstretterischer Tat, wird er der Tat trächtig und
-wohl auch mächtig und lässet in höchster Ehrerbietung Gott Gott sein,
-der es wissen muß, was er tun und was er lassen will. Der Gott-Lose
-lässet Gott Gott sein, sag’ ich, und vollbringt ohne Gott, was dem
-Menschen not ist. Kann sein, daß er glaubt, kann sein, daß er nicht
-glaubt, &mdash; beides verrückt ihm nicht die groben und die feinen
-Gewichte mehr. Er selber hebt die Gewichte; er selber hält den Berg
-Govardhana über die Welt, wie weiland Krischna der Heiland und Held
-über die Hirten seiner Heimat, als Indra der Zürnende in der Sintflut
-sie ersäufen wollte. Nicht ist er begierig und nicht ist er fähig,
-endgültig den Knoten der Welt zu entknoten, der Gott heißt; nicht
-gilt ihm der bloße Glaube mehr wie der Nicht-Glaube. Aber den Berg zu
-halten über die Welt, die unbeschirmte und unbeschützte,<span class="pagenum"><a name="Seite_119" id="Seite_119">[S. 119]</a></span> und mit dem
-Berg als Schild die Hagelschauer des Schicksals und die Sonnenstiche
-des Todes aufzufangen, des ist er begierig, des ist er fähig. Hier ist
-die Rose, hier tanzt er; hier ist seine Treue, die er eisern hält. Der
-rechte Gläubige aber, das mögt ihr vorgeblich Gläubigen und vergeblich
-Gläubigen euch noch gesagt sein lassen: der rechte Gläubige ist ein
-Meerwunder. Ich glaube nicht an seinen Glauben, er weise mir denn
-seinen Berg Govardhana, den er von seiner Stelle versetzte und aus
-seiner Wurzel hob...</p>
-
-<p>Gotamo der Protestant also verlegt den Weltschauplatz aus Gott hinaus
-in sich selbst hinein, von der Erfahrung gewitzigt, daß Gott der Welt
-bisher allzu wenig geholfen hat und wesentlich mehr auch der Glaube
-an Gott nicht. Für Gotamo den Protestanten ist Gott ein Zuschauer wie
-ein Baum in einem Obstgarten, der eine Weile ausruht. Eine Legende des
-späteren, auf nördlicher Überlieferung fußenden Mahâyânam-Buddhismus,
-der sonst als eine völlige Umdeutung und Verkehrung der ‚reinen‘, das
-ist hier ‚protestantischen‘ Lehre ins Katholische zurück durchaus
-betrachtet werden muß, hat dessen unerachtet just diesen entschiedenen
-Protestantismus Gotamos auf glücklichste Weise zu versinnbildlichen
-vermocht. Sie nämlich lässet Gotamo, bevor er in der Nacht der
-vollkommenen Erwachung die Würde des vollkommen Erwachten (das ist im
-Pâli eben ‚Buddho‘) erwirbt, &mdash; „Der Erwachte, o Keniyo, sagst du?“
-„Der Erwachte, o Selo, sag’ ich!“ &mdash; sie also lässet den zwar noch
-nicht Erwachten,<span class="pagenum"><a name="Seite_120" id="Seite_120">[S. 120]</a></span> wohl aber bereits Erwachsamen (in den Pâli-Texten nur
-sehr selten vorkommend als der ‚<i>bodhisatto</i>, <i>bodhisaktas</i>‘, späterhin
-dann bekanntlich in die Sanskrit-Texte als ‚<i>bodhisattva</i>‘ fälschlich
-übertragen) ein feierlich Gelübde tun. Es ist das heilige Gelübde zu
-vollbringen, was er beschworen habe, und zu vollenden, was er gewillt
-sei, &mdash; ganz offenbar hier in der Erinnerung vorgebracht an den Dritten
-Bericht aus dem Großen Verhör über die Erlöschung Mahâparinibbânasuttam
-aus der Längeren Sammlung der Reden Dîghanikâyo, wo der vom Tode, von
-Mâro zur Erlöschung gemahnte Gotamo die folgenden Worte spricht: „Nicht
-eher werde ich, Böser, zur Erlöschung eingehn, solange Mönche bei mir
-nicht Jünger geworden sind, solange Nonnen bei mir nicht Jüngerinnen
-geworden sind, solange Anhänger und Anhängerinnen bei mir keine Jünger
-geworden sind, solange da bei mir das Asketentum nicht mächtig wird
-aufgediehen sein, nach allen Seiten hin, unter vielem Volke verbreitet,
-jedem zugänglich, bis es eben den Menschen wohlbekannt geworden ist.“
-Die Gebärde nun dieses großen Schwures, mit einer wahrhaft asketischen
-Enthaltsamkeit des bildnerischen Aufwandes, aber freilich auch mit
-einer nirgends überbotenen Gewalt des Ausdrucks dargestellt vielleicht
-am erhabensten in den Nischen jenes obgedachten Stûpa Boro-Budur auf
-Java, &mdash; diese Gebärde besteht unsäglich schlicht nur in einer leis
-leisen Berührung der Erde mit der rechten Hand, die mit dem Rücken
-nach außen leicht auf dem Unterschenkel des rechten<span class="pagenum"><a name="Seite_121" id="Seite_121">[S. 121]</a></span> unterschlagenen
-Beines liegt. Berühren der Erde, <i>bhûmisparçamûdra</i>, heißt die Gebärde,
-heißt der Eid selbst dieser höchsten Buddho-Treue in der hieratischen
-Sprache der späteren und nördlichen Urkunden, die hier ganz ohne
-Frage den innigen Sinn der seelischen Begebenheit zu treffen, wenn
-nicht zu steigern wissen. Ein Berühren der Erde und ein Gelöbnis, bis
-zur endgültig gebrochenen Bahn auf dieser Erde zu verrichten und zu
-erwirken, was Gott und alle Götter bisher nicht zu erwirken vermocht
-haben: das ist, das bleibt im reinsten Geist des Buddho eigentlicher
-Protestantismus...</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_123" id="Seite_123">[S. 123]</a></span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="DIE_ZWEITE_UNTERWEISUNG">DIE ZWEITE UNTERWEISUNG:<br />
-BUDDHO DER ERLEBENDE</h2>
-
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_125" id="Seite_125">[S. 125]</a></span></p>
-
-<p class="initial">DAS HEILIGE NEIN LASST UNS BEKENNEN DENN NEIN UND JA SIND WIE
-DIE SCHENKEL DER NÄMLICHEN PARABEL, UND WO SICH DIESE SCHEITELT,
-DURCHDRINGEN BEIDE SICH IN EINEM PUNKT &mdash; DENN NEIN UND JA SIND
-WIE DER ABSTEIGENDE UND ANSTEIGENDE KNOTEN DER WELT, UND WO SICH
-BEIDE SCHÜRZEN, SCHWEBT GIPFELND DAS GESTIRN DER WELT DURCH SEINEN
-MITTAGSKREIS &mdash; DENN NEIN UND JA SIND WIE DAS AUSSENBLATT UND
-INNENBLATT DESSELBEN KEIMLINGS, IM SCHOSSE DER GEBÄRERIN WIE BETERHÄNDE
-STRENG GEFALTET &mdash; GEFALTET ZUM AUSSEN-INNEN-BLATT REIFT ERST DER
-KEIMLING DER GEBURT ENTGEGEN: GEFALTET ZUM NEIN-JA REIFT ERST DIE SEELE
-IHRER WELT ENTGEGEN &mdash; DAS NEIN ZERSPELLT DAS GOLDENE EI DER WELT,
-DAS MÜTTERLICH VOM PHÖNIX GEIST BEBRÜTETE &mdash; JEDOCH DES JUNGEN ADLERS
-SCHNABELSCHÄRFE IST ES, DIE SICH MIT FRÜHFLÜGGER WEISHEIT LICHTBEGIERDE
-DAS DUNKLE EI ZERSPELLT &mdash; O WELT, VON DEINER SONNE EMPFING ICH
-TRÄUMEND EINEN HIMMELSTRAHL IN MEINEM AUG, ALS ES NOCH SCHLIEF, ZUM
-PFAND, DASS ICH DEREINST MICH AN DIR SONNEN WÜRDE, WANN ICH DURCH DEINE
-BITTERSCHALE BRACH &mdash; O AUGE ICH DER WELT, O HIMMELSAUGE ICH, ZU DIR,
-O<span class="pagenum"><a name="Seite_126" id="Seite_126">[S. 126]</a></span> WELT, ERWACHEND &mdash; O ICH ERWACHTER DANN, VOLLKOMMEN ERWACHTER ICH ZU
-DIR, O WELT &mdash;</p>
-
-<p class="center">DIES IST DIE ZWEITE UNTERWEISUNG</p>
-
-<div class="section">
-
-<p class="initial">Ein jeder von uns, ihr Christen, pflegt aus einer wüsten Menge
-gleichgültiger Begebenheiten seines Daseins das eine oder andere
-Ereignis herauszuheben, welches er vor sich selber gern als sein
-Erlebnis wahrzeichnet. Ein jeder von uns lebt vielleicht Jahre
-hindurch, lange und langweilige Jahre, nur so dahin, &mdash; bis ihn zu
-irgendeiner Stunde ein Blick aus einem Menschenauge trifft; bis ihn
-ein Wort, ein Ruf, ein Haß, eine Freundschaft, ein Todesfall, ein
-Lebensfall erreicht, der ihn im Innersten aus seiner Bahn wirft oder
-ihm umgekehrt seine Bahn erst weist. Zweierlei ist es also, was ein
-Begebnis zum Erlebnis stempelt. Einmal die scharfe Abgrenzung und
-Abhebung von allem andern, was bisher gemeinhin als Erfahrungstoff
-aufgenommen, verarbeitet und ausgewertet ward. Das andere Mal
-aber die Aneignung und Besitzergreifung eines Vorkommnisses als
-einer ausschließlich auf diese besondere Person und keine sonst
-zugeschnittenen Begebenheit. So daß in einem zwiefachen Wortverstand
-das Erlebnis als Ausnahmefall und Einmaligkeit angesprochen wird: im
-Vergleich nämlich mit allen sonstigen Erfahrungen einer Person, wie sie
-von der Gewohnheit gleichsam in der Handmühle der Alltäglich<span class="pagenum"><a name="Seite_127" id="Seite_127">[S. 127]</a></span>keit klein
-und fein gemahlen werden oder wie sie gleichfalls von der Gewohnheit
-ohne die geringste Spur zu hinterlassen aufgebraucht und eingeschluckt
-werden; im Vergleich ferner mit den Erlebnissen aller übrigen Personen,
-welchen die Möglichkeit zu eben diesem Erlebnis der höchsteigenen
-Person schlankweg aberkannt wird, &mdash; und zwar mit gutem Fug aberkannt
-wird, wie wir uns bald überzeugen werden...</p>
-
-</div>
-
-<p>Was also heißt Erlebnis? Da ist etwa ein Mensch in langen Jahren jeden
-Morgen um dieselbe Stunde denselben Weg zu seinem Geschäft gegangen;
-entlang denselben Straßenzügen, vorbei an denselben Häusern, Gärten,
-Mauern. Er weiß genau die Zahl der Schritte, die er zurückzulegen hat.
-Er kennt die Straßen, Häuser, Gärten, Mauern längst auswendig, und ihr
-immer gleicher Anblick berührt ihn so wenig mehr wie das immer gleiche
-Gelärm der Straßenbahnen, Kraftwagen, Droschken und Lastfuhren, der
-Dampfpfeifen, Sirenen und Hupen, der Ausrufer und Gassenkinder. Bis
-er an einem Morgen unter den ungezählten Morgen etwa von ungefähr den
-Zweig eines blühenden Goldregens über eine Mauerecke im Winde schaukeln
-sieht, und von diesem Anblick, der möglicherweis oft schon auf seine
-gleichmütige Netzhaut gefallen war, ganz seltsam berührt, betroffen und
-beglückt sich fühlt. Diesen im Morgenwind wiegenden Goldregenzweig über
-der Mauerecke verleibt er sich als einen nie wieder zu verlierenden
-köstlichen Besitz in seiner Erinnerung ein, &mdash; und nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_128" id="Seite_128">[S. 128]</a></span> nur wird
-er diesen Eindruck nie, nie wieder vergessen können, sondern auf
-unbegreifliche Art von ihm im Innersten durchsäuert und durchwühlt,
-durchpflügt und durchschüttert werden. Dieser Goldregen über der
-Mauerecke hat ihm plötzlich Beziehungen aufgeschlossen und Gesetze
-enthüllt, die ihm bis zu dieser Stunde schlechterdings verborgen
-geblieben waren. Wie ist die Welt so hell, wie ist die Welt so reich,
-wie ist die Welt so schön, fällt ihm jetzt vielleicht als unvermittelte
-Offenbarung in die Seele, die selbst für einen ewigen Augenblick hell,
-reich und schön wird... So dünkt den Erlebenden der Goldregenzweig über
-der Mauerecke an jenem Morgen der Seelen-Öffnung wie ein Schicksal,
-das sich früh auf die Beine gemacht hat, ihm an der richtigen Stelle
-zu begegnen. Aus der verstaubten Reihe von täglichen und ähnlichen
-Erfahrungen, die niemals Erlebnis geworden sind, hebt sich glänzend
-dieses eine Glied heraus, wie sich etwa aus einer Kette von Wachsperlen
-eine echte und wirkliche Perle herausheben würde. Was dieser Mensch,
-sonst vielleicht ein elender Spießbürger oder ein verhärteter Krämer,
-hier erlebt, das unterscheidet sich für ihn selber auf das bestimmteste
-von seinem gesamten sogenannten Leben: und mehr noch unterscheidet es
-sich für ihn vom Erleben aller anderen Lebendigen. Denn eben, indem
-er die Wahrnehmung ‚Goldregen über einem Mauerwinkel‘ zu dem Erlebnis
-steigerte: ‚Wie ist doch diese Welt hell, reich, schön‘, verhaftet und
-vereignet sich dieses Erlebnis auf eine kaum zu beschreibende<span class="pagenum"><a name="Seite_129" id="Seite_129">[S. 129]</a></span> Weise
-mit ihm selber. Sein Erlebnis ist nicht allein eine Begebenheit außer
-allem Vergleich mit den übrigen Begebenheiten seines persönlichen
-Lebensablaufs, &mdash; es ist außerdem auch noch eine Begebenheit, an
-welcher kein anderer Mensch Teil hat und Teil haben kann. Denn im
-Erlebnis fließt ein Stück Welt in ein Selbst über und fließt ein Selbst
-in ein Stück Welt über, so daß beide fortan untrennbar eins sind. Der
-Erlebende hat die Gewißheit, er darf sie haben, daß sein Erlebnis
-in einem unbedingten Wortsinn Sein ist, nur ganz allein von ihm und
-niemandem sonst erlebt: ein großes oder kleines Schicksal, welches
-sich nur in ihm erfüllen konnte, &mdash; sein eigenstes und urpersönliches
-Glück oder Verhängnis, welches seine einmalige und unvergleichbare
-innere Geschichte bildet. Das Erlebnis eines Menschen aber, sehen
-wir nun, ist ohne Einschränkung und Abzug auch das Geheimnis eines
-Menschen. Und um die Wahrheit zu gestehn, ihr Christen, so trennt uns
-Menschen gemeinhin nichts so unüberbrücklich wie dies, daß wir nicht
-einerlei sondern vielerlei Erlebnis haben, nicht einerlei sondern
-vielerlei Geschick, nicht einerlei sondern vielerlei Geschichte.
-Verschiedenes Erleben verwirrt die Zungen und noch mehr die Sinnesarten
-der vielen, &mdash; verschiedenes Erleben läßt gegenseitiges Verständnis und
-Ein-Verständnis nirgends auf kommen, oder wenn schon aufkommen, nicht
-Bestand und Dauer haben. Denn wer nicht seines Nächsten Erlebnis hat,
-wie soll der seinem Nächsten wirklich nah sein? Wenn aber so: ist dann
-das Erlebnis nicht schon von Haus<span class="pagenum"><a name="Seite_130" id="Seite_130">[S. 130]</a></span> aus ein Verhängnis, das wie ein
-Keil, das wie ein Beil in den Stamm der Gemeinschaft getrieben wird und
-die Gemeinschaft spaltet?...</p>
-
-<p>Und in der Tat! Es ist schwer zu sagen, wie es infolge dieses
-Sachverhaltes mit unserer Gemeinschaft, ja mit der menschlichen
-Gattung überhaupt beschaffen wäre und ob sich diese Gattung nicht
-schon seit langem selber aufgerieben hätte, wenn nicht von Zeit zu
-Zeit in dieses stäte Auseinanderleben und Gegeneinanderleben aller
-wohltätig ein Einzelner und Auserlesener träte, der gewissermaßen gar
-nichts Besonderes, Eigenartiges, Unterscheidendes für sich erlebte,
-&mdash; vielmehr nur eben das, was ausnahmlos alle irgend einmal erfahren
-haben oder doch erfahren werden. Zum Heil nämlich dieser ganzen
-Gattung Mensch und zu ihrer zeitweiligen Errettung geschieht es nicht
-gar häufig zwar, aber doch immerhin hie und da, daß ein Einzelner in
-unerhört verstärktem Maß berührt und betroffen werde von dem Erlebnis
-aller Einzelnen, welches er kraft einer gleichsam stellvertretenden
-Erleberschaft zu seinem besondern Schicksal macht und dadurch dann
-zugleich ent-einzelt: derart vollzieht sich hier eine Individuation
-der Spezies, oder wenn man recht verstehen will, eine Spezifikation
-des Individuums, wie sie etwa der heilige Thomas von Aquino, ihr
-Christen, in seiner scharfen und strengen Bezeichnungweise einen
-‚Engel‘ zu nennen einst beliebte, &mdash; einen Engel in einem tieferen
-als nur dogmatischen Sprachverstand, wie wir jetzt wohl bemerken
-können... Es gibt mithin, ihr Christen,<span class="pagenum"><a name="Seite_131" id="Seite_131">[S. 131]</a></span> Engel! Es gibt Einzelne, die
-stellvertretend das Erlebnis der Gattung zu dem ihrigen machen und in
-dieser Hinsicht zur Gattung sich erweitern! Es gibt Persönlichkeiten,
-hier in dieser Welt und mit der Vernunft dieser Welt zu umfassen und
-zu erraten, welche als Einzelwesen durch ihre Erlebnisart gleichsam
-gattungmäßige Bedeutsamkeit erreichen! Es gibt spezifisch geweitete,
-spezifisch verallgemeinerte Individuen und individuell verengerte,
-individuell besonderte Spezies! Es gibt, wie ein <i>pater ecstaticus</i>
-des hohen Mittelalters sagt, ‚Allgemeine Menschen‘, und diese
-Allgemeinen Menschen sind einzig und allein die Wort- und Seelenführer
-menschheitlicher Gruppen in den Angelegenheiten von menschheitlicher
-Erheblichkeit und Würde. Eine Persönlichkeit also wie der indische
-Buddho Gotamo, durch Wille und Vergunst der Sprache schon sprachlich
-als ‚Der‘ Buddho über das Bereich des Nur-Persönlichen deutlich
-herausgesteigert, &mdash; eine solche Persönlichkeit erlebt auf einzige
-Weise nicht sowohl ihr eigenes, einmaliges, persönliches Schicksal, als
-vielmehr das Schicksal des menschheitlichen genus überhaupt, welches
-man nicht ohne schmerzliche Ironie das <i>genus</i> des <i>homo sapiens</i>
-bezeichnet hat... Ein Mensch wie Gotamo erlebt somit generell; nicht
-eigentlich individuell, sondern generell zu erleben ist Sein Geheimnis
-und Seine Bestimmung, Sein Geschick und Seine Geschichte. Befragt um
-sein entscheidendes und schöpferisches Erlebnis, könnte der Buddho
-keine andere als diese Antwort geben: ich erlebte, was du und du und
-du erlebt hast, was du<span class="pagenum"><a name="Seite_132" id="Seite_132">[S. 132]</a></span> und du und du erlebst, was du und du und du
-erleben wirst. Ich erlebte das Menschliche, Ewig-Menschliche. Ich
-erlebte Alter, Krankheit, Tod, &mdash; Alter, Krankheit, Tod...</p>
-
-<p>Darüber hat nun Gotamo seinen Jüngern berichtet, in Gestalt zwar einer
-Legende, die als die Ausfahrt Vipassî-Buddhos gefunden wird in der
-Vierzehnten Rede aus der Längeren Sammlung Dîghanikâyo. Dort lebt Prinz
-Vipassî, der erste der Buddhos in der Reihe der Sieben, in den drei
-Palästen seines königlichen Vaters und im Genuß jener vollkommenen
-Wunschbeglückung, wie sie bei den Fürsten und Königsöhnen des indischen
-Märchens herkömmlich ist, &mdash; und leicht kann man sich übrigens bei
-dieser Gelegenheit davon überzeugen, daß Gotamo als Dichter und
-Erzähler von Märchen mit jedem Kâlidâsa seiner Heimat zu wetteifern
-vermöchte: er, der unstreitig der erste Gleichnissprecher aller Zeiten
-und Völker gewesen ist... Jahrtausend also um Jahrtausend seiner
-mythischen Jugend verlebt Prinz Vipassî in diesen Palästen, bis es ihn
-eines Tags gelüstet, eine Ausfahrt in die Umgebung des Schloßgartens
-zu machen. Der Wagenlenker schirrt ein und der Prinz besteigt mit dem
-Hofstaat die kostbaren Gefährte. Den königlichen Gärten kaum enteilt,
-stoßen sie da auf eine befremdliche Gestalt, &mdash; gebeugt, kopfwackelnd,
-ausgemergelt, weißhaarig, zitterig, tapperig, zahnlos, triefäugig. ‚Was
-hat der Mann dort getan?‘ fragt der Prinz seinen Wagenlenker. ‚Er sieht
-doch nicht aus wie andere Leute?‘ ‚Das ist ein Greis,‘ antwortet der
-Wagen<span class="pagenum"><a name="Seite_133" id="Seite_133">[S. 133]</a></span>lenker, ‚ein Alter, der nicht mehr lang zu leben hat.‘ ‚Und werde
-auch ich dereinst diesem Alten gleichen?‘ frägt der Prinz entgegen.
-‚Auch du,‘ versetzt der Wagenlenker, ‚auch du wirst dem Alter nicht
-entrinnen‘... Nun hat der Prinz für heute genug. Er befiehlt die Umkehr
-und zieht sich ins Innerste zurück des Palastes, ins Innerste seiner
-selbst zurück, wo er über diesen ungemeinen Vorfall grübelt, brütet. „O
-Schande sag’ ich da über die Geburt, da ja doch am Geborenen das Alter
-zum Vorschein kommen mu߫...</p>
-
-<p>Zweimal noch nach Ablauf so manchen vergessenden und beschwichtigenden
-Jahrtausends befiehlt Prinz Vipassî seinem Wagenlenker den Wagen
-anzuschirren und zweimal bricht der Jüngling vorzeitig die Ausfahrt
-ab. Beim zweitenmal stößt er auf einen Siechen, hilflos im eigenen Kot
-und Harn liegend und in jeder kleinsten Bewegung auf fremder Menschen
-Beistand angewiesen; beim drittenmal begegnet er einem Leichenzug, von
-vielerlei Volk geleitet in düsteren Gewändern. Und nach jeder Ausfahrt
-geschieht es, daß er eine lange lange Weile grübelnd und brütend in
-sich selbst versinkt: „O Schande sag’ ich über die Geburt, da ja doch
-am Geborenen das Alter zum Vorschein kommen muß, die Krankheit zum
-Vorschein kommen muß, der Tod zum Vorschein kommen muß“... Dann aber
-ist’s von allem wieder still. Das Leben in den Wunschgenüssen nimmt
-seinen Fortgang, und kein Anzeichen verrät, wie jene Begegnungen
-im Gemüt des Prinzen weiterwirken, &mdash; kein Anzeichen verrät, ob
-sie weiterwirken. Und einmal noch nach tausend<span class="pagenum"><a name="Seite_134" id="Seite_134">[S. 134]</a></span> und tausend Jahren
-heißt Prinz Vipassî die herrlichen Gespanne einschirren, um dieses
-vierte und letztemal dann einen Pilger, einen Mönch, einen Bettler zu
-gewahren, mit kahlgeschorenem Schädel und in fahler Gewandung. Einmal
-noch eine Frage an den treuen Wagenlenker, und nach der Antwort ist
-die Entscheidung endlich gefallen. Das dreifache Erlebnis hat die Tat
-reifen lassen und die letzte Ausfahrt läßt sie zur Ausführung gedeihen.
-Daheim scheert sich Vipassî seinen Schädel kahl, hüllt sich in ein fahl
-Gewand und verläßt die königlichen Paläste der Jahreszeiten, um sich
-auf Pilgerfahrt, Bettlerfahrt, Büßerfahrt zu begeben, &mdash; will heißen,
-um sich selbst zu finden, selbst zu retten, selbst zu lösen. Als ob ein
-einzelner und einziger Mensch von Alter, Krankheit, Tod ein erstesmal
-erfahren könne und erfahren habe, stellt die Legende von Vipassîs
-Ausfahrten das Erlebnis des Buddho mit einer großartigen Einsilbigkeit
-heraus, die das Gemüt betäubt wie das gleichmäßige Getrommel des Regens
-in einer Herbstnacht auf ein Blechdach... Und in der Tat! Irgendwie
-hat Gotamo die drei Kernübel des Menschseins mit der Gewalt der
-Erstmaligkeit erfahren, mit der Heftigkeit der Erstmaligkeit erlitten:
-gleichsam er der erste Mensch, der die sonnige Schwelle göttlicher
-Wunschwelten mit Bewußtsein überschreitet und mit Bewußtsein das Ödland
-der Wirklichkeit betritt...</p>
-
-<p>Vergänglichkeit, Leidbeschaffenheit, Wesenlosigkeit heißt mithin das
-Urerlebnis Gotamos, das Urerlebnis des ‚Allgemeinen Menschen‘, &mdash; und
-wer<span class="pagenum"><a name="Seite_135" id="Seite_135">[S. 135]</a></span> wollte leugnen, daß dies in vielerlei Bezugnahme das Urerlebnis
-unserer Gattung ist und bleibt. Dieses Urerlebnis stets sich von neuem
-zu vergegenwärtigen fordert er denn auch in erster Linie von jedem, der
-ihm nachzufolgen oder anzuhängen willens ist. In zahllosen Variationen
-und Varianten kehrt an zahlreichen Stellen wieder, was dieser Bericht
-von den vier Ausfahrten Vipassîs in einer mächtig vereinfachenden
-Sinnbildlichkeit so einprägsam veranschaulicht denn für kaum eine
-zweite geschichtliche Gestalt gilt ja des jüngeren Nietzsche Wort vom
-Welt-Vereinfacher wie für den Buddho. Eine der eindrucksvollsten dieser
-Stellen findet sich in der Sammlung der Bruchstücke Suttanipâto, die
-zu den ältesten Schriften des Heiligen Kanons gehört. Aus bestimmten
-Gründen führe ich sie in zwei Übertragungen, einer prosaischen und
-einer metrischen an: „Unbemerkt und unerkannt ist das Leben der
-Menschen hienieden, kummervoll, vergänglich und mit Leid verbunden. Es
-gibt keinen Ausweg, auf dem die Geborenen dem Tod entrinnen könnten;
-ist das Alter erreicht, da naht der Tod: so ist das Gesetz aller
-Lebewesen. Wie für unreife Früchte schon früh die Gefahr des Abfallens
-besteht, so besteht für die Menschen ständig die Gefahr des Sterbens.
-Wie allen vom Töpfer angefertigten Tongefäßen das Ende des Zerbrechens
-bestimmt ist, so auch dem Leben der Sterblichen. Die Jungen und die
-Großen, die Toren und die Weisen, alle gelangen in die Gewalt des
-Todes, aller Ende ist der Tod. Von denen, die vom Tod überwältigt
-in das Jenseit<span class="pagenum"><a name="Seite_136" id="Seite_136">[S. 136]</a></span> gegangen sind, &mdash; nicht rettet der Vater den Sohn,
-noch auch die Verwandte die Angehörigen. Sieh! Während die Verwandten
-zusehen und laut wehklagen, wird einer der Sterblichen nach dem anderen
-hinweggeführt wie das zum Tod bestimmte Rind“...</p>
-
-<p>Und nun die nämliche Stelle, die wohl echt gotamidisch zu sein
-scheint, denn die Worte von des Hafners Töpferware finden sich (in
-etwas erweiterter Fassung) auch am Ende des Dritten Berichtes aus
-dem Großen Verhör über die Erlöschung Mahâparinibbânasuttam, wo sie
-der Buddho in seinen letzten Tagen zu seinen Jüngern spricht, &mdash;
-nun diese nämliche und ‚echte‘ Stelle in der vollkommen würdigen,
-ja erhabenen Eindeutschung Neumanns. Hier ist sie angeschwollen
-zu einem Klagegesang, zu einem Schicksallied von hymnischer
-Gewalt und Schönheit, seltsam überdies gemahnend an jenes letzte
-Gedicht-Bruchstück des Florentiners Buonarotti, dessen zermalmende
-Schwermut als ‚<i>Canto de’ Morti</i>, Was geboren ist, muß sterben‘ in Hugo
-Wolfs Vertonung etwa manchen deutschen Ohren widertönen mag:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">„Unbestimmbar, unerkennbar</div>
- <div class="verse">Sterblichen ist hier das Leben,</div>
- <div class="verse">Kümmerlich und karg erlesen</div>
- <div class="verse">Und in Leiden eingewunden.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Keines kennt man doch der Mittel,</div>
- <div class="verse">Daß Gebornes nicht verderbe,</div>
- <div class="verse">Und dem Altern folgt das Sterben;</div>
- <div class="verse">Also ist es Art der Wesen.</div>
- </div>
-<span class="pagenum"><a name="Seite_137" id="Seite_137">[S. 137]</a></span>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Früchten ähnlich, reif gewordnen,</div>
- <div class="verse">Fallen und im Fallen fürchten</div>
- <div class="verse">Sich die sterblichen Gebornen</div>
- <div class="verse">Immer vor dem Todessturze.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Wie des Hafners Töpferware,</div>
- <div class="verse">Vielgeformte Tongefäße,</div>
- <div class="verse">Alle doch zerbrechen endlich:</div>
- <div class="verse">Unser Dasein ist nicht anders.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Junge starke, Alte schwache,</div>
- <div class="verse">Toren, Weise, wer es sei auch,</div>
- <div class="verse">Alle wandeln Todesbahnen,</div>
- <div class="verse">Todesuntertanen alle.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Da vom Tode sie umfangen</div>
- <div class="verse">Weiter wandern durch die Welten,</div>
- <div class="verse">Hilft kein Vater hier dem Sohne</div>
- <div class="verse">Und kein Vetter dem Gevatter.</div>
- </div>
- <div class="stanza">
- <div class="verse">Hinterbliebne, Kinder, Eltern,</div>
- <div class="verse">Sieh nur, wie ein jedes wehklagt,</div>
- <div class="verse">Eines nach dem andern hinstirbt,</div>
- <div class="verse">Weggeschleppt wie ein Stück Schlachtvieh“...</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Unstreitig also, ihr Christen, ist Gotamos Erleben ein Leiden. Ein
-Leiden, sage ich: zunächst ein Leiden, und noch lange nicht das Leiden
-schlechtweg, wie zu früh verallgemeinernd und darum nicht durchaus
-richtig oft behauptet ward. Gotamos Erleben ist<span class="pagenum"><a name="Seite_138" id="Seite_138">[S. 138]</a></span> ein Leiden, und
-zwar zunächst ein gleichsam örtlich festgelegtes und umgrenztes. Es
-ist ein Leiden zunächst nicht eigentlich am Leben und am Grundgesetz
-des Lebens, vielmehr ein Leiden ganz offenbar am Leibe und am Gesetz
-der Leiblichkeit. Der Leib ist es und des Leibes Vergänglichkeit,
-Hinfälligkeit, Gebrechlichkeit, Verweslichkeit, Wesenlosigkeit, die in
-diesem gotamidischen <i>Canto de’ Morti</i> und an so ungezählten Stellen
-der Lehre immer wiederkehrend sonst mit der dämonischen Melancholie des
-Michelangelo melodisch beseufzt, betrauert und besungen werden: die
-Bestimmung der Leiblichkeit, die unumgängliche ist es, welche Gotamos
-festes und wohlverwahrtes Herz bis in das Fundament erbeben lässet. Daß
-dieser Leib nicht dauert und nicht dauern kann, daß dieser Leib sich
-eines Tages nicht mehr aufrichten und erheben wird, um dann in allen
-Regenbogenschillertinten als stinkendes Aas anzulaufen und schließlich
-bis auf Nägel, Haare, Zähne zu Staub und Asche zu vermodern, das hat
-den Jüngling Gotamo in einem Augenblick, wo ihm die ganze Wahrheit
-wie ein Gespenst aus jener Welt vor die Seele trat, wie mit einem
-wohlgezielten Blattschuß getroffen und hingeworfen. Wer aber von dem
-Geschick des Körpers derart betroffen und hingeworfen wird, der muß
-ein Mensch von leidenschaftlicher Liebe zu seinem Körper sein, denn
-nur die leidenschaftlichste Liebe zu einem Ding schafft sich soviel
-Leiden um den Verlust dieses Dings. Wem da nur wenig oder gar nichts
-an seinem Leibe liegt, der wird kaum heftig leiden unter dem<span class="pagenum"><a name="Seite_139" id="Seite_139">[S. 139]</a></span> Altern,
-Welken, Siechen, Sterben dieses Leibes: wer aber vollends den Leib
-verachtet, wie sollte den des Leibes Tod berühren. Nichts wäre mithin
-so verkehrt und irrig, als diesem Jüngling Gotamo betreff des Leibes
-jene hellenisch-asketisch-christliche Auffassung zu unterstellen,
-die man unter Bezugnahme auf ein geflügeltes Wort des Sokrates aus
-dem platonischen Gorgias (in etwas freier Verdeutschung freilich)
-die Leib-Leiche- oder die Körper-Kadaver-Auffassung &mdash; griechisch
-die σῶμα-σῆμα-Auffassung &mdash; zu nennen wohl berechtigt wäre.
-Pythagoreer, Orphiker, Platoniker, Neuplatoniker und Christen mögen
-im Körper den Kerker und mehr noch die Gruft der Seele von Haus aus
-mißachtet haben; Gotamo weiß von dieser Mißachtung nichts, weiß von
-dem ganzen abendländischen Leib-Seele-Zwiespalt nichts: zum mindesten
-weiß er von Haus aus davon nichts. Darum ist es an uns Christen der
-westlichen und westlich zerrissenen Welthälfte, dem Umstand von
-höchstem Belang unsere höchste Aufmerksamkeit zu widmen, daß dieser
-Gotamo, Sohn des Fürsten Suddhodano zu Kapilavatthu, durchaus nicht
-etwa priesterlichem, sondern kriegerischem Geblüt entstammt und
-noch in seiner Jugend den Hochgebirg- und Alpenatem der indischen
-Heldenzeit eines tiefen, vollen Zugs geatmet hat... Gotamo war
-Krieger, Prinz und Ritter, nicht Priester und weniger noch Priesters
-Freund; und er war dies als Sohn eines Volkes, welches weder von
-einem gleichzeitigen noch von einem späteren je übertroffen worden
-ist in seiner Freude an gesunder, wohl<span class="pagenum"><a name="Seite_140" id="Seite_140">[S. 140]</a></span>gepflegter, spielgeübter
-Leiblichkeit. Gotamo war Krieger, Prinz und Ritter in jener indischen
-Heldenspätzeit noch, die vor reifem Welt- und Sinnenglück inbrünstig
-strahlte und bei dem festlichen Anblick edler Krieger gleichsam
-hell und zärtlich wieherte wie ein junger Hengst, der eine Stute
-wittert. Sproß eines fürstlichen oder adligen Geschlechts, wurde
-der Jüngling Gotamo sicherlich auferzogen in den Waffen für die
-Waffen, &mdash; wie hätte er seinen gelenken, behenden Jünglingleib nicht
-lieben sollen, der unter allen Umständen des Kriegers beste und
-höchste Tugend ist. Wurde der junge Prinz und Ritter dann im Ablauf
-der Zeit zum Heiligen und Erwachten seiner Weltzeit, &mdash; nun um so
-besser! Hierin wurde kein Widerspruch befunden nach der Auffassung
-einer Rasse, welcher ursprünglich die Heiligkeit und Erwachsamkeit
-keineswegs ein mönchischer Stand, sondern ein menschlicher Zustand
-bedeutete, zu welchem man in einem gewissen Lebensalter bei richtiger
-Lebensführung gleichsam von selbst heranreift. Sollte in guten Zeiten
-doch der Waldeinsiedler (<i>vânaprastha</i>) die vorangehenden Stadien des
-Brahmanjüngers (<i>brahmacârin</i>) und des Haushalters, Hausverwalters
-(<i>grihastha</i>) seinerseit nur ablösen, wie der Waldeinsiedler eine
-Weile später zum eigentlichen Pilger, Bettler- und Büßermönch
-(<i>bhikshu</i> oder <i>bhikkhu</i>) aufrücken konnte und aufrücken sollte:
-erst wenn der Mann der Gemeinschaft gedient und sich gewissermaßen
-in der Welt selbstverwirklicht hatte, winkte ihm als höherer
-Zustand Weltlosigkeit und Einsiedlerschaft, in welchem er seine
-Selbstheili<span class="pagenum"><a name="Seite_141" id="Seite_141">[S. 141]</a></span>gung zu vollbringen hoffen durfte. Asketenschaft entsprang
-hier keinem weltfeindlichen Verhalten oder Fühlen, sondern krönte das
-Menschenleben, in innigstem Einklang mit jeder tieferen Erfahrung,
-wonach der Mensch und namentlich der Mann sich selbst gemächlich aus
-der Welt heraus und über die Welt hinaus lebt, ohne Enttäuschung, ohne
-Flucht, ohne Bitterkeit, ohne Bodensatz, in reinster Übereinstimmung
-mit der Eigenbewegung, Eigenrichtung seines Seelenwachstums. Der
-Mensch, wo er dieser Bewegung und Richtung seines Seelenwachstums nicht
-absichtlich entgegen lebt, lebt seiner Seele zu und eben deshalb über
-die Welt hinaus und über den Leib hinaus; denn ist auch diese Seele
-in keinem Sinn eine Widerwelt oder ein Widerleib, so ist sie doch der
-höhere Grad, die höhere Stufe der Weltlichkeit und Leibhaftigkeit. Der
-Leib wird darum in jener Zeit auch noch nicht grundsätzlich kasteit
-oder mißhandelt oder gar abgetötet, vielmehr er wird überwunden und
-überwachsen. Mit seinem Dahinschwinden mehrt sich die Seele, ähnlich
-wie mit dem Abwelken der Kartoffelstaudenblüte der Knollen im Boden zur
-Genießbarkeit heranreift...</p>
-
-<p>Verwundern wir uns also nicht, daß es in den Schriften des
-Pâli-Kanons eben der Heilige seines Weltalters ist, der zu
-vollkommener Makellosigkeit des Leibes verpflichtet, von allen
-übrigen Menschen gerade er am unerläßlichsten verpflichtet ist. Für
-den Buddhismus ist es ganz einfach eine Selbstverständlichkeit,
-was der europäisch-christlichen Erkenntnis-Zwiesal mit ihrer<span class="pagenum"><a name="Seite_142" id="Seite_142">[S. 142]</a></span>
-grundsätzlich gegensinnigen Leib-Seelenwirklichkeit schlechterdings
-unbegreiflich erscheint und erscheinen wird: Gotamo wäre durch einen
-minder vollkommenen Körper von vorn herein widerlegt, nicht allein
-vor den andern, sondern am meisten vor sich selber. Wo in einem
-vornehmen Haus ein Knabe geboren wird, berechtigt er in dem Maß zu
-höheren Hoffnungen, desto untadeliger sein Leib gebildet ist, &mdash; zur
-höchsten Hoffnung aber dann, wenn er die zweiunddreißig Male des
-‚Großen Mannes‘ aufweist, die für den Kanon herkömmlich geworden sind.
-Alsdann ist der Welt nämlich in heiliger Stunde ein Eroberer oder
-ein Überwinder erschienen: der Kaiser-König oder der Erwachte einer
-nunmehr eingeleiteten Weltzeit. Vielleicht ist kein anderer Umstand
-geeignet, die wundervolle Einheitlichkeit des indischen Denkens
-und Wertens auszudrücken, als dieses beziehungreiche ‚oder‘, das
-jeden Spielraum freiläßt zwischen der Typik einer die Macht restlos
-erfüllenden und die Macht restlos verschmähenden Menschlichkeit.
-Innerhalb des Umkreises menschheitlicher Selbstverwirklichungen
-verhält sich der Kaiser-König zum Erwachten, wie sich der Leib zur
-Seele verhält, &mdash; zuletzt sind sie irgendwie dasselbe und treten nur
-verschiedenartig, kaum aber verschiedenwertig in Erscheinung: wenn
-ich hier vorhin die Seele den höheren Grad des Leibes nannte, so
-ist wahrscheinlich auch dieses noch viel zu abendländisch, viel zu
-platonisch, viel zu christlich ausgedrückt gewesen... Was aber jene
-indische Gleichwertung des Kaiser-Königs mit dem Erwachten<span class="pagenum"><a name="Seite_143" id="Seite_143">[S. 143]</a></span> anlangt,
-so dürfte bei ihr noch der andere Gedanke mit hineinspielen, daß es
-sozusagen der Wahlfreiheit des mit den zweiunddreißig Kennzeichen
-Ausgestatteten anheim gestellt ist, ob er sich späterhin für den
-Typus des Eroberers, ob für den Typus des Überwinders tatsächlich zu
-entscheiden geruhe. Für indisches Auffassen liegt es durchaus innerhalb
-des Bereichs gotamidischer Fähigkeiten und Möglichkeiten, zum Beispiel
-noch außerdem ein Asoko zu werden, &mdash; wie es umgekehrt durchaus im
-Bereich asokischer Fähigkeiten und Möglichkeiten liegt, noch außerdem
-ein Gotamo zu werden. So war Gotamo wirklich in seiner Jugend
-Fürst und Krieger; so war Asoko wirklich in seinem Alter Büßer und
-Einsiedler: in weltaufschließender Symbolik verbringt er seine letzte
-Lebenszeit nach siebenunddreißig Jahren glorreicher Machtherrschaft
-auf jenem nämlichen Goldenen Felsen Suvannagiri im Lande Magadhâ,
-wo einst der Jüngling Gotamo geweilt hatte... Ursprünglich also
-wohl Leib-Geist und Körper-Seele in letzter Ununterschiedenheit und
-Ununterscheidbarkeit, erwählt der Mensch gleichsam das Leben des
-überwiegenden Leibes oder des überwiegenden Geistes, des überwiegenden
-Körpers oder der überwiegenden Seele. Bevor er indes selber wählt, hat
-ihn seinerseit unter Unzähligen die Natur erwählt, indem sie ihn mit
-den Schönheitmalen makellosen Leibes und makelloser Seele leibhaftig
-begnadete. Diese klar ausgebildeten zweiunddreißig Male sind Gotamos:
-die wohlgefesteten Füße, die Tausendspeichenräder mit Felge und Nabe
-auf beiden Sohlen,<span class="pagenum"><a name="Seite_144" id="Seite_144">[S. 144]</a></span> die schmalen Fersen, die sanften zarten Händ’ und
-Füße, die breitgeschweifte Bindehaut zwischen Fingern und Zehen, die
-Muschelwölbung des Ristes, die schlanken Beine, die Fähigkeit zur
-Berührung der Kniescheibe ohne Vorwärtsbeugen des Rumpfes, das hinter
-der Kleidung unerkennbare Schamglied, die Goldfarbe des Körpers,
-Goldfarbe der Haut, die Schmeidigkeit der Haut, die Einzelflaumigkeit
-des Haares in seiner Pore, die Aufgerichtetheit, Schwärze, Ringelung
-des Flaums, die Erhabenheit des Wuchses, die Heiterkeit des Aussehens,
-die breite Löwenbrust, die Klafterhöhe, die Verhältnismäßigkeit der
-Körperlänge zur Armlänge, die Gleichform der Schultern, die Mächtigkeit
-der Ohrmuscheln, das Löwenkinn, das vollständige Gebiß, das festgefügte
-Gebiß, die Weiße der Zähne, die Größe der Zunge, der Wohllaut der
-Stimme, die Flocke zwischen den Brauen und zuletzt der Scheitelkamm.
-Dies ist Gotamos Leiblichkeit, so haben wir uns den Erwachten
-vorzustellen, der in mehr wie einem Sinn die Erbschaft Krischnas
-antrat. Derart stellt sich der Buddho in seinen Reden selber vor und
-derart ist er uns in Stein und Holz und Erz überliefert. Bis auf das
-Haar, das einständig einzelflaumige in seiner Pore, ist des Vollendeten
-Leiblichkeit vollendet geformt und gebildet, &mdash; nie ist dem Leib eine
-größere Verherrlichung widerfahren. Wenn überhaupt, dann war in jenen
-gotamidischen Tagen die Gestalt des Leibes heilig; wenn überhaupt, ward
-in jenen gotamidischen Tagen die Schönheit des Leibes angebetet. Der
-Leib nicht Grab, sondern<span class="pagenum"><a name="Seite_145" id="Seite_145">[S. 145]</a></span> Gral der Seele, das war Indiens Bekenntnis
-in jenen Tagen, da des Lebens Übermaß und Überschwang sogar die
-prunkenden Wortfugen des Mahâbhâratam glühend auseinandersprengte, wie
-es tausend und mehr Jahre später abermals (oder vielleicht immer noch?)
-die Tempelwände des buddhistischen Parthenon Boro-Budur gesprengt
-hat. Der Leib, nach Indiens Bekenntnis der Gral seiner Seele, Gefäß
-und Schrein der Seele und edel wie die Seele, &mdash; fürwahr! es ist
-bei dieser leibhaften Herrlichkeit des Erwachten zu Magadhâ schwer
-vermeidlich, nicht der leibhaften Herrlichkeit eines Erwachten unseres
-Westens zu gedenken, der in gotamidischem Alter dahingegangen ist,
-nachdem er wie kein anderer zuvor die Erde zu seiner Wohnstatt sich
-bereitete, allwo er wie ein Gott sälig an jedem Ort zu Hause war: „Der
-Körper lag nackend in ein weißes Bettuch gehüllt... Friedrich schlug
-das Tuch auseinander, und ich erstaunte über die göttliche Pracht
-dieser Glieder. Die Brust überaus mächtig, breit und gewölbt; Arme
-und Schenkel voll und sanft muskulös; die Füße zierlich und von der
-reinsten Form, und nirgends am ganzen Körper eine Spur von Fettigkeit
-oder Abmagerung und Verfall. Ein vollkommener Mensch lag in großer
-Schönheit vor mir...“</p>
-
-<p>Dieser Leib nun, in allen Spielen des Laufens, Ringens, Springens,
-Schwimmens, Fechtens, Rossetummelns, Bogenschießens geübt, in allen
-Künsten der Verschönerung erfahren, in Wohlgerüchen gebadet, von
-Räucherwerk durchduftet, mit feuchtem Sandel<span class="pagenum"><a name="Seite_146" id="Seite_146">[S. 146]</a></span> eingesalbt und mit Safran
-und Lakkaröte geschminkt, &mdash; dieser Leib nun wird unabwendbar eines
-Tages in Regenbogentinten schillernd angelaufen sein. Er wird wie ein
-aufgetriebener Blasbalg von den Gasen der Verwesung angeschwollen sein.
-Er wird an hundert Stellen aufplatzen und stinkend in den Jauchepfützen
-seines eigenen Aufbruchs liegen. Aus seinen Löchern und Höhlen wird
-madiges Gemeiß kriechen. Das Fleisch wird von den Sehnen und die Sehnen
-werden von den Knochen fallen. Die Knochen werden von den Überbleibseln
-der Fäulnis braun bestäubt sein, bis auch sie zu Staub vermodert sind.
-Und dies ist die Gewißheit des Leibes: dies ist der Kummer am Leibe für
-den, der den Leib lieb hat. Dies ist die Gewißheit des Leibes: dies ist
-das Leiden am Leibe, wie es der junge Ritter Gotamo erlitt, der da noch
-den Atem der Heldenfrühe des indischen Festlands atmete. Er selbst hat
-später am Seherstein im Wildpark zu Benâres die Wahrheit des Leidens
-eine heilige genannt, und die Frage war für ihn nur diese, ob es derlei
-Leidens auch eine Abstellung, Verwindung, Überwältigung gäbe? Die Frage
-war eigentlich nur, ob dieser dauerlose Körper zur Dauer erstarken, ob
-dieser hinfällige Körper zur Rüstigkeit gedeihen, ob dieser sterbliche
-Körper zur Unsterblichkeit erblühen könne? Ist es möglich, ist es auch
-nur denkbar, daß die weltherkömmliche Ordnung für den Körper umgestürzt
-werde und das Leiden am Körper zu seiner Aufhebung gelange, indem der
-Körper durch Anspannung, Übung, Umgestaltung außerhalb dieser<span class="pagenum"><a name="Seite_147" id="Seite_147">[S. 147]</a></span> Ordnung
-gleichsam neu gepflanzt und neu aufgebaut würde?</p>
-
-<p>Der Abendländer zweifelt und verneint. Der Abendländer stellt sich Leib
-und Seele vor als zwei nebeneinander herlaufende Erscheinungreihen
-und Erlebnisverknüpfungen, die wirkunglos und beziehunglos zueinander
-ihren leiblichen und seelischen Gegengesetzen folgen müssen. Gotamo
-hingegen zweifelt nicht und bejaht. Leib und Seele zuletzt ein und
-des nämlichen Seins und Wesens, stehen für ihn in einem stätigen
-Wechselverhältnis, ja Austauschverhältnis, wobei der Leib die Stelle
-der Seele vertreten kann und die Seele die Stelle des Leibes. Der Wille
-eines jeden hat es in der Hand, den Leib gleichsam mit den Spezereien
-der Seele einzubalsamieren, wie es der Arzt seit unvordenklichen
-Zeiten in der Hand hat, die Verweslichkeiten des Leibesinnern gegen
-pflanzliche Dauerstoffe auszuwechseln und dadurch unverweslich zu
-machen. Gotamo verneint die Unerläßlichkeit des Leidens am Körper
-und bejaht des Leidens Abstellung, Verwindung, Umgestaltung aus der
-Einsicht heraus in die Herkunft und die Beschaffenheit des Leibes. So
-wie die Ordnung der Natur ist, entsteht der Körper und vergeht der
-Körper. So wie es aber der Wille des Menschen will, der unablässig um
-Dauer ringende, kann eine Versetzung des Leibes stattfinden in eine
-andere Lage der Wirklichkeit, in einen anderen Urstand des Seins, wo
-die Gesetze der Schöpfung, als welches die Gesetze des Werdens sind,
-ganz von selbst außer Kraft treten müssen. Wir Abendländer kennen<span class="pagenum"><a name="Seite_148" id="Seite_148">[S. 148]</a></span> als
-Beispiel einer gewissen Umgestaltung den Vorgang der Versteinerung.
-In die schneller verweslichen Teile eines Tier- oder Pflanzenleibes
-dringen unverwesliche Teile ein von mineralischer Beschaffenheit
-und bauen die Gestalt des Lebewesens in eben dem Zeitmaß von sich
-aus wieder auf, in welchem diese Gestalt durch die Zersetzung ihrer
-organischen Grundstoffe und durch deren Verbindung mit dem Sauerstoff
-abgebaut wird. Wo der Zellenleib zerfällt, erscheint allmählich ein
-Steinleib zu seiner Stellvertretung, so daß man in Wahrheit von einer
-Umgestaltung reden dürfte, &mdash; von einer Umgestaltung, die freilich
-nur den toten Leib ergreift und diesen gegen den nicht minder toten
-Ersatzleib eintauscht. Indessen ist uns Abendländern doch auch manch
-anderes Beispiel lebendiger Umgestaltung nicht völlig unbekannt. Wir
-selber pflegen die Kräfte unseres Lebens, unseres Selbstes an unsere
-Arbeit zu setzen, sei sie nun Wort oder Werk oder Tat oder überhaupt
-Leistung; in Wort Werk, Tat, Leistung setzen wir selbst uns um, setzen
-wir unserer Selbstheit Gestalt um und schaffen uns auf diese etwas
-plumpe Art eine verhältnismäßige Unsterblichkeit in einem Bereich der
-sogenannten Werke oder Werte oder Sachverhalte oder Gültigkeiten, &mdash; in
-einem Bereich mithin, welches uns in gewissem Sinn sehr wohl des Lebens
-Jenseit bedeuten darf. So fangen wir gleichsam die Essenz unseres
-Lebens von uns selber ab und versetzen unser persönlich-sterbliches
-Sein an den Himmel sachlicher Unsterblichkeiten. Auf allen Wegen, wo
-wir gehen<span class="pagenum"><a name="Seite_149" id="Seite_149">[S. 149]</a></span> und stehen unsere Unsterblichkeit angelegentlich betreibend,
-gestalten wir auf solche Weise die Gestalt unseres Selbstes um in Wort,
-Werk, Tat und Leistung, welche offenbar länger dauern als die lebendige
-Gestalt und dennoch des Lebens nicht in jedem Sinn entbehrt. In Worten,
-Werken, Taten verewigen wir uns selber, fortwährend ohne unser Wissen
-in einem wunderlichen Unsterblichkeitzauber, Apathanatismos von hoher
-Wirksamkeit befangen...</p>
-
-<p>Noch ein Schritt weiter, und wir stoßen auf Gotamos eigenen
-Unsterblichkeitzauber, auf Gotamos eigenen Apathanatismos. Beruht
-dieser doch im wesentlichen darauf, daß der Leib in zunehmenden Graden
-durchsetzt und durchseelt, durchwaltet und durchwürzt, durchdrungen und
-durchflutet werde mit den erworbenen Grundbestimmungen des Gemütes. Das
-gotamidische Verfahren besteht vornehmlich darin, die von der Seele
-hervorgebrachten und einstweilen durch Übung befestigten Zustände
-gleichsam als stätige Gebilde den unstätigen Gebilden des Leibes zu
-unterstellen, und zu diesem Ende weiß der Buddho sich der älteren
-Praxis der Yoga trefflich zu bedienen. Insonderheit ist es die übrigens
-auch im alten China geübte Praxis des regelentsprechenden Aus- und
-Einatmens, die Hatha-Yoga, welche Gotamo für seine Makrobiotik, für
-seinen Apathanatismos anzuwenden gesonnen ist. Die Aus- und Einatmung
-nämlich wird ganz planmäßig mit Vorstellungen verknüpft, die sie
-begleiten sollen, und diese Vorstellungen verschmelzen allmählich
-derart mit den Atemvorgängen selber, daß<span class="pagenum"><a name="Seite_150" id="Seite_150">[S. 150]</a></span> sie gewissermaßen an deren
-Stelle treten: die körperliche Tätigkeit, zuerst von einem Ablauf
-von Bildern und Gedanken regelmäßig begleitet, wird bei geregelter
-Führung von diesen Bildern und Gedanken bis zu einem gewissen Grad
-geradezu verdrängt, der Vorgang in der Lunge wird umgesetzt in einen
-Zustand des Gehirns, ja des Bewußtseins. Die Atmung wird etwas anderes
-wie Atmung, die Körpertätigkeit setzt sich in etwas anderes um als
-Körpertätigkeit, und zwar vollzieht sich diese ‚Selbstvergeistigung‘
-gradweis und stufenweis mit den erlangten Graden und Stufen der
-erworbenen Gemütszuständlichkeit. In der Hundertundachtzehnten und
-Hundertundneunzehnten Rede aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo
-hat sich der Buddho ausführlicher, obzwar leider immer noch nicht
-ausführlich, über diese Atemübungen vernehmen lassen, und insbesondere
-in der letzten dieser Reden wird das Ziel dieser seltsamen Vornahme
-ein wenig deutsam. Der Leib soll dazu bereitet, ja dazu abgerichtet
-werden, an dem Erwerb der Seele teilzunehmen: der Leib soll lernen,
-sich bis zu den tiefsten Versenkungen der Seele mit zu versenken und
-sich in den reinsten Läuterungen der Seele mitzuläutern. Der Leib soll
-nicht länger ein unbeeinflußtes und unbeeinflußbares Außerhalb der
-Seele bleiben, sondern in jedem Muskel, in jeder Zelle den erreichten
-Seelenstand selbst erreichen. Auf leibliche Weise soll sich der Leib
-solange in Seele wandeln, als sich auf seelische Weise die Seele in
-Seele wandelt. Die christliche Seele, ihr Christen, hält ihre höchste
-Andacht beiseit vom Leib, als<span class="pagenum"><a name="Seite_151" id="Seite_151">[S. 151]</a></span> <i>forma separata</i> entrückt, entrafft,
-entleiblicht, &mdash; aber die Seele Gotamos hält ihre höchste Andacht mit
-dem Leib zusammen, den Leib völlig in Seele einbettend, umbettend.
-Die christliche Seele, ihr Christen, ist unsterblich abseit des
-sterblichen Leibes und überlässet den sterblichen Leib dem allgemeinen
-Verhängnis der Sterblichkeit, &mdash; aber die Seele Gotamos gedenkt
-unter keinen Umständen den Leib sich selber und seinem Verhängnis zu
-überlassen, sondern ihn vielmehr mit ihrer eigenen Dauer zu begaben und
-zu begnaden. Dem Fleisch der Früchte, dem Fleisch der Tiere, welches
-wir erhaltsam und bewahrsam machen wollen, setzen wir etwa Zucker,
-Salz, Säure, Weingeist, Hitze, Trockenheit zu. Dem Fleisch des Leibes,
-vom Buddho Erhaltsamkeit und Bewahrsamkeit ernstlich zugedacht und
-zugesprochen, setzt der Buddho gleichsam Seele zu, und so erwirbt es
-durch diesen Zusatz beide Tugenden. „Und ferner noch, ihr Mönche: der
-Mönch, gar fern von Begierden, fern von unheilsamen Dingen, verweilt in
-sinnend gedenkender, ruhegeborener, säliger Heiterkeit, in der Weihe
-der ersten Schauung. Diesen Körper durchdringt und durchtränkt, erfüllt
-und sättigt er mit ruhegeborener säliger Heiterkeit, so daß nicht der
-kleinste Teil seines Körpers von ruhegeborener säliger Heiterkeit
-ungesättigt bleibt. Gleichwie etwa, ihr Mönche, ein gewandter Bader
-oder Badergeselle auf ein Metallbecken Seifenpulver streut und mit
-Wasser versetzt, verreibt und vermischt, sodaß sein Schaumball völlig
-durchfeuchtigt, innen und außen mit Feuchtigkeit gesättigt ist und
-nichts herabträufelt:<span class="pagenum"><a name="Seite_152" id="Seite_152">[S. 152]</a></span> ebenso nun auch, ihr Mönche, durchdringt und
-durchtränkt, erfüllt und sättigt der Mönch diesen Körper da mit
-ruhegeborener säliger Heiterkeit, so daß nicht der kleinste Teil seines
-Körpers von ruhegeborener säliger Heiterkeit ungesättigt bleibt“...</p>
-
-<p>Dies also ist das überschwänglich übermenschliche Ziel des
-gotamidischen Unsterblichkeitwillens, den Leib den Ordnungen des
-Werdens, als welches die Ordnungen des Entstehens-Vergehens sind,
-gewaltsam durch Anstrengung, Übung, Umgestaltung zu entreißen und
-seiner völligen Durchseelung zuzuführen. Und mit viel Besonnenheit
-entnimmt Gotamo die Mittel zu diesem erfahrung-jenseitigen Ziel dem
-unausschöpflichen Vorrat an Selbsterfahrungen, den die Yoga, das ist
-die überlieferte Kunst der unbedingten Leib- und Geistbeherrschung,
-durch den Willen, in den Jahrtausenden aufgespeichert hat. Durch
-strenge Anpassung erfahrungmäßiger Zucht- und Abrichtungmittel an den
-schlechterdings überschwänglichen Zweck entsteht ein Langlebigkeit-
-und Unsterblichkeitzauber von beispielloser Unentwegtheit und
-Folgerichtigkeit, dem nur wenige unter den anderen maßgebenden
-Religionen der Erde etwas Ähnliches an die Seite zu stellen haben
-dürften. Durch eine mit planmäßiger Führung und Regelung des Ein- und
-Ausatmens einzuleitende Entkörperlichung des Körpers beschwichtigt
-der Buddho sein Leiden am Körper und überwindet es: durch eine mit
-hoher diätischer Besonnenheit betriebene Umgestaltung des Leibes
-durchbricht der Buddho die Ordnung der Leiblich<span class="pagenum"><a name="Seite_153" id="Seite_153">[S. 153]</a></span>keit und steigert
-den Körper gewissermaßen zu einem Urstand der Seele, &mdash; oder
-vielleicht zutreffender und richtiger noch: er steigert ihn zu einer
-Eigenschaft der Seele, welche Dauer, Ständigkeit, Langlebigkeit,
-ja geradezu Unsterblichkeit heißt. Wer diesen Tatbestand von
-grundlegender Bedeutsamkeit begreift, der und nur der wird das
-wunderliche Wort Gotamos wirklich zu würdigen vermögen, welches in der
-Hundertundneunzehnten Rede aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo
-die Einsicht in den Körper als den Inbegriff aller heilsamen Dinge
-preist. Gleichwie einer, der das große Meer im Geiste gefaßt habe,
-damit auch alle Ströme und Flüsse gefaßt hat, die sich ins Meer
-ergießen, so hat sich die Summe alles heilfordernden Wissens zu eigen
-gemacht, wer die Einsicht in den Körper erwarb. Als ein Umgestalteter,
-jedenfalls aber als ein Umgestaltender, ist er dem Werden entronnen.
-Ungeworden, vergeht er nicht, unvergänglich, dauert er. Wer die
-Einsicht in den Körper pflegt, der wird nicht, sondern ist, und wer
-ist, hat bereits im Jenseit dieser Werdewelt und Wandelwelt festen Fuß
-gefaßt. ‚Spender der Unsterblichkeit‘ aber, das ist einer der Titel
-des Erhabenen, die er sich durch diese Anweisung zur Umgestaltung des
-Leibes in einem vielleicht buchstäblicheren Sinn verdient zu haben
-scheint, als es unsere höchst lückenhafte, höchst unzulängliche, höchst
-unzuständige Abendlands-Erfahrung auf den ersten Anblick wohl wahr
-haben möchte...</p>
-
-<p>Verstehn wir Christen uns indes, ihr Christen, reichlich schlecht
-auf diese wie auf alle sonstigen<span class="pagenum"><a name="Seite_154" id="Seite_154">[S. 154]</a></span> unsterblichen Dinge, so sind
-wir dennoch mit derlei geheimnisvollen Vornahmen nicht völlig
-unbekannt oder sollten es wenigstens nicht völlig sein. Auch dem
-Heiland unserer westlichen Welthälfte ist ja die Umgestaltung bei
-Lebzeiten widerfahren, von welcher das Evangelium nach Lukas in
-seiner schmucklosen Art trocken berichtet: „Und während er betete,
-ward die Gestalt (εἶδος) seines Angesichts eine andere und
-sein Gewand ward weiß und blitzete“... Was hier mit Jesus geschah,
-als er in der Gesellschaft des Petrus, Johannes, Jakobus den hohen
-Hügel bestiegen hatte, umschreibt das Evangelium der Kirche ein klein
-wenig völliger, wenn es wörtlich erzählt: „und er ward umgestaltet
-(μετεμορφώτη), und es leuchtete sein Antlitz wie die Sonne
-und seine Gewänder weißten sich wie das Licht“... Der Verfasser dieser
-Heiligen Schrift der Christen gebraucht an dieser Stelle geradezu das
-Wort Umgestaltung selbst, welches dann Luther in einer auffälligen
-Ungenauigkeit mit ‚Verklärung‘ wiedergegeben hat. Was aber hier
-sofort im Unterschied zum buddhistischen Kanon schwer ins Gewicht
-fällt, ist weniger die Beiläufigkeit und Folgenlosigkeit des für den
-Buddhismus so entscheidenden Vorgangs, als vielmehr die Tatsache,
-daß die Umgestaltung des Evangeliums als eine Wirkung der Gnade oder
-des göttlichen Eingriffs zu gelten hat, während die gotamidische
-Umgestaltung das selbsttätig erworbene Gut der Freiheit erscheint.
-Auch in dieser Bezugnahme bleibt der Buddho seinem Protestantismus
-unentwegt treu, denn Gotamo der Protestant, Gotamo der Atheist<span class="pagenum"><a name="Seite_155" id="Seite_155">[S. 155]</a></span> weiß
-nichts von Gnade, weiß nichts von Eingriffen Gottes, weiß nichts von
-Gott selber, dessen Wolke ihn überschatten und dessen Stimme ihn
-als den vielgeliebten Sohn verkünden könne. Wenn der Leib Gotamos
-seiner Umgestaltung tatsächlich teilhaftig geworden ist, so wird die
-Umgestaltung der unermüdlichen Arbeit, Zurichtung und Zucht des eigenen
-Selbstes verdankt. Sie stellt sich nicht ein von ungefähr, sondern
-ist der Ertrag eines unablässig diesem Ziele zugewandten Strebens.
-Gleichsam um diesen Sachverhalt anzudeuten, widerfährt die sichtbare
-Verklärung des Leibes dem Buddho (nach dem Dritten Bericht aus dem
-Großen Verhöre zur Erlöschung Mahâparinibbânasuttam) erst wenige
-Stunden vor dem Ende, am Tage vor der Nacht, da der Vollendete wirklich
-voll-endet. In einer Szene von mehr wie kalidasischer Reinheit,
-Helligkeit und Zartheit der Farbe weiß der Bericht zu erzählen, daß
-der Mallerprinz Pukkuso dem sterbenden Heiligen einen doppeltgewebten
-goldfarbenen Schleier habe darreichen lassen als kostbares Sterbekleid,
-des kostbaren Sterbenden würdig. Vom Lieblingjünger Ânando dann mit
-diesem schimmernden Schleier bekleidet, beginnt der Leib des sterbenden
-Meisters, gleichsam im Feuer der eigenen Seele zu völliger Gediegenheit
-geläutert, wie der Mond in der Nacht seiner Rundung zu leuchten und
-zu gleißen, also daß der doppeltgewobene goldfarbene Schleier des
-Mallerprinzen in fahler Glanzlosigkeit verbleicht. Nun ist der Leib
-des Erhabenen endgültig und restlos umgestaltet, vollkommen dauer<span class="pagenum"><a name="Seite_156" id="Seite_156">[S. 156]</a></span>haft
-geworden. Aber in dieser Stunde der ewigen Selbstvollendung besteht der
-Vollendete nicht mehr auf seiner Dauer, &mdash; in dieser Stunde übergibt er
-den verklärten und durchsättigten Leib eben jener Werdewelt, die er in
-fünfzig Jahren ununterbrochener Selbstläuterung überwunden hat!...</p>
-
-<p>Vollkommen dauerhaft geworden, sag’ ich, bestünde in diesem Augenblick
-der Herr Gotamo dennoch nicht auf seiner Dauer: vollkommener Spender
-der Unsterblichkeit geworden, verschmähe der Herr Gotamo zuletzt
-dennoch seine Unsterblichkeit. Dieses in der Tat sehr seltsamen,
-sehr unverständlichen, ja widersinnigen Sachverhalts müssen wir
-an dieser Stelle noch gedenken, wenn anders wir von dem Geheimnis
-dieses geheimnisvollsten aller Menschen auch nur einen Zipfel zu
-lüften hoffen dürfen. Das Leiden am Leibe aufzuheben, hat der Buddho
-die Praxis der Hatha-Yoga samt allem, was an seelisch-körperlichen
-Übungen (‚<i>exercitia</i>‘) mit ihr zusammenhängt, in den Dienst eines
-unbeirrbaren Unsterblichkeitwillens gestellt. Und in der Fähigkeit,
-den Leib mit seelischen Kräften wie mit den Wellen von einer annoch
-unbekannten Ordnung zu durchstrahlen, dauerhaft zu machen und ihn
-gleichsam aus der Bewegunglage in die Ruhelage hinüberzubetten (und
-nicht nur hinüberzurechnen, wie die europäischen Mathematiker und
-Physiker mit den materiellen Systemen des Kosmos tun!) &mdash; in dieser
-Fähigkeit hat er mutmaßlich die Heilande und Heiligen aller anderen
-Religionen der Erde weit hinter sich zurückgelassen. Er hat sie so<span class="pagenum"><a name="Seite_157" id="Seite_157">[S. 157]</a></span>weit
-hinter sich zurückgelassen, daß von den Brosamen, so von dieses
-Reichen Tische fallen, noch immer alle die Hündlein satt geworden
-sind, die, von den Verkümmerungen, Verzerrungen, Fehldeutungen dieses
-gotamidischen Gedankens zehrend, als Theo- und Anthroposophen heute
-einem Krypto-Buddhismus Pseudo-Buddhismus in allen fünf Weltteilen
-zumal frönen. Eine Nachprüfung, eine Nachtätigung, wieweit der
-Körper durch solche Anstalten wirklich bis zu einem gewissen Grade
-unsterblich zu machen wäre, ist freilich aus allbekannten Gründen
-mindestens uns Europäern bis auf weiteres versagt. Haben wir keinen
-Grund, die Möglichkeit dieser und ähnlicher Umgestaltungen schlankweg
-zu verabreden, so sind wir im Hinblick auf unsere eigenen Erfahrungen
-freilich dazu berechtigt, auch dieser Umgestaltung keine tatsächlich
-unbegrenzte, sondern etwa nach Wirkunggrad und Reichweite immerhin
-begrenzte Beeinflussung zuzuschreiben. Genug, daß der Buddho selber
-zur Erlöschung eingegangen ist, trotzdem das Unsterblichkeit- und
-Dauerziel eines der vornehmsten seiner Lehre und seines Wandels
-gewesen ist. Der Herr eines der Werdewelt und ihren Gesetzmäßigkeiten
-grundsätzlich entrückten Leibes geworden, macht der Buddho, wie ich
-schon sagte, im entscheidenden Augenblick von dieser erworbenen
-Ewigkeit dennoch keinen Gebrauch! Und wahrscheinlich ist es der
-Bestürzung der Jüngerschar über dieses erschütternde Begebnis zu
-danken, &mdash; in vielen Punkten der Bestürzung einer anderen Jüngerschar
-nicht unähnlich, &mdash; daß der Dritte Bericht aus<span class="pagenum"><a name="Seite_158" id="Seite_158">[S. 158]</a></span> dem Großen Verhör
-über die Erlöschung Mahâparinibbânasuttam in stark legendarischer
-Fassung auf diesen ganz und gar unbegreiflichen Umstand zurückkommt
-und gewissermaßen eine Erklärung <i>a parte post</i> zu geben bemüht ist,
-warum der Erhabene seinen zur Dauer gehärteten Körper nun doch dem
-Vergehen überantwortet. Es ist dies nach dem Wortlaut des Berichtes
-einem Versäumnis des Ânando zur Last zu legen, der in den fraglichen
-Tagen mit der persönlichen Aufwartung beim Erhabenen betraut war. Ihm
-nämlich hat der Buddho dreimal die Bitte auf die Zunge gelegt, nicht
-zur Erlöschung einzugehen, vielmehr fortab unter den Jüngern zu weilen
-in dem Zustand der leiblichen Beharrung, zu dem er sich in einem halben
-Jahrhundert unerhörter Läuterungen emporgeläutert hat. Dreimal legt
-der Buddho diese Bitte seinem Lieblingjünger auf die Zunge und dreimal
-verstehet Ânando seinen Meister nicht und schweigt. Also mißverstanden
-und unverstanden vom teuersten Menschen bei unwiderbringlicher
-Gelegenheit, beschließt der Erhabene, dem dreimal schon ausgesprochenen
-Wunsche Mâro des Bösen zu willfahren und zur Erlöschung einzugehen.
-Mit der Gebärde jener göttlichen Traurigkeit, welche auch noch die
-schönsten Siege des Menschen über sich, über die ‚Welt‘ umflort, gibt
-der Erwachte die lebenslang erkämpfte Dauer seines Leibes preis. Auch
-der Mensch, der ihm längst der werteste und nächste war, hat sich das
-Geschenk stätiger Gegenwart des Erhabenen nicht erbeten. Auch der
-innigste Freund, der ‚sieben<span class="pagenum"><a name="Seite_159" id="Seite_159">[S. 159]</a></span>schrittige‘, war ihm in der rechten Stunde
-innerlich unendlich fern und hat das Wort des Herzens nicht gefunden:
-Μεῖνον μεθ’ἡμῶν, Bleib’ bei uns! ὅτι πρὸς ἑσπέραν ἐστιν,
-denn es naht gen Abend! Hier bricht ein tödlicher Schmerz
-durch, mit keinem Laut preisgegeben und trotzdem zermalmend fühlbar,
-ein Schmerz über alle Schmerzen an der Vergänglichkeit, Hinfälligkeit,
-Wesenlosigkeit des Leibes. Hier bricht ein Schmerz durch, ein nie
-besieglicher, über die untilgbare Menscheneinsamkeit der Seele, ein
-Schmerz, den auch der großgeistige Buddho nicht mehr zu verwinden weiß,
-&mdash; nun war es Zeit sogar für ihn, den Großgeistigen, zu gehen... „Wer
-auch immer, Ânando, die vier Machtgebiete geübt, gepflegt, ausgeführt,
-ausgebildet, angewendet, durchgeprüft, durchaus entrichtet hat, der
-könnte, Ânando, wenn ihn darnach verlangte, ein Weltalter hindurch
-bestehen, oder bis zu Ende des Weltalters. Der Vollendete hat, Ânando,
-die vier Machtgebiete geübt, gepflegt, ausgeführt, ausgebildet,
-angewendet, durchgeprüft, durchaus entrichtet; bei Verlangen darnach,
-Ânando, könnte der Vollendete ein Weltalter durch bestehen oder bis zu
-Ende des Weltalters. Ob dir gleich also, Ânando, vom Vollendeten ein
-wichtiger Wink, ein wichtiger Hinweis gegeben war, hast du es nicht
-zu merken vermocht, hast nicht den Vollendeten gebeten: ‚Bestehn möge
-der Erhabene das Weltalter durch, bestehn möge der Willkommene das
-Weltalter durch, vielen zum Wohle, vielen zum Heile, aus Erbarmen zur
-Welt, zum Nutzen, Wohle und Heile für Götter<span class="pagenum"><a name="Seite_160" id="Seite_160">[S. 160]</a></span> und Menschen.‘ Hättest
-du, Ânando, den Vollendeten gebeten, so hätte wohl zweimal deine Worte
-der Vollendete abgewiesen, aber das dritte Mal ihnen entsprochen. Darum
-aber, Ânando, hast du eben hier es versehen, hast du eben hier es
-versäumt...“ Ein Weltalter hindurch hätte also der Erhabene nach seinem
-eigenen Bedünken bestehen können bei Verlangen darnach. Ein Verlangen
-darnach hat aber niemand von den Jüngern im rechten Augenblick zum
-rechten Ausdruck gebracht, und so verlangt den Erhabenen selber nicht
-länger darnach. Und so entläßt denn der Erhabene (nicht ohne einen
-unendlich sanften Tadel Ânandos) den lebenslang gehegten Dauergedanken,
-entläßt den lebenslang gestärkten Unsterblichkeitwillen, entläßt den
-lebenslang gepflegten Wunsch nach weltzeitwährender Trostgegenwart...
-Wer hat da von euch, ihr Christen, noch eine Frage auf dem Herzen?...</p>
-
-<div class="section">
-
-<p class="initial">Wir westlichen Menschen, ihr Christen, haben öfters wohl als billig
-dies gotamidische Leiden am Leibe für das Merkmal genommen einer
-übermüdeten Gesellschaft und ihrer übermüdeten Gesittung. Pochend
-auf die eigene und vermeintliche Jugendlichkeit haben wir oftmals
-zu uns selber gesprochen: Greisenhaft ist dieses gotamidische
-Leiden an der Leiblichkeit; welk, absterbend und untergangsüchtig
-ist das gotamidische Leiden am Leibe. Und noch der Prophet unseres
-eigenen Untergangs, &mdash; ein falscher Prophet übrigens<span class="pagenum"><a name="Seite_161" id="Seite_161">[S. 161]</a></span> sogar dort,
-wo er recht hat! &mdash; hält es für angemessen, jede Vergleichung
-etwa unseres westlichen Heilands mit dem Heiland des Ostens als
-‚unwissenschaftlich‘ zu verbieten, weil beide Heilande in der Reihe
-der geschichtlichen Lebensalter an verschiedenen Stellen der Zeit
-stünden: der eine am Eingang, der andere am Ausgang hingegen einer
-geschichtlichen Periodos. Und dieses der geschichtlichen Wahrheit zum
-Trotz, daß just der Auftritt Gotamos für Indien gewissermaßen das
-Zeichen war, im nächstfolgenden Jahrtausend die große Architektur,
-die große Skulptur, das große Drama, das große Imperium zu schaffen
-in allerengster Berührung mit dem Geist des Asketen aus Magadhâ...
-Davon jedoch abgesehen, wage ich darüber hinaus die entschiedene
-Behauptung, daß eben jenes Leiden am Schicksal der Leiblichkeit das
-untrügliche Kennzeichen einer menschheitlichen Jugend, und nicht
-eines menschheitlichen Greisentums sei. Nur eine verhältnismäßig noch
-jugendliche Menschheit nämlich ist eindrucksfähig genug, um vor der
-Tatsache Alter, Krankheit, Tod so jäh erschreckt zu werden wie Gotamo
-von ihr erschreckt ward. Nur eine noch jugendliche Menschheit erliegt
-den Eindrücken des Lebens in diesem Maß und ersiegt sich ein zweites
-Leben über diese Eindrücke hinaus. Wer wirklich alt ist, dem hat das
-Alter jedwede Schrecknis längst verloren. Wer wirklich krank ist, den
-ängstigt hinfort keine Möglichkeit, krank zu werden. Und wer vollends
-schon sterbend ist, wie sollte er sich noch des Todes fürchten? Die
-Legende von der Ausfahrt<span class="pagenum"><a name="Seite_162" id="Seite_162">[S. 162]</a></span> Vipassîs erzählt von einem Jüngling, der
-ausfuhr, und es scheint, daß hiermit in mehr wie einem Sinn die Legende
-die Wahrheit berichtet habe, denn jedenfalls war der Buddho selbst von
-der Unbeeindruckbarkeit des Greisenalters so stark durchdrungen, daß
-er von jedem Belehrungversuch, Überredungversuch, Bekehrungversuch an
-Alten durchaus abriet und seinen Jüngern wiederholt einschärfte, sich
-bei ihrem Heilswerk an die Jugend zu halten: ganz einhellig übrigens
-mit dem griechischen Sprichwort, wonach einen Greis belehren wollen
-nichts anderes heißt als einem Toten eine Arzenei einflößen. Es ist
-dies eine Erwägung von großer Schlichtheit, aber eben darum jedem
-sich nahelegend, der ein Urteil über der Völker Jugend oder Alter
-zuverlässig abzugeben sich getraut...</p>
-
-</div>
-
-<p>Beim Buddho persönlich entspringt also das Leiden an der Leiblichkeit
-einem ungemein heftig erfühlten Bewußtsein der Ewigkeit des Selbstes:
-wie ungereimt dies auch anzuhören sei nach der weiter oben schon
-festgestellten stracks gegensinnigen Tatsache, wonach eben der
-Gedanke des Selbstes, der brahmanisch-vedische Gedanke, von Gotamos
-Protestantismus und protestantischer Kritik ausdrücklich zersetzt
-worden ist. Und zwar zersetzt durch das neue religiöse Erlebnis des
-‚<i>N’etam mama</i>, das gehört Mir nicht, das bin Ich nicht, das ist
-nicht mein Selbst‘. Diese Formel bricht gleichsam den Stab über den
-brahmanisch-vedischen Âtman, wofern eine Erlebnis-Gegebenheit, die
-Mir gehört, die Ich bin, die mein Selbst ist, nirgends aufgewiesen
-werden kann. Aber gleichzeitig<span class="pagenum"><a name="Seite_163" id="Seite_163">[S. 163]</a></span> bricht sie den Stab über den Âtman
-nur darum, weil alle Erlebnis-Gegebenheiten nur vergänglich, nur
-wehe, nur wandelbar erscheinen. Dieses Vergängliche, dieses Wehe,
-dieses Wandelbare gehört Mir nicht, &mdash; aber wer ist so schwerfällig
-und schwerhörig, daß er in dieser Verneinung die heimliche Bejahung
-völlig überhört, die da lautet: das Unvergängliche, das Leidbefreite,
-das Unwandelbare gehört Mir; das Unvergängliche, das Leidbefreite,
-das Unwandelbare bin Ich; das Unvergängliche, das Leidbefreite,
-das Unwandelbare ist mein Selbst!... Was irgendwie Dauer hat und
-Beharrung zeigt und nicht Wehe ist, das gehört Mir, selbst wenn es
-im Umkreis der Wahrnehmbarkeiten nirgends auszumitteln ist. Sehr
-wahrscheinlich, ja so gut wie sicher gibt es gar nichts Vorhandenes
-und Wirkliches und Daseiendes im Sinn dieser Wunschforderung, folglich
-gibt es auch nichts Vorhandenes und Wirkliches und Daseiendes, das Mir
-gehörte oder das Ich wäre. Aber was beweist diese Tatsache gegen die
-Wunschforderung als solche? Gotamo heischt Dauer, und weil er Dauer
-nirgends verwirklicht findet, leidet er an der Wirklichkeit. Mit einer
-ungeheuern Strenge und Unbeugsamkeit zerstört er den Sinnenschein der
-Dauer überall, wo sie nichts anderes für sich anzuführen hat als eben
-bloß den &mdash; Sinnenschein. Aber die Dauer an und für sich, sie bleibt
-nichtsdestoweniger das unantastbare Ziel seines gesamten religiösen
-Verhaltens, &mdash; das umso ausschließlichere Ziel, destoweniger es
-durch Erfahrungen bekräftigt wird. Die Dauer ist ihm der große und<span class="pagenum"><a name="Seite_164" id="Seite_164">[S. 164]</a></span>
-grundsätzliche Wert, der ‚Wert ersten Ranges‘, wie einhellig mit
-ihm Macchiavelli und Nietzsche sagt. Die Dauer ist ihm der Wert der
-Werte oder der Wert schlechthin, schon weil sie allem Lauf der Dinge
-so unbedingt zuwiderläuft, ja weil sie der Zeit und ihrem Werdestrom
-selbst zuwiderläuft. Die Dauer, wenn überhaupt Dauer ist, ist im
-tiefsten Sinn zu erkämpfen, zu erstreiten, zu ersiegen im Widerstreit
-mit der gesamten Welt- und Lebensordnung, und schon darum ist sie
-wie kein zweiter Wert weltüberwindend, wirklichkeitüberflügelnd. In
-einem mehr wie nur homerischen Wortverstand ist die Dauer ‚wider
-das Geschick‘, &mdash; sie ist nämlich wider das Urgesetz der Schöpfung
-selber, welches der unübertreffliche metaphysische Spürsinn Indiens in
-der herrlichen Sâvitrî-Episode des Mahâbhâratam mythologisch in die
-Tatsache des Todes selber zu verflechten wußte: ich beziehe mich auf
-das berühmte Zwiegespräch jener indischen Alkestis Sâvitrî mit dem
-Todesgott Yama, wo sie mit einer unfehlbaren Einsicht in den wahren
-Sachverhalt den Tod als das Urgesetz und das Urgesetz als den Tod
-preist. Dharma wird hier als höchstes Gut, als höchster Wert verehrt,
-aber Dharma ist Yama, und weil dem so ist, trachtet der Buddho am
-ersten nach der Dauer als der Welt- und Todesordnung Jenseit: „Wie
-wenn ich nun mit weitem, tiefem Gemüte verweilte und hätte die Welt
-überwunden, über ihr stehend im Geiste?“... Über ihr stehend im
-Geiste, das aber hieße über ihr stehend in der Dauer, und von dieser
-Wunschforderung der Menschenseele lässet<span class="pagenum"><a name="Seite_165" id="Seite_165">[S. 165]</a></span> auch dann Gotamo nicht ab,
-wenn sie von keiner Gegebenheit der Sinne oder des Sinns befriedigt,
-gestillt, erfüllt wird. Die Dauer ist das <i>Plus Ultra</i>, welches die
-Menschenseele über jede Wirklichkeit hinauswirft wie einen Ball, der
-dem Begriff der gleichförmigen Bewegung zufolge in die Unendlichkeit
-rollt und rollt. Dauer ist Seltenheitwert, Dauer ist Ausnahmewert,
-Dauer ist Unmöglichkeitwert, das ist Gotamos Meinung, um derentwillen
-er darnach trachtet und trachten muß, diesen verweslichen Leib in
-einen unverweslichen umzugestalten. Wer aber hier allzu flink bei
-der Hand ist, von Völker-Jugend oder von Völker-Greisentum zu reden,
-der greife zunächst einmal in sein eigen Herz und dann ins Herz
-aller Vergangenheiten, aller Vergänglichkeiten, ob nicht gerade
-dies Wunschverlangen nach Dauer, nach Ewigkeit, nach Stätigkeit der
-ewige Apathanatismos sei, auf welchen jede Menschheit von einigem
-Menschheitwert in allen ihren Wert- und Werkverwirklichungen bewußt
-oder unbewußt hingezielt habe, jegliche Menschheit in summa von der
-Gestalt jenes babylonischen Gilgamesch am würdigsten versinnbildlicht,
-der da einst auszog, glücklicher Finder und vielleicht Erfinder seiner
-Unsterblichkeit zu werden... Gotamos Urerleben heißt also Leiden; sein
-Leiden aber heißt Alter, Krankheit, Tod: das Schicksal der Leiblichkeit
-schlechthin. Das Schicksal der Leiblichkeit indes, das ist das Gesetz
-der Gattung, und so ist Gotamos Leiden an der Leiblichkeit das Leiden
-der Gattung, welches er sozusagen als Stellvertreter der Gattung<span class="pagenum"><a name="Seite_166" id="Seite_166">[S. 166]</a></span>
-mit besonderer Heftigkeit und Gewalt an sich erfährt: das ward mit
-ziemlichem Nachdruck oben schon verkündet. Das Leiden aller, von einem
-Einzelnen und Einzigen mit ausnahmweiser Wucht als die Bestimmung
-aller erfühlt, ist mithin zwar einenteils das Leiden der Gattung
-selber, welches jedes Glied der Gattung kosten muß, &mdash; ist andernteils
-aber auch das Leiden an der Gattung, als welche den drei Kernübeln
-des Alterns, Siechens, Sterbens ohne Rettung verfallen ist. Gotamo
-leidet wie kein zweiter die Not des Menschen. Aber eben darum leidet
-er auch wie kein zweiter am Menschen selber, der hoffnunglos dieser
-Not verhaftet ist. Nur leidet er am Menschen nicht, wie Jesus oder
-Zarathustra am Menschen gelitten haben, &mdash; bis zum Überdruß, bis zum
-Ekel, bis zur Verzweiflung gelitten haben an des Menschen Trägheit,
-Feigheit, Grausamkeit, Käuflichkeit, Treulosigkeit, Seelenlosigkeit...
-Diese herkömmlichen Menschenschändlichkeiten scheinen den Buddho sogar
-weniger berührt zu haben als sonst die Mehrzahl der geschichtlichen
-Heiligen und Helden, denn etwa mit Ausnahme jener sanften Traurigkeit
-über das Stillschweigen Ânandos kurz vor der Erlöschung stoßen wir
-kaum auf Spuren, geschweige denn auf Narben jenes Leidens, welches die
-tödlichste Heimsuchung des höheren Menschen zu sein pflegt. Gewiß!
-Dieser Großgeistige wird in der Kenntnis der Menschen, wie sie sind, so
-wenig übertroffen als in der Kenntnis des Menschen, wie er ist. Aber
-nirgends schmerzt ihn das Menschliche, weil es etwa böse oder schlecht
-oder weil es gar teuflisch wäre; nirgends leidet er</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_167" id="Seite_167">[S. 167]</a></span></p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">„Daran, daß der Mensch unmenschlich</div>
- <div class="verse">Ist und bleibt und nur der Gott</div>
- <div class="verse">Sich als Mensch kann offenbaren,</div>
- <div class="verse">Aber keinem von den Menschen...“</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p class="p0">Nein, der Erhabene leidet, weil diese Gattung Mensch, in die Werdewelt
-hineingeflochten, an der Dauerwelt keinen Anteil hat. Des Buddho
-Schmerz an der Gattung ist im Kosmos gegründet und in dessen Nomos,
-dessen Dharma. Es wäre nur die Hälfte wohl der Wahrheit, zu sagen, daß
-Gotamo an der Gattung allein gelitten habe: aber wofern er wirklich an
-der Gattung litt, da litt er an ihrem kosmischen und nicht an ihrem
-ethischen Zustand. Und hier bedarf die bisherige Darlegung allerdings
-einer Erweiterung und Vervollständigung von höchster Wichtigkeit.
-Denn um es mit Einem Wort zu sagen: das Leiden der Gattung und an der
-Gattung umspannt zwar das eigentliche Urerleben Gotamos, wie es die
-Legende von Vipassîs Ausfahrt ein für allemal versinnbildlicht, &mdash; aber
-dieses Urerleben füllt unter keinen Umständen den vollen Kreis des
-Leidens selber aus, wie es im Kosmos durchaus verwurzelt erscheint, um
-dann im Ethos freilich seine bittere Frucht zu tragen. Vergänglichkeit,
-Hinfälligkeit, Wesenlosigkeit sind also wohl die Leiden des Geschöpfes,
-durch die es seine Gebundenheit an die Schöpfung, seine Bedingtheit
-in der Schöpfung unzweideutig zu erkennen gibt. Wohl erleidet jeder
-Einzelne zu seinem Teil das Urverhängnis der ganzen Art, ja der ganzen
-Wandel- und Werdewelt, und ein Einzelner vollends von der Würde<span class="pagenum"><a name="Seite_168" id="Seite_168">[S. 168]</a></span> des
-Buddho erleidet weit über seinen persönlichen Anteil hinaus kraft
-seiner Eigenschaft als ‚Engel‘ das Urerleben aller, als ob er selber
-in eigener Gestalt ‚alle‘ wäre! Aber daneben, man wolle es bemerken,
-sind jedem Einzelnen die ganz besonderen Leiden seiner Einzelnheit
-und Einmaligkeit einmalig auferlegt. Sie sind ihm auferlegt, und
-auch dies wolle man bemerken, nach altindischem Dafürhalten als die
-unabwendbare Wirkung und Folge aller Taten, die einer getan oder
-unterlassen hat zu Zeiten früherer Verkörperlichungen. Gotamo hätte
-kein rechter Inder sein müssen und noch weniger jener Herzenskündiger,
-der da „der anderen Wesen, der anderen Personen Herz im Herzen schaut
-und erkennt: das begehrliche Herz als begehrlich und das begehrlose
-Herz als begehrlos, das gehässige Herz als gehässig und das haßlose
-Herz als haßlos, das irrende Herz als irrend und das irrlose Herz
-als irrlos, das gesammelte Herz als gesammelt und das zerstreute
-Herz als zerstreut, das hochstrebende Herz als hochstrebend und das
-niedrig gesinnte Herz als niedrig gesinnt, das edle Herz als edel
-und das gemeine Herz als gemein, das beruhigte Herz als beruhigt und
-das ruhelose Herz als ruhelos, das erlöste Herz als erlöst und das
-gefesselte Herz als gefesselt“; &mdash; Gotamo, sage ich, hätte nicht jener
-unvergleichliche Herzenskündiger sein müssen, begabt mit dem
-‚χάρισμα διακρίσεως πνευμάτων‘, wenn er an diesem Leiden von höchster
-persönlicher Bedeutsamkeit gleichmütig vorbeigegangen wäre. Möchte
-Gotamo der Erlebende immerhin an sich<span class="pagenum"><a name="Seite_169" id="Seite_169">[S. 169]</a></span> selber das Leiden als ein
-kosmisches Vorkommnis, als ein kosmisches Gesetz kosmisch erlebt und
-als eben solches kosmisch überwunden haben: unmöglich, ganz unmöglich
-konnte er sich gegen jenes anders geartete Leiden abstumpfen und
-verblenden, welches jeder Einzelne in einem wahrhaft abgründlichen
-Sinn und Hintersinn über sich selber verhängt. Über sich selber
-verhängt in seiner unumgänglichen Eigenschaft, in jeder zeitlichen
-Verkörperlichung als Täter seiner Taten, als Erbe seiner Werke das
-erleiden zu müssen, was er in früherer Verkörperlichung getätigt hatte.
-Um es mit Einem Wort auszusprechen, so hat ja auch dieser Gotamo die
-Lehre vom Karman angetreten, und das will heißen, die Lehre vom Leiden
-in seiner persönlichsten, verantwortlichsten, einmaligsten Form,
-dessen Maß, Beschaffenheit und Art bei jedem Einzelnen aufs genaueste
-vorherbestimmt erscheint durch Maß, Beschaffenheit und Art seiner
-vormaligen Taten. Hier hatte seinen härtesten Sieg zu erstreiten,
-wer des Leidens Sieger zu sein trachtete. Dieses Leiden hieß Schuld
-und Buße, Vergeltung und Sühne, Gericht und Strafe; dieses Leiden
-hieß Werk und Tat, Wirkung und Verursachung, Selbsturheberschaft und
-Selbstbestimmung. Wie nun ist dieses Leiden, welches aufs innigste
-mit dem Grundgesetz des Lebens, und diesmal zwar mit dem sittlichen
-Grundgesetz des Lebens zusammenhängt, wie ist es abzustellen oder
-zu verwinden, ohne dabei das sittliche Grundgesetz des Lebens zu
-gefährden? Die kosmische Ordnung der Welt konnte gewissermaßen
-außer Kraft gesetzt werden<span class="pagenum"><a name="Seite_170" id="Seite_170">[S. 170]</a></span> durch die Umgestaltung vergänglicher
-Leiblichkeiten in die Dauer: gut! Wie aber kann die ethische Ordnung
-der Welt durchbrochen werden, ohne daß das Ethos selber aufgehoben
-erscheint?</p>
-
-<p>Vergegenwärtigen wir uns inzwischen, ihr Christen, diese so seltsam
-fremde und dennoch seltsam anheimelnde Lehre vom Karman, das ist
-die Lehre vom ‚Werk‘, etwas mehr von der Nähe, und suchen wir
-völlig zu begreifen, in welchem Grade eben die Absicht Gotamos auf
-Leidensabstellung, Leidensauflösung, Leidensverwindung notgedrungen
-durch diese Lehre aufs äußerste verschwierigt werden mußte. Gemäß dem
-kosmischen Grundgesetz des Leidens von vorhin ist jedes Einzelwesen
-ohne Dauer und somit dem Leiden an der Dauerlosigkeit verfallen.
-Besteht jedoch ein Verfahren, welches Dauer irgendwie zu ermöglichen,
-ja zu verwirklichen verspricht, dann ist dieses Leiden an der
-Dauerlosigkeit getilgt und in kosmischem Betracht ein Zustand der
-Leidlosigkeit erreicht und errungen. Gemäß dem ethischen Grundgesetz
-des Leidens ist aber daneben und außerdem jedes Einzelwesen in jedem
-einzelnen Fall durchgängig das, was zu sein es sich in früherer
-Verlebendigung höchsteigentätig und höchsteigenwillig selbst erschuf.
-Ein gewisses Etwas nämlich reicht von der früheren Verlebendigung und
-ihren Werken, ihren Taten bis zur jetzigen Verlebendigung herüber:
-und dieses Etwas bestimmt das Sein der jetzigen Verlebendigung in
-jedem Zug, in jeder Falte. Was diesen sogenannten Leib betrifft, so
-steht ja unumstößlich fest, daß er<span class="pagenum"><a name="Seite_171" id="Seite_171">[S. 171]</a></span> nicht dauert und seine Lebenszeit
-nicht übersteigt. Und was die sogenannte Seele betrifft, so steht es
-zwar nicht unumstößlich fest, ob sie dauert oder ob sie nicht dauert,
-weil der Streit der Schulen ja darüber noch nicht entschieden ist und
-auf irdische Sicht hin schwerlich so bald entschieden werden wird;
-&mdash; immerhin dauert aber wenigstens nach altindischer Auffassung auch
-diese Seele eigentlich nicht oder fast nicht. Denn wo die Seele der
-alljährlich darzubringenden Totenopfer, Totenspenden der Söhne und
-Sohnessöhne entbehren muß, da entartet sie, da verelendet sie, da
-schrumpft sie gleichsam ein zu einem bloßen Wander- und Irrgespenst
-(<i>piçâca</i>), dessen wunderlicher Zwischenstand zwischen Sein und
-Nichtsein jede Wiederverleiblichung ausschließt, die sozusagen
-an der Reihe wäre, und derart die Seele um die ihr eigentümliche
-Auswirkungmöglichkeit, Auswirkungnotwendigkeit verhängnisvoll
-bringt. Was hingegen der dauerlose Leib und die grundsätzlich
-kaum dauernde Seele in der Zeit ihrer irdischen Gemeinschaft in
-gemeinsamer Urheberschaft wollen und vollbringen: das dauert, das
-beharrt, das stirbt nicht, das überlebt und übersteht. In der
-Brihadâranyaka-Upanischad, die allerdings nach der Annahme ihres
-deutschen Übersetzers schon den buddhistischen Einfluß widerspiegelt,
-legt der Frager Ârtabhâga dem alleswissenden Brâhmanen Yâjñavalkya
-die Frage vor: „‚Wenn nach dem Tode dieses Menschen seine Rede in das
-Feuer eingeht, sein Odem in den Wind, sein Ohr in die Pole, sein Leib
-in die Erde, sein Âtman<span class="pagenum"><a name="Seite_172" id="Seite_172">[S. 172]</a></span> in den Akâra (Weltraum), seine Leibhaare in
-die Kräuter, seine Haupthaare in die Bäume, sein Blut und Samen in das
-Wasser, &mdash; wo bleibt dann der Mensch?‘ Da sprach Yâjñavalkya: ‚Faß
-mich, Ârtabhâga, mein Teurer, an der Hand; darüber müssen wir beide
-uns allein verständigen, nicht hier in der Versammlung.‘ &mdash; Da gingen
-die beiden hinaus und beredeten sich; und was sie sprachen, das war
-Werk, und was sie priesen, das war Werk. Fürwahr! Gut wird einer durch
-gutes Werk, böse durch böses...“ Das Werk des Menschen also, sein
-Werk, will heißen seine Tat und seine Handlung, sie reicht über das
-Dasein der einzelnen Verkörperlichungstufe unendlich hinaus, nicht
-anders ungefähr, wie nach der Ansicht der dynamischen Naturphilosophie
-des Westens die Wirkung einer Krafteinheit unendlich hinausreicht
-über den raumlosen Punkt, in welchem sie ihren Sitz und damit ihr
-eigentliches Dasein hat. Mit dem nicht unerheblichen Unterschied
-freilich, daß diese Wirkung in die Unendlichkeit bei der natürlichen
-Krafteinheit nach allen Lagen und Richtungen des Raumes sich
-zerstreut und in der Zerstreuung sich verliert, indes die unendliche
-Wirkung beim Karman auf geheimnisvolle und nicht zu enträtselnde
-Weise gesammelt und aufgestaut wird, bis sie sich in einer neuen
-Persönlichkeit gleichsam wiederverstofflicht und wiederverlebendigt
-hat. Diese neue Persönlichkeit ist dann, wie sich von selbst
-versteht, mit Leib und Seele die Erschaffenheit der Wirkungweisen,
-die von der vorigen Persönlichkeit als Taten oder Werke ins All
-hinaus<span class="pagenum"><a name="Seite_173" id="Seite_173">[S. 173]</a></span>gestrahlt, hinausgestreut, hinausgeschleudert wurden. Wie die
-auseinanderlaufenden Strahlen einer Linse wohl vom Brennpunkt einer
-zweiten Linse wieder aufgefangen und vereinigt werden können, so werden
-die Werk-Ausgießungen eines beliebigen Wesens von einem zweiten Wesen
-wiederum aufgefangen und vereinigt, &mdash; abermals mit dem Unterschied
-freilich, daß es nach der Lehre vom Karman die Werk-Ausgießungen
-selber sind, die sich zu der neuen Verstofflichung zusammenfinden
-und verfestigen. Das Werk wirkt also in seiner Eigenschaft, Sämling
-oder Keimling oder Schwängerling zu sein, in alle Zukunft fort und
-fort im All: es pflanzt sich selbst als Schößling des Wirkenden in
-irgend eine unbekannte Äther-Erde ein. Urzeugend bildet hier das Werk
-das ihm im innersten entsprechende Wesen hervor; ungeschlechtlich,
-übergeschlechtlich setzt sich das Wesen fort im Werk. Werk aber und
-Wesen, Wesen und Werk schließen sich als die Glieder der ewigen Kette
-‚Zeit‘ in stätigem Wechsel stätig zusammen...</p>
-
-<p>Dem sei im übrigen, wie ihm sei. Auf jeden Fall macht Indien durch
-diese Lehre, die ihren Grundzügen nach vielleicht doch schon
-vorgotamidisch gewesen ist, bitteren Ernst mit dem Gedanken des ‚<i>esse
-sequitur operari</i>, Sein erfolgt aus Wirken‘, &mdash; mit einem Gedanken
-folglich, der zwar auch unserem alten Europa nicht fremd geblieben ist,
-aber mit welchem dieses nur hin und wieder etwas zu liebäugeln gewagt
-hat: im ganzen und großen immer wieder von dem thomistischen ‚<i>operari
-sequitur esse</i>, Wirken erfolgt aus<span class="pagenum"><a name="Seite_174" id="Seite_174">[S. 174]</a></span> Sein‘ in den Bann gezogen. Gerade
-weil der Aquinat mit diesem Grundsatz ohne weiteres recht hat und den
-Nagel auf den Kopf trifft, gerade darum muß auch die Umkehrung im Recht
-sein und den Nagel auf den Kopf treffen. Wirken erfolgt aus Sein, das
-lehrt die platteste Erfahrung stündlich. Aber nicht minder, wenn auch
-sicherlich mit minderer Sinnfälligkeit, erfolgt Sein aus Wirken: aus
-dieser meiner Tat wächst das ihr gemäße Sein wie umgekehrt die Tat aus
-ihr gemäßem Sein erwachsen ist. Die heutige Tat von mir erschafft mich
-selber als morgige Person; meine Tat von heute, mir heute noch selber
-fremd, unheimlich, unzugehörig und gleichsam in einem dunkeln Ungefähr
-von einem namenlosen Es getätigt, &mdash; sie schafft sich zuverlässig
-morgen ihren Täter, in mir selber zu mir selber sprechend: das bist
-du... Das Werk der Tat, noch heute von mir selbst als meines Selbstes
-blindes Jenseit geleugnet und nur wie ein Erdblitz aus irgendeiner
-Falte, irgendeinem Spalt meiner Selbstheit tödlich zuckend, &mdash; dies
-Werk meiner Tat wirbt bald um seinen Täter unablässig, bis sich mein
-Selbst als Täter morgen ihm vermählt. Wenn aber ein tragischer Dichter
-Europas sich zu dem immerhin bemerkenswerten Ausspruch hat bestimmen
-lassen, daß böse Tat fortzeugend stets Böses müsse gebären, so würde
-ein indischer Denker dies vielleicht sinngemäß dahin abzuändern
-wünschen: daß böse Tat fortzeugend stets Böse müsse gebären, wie gute
-Tat eben so fortzeugend Gute. Denn die Tat tätigt nicht allein die Tat,
-sondern tätigt je und je den Täter,<span class="pagenum"><a name="Seite_175" id="Seite_175">[S. 175]</a></span> wie dies der nicht ganz echte,
-aber doch um Echtheit eifrig bemühte Gotamide Schopenhauer wenigstens
-dem Willen an und für sich (ob auch leider nicht der Tat an und für
-sich) buchstäblich zuerkannte: du bist, wer du willst, <i>esse sequitur
-velle</i>, aber du tust, wer du bist, <i>operari sequitur esse</i>. Für den
-Inder jedoch ist es nicht der Wille, nicht eine geistig-seelische
-Wesenheit, nicht ein geistig-sinnlicher Eigenschaftträger, der das
-Dasein und Sosein der Person bestimmt, sondern die Tathandlung als
-solche, wie sie sich schlechterdings überhalb und außerhalb jeder
-physisch-metaphysischen Trägerschaft oder Täterschaft auswirkt. Es
-ist das Werk, das sich das Wesen baut, und zwar jegliches Werk das
-ihm gemäße Wesen. Es ist das Werk, das gleichsam erst in seinem ihm
-gemäßen Wesen ausruht, ungefähr wie eines jener emsig quabbelnden
-Einzellentierchen des Männersamens erst im Kern des weiblichen Eies
-ausruht. Das Werk rastet nicht und beharrt in dauernder Bewegung,
-bis es das Wesen, so ihm zugehört, mit aller Sorgfalt ausgeformt und
-ausgebosselt hat. Das Werk währt ewig und ewig wirkt es sich Strafe,
-Sühne, Vergeltung im erschaffenen Wesen, je nach seinem eigenen Wert;
-und ewig wirkt es sich Lohn, Förderung, Verdienst im erschaffenen
-Wesen, je nach seinem eigenen Wert. Und fast schon könnte ein
-weiterdenkender Abendländer sagen: der Wert währt ewig und ewig erwirkt
-er sich Strafe, Sühne, Vergeltung im erschaffenen Wesen, ewig Lohn,
-Förderung, Verdienst im erschaffenen Wesen... Hier aber, wie sonstwo
-nirgends, sage ich,<span class="pagenum"><a name="Seite_176" id="Seite_176">[S. 176]</a></span> tötet der Buchstabe und macht der Geist lebendig.
-Der Buchstabe der Lehre vom Karman tötet vielleicht wie kein zweiter
-Buchstabe den Geist selber, &mdash; den Geist selber aber hat Gotamo ein
-für allemal selber ehern in das Wort gehämmert: „Eigner der Werke sind
-die Wesen, Erben der Werke, Kinder der Werke, Geschöpfe der Werke,
-Knechte der Werke“. Das ist gotamidisch gefaßt das ethische, nicht mehr
-kosmische Grundgesetz und Urgesetz der Welt, das ist das Ethos selber
-als Grundgesetz und Urgesetz der Welt. Werk wirkt Wesen, Tat tätigt
-Täter: das ist in drei Worten aufgefangen, aufgegangen die Lehre vom
-Karman, wie sie Gotamo vielleicht angetreten und anerkannt, sicherlich
-aber vertieft und gegründet, abgerundet und zum Glaubenssatz erhoben
-hat...</p>
-
-<p>Werk wirkt Wesen, Tat tätigt Täter, also lautet die erste und
-unverlierbare Überzeugung. Aber schon schließt diese eine zweite ein,
-die hier nur mehr besonders erwähnt, nicht mehr besonders abgeleitet
-und entwickelt zu werden braucht: Werk nämlich wirkt Leiden, und Tat
-tätigt Leiden! Denn Wesen und Täter als Erschaffenheit von Werk und
-Tat, das sind eben Leidende und Erleidende von Werk und Tat; &mdash; Zug
-um Zug, Falte um Falte ihres Daseins, wie ich schon sagte, bedingt
-und bestimmt durch Karman, verhalten Täter und Wesen in bezug auf
-Tat und Werk sich leidend. Sie verhalten sich leidend, ihr Christen,
-in der allgemeineren Sprachbedeutung dieses Wortes, ohne Beziehung
-zunächst auf die Unlust des Gefühls, die wir in engerer Wortbedeutung
-Leiden<span class="pagenum"><a name="Seite_177" id="Seite_177">[S. 177]</a></span> nennen. Leidende sind vielmehr Wesen und Täter, wofern ihr
-Sein der Tat verdankt wird, durch Tat ihnen angetan wird, ohne daß
-sie selbst an dieser Tat beteiligt sind, &mdash; Leidende mithin im
-Wortsinn des Getätigt-Seins und Angetan-Werdens, des Bedingt-Seins und
-Bestimmt-Werdens von einem Etwas, welches sie nicht selber sind. Als
-Eigner der Werke, ja Knechte der Werke, sind die Wesen recht eigentlich
-die Leidner und Erleidner der Werke. Ihre innerste Kernschaffenheit,
-Kernrüstigkeit ward ihnen vom Karman angetan, wie etwa nach der
-Auffassung Kants die Eindrücke der Sinnlichkeit uns angetan werden
-vom Ding an sich. In manchem Betracht selber Eindrücke, Fährten,
-Spuren, die das Karman in dem bildsamen Grundstoff das All hinterläßt,
-bleibt den Wesen und Tätern keine Wahl, als nach dem Gesetz sich
-auszuleben, das sie von Karmans Gnaden angetreten, und auf solche Weise
-unerbittlich streng die Wirkung der Werke in sich zu verkörpern. Werk
-und Wesen, Tat und Täter aber verhält sich darnach nicht allein wie
-sich ein Tun zu seinem genau entsprechenden Leiden verhält, sondern
-mehr noch wie sich eine Ursache zu ihrer genau abgestimmten Wirkung
-verhält. Das Werk ist geradezu Ursache, Bedingung, Bestimmunggrund des
-Wesens, wie umgekehrt das Wesen geradezu Folge, Wirkung, Erscheinung
-des Werkes ist. Die Welt als Ganzheit aber stellt sich dem indischen
-Genius nicht anders dar als die Summe aller dieser Werk-und-Wesen-,
-aller dieser Tun-und-Leiden-Knüpfungen, deren fest umschriebenes
-Wechsel<span class="pagenum"><a name="Seite_178" id="Seite_178">[S. 178]</a></span>verhältnis dem All seine Ordnung und sein Gesetz, sein Maß und
-sein Sinn verbürgt. Wenn wir Europäer und Christen, ihr Christen, dem
-Geschehen dieser Welt die unzerreißliche Schürzung Ursache-Wirkung als
-weltsetzende und weltverfassende Unveränderliche aus- und eindeutend
-unterstellen, so unterstellt der Inder und Buddhist dem nämlichen
-Geschehen, &mdash; schon ist es aber nicht mehr das nämliche Geschehen! &mdash;
-die Schürzung Werk-Wesen, die Schürzung Tun-Leiden. Derart stellt das
-Karman durchaus dar, was der europäische Biologe bei dem Vergleich
-tierischer Organe miteinander eine ‚Analogie‘ zu nennen pflegt: das
-Karman ist die Analogie der Kausalität, deren erkenntnismäßige Leistung
-es haarscharf vertritt (und wie wir gewahren werden: übertrifft!),
-obschon es von ihrer erkenntnismäßigen Gestalt und Art unverkennbar
-abweicht. Das Karman, sag’ ich, sei die indische Analogie der
-europäischen Kausalität, wenn anders dieser naturwissenschaftliche
-Begriff auf geistige Verhältnisse übertragen und angewendet werden
-darf. Gleichsam in ihrer Anatomie verschiedenartig, sind Karman und
-Kausalität sozusagen in ihrer Physiologie gleichwertig, und wie dem
-Fisch die Kieme Lunge ist, so ist dem Inder das Karman Ursächlichkeit
-und ursächliche Schürzung. Das Karman ist die Kausalität, wie sie der
-Inder auffaßt: das Karman ist die erste und letzte sinnspendende,
-ordnungstiftende Eindeutung, welche aus wüsten Urmassenwirbeln eine
-Welt herausklärt. Die Knüpfung des Karman leistet dem indischen Geist
-das, was dem europäischen die<span class="pagenum"><a name="Seite_179" id="Seite_179">[S. 179]</a></span> Knüpfung der Kausalität leistet oder
-vielleicht auch nicht leistet, aber leisten soll und will. Die Knüpfung
-des Karman vertritt dem Inder die Knüpfung der Kausalität, nicht anders
-wie dereinst die Schürzung des Tun-Leidens, ποεῖν-πάσχειν dem
-Griechen die Schürzung der Kausalität vertreten hat und insonderheit
-auf der Tafel der zehn Kategorien des Aristoteles auch vertritt, &mdash;
-was denen zur Beruhigung gesagt sei, die sich immer noch den Kopf
-zerbrechen, wieso ein streng wissenschaftliches Weltbild wie das der
-Griechen ohne den Urgedanken der Ursächlichkeit habe überhaupt bestehen
-können. In Wahrheit hat es eben gar nicht ohne diesen Urgedanken
-bestanden, auch wenn das Wort Ursächlichkeit wirklich zu fehlen
-scheint. Die Ursächlichkeit der Griechen heißt ποεῖν-πάσχειν,
-heißt Tun-Leiden, heißt Antun-Angetanwerden: und wenn je in ihrer
-vielschichtigen geistigen Geschichte schlagen sie hier die Brücke zum
-großen Osten, wo der unverbrüchliche Knoten ποεῖν-πάσχειν
-eben &mdash; Karman heißt. Noch haftet ja dieser Ursprung sogar unserem
-heutigen Gedanken der Ursächlichkeit und Verursachung unabstreiflich
-an. Noch immer ist ja die Ur-Sache zuguterletzt Ur-Tat und Ur-Tun,
-noch immer ist die Wirkung ein Angetan-Werden und Erleiden-Müssen.
-Noch hat sich jede europäische Erkenntnislehre auseinanderzusetzen,
-wenn nicht abzufinden mit der seltsamen Auffassung, daß die sogenannte
-Empfindung, will heißen der Stoff und Inhalt des Erlebens, auf
-irgendeine unerforschliche Weise die Angetanheit, die Erlittenheit sei,
-die<span class="pagenum"><a name="Seite_180" id="Seite_180">[S. 180]</a></span> der bewußten Persönlichkeit aus unbekannten und unnennbaren Fernen
-aufgedrungen wird. Noch lebt in jeder abendländischen Philosophie
-mehr oder minder stark die Überzeugung, daß der persönliche Träger
-und Inhaber des Bewußtseins die Welt von außen her erleide und
-erdulde; noch lebt in jeder abendländischen Philosophie mehr oder
-minder stark die Auffassung, daß die ‚Sinnlichkeit‘ ein Vermögen des
-Aufnehmens, Empfangens, Über-sich-ergehen-Lassens sei. Auch jetzt
-noch ‚erleidet‘ der einzelne Mensch die Wirklichkeit, auch jetzt noch
-erliegt er der Wirklichkeit. Weltduldend, weltleidend wird selbst
-dieser europäisch starke und eigenwillige Mensch von der Wirklichkeit
-und ihrer Zeichenflut überschwemmt und überwallt, also daß sogar uns
-verhärteten Christenseelen, ihr Christen, der Tat-Bestand Leiden und
-der Tat-Bestand Leben in der Wurzel fest zusammenwachsen...</p>
-
-<p>Aus unbekannten, unnennbaren Fernen, sagte ich vorhin, strömten dem
-einzelnen Bewußtsein die Eindrücke zu, die es als sein Erlebnisstoff,
-Erlebnisinhalt zu erleiden hat. Gilt dies für abendländisches Auffassen
-ohne Einschränkung, so hebt sich dieses Auffassen freilich just hier
-am schärfsten vom indischen Auffassen ab, wo es diesem sich am engsten
-angenähert zu haben scheint. Denn diese namenlosen Fernen, dieses
-‚Außerhalb‘ des Bewußtseins, dieses kaum mehr zu verdeutlichende
-Bereich von Dingen an sich oder von dem Ding an sich, welches auf
-geheimnisvolle Art das Bewußtsein mit Zeichen, Reizen,<span class="pagenum"><a name="Seite_181" id="Seite_181">[S. 181]</a></span> Eindrücken,
-Empfindungen versieht, &mdash; dieses Bereich des unergründlichsten Ungefähr
-verlegt die indische Lehre eben wieder in den Tat-Ort als solchen: in
-das Karman. Auch der Abendländer, wir sahen es, fühlt sich in seinem
-Erlebnisumkreis bedingt und bestimmt, beeindruckt und erleidend.
-Auch ihm werden Empfindungen, Erlebnisstoffe, Bewußtseinsinhalte von
-verborgenen Herkunftstätten zugeteilt, für welche die wissenschaftliche
-Topologie keine Ansatzpunkte mit irgendwelcher Zuverlässigkeit
-auszukunden vermag. Ist dieses bisher durchaus auch indisch, so
-gestattet sich indes gerade der Inder hier die entscheidende Abweichung
-von der europäischen Überzeugung, indem er nämlich seinerseit den
-dort vermißten Ansatzpunkt für die Auswirkungen der Dinge an sich im
-Karman gefunden zu haben glaubt. Die Kraftquellen der Welt, welche
-dem Einzelwesen seine Lebensreize spenden, versickern nicht auf dem
-durchlässigen Grund einer ewig fragwürdigen Dingansichheit, sondern
-werden ins Karman wie in ihr Sammelbecken unversieglich geleitet. Die
-Welt, die jedem angetan wird auf seine Weise, sie wird ihm von ihm
-selber angetan, sie wird ihm von seinem Werk, von seiner Tat, von
-seinem Willen angetan. Die Welt, die einer in der Jetztzeit seines
-Daseins erleidet, die hat er sich selber in Gestalt seines Karman
-in der Zeit erwirkt. Die Zeichen, die einem jeden als Lebensreize
-zustoßen, die hat sich ein jeder selber zugesendet, auf diese hat
-sich ein jeder selber abgestimmt. Die Welt erleidend, erleidet jeder
-zuletzt sich, als Empfänger<span class="pagenum"><a name="Seite_182" id="Seite_182">[S. 182]</a></span> gleichsam mit magnetischen Kräften an sich
-ziehend, was er als Sender magisch ins All hinausgestrahlt und gefunkt
-hat. Die Reiz- und Erlebnisumwelt, anscheinend jedem zufallend auf gut
-oder schlechtes Glück, ist in einem gedanklich nie zu erschöpfenden
-Sinn die Wahl-Welt, Werk-Welt, Tat-Welt eines jeden; und zwar dort am
-meisten, wo sie am unwiderstehlichsten beeindruckt und beeinflußt.
-Solchermaßen nimmt aber bereits die altindische Lehre unsere späte und
-kaum schon viel verbreitete Errungenschaft biologischer Einsichten
-geistreich genug vorweg, &mdash; ich meine die höchst fruchtbare Erkenntnis,
-wonach jedes Lebewesen mindestens seiner morphologischen Typik nach der
-Urheber und Urtäter seiner eigenen und nur ihm zugemessenen, nur ihm
-angemessenen Umwelt, Reizwelt, Merkwelt ist und folglich wenigstens im
-biologischen Betracht nur das erleben kann, was es kraft schöpferischer
-Selbstgestaltung und Selbstentfaltung zuguterletzt erleben will. Der
-morphologische Typus einer jeglichen Spezies erschafft sich darnach
-physiologisch und psychologisch seine spezifische Erlebniswirklichkeit,
-die genau genommen nur für ihn besteht und nur ihm entspricht: die
-Schnecke die Schneckenwirklichkeit, die Möve die Mövenwirklichkeit,
-die Ameise die Ameisenwirklichkeit, der Affe die Affenwirklichkeit.
-Wie sich die Erde eine Lufthülle umlegt, in welcher sie atmen kann,
-und nun die Umwelt, Reizwelt, Merkwelt ‚Luft‘ erlebt, so umgibt sich
-selbstschöpferisch jedes Geschöpf mit einer Wirklichkeit, in der es
-wirken kann und die auf seine Wirksamkeit<span class="pagenum"><a name="Seite_183" id="Seite_183">[S. 183]</a></span> wiederum aufs wunderbarste
-zugeschnitten ist... Ein Schritt weiter vom Leben der Art und Gattung
-zum Leben des Einzelwesens hin, ein Schritt weiter vom Bios und
-allem, was mit ihm zusammenhängt, zum Ethos hin und allem, was mit
-ihm zusammenhängt: und Europa ist reif für die gotamidische Lehre,
-daß auch hinsichtlich des Ethos, und keineswegs allein des Bios, ein
-jedes Lebendige nur das, was es zu innerst will, erleben und empfangen,
-empfinden und erleiden, erreizen und ergeizen kann. Was da in dieser
-Welt Wasser zu erleiden hat, das hat eben als Karman Wasser getan;
-was da Erde zu erleiden hat, das hat Erde getan; was da Feuer zu
-erleiden hat, das hat Feuer getan; was da Luft zu erleiden hat, das
-hat Luft getan; was da Tod zu erleiden hat, das hat Tod getan; was da
-Hölle zu erleiden hat, das hat Hölle getan; was da Geist zu erleiden
-hat, das hat Geist getan; was da Säligkeit zu erleiden hat, das hat
-Säligkeit getan. Wer dieses über den Bios hinaus aus dem Ethos zu
-verstehen vermag, der hat die Lehre vom Karman endgültig verstanden,
-soweit das Verstand-Übersteigende verstanden werden kann. Ihm ist in
-Übereinstimmung mit dem Herrn Gotamo das Leben wohl in seiner Wurzel
-Leiden: aber das Leiden, ihr Christen, in seiner Wurzel Tat! Aber das
-Leiden, ihr Christen, in seiner Wurzel Tat!...</p>
-
-<p>Wie etwa an einem Herbstnachmittag aus falb leuchtenden
-Silbernebelmassen ganz plötzlich eine dunklere Linie sichtbar wird
-hoch in der Gegend des Raumes, wo wir den Himmel vermuten dürfen;
-wie<span class="pagenum"><a name="Seite_184" id="Seite_184">[S. 184]</a></span> sich dieser ungewisse Streifen alsbald zu erkennen gibt als die
-Rist- und Gipfelrandung ungeheuerer Gebirge; wie schließlich sich die
-Gletscherbänke und Firnfelder hintereinander gereihter Alpenketten
-bei zunehmender Klärung vom Himmel her bald leuchtend und bald
-schattend abwärts tasten und abwärts schieben, um zuletzt auf der
-Erde selbst gewaltig wuchtend Fuß zu fassen: also zeichnet sich hier
-erst in wenigen Zacken und Zinken, Schroffen und Stürzen, dann aber
-immer körperhafter, immer ausgerundeter, immer raumbeherrschender
-ein ganzes Welt-All ab, zuletzt vom vollen und goldenen Nimbus einer
-übermenschlichen, übergöttlichen Gerechtigkeit wundersam besonnt.
-Ein Welt-All zeichnet sich ab, wo alles bereinigt, alles beglichen,
-alles geschlichtet, alles gewogen, alles gerichtet scheint, &mdash; ein
-Welt-All, untadelig und vollkommen in sich selber und darum keines
-Gotts bedürftig, der daran bessern oder schlimmern könnte, keines
-Gotts, der es ergänzen oder vervollständigen müßte in dem, was ihm
-von Haus aus gebricht. Ein Welt-All ohne schmierigen Geschäfte und
-Geschäftchen, wo niemand um das Heil seiner Seele feilscht und
-marktet, handelt und händelt, schwindelt und betrügt. Ein Welt-All,
-wo kein Mensch seine Götter prellt und noch weniger ein Gott seine
-Menschen. Ein Welt-All, wo keiner zu seinem Gott betet und bettelt,
-daß er die Welt-Ordnung doch für einen Augenblick zugunsten des Herrn
-Müller, Schultze, Schmidt ein wenig außer Kraft setzen möchte und die
-Welt-Fügung außer Fug. Ein Welt-All, wo keine<span class="pagenum"><a name="Seite_185" id="Seite_185">[S. 185]</a></span> Götter blinzeln oder
-zwinkern oder ein Auge zudrücken, wenn der Herr Müller, Schultze,
-Schmidt vom Pfad der Tugend abweicht und sich im Dickicht nebenan zu
-schaffen macht. Ein Welt-All, wo kein Priester über zulässige und
-unzulässige Ausnahmen von der Regel zu befinden sich gedreistet: ein
-Welt-All, so unverbrüchlich, unverwüstlich, daß nicht einmal der
-Wüsten-Gott Jahve drein zu sprechen sich getrauen dürfte. Ein Welt-All,
-wo kein Platz ist für Zufall und Zufälligkeiten, aber kein Platz auch
-für Zwecke und Zweckmäßigkeiten in der landläufigen Bedeutung. Ein
-Welt-All, wo sich alles abspielt in durchgängiger Wechsel-Abhängigkeit,
-Wechsel-Bezogenheit, Wechsel-Folgerichtigkeit, wo aber andererseit auch
-die Ursächlichkeit noch nicht entartet ist zu jener tief gleichgültigen
-Sächlichkeit und Sachlichkeit, welche sie zur alleinigen Angelegenheit
-der Wissenschaften, nicht aber mehr zum Sinn der Religionen stempelt.
-Ein Welt-All, das sich den Luxus der Gottlosigkeit wirklich leisten
-kann, weil es nicht wie das unsrige bloße Physis oder bloßer Bios,
-sondern unter allen Umständen ein Ethos ist: Physis und Bios und Ethos
-zumal verankert in dem einen und nämlichen Urgesetz des Kosmos... Von
-diesem Gesetz in jedem Teil und jedem Glied ewig und ehern durchwaltet,
-schenkt dieses Welt-All der Seele des Menschen, was des Menschen Seele
-bedürftig ist, bedürftig war und bedürftig sein wird: weshalb die von
-der Welt getränkte und gespeiste Menschenseele Gottes und der Götter
-nicht bedarf. So ist der Kosmos des Buddho, das sei uns<span class="pagenum"><a name="Seite_186" id="Seite_186">[S. 186]</a></span> Christen,
-ihr Christen, immer wieder eingehämmert, zwar durchaus ein Kosmos
-Atheos, aber dafür in jedem Zug vollkommenes Ethos, &mdash; und das ist
-vielleicht nicht unbeträchtlich mehr, als man von unserm westlichen
-Welt-Bild und Welt-Gefüge seit dem griechischen Altertum und seit
-dem christlichen Mittelalter mit etlichem Recht nachrühmen darf. Aus
-dem Ethos herauf entstieg jenen Indern, welche die Anschauung vom
-Karman in sich empfangen hatten, die Anschauung ihres Kosmos: aus dem
-Tatbestand des Pathos aber, beeile ich mich hinzuzufügen, erwuchs
-ihnen das Ethos. Derart brauchte sich das Ethos nicht wie jeweils bei
-uns nach kurzem Antrieb leer zu laufen, sondern griff mächtig in den
-Kosmos ein. Wenn aber ein Grieche die beinah’ unsägliche Bedeutung
-dessen, was einem Griechen Ethos hieß, in drei Worte zusammenballte
-wie in eine geschlossene Faust, indes freilich auch noch die geballte
-Faust zu schwach war für die Stärke dieser Worte; wenn ein Grieche
-also vormals sagte: ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμων, Sinnesartung ist
-dem Menschen Schicksal! &mdash; nun wohl, dann hat der Buddho auch dieses
-geflügelte Wort noch überflügelt durch sein gotamidisches:
-πάθος ἀνθρώπῳ ἦθος, πάθος κόσμῳ ἦθος! Leiden ist dem Menschen
-Seins- und Sinnesartung, Leiden dem Welt-All Seins- und Sinnesartung!
-Oder um den entscheidenden Gedanken mit noch größerer Schärfe
-auszuprägen: das Leiden ist dem Welt-All Sein und Sinn schlechthin!
-Aus des Leidens Urerleben, das gilt es jetzt mit einem Staunen ohne
-Ende zu be<span class="pagenum"><a name="Seite_187" id="Seite_187">[S. 187]</a></span>greifen, aus ihm läutert und keltert sich der Buddho den
-eigentlichen Sinn des Seins, den eigentlichen Sinn der Wirklichkeit.
-Der Tatbestand des Leidens als solcher vermittelt dem Buddho die
-Anschauung einer übermenschlich-übergöttlichen Welt-Gerechtigkeit,
-Welt-Vernünftigkeit, Welt-Vollkommenheit, Welt-Folgerichtigkeit. Wofern
-hier jedes Wesen leidet, was jedes Wesen tat, wofern hier jedes Wesen
-ist, was jedes Wesen tat, erblickt das Auge Gotamos, das ‚himmlische
-und geklärte‘, diese Welt in makelloser, untadeliger Sinngetreuheit
-und Sinndurchwirktheit, &mdash; erblickt es sie mit jener zärtlichen
-Ergriffenheit vor allem Lebendigen, die dem Buddho allein in dieser
-Reinheit und Kraft eigen gewesen ist. „Gleichwie etwa, ihr Mönche, wenn
-da zwei Häuser wären, mit Türen, und es betrachtete ein scharfsehender
-Mann, in der Mitte stehend, die Menschen, wie sie das Haus betreten
-und verlassen, kommen und gehen: ebenso nun auch, ihr Mönche, seh’ ich
-mit dem himmlischen Auge, dem geläuterten, über menschliche Grenzen
-hinausreichenden, die Wesen dahinschwinden und wiedererscheinen,
-gemeine und edle, schöne und unschöne, glückliche und unglückliche,
-erkenne wie die Wesen je nach den Taten wiederkehren. Diese lieben
-Wesen sind freilich in Taten dem Guten zugetan, in Worten dem Guten
-zugetan, in Gedanken dem Guten zugetan, tadeln nicht Heiliges, achten
-Rechtes, tun Rechtes; bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode,
-kehren sie auf gute Fährte, in himmlische Welt wieder. Und<span class="pagenum"><a name="Seite_188" id="Seite_188">[S. 188]</a></span> auch diese
-lieben Wesen sind in Taten dem Guten zugetan, in Worten dem Guten
-zugetan, in Gedanken dem Guten zugetan, tadeln nicht Heiliges, achten
-Rechtes, tun Rechtes; bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode,
-kehren sie unter die Menschen wieder. Jene lieben Wesen sind aber in
-Taten dem Schlechten zugetan, in Worten dem Schlechten zugetan, in
-Gedanken dem Schlechten zugetan, tadeln Heiliges, achten Verkehrtes,
-tun Verkehrtes; bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, kehren
-sie in das Gespensterreich wieder. Und auch jene lieben Wesen sind in
-Taten dem Schlechten zugetan, in Worten dem Schlechten zugetan, in
-Gedanken dem Schlechten zugetan, tadeln Heiliges, achten Verkehrtes,
-tun Verkehrtes; bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, kehren
-sie in die Tierheit wieder. Und auch jene lieben Wesen sind in Taten
-dem Schlechten zugetan, in Worten dem Schlechten zugetan, in Gedanken
-dem Schlechten zugetan, tadeln Heiliges, achten Verkehrtes, tun
-Verkehrtes; bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, kehren sie
-abwärts, auf schlechte Fährte, zur Tiefe hinab, in höllische Welt
-wieder“...</p>
-
-<p>Haben wir dieses, ihr Christen, einmal erschöpfend gewürdigt, wie
-für den Buddho die ganze Sinnerfülltheit und Sinnbedingtheit der
-Welt ausschließlich an der Lehre vom Karman hängt, will heißen an
-der Vorstellung von einem ewigen Wechsel- und Abhängigkeitverhältnis
-zwischen Werk und Wesen, Tat und Täter, Tun und Leiden, &mdash; dann
-vermögen wir endlich etwa auch zu würdigen, warum der Buddho<span class="pagenum"><a name="Seite_189" id="Seite_189">[S. 189]</a></span> gegen
-jede Anzweiflung dieses weltordnenden, ja weltstiftenden Zusammenhanges
-so ungewohnt scharf ausfallen mußte, wie dies zum Beispiel, ich
-erwähnte es schon, in der Hundertundneunten Rede aus der Mittleren
-Sammlung Majjhimanikâyo jenem vorwitzigen Mönchlein geschah, das aus
-der dort entwickelten Formel des ‚<i>N’etam mama</i>, das gehört Mir nicht‘
-die Unzugehörigkeit von Tat und Täter folgern wollte. Diese Verknotung
-von Pathos und Ethos, übrigens in ungefähr gotamidischer Zeit doch
-auch in unserem Westen von den Griechen auf ihre eigene Weise erahnt,
-sei es orphisch, sei es tragisch, ja sogar sei es philosophisch
-geschehen (wie die aristotelische Tafel von den Kategorien erweist
-und beweist: und eben durch die aristotelische Philosophie in das
-wissenschaftliche Weltbild Europas eingeschmolzen), &mdash; diese Verknotung
-knotet und schürzt überhaupt erst die Wirklichkeit zur Welt, welche
-ohne sie zu einem unentwirrbaren Knäuel abgerissener Fäden aller
-Art wie ausgekämmtes Frauenhaar verfilzen würde. Wer das Karman
-anficht, ficht die Verfassung des All, das Grundgesetz des All, den
-Ursinn des All an, „ein eitler Mensch, aus Unwissen in Unwissenheit
-geraten, vom Durst im Geiste überwältigt“... Das Karman heftet die
-Mannigfaltigkeit der Dinge und Begebenheiten zusammen, wie der Einband
-die losen Blätter eines Buchs zum Buch zusammenheftet. Das Karman
-einigt die Unterschiedlichkeiten der Dinge und Begebnisse, wie der
-Sinn die verschiedenen Buchstaben eines Wortes, die verschiedenen
-Worte eines Satzes,<span class="pagenum"><a name="Seite_190" id="Seite_190">[S. 190]</a></span> die verschiedenen Sätze einer Rede einigt. Das
-Karman durchtönt und durchdringt die Wirklichkeit mit seiner Farbe,
-wie eine Kugel Waschblau das Wasser des Zubers bläut und mit ihm alle
-Wäschestücke, die im Zuber abgespült und ausgerungen werden. Das Karman
-fügt Tun und Leiden, Tat und Dasein vollkommen passend aneinander,
-wie ein geschickter Zimmermann Nud und Feder vollkommen passend
-aneinanderfügt. Das Karman verstätigt die bloße Aufeinanderfolge von
-Werk und Wesen, Tat und Täter in der Zeit zu einer bedingend-bedingten
-Auseinanderfolge in der Zeit und schweißt alle Auseinanderfolgen in
-einen unverbrüchlich lückenlosen Ring. Für immer erzeugt gemäß dem
-Karman das gleiche Werk das gleiche Wesen, für immer gebiert gemäß ihm
-die gleiche Tat den gleichen Täter: dauernd dreht sich dieser Ring
-der Werke-Wesen um des Karmans Achse wie ein wohlgeschmiertes Rad.
-Weil aber hier stets die gleiche Ursache gleiche Wirkung, die gleiche
-Urtat gleiche Wirkung, das gleiche Werk das gleiche Wesen, das gleiche
-Tun das gleiche Leiden nach unabänderlicher Satzung setzen werden,
-geschieht es ganz von selbst, daß der Künder des Karman in einer
-gewissen Weise der Künder der Ewigen Wiederkehr zu sein gar nicht umhin
-kann: als welchen ihn denn auch das Buch vom Gestaltwandel der Götter
-dem europäischen Leser schon vorgestellt hat. Der Buddho, der zwischen
-den zwei Häusern Platz genommen hat, aus welchen diese Wesen ausgehn
-und wohin sie eingehn: jedesmal in neuer Maske, neuer Verpuppung und
-neuer Gestalt, &mdash; er wird<span class="pagenum"><a name="Seite_191" id="Seite_191">[S. 191]</a></span> doch immer derselben Schürzung gewahr
-zwischen Werk und Wesen, Tat und Täter, Tun und Leiden: wird derselben
-Schürzung nicht ohne Überdruß gewahr! Denn das ewige Gesetz durchwaltet
-zwar diese Welt wohltätig mit Sinn, durchwärmt diese Welt wohltätig
-mit Sinn. Aber das ewige Gesetz verzerrt auch den Sinn dieser Welt zum
-Un-Sinn, Wider-Sinn und läßt den Sinn zum Un-Sinn, Wider-Sinn erkalten.
-Mit zermalmender Gleichform setzt das Gesetz von sich aus immer nur das
-Gleiche; gleiches Tun, gleiches Leiden; gleiches Werk, gleiches Wesen;
-gleiche Handlung, gleiche Erscheinung: das ist der Ring des Gesetzes,
-das ist das Rad des Gesetzes. Trostspendend, heilwirkend dem, der vor
-der Willkür und dem Zufall des Geschehens zum Gesetz sich rettet,
-wird das Gesetz fürchterlich dem, der aus der Regel zur Ausnahme, aus
-der Abhängigkeit zur Freiheit hinstrebt. Durch des Leidens Urerleben
-ist Gotamo zum Weltgesetz, zur Weltordnung, zum Weltsinn gekommen.
-Aber wiederum kommt durch des Gesetzes, durch der Ordnung, durch des
-Sinnes Urerlebnis Gotamo zurück zum Leiden, von dem er eben ausging.
-Der Lehrer und Künder des Karman als dem Dharma beginnt am Karman,
-beginnt am Dharma selbst zu leiden: und diesem Leiden gleichsam am Sinn
-weiß freilich kein Sinn mehr Abstellung zu erwirken. An der Erfahrung
-des Leidens ist Gotamo herangereift für ein Welt-All, vollkommen
-makellos, untadelig und gerecht. Aber zugleich kehrt in diesem All das
-Gleiche in der Zeit wieder, und derart erweist sich<span class="pagenum"><a name="Seite_192" id="Seite_192">[S. 192]</a></span> das All seinem
-tiefsten Deuter als eine Stätte ewiger Wiederbringung, als ein Ring
-ewiger Wiederkehr, als ein Rad ewiger Wiederkünfte: „Ewig ist Seele
-und Welt, starr, giebelständig, grundfest gegründet; und diese Wesen
-wandern um, wandeln um, verschwinden und erscheinen wieder: es ist
-immer das Selbe“... Gesetzt durch das Gesetz, verletzt also die Welt
-am unheilbarsten durch das Gesetz den, der die Freiheit im Gesetz
-und in der Welt sucht. Am Gesetz erlabt sich die Seele, wofern ihr
-das Ungesetz verhaßter wie die Schande ist: aber wider das Gesetz
-empört sich dieselbe Seele, wofern sie die Freiheit mehr liebt wie
-sich selber. „Und es gibt eine Freiheit, höher als diese sinnliche
-Wahrnehmung“, begütigt sich die Seele selber, die am Gleichschritt des
-Geschehens tödlich leidet... Es gibt eine Freiheit, da das Gesetz stets
-nur Notwendigkeiten setzt und dennoch die eigentliche Not nicht wendet:
-es gibt eine Freiheit, welche die Not des Gesetzes selber wendet...</p>
-
-<p>Als Krischna, der Hirtenknabe &mdash; wir entsinnen uns, ihr Christen,
-dieser liebenswürdigen Legende &mdash; als Krischna, der Hirtenknabe, eines
-Tages sich erging am Ufer der heiligen Yamunâ und sich ergötzte, wie
-der Strom so flink und schimmernd wallte, da ward er auf der Oberfläche
-dieses schönen Flimmerspiegels einer Stelle ansichtig, von welcher her
-Rauch und Gestank schwelte. Er sah das Wasser sieden und mit plötzlich
-aufsprudelnden Springfluten das Laub der Bäume am Gestade versengen,
-die Vögel auf den Zweigen verbrühen. Sofort gedachte er, wie dies
-ge<span class="pagenum"><a name="Seite_193" id="Seite_193">[S. 193]</a></span>wiß Kâliya sei, die Weltenschlange, die hier mit ihrem giftigen
-Gezücht Wasser, Land und Luft verpeste. Und er gedachte ferner, wie es
-jetzt an der Zeit sein möchte, mit dieser Weltenschlange auf dem Grund
-der himmelspiegelnden Yamunâ ein Wort zu reden und sie, koste es was es
-wolle, zum Abzug aus diesen göttlichen Gefilden zu bewegen. Das alles
-gedachte der Hirtenknabe Krischna bei sich und schon hatte er sein
-Kleid geschürzt und sich in den kochenden Strudel hineingeschwungen auf
-den Grund des Schlangenpfuhls, &mdash; schon hatte er die Arme ausgereckt,
-die kindlichen, um das wütende Ungetüm zu würgen. Aber schon wand
-auch die hochgesträubte Schlange ihre tausend Leiber um den Knaben,
-schon schlug sie ihre tausend Zähne in sein golden Fleisch. Bald war
-nichts mehr von ihm zu erblicken, der von dem Metall der Schuppenarme
-rings umpanzert war wie von einer Rüstung, welche der Waffenschmied
-am Körper des Gerüsteten selber glüht und biegt und hämmert. So hatte
-sich Krischna übermütig in den Schlangenabgrund geschwungen, um von ihm
-verschlungen zu werden. Bestürzt, ratlos, verzweifelt liefen die Hirten
-und Hirtinnen der Heimat an den Ufern zusammen und rangen die Hände in
-Schmerz und Ohnmacht, indes des Knaben Mutter Yasodâ wie leblos auf die
-Erde fiel. Bis dann zuletzt Krischnas Leibesvater Nanda, unbewegt dem
-Sohn ins Auge blickend, die Worte in den Pfuhl hinunterwirft: Genug, o
-Gott der Götter! Du hast lange genug dich menschlich gezeigt; weißt du
-nicht, daß du göttlich<span class="pagenum"><a name="Seite_194" id="Seite_194">[S. 194]</a></span> und ewig bist?... Derart angerufen, aufgerufen
-zum Entschluß, sich endlich auf sich selber zu besinnen, sich endlich
-zu sich selber zu ergotten, lächelt der Knabe sanft seines zauberischen
-Lächelns. Und zieht sich leicht und spielend aus der tausendarmigen
-Umwindung, nicht anders etwa wie eine Dame der Gesellschaft ihre Hand
-anmutig und leicht aus dem Arm eines Herrn herauszieht, der sie zu
-Tisch oder zum Tanz geführt hat. Und tritt mit einer kaum merklichen
-Bewegung der Schlange auf den behaubten Kopf und immer wieder auf den
-Kopf, bis sie unter die Wippe der göttlichen Ferse immer und immer
-wieder gewippt, in ihren fruchtlosen Zuckungen und Krämpfen schließlich
-erlahmt und am Ende steif, speiend, geifernd vor Anstrengung ohnmächtig
-auf dem Grund des Stromes ausgestreckt liegt und in strengem Schwur
-den Abzug aus dem heiligen Bezirk verspricht... Die Weltenschlange
-Kâliya aber der Legende, wer wüßte es nicht, ahnete es nicht, ist das
-Urgesetz Karman selber, in welches Krischna-Gotamo sich verstrickt
-findet. Wie Krischna der Hirtenknabe steht der Erhabene da auf dem
-Grund des Schlangenpfuhls: lebendig eingeschmiedet in den lebendigen
-Ring des Weltgesetzes, den glühend schwingenden und kreisenden, &mdash;
-lebendig aufgeflochten auf das wälzende Rad des Weltgesetzes und von
-ihm gerädert. Aber indes ihm das Weltgesetz in tausendgliedriger
-Verschlingung stätig drehend die Gelenke bricht und ihm tausend Zähne
-ihr Gift in nimmer heilende Wunden träufen, da vernimmt er zwar nicht
-die<span class="pagenum"><a name="Seite_195" id="Seite_195">[S. 195]</a></span> Stimme seines Leibesvaters, aber doch seine innere Melodie:
-Genug, o Mensch der Menschen! Du hast lange genug dich zeitbedingt,
-gesetzabhängig, ursachverhaftet gezeigt: weißt du nicht, daß du ewig,
-daß du ledig, daß du frei bist? Genug, o Geräderter auf dem Rad aller
-Räder: weißt du nicht, daß diese Seele nimmer gerädert werden kann?
-Genug, o Geschmiedeter in den Ring aller Ringe: weißt du nicht, daß die
-Seele selbst des Feuers ist, des schmiedenden, aber weder des Erzes
-noch des Erd-Schmutz-Stoffes, der da geschmiedet werden kann und darf
-und muß?...</p>
-
-<p>Hier aber berühren wir, ihr Christen, die heikelste, die empfindlichste
-Stelle nicht nur des gotamidischen Erlebens, vielmehr alles Erlebens
-überhaupt von wirklich religiöser Beschaffenheit, religiöser Herkunft,
-religiöser Weihe. Die Erfahrung des Leidens hatte Gotamo dazu geführt,
-das All selber gleichsam zu erschaffen als die unverbrüchliche
-Aufeinanderfolge von Tun-Leiden, wo jedem Wesen kraft seiner
-Eigenschaft als Erscheinung und Gestalt in Raum-Zeit dasjenige als
-Reizwelt, Merkwelt, Unwelt ‚angetan‘ wird, was er selber kraft seiner
-Eigenschaft als Werk an und für sich, Tat an und für sich, Wille an
-und für sich gewählt und ausgesucht hat. Die Erfahrung des Leidens
-hatte auf diese Weise Gotamo zur Erfahrung einer Wirklichkeit geführt,
-in welcher jedes einzelne Wesen die Vergeltung seiner Werke darstellt
-und in welcher jede einzelne Geburt eine Wiedergeburt nach eigener
-Bestimmung ist. In dieser Wirklichkeit setzt jedes Lebendige seinen
-eigenen Rang und wählt jedes Da<span class="pagenum"><a name="Seite_196" id="Seite_196">[S. 196]</a></span>seiende seinen eigenen Wert als den
-ihm gegenwärtig allein zusagenden, angemessenen, erwünschten, &mdash; in
-dieser Wirklichkeit lebt jede Erscheinung zuletzt als ihre eigene
-Wunschverkörperung, Willensversichtbarung, Wertverwirklichung. Wer da
-nach seinem Ableben in höllische Welt hinabfährt, dessen Karman wollte
-die höllische Welt, suchte und fand die höllische Welt. Wer da nach
-seinem Ableben in die tierische Welt hinabfährt, dessen Karman wollte
-die tierische Welt, suchte und fand die tierische Welt. Wer da nach
-seinem Ableben in die gespenstische Welt hinabfährt, dessen Karman
-wollte die gespenstische Welt, suchte und fand die gespenstische Welt.
-Wer da nach seinem Ableben in die menschliche Welt wiederkehrt, dessen
-Karman wollte die menschliche Welt, suchte und fand die menschliche
-Welt. Wer da nach seinem Ableben in die göttliche Welt aufsteigt,
-dessen Karman wollte die göttliche Welt, suchte und fand die göttliche
-Welt. Mit einer Notwendigkeit, die ebensosehr eine kosmisch gültige
-ist wie eine dem Sinn entsprechende und im Sinn gegründete, bewährt
-sich hier jedes Dasein als die Setzung seiner engsten Tat und Absicht:
-das ‚Ich‘ setzt sich hier in der Strenge einer Wortbedeutung, die
-sich wohl selbst jenem deutschen Denker noch nicht voll erschloß, der
-diese Wahrheit zum Grundsatz seiner Philosophie erhob... Trotzdem hat
-inmitten dieser eisernen Verkettung von Notwendigkeiten die Freiheit
-eine Stätte! Daß zwar ein Wesen in Raum und Zeit jemals auf eine andere
-Weise erscheine, als es durch seine Werke selbst vorherbestimmt<span class="pagenum"><a name="Seite_197" id="Seite_197">[S. 197]</a></span> habe,
-oder daß sich ein Ich jemals nicht in Übereinstimmung mit seiner
-Tathandlung der Selbst-Setzung selber setze, &mdash; das freilich ist und
-bleibt völlig außerhalb jeder erdenklichen Freiheit gelegen; das Wie
-und das Was jedes einzelnen Daseins ist durchgängig festgelegt vom
-Wie und Was dieser vorausgehenden Werktätigkeit. Nur das Wie und das
-Was dieser Werktätigkeit seinerseit untersteht keinem Zwang, keiner
-Bestimmung, keiner Verursachung, vielmehr entscheidet das Wie und
-Was der Tat selbstherrlich und frei über das Wie und Was der eigenen
-Wesenheit: eben der Vorgang der Wahl wird nach der Lehre vom Karman als
-schlechthin ‚unbedingter‘ Vor-Gang aller Bedingungen und Bedingtheiten
-herausgeschält. Er spielt sich außerhalb der Reihe der Dinge und
-Dinglichkeiten ab und ist in dieser Hinsicht un-bedingt; er löst sich
-aus der Wechsel-Verknüpftheit aller Wirklichkeiten heraus und ist
-in dieser Hinsicht heraus-gelöst und ab-gelöst, das ist lateinisch:
-absolut. Inmitten des geschlossenen Kreislaufs des welthaften
-Tun-Leidens und der welthaften Werke-Wesen bleibt eine einzige
-Stelle offen, ungefähr wie in einem rings mit glänzender Eiskruste
-zugefrorenen Binnensee eine einzige Stelle offen (und zugleich dunkel)
-bleibt: dort nämlich, wo dem Boden der Born des Zuflusses entquillt,
-der den See speist. Auf ähnliche Weise bleibt im Umkreis der lebendigen
-Notwendigkeiten die Zufluß-Stelle, Eintritt-Stelle frei, wo die rang-
-und wertbestimmenden Wahlhandlungen, Tathandlungen in den Umkreis
-münden. Die Tat, die von neuem ihre<span class="pagenum"><a name="Seite_198" id="Seite_198">[S. 198]</a></span> Selbstverkörperung als Täter
-setzt, das Werk, das von neuem seine Selbstverleiblichung als Wesen
-setzt, ist frei und kann Täter, Wesen dahin, dorthin setzen, in
-höllische, tierische, gespenstige, menschliche, göttliche Welt, just
-wie der Wille ist, wie der Wunsch ist, wie die Wahl ist...</p>
-
-<p>So daß sich jetzt wie von selbst die Frage ungerufen stellt und
-einstellt: ob nicht zuletzt doch eine Tat erdenklich wäre, die nicht
-mehr verkörpernd diesen oder jenen Täter an seine tatbestimmte Stelle
-der Werdewelt und Wandelwelt setze, sondern eine Tat, die gleichsam
-selbsttätig sich selber mitsamt der Person des tatfolgenden Täters
-aus dem geschlossenen Kreis der irdischen Kräfte und Kräfteträger
-auszuschalten fähig wäre? Ob es nicht zuletzt ein Werk gäbe,
-auf welches ein ihm zugehöriges Wesen und Dasein nicht mehr mit
-ursächlich bedingter Notwendigkeit folgen müsse? Ob nicht zuletzt ein
-Wille vorhanden sei, der neben seiner Freiheit zum Was und Wie der
-Wiederverwirklichung eine höhere Freiheit aufwiese, eine Freiheit auch
-zu dem Daß und Ob dieser Wiederverwirklichung? Ob nicht zuletzt eine
-Wahl, eine Entscheidung getroffen werden könne, die nicht allein frei
-zu nennen wäre in Ansehung der künftig einzunehmenden Stelle in diesem
-All und in Ansehung des darin einzunehmenden Stellen-Wertes, sondern
-frei überdies in Ansehung der Wiederkunft und Nicht-mehr-Wiederkunft in
-diese Werde- und Wandelwelt? Ob nicht zuletzt ein Karman zu betätigen
-sei, welches weder in den Schoß der Hölle<span class="pagenum"><a name="Seite_199" id="Seite_199">[S. 199]</a></span> eingehe, noch in den Schoß
-der Tierheit, noch in den Schoß der Gespensterheit, noch in den Schoß
-der Menschheit, noch in den Schoß der Göttlichkeit, &mdash; nein, ein Karman
-vielmehr, welches ganz einfach in gar keinen Schoß mehr eingehe irgend
-welcher Geburten und Wiedergeburten, ein Karman, welches in der Sprache
-der Lehre ‚keine Fährte‘ hinterlasse? Denn setzen wir den Fall, ihr
-Christen, ein Wesen habe die Stockwerke dieser Welt von unten nach
-oben in der gehörigen Reihe erstiegen und sei in niemals erlahmender
-Selbststeigerung, Selbstveredelung, Selbstvollendung von teuflischer
-Gestalt zu göttlicher Gestalt über Tier, Gespenst, Mensch hinweg nach
-oben geklommen: schwebt dieses Wesen, wofern es doch auch jetzt noch
-dem Weltgesetz ewiger Verkettung von Tat-Täter, Werk-Wesen, Tun-Leiden
-durchaus unterworfen bleibe, &mdash; schwebt es nicht in furchtbarer
-Gefahr, von seiner erklommenen Höhe wieder herabzugleiten, und just
-jenen ‚Fall‘ zu tun, den jeder Gott tat, wenn er versucht ward, eine
-Welt zu schaffen und dieser Versuchung alsbald auch erlag? Setzen
-wir also den Fall, ihr Christen, &mdash; und der Buddho hat diesen Fall
-wahrhaftig schon gesetzt! &mdash; auch diese Götter gehörten ohne Vorbehalt
-und Einschränkung dem Kreislauf der Wiederverkörperungen in der Zeit
-an und lebten keineswegs ungebunden, unverpflichtet hinter oder außer
-oder über dieser Welt: gilt dann nicht auch für sie ganz ohne Vorbehalt
-und Einschränkung das Grundgesetz der Welt von der Wiederverkörperung
-der Tat im Täter, des Werks im Wesen,<span class="pagenum"><a name="Seite_200" id="Seite_200">[S. 200]</a></span> des Tuns im Leiden? Wäre ein
-Wesen mithin sogar als Gott wiedergeboren, es bliebe auch als Gott
-geknüpft an die stätige Wechselwirkung, die die Lehre vom Karman als
-die unverbrüchliche Satzung dem Weltbau unterstellt. Auch im Himmel
-bliebe diesem Wesen das Leiden nicht erspart, und sei es auch nur ein
-Anflug jenes echten Götter-Leidens, durch Götter-Tat diese leidende
-Welt dem Heile nicht entgegenführen zu können, weil auch der Gott ja
-eisern in den Ring der Geburten eingeschmiedet ist und bleibt. Auch ein
-Gott in Person würde ja die Mitleid-Bitte der Himmelskönigin Aditi um
-‚ewige Erlösung‘ anhören müssen, ohne ihr willfahren zu können: denn
-auch Gott in Person, das hat jener Krischna-Mythos ein für allemal
-mit hoher Frömmigkeit geoffenbart, ist nur ein Teil des Ganzen, nur
-ein Dasein unter Daseienden, nur eine Gestalt unter oder über anderen
-Gestalten. Im gotamidischen Kosmos kann jeder Unermüdliche und
-Bewährte im Ablauf der Weltenjahre Gott werden, &mdash; und dies ist die
-unendliche Tröstlichkeit, die unvergleichliche Hoffnungfröhlichkeit,
-die unwiderstehliche Herzensinnigkeit dieser Religion, die unter diesem
-Zeichen einen erheblichen Bruchteil der Menschheit für sich erobert
-hat. Aber zugleich bleibt im gotamidischen Kosmos auch der Gott aufs
-strengste an die heilige Verfassung der Welt gebunden, als welche
-Karman heißt oder Wiederkehr des Gleichen oder ewige Wiedergeburt oder
-Ring der Wiederbringungen oder Rad der Werke-Wesen oder Kreis des
-Tun-Leidens... Darum schweift Gotamos Blick<span class="pagenum"><a name="Seite_201" id="Seite_201">[S. 201]</a></span> voll sinnender Schwermut
-über die fernsten Nebelbänder, Sonnenräder und Kometenschweife dieser
-unbegrenzten Welt und aller möglichen unbegrenzten Welten weit hinaus.
-Darum fällt gelegentlich in der Zwölften Rede aus der Mittleren
-Sammlung Majjhimanikâyo jenes für Christenohren so hocherstaunliche und
-vermutlich hochanstößige Wort: „Und sollt’ ich auch, Sâriputto, nur
-unter Reinen Göttern kreisen: ich mag in diese Welt nicht wiederkehren.
-Und sollt’ ich auch, Sâriputto, nur unter Reinen Göttern geboren
-werden: ich mag in diese Welt nicht wiederkehren. Und sollt’ ich auch,
-Sâriputto, nur unter Reinen Göttern leben: ich mag in diese Welt nicht
-wiederkehren“...</p>
-
-<p>Wie eng verzahnt und genau ineinandergepaßt dies nicht alles ist!
-Wie stätig und zusammenhängend geschichtet, auch wo die Schichtungen
-einmal eine Bruchstelle zeigen und eine Verwerfung erfahren haben!
-Wer das Leiden als das Gesetz der Welt erkannt und gedeutet hat, wer
-am Weltgesetz selber leidet und an dessen ewiger Wiederkunft des
-Gleichen zum Gleichen, dem kann in Wahrheit nicht einmal die Geburt
-als Gott zu des Leidens Überwindung taugen. Dies Leiden durchaus und
-von innen her überwinden, hieße die Welt selbst durchaus und von innen
-her überwinden, in welche das Leiden bedingend und verursachend,
-bedingt und verursacht je und je verflochten ist. Der Gott aber
-stehet in der Welt, wenn auch der Welt zuoberst, und nicht außer ihr.
-Wer da am Leiden leidet, weil in das Fundament der Welt das Leiden
-gleichsam eingemauert ist wie in das Fundament mittelalter<span class="pagenum"><a name="Seite_202" id="Seite_202">[S. 202]</a></span>licher
-Türme ein lebendiges Wesen (mit seinen Todesqualen) eingemauert
-ward, &mdash; dem taugt von allen Taten nur die eine: die Durchbrechung!
-Die Durchbrechung des Kreises der Geburten und Wiedergeburten, die
-Durchbrechung des Dharma und des Karman, die Durchbrechung der ganzen
-unendlichen Reihe Tat-Täter und Werk-Wesen. Solang ein Mensch solcher
-Fühlung sich der Welt verhaftet weiß, weiß er sich abhängig von der
-Welt und abhängig von der Welt Entstehungen und Vergehungen; weiß er
-sich abhängig von Alter, Krankheit, Tod; weiß er sich abhängig von
-aufsteigenden und absteigenden Lebensknoten ... Aber „Unabhängigkeit,
-sag’ ich, ihr Mönche, ist höchstes Labsal der Gefühle!“ Unabhängigkeit
-von dieser Welt und ihrer falschen Notwendigkeit, die nirgends Not und
-Nöte wendet, sondern stets nur neue Not und Nöte schafft und schafft;
-Unabhängigkeit von allen Drohungen der Wirklichkeiten und Möglichkeiten
-jetzt und künftighin; Unabhängigkeit von dem Zwang der abermaligen
-Entstehung, abermaligen Vergehung: sie gilt es irgendwie zu bewirken
-und zu befestigen. Eine Stelle gilt es ausfindig zu machen, über
-welche keine Flut des Werdens mehr hinwegbrandet und wo Sicherheit,
-Stätigkeit, Standfestigkeit winkt, eine weltlose Stelle außerhalb
-aller Stellen und Stätten der Welt. Und derart geschieht hier, ihr
-Christen, das Ungeheuere und ganz Unausdenkliche und jeden Begriff bei
-weitem Übersteigende, daß Gotamo diese von ihm selbst so groß und schön
-geordnete Welt um dieser höchsten Unabhängigkeit<span class="pagenum"><a name="Seite_203" id="Seite_203">[S. 203]</a></span> willen eigenhändig
-wie eine tadellose Glocke von reinstem Guß und reichstem Klang mit
-nerviger Faust in Trümmer hämmert! Am Leiden leidend, folglich an der
-Welt leidend, folglich an der Welt Gesetz und Ordnung leidend, folglich
-am Kreislauf der werkvergeltenden Geburten leidend, folglich am Karman
-leidend, setzt Gotamo dies Karman mit derselben Machtvollkommenheit
-der Seele außer Kraft, mit welcher er es einst in Kraft gesetzt hatte.
-Dieselbe Seele, die einen unveräußerlichen Anspruch hat auf Gesetz und
-Gesetzes Wohltat, hat einen unveräußerlichen Anspruch auch auf Freiheit
-und der Freiheit Säligkeit. So gilt das Karman für die Welt der
-Wirklichkeit und Wirksamkeit unaufheblich, aber gilt nicht für diese
-Seele, die sich die Freiheit von der Welt und von der Wirklichkeit auf
-irgendeine Weise zu erkämpfen, zu ersiegen weiß. Das Karman ist der
-Dharma der Welt, und sicherlich müßte das Gerüst der Welt im Nu in sich
-zusammenstürzen, sicherlich müßte das Gefüge der Welt im Nu aus allen
-Fugen springen, wenn das Karman nicht alle seine Balken und Stützen
-und Bretter mit eisernen Klammern fest aneinanderhaftete. Die Seele
-aber besitzt ihren eigenen Dharma, welcher vom Dharma der Welt nicht
-weniger verschieden ist als die Welt von der Seele selbst verschieden
-ist. Der Dharma der Welt heißt Notwendigkeit, Gesetz, Verhaftung,
-Wechselbedingtheit, Verhältnismäßigkeit; der Dharma der Seele heißt
-Freiheit, Ledigkeit, Selbstherrlichkeit, Unbedingtheit, Abgelöstheit.
-In Leidens-Freiheit, Leidens-<span class="pagenum"><a name="Seite_204" id="Seite_204">[S. 204]</a></span>Ledigkeit, Leidens-Abgelöstheit
-bewährt die Seele sich selbst als unbedingt und selbstherrlich; in
-Welt-Freiheit, Welt-Ledigkeit, Welt-Abgelöstheit bewährt die Seele sich
-selbst als unbedingt und selbstherrlich...</p>
-
-<p>Um es mit Einem Wort zu sagen: es stehet in der Macht der sogenannten
-Seele, wenn sie nicht länger leiden will, nicht mehr zu leiden. Es
-stehet in der Macht der Seele, aus der Verklammerung von Tun und
-Leiden, welche wir als ‚Wirklichkeit‘ nun kennenlernten, sich sanft und
-sacht zu lösen: nicht anders, wie sich der Gottmensch Krischna aus der
-Umwendung der Weltenschlange sanft und sacht gelöst hat. Aber freilich!
-zu Lebzeiten des Buddho gab es da etliche, welche die Befreiung von
-allem Leiden dadurch zu vollbringen wähnten, daß sie jedwede sündhafte
-Tat im Zustand früherer Geburten zu verbüßen gedenken, wenn sie selbst
-sich freiwillig Leiden über Leiden, Pein über Pein antun. Es gibt da
-etliche, &mdash; und ihrer scheinen gar nicht so wenig zu sein! &mdash; welche
-ganz einfach auf rechnerische Weise jedes schlimme Tun durch ein
-entsprechendes Leiden tilgen zu können vermeinen: bis sie zuletzt
-die Summe aller Taten durch die Summe aller Leiden quitt gemacht
-haben und Gleiches gegen Gleiches rund zur Aufhebung brachten. Solche
-hoffen das Karman zu durchbrechen, indem sie das Karman buchstäblich
-erfüllen, Leiden um Tat, Leiden um Tat, bis das durch ‚übermäßiges
-Verdienst‘ erworbene und angehäufte Leiden die Tat gleichsam bis
-zum Stumpf getilgt hat. Das ist der Weg der Leidensbefreiung,<span class="pagenum"><a name="Seite_205" id="Seite_205">[S. 205]</a></span>
-den beispielweis die ‚Freien Brüder‘ beschritten haben, welche es
-für heilfördernd und bekömmlich erachten, das Leiden der Kreatur
-durch Mehrung des Leidens in freiwillig geübter Schmerzensaskese zu
-überwinden und beinahe schon nach der Regel Schopenhauers verfuhren,
-daß nicht die Schmerzen, sondern die Genüsse zu verneinen seien: die
-Schmerzen vielmehr zu bejahen und abermals zu bejahen ... Gegen diese
-Praxis indes, die nach dem buchstäblichen Wortverstand so durchaus
-auf der Linie der gotamidischen Lehre vom Karman gelegen scheint,
-erhebt niemand schärferen Einspruch als der Buddho selber. Mit einem
-merklichen Beischmack von überlegenem Spott, ja von Hohn wendet sich
-Gotamo wider diese Freien Brüder, die da in ihrer Schmerzensaskese
-das Leiden der Welt vorsätzlich vervielfältigen, statt es vorsätzlich
-abzustellen. Sie, die von dem unanfechtbaren Grundsatz des Karman
-ausgehen: „Was immer auch ein Mensch empfindet, sei es Wohl oder
-Wehe, oder weder Wohl noch Wehe, all das ist vorhergewirkt,“ &mdash; sie,
-die durch gewissenhafte Leidens-Übung etwa begangene Frevel früherer
-Verkörperungen peinlich rechnend auszugleichen trachten, sie rechnen in
-Wahrheit falsch. Wohl ist der Knüpfung Tun-Leiden entsprechend alles,
-was das einzelne Wesen von Natur leidet, vorherbestimmt, vorhergewirkt.
-Aber das ist es eben, daß diese Knüpfung nur eine Tatsache, nur
-eine Ordnung, nur ein Zwang der Natur ist, der ‚bösen‘, dort jedoch
-ihre Gültigkeit verliert, wo das Joch der Natur<span class="pagenum"><a name="Seite_206" id="Seite_206">[S. 206]</a></span> zerbrochen wird.
-Diese scharfe Wendung Gotamos gegen die eigenen Voraussetzungen und
-Unterstellungen, diese schroffe Abweisung des Buchstabens von seiten
-des Geistes scheint die Reihen der eigenen Jünger, soweit diese nicht
-zu den völlig Eingeweihten zählen, in nicht geringem Maß überrascht,
-erschreckt, ja teilweis außer Fassung gebracht zu haben. Der Buddho,
-der als strengster Vollender der Lehre vom Karman den Satz der Freien
-Brüder ‚alles ist vorhergewirkt‘ mit äußerstem Nachdruck bestreitet
-und das darauf gestellte Heilsverfahren schier als ein lächerliches
-abweist und abschätzt, &mdash; dieser Buddho geht manchem Mönch des heiligen
-Ordens schlechterdings über den Begriff. So beispielweis jenem Mönch
-Arittho, dem ehemaligen Geierjäger, der nach der Zweiundzwanzigsten
-Rede aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo die folgende Äußerung
-gewagt hat, die unverzüglich dem Erhabenen als besonders ketzerisch
-berichtet ward: „Also fasse ich die vom Erhabenen verkündete Lehre auf,
-daß jene vom Erhabenen als verderblich bezeichneten Handlungen dem
-Täter nicht notwendig zum Verderben gereichen“... Dieser Mönch zwar
-wird unverzüglich vorgeladen, befragt, getadelt und zurecht gewiesen,
-&mdash; aber wir, die wir zu Zeugen dieses Vorgangs gemacht werden, können
-nicht umhin zu gestehen, daß dieser Mönch in einem gewissen und sehr
-tiefen Sinn die Wahrheit, nichts als die Wahrheit ausgesprochen habe!
-Darüber lassen die Reden gegen die Freien Brüder nicht den mindesten
-Zweifel<span class="pagenum"><a name="Seite_207" id="Seite_207">[S. 207]</a></span> obwalten; darüber läßt Gotamos Lehre von des Leidens
-Aufhebung, Abstellung und Ablösung selber keinen Zweifel obwalten.
-In der für diese Frage hochwichtigen Hundertundsechsunddreißigsten
-Rede aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikâyo hat der Buddho selber
-ausdrücklich die vier Möglichkeiten dargelegt und entwickelt, daß
-die gute Tat gute Fährte, die gute Tat aber auch schlechte Fährte
-hinterlassen könne, wie umgekehrt die schlechte Tat zwar schlechte
-Fährte, aber die schlechte Tat auch gute Fährte. Das Karman ist die
-irdische Ordnung, welche Wirklichkeit und Welt in ursächlich-urtätigen
-Zusammenhang bringt und in diesem Betracht allerdings unaufheblich
-gilt. Aber die Seele des Menschen bleibt dem Karman nur unterworfen,
-wofern sie ihm unterworfen bleiben will. Ihr bleibt es anheimgestellt,
-auch wenn sie von allen Lastern, Bosheiten, Scheußlichkeiten wie ein
-pestverseuchter Leib mit Blattern, Beulen und Geschwüren bedeckt wäre,
-durch einen einzigen und übermenschlichen Entschluß sich jenseit ihrer
-eigenen Lasterhaftigkeit, Bosheit und Scheußlichkeit zu begeben und &mdash;
-rein zu sein. Es stehet der Menschenseele, es stehet der Schächerseele
-frei, das zu tun, was auch der Heiland des Westens seinen Gläubigen
-als Trostvermächtnistat unvergeßlich hinterlassen hat: nämlich heut
-noch, jetzt noch, schon ans Kreuz geschlagen und vom Tod umnächtigt,
-dennoch ‚im Paradies zu weilen‘. Es ist der Menschenseele letztes
-und unmittelbarstes Hochgeheimnis, mit einem einzigen Federzug die
-unendlich<span class="pagenum"><a name="Seite_208" id="Seite_208">[S. 208]</a></span> angelaufenen Posten von Schuld und Sühne, Tat und Leiden,
-Werk und Wesen glatt durchzustreichen und alles Leidens ledig, aller
-Ursächlichkeiten ledig, aller Gründ- und Folglichkeiten ledig, sie
-selbst zu sein und das heißt frei zu sein. „Ist da nun, Ânando, ein
-Mensch, der ein Mörder und Dieb, ein Wüstling, Lügner, Verleumder,
-ein Zänker und Schwätzer, voll Gier und Haß und Eitelkeit war, bei
-der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, auf gute Fährte geraten, in
-himmlische Welt, so hat er seine günstige Tat, die freudig empfunden
-wird, eben früher begangen oder später begangen, oder hat in seiner
-Sterbezeit eine rechte Erkenntnis vollzogen und vollbracht: darum ist
-er, bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, da hinauf geraten.
-Wenn er aber hier also übel gewandelt war, hat er sich die Folge davon
-schon bei Lebzeiten fühlbar gemacht, oder bei der Auferstehung, oder
-bei nachmaliger Wiederkehr“...</p>
-
-<p>Die Freien Brüder setzen dem Leiden das Leiden entgegen, um die Tilgung
-des Leidens im Weg freiwillig übernommener Schmerzens- und Bußübung zu
-bezwecken. Aber was sie bezwecken, ist die ganz überflüssige Mehrung
-des schon mit Notwendigkeit vorhandenen Leidens. Gotamo hingegen,
-der nach höchst bedeutsamem eigenen Geständnis Schmerzensaskese,
-Selbstquälerei und Kasteiung bis zur Selbstvernichtung geübt hat und
-hier aus grausamer Selbsterfahrung schöpft, &mdash; Gotamo setzt dem Leiden
-eine Tat entgegen, eine unbedingte, nicht und nichts mehr bedingende
-Tat,<span class="pagenum"><a name="Seite_209" id="Seite_209">[S. 209]</a></span> welche die Freiheit vom Leiden erwirkt, weil sie Freiheit von der
-Welt, Freiheit vom ‚Gesetz‘ erwirkt. Was alle religiöse Erleber wußten,
-vom Heiland des Christentums, ja sogar vom Stifter des Christentums an
-bis zu Lew Nikolajewitsch Tolstoi, der dieses gotamidische Mysterium
-‚der rechten Erkenntnis in der Sterbezeit‘ klassisch dargestellt hat
-in der Heiligen Schrift vom Tod des Iwan Iljitsch, das ist für den
-Buddho der Dreh- und Angelpunkt nicht allein der Lehre, sondern des
-Erlebnisses geworden. Für ihn nämlich, &mdash; wenn ich mich hier mit
-Nutzen europäisch und insbesondere schopenhauerisch ausdrücken darf,
-&mdash; gibt es einerseit Taten, welche ‚dem Satz vom Grunde‘ unterworfen
-sind und eben darum in den Gesamtkreislauf der Werdewelt wieder
-einmünden, dem sie entsprungen sind. Und für ihn gibt es anderseit
-Eine Tat, welche ‚dem Satz vom Grunde‘ nicht mehr unterworfen ist
-und eben deshalb aus dem Kreislauf dieser Werdewelt hinausführt.
-Jene Taten sind notwendig gewirkt, will heißen: sie sind nach
-Bestimmunggründen, Antrieben, Triebfedern gewirkt, die der Wirklichkeit
-selbst entstammen, und so ist es billig, daß sie in der Folge sich dem
-Bereich der Notwendigkeiten wieder einfügen, aus der Notwendigkeit in
-die Notwendigkeit führend. Diese Eine Tat hingegen ist frei gewirkt,
-will heißen, nach keinerlei Bestimmunggründen, Antrieben, Triebfedern,
-die der Wirklichkeit oder dem ihr entsprechenden Vorstellungablauf
-selbst entstammen, und so darf denn diese Tat der Taten, nach keiner
-Regel irgendwelcher Not<span class="pagenum"><a name="Seite_210" id="Seite_210">[S. 210]</a></span>wendigkeit getätigt, aus der Notwendigkeit in
-die Freiheit führen. Es ist dies aber die Tat einer unvergleichlichen
-Selbstverinnerlichung, Selbsteinigung, Selbstverinnigung, wo Selbst
-und Seele weltausschließend, weltausschließlich nur sie selber sind,
-&mdash; Selbst und Seele hier in der ewig fragwürdigen Sinnbildlichkeit
-ihres Begriffs genommen. Eine Tat ist möglich, wo Selbst und Seele
-mit der Tat als solcher gleichsam unmittelbar zusammenfallen; eine
-Tat ist möglich, wo der Tat selbst nicht mehr irgend eine ‚Sache‘ als
-Inhalt, Bestimmung, Beweggrund, Antrieb gegenständlich gegenübersteht
-und wo die Tat sich nicht zu irgend einer Sache mehr versachlicht, zu
-irgend einer Sache mehr enttätigt. Derart wird das Leiden der Welt und
-an der Welt zuletzt getilgt, verlöscht, verwunden werden, wofern die
-Welt selbst als die Unendlichkeit aller gegebenen und aufgegebenen
-Sachen durch die entsachte, durch die entursachte Tat getilgt,
-verlöscht, verwunden wird. Dies ist die ‚reine‘ Tat der ‚Freiung‘ und
-der ‚Ledigung‘, dem Satz vom Grunde nicht mehr unterworfen: folglich
-dem Grunde selbst nicht länger unterworfen und folglich der Folge und
-den Folgen nicht länger unterworfen, die sonst alle Taten als ihre
-‚Tat-Sachen‘ notwendig und unabänderlich nach sich ziehen müssen...</p>
-
-<p>Was also hier der Buddho (einigermaßen uneuropäisch dunkel) von sich
-selber fordert und nicht nur von sich, sondern von jedem, der das
-Leiden an seinem Stumpfe auszurotten willens ist, das läßt sich doch
-wohl nicht ganz unpassend mit dem ver<span class="pagenum"><a name="Seite_211" id="Seite_211">[S. 211]</a></span>gleichen, was der Genius Kant in
-unseren westlichen Bezirken die ‚intelligible Freiheit‘ nannte, wie sie
-das ‚Ich an sich‘ außerhalb der Welterscheinung als <i>causa noumenon</i>
-wesentlich betätigt. Der Genius Kant, an dieser Stelle sorgfältiger als
-irgendwo sonst die Erbschaft alter deutscher Mystik betreuend, hat ja
-zu seinem Teil auf diese Tat der Taten keineswegs verzichten können,
-die weder bedingt oder bestimmt durch Anreize aus der Sinnenwelt wird
-wie etwa der instinktive Wille des natürlichen Menschen, noch bedingt
-oder bestimmt wird durch die Vorstellung einer gesetzgebenden ‚Form‘
-aus reiner Vernunft wie etwa des ‚guten‘ Menschen moralischer Wille:
-sondern die ganz einfach frei, weder bestimmt noch bedingt getätigt
-wird im Sinne des scholastischen <i>liberum arbitrium indifferentiae</i>...
-Diese zwar vielerörterte, kaum aber vielverstandene, vielleicht
-zutiefst gar nicht zu verstehende intelligible Freiheit Kants, sage
-ich, wäre vielleicht mit der Freiheit Gotamos nicht unpassend zu
-vergleichen. Ja, sie wäre am Ende völlig einerlei mit dieser, wenn
-nicht doch der Genius Kant, (hierin viel eher wiederum der Erbe der
-großen europäischen Scholastik statt der Mystik!) &mdash; wenn er nicht eben
-diese transzendentale und transzendierende Freiheit leider als einen
-moralischen Vorgang aufgefaßt und der Moral dienstbar gemacht hätte:
-will heißen als einen Vorgang, der sich auf die Wahl des empirischen
-Ich durch das intelligible Ich bezieht und dadurch genau auf das, was
-Gotamo das Karman und seine Ordnung<span class="pagenum"><a name="Seite_212" id="Seite_212">[S. 212]</a></span> nennt. Auf diese Weise biegt
-die intelligible Freiheit Kants doch wieder bedingend, verursachend,
-bestimmend, begründend in die Wirklichkeit der Dinge ein, statt
-endgültig von ihr abzubiegen, und diesen Umstand hat Kant selber in
-voller Naivität gekennzeichnet durch den scheinbar ungereimten, in
-Wahrheit jedoch durchaus zutreffenden Begriff der ‚Kausalität durch
-Freiheit‘... Ganz unbesehen gerinnt mithin die Freiheit dem westlichen
-Denker sogar in ihrer transzendierendsten Bedeutung als <i>liberum
-arbitrium indifferentiae</i> doch wieder nur zu einer Ur-Sache, statt zu
-einer Ur-Tat, &mdash; zu einer Ur-Sache, die andere Sachen verursachend
-nach sich zieht: die Folgen, Wirkungen, Wirklichkeiten nach sich
-zieht. Die intelligible Freiheit Kants, zu einem moralischen Mysterium
-gestempelt statt zu einem religiösen, wird zu einer bloßen Ursache,
-die sich von allen übrigen Ursachen in der Welt nur eigentlich dadurch
-unterscheidet, daß sie die unendliche Reihe der Wirkungen nicht sowohl
-fortsetzt, als von vorn beginnt. Kants intelligible Freiheit ist ein
-grundloser Einsatz, ein unbedingter Anfang, mit welchem eine begründete
-und bedingte Reihe in der Zeit und Wirklichkeit beginnt. Oder mit einem
-Wort gesagt, &mdash; diese intelligible Freiheit des westlichen Denkers ist
-Freiheit des Willens, etwa dem Ausspruch des Bernhard von Clairvaux
-gemäß: <i>ubi voluntas, ibi libertas</i>; oder besser und richtiger der
-Umkehrung dieses Grundsatzes gemäß: <i>ubi libertas, ibi voluntas</i>! Wo
-Freiheit, da ist hier Wille; wo aber Wille, da wird etwas gewollt: das
-Gute oder das<span class="pagenum"><a name="Seite_213" id="Seite_213">[S. 213]</a></span> Böse, das Richtige oder das Verkehrte, das Zweckvolle
-oder das Zwecklose, &mdash; das Vernünftige oder das Törichte, das
-Sinnentsprechende oder das Unsinnige, &mdash; unter allen Umständen aber ein
-zu Verwirklichendes, das in die Reihe der Wirklichkeiten gleichsam neu
-eingerückt werden soll, wie etwa die Anzeige einer neuen Erfindung in
-die Spalten einer Zeitung neu eingerückt wird...</p>
-
-<p>Hierzu im äußersten Widerspruch ist die intelligible Freiheit des
-Buddho nicht sowohl eine Freiheit des Willens, als vielmehr eine
-Freiheit vom Willen und jedenfalls eine Freiheit vom Wollen. Nicht
-mehr wollen, nicht mehr wünschen, nicht mehr heischen, nicht mehr
-gieren, nicht mehr schmachten, nicht mehr trachten, nicht mehr
-streben, nicht mehr verkörpern, nicht mehr verwirklichen, nicht mehr
-erscheinen, nicht mehr entstehen, nicht mehr vergehen, nicht mehr
-tun, nicht mehr leiden, &mdash; das eben heißt gotamidisch ‚frei‘ sein.
-Kants unmittelbares Erlebnis der reinen Tat gilt einem Vor-Anfang und
-Ur-Anfang, womit eine unendliche Schöpfung in der Zeit sich einleitet.
-Die reine Tat setzt hier das (empirische) Ich und mit diesem alle
-Abhängigkeiten, Notwendigkeiten, Folgen dieser Setzung, &mdash; und trotz
-aller verspäteten Einsprüche und Verwahrungen Kants war es doch nur
-im strengsten Geiste Kants weiter und weiter gedacht, wenn Fichte
-die reine Tat außer dem Ich das Nichtich und im Ich das Nichtich
-setzen ließ: mit dem Ich und Nichtich aber die ganze Welt abstufend,
-aufstufend zu der unendlichen Schöpfung<span class="pagenum"><a name="Seite_214" id="Seite_214">[S. 214]</a></span> in der Zeit. Das Ich gesetzt
-durch Freiheit, das Nichtich gesetzt durch Freiheit, das Nichtich im
-Ich gesetzt durch Freiheit und somit die ganze Welt gesetzt durch
-Freiheit, &mdash; das ist von allen europäischen Konzeptionen vielleicht die
-europäischste gewesen, weil unentwegt forsch in die Unendlichkeit fort-
-und fortschreitend einen ‚unendlichen‘ Fortschritt ermöglichend und
-verwirklichend... Gotamos reine Tat indes ist nichts weniger als ein
-Vor-Anfang, Ur-Anfang unendlich fortschreitender Reihung oder Stufung.
-Vielmehr genau dort, wo Gotamo am engsten sich mit dem europäischen
-Gedanken, Ungedanken des <i>liberum arbitrium indifferentiae</i> berührt,
-dort wird er auch (wie das stets so ist) am heftigsten von diesem
-abgestoßen. Des Buddho Tat ist Ende und Voll-Ende, ist Voll-Endung
-des Voll-Endenden: eben darum zwar, weil sie durch alle unendliche
-Satzung, Reihung, Stufung quer hindurchbricht und den Leitfaden des
-Karman, wenn nicht geradezu zerreißt, so sicherlich auch nicht mehr
-weiterspinnt, vielmehr ein für allemal verstätigt. Verneinenderweis
-ausgedrückt, gelangt diese Tat des gotamidisch Vollendenden also durch
-einen Austritt und Heraustritt zum Vollzug: durch einen Austritt und
-Heraustritt zwar, der den Täter zufall- und schicksallos macht (in
-der Sprache der Tragödie gesprochen); der den Täter willens- und
-tatfrei macht (in der Sprache der Moral gesprochen); der den Täter
-unbedingt und abgelöst, das heißt, ‚absolut‘ macht (in der Sprache der
-Metaphysik gesprochen); der den Täter unabhängig von<span class="pagenum"><a name="Seite_215" id="Seite_215">[S. 215]</a></span> den Gegenständen
-der Erfahrung und von der Erfahrung selber macht (in der Sprache der
-Transzendentalphilosophie gesprochen); der den Täter weltledig, arm
-und abgeschieden macht (in der Sprache der Mystik gesprochen); der
-den Täter wunschversiegt, wahnversiegt, daseinversiegt macht, zuletzt
-und endgültig in der Sprache des Buddho gesprochen... Bejahenderweis
-ausgedrückt ist aber diese selbe Tat der gotamidischen Vollendung doch
-zugleich ein Eintritt und Hereintritt, ein Eintritt und Hereintritt
-nämlich in das übersinnliche, überdingliche, überweltliche Bereich des
-An-und-für-sich-Seins der Welt: mithin in ein Bereich, für welches
-die Zunge weder des Tragöden, noch des Moralisten, Metaphysikers,
-Transzendentalphilosophen oder Mystikers, ja nicht einmal des Buddho
-selber Sprachzeichen und Lautgebärden hat, um es hinlänglich zu
-bezeichnen...</p>
-
-<p>Gotamo aber, nachdem er an der schlechten Unendlichkeit eines nimmer
-stockenden Entstehens und Vergehens unaussprechlich heftig und tief
-gelitten hatte, &mdash; Gotamo, nachdem er (vorübergehend im Irrtum der
-Freien Brüder befangen) in beispielloser Selbstquälerei, Selbstfolter,
-Selbstabtötung das Leiden nur zwecklos gemehrt hatte, um mittels des
-gemehrten Leidens das mindere zu übertäuben, &mdash; Gotamo, nachdem er
-das arme Fleisch des Leibes in erfinderischen Büßungen gleichsam mürb
-gebeizt hatte, bis es ihm von den Knochen gefallen war, auf daß er
-endlich dem armen Fleisch nicht länger unterworfen bliebe und sich
-fortab des ‚reinen‘ Geistes freuen dürfe:<span class="pagenum"><a name="Seite_216" id="Seite_216">[S. 216]</a></span> dieser Gotamo der Erlebende
-des Leidens erlebt eines Tages an ihm selber, wie er, o Wunder, des
-Leidens wirklich genesen ist, wahrhaft bei Lebzeit schon genesen!
-Nicht durch Mißhandlung oder Peinigung oder Entehrung des Körpers:
-vielmehr ganz einfach durch eine innerliche Wendung oder Drehung
-von dieser Weltlichkeit weg nach einer anderen Weltlichkeit, nach
-einer Gegen-Weltlichkeit hin, &mdash; denn dieser Buddho, ihr Christen,
-wußte es ja schon zu seiner Zeit, daß es viele selbstgeschaffene
-Wirklichkeiten gäbe und also zu einer jeglichen von ihnen auch die
-Gegen-Wirklichkeit... Er, der Erlebende des Leidens, erlebt in einer
-ungeheueren Stunde plötzlich kein Leiden mehr, und sogar heute noch
-ahnen wir fern, fern das unermeßliche Gefühl von Frieden und von
-Stillung, wie es schwer und hell wie flüssiges Gold in seine Seele
-träufelt: „Da kam mir, Aggivessano, der Gedanke: ‚Wie, sollt’ ich etwa
-jenes Glück fürchten, jenes Glück jenseit der Wünsche, jenseit des
-Schlechten?‘“... Und nicht länger fürchtet sich jetzt der Buddho dieses
-Glückes, sondern erfüllt sich mit ihm, daß es aus allen seinen Poren
-strahlt und leuchtet: denn als ein Glück, eine Selbststeigerung ganz
-außerhalb jeder Vergleichbarkeit empfindet der Buddho diesen neuen und
-ungewohnten Urstand des Nicht-mehr-Leidens, des Ausgelittenhabens an
-der Werdewelt und ihrem ewigen Gesetz. Als eine Besäligung, ja als eine
-Säligkeit ganz außerhalb jeder Vergleichbarkeit empfindet der Buddho
-diesen neuen, ungewohnten Urstand, wo er sich endlich, endlich<span class="pagenum"><a name="Seite_217" id="Seite_217">[S. 217]</a></span> nicht
-länger eingeschmiedet findet in den Ring der Wiederkünfte und nicht
-länger aufgeflochten auf das Rad der Werke-Wesen: „...die aber da als
-Mönche heilig geworden sind, Wahnversieger, Endiger, die das Werk
-gewirkt, die Last abgelegt, das Heil sich errungen, die Daseinsfesseln
-vernichtet, sich durch vollkommene Erkenntnis erlöst haben, denen
-taugen diese Dinge um säliger Gegenwart zu genießen, bei klarem
-Bewußtsein“...</p>
-
-<p>Wunschversiegung, Wunschvernichtung, Wunschverwindung heißt aber in
-den Heiligen Schriften des Kanons jener Urstand der Leidensauflösung
-und Weltledigung, in welchem der Buddho zuletzt sich selbst vollendet.
-Wunschversiegung, Wunschvernichtung, Wunschverwindung heißt die ‚reine‘
-Tat der Freiheit selber: das ist im Pâli entweder <i>nibbânam</i>, oder im
-Sanskrit <i>nirvânam</i>, aus der Wurzel <i>van</i> = Wunsch. <i>Nibbânam</i> oder
-auch <i>nirvânam</i> oder auch <i>brahmanirvânam</i> oder auch <i>paramanirvânam</i>
-heißt in den beiden Mundarten der Überlieferung der Urstand der
-erlangten Heiligkeit, der bald das Schicksal aller erlesenen
-Dinge hatte, sowohl im Osten wie im Westen gleichermaßen gröblich
-mißverstanden zu werden. Denn nichtverstanden hat dieses Nibbânam
-zum Beispiel ein repräsentativer Chinese wie der sehr kluge und fein
-gebildete Ku Hung-Ming, wenn er sich etwa folgendermaßen ausläßt: „Auch
-die Methode des Buddhismus, die Welt zu erneuern, nimmt zum Boykott
-ihre Zuflucht. Wenn die Welt schlecht ist, so rasiert der Buddhist
-seinen Kopf, geht ins Kloster<span class="pagenum"><a name="Seite_218" id="Seite_218">[S. 218]</a></span> und boykottiert die Welt“... Nicht
-weniger mißverstanden hat ferner dies Nibbânam ein repräsentativer
-(gerade in seiner menschlichen Zweideutigkeit repräsentativer) Europäer
-wie der französische Poet Claudel, wenn dieser zwar etwas weniger
-platt, aber dafür um so orakelhafter zu sprechen wagt „vom Schweigen
-des Geschöpfes, das sich hinter eine völlige Verweigerung verschanzt
-hat“, oder gar von „der unreinen Ruhe der auf ihrem wesentlichen
-Anderssein beharrenden Seele“, oder wenn er sich vollends zu dem Satz
-versteigt, der sich angesichts der obigen Worte Gotamos freilich
-besonders unverständig ausnimmt: „Für mich hat das Nichts nur einen
-Sinn, wenn sich ihm die Säligkeit zugesellt“... Seltsamstes Spiel
-fürwahr, daß der Osten und der Westen des Planeten gleichermaßen den
-Urstand der Wunschverwindung nur als das große Nichts und Abernichts
-zu würdigen oder vielmehr nicht zu würdigen vermag! Seltsamstes Spiel,
-und doch nicht Laune bloß des Zufalls oder der Abgeschmacktheit, daß
-der Mensch sich vor dem Nichts zu fürchten beginnt, wo er nichts
-mehr zu fürchten, nichts mehr zu dulden, nichts mehr zu verlieren,
-aber freilich auch nichts mehr zu hoffen, nichts mehr zu wünschen,
-nichts mehr zu gewinnen hat! Wie tief, wie abschreckend irreligiös
-mußte der Mensch geworden sein, bis er jeden lebendigen Zusammenhang
-mit dem Walten einer reiferen Frömmigkeit so weit verloren hatte,
-daß er den Zustand ewiger Bedürftigkeit als den ihm zusagendsten
-und angemessensten bejaht,<span class="pagenum"><a name="Seite_219" id="Seite_219">[S. 219]</a></span> den Zustand der Gestilltheit aber als
-den schlechterdings unangemessenen und nichtseinsollenden verneint,
-will meinen: ihn als ‚Nichts‘ verleumdet! Denn brauch’ ich es nach
-allem Vorigen besonders noch zu beteuern, daß dies Nibbânam Gotamos
-sowenig etwas mit dem Boykott des chinesischen Reformers zu schaffen
-hat wie mit der völligen Verweigerung, mit der unreinen Ruhe oder gar
-mit dem ‚Nichts ohne Säligkeit‘ des französischen Mystizisten und
-Mystifikanten? Brauch’ ich zu sagen, daß vollends alle die eifrigen
-Gelehrten, fleißigen Professoren und scharfsinnigen Philosophen schier
-lächerlich, wenn nicht schon boshaft abwegig sind mit ihrer Mutmaßung,
-der Buddho habe das Nibbânam gleichsam als ‚Nichts-an-sich‘ ontologisch
-verdinglicht, vergegenständlicht oder verwesentlicht, um dies dinghafte
-Un-Ding der Welt gleichsam listig als ihren ‚Gott‘ zu unterstellen
-und derart den Brahman-Âtman des Brahmanismus als hoffnungloser
-Nihilist des Fühlens, Nihilist des Wollens, Nihilist des Denkens zu
-Ende zu denken: zu Tod zu denken? Brauch’ ich zu wiederholen, daß dies
-Nibbânam nichts weiter ist wie eine keusche Anspielung auf einen in
-unablässigen Seelenkämpfen errungenen Dauerstand des Selbstes, genau
-wie die Abgeschiedenheit, die nächste Armut, die weiselose Weise
-unserer westlichen Mystik eine solche keusche Anspielung gewesen
-ist? Brauch’ ich zu beweisen, daß dies Nibbânam das letzte Endziel
-zwar nicht aller Religionen, aber aller Religion ist, das Endziel
-aller auf Selbstvergöttlichung<span class="pagenum"><a name="Seite_220" id="Seite_220">[S. 220]</a></span> bedachten Selbstläuterungen, um
-wie Gott schließlich ganz weltunbedingt, ganz weltunabhängig, ganz
-weltunbedürftig zu sein? Brauch’ ich herauszuheben, daß dies Nibbânam
-als edelstes Ergebnis zwar alles Weltverzichts und aller Weltentsagung
-zugleich doch herrischste Forderung, unbeugsamster Anspruch ist auf
-Selbsterfüllung und Selbststillung? Brauch’ ich zu verraten, daß
-dies Nibbânam den Menschen mit einer beispiellosen Treue treu gegen
-sich selbst zu werden lehrt, damit er, treu gegen sich selbst, treu
-auch gegen das unendliche All, eben dieses unendliche All mit seiner
-unendlichen Dichtigkeit und Mächtigkeit in sich auszutragen vermöchte
-und also austragend, also ausgetragen in sich endige und vollende?
-Brauch’ ich zu begründen, daß es sich hier zuletzt um etwas ganz
-Einfaches und Selbstverständliches handelt, um das Ankern nämlich
-auf dem eigenen Grund, um das Ankern in der eigenen Tiefe, bis wohin
-kein Sturm mehr aus dem Luftraum blasen kann?... „Der ich also rede,
-also lehre, ihr Mönche, mich bezichtigen einige Asketen und Brâhmanen
-grundloser, nichtiger Weise, fälschlich, mit Unrecht: ‚Ein Verneiner
-ist der Asket Gotamo, des lebendigen Wesens Zerstörung, Vernichtung,
-Aufhebung verkündigt er.‘ Was ich nicht bin, ihr Mönche, nicht rede,
-dessen bezichtigen mich jene lieben Asketen und Brâhmanen, grundloser,
-nichtiger Weise, fälschlich, mit Unrecht: ‚Ein Verneiner ist der Asket
-Gotamo, des lebendigen Wesens Zerstörung, Vernichtung, Aufhebung
-verkündigt er.‘ Nur eines, ihr<span class="pagenum"><a name="Seite_221" id="Seite_221">[S. 221]</a></span> Mönche, verkündige ich, heute wie
-früher: das Leiden und des Leidens Ausrodung“...</p>
-
-<p>Brauch’ ich euch zu überreden endlich, ihr Christen, daß dies Nibbânam,
-taktlos mißhört, mißdeutet und mißechot im Osten der Erde wie im Westen
-und offenbar dazu in einem Spülicht hemmungloser Vielgeschwätzigkeit
-schwammig bis zum Unsinn, bis zum Irrsinn aufgeweicht und aufgedunsen,
-&mdash; brauch’ ich euch zu überreden, daß dies Nibbânam künftighin zu
-ehren ist mit jenem siebenfältigen Schweigen der Ehrfurcht, welches
-das Siebente Wort am Kreuz der Welt, Siebente Wort am Rad der
-Welt gleichermaßen ehrt wie fürchtet: Τετέλεσται, es ist
-vollbracht! <i>Katam karanîyam</i>, gewirkt ist das Werk!...</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_223" id="Seite_223">[S. 223]</a></span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="DIE_DRITTE_UNTERWEISUNG">DIE DRITTE UNTERWEISUNG:<br />
-BUDDHO DER WISSENDE</h2>
-
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_225" id="Seite_225">[S. 225]</a></span></p>
-
-<p class="initial">DAS HEILIGE NEIN LASST UNS BEKENNEN DENN NEIN UND JA SIND WIE
-DIE SCHENKEL DER NÄMLICHEN PARABEL, UND WO SICH DIESE SCHEITELT,
-DURCHDRINGEN BEIDE SICH IN EINEM PUNKT &mdash; DENN NEIN UND JA SIND
-WIE DER ABSTEIGENDE UND ANSTEIGENDE KNOTEN DER WELT, UND WO SICH
-BEIDE SCHÜRZEN, SCHWEBT GIPFELND DAS GESTIRN DER WELT DURCH SEINEN
-MITTAGSKREIS &mdash; DENN NEIN UND JA SIND WIE DAS AUSSENBLATT UND
-INNENBLATT DESSELBEN KEIMLINGS, IM SCHOSSE DER GEBÄRERIN STRENG
-GEFALTET &mdash; GEFALTET ZUM AUSSEN-INNENBLATT REIFT ERST DER KEIMLING DER
-GEBURT ENTGEGEN: GEFALTET ZUM NEIN-JA REIFT ERST DIE SEELE IHRER WELT
-ENTGEGEN &mdash; DAS NEIN ZERSPELLT DAS GOLDENE EI DER WELT, DAS MÜTTERLICH
-VOM PHÖNIX GEIST BEBRÜTETE &mdash; JEDOCH DES JUNGEN ADLERS SCHNABELSCHÄRFE
-IST ES, DIE SICH MIT FRÜHFLÜGGER WEISHEIT LICHTBEGIERDE DAS DUNKLE
-EI ZERSPELLT &mdash; O WELT, VON DEINER SONNE EMPFING ICH TRÄUMEND EINEN
-HIMMELSTRAHL IN MEINEM AUG, ALS ES NOCH SCHLIEF, ZUM PFAND, DASS ICH
-DEREINST MICH AN DIR SONNEN WÜRDE, WANN ICH DURCH DEINE BITTERSCHALE
-BRACH &mdash; O AUGE ICH DER WELT, O HIMMELSAUGE ICH, ZU DIR, O<span class="pagenum"><a name="Seite_226" id="Seite_226">[S. 226]</a></span> WELT,
-ERWACHEND &mdash; O ICH ERWACHTER DANN, VOLLKOMMEN ERWACHTER ICH ZU DIR, O
-WELT &mdash;</p>
-
-<p class="center">DIES IST DIE DRITTE UNTERWEISUNG</p>
-
-<div class="section">
-
-<p class="initial">Es ward gesagt, ihr Christen, daß der Buddho die Geburt haftbar
-machte für die drei Kernübel dieser Welt, für Alter, Krankheit, Tod.
-Dreimal hat der Buddho in der Legende von Vipassîs Ausfahrt der Geburt
-geflucht: „O Schande sag’ ich über die Geburt, da am Geborenen das
-Alter zum Vorschein kommt, die Krankheit zum Vorschein kommt, der Tod
-zum Vorschein kommt...“ An die Geburt also knüpft sich das Leiden,
-an die Geburt knüpft sich Alter, Krankheit, Tod. Denn ohne Geburt,
-heißt es in den Reden schon fast mit einer wörtlichen Wendung Platons,
-ohne Geburt würde kein Mensch zur Menschheit, kein Vierfüßer zur
-Vierfüßerheit, kein Vogel zur Vogelheit geboren: ohne Geburt kein Wesen
-zu Krankheit, Alter, Tod. So findet Gotamo in der Geburt die Ursache
-aller drei grundsätzlichen Übel dieser Welt und in der Geburt die
-Ursache alles Leidens an der Welt. Die Geburt aber, dies bemerkten wir
-schon mit hinlänglicher Zuverlässigkeit, ist zwar Ursache, keineswegs
-jedoch etwas Letztes oder Unbedingtes, &mdash; keineswegs Ur-Sache aller
-Sachen oder Ur-Grund aller Gründe. Vielmehr ist ja die Geburt jeglichen
-Wesens an und für sich schon Wieder-Geburt, verursacht und bedingt
-durch frühere<span class="pagenum"><a name="Seite_227" id="Seite_227">[S. 227]</a></span> Tat, wie umgekehrt frühere Tat ihrerseit die Frucht
-früherer Geburt gewesen ist. Und dies in unendlicher Schürzung und
-Neuschürzung in unendlichem Kreislauf, bis irgendwann einmal die reine
-Tat getätigt und irgendwann einmal der Kreis durchbrochen ward. Ins
-Werden eingeflochten ist mithin die Tatsache der Geburt, ins Werden
-eingeflochten bleibt sie. Und so versteht sich’s eigentlich von selbst,
-daß auf die Frage: was Geburt bedinge, der Buddho keine andere Antwort
-in Bereitschaft haben kann als eben: das Werden! Das Werden bedingt die
-Geburt; denn wenn es kein Werden gäbe, kein geschlechtliches Werden,
-kein formhaftes Werden, kein formloses Werden, dann gäbe es keine
-Geburt. Was aber bedingt das Werden, gesetzt den Fall, auch dieses
-Werden sei nichts Letztes, sei nichts Unbedingtes? Das Anhangen bedingt
-das Werden, antwortet der Buddho selber sich auf diese neue Frage. Denn
-wenn es keinen Hang gäbe, keinen Hang nämlich zur Lust, keinen Hang zur
-Selbstbehauptung (und dies heißt gotamidisch gedacht keinen Hang zum
-‚Ich-Sagen‘!) &mdash; wenn es keinen Hang gäbe ferner zur Ansicht, keinen
-Hang zu Tugendwerk, dann gäbe es auch kein Werden. Was aber bedingt das
-Anhangen, gesetzt den Fall, auch dieses Anhangen sei nichts Letztes,
-sei nichts Unbedingtes? Der Durst bedingt das Anhangen, der ungelöschte
-und unversiegte, antwortet der Buddho selber sich auf diese neue Frage.
-Denn wenn es keinen Durst gäbe, Durst nach Gestalten, Durst nach Tönen,
-Durst nach Düften, Durst nach Säften, Durst nach<span class="pagenum"><a name="Seite_228" id="Seite_228">[S. 228]</a></span> Tastungen, Durst
-nach Gedanken, dann gäbe es auch kein Anhangen. Was aber bedingt den
-Durst, gesetzt den Fall, auch dieser Durst sei nichts Letztes, sei
-nichts Unbedingtes? Das Gefühl bedingt den Durst, antwortet der Buddho
-selber sich auf diese neue Frage. Denn wenn es kein Sehgefühl, kein
-Hörgefühl, kein Tastgefühl, kein Riechgefühl, kein Schmeckgefühl,
-kein Denkgefühl gäbe, dann gäbe es auch keinen Durst. Was aber
-bedingt das Gefühl, gesetzt den Fall, auch dieses Gefühl sei nichts
-Letztes, sei nichts Unbedingtes? Die Berührung bedingt das Gefühl,
-antwortet der Buddho selber sich auf diese neue Frage. Denn wenn es
-keine Sehberührung, Hörberührung, Tastberührung, Riechberührung,
-Schmeckberührung, Denkberührung gäbe, gäbe es auch kein Gefühl. Was
-aber bedingt die Berührung, gesetzt den Fall, auch diese Berührung
-sei nichts Letztes, sei nichts Unbedingtes? Die erkenntnismäßige
-Doppeltheit Bild-und-Begriff, Begriff-und-Bild bedingt die Berührung,
-antwortet der Buddho selber sich auf diese neue Frage. Denn wenn es
-keine Wahrnehmungen und keine Vorstellungen, keine sinnlichen Eindrücke
-und keine begrifflichen Kennzeichen, Wahrzeichen, Bedeutungzeichen
-für solche Eindrücke gäbe, also platonisch gesprochen keine
-εἰκόνες und keine εἴδη, dann gäbe es keine Berührung. Was
-aber bedingt diese erkenntnismäßige Doppeltheit von Bild-und-Begriff
-und von Begriff-und-Bild, gesetzt den Fall, auch diese Doppeltheit
-sei nichts Letztes, sei nichts Unbedingtes? Das Bewußtsein bedingt
-Bild-und-Begriff, Begriff-und-<span class="pagenum"><a name="Seite_229" id="Seite_229">[S. 229]</a></span>Bild, antwortet der Buddho selber sich
-auf diese neue und nun doch schon beinahe ‚letzte‘ Frage, wofern er
-jetzt offenbar die Reihe der Verursachungen und Bedingungen der Geburt
-bis zur Ur-Sache und bis zum Un-Bedingten rückwärts verfolgt hat. Denn
-gäbe es kein Bewußtsein, gäbe es keine Setzung von Nichtich-Welten für
-das Ich, von Erlebnis-Mannigfaltigkeiten für die erlebende Einheit,
-von Objektivationen für das Subjekt, dann gäbe es eben auch keine
-Bilder und Bildesbilder, dann gäbe es auch keine Gegenständlichkeiten
-und Gedankenzeichen für Gegenständlichkeiten, dann gäbe es auch keine
-Wahrnehmungen und keine Vorstellungen, welche Wahrnehmungen vorstellen
-sollen und wirklich auch vor-stellen. Wer aber jetzt noch weiter
-forschen und weiter erklären wollte, der stieße bei der nächsten
-Frage: Was bedingt Bewußtsein? schon unfehlbar wieder auf die bereits
-erteilte Antwort: Bild-und-Begriff, Begriff-und-Bild bedingen das
-Bewußtsein, wofern sie in zweifacher Erscheinung als Nichtich-Welt
-bezogen auf ein Ich auftauchen, als Gegenstands-Vielheit bezogen auf
-eine Zustands-Einheit auftauchen. Denn dieses gerade nennen wir ja das
-Bewußtsein, daß für das unbegreiflich-unbegriffliche Selbst Begriffe
-und Bilder aus irgendwelchen Latenzen her <i>in actu</i> auftreten und einem
-solchen Selbst erscheinen, wahrnehmbar werden, vorstellbar werden.
-In dieser Rücksicht heißt Bewußtsein offenbar Sich-Bewußt-Sein; sich
-einem Sein auf irgendeine Weise entgegengesetzt und widerstemmt finden;
-sich etwelcher Wahrnehmbarkeiten irgendwie<span class="pagenum"><a name="Seite_230" id="Seite_230">[S. 230]</a></span> inne werden, innerlich
-und erinnerlich werden. Bewußtsein und Bild-Begriff erweisen sich
-dem Buddho kurz gesagt als wechselbezüglich und wechselbezogen, als
-wechselbedingend und wechselbedingt: eine sowohl in philosophischem wie
-religiösem Betracht bedeutsame Lehre, die (wie man weiß) auch unserem
-westlichen Klima keineswegs fremd geblieben ist. Vor dem Bewußtsein
-als der Stätte entstehender Geburten steht schließlich der Frager
-still und still steht davor auch des Fragers unablässig bohrender
-und schraubender Verstand. Im Bewußtsein ist das Weh der Welt, das
-dreigestaltige, verwurzelt; im Bewußtsein sind Vergänglichkeit,
-Leidbehaftetheit, Wesenlosigkeit, <i>aniccam</i>, <i>dukkham</i>, <i>anattam</i>
-verwurzelt; im Bewußtsein ist die Werdewelt, Wandelwelt, Wehewelt
-verwurzelt. Gäbe es kein Bewußtsein, dann gäbe es ‚diese‘ Welt nicht;
-denn ‚diese‘ Welt gibt es nur dort, wo sie sich eben einstellt und
-vorstellt und nirgends sonst, ihr Christen...</p>
-
-</div>
-
-<p>Bei dieser Lehre von des Leidens Abkunft aus dem Bewußtsein etwas
-zu verweilen, wie sie vom Buddho entwickelt wird vornehmlich
-in der Fünfzehnten Rede aus der Längeren Sammlung Dîghanikâyo,
-entwickelt wird aber außerdem auch sonst nicht selten in den Reden
-der Längeren und Mittleren Sammlung, &mdash; bei dieser befremdlich
-anmutenden Lehre hier noch etwas zu verweilen, dürfte mancherlei
-Anlaß für uns bestehn, ihr Christen. Das Erlebnis des Leidens, von
-der Person Gotamos als Schicksal empfangen, als Schicksal verwunden
-und insofern sicher<span class="pagenum"><a name="Seite_231" id="Seite_231">[S. 231]</a></span>lich auch das Urerlebnis Gotamos, ist mithin
-doch nicht Urerlebnis im Hinblick auf seine Entstandenheit oder
-Unentstandenheit. Vielmehr gilt das Leiden als solches, und so auch
-das Erlebnis des Leidens, schlechterdings für entstanden, für bedingt,
-für verursacht, für geworden. Das Leiden an der Welt ist durchaus
-ableitbar aus dem Bewußtsein von der Welt, und in Ansehung dieses
-unumstößlichen Tatbestandes ist das Leiden auch in seiner Eigenschaft
-als gotamidisches Urerlebnis weder ein Erstes noch ein Letztes, noch
-gar ein Unbedingtes. Wohl aber, &mdash; und dies entscheidet über vieles!
-&mdash; ist das Bewußtsein ein Erstes und ein Letztes und ein Unbedingtes.
-Das Bewußtsein ist gleichsam der Erfüllungort, wo die einzelnen
-Posten der unendlichen Summe ‚Wirklichkeit‘ in ihrem Lust- und
-Unlustwert gegeneinander verrechnet, gegeneinander ‚geklärt‘ werden.
-Das Bewußtsein ist gleichsam das Schiedsgericht, wo das rechtsgültige
-Urteil endlich ergeht in Sache des noch nie ausgetragenen Widerstreits
-zwischen Seele und Welt, Selbst und Wirklichkeit. Das Bewußtsein ist
-gleichsam die Walstatt, wo über Sieg und Niederlage nunmehr entschieden
-wird in dem Kampf der Freiheit gegen das Gesetz, der Willkür gegen
-den Zwang. Das Bewußtsein ist gleichsam der Schauplatz, wo die Welt
-sich selbst erscheint als die Einheit ihrer Mannigfaltigkeiten, als
-die Ganzheit ihrer Teile, als der Leib ihrer Glieder. Im Bewußtsein
-geschieht es, daß die Welt das Licht der Welt erblickt...</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_232" id="Seite_232">[S. 232]</a></span></p>
-
-<p>Dieser bemerkenswerten Auffassung und Neufassung des Begriffes ‚Welt‘
-von seiten des Buddho entspricht ein Vorgang, der sich in unserer
-europäischen Vergangenheit nicht minder eindrucksvoll abgespielt
-hat als in der indischen: nicht nur einmal, sondern zweimal den
-menschheitlichen Zustand des jeweiligen <i>homo europaeus</i> gründlich
-ändernd! Ich beziehe mich dabei, wie sich von selbst versteht, auf
-jene philosophische ‚Umbettung‘ der Ding-Welt, Ding-an-sich-Welt
-in eine Vorstellung- und Bild-Begriff-Welt, die wohl in unserem
-westlichen Bezirk für das erste Mal zum Vollzug bei den Hellenen
-kam, etwa in jenem merkwürdigen Zeitalter zwischen Demokritos und
-Sokrates einerseit, Platon und Aristoteles andererseit (unter der
-bestimmenden Mitwirkung der Sophisten); &mdash; die aber später dann noch
-einmal zum Vollzug gelangte in dem weltgeschichtlich entsprechenden
-Zeitalter zwischen Descartes und Spinoza einerseit, Leibniz und Kant
-andererseit. Es ist dies jene Umbettung der Wirklichkeit, die ihre
-berühmte Fassung einstweilen in der Formel Schopenhauers gefunden
-hatte: die Welt ist Meine Vorstellung... übrigens eine Formel, welche
-ein neuerer Schriftsteller nicht ohne Geist und Einsicht in die
-richtigere umzuprägen vorschlug: Meine Welt ist Vorstellung!... Wie
-also schon gesagt: seit Demokritos von Abdera mit dürren Worten eine
-Welt des Seienden an und für sich unterschieden hatte von einer Welt
-des Daseienden für uns, eine Welt gesetzmäßig bewegter Unteilbarkeiten
-(ἄτομοι) draußen im leeren Raum und eine<span class="pagenum"><a name="Seite_233" id="Seite_233">[S. 233]</a></span> Welt auftauchender
-und versinkender Vorstellungen drinnen im Bewußtsein, &mdash; seit dieser
-gewaltige Denker den Schritt gewagt und den Schritt gemacht hatte von
-der ‚Physik‘ zur ‚Ethik‘ und den Begriff des Abbilds (εἴδωλον)
-und der Vorstellung (πρόληψις) in die griechische Philosophie
-einführte, seither lagerte sich das sogenannte Sein unaufhaltsam um
-in ein Bewußtsein. War es die eigentliche Leistung der Vorsokratiker
-bis auf Demokrit, den furchtbaren Urwirbel einer noch nirgends
-verwissenschaftlichten Weltwirklichkeit in eine gesetzdurchwaltete
-Ordnung von Himmelskörpern und Gestirnen zu verwandeln, so verwandelte
-Demokrit selbst (und der hierin durchaus ihm nacheifernde Platonismus)
-wiederum die geordnete Gestirn- und Himmelswelt der ionischen
-Kosmologen in eine geistverwandte, menschverwandte Vorstellung- und
-Bilderwelt. Denn zwar vom Urwirbel aus scheint der Mensch den gebahnten
-Himmel zu erobern, &mdash; erst vom gebahnten Himmel aber aus sich selber:
-und Chaos, Uranos und Makranthropos heißen wohl die wichtigsten
-Stationen, welche der menschliche Gedanke zweimal in Europa und einmal
-in Indien zeitlich zurückgelegt hat, ehe er wirklich in ihm selber
-Fuß fassen konnte. Daß Gotamos Lehre von der Entstehung des Leidens
-aus dem Bewußtsein dem indischen Festland denselben Dienst geleistet
-hat, welchen der ‚transzendentale Idealismus‘ und ‚Phänomenalismus‘
-in Altertum und Neuzeit dem europäischen Festland leistete, bedarf
-somit keiner besonderen Erläuterung, sondern ist ganz einfach so.
-Auch<span class="pagenum"><a name="Seite_234" id="Seite_234">[S. 234]</a></span> die gotamidische Lehre verlegt einen umspannenden Zusammenhang
-von Dingen an sich und ihren gesetzmäßigen Bewegungen aus der Lage
-des bloßen Seins in die Lage des Bewußtseins, um hier gewissermaßen
-eine Vermenschlichung, ja eine Vergeistigung zu vollziehen. Auch
-diese Lehre bettet eine ‚transzendente‘ Wirklichkeit außerhalb des
-Bereichs menschlicher Erkenntnismittel und Erkenntnismöglichkeiten
-in die sogenannte ‚Immanenz‘ der Vorstellungen, Bilder und Begriffe,
-wo sie dem Zugriff menschlicher Erkenntnismittel, menschlicher
-Erkenntnismöglichkeiten ausgesetzt erscheint. Auch diese Lehre
-bezeichnet innerhalb der Entwicklung des indischen Geistes genau die
-Stelle, wo eine Gestirn- und Himmelswelt des Kosmologen wesentlich
-durch eine Menschenwelt des Ethikers verdrängt wird: die ewige Stelle
-gleichsam auf der Kurve der Wissenschaftgeschichte, deren Scheitel
-einmal den Namen Platon, das andere Mal den Namen Kant bei uns im
-Westen trägt...</p>
-
-<p>Was aber hat, ihr Christen, diese mehrmals wiederkehrende Bewegung
-der Erkenntnis von einer unbewußt-blinden Weltwirklichkeit weg zu
-einer bewußten, sehenden Weltwirklichkeit hin im tiefsten zu bedeuten?
-Was hat die Wendung zu bedeuten, welche Bergson neuerdings nicht
-unzutreffend als die Wendung von der bloßen <i>science</i> zur <i>con-science</i>
-hin bezeichnete? Was hat es zu bedeuten, daß die drei reifsten und
-sinnigsten Deutungen der Welt mit offenbar gleicher Notwendigkeit
-die Richtung vom<span class="pagenum"><a name="Seite_235" id="Seite_235">[S. 235]</a></span> Draußen nach dem Drinnen einschlugen? Was hat es
-zu bedeuten, daß jede schärfere Einstellung auf die Gegebenheiten
-der Sinne dazu führt, diese Gegebenheiten als Gegebenheiten ‚im
-Bewußtsein‘ aufzufassen? Was hat es zu bedeuten, daß mit steigender
-Genauigkeit der Beobachtung und Forschung das Rätsel des Seins
-gleichsam auf der Pfanne der Kritik eingedampft wird zum Rätsel des
-Bewußtseins? Was hat es zu bedeuten, daß auf einer gewissen Stufe
-philosophischer Besinnung plötzlich alle die Fäden und Leitfäden, an
-welchen die Erscheinungen aufgereiht sind, in einem einzigen Knoten
-zusammenschießen, der wundersam genug Ich und Nichtich aneinander
-knüpft und ineinander heddert? Was hat es zu bedeuten, daß die
-unsichtbare Linie, welche alle wissenschaftgeschichtlich eingenommenen
-Punkte und Stand-Punkte untereinander verbindet, jeweils so streng
-eindeutig gezogen ist, daß sie von einem irgendwie ‚naiv‘ sich
-gebenden Realismus bis zu einem kritisch geläuterten, ja kritizistisch
-überspitzten Idealismus verläuft? Was hat es zu bedeuten, daß im alten
-Griechenland jene ionischen Kosmologen und Physiker nicht weniger
-wie die eleatischen Ontologen und Metaphysiker auf ihrem rüstigen
-Wege eines Tags eingeholt, eines Tags sogar überholt wurden von den
-attischen Idealisten und Kritizisten? daß in Europa später die Dogmatik
-und Scholastik des christlichen Mittelalters nicht anders wie der
-Positivismus und Empirismus der nichtchristlichen Neuzeit ereilt ward
-und stets ereilt werden wird von der Transzendentalphilosophie, von
-der<span class="pagenum"><a name="Seite_236" id="Seite_236">[S. 236]</a></span> Phänomenologie, vom Apriorismus? daß in Indien die ungeheuern und
-wahrlich auch ungeheuerlichen Mythen brahmanischer Weltentstehungen und
-auch Welterschaffungen aus Brahmâs des Himmelsjünglings und der Mâyâ
-gemeinschaftlichen Traum- und Liebesspielen sanft aber unwiderstehlich
-verdrängt wurden durch die so nüchterne Entstehungkunde aus dem
-Bewußtsein, die hier der Buddho gibt? Was hat die immer gleiche
-Wandlung zu bedeuten von einer flutenden und wogenden Nebelwirbelwelt
-zu der Gestirn- und Himmelswelt der großen Physik Asiens und Europas,
-&mdash; dann aber von deren glänzenden Umschwüngen und Sonnenbahnen
-weg zu einer trockenen Bilder- und Begriffswelt hin, wie sie der
-Gegenstand von mancherlei Ideenlehren, Transzendentalphilosophien
-und Phänomenologien geworden ist? Weshalb geschieht es, daß zu einer
-Zeit der Mensch mitten unter dem Uranos lebt, wie der jüngste, wie
-der schönste aller Sterne unter älteren Brüdersternen, &mdash; zu einer
-anderen Zeit jedoch nur als der Kleine Mensch mit dem Großen Menschen,
-das ist wie ein empirisches Bewußtsein mit einem transzendentalen
-‚Bewußtsein überhaupt‘? Was hat dieser über die Maßen befremdliche
-Standpunktwechsel zu bedeuten?</p>
-
-<p>Eine beginnende Bemächtigung der Welt hat er zu bedeuten, eine
-beginnende Bemeisterung, eine beginnende Überwindung der Welt,
-antworte ich darauf, &mdash; nichts Geringeres und nichts Größeres, ihr
-Christen, hat er zu bedeuten! Es ist der geheimste Sinn dieser<span class="pagenum"><a name="Seite_237" id="Seite_237">[S. 237]</a></span>
-entwicklunggeschichtlichen Umbettung des Seins in das Bewußtsein,
-daß man das Wirkliche dadurch gleichsam in die Hand bekommt, dieweil
-es vorher sich offenbar jeder Handhabung entzog. Der Schwerpunkt
-der Welt wird aus dem Sein in das Bewußtsein hinein verlegt, wofern
-er im Bewußtsein jederzeit nach Absicht und Bedarf seine Stelle
-wechseln kann: vergleichungweis wie ein gewandter Turner jederzeit den
-Schwerpunkt seines Leibes nach Absicht und Bedarf seine Stelle wechseln
-lassen kann. Die Welt als bloßes Sein unterliegt dem Gesetz des bloßen
-Seins und bleibt insofern jeder Zuständigkeit bewußten Wollens,
-bewußten Strebens, bewußten Zielens entrückt. Die Welt als Bewußtsein
-dagegen unterliegt zumindest ‚auch‘ dem Gesetz des Bewußtseins, will
-heißen dem Gesetze dessen, der für den Inhaber, Träger, Herrn des
-Bewußtseins gilt. Das abgezogene und reine Sein verharrt ausschließlich
-auch nach eigenem Sinn, Nicht-Sinn oder Wider-Sinn: verharrt als
-unendliche Erstreckung unendlicher Mannigfaltigkeiten, welche nirgends
-einen Ansatz für menschliches Eingreifen, Beeinflussen, Gegenwirken
-darbieten (es geschähe denn durch Zauberei...). In dieser streng
-sachhaften Wirklichkeit findet der Mensch im Grunde wenig oder
-nichts für sich zu tun. Sie überwältigt und unterjocht ihn völlig,
-wie es in den gesellschaftlichen Bildungen des Orients denn auch bis
-auf Gotamo der Fall gewesen ist. Eingefügt, ja eingewalzt in die
-unerschütterlichen Ordnungen der Gestirne und Gezeiten des allmächtigen
-Himmels betätigt der Mensch<span class="pagenum"><a name="Seite_238" id="Seite_238">[S. 238]</a></span> sich wesentlich als Vollstrecker dieser
-Ordnungen, die zwar nicht geradezu widermenschlich, aber doch auch noch
-nicht menschlich sind. Der Mensch betätigt sich als kosmisches Werkzeug
-hier, gleichsam als astrales Organon des großen Himmels, und seine
-Siege, die in manchem Betracht alle künftigen Siege übertreffen, feiert
-er in diesem Zeichen. In gar nicht abzuschätzenden Graden sind diese
-Ordnungen astronomisch-astrologischer, physikalisch-kalendarischer,
-mathematisch-mantischer Beschaffenheit wohltätig gewesen, &mdash; die
-Ordnungen einer vorzugweis ‚katholischen‘ Gesellschaft, wie sie
-in China, Indien, Babylon-Assur und Ägypten entstand und dauerte.
-Rhythmisch durchpulst von den Flutungen und Ebbungen des Himmels wie
-von den Blutwellen des eigenen Herzens atmet der Mensch hier noch den
-Atem der Schöpfung. Aber wir sahen es schon: mit der Zeit trachtet der
-Mensch auch diesen Atem in seine Gewalt zu bringen, zum Zeichen, daß
-er nicht länger der Vollstrecker, sondern der Gebieter des All sei.
-Es ist eine Tatsache von unverkennbarer Symbolik, daß just mit den
-Übungen der Hatha-Yoga die gleichsam protestantische Loslösung und
-Verselbständigung des Menschen beginnt, &mdash; schon lange vor Gotamo,
-aber vollends durch Gotamo besiegelt, wenn er den unwillkürlichen
-Vorgang des Lebens dadurch dem Willen unterwirft, daß er jenem ganz
-regelmäßig eine bestimmte Vorstellung zuerst begleitend zugesellt, dann
-aber gewissermaßen verdrängend unterstellt. Langsam, aber unaufhaltsam
-verschwindet derart der Kosmos der Dinge,<span class="pagenum"><a name="Seite_239" id="Seite_239">[S. 239]</a></span> um einem Kosmos der
-Vorstellungen das Feld zu räumen, &mdash; übrigens in der Bhagavad-Gitâ ganz
-buchstäblich das ‚Feld‘ (<i>kshetra</i>) des Feld-Kenners (<i>kshetrajna</i>)
-genannt! &mdash; langsam, aber unaufhaltsam, gelangt eine transzendentale,
-will heißen immanente, will heißen phänomenologische Wirklichkeit als
-Inhalt des Bewußtseins ins Machtbereich des erlebenden Menschen. Die
-Reihe der kosmischen Kräfte wird um eine neue Kraft vermehrt, welche
-bald alle übrigen an Wirksamkeit übertrifft: denn eben von den bewußt
-entwickelten Vorstellungen hängt es künftig ab, welche Gestalt diese
-Welt annimmt und welche nicht. Wenn schon Kant, der transzendentale
-Idealist, auf seine stille Weise darüber frohlockt, daß sich in seiner
-kopernikanisch gewendeten Lehre die Erkenntnisse der Vernunft fürderhin
-nicht mehr nach den äußeren Dingen, Gegenständen, Wirklichkeiten
-richteten, vielmehr umgekehrt die Dinge, Gegenstände, Wirklichkeiten
-nach den Erkenntnissen der Vernunft und deren Bedingungen <i>a priori</i>;
-wenn schon in diesem stillen Frohlocken Kants deutlich vernehmbar
-die Freude des echten Protestanten an der Bewältigung, Bemeisterung,
-Beherrschung der Natur durch den Geist, der Notwendigkeit durch die
-Freiheit, der Unwillkür durch die Willkür zum Ausdruck kommt, &mdash;
-nun wohl! so weiß der Buddho dieselbe Genugtuung noch ganz anders
-auszudrücken: er, der dem entwickelten Vorstellungleben eine magische,
-ja eine okkulte Wirksamkeit im Umkreis der Verursachungen zuzuschreiben
-sich berechtigt fühlt. „Acht Gründe gibt es, Ânando,<span class="pagenum"><a name="Seite_240" id="Seite_240">[S. 240]</a></span> acht Ursachen,
-daß ein gewaltiges Zittern über die Erde zur Erscheinung kommt; und
-welche acht? Diese große Erde, Ânando, hat ihren Bestand im Wasser,
-das Wasser hat seinen Bestand im Winde, der Wind hat seinen Bestand im
-Raume. Zu einer Zeit nun, Ânando, wo gewaltige Winde wehen, lassen die
-gewaltigen Winde mit ihrem Wehen das Wasser erbeben: und erbebt das
-Wasser, erbebt die Erde. Das ist der erste Grund, die erste Ursache,
-daß ein gewaltiges Zittern über die Erde zur Erscheinung kommt. Ferner
-aber, Ânando, ist da ein Asket oder ein Priester, der ist machtvoll,
-hat die Herrschaft über seinen Geist, oder ein Gott, hochmächtig,
-hochgewaltig, &mdash; der hat die Vorstellung ‚Erde‘ mäßig entwickelt,
-unermeßlich die Vorstellung ‚Wasser‘: so macht er diese Erde beben und
-erbeben, wanken und schwanken. Das ist der zweite Grund, die zweite
-Ursache, daß ein gewaltiges Zittern über die Erde zur Erscheinung
-kommt...“Diese erstaunlichen und doch auch wieder selbstverständlichen
-Worte des Dritten Berichtes aus dem Großen Verhör über die Erlöschung
-Mahâparinibbânasuttam führen die Vorstellung ein als eine Kraft
-eigener Art, als eine Ursache eigener Art, als einen Antrieb eigener
-Art innerhalb der Gesamtheit aller Kräfte, Ursachen und Antriebe der
-Welt. Auf magische oder auf okkulte Weise beeinflussen Vorstellungen
-den Zustand der Wirklichkeit und verteilen die vorhandenen Grundstoffe
-anders, als es vorher und ohne ihre Beeinflussung der Fall war.
-Je nachdem eine Vorstellung vom Vorstellenden unterdrückt<span class="pagenum"><a name="Seite_241" id="Seite_241">[S. 241]</a></span> oder
-entwickelt, begünstigt oder vernachlässigt, gestärkt oder geschwächt
-wird, greift sie als eine wirkende Ursache in die Unendlichkeit der
-wirkenden Ursachen ein. Weit entfernt, eine wesenlose, untätige,
-unwirkliche Begleiterscheinung der Körperlichkeit oder des Lebens zu
-sein, &mdash; wie dies europäische Psychologen, Physiker und Philosophen
-häufig vermuten zu dürfen glaubten im sinnfälligen Widerspruch zu
-bestehenden Tatsachenreihen, &mdash; erweist sich die Vorstellung hier als
-eine der treibenden Kräfte der Welt, ja als die Hauptkraft der Welt,
-wo sie richtig gebildet, richtig geübt, richtig gehandhabt wird.
-Veränderte Vorstellungen bewirken veränderte Dinglichkeiten: diese
-endlich auch von der abendländischen Wissenschaft gemachte Entdeckung
-verrät das eigentliche Geheimnis, warum gerade der Buddho die Wendung
-vom Kosmos Uranios zum Kosmos Noetos vollziehen mußte, &mdash; warum gerade
-er den transzendentalidealistischen und phänomenologischen Standpunkt
-mit soviel Ausschließlichkeit vertreten und wahren mußte. Gotamo der
-Protestant, der von Anfang an nichts so folgerichtig und planmäßig
-anstrebte als die vollendete Freiheit und Unabhängigkeit des Gemüts
-von allen naturhaften Bedingungen und Gebundenheiten, er fand in
-der Vorstellung die Möglichkeit, diese Freiheit und Unabhängigkeit
-zielbewußt zu erwirken. Die Vorstellung, die ihm eine Kraft, eine
-Wirksamkeit sondergleichen ist, gestattet den ungeheuern Eingriff
-in die gesetzmäßig bestimmte Ordnung der Welt, auf welchen es vor
-allem abgesehen ist. Im Besitz seiner Vor<span class="pagenum"><a name="Seite_242" id="Seite_242">[S. 242]</a></span>stellungwelt schaltet der
-Vorstellende in den Stromkreis der Kräfte eine neue Kraft von der
-Ordnung X ein, die im Unterschied zu allen anderen Kräften durchaus
-dem Bereich der eigenen Machtvollkommenheit und Zielstrebigkeit
-angehört. Von den Vorstellungen aus ergehen fortab die Befehle,
-Winke, Zeichen, nach welchen die Wirklichkeiten abgeändert werden;
-von den Vorstellungen aus beherrscht die Absicht des Vorstellenden
-die gesamte Schöpfung, sobald er sie nur zu beherrschen willens
-ist. Mittels der Vorstellung bringt der Vorstellende grundsätzlich
-die unendliche Weltwirklichkeit in seine Gewalt: in der Form der
-Vorstellung wird sie ihm botmäßig, wenn nicht sogar dienstwillig.
-Schopenhauers etwas dürre Formel ‚die Welt ist Meine Vorstellung‘
-heißt in die Sprache Gotamos übersetzt fruchtbarer und sinngemäßer:
-die Welt ist abhängig veränderlich von Meiner Vorstellung der Welt...
-Und wenn dies auch nicht buchstäblich so zu denken ist, wie es Gotamo
-selbst dem aufhorchenden Ânando im Dritten Bericht aus dem Großen
-Verhör der Erlöschung Mahâparinibbânasuttam so eindringlich darlegt;
-wenn in Wahrheit auch nicht schon jede unermeßlich entwickelte
-Vorstellung ausreichend sein mag, diese Erde zum Zittern zu bringen
-wie die Vorstellung ‚Wasser‘ eines hochmögenden Asketen, &mdash; daß eine
-‚unermeßlich‘ entwickelte Vorstellung zum mindesten die empfindenden
-und bewegenden Nerven, die Zellen und Gewebe und Muskeln eigener und
-fremder Leiblichkeit beeinflussen und bestimmen können, dies steht
-auch für unser<span class="pagenum"><a name="Seite_243" id="Seite_243">[S. 243]</a></span> europäisches Wissen nachgerade auch dann fest, wenn
-eine ausreichende Erklärung dieses Sachverhalts nicht gegeben werden
-kann. Mittels Vorstellungen auf lebendiges Plasma einzuwirken und
-es von diesem inneren Licht aus geradezu einer Art von Bestrahlung
-zu unterziehen, das ist möglich, denn es ist wirklich. Der Herr der
-Vorstellungen aber ist der Vorstellende, und so ist der Vorstellende
-der Herr über alles, was von der Vorstellung her beeinflußbar
-erscheint, &mdash; grundsätzlich der Herr also über alles, was lebt und
-infolge seines Lebens selbst an einer Vorstellungwelt teil hat: sie
-sei dumpf oder besonnen, unbewußt oder bewußt. Als vorstellendes Wesen
-verfährt der Mensch mit seinen Vorstellungen, wie es ihm gefällt, und
-so verfährt er auch mit dem, was seiner Vorstellungkraft nah oder fern
-zugänglich ist, wie es ihm beliebt. Die Welt als Vorstellung restlos
-dem bewußten Wollen, der bewußten Absicht, dem bewußten Zweck gehorsam
-zu machen, gehört somit ganz einfach zum Ziel des gotamidischen
-Protestantismus, wie es (in etwas anderer Weise) zum Ziel des
-kantischen Protestantismus gehört: in dieser Hinsicht geschieht Gotamos
-Einstellung auf den ‚transzendentalen Idealismus‘ aus dem stärksten
-Instinkt des großen Protestanten heraus, der über die Welt Herr sein
-und nicht der Welt Knecht sein will. Sei nun die Welt wahrheitgemäß
-Meine Vorstellung, oder sei Meine Welt Vorstellung oder sei weder
-Meine noch Deine Welt weder Meine noch Deine Vorstellung, sondern die
-‚Welt überhaupt Vorstellung überhaupt‘, &mdash; unter allen Umständen ist<span class="pagenum"><a name="Seite_244" id="Seite_244">[S. 244]</a></span>
-es erst diese Auffassung, die eine brauchbare Möglichkeit schafft,
-der Welt von innen her, vom Bewußtsein her, vom ‚Geiste‘ her habhaft
-zu werden. Erst als Bewußt-Sein von der Welt ist das Sein der Welt zu
-überwältigen, zu überweltlichen. Und umgekehrt: wo diese Überwältigung
-und Überweltlichung vornehmstes Ziel des Lebens ist, muß folgerichtig
-alles Sein in das Bewußtsein eingesenkt und eingeschichtet werden...</p>
-
-<p>Wie aber nun, ihr Christen? Heißet das Leiden verwinden recht
-eigentlich die Welt verwinden, die Welt verwinden aber die Vorstellung
-der Welt verwinden, &mdash; heißet alsdann nicht das Leiden verwinden die
-Vorstellung der Welt, ja die Vorstellung-Welt selbst verwinden? Heißet
-das Leiden verwinden recht eigentlich das Sein verwinden, das Sein
-verwinden aber das Bewußtsein verwinden, &mdash; heißet alsdann das Leiden
-verwinden nicht das Bewußtsein selbst verwinden? Und falls sich dieses
-wirklich so verhält, &mdash; und es verhält sich so! &mdash; was heißt in diesem
-zutreffenden Fall die Vorstellung verwinden, das Bewußtsein verwinden?
-Wie kann die Vorstellung als solche, wie kann das Bewußtsein als
-solches verwunden werden, wenn Vorstellung und Bewußtsein das Erste
-und Letzte, das Unbedingte und Unentstandene ist? Wie kann das Erste
-und Letzte, das Unbedingte und Unentstandene selbst verwunden werden,
-da doch Nichts mehr hinter und Nichts mehr über ihm ist, welches zur
-Verwindung berufen wäre?</p>
-
-<p>Auf zweierlei Arten kann dennoch auch das Bewußtsein verwunden werden,
-die beide unmittelbar<span class="pagenum"><a name="Seite_245" id="Seite_245">[S. 245]</a></span> durch die Beschaffenheit des Bewußtseins
-selber bestimmt sind. Das Bewußtsein nämlich kann unterschritten
-und kann überschritten werden. Es kann entweder soweit geschwächt,
-soweit getrübt, soweit verringert, soweit unterdrückt werden, daß es
-gewissermaßen unter seinen eigenen Schwellenwert hinabsinkt und sich
-ins Unbewußtsein allmählich verliert. Oder aber das Bewußtsein kann
-soweit gestärkt, soweit aufgehellt, soweit vermehrt, soweit gehoben
-werden, daß es gewissermaßen über sich selbst gesteigert erscheint
-und ins Überbewußtsein mündet. Denn um den entscheidenden Tatbestand
-mit einem einzigen Wort anzuführen: das Bewußtsein hat Grade! Das
-Bewußtsein hat Grade, und also verläuft es zwischen einem untersten und
-einem obersten Schwellenwert von der bestimmten Größe Null bis zu einer
-unbestimmbaren und vielleicht sogar unendlichen Größe. Das Bewußtsein
-hat Grade, wie schon einer der ersten Philosophen des Bewußtseins in
-Europa, Leibniz, mit großem Nachdruck behauptete; &mdash; das Bewußtsein
-hat Grade, auch wenn sich im verflossenen Jahrhundert der Philosoph
-des Unbewußtseins für das Gegenteil dieser Behauptung hartnäckig
-eingesetzt hat. Zwischen der heftigsten, beinahe wütenden Gespanntheit
-auf ein erlebtes Vorkommnis und der vollkommenen Gleichgültigkeit
-gegen dasselbe, zwischen der angestrengtesten Überwachheit und der
-trägsten Dumpfheit, zwischen andauernder Aufmerksamkeit und andauernder
-Verschlafenheit, zwischen gleichmäßiger Geistes-Allgegenwart und
-gleichmäßiger Geistes-Abwesenheit,<span class="pagenum"><a name="Seite_246" id="Seite_246">[S. 246]</a></span> zwischen beherrschter Sammlung und
-zuchtloser Zerstreutheit durchmißt das Bewußtsein alle erdenklichen
-Grade: wie eine Klammer, die bald geschlossen, bald aber offen
-ist, umklammert das Bewußtsein erlebbare Gegenständlichkeiten mit
-eiserner Strenge oder entläßt sie in loser Ungebundenheit. So
-führt es entweder zu einem Zustand, der die Bezeichnung Bewußtsein
-noch kaum oder noch gar nicht verdient, oder zu einem anderen, für
-welchen die Bezeichnung Bewußtsein nicht mehr ausreichend ist. Im
-allgemeinen hält das Bewußtsein eine gewisse dämmerige Mitte ein
-zwischen Unbewußtsein und Überbewußtsein, wie etwa der Halbschlaf die
-dämmerige Mitte hält zwischen Wachheit und Vollschlaf. In der Tat,
-dem Halbschlaf gleicht das Bewußtsein in seinem gewöhnlichen Zustand:
-es ist eher eine Bereitschaftlage, in Bewußtsein überzugehen, als
-jederzeit selber Bewußtheit zu sein. Die zahllosen Vorstellungen die
-auch dem vorstellungärmsten Menschen noch durch den Kopf schwirren,
-beschäftigen das Bewußtsein gleichsam nur als Möglichkeiten. Damit
-sie als Vorstellungen ‚wirklich‘ werden, muß ihnen schon ein Zwang
-zur Aufmerksamkeit zu Hülfe kommen, sei es, daß von außen, sei es,
-daß von innen her ein Interesse geweckt werde, welches einzelne
-Vorstellungen aus der zudrängenden Menge auswählt und nun entwickelt.
-Wie beispielweis ein Landschafter eine lange Frist in einer Landschaft
-weilt, bis ihn in irgendeinem Augenblick ein ganz bestimmter
-Ausschnitt zum Bild anreizt und er zu sich spricht: alles andere wird
-nicht gemalt, aber dies<span class="pagenum"><a name="Seite_247" id="Seite_247">[S. 247]</a></span> wird gemalt, &mdash; ebenso weilt der Mensch
-gewohnheithalber mitten und unter seinen Vorstellungen, bis ihn eine
-derselben aus erkennbaren oder unerkennbaren Gründen zur Entwicklung
-anreizt. Auf diese Vorstellung sammelt sich das Bewußtsein und führt
-sie mit Sorgfalt, Genauigkeit, Treue aus; bei dieser Vorstellung
-verweilt das Bewußtsein und umkreist sie in stätigem Flug; an dieser
-Vorstellung erwärmt sich das Bewußtsein und entzündet sich zu einer
-gleichmäßig hellen Flamme, indes alle übrigen Vorstellungen je und je
-ins Dunkel jenes Kraters zurückstürzen, dem sie rätselhaft entstiegen
-sind... Wer also das Bewußtsein verwinden will, dem steht die Wahl
-ins Unbewußtsein zurück ebenso offen wie die Wahl zum Überbewußtsein
-vor, und vielleicht ist es schwer zu sagen, ob die Verwindung durch
-Unbewußtsein oder die Verwindung durch Überbewußtsein leichter zu
-bewerkstelligen wäre, &mdash; wie denn der eine zwar leicht einschläft, aber
-nur mühsam zu wecken ist, indes der andere schwer einschläft, aber
-leicht wieder aufwacht.</p>
-
-<p>Dies übrigens dahingestellt, bleibt dem Buddho jedenfalls die
-Wahl zwischen beiden Arten der Verwindung. Es bleibt ihm die Wahl
-zwischen Verringerung und Steigerung, zwischen der Annäherung ans
-Unbewußtsein und ans Überbewußtsein, zwischen der Bevorzugung des
-Schlafzustandes und des Zustands der Überwachheit. Wozu aber sich
-der Buddho entschließt, das geht unmißverständlich eben schon aus
-dem Namen hervor, den er trägt... „Der Erwachte, o Keniyo, sagst du?
-&mdash; Der Erwachte, o Selo, sag<span class="pagenum"><a name="Seite_248" id="Seite_248">[S. 248]</a></span>’ ich“... Denn wie sollte der Erwachte
-anderes als die Wachheit und Überwachheit des Bewußtseins als des
-Bewußtseins eigentliche Überwindung werten? Diese Wahl ist es dann
-auch freilich, welche den Buddho in einen tief bedeutsamen Gegensatz
-bringt zu der Praxis der Yoga, zu der Praxis des Brahmanismus, die
-ihrerseit den Tiefschlaf als den göttlichen Urstand schlechthin zum
-erstrebenswürdigsten Ziel ihrer geistlichen Übungen erhebt. Wobei wir
-freilich zu bedenken hätten, daß dem Buddho doch auch dieser Weg der
-Minderung und Verringerung, den alle Mystik immer wieder gegangen
-ist, keineswegs fremd geblieben ist. Ich sagte es schon mehrmals,
-daß zwischen Ja und Nein dem Buddho noch ein drittes, diesseit der
-Gegensetzungen, ‚<i>nirdvandva, dvantvâtîta</i>‘, vorschwebt, das weder Ja
-noch Nein und doch wiederum Ja und Nein in einem ist... Wählt somit
-Gotamo die Steigerung, so heißt dies nur in unserer europäischen
-Zwiesal-Sprache, daß er die Verringerung durchaus verwerfe. Seine
-Entscheidung gilt folglich zwar ohne diesen Vorbehalt nicht eindeutig:
-wohl aber gilt sie mit ihm so. Das Bewußtsein ist zu verwinden durch
-die höchstmögliche Steigerung des Bewußtseins, und diese Praxis haben
-wir jetzt in ihrer Wichtigkeit darzustellen.</p>
-
-<p>Unser Leben in Vorstellungen, wie wir’s uns selber überlassen führen,
-ist ein Spiel. Die Vorstellungen tauchen auf und sinken unter wie die
-Fische in einem Weiher. Jetzt schnellen und schnalzen sie sich, in
-der Sonne wie kleine Silberpfeile blitzend, über den<span class="pagenum"><a name="Seite_249" id="Seite_249">[S. 249]</a></span> Wasserspiegel
-des Weihers in munteren Sprüngen dahin; im nächsten Augenblick
-schwimmen sie in ihrem Element flink umeinander, &mdash; und jetzt sind
-alle verschwunden. Gewiß hat auch dieses Spiel der Vorstellungen seine
-Regeln, sonst wär’ es doch wohl kaum ein Spiel. Denn einmal ist ihre
-Abfolge im Bewußtsein festgelegt durch die gleichsam physikalische
-Abfolge der Wirklichkeiten in Raum-Zeit, die sie im Bewußtsein zu
-vertreten haben. Zum anderenmal ist dieselbe Abfolge festgelegt durch
-die psychologischen Gesetze der Vergesellschaftung, durch welche sie
-bestimmt wird. Wer beispielweis durch die Straßenzüge einer großen
-Stadt schlendert, hat keine Freiheit, weite Täler, hohe Berge, einsame
-Wälder, bebaute Felder wahrzunehmen. Seine Vorstellungen bleiben
-wimmelnden Gassen verhaftet, rauchenden Schloten, zudringlichen
-Firmenschildern, lärmenden Plätzen. Und auch wenn er seine
-Vorstellungen von dieser Umwelt abzieht, und in sich selbst verloren,
-in sich selbst versonnen weiterschlendert, wechseln dieselben nach
-Regeln, auf welche er offenbar keinen Einfluß hat, solange er das Auf
-und Ab der Vorstellungen sich selber überläßt. Ein Spiel nach Regeln
-und Gesetzen ist also dieser Ablauf, wo die benachbarten Vorstellungen
-immer wieder die benachbarten, die verwandten Vorstellungen immer
-wieder die verwandten suchen. Sich selber überlassen, stellen sich die
-Vorstellungen niemals in einer Abfolge ein, die dem klaren Willen des
-Vorstellenden entsprechen würde, und niemals verschwinden sie diesem
-Willen entsprechend.<span class="pagenum"><a name="Seite_250" id="Seite_250">[S. 250]</a></span> Vielmehr schaut der Vorstellende selbst diesem
-Spiel nur wie ein müßiggängerischer Gaffer zu, der eine Szene auf dem
-Marktplatz oder im Theater als unbeteiligter Dritter anstaunt: wohl
-wechseln fortwährend seine Vorstellungen, aber nicht ist er es, der
-sie wechselt. Was unser Besitz sein sollte und richtig verstanden
-überhaupt unser einziger Besitz sein kann, das lassen wir als grobe
-Naturalisten, ja Anarchisten des Lebens einfach gewähren und geben uns
-willfährig seinem eigenen Sinn oder Unsinn gefangen. Diesem launischen
-Spiel, welches das verborgene ‚Es‘ mit uns allen spielt, ein sehr
-entschiedenes Ende zu setzen, und an Stelle des Naturalismus und der
-Anarchie gleichsam den ‚Stil‘, sogar den hieratischen Stil walten
-zu lassen und seine strengen Gesetze: das heißt in der Auffassung
-des Buddho den ersten Schritt tun zu der Verwindung des Bewußtseins
-durch Steigerung des Bewußtseins. Auf das Spiel, auf die Spielerei
-zu verzichten, die wir mit uns selber treiben, und endlich mit
-einem gewissen Ernste Ernst zu machen: das ist die erste Forderung,
-die an den Jünger des Erwachten ergeht. Er soll die Abfolge der
-Vorstellungen, die von Haus aus eigentlich in keinerlei Betracht die
-seine ist, zur seinigen machen; er soll der Abfolge der Vorstellungen
-die Regeln der Vergesellschaftung selber auferlegen, statt sie
-physikalisch-psychologischer Gesetzmäßigkeit anheim zu geben. Er soll
-den zuchtlosen Ablauf der Vorstellungen in die Zucht nehmen und ihm
-wie einem durchaus regulierten Fluß die rechte Richtung weisen, den
-rechten<span class="pagenum"><a name="Seite_251" id="Seite_251">[S. 251]</a></span> Wasserstand, die rechte Fahrtrinne, die rechte Stromstärke,
-das rechte Gefälle, &mdash; dies ist das Unerläßlichste von allem.</p>
-
-<p>Ein Vorsatz von mehr als menschlicher Strenge gegen sich selbst,
-ihr Christen, wenn man’s recht bedenkt. Ein Vorsatz, der für die
-meisten christlichen Abendländer, wofern sie sich nicht zufällig
-mit den Geistlichen Übungen des heiligen Jgnatius vertraut gemacht
-haben, etwas Unheimliches, Unbegreifliches, Zermalmendes hat: für
-jene Abendländer, die es so sehr lieben, sich gehen und hängen zu
-lassen, wie es gerade kommt oder auch krumm kommt. Denn was will
-es heißen, alle die aufkeimenden und aufwuchernden Vorstellungen,
-die unser Selbst wie eine undurchdringliche Dornenhecke um sich zu
-ranken pflegt, nach der Zuständigkeit der heilstrebenden Absicht
-überall zu beschneiden und festzubinden? Es will heißen, daß jede
-Vorstellung, die nicht mit dieser bewußten Zwecksetzung übereinstimmt,
-ohne Gnade und Nachsicht zu unterdrücken ist, sei es auf die Gefahr
-hin jeglicher Vergewaltigung der eigenen Instinkte, Triebe und
-Neigungen. Es will heißen, daß jedes Gelüste, jede Anwandlung, jede
-Versuchung des Leibes und der Seele in des Wortes buchstäblicher
-Meinung schon von der Schwelle her abzuweisen ist, es sei nun, daß
-diese Vorstellung die Schwelle gar nicht überschreiten darf, es sei,
-daß sie sie nach erfolgtem Überschritt sofort wieder räumen muß. Es
-will heißen, daß alle Erlebnisinhalte und Bewußtseinsgegebenheiten,
-welche nicht unmittelbar oder mittelbar die<span class="pagenum"><a name="Seite_252" id="Seite_252">[S. 252]</a></span> Tat des Heils zu fördern
-geeignet erscheinen, als störend oder entbehrlich zu verabschieden
-sind. Es will heißen, daß alles, was bedrückt, was schmerzt, was
-umdunkelt, was hemmt, was niederzieht, was verderbt, was beschwert,
-was beeinträchtigt, was entwertet, was entwürdigt, was befleckt,
-was gefährdet, was erzürnt, was erschreckt, was verbittert, was
-verstockt, was kränkt, was aufwühlt, was entfesselt, was verstört, was
-verwildert, was verroht, was verkehrt, was versklavt, was umnebelt,
-was berauscht, was ausschweift, was ablenkt, was zerstreut, was
-verwirrt, was in Zweifel stürzt, was verzweifeln macht, was täuscht,
-was verblendet, was giert, was gärt, was verzehrt, was abstumpft, was
-versehrt, was entzweit, was zerreißt, was entfriedet, was entfremdet,
-was entkräftigt, was entnervt, &mdash; daß alles dieses und was nicht noch
-alles sonst aus dem Bewußtsein zu verjagen und zu verbannen ist,
-nötigenfalls zu übermannen mit Einsatz aller Kräfte des Willens „mit
-aufeinandergepreßten Zähnen und an den Gaumen gehefteter Zunge“... Es
-will heißen, daß alle Erwägungen aufzugeben und einzustellen sind,
-die mit dem heiligen Ziel nicht nachweisbar zusammenhängen, und mit
-diesen Erwägungen und Erörterungen dann alle Reden und Gespräche,
-alle Belehrungen, Bestrebungen, Zwecksetzungen. Es will heißen,
-daß mit dem Eifer eines Teufelaustreibers die urwüchsigsten Triebe
-auszutreiben sind wie die geistigsten Bildungen, sobald sie vom Ziel
-abführen oder auch nur nicht zu ihm hinführen. Es will heißen, daß alle
-Wahrnehmungen und Erinnerungen und<span class="pagenum"><a name="Seite_253" id="Seite_253">[S. 253]</a></span> Absichten, sobald das Bewußtsein
-ihrer ansichtig geworden ist, auf die goldene Wage zu legen sind, ob
-recht oder nicht recht, ob statthaft oder verboten, ob heilfördernd
-oder heilhemmend. Es will heißen, daß alle ‚rechten‘ Vorstellungen
-zum Gedeihen, alle ‚unrechten‘ aber zum Eingehen zu bringen sind, ja
-daß die rechten geradezu zum Kampfe aufgeboten werden, um diese zu
-verdrängen und ihre Stelle einzunehmen. „Gleichwie etwa, ihr Mönche,
-ein geschickter Maurer oder Maurergeselle mit einem feinen Keil einen
-groben heraustreiben, herausschlagen, herausstoßen kann, ebenso nun
-auch, ihr Mönche, soll ein Mönch, wenn er eine Vorstellung faßt,
-eine Vorstellung sich vergegenwärtigt, und ihm dabei böse, unwürdige
-Erwägungen aufsteigen, Bilder der Gier, des Hasses und der Verblendung,
-aus dieser Vorstellung eine andere gewinnen, ein würdiges Bild“...
-Denn daß die Triebe und Begehrungen, die Leidenschaften und Neigungen,
-die mit der Wesenheit der Person lebendig verwurzelten, aus dem
-Bewußtsein unter keinen Umständen verdrängt werden könnten, oder falls
-dennoch verdrängt, in unterschwelligen, unterschwürigen, unterbewußten
-Bezirken der Seele erst recht und viel unbezwinglicher noch ihr Unwesen
-fortsetzen müßten, &mdash; dieses Ergebnis abendländischer Seelenerkundung
-hätte Gotamo vermutlich nicht anerkannt. Wofern auch der Trieb oder
-Hang als eine Vorstellung ins Bewußtsein tritt, da betritt er eben die
-Walstatt, wo gegen jede unerlaubte Vorstellung ihre Gegen-Vorstellung,
-Gegen-Stellung ins Gefecht geführt wird:<span class="pagenum"><a name="Seite_254" id="Seite_254">[S. 254]</a></span> betritt also der Trieb
-oder Hang die Stätte einer zum Austrag gelangenden Zucht-Wahl, wo
-die durch Zucht erwählte Gegen-Vorstellung die gleichsam wild und
-zuchtlos aufgeschossene Vorstellung aus dem Feld schlägt. Ein etwaiger
-Rückzug aber aus dem Bewußtsein in die Höhlen und Unterschlüpfe des
-Unterbewußtseins, wie ihn alsdann die moderne Seelenlehre des Westens
-für unvermeidlich erachtet, wird schlechterdings nicht geduldet, &mdash;
-aus Gründen, die wir bald in den Umkreis der Betrachtung zu ziehen
-haben werden. Jedenfalls ereignet sich somit im Bewußtsein der seltsame
-Kampf, der über die Rechtmäßigkeit jeder einzelnen Vorstellung
-entscheidet und folglich auch über ihren weiteren Verbleib, ihre
-weitere Entfaltung, ihre weitere Begünstigung. Unmöglich aber ist’s,
-hier aller Anstalten besonders zu gedenken, die der Buddho namhaft
-zu machen gewußt hat zur Beförderung dieses seines Zieles. Besteht
-doch in der Sammlung und Sichtung, Darlegung und Erläuterung dieser
-Anstalten im Grund die ganze Lehre des Buddho, &mdash; die ganze Lehre ein
-beispiellos abgerundetes und wohlgeordnetes Gefüge von erzieherischen,
-von seelsorgerischen Maßnahmen, das Spiel der Vorstellungen in die
-Gewalt des selbstherrlichen Willens zu bekommen und dort gebieten zu
-lernen, wo wir alle am meisten gehorchen müssen. Diese Schule der Zucht
-und Selbst-Zucht macht sich sorgfältige Erfahrungen von Jahrtausenden
-mit einem nirgends mehr erreichten Aufwand von Menschenkenntnis und
--erkenntnis zu Nutz und ist darum auch für die Jahrtausende gültig,
-wahrhaft<span class="pagenum"><a name="Seite_255" id="Seite_255">[S. 255]</a></span> unsterblich und zeitlos. Sie durchaus in ihrem gesamten
-Aufbau und Ausbau zu überschauen, ist nur einem solchen möglich, der
-die Schriften des Kanons wieder und wieder durchforscht, indes unser
-abendländisches Wissen, unsere europäische Gelehrsamkeit vollkommen
-außerstand ist, im einzelnen zu billigen oder zu tadeln, hinzuzufügen
-oder fortzustreichen, zu urteilen oder zu entscheiden. Von dieser in
-der Tat ungemein schwierigen Praxis und Pragmatik des urwüchsigen
-Buddhismus einen Begriff zu geben erscheint desto schwieriger, je
-fortgeschrittener unsere eigene seelische Verwahrlosung ist. Ehe wir
-über sie annähernd würdig werden sprechen können, sprechen dürfen,
-werden Jahre und Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte einer neu
-erblühenden europäischen Religiosität vonnöten sein...</p>
-
-<p>Ein zur höchsten Meisterschaft gebrachtes Verfahren, das Ineinander
-und Durcheinander der bewußten Vorstellungen einer strengen Auslese
-zu unterziehen, dies, ihr Christen, ist also das eine, was dem Buddho
-die Verwindung des Bewußtseins bewirkt durch die Steigerung des
-Bewußtseins. Verdrängung aller wertwidrigen Bewußtseinsinhalte durch
-die wertentsprechenden, Entkräftung aller niedrigen Triebregungen durch
-Begünstigung und ‚unermeßliche Entwicklung‘ aller höheren, Vertauschung
-aller heilhemmenden Gegebenheiten gegen die heilförderlichen: das
-ist Ziel wie Weg, Zweck wie Mittel. Aber gleichzeitig erschöpft sich
-die angestrebte Steigerung des Bewußtseins doch keineswegs in dieser
-völligen<span class="pagenum"><a name="Seite_256" id="Seite_256">[S. 256]</a></span> Bemeisterung, Beherrschung, Regelung des Vorstellungablaufes
-in der Zeit. Die nicht zweckdienlichen und folglich verbotenen
-Bewußtseinsinhalte schon von der Schwelle fern zu halten, oder wo
-dieses mißlingt, von der Schwelle zu entfernen, ist eine unerläßliche
-Bedingung für die Entstehung jenes besseren, freieren, reineren
-Urstandes, der dem Buddho vorschwebt. Aber unter keinen Umständen
-ist das Bewußtsein schon verwunden wenn es gesäubert und entschlackt
-erscheint. Die starke Gefahr ward vorhin erwähnt, die nach heutiger
-Auffassung diesem Verfahren der Verdrängung eingewurzelter Triebe und
-Begierden verhängnisvoll zu werden droht. Die Gefahr nämlich, daß die
-verdrängten Regungen sämtlich in den unterschwelligen Bezirken der
-Seele sich festnisten und hier nach der Gepflogenheit aller Schmarotzer
-ein untilgbares und verwüstendes Unwesen führen möchten auf Kosten
-der wachen Bewußtheit, die sich ihrer entledigt hat. Denn wie es
-geschrieben steht, &mdash; manche haben den Geist der Wollust aus sich
-herausgetrieben und sind hernach in die Säue gefahren, und häufig genug
-erwürgt ein verdrängter Hang nachträglich seinen eigenen Henker. In den
-dunkleren und dumpferen Lagen der Seele huldigt der Mensch auf eine
-ausschweifende und krasse Weise dem Dienst seiner Ahnen, deren Totem
-er zwar nicht nach Art der ehemaligen Indianer auf die Haut tätowiert,
-aber dennoch wie ein Mosaik in dem Kerngerüst seiner Keim-Zelle
-musivisch angelegt trägt: und wehe ihm selber, wenn er sie mit dem Blut
-der Opfer tränkt,<span class="pagenum"><a name="Seite_257" id="Seite_257">[S. 257]</a></span> die er auf dem Altar des Bewußtseins seinem edleren
-Trachten feierlich dargebracht und umgebracht hat! Was hier der Mensch
-im Menschen aus Ehrfurcht oder Scham vor sich selbst verwirft, das
-diente von jeher dem Tier im Menschen zu seiner am hitzigsten begehrten
-Kost. Und wenn sich die Hunde keineswegs ekeln, als die sonderlichsten
-aller Selbstverköster den eigenen Auswurf, ja den eigenen Kot
-gelegentlich wieder zu fressen, so heulen und bellen fürwahr diese
-selbigen Hunde in den Kellern der Seele bei Tag und bei Nacht und bei
-Nacht noch weiterhin vernehmlich wie am Tage. Die Gefahr mithin, in
-den oberen Geschossen, wo das Bewußtsein gleichsam seine Empfangräume
-hat, zwar eine peinliche Sauberkeit überall zu beobachten, aber den
-inwendigen Abfall und Kehricht in das Verlies hinunter zu fegen, wo
-Ratten und Schlangen in modrigen Löchern behaust sind, &mdash; diese Gefahr
-ist in der Tat keine geringe. Aber sie besteht nicht, ohne daß Gotamo
-genau um sie wüßte, &mdash; Gotamo, dessen Kennerschaft hier wirklich etwas
-von göttlicher Allwissenheit erworben zu haben scheint. Denn keineswegs
-bleibt diese tiefer geschichtete Zone der unterschwelligen Lebenskräfte
-sich selber überlassen. Vielmehr wird sie im Bewußtsein vom Bewußtsein
-unaufhörlich angeblinkt und belichtet, wie etwa des Nachts die
-Einfahrt eines Hafens unaufhörlich angeblinkt und belichtet wird.
-Und eben in dieser fortgesetzten Sammlung des Bewußtseins auf sonst
-unbewußte oder unterbewußte Vorgänge besteht das zweite gotamidische
-Verfahren, das Bewußtsein zu<span class="pagenum"><a name="Seite_258" id="Seite_258">[S. 258]</a></span> steigern und durch Steigerung zu
-verwinden. Die oben umschriebene Regelung des Vorstellungablaufs
-durch Auslese und Zuchtwahl der Vorstellungen untereinander ergänzt
-sich sinngemäß durch eine andauernde Beaufsichtigung der niedereren
-Körper- und Seelenbewegungen. Wo daher unstatthafte und unzweckmäßige
-Vorstellungreihen aus dem Bewußtsein verdrängt werden und aus dem
-Bewußtsein in tiefere Seelenlagen abwärts gleiten, da wird unverzüglich
-eine Gegenwirkung aufgerufen, welche die unterschwelligen Vorgänge
-ihrerseit wieder in den Lichtkegel der Bewußtheit rückt, ehe sie sich
-in den Falten einer Dämmerwelt schmarotzerisch festzunisten vermögen.
-Wohl werden also im Bewußtsein keine Vorstellungen geduldet, welche dem
-heiligen Ziel der Leidensüberwindung nicht irgendwie förderlich zu sein
-verheißen. Aber ebensowenig werden im Unterbewußtsein, Unbewußtsein
-Vorstellungen geduldet, welche um eben jenes heiligen Zieles willen
-aus dem Bewußtsein mit Anstrengung verdrängt wurden und sich darum der
-Aufsicht des Bewußtseins zu entziehen drohen. Um solchen oder ähnlichen
-Gefahren zu begegnen, hat der Mönch ein Maß von Selbstüberwachung
-zu bewähren, welches dem Wachstum unterschwelliger Seelenkräfte
-nicht nur so ungünstig wie möglich ist, sondern dasselbe vielleicht
-geradezu ausschließt. Von der allmächtigen und allgegenwärtigen
-Polizei des Bewußtseins werden alle unterschwürigen Lebensäußerungen
-und Willensantriebe wie eine Verbrechergesellschaft von Schlupfwinkel
-zu Schlupfwinkel aufgescheucht und zuletzt<span class="pagenum"><a name="Seite_259" id="Seite_259">[S. 259]</a></span> nach und nach vollständig
-aufgerieben. Das Gemüt des Asketen liegt faltenlos geglättet an
-der gleichmäßigen Helligkeit des Bewußtseins da; unbeaufsichtigte,
-ungewußte, unbemerkte Wallungen oder Begierden gibt es grundsätzlich
-in ihm nicht mehr. Dies ist der Grund, warum der Buddho die
-Verdrängung eingewurzelter Lebenstriebe durchaus und ohne Vorbehalt
-gebietet, und dennoch offenbar keines der Übel fürchtet, die nach dem
-Ergebnis europäischer Seelenkunde jeder derartigen Triebverdrängung,
-Triebunterdrückung auf dem Fuße folgen müßte. Und auch hier ist
-wiederum vorbildlich jene mehrfach schon berührte Zucht der
-Atemführung geworden. Wie diese Zucht in der Absicht geübt wird, die
-unwillkürlichen Bewegungen des Leibes in willkürliche zu verwandeln,
-so will eine letzte Zielsetzung überhaupt alle Lebensvorgänge aus
-dem Reich der Physis in das Reich der Psyche pflanzen. Stets von
-neuem wird der Mönch daher vom Buddho angehalten, die ‚vier Pfeiler
-der Einsicht‘ fest zu gründen und beim Körper über den Körper, bei
-den Gefühlen über die Gefühle, beim Gemüt über das Gemüt, bei der
-Erscheinung über die Erscheinung zu wachen. ‚Klar bewußt‘, dies wird zu
-einer der dringendsten Ermahnungen an die Jünger, und die evangelische
-Wachsamkeit bei Tag und bei Nacht, besonders aber bei Nacht, gilt im
-urwüchsigen Buddhismus noch viel mehr (wenn freilich auch in einem
-anderen Sinne) als in den evangelischen Schriften für die vornehmste
-aller religiösen Pflichten: „Den Arm über das Haupt gelegt, so sollte
-der Held<span class="pagenum"><a name="Seite_260" id="Seite_260">[S. 260]</a></span> ausruhn, so sollte er auch noch sein Ausruhn überwinden“ ...
-Nicht ziemte es dem vorgeschrittenen Asketen, auch nur eine einzige
-Verrichtung des Leibes mit schläfrigem Bewußtsein oder ‚aus Instinkt‘
-zu verrichten. Ein ständig arbeitendes Bewußtsein läßt vielmehr gar
-keine Instinkte aufkommen und unterbricht daher auch den Zusammenhang
-der Lebewesen fast gänzlich, der sonst zwischen dem Menschen und den
-übrigen Tieren der Schöpfung nur allzu deutlich wahrzunehmen ist. „Mit
-klarem Bewußtsein wollen wir uns wappnen. Klar bewußt beim Kommen und
-Gehn, klar bewußt beim Hinblicken und Wegblicken, klar bewußt beim
-Steigen und Erheben, klar bewußt beim Tragen der Gewänder und der
-Almosenschale des Ordens, klar bewußt beim Essen und Trinken, Kauen und
-Schmecken, klar bewußt beim Entleeren von Kot und Harn, klar bewußt
-beim Gehn und Stehn und Sitzen, beim Einschlafen und Erwachen, beim
-Sprechen und Schweigen, also habt ihr euch, meine Mönche, wohl zu
-üben“...</p>
-
-<p>Alle die wimmelnden Gefühle also, die aus der Sehnsucht stammen oder
-aus dem Verlangen oder aus dem Hang oder aus dem Weib oder aus der
-Begierde oder aus der Liebe oder aus dem Haß, sie werden gleichsam
-im Bewußtsein abgefangen und hier mit einem Hieb ins Genick zur
-Strecke gebracht. Und mit diesen vom Lebenssaft der tiefst gesenkten
-Bodenwurzeln tausendfach gespeisten Gefühlen wird die Sehnsucht selber,
-wird das Verlangen selber, wird der Hang selber, wird der Trieb selber,
-wird die<span class="pagenum"><a name="Seite_261" id="Seite_261">[S. 261]</a></span> Begierde selber, wird die Liebe selber, wird der Haß selber
-im Bewußtsein abgefangen. Sie alle gehören ein für allemal zu des
-Leidens Verursachung, zu den Leidenschaften, die da Leiden schaffen;
-sie alle werden im Bewußtsein abgetötet fast schon durch die schlichte
-Tatsache, daß sie dort zum Bewußtsein gelangen. Denn das im Übermaß
-erhellte Bewußtsein des Leidens, könnte man nicht unzutreffend sagen,
-die im Übermaß erhellte Vorstellung des Leidens vernichtet schon an und
-für sich alles Leiden. „Indem ich mir jener Leidensursache Vorstellung
-gegenwärtig halte, wird durch der Vorstellung Gegenwart die Liebe
-verwunden; indem ich wieder betrachtend die Betrachtung über jene
-Leidensursache in mir vollende, wird die Liebe verwunden“, &mdash; so faßt
-einmal der Buddho dieses seltsame Seelengesetz in Worte, die man sich
-zu merken hätte. Durch angespannteste Aufmerksamkeit und sorgfältigste
-Selbstüberwachung erzielt Gotamo eine seelische Gesamthaltung, die
-freilich nicht leicht zu schildern und noch schwerer zu erläutern ist.
-Vielleicht ist sie uns einigermaßen bekannt von uns selber, wenn es uns
-beispielweis einmal vorübergehend gelingt, einen heftigen Körperschmerz
-durch nachhaltige Steigerung der Aufmerksamkeit bis zu einem gewissen
-Grad zu neutralisieren und ihn in einer von unserer Person entfernter
-scheinenden Sphäre zu objektivieren. Hierbei gelangt zwar der Schmerz
-nicht geradezu zum Verschwinden, aber immerhin belästigt er weniger wie
-vorhin: der im Bewußtsein zu einer Art von Versachlichung gediehene
-Schmerz löst<span class="pagenum"><a name="Seite_262" id="Seite_262">[S. 262]</a></span> sich zeitenweis von unserem Selbst ab, nicht unähnlich,
-wie sich etwa im Augenblick des Abschusses einer Pistole die Hand
-vom übrigen Körper ablöst und Pistole und Hand zusammen ein beinah’
-selbstherrliches Dasein gewinnen. Eine ähnliche Entpersönlichung
-des Erlebens trachtet der Buddho hervorzubringen und bringt er auch
-sicherlich hervor durch die innigere Gesammeltheit des Bewußtseins auf
-die Begebnisse des Leibes und der Seele.</p>
-
-<p>Auf solche Weise nun betätigt der ‚Erwachte‘ zwar vielleicht eine
-eigenartige, aber dennoch durchaus folgerichtige Anwendung des
-allgemeinsten und unumstößlichsten Ergebnisses unserer europäischen
-Transzendentalphilosophie: wonach im Bewußtsein das Sein sozusagen
-abgestreift und gehäutet wird, &mdash; wonach vom Bewußtsein das Sein in
-einer unwirklichen Spiegelung zurückgestrahlt oder umgebogen wird.
-Im Bewußtsein des Bewußtseins aber oder im Bewußtsein höheren Grades
-stocken insbesondere die Unterschwellungen unterwüchsiger Lebenssäfte,
-welche im Leib und Geist des einzelnen Menschen unaufhörlich lust-
-und unlustspendend kreisen und durch mehr wie nur einen Nabelstrang
-mit dem Kreislauf des großen Lebens, All-Lebens zusammenhängen. Etwa
-wie die Stiele und Stengel von blühenden Gräsern oder Blumen an
-der Stelle dorren, wo sie unter die scharf belichteten Brennpunkte
-optischer Linsen gerückt werden, so dorrt und welkt pflanzenhaftes,
-tierisches, menschliches Leben nach des Buddho innerster Absicht,
-unter den Brennpunkt gerückt eines zu an<span class="pagenum"><a name="Seite_263" id="Seite_263">[S. 263]</a></span>dauernder Wachsamkeit
-verpflichteten Bewußtseins und Überbewußtseins. Oder wie ein Chirurg,
-ein ‚Handwerkender‘ und ‚Handfertiger‘ die Messer, Scheren, Sägen
-seines ärztlichen Besteckes vor dem Gebrauch in eine Lösung von
-Sublimat eintaucht, um sie zuverlässig zu entkeimen, so taucht der
-Buddho alles Werdende und Lebendige in Bewußtheit, um es darin nochmals
-zu entkeimen. Oder wiederum, wie derselbe Chirurg und Therapeut
-ein krebsendes Gewebe der Einwirkung gewisser Strahlenbündel von
-der Ordnung X aussetzt, um die Wucherung mehrkerniger Körperzellen
-aufzuweichen, zu zersetzen, zu zerstören, so weicht der Buddho im
-Strahlenbündel des gesammelten Bewußtseins die Wucherung Leben auf,
-die Wucherung Werden auf, die Wucherung Leiden auf, zerstört sie und
-zersetzt sie... Solchermaßen verwindet der Buddho das Bewußtsein
-durch Steigerung des Bewußtseins, das Leiden durch Steigerung des
-Bewußtseins, das Leben durch Steigerung des Bewußtseins: im innersten
-Gemüt, wie es scheint, einhellig mit einem tief rätselhaften Wort
-Lao-Tses, wonach Leben schon an und für sich Mißbrauch des Lebens ist.
-Wie manche Körper aber das Licht einmal brechen, andere es zweimal
-brechen, so bricht das gemeine Bewußtsein das Leben schon gleichsam
-einmal, das Bewußtsein des Bewußtseins aber zweimal, &mdash; und so wird das
-Leben denn von seiner anfänglichen Richtung zweimal abgelenkt, zweimal
-abgeknickt, zweimal zurückgeworfen. Im Bewußtsein empfängt der Bewußte
-das Leben und alle Wirklichkeiten des Lebens: aber das<span class="pagenum"><a name="Seite_264" id="Seite_264">[S. 264]</a></span> Bewußtsein
-des Bewußseins gibt vom Leben und seinen Wirklichkeiten nur noch die
-doppeltgebrochenen Bilder und Bildesbilder, indessen Wirklichkeit und
-Leben mit allen Gefühlsbetonungen, Gefühlsaufwühlungen weit draußen
-verebben, vergluten und verbrausen. Wie die übermäßige Helligkeit der
-tropischen Sonne die Farben der Gegenstände verzehrt und ihre Formen
-aufsaugt, so verzehrt die übermäßige Bewußtheit des Asketen die Farben
-des Lebens und saugt es die Formen der Wirklichkeiten auf sich, in
-sich. Das höhere Bewußtsein ist der luftleere Raum, in welchem die
-Körper die ihnen eigentümliche Schwere verlieren und insgesamt mit
-gleicher Geschwindigkeit fallen, und wiederum ist es ein chemischer
-Filter, durch den man die giftigen Gase des Tods und der Verwesung
-hindurchseiht. Nachdem sich der Weltstoff in den fünf Elementen
-verwirklicht und bald als Erde, bald als Wasser, bald als Luft, bald
-als Feuer, bald als Äther um- und umgestaltet hatte, wiederfährt ihm
-jetzt die letzte und endgültige Umgestaltung in ein sechstes Element,
-ins Bewußtsein, wo ihn der Buddho in gläserne Ruhe und kristallische
-Friedsamkeit feierlich einsargt und bestattet, ähnlich jenem lieben
-deutschen Märchen, allwo die Sieben Zwerge über den Sieben Bergen
-den blühenden Leib Schneewittchens ins gläsern-kristallische Bett
-einsargen und bestatten. Und wie nun darin der Leib der kleinen Prinzeß
-in himmlischer Geborgenheit ruht und dennoch den Sieben Zwergen zu
-ewiger Besäligung hold gegenwärtig bleibt, so ruht Welt, Leid, Leben
-fortab im<span class="pagenum"><a name="Seite_265" id="Seite_265">[S. 265]</a></span> Sechsten Element des Bewußtseins in himmlischer Geborgenheit
-und Stille, wie es der vollkommen Erwachte denn auch buchstäblich
-gesprochen und versprochen hat:... „den Wahnvernichtern taugen diese
-Dinge um säliger Gegenwart zu genießen“...</p>
-
-<div class="section">
-
-<p class="initial">Bei der Abkunft des Leidens aus dem Bewußtsein, wie sie in den
-Schriften des Pâli-Kanons gegeben wird, bezog ich mich bislang im
-wesentlichen auf jene Fünfzehnte der Reden aus der Längeren Sammlung
-Dîghanakâyo. Hier gilt in der Tat Bewußtsein für die letzte Stätte
-einer achtfachen Entstehung: es selber eine Unentstandenheit und
-Unbedingtheit, die nur noch durch sich selber verwunden werden konnte.
-Was hier aus diesem Umstand gefolgert ward, wird daher im ganzen und
-großen, ganzen und groben seine Richtigkeit haben, &mdash; jedenfalls
-ließ es sich so ziemlich in allen Fällen fortlaufend erhärten an den
-gotamidischen Aussprüchen in den Heiligen Schriften. Im Bewußtsein fand
-der Erwachte den Angriffspunkt für seinen Hebel, von wo aus er die
-Werde- und Wandelwelt aus ihren Angeln drehte. Das Bewußtsein bot ihm
-Handhabe, und besser noch Geisthabe, den gesamten Vorstellungablauf
-(‚<i>stream of thought</i>‘ wie William James sagt) gemäß dem heiligen Ziel
-zu regeln und zu meistern. Das Bewußtsein half ihm gegen die wilde
-Überflutung durch ungerufene Erlebnisse und ungebetene Begebenheiten
-einen widerstandfähigen Damm aufzuführen. Im<span class="pagenum"><a name="Seite_266" id="Seite_266">[S. 266]</a></span> Bewußtsein wußte er das
-Sein zu treffen und all sein Leiden am Sein, im Bewußtsein kühlte er
-den brennenden Schmelzfluß der Wirklichkeit zum kalten Metall und
-Kristall ab... Dies alles verhält sich so und kann mit stichhaltigen
-Einwänden nicht bestritten werden. Nur muß es gesagt sein, sogar
-auf die Gefahr einer ungemeinen Verschwierigung des Tatbestandes
-hin, daß in Ansehung der Abkunft und Entstehung des Leidens in den
-Heiligen Schriften des Kanons noch eine andere Deutung steht. Diese
-widerstreitet der gegenwärtigen nicht geradezu in allen Stücken, denn
-sie läuft die größere Strecke des Wegs völlig mit ihr gleich, um sich
-erst zuletzt von ihr zu trennen. Trotzdem überschreitet sie dieselbe,
-denn sie läßt ihrerseit das Bewußtsein nicht mehr als ein Festes und
-Letztes und Unbedingtes bestehen. So bietet zum Beispiel die Elfte,
-die Achtunddreißigste, die Hundertundfünfzehnte Rede aus der Mittleren
-Sammlung Majjhimanikâyo eine Entstehung des Leidens nicht aus acht,
-sondern aus zehn Gliedern dar, und mit dieser zehngliedrigen Ableitung
-ließe sich alsdann auch das Zwölfte Bruchstück des Dritten Teils aus
-der Sammlung der Bruchstücke Suttanipâto zwanglos in Übereinstimmung
-bringen. So daß wir im Kanon ganz außer allem Zweifel zwei verschiedene
-Abkünfte des Leidens erörtert finden. Einmal das Leiden entwickelt
-aus dem Bewußtsein, wobei das Bewußtsein die Stelle und den Rang
-des Urphänomens, des unabgeleiteten und unableitbaren, einnimmt und
-behauptet, &mdash; mithin eben die Stelle und den Rang, den<span class="pagenum"><a name="Seite_267" id="Seite_267">[S. 267]</a></span> es in der
-transzendentalidealistischen und phänomenologischen Philosophie des
-Westens seit den Griechen immer wieder zugewiesen erhielt und immer
-wieder zugewiesen erhalten wird. Das andere Mal das Leiden entwickelt
-aus &mdash; &mdash;, ja! das ist die neue und offene Frage, die uns jetzt
-gestellt ist, die uns jetzt selber stellt. Schon ward erwähnt, daß
-diese neue Ableitung mit der alten auf die bei weitem längere Strecke
-hin völlig zur Deckung gelange: daß mithin die Auseinanderfolge Geburt,
-Werden, Anhangen, Durst, Gefühl, Berührung, Bild-Begriff und Bewußtsein
-als die klassische Genesis des Leidens eindeutig gewahrt bleibt. Nur
-nimmt in dieser zweiten Ableitung das Bewußtsein nicht mehr die Stelle
-der Unentstandenheit ein, vielmehr erscheint zu seinem Teil verursacht,
-geworden, bedingt, begründet. Ein Umstand, den der Buddho knapp und
-einprägsam in den Satz faßt: „Ohne zureichenden Grund entsteht kein
-Bewußtsein...“ Dort also ein unentstandenes Bewußtsein, welches mit der
-erkenntnismäßigen Doppelung Bild-Begriff oder Wahrnehmung-Vorstellung
-ganz einfach ins Dasein tritt, ohne daß man wissen kann wie. Hier
-dagegen ein entstandenes Bewußtsein und sein zureichender Grund,
-und mit ihm eine Verlängerung des Leitfadens Ursächlichkeit über
-das Urphänomen hinaus samt dem Versuch einer Entwicklunggeschichte
-des Bewußtseins, die einem der philosophischen Vertreter einer
-der europäischen Philosophien des Unbewußten aus dem verflossenen
-Jahrhundert (etwa zwischen dem älteren Fichte und Hartmann) alle Ehre<span class="pagenum"><a name="Seite_268" id="Seite_268">[S. 268]</a></span>
-gemacht hätte. Diese einander ausschließenden Auffassungen vom ‚Wesen‘
-des Bewußtseins einander mit einem gewissen unredlichen Eifer zur
-Synthetik anähneln zu wollen, wäre weder ehrlich noch klug. Und noch
-weniger stünde es unserer westlich denkenden, westlich schließenden
-Vernunft an, aus dem vorhandenen Widerspruch beider Auffassungen die
-Ungültigkeit der einen zugunsten der Gültigkeit der anderen folgern
-zu wollen. Die Frage, welche uns diese doppelte Abkunft des Leidens
-und diese doppelte Auffassung, als Urphänomen und bloßes Phänomen mit
-hoher Dringlichkeit stellt, ist vielmehr lediglich folgende: welche
-neue Aufgaben dem religiösen Leben und der religiösen Tat aus dieser
-neuen Auffassung erwachsen, nachdem die Aufgaben, so aus der ersten
-Auffassung sich ergeben, hier zwar nicht eigentlich mit Gründlichkeit,
-immerhin aber mit Grundsätzlichkeit aufgezeigt worden sind.</p>
-
-</div>
-
-<p>Bevor wir uns indes dieser sehr ernsthaften Frage voll zuwenden dürfen,
-muß Klarheit obwalten über jene zweite Abkunft des Leidens selbst
-und die darin vertretene Deutung des Bewußtseins als eines Gliedes
-unter anderen Gliedern in der Reihe der Entstehungen. Es muß Klarheit
-obwalten über die Abkunft des Bewußtseins und über das, was der Buddho
-selbst den zwingenden Grund des Bewußtseins nennt. Die Antwort, die
-uns darauf wird, lautet denn auch bündig und schlicht genug: das
-Bewußtsein wird bedingt durch Unterscheidung, &mdash; die Unterscheidung
-wird bedingt durch Nichtwissen! Unterscheidung und Nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_269" id="Seite_269">[S. 269]</a></span>wissen heißen
-demnach die zwei letzten Grundlegungen, die das vorige Urphänomen
-Bewußtsein nunmehr als bloßes Phänomen begreiflich machen sollen. Wer
-sonach jetzt und von hier aus vor der Aufgabe steht, das Bewußtsein zu
-verwinden, wird sie nicht mehr in dem Sinn lösen können, wie sie oben
-gelöst worden ist. Sondern er wird sie neu in Angriff nehmen müssen
-nach Maßgabe der veränderten Stellung des Bewußtseins in der Reihe der
-Entstehungen. Nicht mehr wird er Bewußtsein zu verwinden fähig sein
-durch Steigerung des Bewußtseins, sondern er wird Bewußtsein verwinden,
-indem er Unterscheidung verwindet, und nach verwundener Unterscheidung
-Nichtwissen. Die Verkettung der Ursachen, vorhin lediglich bis zur
-Urtatsache des Bewußtseins entwickelt, wird jetzt übers Bewußtsein
-hinaus zur Unterscheidung entwickelt und über die Unterscheidung hinaus
-zum Nichtwissen, &mdash; bis endlich im Wissen der Gedanke von des Leidens
-Abkunft seine letzte, allerletzte und auch von Buddho selbst nirgends
-überbotene Aufgipfelung erfahren hat...</p>
-
-<p>Wie aber dies, ihr Christen? Was will das heißen: die Unterscheidung
-zu verwinden und nicht mehr zu unterscheiden? Was will das heißen: das
-Nichtwissen zu verwinden und nicht mehr nicht zu wissen? Beruht denn
-nicht jeder Vorgang bewußten Wahrnehmens, bewußten Empfindens, bewußten
-Erfahrens just darauf, daß das annoch ungeschiedene Ineinander und
-Durcheinander erlebter Gegebenheiten durch die Tätigkeit der einzelnen
-Sinneswerkzeuge geschieden,<span class="pagenum"><a name="Seite_270" id="Seite_270">[S. 270]</a></span> zerlegt, unterschieden wird? Vermögen wir
-überhaupt wahrzunehmen, zu empfinden, wenn wir nicht gleichzeitig die
-Unterscheidung treffen: dies ist Gehör und Schall, dies ist Gesicht und
-Bild, dies ist Getast und Empfindung, dies ist Geruch und Duft, dies
-ist Geschmack und Nährstoff, dies ist Verstand und Gedanke? Scheidet
-und unterscheidet nicht ohne weiteres schon der Vorgang des Wahrnehmens
-alles Wahrnehmbare je nach der Beschaffenheit des wahrnehmenden Organs,
-so daß der Wust gemischter, noch nicht entmischter Sinnesreize sofort
-von Ohr, Auge, Haut, Nase, Zunge, Verstand entmischt wird in das Neben-
-und Nacheinander dessen, was dem Ohr und dem Auge, was der Haut und
-der Nase, was der Zunge und dem Verstand angemessen ist? Ja, hat nicht
-Gotamo in eigener Person Jahrtausende vor dem deutschen Physiologen
-Johannes Müller auf seine Weise das Gesetz von den spezifischen
-Energien der Sinne vorweg geahnt und vorweg genommen, wenn er in
-einer der Reden über die Abkunft seinen Mönchen erläutert: „Durch das
-Gesicht und die Formen entsteht Bewußtsein: gerade ‚Sehbewußtsein‘
-kommt da zustande. Durch das Gehör und die Töne entsteht Bewußtsein:
-gerade ‚Hörbewußtsein‘ kommt da zustande. Durch den Geruch und
-die Düfte entsteht Bewußtsein: gerade ‚Riechbewußtsein‘ kommt da
-zustande. Durch den Geschmack und die Säfte entsteht Bewußtsein:
-gerade ‚Schmeckbewußtsein‘ kommt da zustande. Durch das Getast und
-die Tastungen entsteht Bewußtsein: gerade ‚Tastbewußtsein‘ kommt da<span class="pagenum"><a name="Seite_271" id="Seite_271">[S. 271]</a></span>
-zustande. Durch das Gedenken und die Dinge entsteht Bewußtsein: gerade
-‚Denkbewußtsein‘ kommt da zustande...“ Wie also dies vom Buddho selbst
-verkündete Gesetz von den spezifischen Energien der Sinne verleugnen
-und wie die notwendige Unterscheidung in spezifische Gegebenheiten
-des Bewußtseins selbst verleugnen? Und um es gleich von vorn herein
-zu gestehen: kaum anderswo läßt Gotamo den, der ihm nachzudenken
-strebt, so sehr im Dunkeln tappen wie gerade hier, wo er im Verfolge
-der Entstehunggeschichte des Bewußtseins eine Forderung erhebt, die
-für Menschen unerfüllbar scheint. Das Bewußtsein stammt aus der
-Unterscheidung, wofern jedes einzelne Sinneswerkzeug und Sinnesgebiet
-ausschließlich jene Reize der Aufnahme und Verarbeitung zuführt,
-auf welche es seinerseit abgestimmt ist und welche es ihrerseit
-wiederum auf sich selber abstimmt. Wie aber unter diesen Umständen
-die Unterscheidung meiden, die unter dem Zwang leiblich-geistiger
-Beschaffenheit getroffen wird? Wie die Zerlegung der Einen Wirklichkeit
-in zahllose Eindrücke und Erscheinungen umgehen, die doch unmittelbar
-mit dem Arbeitvorgang der Sinne als solche zum Vollzug gelangt?</p>
-
-<p>Kaum eine allerschwächste Spur verrät die Richtung, welche die Absicht
-des Buddho hier genommen hat; kaum eine allerschwächste Spur den Weg,
-den hier sein sonst so köstlich unbeirrter Wille einschlug. Aber
-wenn diese Spur auch wirklich fast verweht erscheint im Flugsand der
-Wanderwüste ‚Zeit‘, so wird<span class="pagenum"><a name="Seite_272" id="Seite_272">[S. 272]</a></span> sie sich vielleicht für unser Auge doch
-etwas verstärken, sobald wir weiterrätselnd uns entsinnen, daß die
-Unterscheidung, aus welcher das Bewußtsein stammt und in welcher das
-Bewußtsein zu verwinden wäre, ihrerseit aus dem Nichtwissen stammt
-und unleugbar den Stempel des Nichtwissens trägt. Gotamo, der die
-Unterscheidung verwirft, die auf der Tätigkeit unserer aufnehmenden und
-verarbeitenden Erkenntniswerkzeuge beruht, verwirft die Unterscheidung,
-weil sie Nichtwissen ist. Die Unterscheidung entsteht ihm aus
-dem Nichtwissen, das Nichtwissen bedingt ihm die Unterscheidung:
-folglich steht ihm groß und unverrückbar der Zielgedanke eines
-nichtunterscheidenden Wissens im Gegensatz zu einem unterscheidenden
-Nichtwissen vor dem innern Blicke! Das mag ein überraschendes, am
-Ende sogar befremdliches Ergebnis sein, welches jedoch manches, wenn
-nicht das meiste von seiner Seltsamkeit abstreifen und verlieren
-dürfte, falls wir abermals weiterrätselnd uns entsinnen, daß eine
-ähnliche Zweiheit einander widersätzlicher Wissensauffassungen auch
-unserer abendländischen Scholastik durchaus vertraut gewesen ist. Auch
-wir abendländischen Menschen kennen seit den Enneaden des Plotinos
-ein Wissen, welches Unterscheidungen setzt und voraussetzt, Merkmal
-nach Merkmal durchläuft, Inhalt nach Inhalt durchmustert, Begriff an
-Begriff reiht, Urteil an Urteil knüpft, Schluß an Schluß kettet, &mdash;
-und ein bei weitem anderes Wissen, welches den vollen Weltgehalt zumal
-anschaut und unterschiedlos in eins sichtet. Auch wir abendländischen<span class="pagenum"><a name="Seite_273" id="Seite_273">[S. 273]</a></span>
-Menschen kennen ein durchlaufendes, aufreihendes, auseinanderfaltendes,
-aneinanderstückendes Wissen, welches unsere Scholastik diskursiv
-genannt hat, und ein ineinanderschauendes, vereinfachendes,
-zusammenfaltendes, unzerstücktes Wissen, welches unsere Scholastik
-simplex genannt hat. Und während nach europäischer Meinung das erstere
-wesentlich dem Menschen und seiner eingeschränkten Vernunft vorbehalten
-blieb, galt das letztere für göttlich. Und wenn dabei der Abendländer
-nicht so weit zu gehen wagte wie der Buddho, der das erstere Wissen
-kurzer Hand als Nichtwissen geringschätzt, ja entwertet, so hat er doch
-in seinen besten Zeiten nie einen Hehl daraus gemacht, wie unendlich
-überlegen das simplexe Wissen Gottes unserm diskursiven Wissen wäre...
-Den <i>dis-cursus</i> also hätte der gotamidische Asket, wenn anders wir mit
-abendländischen Formeln indische Auffassungen bezeichnen dürfen, nach
-besten Kräften zu überwinden, &mdash; wie alles übrigens, was der Lateiner
-mit der Silbe ‚<i>dis</i>‘ auszudrücken pflegte. Das <i>dis</i> im <i>cursus</i>
-hätte der Asket zu überwinden, um mit dieser endgültigen Überwindung
-das Nichtwissen zu überwinden, das Unterscheiden zu überwinden,
-das Bewußtsein zu überwinden, die Doppelheit Bild-und-Begriff zu
-überwinden, die Berührung zu überwinden, das Gefühl zu überwinden,
-den Durst zu überwinden, das Anhangen zu überwinden, das Werden zu
-überwinden, die Geburt zu überwinden, das Leiden zu überwinden...
-Nichtwissen überwunden habend, würde der Asket zum Wissen aufgestiegen
-sein: als Wissender aber würde er<span class="pagenum"><a name="Seite_274" id="Seite_274">[S. 274]</a></span> die Erlösung, die Errettung, die
-Entledigung bewirkt haben im Wissen. Was also, ihr Christen, ist für
-den vollkommen Erwachten und Erhabenen &mdash; das Wissen? Was also, ihr
-Christen, ist für den vollkommen Erwachten und Erhabenen das Wissen:
-was ist das Wissen nicht allein für ihn, sondern für jene ganze Welt
-des alten Indiens, die er für uns am weithin sichtlichsten vertritt?
-In der Chândogya-Upanischad ersucht der höchste jener brahmanischen
-Rischis, welche die Hymnen des Veda dichteten und sangen (wie einst
-auch die griechischen Aoiden die Epen des Homeros gedichtet und
-gesungen haben) den Kriegsgott Sanatkumâra um Belehrung. „‚Belehre
-mich, Ehrwürdiger!‘ &mdash; Mit diesen Worten nahte sich Nârada dem
-Sanatkumâra. Der sprach zu ihm: ‚Bringe nur vor, was du schon weißt,
-so werde ich dir das darüber hinaus Liegende kundmachen‘. Und jener
-sprach: ‚Ich habe, o Ehrwürdiger, gelernt den Rigveda, Yajurveda,
-Sâmaveda, den Atharvaveda als vierten, die epischen und mythologischen
-Gedichte als fünften Veda, Grammatik, Manenritual, Arithmetik,
-Mantik, Zeitrechnung, Dialektik, Politik, Götterlehre, Gebetlehre,
-Gespensterlehre, Kriegswissenschaft, Astronomie, Schlangenzauber und
-die Künste der Halbgötter; &mdash; das ist es, o Ehrwürdiger, was ich
-gelernt habe; und so bin ich, o Ehrwürdiger, zwar schriftkundig,
-aber nicht âtmankundig; denn ich habe gehört von solchen, die dir
-gleichen, daß den Kummer überwindet, wer den Âtman kennt; ich aber,
-o Ehrwürdiger, bin bekümmert; darum wollest du mich, o Herr, zu dem<span class="pagenum"><a name="Seite_275" id="Seite_275">[S. 275]</a></span>
-jenseitigen Ufer des Kummers hinüberführen!‘ &mdash; Und er sprach zu ihm:
-‚Alles, was du da studiert hast, ist nur Name (nâman). Name ist der
-Rigveda, Yajurveda, Sâmaveda, der Atharvaveda als vierter, die epischen
-und mythologischen Gedichte als fünfter Veda, Grammatik, Manenritual,
-Arithmetik, Mantik, Zeitrechnung, Dialektik, Politik, Götterlehre,
-Gebetlehre, Gespensterlehre, Kriegswissenschaft, Astronomie,
-Schlangenzauber und die Künste der Halbgötter, &mdash; das ist alles Name.
-Den Namen mögest du verehren! Wer den Namen als das Brahman verehrt, &mdash;
-soweit sich der Name erstreckt, soweit wird dem ein Umherschweifen nach
-Belieben zu teil, darum daß er den Namen als das Brahman verehrt.‘ &mdash;
-‚Gibt es, o Ehrwürdiger, ein Größeres als den Namen?‘ &mdash; ‚Wohl gibt es
-ein Größeres als den Namen.‘ &mdash; ‚Das wollest du, o Herr, mir sagen!‘
-&mdash; ‚Die Rede (<i>vâc</i>), fürwahr, ist größer als der Name‘...“ Die Rede
-ist größer als der Name: der vernünftige Wille (<i>manas</i>) aber größer
-als die Rede, fährt der Kriegsgott Sanatkumâra in seiner Erläuterung
-fort. Und wiederum ist der Entschluß (<i>samkalpa</i>) größer als der
-vernünftige Wille; der Gedanke (<i>cittam</i>) größer als der Entschluß; die
-Innenbetrachtung (<i>dhyânam</i>) größer als der Gedanke; die Erkenntnis
-(<i>vijñânam</i>) größer als die Innenbetrachtung; die Kraft (<i>balam</i>)
-größer als die Erkenntnis; die Nahrung (<i>annam</i>) größer als die
-Kraft; das Wasser (<i>âpas</i>) größer als die Nahrung; die Glut (<i>tejas</i>)
-größer als das Wasser; der Äther (<i>âkâça</i>) größer als die Glut; die
-Erinnerung (<i>smara</i>) größer als der Äther; die Hoffnung<span class="pagenum"><a name="Seite_276" id="Seite_276">[S. 276]</a></span> (<i>âçâ</i>) größer
-als die Erinnerung; das Leben (<i>prâna</i>) größer als die Hoffnung; die
-Unbeschränktheit (<i>bhûman</i>) größer als das Leben und alles übrige...</p>
-
-<p>Wir setzen hier beiseit die Wunderlichkeit in dieser sechzehnfach
-gestaffelten Führung zum ‚echten‘ Wissen, zum Brahman-Bhûman-Wissen.
-Wir setzen beiseit diesen für unser abendländisches Verständnis
-haltlosen und haltunglosen Wechsel von seelischen Grundbeschaffenheiten
-und Haupteigenschaften zu welthaften Urgegebenheiten und Urstoffen und
-wiederum von diesen zu jenen zurück, ehe über das alles die Woge der
-Allschrankenlosigkeit hinwegspült. Dies und was sonst noch hierher
-gehört, ihr Christen, lassen wir beiseit und fragen uns erst alsdann
-dringend: Was ist nach dieser heiligen Urkunde &mdash; Wissen? Und was ist
-nach dieser Urkunde Wissen &mdash; nicht? Das Wissen ist eine Emporstufung,
-Empormenschung, Emporgottung hier, ihr Christen: das ist der klare Sinn
-der Antwort, die der Kriegsgott sowohl dem fragenden Brahmanen wie dem
-fragenden Abendländer zu geben geruht. Was an Erfahrung, Forschung,
-Einsicht, Kenntnis, Urteil, Gedanke, Prüfung, Tatsache und Gesetz
-dieser Emporstufung zu dienen geeignet ist, ist Wissen. Was jedoch
-lediglich um seiner selbst betrieben wird, was der Anhäufung bloßer
-Gelehrsamkeit förderlich sein soll, das ist Wissen nicht, das ist ganz
-einfach Nichtwissen. Es kann einer alles wissen, was im Umkreis einer
-angetretenen Menschheitgesittung überhaupt zu erwerben ist, und es kann
-einer im Vollbesitz sein sämtlicher Kenntnisse auf theo<span class="pagenum"><a name="Seite_277" id="Seite_277">[S. 277]</a></span>logischem und
-kosmologischem, auf philosophischem und logischem, auf mathematischem
-und grammatischem, auf astronomischem und astrologischem, auf rituellem
-und theurgischem, auf historischem und ästhetischem, auf strategischem
-und politischem Gebiet, &mdash; und vor Gott Sanatkumâra weiß er nichts
-als die Namen und ist wie der Brahmane Nârada innig von seiner
-Unwissenheit durchdrungen. Nicht darum zwar von ihr durchdrungen, weil
-er sich überzeugt hätte von der grundsätzlichen Unvollständigkeit
-und Ergänzungbedürftigkeit des Wissens überhaupt oder gar von der
-Unzulänglichkeit und Begrenztheit der menschlichen Vernunft. Vielmehr
-darum, weil er erfahren hat, daß alles erreichbare Wissen auch bei
-massenhafter Aneignung nicht schon von sich aus den Wissenden auf einen
-würdigeren Zustand hebt. Das Wissen ist keine Tugend und ist noch
-weniger ein Heil oder das Heil. Aber es liegt im Begriff des Wissens,
-wie er hier gefaßt und vertreten wird, zur Tugend, ja zum Heil zu
-führen. „Denn ich habe gehört von solchen, die dir gleichen, daß den
-Kummer überwindet, wer den Âtman kennt, ich aber, o Ehrwürdiger, bin
-bekümmert!“... Wer also noch bekümmert ist, wer noch am Dasein krankt,
-wer seine Angst noch nicht verlernte, wer noch unterm Schicksal seufzt,
-der ist noch nicht ein Wissender geworden, selbst wenn er alles weiß.
-Wer nach Erwerb des Wissens menschlich auf der Stufe des Unwissenden
-verharrt, der zählt nicht zu den Wissenden; wer im Genuß des Wissens
-des Lebens noch nicht Rat weiß,<span class="pagenum"><a name="Seite_278" id="Seite_278">[S. 278]</a></span> der ist kein Wissender. Er gleicht
-da etwa einem Geizigen, der das Geld sammelt, aber nicht in Umlauf
-setzt. Oder einem Kranken, der die Arznei schluckt, aber nicht an ihr
-genest. Oder einem Zecher, der den Wein schlürft, aber durch ihn nicht
-fröhlicher wird. Ob mithin wirklich einer wisse oder nicht wisse, das
-hängt davon ab, in welchen Zustand ihn das Wissen brachte. Wie das Geld
-erworben wird, um umgesetzt zu werden, wie die Arznei genommen wird,
-um Gesundheit zu bringen, wie der Wein getrunken wird, um sorgenfrei
-zu machen, so soll das Wissen gewußt werden, um den Wissenden als eine
-menschliche Steigerung und Erhöhung des Unwissenden zu verwirklichen.
-Und diese Auffassung des Wissens ist eine so eingefleischt indische,
-daß es beinahe gleichgültig ist, ob das Gespräch zwischen Nârada
-und Sanatkumâra in den Upanischaden aufgezeichnet steht oder in den
-Reden Gotamo Buddhos: es könnte ebensogut hier geschrieben stehen,
-als es in der Tat dort geschrieben steht. Unter allen Umständen
-hätte der Buddho dem Frager dem Sinne nach dieselbe Antwort gegeben
-wie der vedische Kriegsgott, auch wenn er selbstverständlich die
-Aufwärtsstufung im einzelnen beträchtlich anders geführt hätte und
-wirklich auch anders geführt hat. Bewährt sich doch auch ihm im
-Gegensatz zum Nichtwissen das Wissen nur dadurch, daß es das Leiden
-verwindet und dem Wissenden das lösende Wort zu sprechen gestattet:
-„Nicht mehr, o Ehrwürdiger, bin ich bekümmert!“... Und so gehört es
-zu den unwiderleglichen Zeugnissen<span class="pagenum"><a name="Seite_279" id="Seite_279">[S. 279]</a></span> der tiefgewurzelten Einheit und
-Einheitlichkeit aller indischen Religionen, daß ihnen im wesentlichen
-die Leistung des Wissens stets die nämliche und gleiche bleibt. Wo
-das Wissen nicht zur Erlösung aufsteigen läßt, hat es seinen wahren
-Zweck verfehlt, der im Gegensatz zu unserer abendländischen Auffassung
-nicht das Wissen selbst ist, sondern die Beschaffenheit und der Rang
-des Wissenden. Wir Europäer haben ja mit der Gebärde unwillkürlicher
-und darum auch untrügerischer Selbstoffenbarung über unser Wissen das
-Wort gesprochen: Wissen ist Macht, Wissen ist Bewältigung, Wissen ist
-Beherrschung, &mdash; aber wohlbemerkt nicht unserer selbst, sondern der
-Natur! Mit einer nicht minder offenbarenden Geste hat der gotamidische
-und der vedische Mensch, und das ist in manchem Betracht schon fast
-der asiatische Mensch, das Gegenwort verlautbart: Wissen ist Erlösung,
-Wissen ist Errettung, Wissen ist Überwindung, &mdash; aber nicht der Natur,
-sondern unserer selbst! Diese Einstellung ist eine gesamtindische und
-bringt sich der europäischen Einstellung gegenüber mit einer ebenso
-großartigen wie eintönigen Strenge zur unbedingten Geltung. Und wenn
-Indien bis zu dieser Stunde von dem unmenschlichen Bruderzwist zwischen
-Religion und Philosophie, zwischen Glauben und Wissen, zwischen Kirche
-und Schule, zwischen Weisheit und Wissenschaft, zwischen Erziehung
-und Unterricht, zwischen Bildung und Gelehrsamkeit, zwischen Seele
-und Geist, zwischen Geistigkeit und Geistlichkeit verschont geblieben
-ist, dann verdankt es diese<span class="pagenum"><a name="Seite_280" id="Seite_280">[S. 280]</a></span> höchste Gunst und Gnade nicht zum
-wenigsten seiner Auffassung vom Wissen, die für solche Zuspitzungen,
-Gegensetzungen, Ausschließungen keinen Vorwand liefert. Wie nach
-des Buddho geflügelter Redeformel ‚im Erlösten die Erlösung ist‘,
-&mdash; ‚ψυχὴ οἰκητήριον δαίμονος‘ heißt es gleichsinnig bei
-Demokritos von Abdera! &mdash; so ist im Wissenden das Wissen, dient es dem
-Wissenden, fördert es den Wissenden, bringt es Heil dem Wissenden.</p>
-
-<p>In dem Gespräch zwischen Nârada und Sanatkumâra ist das Sanskritwort
-‚<i>dhyânam</i>‘ gefallen, welches ich etwas eigenmächtig mit
-‚Innenbetrachtung‘ wiederzugeben mich erdreistet habe, indes es von
-Deussen unverbindlicher mit ‚Sinnen‘ verdeutscht wird. Wohlan denn!
-Dieses <i>dhyânam</i>, das unter den sechzehn Staffeln des Wissens eine
-einzige bedeutet und bezeichnet, die zwischen Gedanke (<i>cittam</i>) und
-Erkenntnis (<i>vijñânam</i>) ihre Stelle hat, &mdash; dieses <i>dhyânam</i> umspannt
-dem Buddho geradezu alles wesenhafte Wissen selber, wofern es in
-Wahrheit dem Wissenden die Erlösung bringt. Dieses <i>dhyânam</i>, nur
-wenig abweichend <i>jhânam</i> in der Mundart des Pâli lautend, erschöpft
-in sich genau die Emporstufung des Wissens, die der Wissende in sich
-vollziehen muß. <i>Jhânam</i>, das ist die erlernte und geübte Fähigkeit
-der Seele, sich ohne Ablenkung auf sich selbst zu sammeln, in sich
-selbst hineinzusenken, unter sich selbst hinabzutauchen, sich in sich
-selbst zu verankern, in sich selbst zu feiern, in sich selbst zu
-andächtigen, sich in sich selbst zu einigen... Wie der römische Augur
-auf<span class="pagenum"><a name="Seite_281" id="Seite_281">[S. 281]</a></span> der grenzenlosen Erdfläche sich ein Viereck herausschnitt, welches
-er bei seiner vorsätzlichen Auskundung der Götterzeichen betrat und
-<i>templum</i> nannte; wie derselbe Augur nicht allein aus dieser Erde,
-sondern obendrein aus dem unendlichen Himmel mit seinem Krummstab
-ein Stück abermals als das <i>templum</i> herausschnitt, innerhalb dessen
-Gottes Blitz und Donner recht eigentlich erst gelten sollte, &mdash; so
-schneidet Gotamo aus der unbegrenzbaren Erden- und Himmelsfülle aller
-Wißbarkeiten und Gewißheiten einen heiligen Bezirk heraus, um darin
-jenes Wissen, welches allein not tut, gleichsam zum Vollzug zu bringen.
-Von dem <i>templum</i> römischer Auguren leitet sich sprachlich das Zeitwort
-<i>contemplari</i> her, welches somit in seinem ursprünglichen Sinn nichts
-anderes bedeutet als „den heiligen Bezirk auf der Erde und am Himmel
-mit dem Blick einfassen“, &mdash; welches somit in seinem ursprünglichen
-Sinn nichts anderes bedeutet als eben diese Tätigkeit, welche sich der
-Buddho als das <i>jhânam</i> angelegen sein läßt: nur anstatt nach außen
-streng nach innen hin gewendet. Mit dem Blick einfassen den heiligen
-Bezirk, der sich hier zwar nicht am Himmel oder auf der Erde, aber
-in der Seele selbst befindet, und den jeder in sich selbst als sein
-eigener Zeichendeuter abzustecken fähig ist, das heißt das <i>jhânam</i>
-üben, heißt Andacht, Versenkung, Einkehr bewirken. So verstanden war es
-schließlich mehr als ein purer Zufall, wenn europäische Gelehrte das
-buddhistische <i>jhânam</i> nicht selten mit der lateinischen <i>contemplatio</i>
-übersetzten. Denn diese Römer, von<span class="pagenum"><a name="Seite_282" id="Seite_282">[S. 282]</a></span> sämtlichen bekannten Völkern des
-sogenannten Altertums die ärmlichsten an Religion und dennoch das
-Wort <i>religio</i> prägend („<i>Vinculo pietatis obstricti Deo et religati
-sumus, unde ipsa religio nomen accepit</i>“), &mdash; sie prägen auch den
-Sprachausdruck <i>contemplatio</i>, obschon von sämtlichen bekannten
-Völkern des Altertums am wenigsten mit der Neigung zu dieser irgendwie
-behaftet. Was alsdann bei ihnen nach auswärts gerichtet <i>contemplatio</i>
-heißt, ist im Buddhismus nach einwärts gerichtet <i>jhânam</i>, und wie
-jenes <i>templum</i> in seiner Ausdehnung durch vier sich schneidende Gerade
-bestimmt wird, ist das <i>jhânam</i> in seiner Hinaufstufung durch vier
-ansteigende Grade bestimmt. Vier Grade oder Weihen innerlicher Schauung
-gibt es, ja vier Schauungen oder <i>jhânâni</i> selber gibt es, die in den
-Reden stets mit derselben formelhaften Wendung wiederkehren: in den
-berühmten vier <i>jhânâni</i> staffelt der Buddho das Wissen in die Höhe,
-welches zuletzt mit der Erlösung eins ist.</p>
-
-<p>Noch liegt bei dem ersten <i>jhânam</i> aller Nachdruck darauf, daß
-jene oben erörterte Bemeisterung des Vorstellungablaufs wirklich
-erworben werde. Alles kommt auf die zielbewußt geübte Handhabung der
-auftauchenden und versinkenden Bewußtseinsinhalte an, so zwar, daß
-eine Absonderung, Entfernung, Loslösung, Verabseitigung, Abriegelung
-von allen Gegebenheiten des Erlebens geschieht, die dem Heil
-hinderlich sein könnten. In einer Art von sehr tätigem, sehr wachsamem
-Vergessenkönnen besteht dieser erste Grad der Selbstvertiefung, welcher
-den Zustand des Nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_283" id="Seite_283">[S. 283]</a></span>wissens, Nochnichtwissens allmählich in den des
-Wissens überleiten soll. Der andachtsame Mönch wirft einen hohen Wall
-um sich und zieht einen breiten Graben um sich, die beide ihn wie eine
-Festung von der unbehüteten Außenwelt abschließen und vor feindlichen
-Überrumpelungen bewahren sollen. In dieser Festung widmet er sich dann,
-ungestört durch allfallsige Eindrücke oder Empfindungen, die ihn von
-außen her zu beschäftigen oder gar zu überwältigen drohen, dem Sinnen
-und Gedenken, dem Erwägen und Ermessen, dem Betrachten und Überlegen
-aller der Gewißheiten, die ihm die heilige Lehre gewährt. Was ihm nicht
-angehören darf, wirft er über diesen Wall, wie ein Gärtner etwa einen
-Glasscherben über die Gartenmauer wirft, auf den sein Spaten beim
-Umstechen des Bodens gestoßen ist. Was ihm den Frieden stört, was sein
-Gemüt bedrückt, was seine Heiterkeit trübt, das ersäuft er in diesem
-Graben, wie ein Kind etwa einen Sack voll frischgeworfener Katzen im
-Bach ersäuft, die nicht aufgezogen werden können. ‚Geboren aus der
-Abgeschiedenheit‘, verdeutscht ein zeitgenössischer Gelehrter mit
-verständlicher (und verständiger) Anspielung auf die Mystik Eckharts
-den Ausdruck <i>vivekajam</i> in den heiligen Texten, &mdash; ausnahmweis,
-wie mich bedünkt, ein wenig sinnfälliger und sprechender noch wie
-Karl Eugen Neumann, der dafür das mattere ‚ruhegeboren‘ hat. Geboren
-aus der Abgeschiedenheit, will sagen geboren aus der Abscheidung
-und Abstreifung aller seelischen und körperlichen Fesseln ist das
-erste <i>jhânam</i>, welches den Nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_284" id="Seite_284">[S. 284]</a></span>wissenden zum Wissenden befördert
-und alsbald durch eine Anstrengung geringeren Grades ins zweite
-<i>jhânam</i> überführt. Denn diese Abscheidung und Abstreifung einmal
-vollzogen habend, braucht der Andachtwillige von jetzt an weniger
-darauf gerichtet zu sein, das Unheilsame vom Raum des Bewußtseins
-fernzuhalten, als vielmehr den jetzt errungenen Zustand zu genießen.
-Hat sich der Mönch die erste Weihe selber durch andauernde Übungen
-abgezwungen, hat er den Vorstellungablauf völlig in seiner Gewalt
-und vermag er mit höchster Sammlung bei den Heilsgewißheiten der
-Lehre zu verweilen, so entläßt er nun, der zweiten Weihe mächtig,
-sämtliche Erwägungen dieser Art, etwa wie ein Gebieter und Fürst
-seine Beauftragten entläßt, deren Dienste er weiter nicht benötigt.
-Herr und Herrscher nunmehr im Haus seiner Triebe und Begierden,
-Herr und Herrscher sogar über alle Wahrnehmungen und Vorstellungen,
-Denkinhalte und Erkenntnisvorgänge, stimmt er ganz rein mit sich
-selber überein. Wie wenn zwei feindliche Heere, die einander mit
-Erbitterung und Haß bekämpfen, indes ihre Häupter doch schon über
-Waffenstillstand und Frieden verhandeln, plötzlich verständigt werden
-von der Unterschreibung der Verträge, und jetzt eine erschütternde
-Kampf- und Feuerpause eintritt zur unermeßlichen Freude aller: so
-kehrt hier im Innern des hart streitenden Mönchs der Friede mit ihm
-selber ein zu seiner unermeßlichen Besäligung. Jene Meeresglätte und
-Windstille der Seele auf großer Fahrt nach schauerlichen Stürmen stellt
-sich ein, die sogar dem<span class="pagenum"><a name="Seite_285" id="Seite_285">[S. 285]</a></span> seelenfremden Abendländer seit dem
-γαλενισμός des großen Demokritos und des kleineren Epikurios nicht
-völlig unbekannt sein dürfte, &mdash; wenigstens geschichtlich nicht. Aus
-der Einigung mit sich selbst geboren, ja in der Einigung mit sich
-selbst geboren, wie Neumann übersetzt, ist die zweite Schauung der vier
-<i>jhânâni</i>, welche den Andächtigen in den Genuß mühsälig erkämpfter
-Güter setzt. Ein reifes, sattes, reiches Säligkeitgefühl beginnt von
-da an wie von der Mitte des Gemütes her den Körper des Andächtigen in
-linden Wellen zu durchströmen und ohne Rest gleichsam zu durchsüßen,
-ähnlich wie eine Flüssigkeit von einem aufgelösten Stückchen Zucker
-ohne Rest durchsüßt wird. Die erstrittene Ruhe wird nicht mehr, wie
-noch kurz vorher, als Ausgleich und Entspannung vorangegangener
-Spannungen empfunden, sondern als der selbstverständliche, angemessene
-und würdige Urstand des Daseins. Wie die heftigen Stöße des stampfenden
-und zuckenden Herzens in dem feinröhrigen Adergeflecht des Blutes
-mählig zu kaum spürbaren Pulsen sanft verebben, so verebbt dann
-das klingende Gefühl der Besäligung der zweiten Schauung in der
-dritten zum unbewegten Gleichmut. „Der gleichmütig Einsichtige lebt
-beglückt“, &mdash; er lebt beglückt im Gleichmut seiner Einsicht und
-Besonnenheit, im Gleichmut seiner Einigung und Stillung. Bis dann nach
-Durchlebnis der drei <i>jhânâni</i> das vierte <i>jhânam</i> von ihnen sich
-dadurch auszeichnet, daß es vollkommen befreit erscheint von jeder
-Gefühlsbetontheit, und sei sie auch die leiseste, nach der Lust- oder<span class="pagenum"><a name="Seite_286" id="Seite_286">[S. 286]</a></span>
-Unlustseite hin. Was bisher der Andächtige etwa noch als Beglückung,
-Aufheiterung, Besäligung genossen hat, ja was ihn möglicherweis dazu
-verleitete, das wesentliche Ziel seiner Selbstvertiefung in solchen
-Lustgefühlen zu vermuten, &mdash; das alles muß in diesem vierten <i>jhânam</i>
-auf Nimmerwiedersehn und bis auf die letzte Spur verschwinden. „Das
-aber nenn’ ich, Udâyî, unzulänglich, und sage ‚Verwerft es‘, sage
-‚Überwindet es‘“... Begleitende Gefühle lustvoller oder leidvoller
-Tönung und Beschaffenheit werden hier nicht länger geduldet und die
-Seelenzone des Gefühls wird überquert und überschritten. Wie ein
-Hochgebirgserkletterer am Fuß der Alpen noch in den Wäldern der
-benachbarten Ebene rüstig dahin wandert, dann aber in einen Gürtel
-hineingerät von nur noch zwerghaftem und verkrüppeltem Baumwuchs,
-schließlich inmitten eine halbe Wüste gelangt von baumlosen Matten
-und mit allerlei Buschwerk, Strauchwerk inselhaft bestanden, zuletzt
-aber, nachdem er einen mit vielerlei Geröll bestreuten Moos- und
-Flechtenteppich überturnt hat, auf nackten Gletschern und an kahlem
-Firn mühsam hinaufstrebt und die wirtliche Breite pflanzlichen
-Wachstums hinter sich und unter sich läßt, &mdash; also läßt der Mönch
-der vierten Weihe die Welt der Gefühle hinter und unter sich. Aug’
-in Auge mit ihm selber und vielleicht nicht einmal mehr mit ihm
-selber, sondern mit einem unsäglichen und nicht zu benennenden Etwas,
-verweilt er ohne Freude und Leid, ohne Frohsinn und Trübsinn, ohne
-Wonne und Schmerz. Denn wo solche<span class="pagenum"><a name="Seite_287" id="Seite_287">[S. 287]</a></span> Gefühle entstehen, entstehen
-sie als Rückäußerungen des Gemüts auf die ständige Wechselwirkung
-zwischen Ich und Nichtich, zwischen Selbst und Welt, zwischen Seele
-und Wirklichkeit, zwischen Bewußtsein und Sein, zwischen Bedürfnis
-und Erfüllung, zwischen Forderung und Leistung. Das <i>templum</i> dieser
-Wechselwirkung aber, wo der Austausch zwischen der Persönlichkeit
-und ihrer Umwelt stattzufinden pflegt, ist jetzt geräumt und das
-<i>templum</i> vollkommener In-sich-Beharrung feierlich betreten. Längst
-dringen von der Außenwelt keine Reize mehr über die Schwelle, deren
-Wert und Größe vom selbstvertieften Mönch gleichsam selbsttätig
-auf Unendlich erhöht ward, damit ein Zustrom von außen nach innen
-überhaupt nicht mehr stattfände. In einer höchsten Anspannung des
-Gemütes sperrt der Mönch alle die Zeichengebungen und Meldungen und
-Botschaften, die sonst von sämtlichen Wesen der Welt grundsätzlich an
-sämtliche Wesen der Welt ergehen, und er selbst gleicht einer Station
-für Funkspruch, die zwar einen vorzüglich wirksamen Sender aufweist,
-aber des Empfängers entbehrt. Drum also ist das <i>templum</i>, sag’ ich,
-einer unerbetenen Empfängerschaft von Eindrücken aus der Wirklichkeit,
-durch welche vielleicht schlummernde Gefühle aufgeschreckt und in
-fiebrige Bewegung gesetzt werden könnte, von jetzt an geräumt und das
-<i>templum</i> regloser Seelenstarre friedlich betreten: das <i>templum</i>, wo
-der Mönch sein eigen Stand- und Steinbild, so er in Vollkommenheit
-von sich gemeißelt, still verehrt... Und wie unsere transzendentale<span class="pagenum"><a name="Seite_288" id="Seite_288">[S. 288]</a></span>
-Philosophie nach dem Vorgang Kants die Vernunft ‚rein‘ genannt hat,
-wofern sie sich unbeeinflußt durch äußerliche Reize selbst bestimmt
-und selbst Gesetze auferlegt, so nennt der Buddho den Andächtigen
-dieser vierten Schauung ‚rein‘, wofern er sich von allem Anders-Sein
-unberührt und ungerührt, unversehrt und unverstört, unbenetzt und
-unbespritzt zu halten und erhalten weiß, &mdash; nunmehr in eigener Person
-nicht zwar geradezu ‚reine Vernunft‘ geworden, aber immerhin ein
-reines erkennendes und wissendes Vermögen und Verhalten geworden.
-Denn was geschah nun eigentlich, ihr Christen? Was geschah mit dieser
-unendlich schwer zu vollbringenden, aber schlechthin unerläßlichen
-Emporstufung zu den vier gotamidischen <i>jhânâni</i>? Die Erzeugung und
-Hervorbildung eines neuartigen und vorher noch nicht vorhandenen
-Organon geschah, ihr Christen. Die Erzeugung und Hervorbildung eines
-Werkzeuges, welches der Buddho unbedingt für notwendig erachtet,
-um Nichtwissen endgültig in Wissen überzuführen. Durch die stätig
-vervollkommnete Übung der vier Stufen der Selbstversenkung trachtet
-der Buddho ein erkennendes Vermögen, ja geradezu einen ‚Sinn‘ zu
-erschaffen, der imstand wäre, dasjenige Wissen zu erwerben, welches
-ihm vor allem andern Wissen heilsam zu sein scheint. In demselben Maße
-nämlich, als der Mönch sich in sich selbst vertiefend die Quellen jener
-äußeren Erfahrung verstopft, aus denen wir Abendländer fast unser
-gesamtes Wissen und sicherlich unsere gesamte Wissenschaft zu schöpfen
-pflegen, &mdash; in eben dem Maß beginnen sich ihm ver<span class="pagenum"><a name="Seite_289" id="Seite_289">[S. 289]</a></span>borgene Quellen
-zu erschließen, deren sehr fernes, raunendes Gemurmel sein ungemein
-geschärftes Ohr näher bald und näher vernimmt. Wer in der vierfachen
-Selbstvertiefung stark geworden ist, hat tatsächlich einen neuen Sinn
-derart gehärtet und gestählt, daß er wie ein Bohrer in den Händen eines
-Gesteinkundigen vortrefflich gebraucht werden kann, eine unterirdische
-Ader metallreicher Erze nach der andern genau an der richtigen Stelle
-anzubohren. Wissend geworden in sich selber und von sich selber,
-dann aber durch dieses Wissen irgendwie höherer Mensch geworden,
-Selbstbefreier, Selbsterretter, Selbsterlöser, vermag dieser Mönch
-vor allen Dingen &mdash; sich zu erinnern. Erlösendes und erlöstes Wissen
-ist auch hier (und hier erst recht) Erinnerung: in dieser allgemeinen
-Formel begegnet sich Gotamo wirklich mit den tiefsten Einsichten der
-europäischen Philosophie von Platon bis auf Bergson, &mdash; vorausgesetzt,
-daß diese tiefste Einsicht nicht auf irgendwelchen Umwegen dem
-mittelmeerbefahrenden, mittelmeerabenteuernden Platon aus dem Osten
-zugetragen worden ist. Das Wissen also ist Erinnerung, und zwar
-Erinnerung im Unterschied und Gegensatz zum bloßen Gedächtnis durchaus
-zu verstehen als ἀνάμνησις etwa im Unterschied und Gegensatz
-zur bloßen μνήμη, oder als <i>souvenir-image</i> im Unterschied
-und Gegensatz zur bloßen <i>mémoire</i>. Der höhere Mensch erinnert sich,
-der höhere Mensch vermag sich zu erinnern! Wenn kürzlich noch bei
-uns Europäern ein Denker immerhin von dem Rang Weiningers diese
-mehr wie rätselhafte<span class="pagenum"><a name="Seite_290" id="Seite_290">[S. 290]</a></span> Fähigkeit der Seele, Gewesenes als daseiend,
-Vergangenes als gegenwärtig nach Belieben gleichsam zu wiederholen oder
-zutreffender vielleicht noch ‚wieder zu holen‘, schlechterdings als
-Merkmal und Kennzeichen überhaupt des höheren Menschen namhaft macht:
-dann bekräftigt, dann bestätigt er auf seine Weise nur, was für den
-Buddho von jeher unerschütterlich feststand. Nach Weininger ist es
-gleichsam die Gnade des höheren Menschen, sich erinnern zu können, und
-zwar sich erinnern zu können im wesentlichen seines eigenen Selbst,
-seines eigenen Erlebens. Der höhere Mensch lebt und hat gelebt, nicht
-um zu vergessen, sondern um bei beliebigen Anlässen die Bilder dieses
-Lebens in aller urwüchsigen Frische und Sinnfälligkeit gleichsam
-aus dem Schlaf zu rütteln. Derart sich jederzeit zu erinnern wissen
-der eigenen Lebensalter und Lebensstufen, der vollen und leeren
-Augenblicke, der wichtigen und nichtigen Begebenheiten, der Taten und
-der Leiden, der Genüsse und der Schmerzen; derart die schöpferische
-Neuvergegenwärtigung, Wiederverlebendigung vergangenen Geschehens
-willkürlich betreiben zu können: das hieße nach Otto Weiningers
-Dafürhalten menschlich vor anderen Menschen minderer Erinnerlichkeit
-als ‚bedeutend‘ hervorragen... Der mit Erinnerung Begnadete ist
-‚genialisch‘, und just diese ungewöhnliche Auffassung begegnet sich
-mit der tiefsten Selbsterfahrung, die Gotamo mit sich machte. Daß der
-Asket sich aller seiner Lebensumstände bis in die geringste Einzelheit
-hinein aufs lebhafteste und un<span class="pagenum"><a name="Seite_291" id="Seite_291">[S. 291]</a></span>trüglichste erinnere, das ist der
-erste, vollwichtige Ertrag der vier <i>jhânâni</i>, &mdash; das ist das erste
-gewissermaßen ‚heilige‘ Wissen. Indischer Denk- und Betrachtungweise
-gemäß kann dies freilich nichts anderes besagen wollen, als daß eben
-der Asket Erinnerung erworben, Erinnerung erbohrt habe an seine
-sämtlichen ehemaligen Verkörperungen und Lebensläufe, die er je und je
-durchlitten. „Solchen Gemütes, innig, geläutert, gesäubert, gediegen,
-schlackengeklärt, geschmeidig, biegsam, fest, unversehrbar, richtet
-er das Gemüt auf die erinnernde Erkenntnis früherer Daseinsformen. So
-kann er sich an manche Daseinsform erinnern, als wie an ein Leben,
-dann an zwei Leben, dann an drei Leben, dann an vier Leben, dann an
-fünf Leben, dann an zehn Leben, dann an zwanzig Leben, dann an dreißig
-Leben, dann an vierzig Leben, dann an fünfzig Leben, dann an hundert
-Leben, dann an tausend Leben, dann an hunderttausend Leben, dann an
-die Zeiten während mancher Weltenentstehungen, dann an die Zeiten
-während mancher Weltenvergehungen, dann an die Zeiten während mancher
-Weltenentstehungen-Weltenvergehungen. ‚Dort war ich, jenen Namen hatte
-ich, jener Familie gehörte ich an, das war mein Stand, das mein Beruf,
-solches Wohl und Wehe habe ich erfahren, so war mein Lebensende; dort
-verschieden trat ich anderswo wieder ins Dasein: da war ich nun,
-diesen Namen hatte ich, dieser Familie gehörte ich an, dies war mein
-Stand, dies mein Beruf, solches Wohl und Wehe habe ich erfahren, so
-war mein Lebensende; da verschieden<span class="pagenum"><a name="Seite_292" id="Seite_292">[S. 292]</a></span> trat ich wieder ins Dasein‘: so
-erinnert er sich mancher verschiedenen früheren Daseinsform, mit je den
-eigentümlichen Merkmalen, mit je den eigentümlichen Beziehungen.“</p>
-
-<p>Nach Begängnis der vier <i>jhânâni</i> weiß also der Mönch sich zu erinnern
-an jeden Urstand, jeden Umstand seines Lebens in allen Verkörperungen.
-Diese Gnade des Erinnerns ist der Gewinn geübter Selbstvertiefung,
-ist der Gewinn des nunmehr Geweihten, Bewährten, Wissenden. Und
-diese nicht zu überbietende Einschätzung der Erinnerung ist nicht
-etwa als eine bloße Eigenheit oder gar eine Schrulle des Buddho
-zu betrachten, sondern gehört offenbar dem geistigen Stammbesitz
-indischer Wertungen überhaupt an. Auch in der Bhagavad-Gîtâ ist es
-die Gabe der Erinnerung, welche den göttlichen Vorzug des <i>bhagavân</i>
-Krischna ausmacht. Eine sicherlich uralte Auffassung, die eben im
-Krischna-Mythos selbst eine überaus sinnige Darstellung gefunden
-hat. So wenn berichtet wird, daß der blonde Gott im Garten seiner
-Gattin Satyabhâmâ den himmlischen Korallenbaum gepflanzt habe, den
-er einstmals als Kampfpreis davongetragen hatte: „einen Baum, dessen
-tiefrote Blüten viele Meilen in der Runde ihren Duft verbreiten. Wer
-aber von diesem Duft eingesogen, der erinnert sich in seinem Herzen
-langer, langer Vergangenheit, längst entschwundener Zeiten, in früheren
-Leben.“ Auf eine sehr erfahrene Art, welche insonderheit die große
-Bedeutsamkeit der Gerüche für die Erinnerung durchaus erfaßt zu haben
-scheint,<span class="pagenum"><a name="Seite_293" id="Seite_293">[S. 293]</a></span> wird hier die Fähigkeit der Wiedervergegenwärtigung bereits
-verklungenen Geschehens im Bewußtsein als ein Geschenk des Lebens-
-und Erkenntnisbaumes an den Menschen versinnbildlicht: wobei übrigens
-im Unterschied zum Alten Testament noch beide Bäume eines Stammes,
-einer Wurzel, einer Krone sind... Erinnerung gewinnen, das geht mithin
-schon sehr weit in die göttlichsten Vorrechte der Himmlischen hinein.
-Und wiederum: Erinnerung verlieren, gilt als Verlust von kaum zu
-ermessender Härte und Schwere, &mdash; was sich besonders der europäische
-Leser der Sakontalâ gesagt sein lassen möge, wenn anders er den
-Fluch der Erinnerunglosigkeit wirklich erfühlen will, der hier den
-liebenden König Duschyanta trifft... Indes der Grieche Lethe trinkt,
-saugt der Inder den Duft des himmlischen Wunsch- und Weltbaumes ein;
-dem einen gilt Vergessen und dem anderen Erinnerung als die höchste
-Wohltat. Und sogar der Pessimist Gotamo ist so wenig Grieche und so
-sehr Sohn seines heimischen Weltteils, daß auch er Erinnerung statt
-Vergessenheit wählt. Zwar vermögen wir ihm leider ja (es sei denn,
-daß wir Anthroposophen sind!) in der Art und Weise nicht zu folgen,
-wie er mit Asketen die Erinnerungen aufsteigen läßt an hundert Leben,
-tausend Leben, hunderttausend Leben zwischen Weltenentstehungen und
-Weltenvergehungen. Denn uns selbst pflegt hier jedwede brauchbare
-Erfahrung zu mangeln und schon darum steht es uns nicht frei, dem
-Buddho billigend zu folgen oder mißbilligend die Nachfolge zu
-ver<span class="pagenum"><a name="Seite_294" id="Seite_294">[S. 294]</a></span>weigern. In einem aber, deucht mich, hat er auch jetzt wieder den
-Sachverhalt der Erinnerung geradezu ins Herz getroffen: Erinnerung
-ist, wie wir sie auch deuten mögen, eine Vervielfältigung dessen,
-der sich zu erinnern vermag, &mdash; und in dieser Rücksicht freilich die
-Häufung zahlloser Lebensstufen in diesem jetzigen und einmaligen
-Leben. Vervielfältigt um die unausdenkliche Zahl seiner Ahnen und
-Urahnen ist in Wahrheit das erinnernde Einzelwesen, wenn wir,
-Erinnerung im Sinn unserer europäischen Naturerkenntnis (und damit
-allerdings eher doch als μνήμη wie als ἀνάμνησις,
-eher doch als <i>mémoire</i> wie als <i>souvenir-image</i>, eher doch als
-Gedächtnis wie als Erinnerung) nehmend, unter ihr zum Beispiel alle
-sogenannten Dispositionen oder Instinkte verstehen dürfen, welche jeden
-lebendigen Vertreter seiner Art um sämtliche erworbenen Anlagen und
-Geschicklichkeiten seiner Art bereichert zeigen. Denn im Kerngerüst
-der unsterblichen Keimzelle samt ihren Vererbungträgern lebt ja
-doch das Leben aller Eltern und Vorfahren genau so fort wie in der
-Grundrichtung der angeborenen Triebe, &mdash; und fort mit ihrem Leben
-leben ihre Werke und Taten, ihre Gesinnung und Zielstrebigkeit, ihre
-Erfahrungen und Listen, ihre Verteidigungmittel und Angriffwerkzeuge,
-ihre Weisheit und Vorsicht, ihre Tugenden und Laster. Und ebenfalls
-vervielfältigt um die unausrechenbare Zahl seiner Ahnen und Urahnen
-ist das erinnernde Einzelwesen, wenn wir, Erinnerung etwa im Sinn des
-biogenetischen Grundgesetzes nehmend, unter ihr die<span class="pagenum"><a name="Seite_295" id="Seite_295">[S. 295]</a></span> (abkürzende)
-Wiederholung der Verkörperung- und Erscheinungformen verstehen wollen,
-welche der Keim während seines Wachstums vom befruchteten Ei bis zum
-fertigen Geschöpf zu durchlaufen pflegt in Nachahmung der Verkörperung-
-und Erscheinungformen des ganzen Stammes: in den Kiemen einer
-menschlichen Frucht oder in ihrem Stummelschwänzchen blitzt sozusagen
-eine Erinnerung auf an Echse, Fisch und Säugetier und mit ihr ein
-gestalthaftes Gedenken an so manche Weltenentstehung, Weltenvergehung
-zwischen Trias, Jura und Alluvium, zwischen Kalkstein, Malm und
-Schlick; &mdash; derart sehn wir noch unseren Menschenleib (wie ich schon
-sagte) dem Totemismus huldigen, auch wenn von ihm der Menschengeist
-schon längst nichts mehr wissen sollte. Und abermals und letztmals
-vervielfältigt um die unnennbare Zahl seiner Ahnen und Urahnen ist das
-erinnernde Einzelwesen, wenn wir Erinnerung endlich nehmen im Sinn der
-forschenden und dichtenden Geschichte (und jetzt allerdings wirklich
-als <i>souvenir-image</i>, jetzt wirklich als ἀνάμνησις) und
-unter ihr jenes künstlich-künstlerische Nacherleben in der Einbildung
-verstehen, welches uns Spätlinge in allen Jahrtausenden der Völker und
-der Helden geistig Wurzel schlagen läßt: denn wo immer auch Geschichte
-als Wissenschaft oder Kunst, als Forschung oder Dichtung ernsthaft
-betrieben ward, entsprang sie nach vorwärts gerichtet zwar dem starken
-Wunsche nach Unsterblichkeit des Sterblichen, nach rückwärts gerichtet
-jedoch dem nur wenig schwächeren Wunsch,<span class="pagenum"><a name="Seite_296" id="Seite_296">[S. 296]</a></span> sich um die volle Zahl
-womöglich aller dagewesenen Werk- und Werteschöpfer menschheitlich zu
-vermehren; &mdash; hundertseelig, tausendseelig, hunderttausendseelig möchte
-der geschichtlich fühlende Mensch werden, ganz wie der Buddho sagt und
-tut, ganz wie der Buddho sagt und tut. Ist doch zuletzt in Wahrheit
-alles, was irgend da war, wir selbst, wenn wir es recht verstehen
-wollen, und wo Völker und Helden untergingen, machten sie sich nur von
-der dummen Einmaligkeit der Zeitlichkeit frei, um für immer in das
-Wissen der Erinnerung einzugehen...</p>
-
-<p>Das erste Wissen, vom Vollzug der vier <i>jhânâni</i> erwirkt, heißt
-also Erinnerung und bemächtigt sich der früheren Daseinsformen und
-Lebensstufen. Das zweite Wissen aber &mdash; „drei Wissen weiß der Asket
-Gotamo!“ &mdash; folgt unmittelbar aus dem ersten, ja fällt nach der
-Denkweise des Buddho sogar geradezu mit dem ersten mehr oder weniger
-restlos zusammen. Wo der Erinnernde nämlich die Selbstverkörperungen
-ins Bewußtsein hebt und die Folge seiner eigenen Geburten aufsteigen
-und verschwinden sieht, da sieht er sie aufsteigen und verschwinden
-nach dem Gesetz vom Karman. Der Wiederkünfte sich entsinnen und sich
-des Gesetzes der Wiederkünfte entsinnen, ist von Gotamos Einstellung
-aus ein und derselbe Vorgang, und wenn überhaupt einmal die sachliche
-Richtigkeit auch nur einer einzigen dieser vom Buddho entwickelten
-Verkettungen und Aneinanderreihungen über jedem Zweifel befunden
-wird, so ist das sicherlich hier der Fall. Dasselbe Wissen,<span class="pagenum"><a name="Seite_297" id="Seite_297">[S. 297]</a></span> welches
-Erinnerung heißt und um alle früheren Geburten weiß, es weiß auch
-um das Gesetz, nach welchem die Geburten immer von neuem wieder
-stattfinden. Derselbe Asket, der inne wird: dieses war ich, jenen
-Namen trug ich, so und so erschien ich, &mdash; derselbe Asket wird auch
-der gesetzmäßigen Verknüpfung inne, welche Wiederkehr an Wiederkehr
-flicht. Dem Erinnernden gibt sich die Aufeinanderfolge seiner
-Selbstverkörperungen als Auseinanderfolge sehr bald zu erkennen,
-und die Erinnerung selbst formt aus der Folge der Geburten in der
-Zeit eine Folge der Geburten nach Ursach’ und Wirkung. Das ist der
-allgemeine Gang des Wissens, wie er hier mit einem erratenden Spür-
-und Merksinn ohnegleichen ausgemittelt wird: der Gang des Wissens und
-der Wissenschaft von der reinen Zeitenfolge der Erscheinungen fort
-bis zur Erkenntnis ihrer ursächlichen Schürzung hin. Das ist der Gang
-des Wissens und der Wissenschaft, wie er in Indien offenbar nicht
-anders sich ereignet hat als in unserem Europa. Mit welcher Feinheit
-und Zuverlässigkeit übrigens diese mythisch-mystische Enthüllung dem
-wissenschaftgeschichtlichen Tatbestand gerade des Westens entspricht,
-das kann freilich nur der Kenner abendländischer Philosophie von Platon
-bis auf Kant völlig ermessen, dem seinerseit die Beziehungen der
-platonischen Lehre von der Anamnesis zu der Abkunft und Anwendung der
-Knüpfung Ursache-Wirkung als einer kantischen ‚Bedingung a priori der
-Möglichkeit jeder Erfahrung‘ durchsichtig geworden sind.</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_298" id="Seite_298">[S. 298]</a></span></p>
-
-<p>Dies indes hier beiseite, so läßt sich nichts Wundersameres denken als
-diese intuitiv erfühlte Richtigkeit der gotamidischen Darstellung des
-Wissens, wie sie ein Mensch gibt, der jedes wissenschaftliche Interesse
-als solches kurzerhand verwirft und außerdem einem Weltalter und einer
-Rasse angehört, die beide mit der europäischen Entwicklung nicht im
-mindesten zusammenhängen...</p>
-
-<p>Im Besitz der Erinnerung an frühere Geburten und Verkörperungen weiß
-sich also der Erinnernde, ich sage es noch einmal, bald auch in den
-Besitz der Erkenntnis des Gesetzes zu setzen, nach welchem die Geburten
-und Verkörperungen stattfinden und stattfinden müssen. Der Asket kann
-„mit dem himmlischen Auge, dem geläuterten, über menschliche Grenzen
-hinausreichenden, die Wesen dahinschwinden und wiedererscheinen sehen,
-gemeine und edle, schöne und unschöne, glückliche und unglückliche,
-er kann erkennen, wie die Wesen je nach den Taten wiederkehren.“
-Solchermaßen hat der Asket das zweite Wissen dann erworben. Die
-Summe seiner früheren Geburten als Zeitreihe in der Erinnerung sich
-vergegenwärtigend, erfährt und erfaßt er noch einmal mit geschärftem
-Sinn das ewige Gesetz dieser Geburten als Ursache-Wirkungreihe, &mdash;
-jenes Gesetz, das ihm vormals schon die Welt erschloß, das Leben
-erschloß, das Leiden erschloß. Durchschauend und immer klarsichtiger
-durchschauend, wie alles gekommen ist und wie alles kommen mußte, fällt
-ihm auf dieser gehobenen Stufe noch einmal mit dem<span class="pagenum"><a name="Seite_299" id="Seite_299">[S. 299]</a></span> Gesetz der Welt ihr
-ganzes Weh und Ach auf die wissend gewordene Seele: noch einmal blickt
-er auf das Leid zurück, wie man etwa auf eine Landschaft zurückblickt,
-in der man vieles erlebte und die man sich jetzt zu verlassen
-anschickt. Und mit dem Leid und Weh und Ach der Welt wird ihm das
-dritte Wissen, &mdash; „drei Wissen weiß der Asket Gotamo!“ &mdash; das da alles
-vorige Wissen endgültig krönen wird. Jetzt ist die Bahn durchmessen,
-jetzt schlingt sich das Ende um den Anfang wieder, jetzt ist der Kreis
-geründet und der Ring geschlossen. Aus vierfacher Selbstvertiefung ward
-Erinnerung geboren, aus der Erinnerung ward das Gesetz geboren, aus dem
-Gesetz aber wird die Freiheit geboren. Also hat nunmehr der Asket drei
-Wissen nach Vollzug der vier <i>jhânâni</i> gleichsam vollbracht, also hat
-er drei Wissen gleichsam verwirklicht. „‚Das ist das Leiden‘ erkennt
-er der Wahrheit gemäß. ‚Das ist die Leidensentwicklung‘ erkennt er der
-Wahrheit gemäß. ‚Das ist die Leidensauflösung‘ erkennt er der Wahrheit
-gemäß. ‚Das ist der zur Leidensauflösung führende Pfad‘ erkennt er
-der Wahrheit gemäß. ‚Das ist der Wahn‘ erkennt er der Wahrheit gemäß.
-‚Das ist die Wahnentwicklung‘ erkennt er der Wahrheit gemäß. ‚Das
-ist die Wahnauflösung‘ erkennt er der Wahrheit gemäß. ‚Das ist der
-zur Wahnauflösung führende Pfad‘ erkennt er der Wahrheit gemäß. Also
-erkennend, also sehend wird da sein Gemüt erlöst vom Wunscheswahn,
-erlöst vom Daseinswahn, erlöst vom Nichtwissenswahn. ‚Im Erlösten ist
-die Erlösung‘,<span class="pagenum"><a name="Seite_300" id="Seite_300">[S. 300]</a></span> diese Erkenntnis geht auf. ‚Versiegt ist die Geburt,
-vollendet das Asketentum, gewirkt das Werk, nicht mehr ist diese Welt‘
-versteht er da“...</p>
-
-<p>Drei Wissen weiß der Asket Gotamo. Drei Wissen vollbringt der Asket
-Gotamo. Drei Wissen verwirklicht der Asket Gotamo.</p>
-
-<div class="section">
-
-<p class="initial">Wofern es, ihr Christen, Wahrzeichen und Merkmal des Wissens ist,
-‚daß den Kummer überwindet, wer den Âtman kennt‘, dann weist kein
-anderes Wissen so deutlich dies Wahrzeichen und Merkmal auf wie das
-Wissen des Buddho, &mdash; obschon es schlechterdings kein Âtman- und kein
-Brahmanwissen ist. Über die vier <i>jhânâni</i> hinweg eigentlich mehr
-einwärts als aufwärts dringend, erbohrt der gotamidisch Wissende die
-Schächte des Unbewußtseins; erbohrt er die Erinnerung an die früheren
-Geburten; erbohrt er die Erkenntnis der Wiederkünfte und ihres ewigen
-Gesetzes; erbohrt er die heilige Wahrheit selbviert des Leidens, der
-Leidensentstehung, der Leidensverwindung und des zur Leidensverwindung
-führenden Weges. Dies Wissen ist ein unteilbares σύστημα, ein
-unteilbarer Zusammenhang, vollkommen in sich geschlossen, rund und
-fertig. Mit ihm ist der Wissende instand gesetzt, das heilige Ziel
-alles Wissens zu erreichen und unbekümmert, kummerlos zu wandeln. Mit
-ihm hat sich der Wissende alles angeeignet, was nach buddhistischer,
-aber auch nach brahmanischer Auffassung allein zu wissen not tut<span class="pagenum"><a name="Seite_301" id="Seite_301">[S. 301]</a></span> und
-was der verpflichtenden Bezeichnung ‚Wissen‘ alleinig wert erscheint.
-Keine Zweifel, daß auch dieses indisch-buddhistische Wissen hin und
-wieder enger sich berührt mit der Errungenschaft, die wir Abendländer
-unsererseit mit diesem Ausdruck zu benennen pflegen, und namentlich
-trifft diese engere Berührung zu bei der Erinnerung, die uns in vielem
-an die bis heut noch nicht außer Kraft gesetzte Wissenschaftlehre
-Platons wie an das liebe Gesicht eines alten Bekannten mahnt. Aber
-im ganzen und großen bleibt dieses Büßer- und Erlöserwissen doch so
-fern von unserem Forscher- und Gelehrtenwissen, daß wir hier auf
-hohe Schwierigkeiten stießen, uns von diesem gotamidischen Wissen an
-manchen Stellen ein zulängliches Verständnis zu verschaffen, &mdash; gesetzt
-den sehr günstigen Fall, es gäbe von solch fremden Dingen überhaupt
-ein zulängliches Verständnis oder könne wenigstens grundsätzlich ein
-solches geben. Denn was hat es doch, besinnen wir uns gefälligst, mit
-unserem eigenen Wissen und mit unserer eigenen Wissenschaft für eine
-Bewandtnis? Und was ist nach unserer eigenen landläufigen Auffassung
-Wissen und Wissenschaft? Doch offenbar in einem beides: erstens sowohl
-nämlich eine nach Regeln verfahrende Tätigkeit des Verstandes, der
-Vernunft, der Urteilskraft, die sogenannte Wahrheit zu vermitteln,
-&mdash; zweitens aber auch das Ergebnis dieser Tätigkeit, der geordnete
-Besitz oder ‚Schatz‘ aller dieser Wahrheiten. Was wir Europäer zu
-wissen glauben, glauben wir als die Wahrheit zu wissen, wie schon
-der<span class="pagenum"><a name="Seite_302" id="Seite_302">[S. 302]</a></span> heilige Thomas von Aquino uns bedeutet, wenn er gelegentlich
-den Begriff des Wissens folgendermaßen umschreibt: „<i>Scire aliquid
-est perfecte cognoscere ipsum; hoc autem est perfecte apprehendere
-ejus veritatem</i>“... Wissen und die Wahrheit an und für sich wissen,
-das deucht uns Europäern mithin ohne weiteres ein und dasselbe. Daß
-es eine solche Wahrheit an und für sich irgendwie gäbe und geben
-müsse als die maßgebliche Voraussetzung jeder Erkenntnisarbeit, die
-nicht schimärisch ins Blaue hinein spinnen und schwindeln, faseln
-und schwafeln will: dieser Satz steht seit dem weltgeschichtlichen
-Kampf des Pythagoreers Platon gegen den antiken Relativismus nicht
-nur unerschüttert fest, sondern er steht: steht als der <i>rocher de
-bronce</i> aller Wissenschaft- und Erkenntnislehren, auch wenn die
-unsterbliche Sophistik unsterblicher Sophisten immer wieder dagegen
-Sturm gelaufen ist und eben heuer wieder aufs heftigste dagegen Sturm
-läuft. Es muß eine Wahrheit geben an und für sich (oder wie der
-Pythagoreer Platon gesagt hat ‚αὐτὸ καθ’ἁυτό‘), es muß
-einen überhimmlischen Ort, τόπος ὑπερουρανιός geben von
-gültigen Sachverhalten an und für sich, wenn anders ein Wissen und
-eine Wissenschaft im europäischen Wortsinn möglich sein sollen. Auch
-wer da behauptete ‚Es gibt keine Wahrheit‘ beriefe sich bei dieser
-seiner Behauptung auf die Wahrheit und beanspruchte für sie allgemeine
-Geltung, überpersönliche Verbindlichkeit, notwendige Verpflichtung.
-Im Zeichen dieser stehenden und standhaften Wahrheit<span class="pagenum"><a name="Seite_303" id="Seite_303">[S. 303]</a></span> an und für sich
-ist die europäische Wissenschaft tatsächlich seit den Griechen von
-Sieg zu Sieg geschritten, welterobernd und weltherrschend wie kaum je
-eine zweite Macht der Menschheit; ein unermeßlicher Schatz gesicherter
-und gesichteter Erkenntnis ward als ein hoffentlich nicht mehr zu
-verlierender Besitz des <i>homo sapiens</i> angehäuft und auch wiederum
-verschwendet, gesammelt und auch wiederum verausgabt. Wer wollte
-angesichts solch überwältigenden Erfolges so kleinlich sein und an die
-Opfer denken, die er gekostet hat. Wie selten denken Menschen an ihre
-Opfer, solange ihnen der Erfolg winkt, &mdash; frühestens dann, wenn der
-Erfolg zur Frage wird, fällt ihnen bei, einen Überschlag zu machen und
-zu rechnen, und zu rechten...</p>
-
-</div>
-
-<p>Unversehens also ist der abendländischen Menschheit das Wissen um
-die Wahrheit an und für sich zum Ziel und Zweck des Wissens selbst
-geworden. Durchaus in einer erkennenden Bewegung begriffen nach dem
-An-und-für-sich-Sein der Wahrheit hin, gilt ihr deren Ergründung ohne
-weiteres als Selbstzweck. Was dem Wissen um die Wahrheit an und für
-sich dem menschlichen Leben und Dasein, dem Geist und der Seele etwa
-bedeuten könnte, wird nicht gefragt, &mdash; nicht wird gefragt, was die
-Wahrheit als solche im Zusammenschluß menschheitlicher Wesensäußerungen
-und für diesen Zusammenschluß zu leisten vermöchte. Das Ideal
-dieser Wahrheit an und für sich, von allen asketischen Idealen der
-europäischen Menschheit unzweifelhaft das asketischste, &mdash;<span class="pagenum"><a name="Seite_304" id="Seite_304">[S. 304]</a></span> aber
-freilich asketisch im Sinn Nietzsches und nicht im Sinn des Buddho!
-&mdash; dieses Ideal heischt unbedingte Selbsthingabe, ja Selbstaufgabe
-dessen, der ihm dient: und so war man über seinen Wert beruhigt,
-weil Selbsthingabe, Selbstaufgabe unter allen Umständen für gut
-befunden worden. Es mußte eine tiefe Genugtuung sein für jeden, der
-am babylonischen Turm der Wahrheit bauen helfen durfte, daß er daran
-bauen helfen durfte, und sei’s auch nur, daß er Ziegel strich oder
-Mörtel mengte. Die Wahrheit aber wuchs und wuchs Sandkorn um Sandkorn
-wie eine Düne, wie eine Wüste, nach allen Erstreckungen des Geistes
-hin. Denn unendlich ist die Zahl dessen, was gewußt werden kann, was
-gewußt werden soll; unendlich sind auch die Verfeinerungmöglichkeiten
-des eingeschlagenen Verfahrens und Forschens, Wägens und Erwägens,
-Messens und Untersuchens, Zählens und Errechnens. Wer auch nur eine
-einzige Wahrheit, ein Wahrheitchen, zum erstenmal ausgesprochen,
-eine einzige kleine Beobachtung zum erstenmal gemacht, eine einzige
-kleine Regelmäßigkeit zum erstenmal entdeckt hat, der half das <i>summum
-bonum</i> der Wahrheit an und für sich mehren und das unendliche Ganze
-der Wissenschaft fördern. „Wenn ein Mann durch Jahre hindurch die
-Magnetnadel, deren eine Spitze immer nach Norden weist, tagtäglich
-zu festgesetzten Stunden beobachtete und sich die Veränderungen, wie
-die Nadel bald mehr bald weniger klar nach Norden zeigt, in einem
-Buch aufschriebe, so würde gewiß ein Unkundiger dieses Beginnen für<span class="pagenum"><a name="Seite_305" id="Seite_305">[S. 305]</a></span>
-ein kleines und für Spielerei ansehen: aber wie ehrfurchterregend
-wird dieses Kleine, wenn wir nun erfahren, daß diese Beobachtungen
-nun wirklich auf dem ganzen Erdboden angestellt werden und daß aus
-den daraus zusammengestellten Tafeln ersichtlich wird, daß manche
-kleine Veränderungen an der Magnetnadel oft auf allen Punkten der
-Erde gleichzeitig und in gleichem Maße vor sich gehen, daß also ein
-magnetisches Gewitter über die Erde geht, daß die ganze Erdoberfläche
-gleichzeitig gleichsam ein magnetisches Schaudern empfindet“...
-Uneigennütziger und entsagungbereiter Fleiß des europäischen Gelehrten
-legt also hier wirklich Körnchen neben Körnchen, Stäubchen neben
-Stäubchen, bis die Masse der Wißbarkeiten und Gewißheiten zum Berg,
-ja zum Gebirg gestockt ward, dessen Gipfel zuletzt niemand mehr zu
-ersteigen vermag. Und wie die europäische Wirtschaft, seit sie nach
-dem Ausgang des Mittelalters ‚frei‘ betrieben ward, jeweils Ware
-um Ware auf Vorrat anzufertigen pflegt, ohne sich um ein wirklich
-bestehendes Bedürfnis nach Waren irgendwie zu kümmern, um dann fast
-in regelmäßigen Zeitabschnitten empfindliche Stockungen im Absatz und
-Umsatz zu erleiden, &mdash; so erzeugt die europäische Wissenschaft auch
-ihre Wißbarkeiten und Gewißheiten gleichsam auf Vorrat, ohne darauf
-bedacht zu sein, ob die aufnehmenden und verarbeitenden Fähigkeiten
-des Menschen mit den hervorbringenden noch Schritt gehalten haben
-möchten. So hat sich die Wissenschaft bei uns daran gewöhnt, um der
-Wissen<span class="pagenum"><a name="Seite_306" id="Seite_306">[S. 306]</a></span>schaft willen zu forschen, und dieses <i>l’art pour l’art</i>,
-<i>science pour science</i> ist eigentlich seit Platon und Aristoteles,
-will sagen seit den Anfängen des Hellenismus, in Europa auf lange
-Zeitstrecken hin immer wieder das große Verhängnis des Abendländers
-geworden. Ebenso planlos, ebenso frei, ebenso unverantwortlich wie die
-Wirtschaft in hochkapitalistischen Weltaltern hervorbringt, ebenso
-bringt in den hochintellektualistischen Weltaltern die Wissenschaft
-hervor, also daß beide von Krisis zu Krisis, von Katastrophe zu
-Katastrophe taumeln. Wo die Wissenschaft ausschließlich um der
-Wahrheit willen betrieben wird, da gibt es kein Ziel und kein Maß
-ihres sogenannten Fortschritts: da wälzt sie ihren unwiderstehlichen
-Schwall über alle Ufer und schwemmt alles An- und Eingewurzelte von
-seinem festen Platz, wo es würdig stand und fußte. In dem toten
-Meere der Wißbarkeiten und Gewißheiten muß der Einzelne rettunglos
-ertrinken, noch eh’ er an den eintönig-einsilbigen Horizonten ein
-Fahrzeug wahrnimmt, das ihn bergen könnte. Die unvermeidlichen Folgen
-dieser wissenschaftlichen Übererzeugung heißen Wissensmüdigkeit,
-Wissensmißachtung, Wissensüberdruß, genau wie die Folgen der
-wirtschaftlichen Übererzeugung Absatzstockung, Arbeiterentlassung,
-Zahlungeinstellung heißen. Und in vierfacher Beziehung erweist die
-Tatsache der europäischen Wissenschaft eine Fragwürdigkeit, welche
-geradezu ihre Daseinsberechtigung zweifelhaft erscheinen läßt:</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_307" id="Seite_307">[S. 307]</a></span></p>
-
-<p>Als Stoff betrachtet wird das Wissen formlos, weil es Form offenbar nur
-von der aufnehmenden Persönlichkeit her empfangen kann.</p>
-
-<p>Als Besitz betrachtet wird das Wissen herrenlos, weil es Eigentumswert
-offenbar nur bei der aneignenden Persönlichkeit erwerben kann.</p>
-
-<p>Als Tätigkeit betrachtet wird das Wissen zwecklos, weil es
-Zweckmäßigkeit offenbar nur durch die zwecksetzende Persönlichkeit
-gewinnen kann.</p>
-
-<p>Als Leistung betrachtet wird das Wissen stellenlos, weil es Stellenwert
-offenbar nur in der stellgewährenden Persönlichkeit erlangen kann...</p>
-
-<p>Die tödliche Gefahr dieses entfesselten Wissens, wie ein gefräßig
-Element auf den unbeschützten Menschen losgelassen, hat indessen gerade
-der ewige Platon als der geschichtliche Urheber des αὐτὸ καθ’ἁυτό
-der Wahrheit (oder des ‚in Wahrheit Seienden, des ὄντως ὄν‘)
-am dringendsten schon gespürt. Denn eben er, dem wir Europäer
-die erste und wuchtigste Vision einer Wahrheit an und für sich zu
-danken und &mdash; wer weiß? &mdash; vielleicht auch zu fluchen haben: eben er
-ist gleichzeitig doch auch der Schöpfer gewesen der unvergänglichen
-Gestalt seines Sokrates. Diesen platonischen Sokrates, der einzige,
-der noch heute mitten unter uns lebt und mit welchem wir leben, ihn
-hat sich augenscheinlich Platon selber als Gegengift verordnet gegen
-das unmenschliche ὄντως ὄν, gegen das unmenschliche
-αὐτὸ καθ’ἁυτό und beider lauernde Gefahren. Diesen Sokrates hat
-sich Platon in eigener Person verordnet, will heißen er hat sich den
-klassischen<span class="pagenum"><a name="Seite_308" id="Seite_308">[S. 308]</a></span> ‚Weisen‘ des Abendlandes verordnet, der das bloße Wissen
-in sich selbst in Weisheit umzusetzen versteht. Der also das Wissen</p>
-
-<ul class="nobullet">
- <li class="aufz">als Stoff betrachtet formt,</li>
- <li class="aufz">als Besitz betrachtet einer Herrschaft untertänigt,</li>
- <li class="aufz">als Tätigkeit betrachtet einem Zweck unterwirft,</li>
- <li class="aufz">als Leistung betrachtet einer Stelle verhaftet.</li>
-</ul>
-
-<p>Warum nämlich ist just Platon, der Erfinder der Wahrheit an und
-für sich und des Wissens um der Wahrheit willen, zum Dichter des
-platonischen Sokrates geworden? Weil er mit dieser noch immer
-atemversetzend nahen Gestalt des klassischen Weisen sich selber am
-erfolgreichsten zu begegnen vermochte: sich selber und dem schmerzlich
-gefühlten Schicksal, das er mit seinem asketischen Ideal des ‚in
-Wahrheit Seienden‘ über die abendländische Menschheit heraufbeschwor.
-Denn dieser platonische Sokrates will ja zwar die Wahrheit, wie sie
-an und für sich selbst ist, ohne Einschränkung und Abzug ‚wissen‘.
-Aber er will sie nicht wissen dieses Wahrseins wegen. Sondern er
-will sie wissen seiner selber wegen, seines Tuns und Handelns wegen,
-seiner Selbstgestaltung wegen, seiner ‚Wohlbeschiedenheit‘
-(εὐδαιμονία) wegen... Das Wissen als solches gilt ihm für unerläßlich
-und unentbehrlich, und insofern verdient er selbst durchaus ein
-Platoniker genannt zu werden. Aber in keinem Augenblick seines
-Lebens ist ihm das Wissen ein unbedingter Selbstzweck, was es dem
-strengen Platoniker eigentlich sein müßte. Und in diesem Betracht
-ist er freilich durchaus Sokrates, durchaus <i>sui generis</i>,<span class="pagenum"><a name="Seite_309" id="Seite_309">[S. 309]</a></span> durchaus
-Anti-Platoniker, durchaus Gegenmine des Platonismus: wenn auch alles
-dies von Platons Gnaden. Alles in allem mithin das Gegenstück des
-Gelehrten, das Gegenstück des Wissenschafters. Der Weise soll wissen
-und muß wissen. Aber er soll und muß nicht wissen, damit er eben wisse:
-vielmehr damit er wisse, was zu tun und zu lassen, was zu wünschen und
-was zu verwerfen, was zu suchen und was zu meiden sei. (Denn Weisheit,
-hat man in diesen Tagen gesagt, ist Leben in der Form des Wissens, &mdash;
-ist Wissen, wie ich noch lieber sagen würde, in der Form des Lebens...)
-Sokrates also will wissen, um Sokrates sein zu können, ein Mensch, der
-sein Leben zu seiner Zeit und an seinem Ort recht zu führen versteht.
-Derart bringt der Weise eine gewisse Versöhnung zustand zwischen
-den zwei einander gegenstrebenden Urgewalten oder Grundtätigkeiten
-alles Lebens, welche die Pythagoreer als Unbegrenztes und als Grenze
-zu bezeichnen wagten. Mitten im Unbegrenzten aller Wißbarkeiten und
-Gewißheiten setzt der Weise dem Unbegrenzten eine Grenze in ihm selber,
-indem er sein Menschenrecht auf die ihm allein zuträgliche, ihm
-allein bekömmliche Wahrheit geltend macht. Wohl zeltet der unendliche
-Himmel des ‚in Wahrheit Seienden‘ in seiner Unwandelbarkeit auch über
-der Gestalt des Weisen, wie er ob allen Wandelwesen zeltet. Aber
-gleichzeitig übt doch mit Nachdruck der Weise das Grundrecht aller
-Wandelwesen aus, sich aus dem unendlichen Himmel mit der ihm nützlichen
-Gewißheit zu versehen und sich unter allen<span class="pagenum"><a name="Seite_310" id="Seite_310">[S. 310]</a></span> Wahrheiten an und für
-sich diejenige auszuwählen und anzueignen, die ihm am passendsten für
-den Aufbau seiner Persönlichkeit zu sein scheint. Denn das Gestirn
-des ‚in Wahrheit Seienden‘ funkelt nicht in die Nacht der Welt, um
-rein ‚platonisch‘ angestaunt, verehrt, angebetet zu werden, vielmehr
-um dem sokratisch Wandernden zu Wasser und zu Land den dunkeln Weg
-zu hellen. Wegweisend ist die Wahrheit für den Weisen, wegweisend
-erzeugt sie Weisheit im Weisen. Aber weise sein heißt zuletzt nichts
-anderes, als daß womöglich jedermann Besitz ergreife von seiner
-Wahrheit und mit unwiderruflicher Entschlossenheit Hand auf seine
-Wahrheit lege, die keineswegs die Wahrheit jedermanns ist und sein
-kann. In Übereinstimmung mit diesem Zielgedanken der Weisheit nimmt
-der platonische Sokrates sich die Freiheit, eine Menge von Wahrheiten
-nicht zu wissen, welche nicht zu wissen seine Vorgänger in Milet, Elea,
-Ephesos, Klazomenai, Kolophon, Abdera für unverzeihlich, wenn nicht
-für unanständig gehalten hätten, &mdash; so zum Beispiel das Wissen von der
-gesamten außermenschlichen, außersittlichen Natur mit seinen Tatsachen
-und Gesetzen. Nirgends mehr ist die Weisheit des Sokrates mit der
-längst üblich gewordenen Überschrift betitelt ‚Περὶ Φύσεως‘,
-sondern mit der neuen, aber einseitigen und ausschließenden
-‚Περὶ Ἀνθρώπου‘. Die Gültigkeit der Wahrheit überhaupt steht dem
-Weisen außer allem Zweifel, weil sie die Voraussetzung darstellt für
-jede erkenntnismäßige Betätigung als solche. Aber neben dieser Wahrheit
-überhaupt und (was Wichtigkeit und<span class="pagenum"><a name="Seite_311" id="Seite_311">[S. 311]</a></span> Dringlichkeit anlangt) über ihr
-steht meine Wahrheit, deine Wahrheit; steht die Weisheit, mit welcher
-ich lebe, mit welcher du lebst: und damit bricht der platonische
-Sokrates dem Platonismus die gefährlichste Spitze ab, mit welcher er
-Fleisch und Geist der europäischen Menschheit hätte vergiften können,
-wenn es keine Weisen und keine Weisheit gab, &mdash; mit welcher er Fleisch
-und Geist dieser Menschheit vergiftet hat, seit es weder Weise noch
-Weisheit mehr gibt... Dem Weisen jedoch ist nicht allein die Tugend
-ein Wissen, sondern umgekehrt das Wissen auch eine Tugend: will meinen
-eine innerliche Richtungnahme des ganzen Menschen auf jene Sachverhalte
-hin, die zwar ‚in Wahrheit sind‘, aber für ihn, den Einzelnen und
-Besonderen, nur je nach ihrer Eignung zur Führung eines rechten
-Wandels gelten. Und ist schon nicht der Mensch das Maß der Dinge, &mdash;
-er ist es aber, trotzdem just der platonische Sokrates ingrimmig und
-verbissen den Urheber dieses Erkenntnis aushöhnt! &mdash; so ist unmittelbar
-doch der Weise das Maß alles Wissens: Maß, Form, Herr, Ziel, Ort und
-Verlebendiger alles Wissens...</p>
-
-<p>Daß dieser Typus des Weisen trotz Kyniker und Kyrenaiker, trotz
-Stoiker und Epikureer im Fortgang der Zeit immer sicherer vom Typus
-des Gelehrten und Wissenschafters verdrängt ward, mußte freilich
-die schleichende Krisis des platonischen Ideals das Wissen um der
-Wahrheit willen wieder von neuem zum Ausbruch bringen. Oder sage ich
-vorsichtiger und richtiger: dieser Umstand hätte die Krisis wieder<span class="pagenum"><a name="Seite_312" id="Seite_312">[S. 312]</a></span>
-zum Ausbruch bringen müssen, wenn nicht alles bald durch den Sieg des
-Christentums eine völlig neue und von niemandem zu erwartende Wendung
-genommen hätte. Vorher bietet allerdings das alexandrinische Zeitalter
-gewissermaßen das Schauspiel eines späten Wettkampfes zwischen dem
-Typus des Weisen und des Wissenschafters. Und wenn auch jener erstere
-herauf bis zu dem ehrwürdigen Demonax des Lukian nie völlig aus der
-Öffentlichkeit des antiken Lebens verschwand, wo er Pflichten der
-Seelsorge vielmals rühmlich bis zuletzt erfüllte, &mdash; die entscheidenden
-Bewegungantriebe gehen doch nicht von der Weisheit des Weisen, sondern
-von der Forschung des Wissenschafters aus: denn dieser und nicht jener
-bereicherte die Zeit um eine neue Geistesäußerung. Bis dann eben
-in den ersten Jahrhunderten der werdenden Kirche sowohl der Weise
-wie der Wissenschafter für die Dauer von rund tausend Jahren kalt
-gestellt werden und damit die Krisis im Platonismus behoben ist. Der
-geschichtliche Stifter des Christentums bekämpft den Weisen bekanntlich
-mit der ihm eigenen heißblütigen Leidenschaftlichkeit, trotzdem er
-selbst in starkem Maß vom Ideal der Stoa miterzogen und mitgebildet
-erscheint. Genug! Die Weisheit vor den Menschen wird als Torheit vor
-Gott verlästert, verlästert insonderheit darum, weil sie sich in
-heidnischem Dünkel vermißt, aus eigener Menschenkraft zu bewirken,
-was bestenfalls der Gnade Gottes vorbehalten wäre. In der Hauptsache
-aus diesem, aber auch aus manch anderem Grunde sonst kann die neue
-Religion den<span class="pagenum"><a name="Seite_313" id="Seite_313">[S. 313]</a></span> Weisen nicht mehr gebrauchen, und noch weniger freilich
-dessen geschichtlichen Gegenspieler, den Wissenschafter und Gelehrten.
-Die menschliche Weisheit war Torheit vor Gott, aber die menschliche
-Wissenschaft war gegenstandslos schlechthin; &mdash; einer sich selbst
-rechtfertigenden Wissenschaft aber, welche platonisierend die Wahrheit
-um der Wahrheit willen zu erforschen behauptete, ihr hätte man wohl mit
-dürren Worten die abspeisende Antwort gegeben: die Wahrheit, o Mensch,
-ist Gott und Gott ist die Wahrheit! Wer Gott hat, der hat die Wahrheit.
-Wer aber Gott nicht hat, &mdash; was soll ihm die Wissenschaft? Daß Gott
-die Wahrheit sei und die Wahrheit Gott, dies war der grundsätzliche
-Ertrag, den das junge Christentum von der gesamten Wissenschaft und
-Wissenschaftlehre der Griechen übernahm. Dies war gewissermaßen der
-Saldo, den es als zu überschreibenden Rechnungbetrag auf das neue Blatt
-der Weltgeschichte eintrug...</p>
-
-<p>Ein höchst bedeutungreicher Saldo, ihr Christen, wenn es recht bedacht
-wird! Denn jetzt löste die junge Kirche dieselbe Aufgabe theologisch
-und ontologisch, welche der platonische Sokrates pragmatisch und
-ethisch zu lösen versucht hatte. Die Wahrheit an und für sich, welche
-seit Platons Auftritt sozusagen frei in der Luft geschwebt hatte,
-um erst in der Person des Weisen nachträglich einen Haft und Halt
-zu finden, sie fand hier Haft und Halt von vornherein in der Person
-Gottes. Seit Platon und Aristoteles ein logischer Begriff, wurde die
-Wahrheit seit Augustinus, ja seit<span class="pagenum"><a name="Seite_314" id="Seite_314">[S. 314]</a></span> Plotinos ein ontologischer Begriff:
-die bloße Eigenschaft gewisser Denkverknüpfungen dort ward zum Sein
-und Wesen hier. Überraschend buchstäblich nahm die neue Lehre das Wort
-Platons von dem ‚in Wahrheit Seienden‘ und machte mit ihm Ernst in
-alle erdenklichen Konsequenzen: Gott selbst ist fortab das in Wahrheit
-Seiende, Gott selbst ist der in Wahrheit Seiende. Die Wahrheit wissen,
-hieß darnach Gott wissen auf Grund der Gleichung Wahrheit = Gott,
-Gott = Wahrheit, &mdash; und damit war in Ansehung des Wissen und seiner
-wesentlichen Leistung jeder Zweifel vollständig beseitigt. Von dieser
-theologischen und ontologischen Umdeutung des Begriffes Wahrheit her
-konnte dann allerdings auch vom Standpunkt des Christentums und seiner
-Kirche aus Wissen und Wissenschaft um der Wahrheit an und für sich
-willen zugelassen werden, &mdash; hatten doch jetzt diese nach Heidentum
-schmeckenden Namen einen vollkommen unheidnischen Sinn unterstellt
-bekommen. In dieser Wissenschaft, deren einziger Gegenstand und Vorwurf
-Gott heißt, kann sich der Mensch nicht wie in den Ideen Platons ziel-
-und richtunglos verlieren, hier muß er sich im Gegenteil erst richtig
-finden. Wer Gott auf wahrheitgemäße Weise weiß, der ißt gleichsam
-von Gott, &mdash; <i>qui mange du pape, en meurt; qui mange de Dieu, en
-vit!</i> &mdash; und es ist fast doch mehr wie ein bloßes Gleichnis, wenn ich
-zu behaupten wage, die Scholastik des Mittelalters habe wenigstens
-ihre Haupt- und Grundwissenschaft Theologie in nächste Nachbarschaft
-der Sakramente gebracht, was<span class="pagenum"><a name="Seite_315" id="Seite_315">[S. 315]</a></span> Leistung, Erfolg, Bedeutung dieser
-Wissenschaft für den Ausübenden anbetrifft. Das scholastische Wissen
-von Gott ist in der Tat etwas wie ein Sakrament, wobei Gott durch
-die Erkenntniskraft des Menschen geradezu eingenommen, einverleibt,
-einvergeistet erscheint: <i>sacramentum</i> im Sinn von ‚Heilsmittel‘,
-weil dieses Wissen von Gott das Heil in Gott vermittelt;
-χάρισμα im Sinn von ‚Gnadengabe‘, weil dieses Wissen von Gott ohne
-Beistand der Gnade Gottes nicht zu erlangen ist; μυστήριον
-im Sinn von Einweihung, weil dieses Wissen von Gott den Wissenden
-zu Gottes Sohn und Kind weiht. Im Vorgang dieses Wissens geschieht
-es, daß Gott bei der Gestaltung seines eigenen Gedankens im Geist
-des Wissenden aus allen seinen Kräften selbsttätig in Mitwirkung,
-oder wie Luther wahrscheinlich gesagt hätte, in ‚Konkomitanz‘ mit
-diesem Geiste tritt; im Vorgang dieses Wissens geschieht es, daß der
-gewußte Gott die Vernunft des menschlich Wissenden seiner eigenen
-Gottvernunft anähnlicht. Diese sakramentale (und nicht mehr alleinig
-‚mentale‘) Auffassung des Wissens wird dann noch, das versteht sich
-für jeden ungefähren Kenner des Mittelalters ganz von selbst, aufs
-nachdrücklichste verstärkt durch die realistische Doktrin, wonach die
-erfaßten Denkinhalte, je allgemeiner sie nach Inhalt und nach Umfang
-werden, einen umso höheren Grad von Wirklichkeit gewinnen, bis in
-dem Denkinhalt von höchster Allgemeinheit zugleich der höchste Grad
-von Wirklichkeit erreicht ist: und das ist wiederum Gott. An den
-Graden begrifflicher Allgemeinheit steigt<span class="pagenum"><a name="Seite_316" id="Seite_316">[S. 316]</a></span> mithin der Wissende von
-Wirklichkeit zu Wirklichkeit aufwärts bis zur allerallgemeinsten und
-allerwirklichsten Wirklichkeit. Weit entfernt davon mit den Begriffen
-zu spielen, wie man mit Gespinsten des Gehirns spielt, bemächtigt
-man sich im Begriff der höchsten Wirklichkeit der Welt. Hier stoßen
-hart im Raum sich die Gedanken, wenn leicht beieinander alle Sachen
-wohnen. Begriffe sind Wirklichkeiten über die Gegebenheiten der
-Sinneswahrnehmung hinaus und sogar noch die ‚falschen‘ Begriffe sind
-unter Umständen Wirklichkeit, nur mit dem höllischen Vorzeichen
-der Widersacherschaft gebrandmarkt. Daher die furchtbare Gefahr
-der falschen Meinung, irrigen Lehre, verkehrten Ansicht, die dem
-mittelalterlichen Menschen so etwas ganz anderes bedeuten als dem
-antiken oder gar modernen Wissenschafter dieser oder jener Denkfehler.
-Denn wer da nicht das Wahre denkt, schließt sich der Widerwelt des
-Wahren an und so dem Widersacher Gottes. Wissen, das heißt hier fast
-die Entscheidung treffen, ob einer gewillt sei, des Lebens Kampf auf
-seiten der himmlischen Heerscharen oder der höllischen Mächte zu
-kämpfen, und dieserhalb war es von der scholastischen Auffassung aus
-nur folgetreu gedacht, dem Irrenden nicht mit dem Holzschlegel zwar,
-aber mit dem prasselnden Scheiterhaufen ‚seelsorgerisch‘ bedacht zu
-winken...</p>
-
-<p>Die menschliche Leistung dieses Wissens kann, wie ich schon sagte,
-nicht gut einem Zweifel unterliegen. Hier verschwimmt die Wahrheit
-nicht in den rauchenden Horizonten zwischen Himmel und Erde<span class="pagenum"><a name="Seite_317" id="Seite_317">[S. 317]</a></span> in einer
-überall gleich fernen Unendlichkeit von Sachverhalten an und für
-sich, welche das Mißliche an sich haben, daß sie ausnahmlos denselben
-Anspruch auf Anerkenntnis und Geltung erheben und erheben dürfen.
-Solange die Wahrheit Gott ist und Gott die Wahrheit, findet sie in Gott
-Haft und Halt, und mit der Wahrheit findet der Mensch in Gott Haft und
-Halt, der sich ihre Ergründung angelegen sein läßt. Beklagenswert war
-nur, daß diese Gleichsetzung von Gott und Wahrheit doch nicht dauernd
-in Kraft bleiben konnte, sondern daß eben der ontologisch-theologische
-Charakter des ‚in Wahrheit Seienden‘ bestritten ward. Die Formel
-Wahrheit = Gott und Gott = Wahrheit hatte seit Augustinus, wir wissen
-es, den unangetasteten Besitz der Patristik und Scholastik gebildet,
-und vermutlich ist es ein starkes Gefühl der Unentbehrlichkeit dieser
-Formel gewesen, welches die Kirche veranlaßt hat, die ersten und
-ach! so tastend zaghaften Regungen des Nominalismus in der jungen
-Wissenschaft des mittelalterlichen Abendlandes durch Machtspruch zu
-unterdrücken und den vielleicht führenden Nominalisten Roscellinus
-von Armorika auf dem Konzil zu Soissons zum Widerruf zu nötigen:
-denn in der Tat ist es der aufkommende Nominalismus, der dann die
-Voraussetzungen dieser Formel aufhebt. Wenn die Begriffe nicht mehr
-wirklich sind, geschweige denn, daß ihre Wirklichkeit mit wachsender
-Allgemeinheit selber wächst und vollkommener wird, dann büßt auch der
-allgemeinste aller Gemeinbegriffe, nämlich das <i>universale</i> ‚Gott‘,<span class="pagenum"><a name="Seite_318" id="Seite_318">[S. 318]</a></span>
-seine Wirklichkeit ein und seine Wahrheit im Sinn der realistischen
-Auffassung wird fragwürdig. Selbst nämlich wenn Gott auch dann noch
-in Person in irgendeinem Wortverstand ‚wahr‘ bleiben sollte, bleibt
-er’s doch länger nicht mehr im Wortverstand jenes <i>ens realissimum,
-ens generalissimum</i>. Just die allgemeinsten Begriffe und Vorstellungen
-verlieren ihre Wirklichkeit und damit auch ihre Bindung an den
-vollkommenen Inbegriff aller Wirklichkeiten, an die Urwirklichkeit
-schlechthin oder Gott. Jetzt lösen sich die Wahrheiten von der Einen
-Wahrheit ab und diese bleibt gleichsam entblättert zurück wie der
-Stumpf einer Palme, deren Schaft aus den leeren Scheiden längst
-abgestoßener Blätter besteht... Gibt es aber ‚wahre‘ Begriffe, die
-abgesondert vom Ursein der höchsten Wahrheit zu bestehen vermögen, ja
-die sogar nur in dieser Abgesondertheit bestehen, dann gibt es auch
-wieder (wie einst im Platonismus!) eine Wahrheit, die weder Gott selber
-noch göttliche Dinge irgendwie betrifft. Dann gibt es auch wieder eine
-Wissenschaft, die nicht um Gottes willen, sondern eben um der Wahrheit
-an sich willen betrieben wird. Dann ist das Abendland zum zweitenmal
-der beklemmenden Gefahr ausgesetzt, die alle Wissenschaft bloß des
-Wissens wegen und alle Erkenntnis bloß der Wahrheit wegen je und je
-verfolgt...</p>
-
-<p>Es ist somit die nominalistische Scholastik, welche den Begriff
-Wahrheit wieder auf seine eigenen Beine zu stellen wagt, nachdem die
-realistische Scholastik Wahrheit und Gott, nur gleichsam in der Mitte
-zu<span class="pagenum"><a name="Seite_319" id="Seite_319">[S. 319]</a></span>sammengewachsen, wie siamesische Zwillinge auf den europäischen
-Jahrmärkten herumgezeigt hatte. Die Anstrengungen aber, wie sie in
-den folgenden Jahrhunderten des siegreich vordringenden Nominalismus
-gemacht werden zugunsten einer endgültigen Verselbständigung der
-abendländischen Wissenschaft, sie werden vervielfältigt durch
-die entsprechenden Anstrengungen der Reformatoren. Ein Mann wie
-Luther lernt auf der Universität die Scholastik nur noch in der
-nominalistischen Ausprägung kennen, und wenn er im Ungestüm der ersten
-Kämpferjahre geradezu den Fortbestand europäischer Wissenschaftlichkeit
-als solchen schwer gefährdet und vorübergehend eine massenhafte
-Entvölkerung von Deutschlands hohen Schulen bewirkt, ist er bei der
-Weiterführung seines Werkes doch zu sehr auf die Mitarbeit gelehrter
-Humanisten angewiesen, um nicht zuletzt diesen neu erstandenen Typus
-Wissenschaft und Wissenschafter seinerseit nach besten Kräften zu
-fördern. Eine im Humanismus jener Tage schüchtern auflebende Freude
-an der Gestalt des Weisen &mdash; am anziehendsten vielleicht verkörpert
-in dem gothaer Humanisten Konrad Mudt, der unter dem Namen Mutianus
-Rufus einen schier sokratischen Einfluß auf die ihm ergebenen Jünglinge
-ausübt, mit denen verbunden er innig „nach Gerechtigkeit, Mäßigkeit,
-Geduld, Eintracht, Wahrheit und einmütiger Weisheit“ strebt! &mdash; eine
-solch schüchtern auflebende <i>rinascènza</i> antiker Lebensführung und
-Wissensbewältigung findet freilich nicht den Beifall des Bruders
-Martinus und kann sie<span class="pagenum"><a name="Seite_320" id="Seite_320">[S. 320]</a></span> bei ihm nicht finden, dem der Weise seiner
-ganzen Veranlagung nach noch mehr gegen den Strich gehen muß wie seinen
-religiösen Vorkämpfern Paulus und Augustinus. Mit Weisheit war keine
-Reformation gemacht und ein kochender Geyser ist kein Kristall, nicht
-einmal ein flüssiger. Aber in der außerordentlichen Bewertung einer
-kritisch zu betreibenden Wissenschaft fühlt sich auch Luther durchaus
-mit dem Humanismus einig, &mdash; war doch sein ganzer Evangelismus zutiefst
-nur eine besonders fruchtbare Anwendung des humanistischen Grundsatzes
-jener zeitgemäß verfahrenden Forschung: Zurück zu den Quellen! Zurück
-zu den Ursprüngen! Zurück zu den Urkunden!... Diese humanistische
-Wissenschaft, in ihrer Beschaffenheit ebensosehr nominalistisch und
-kritisch wie die scholastische Wissenschaft realistisch und dogmatisch,
-wird mithin seit der deutschen Reformation von dem mächtigen Atem des
-Protestantismus gebläht und geschwellt. Kritik heißt die Springwurzel,
-Kritik heißt die Sprengwurzel, welche die Schlösser soviel heimlicher
-Schatzkammern des Wissens krachend aufsprengt; Kritik heißt die Kunst
-der Vernunft, die Wahrheit an und für sich selbsttätig auszumitteln,
-die vormals der Scholastiker gleichsam auf Gnadenwegen als den Geist
-des Allerheiligsten in seinem Geist empfing. Jetzt besteht ein
-angeborenes Menschenrecht für jeden, der des Wissens bedürftig ist,
-die sich darbietenden Sachverhalte der Reihe nach zu prüfen auf ihre
-Richtigkeit oder Irrigkeit hin, &mdash; jetzt besteht sogar eine angeborene
-Menschenpflicht,<span class="pagenum"><a name="Seite_321" id="Seite_321">[S. 321]</a></span> sich dieser selben Prüfung nicht in Feigheit oder
-Trägheit zu entziehen, sondern sie vorzunehmen nach ‚bestem Wissen und
-Gewissen‘. Der Kritiker, das ist der Richter über Wahr und Falsch:
-der Richter, der da Wahr und Falsch erst zu suchen, erst zu finden
-hat, ehe das Urteil ergehen kann, &mdash; und just dieser Umstand ist von
-großer Tragweite in der Folgezeit gewesen. Denn von da an heißt ja
-Wissen nicht mehr einen von vornherein daseienden Besitz an ewigen
-Wahrheiten, ewigen Denkinhalten, ewigen Gewißheiten einfach anzutreten,
-wie beispielweis das Mittelalter die ewige Wahrheit ‚Gott‘ angetreten
-hat. Fortab heißt Wissen in unablässiger Prüfung und Überprüfung die
-Entscheidung über das, was gilt oder nicht gilt, durch eigenes Tun,
-eigenes Können herbeiführen und furchtlos die Verantwortung für die
-eigene Entscheidung auf sich nehmen. Ein gewaltiger Umschwung, der ein
-paar Jahrhunderte später seinen denkwürdigen Ausdruck in der Lehre
-Kants gefunden hat, wonach die Gegenstände des Wissens keineswegs
-schon fertig zum Gebrauch vor dem zugreifenden Verstand des Wissenden
-ausgebreitet liegen, wie bisher die übliche Meinung war, sondern
-durch die geregelte Zusammenarbeit sämtlicher Erkenntniskräfte erst
-erzeugt, hervorgebildet und erschaffen werden. Wenn der Platoniker nur
-sein geistiges Auge aufzuheben brauchte zu der Feste der ‚in Wahrheit
-seienden‘ Sinn-Bilder, nachdem er den Blick von dem Schein-Bild der
-Werdewelt abgewendet hatte: und er alsdann das Wahre an und für sich
-schaute; wenn der Peripatetiker nur<span class="pagenum"><a name="Seite_322" id="Seite_322">[S. 322]</a></span> in Übereinstimmung mit den
-Vorschriften des Vernunftschlusses zu folgern brauchte, nachdem ihm
-die ersten und grundlegenden Obersätze aller aufwärts und abwärts
-leitenden Schlüsse durch unmittelbare Kenntnisnahme gegenwärtig
-geworden waren: und er alsdann die Wahrheit an und für sich ergründete;
-wenn der Scholastiker nur in Berührung zu gelangen brauchte mit der
-Vollkommenheit des höchsten Wesens, nachdem er sich der begnadenden
-Mitwirkung dieses Wesens bei diesem geistigen Mahl geistiger
-Eucharistie versichert hatte: und er alsdann die Wahrheit als Gott und
-Gott als die Wahrheit empfing, &mdash; so liegt es jetzt dem Kritiker und
-Kritizisten ob, sich ein für allemal die notwendige Klarheit darüber
-zu verschaffen, daß es eine an und für sich seiende Wahrheit in der
-bisher gültigen Auffassung eigentlich nicht gäbe, vielmehr durch die
-Arbeit des Wissens und Erfahrens und Erkennens erst hervorgebracht
-werden müsse. Mit dieser Einsicht erst, die der kantischen Kritik
-verdankt wird, ist die allmähliche Umdeutung des Begriffes Wissen und
-Wissenschaft zu Ende gebracht, welche im humanistischen Zeitalter mit
-der Zersetzung des scholastischen und realistischen Dogmatismus beginnt
-und dann vom Protestantismus so nachdrücklich gefördert wird. Und
-wie etwa Benvenuto Cellini, der Erzgießer, gelegentlich alle Teller,
-Schüsseln, Platten eines Geschirrs von Zinn, die er im Drang der
-Not erraffen kann, einfach in den Sutt seiner eben werdenden Statue
-hineinwirft, um sie darin für den Guß einzuschmelzen, &mdash; so übergibt
-Kant, der<span class="pagenum"><a name="Seite_323" id="Seite_323">[S. 323]</a></span> Kritizist, alle Gegebenheiten, Wahrheiten, Gewißheiten der
-Erkenntnis, deren er überhaupt habhaft zu werden vermag, gleichsam dem
-Sutt werdender Vernunfturteile, um derart die spröden Gebilde fertiger
-Wissenschaft in die Tätigkeit der Wissenserzeugung einzuschmelzen. In
-einem bis zu den obersten Voraussetzungen des Erkennens rücklaufenden
-Verfahren hat mithin der Kritiker alles zu prüfen und immer wieder zu
-prüfen, was mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit und Geltung vor ihn
-tritt. Nichts in der Welt ist dazu berechtigt, sich unbeanstandet,
-unbeargwöhnt Wahrheit oder Gewißheit gar anzumaßen. Wofern jede
-Prüfung aber auf dem Besitz der Maßstäbe, jede Entscheidung auf
-dem Recht der Zuständigkeit fußt, obliegt dem Kritiker eine
-andauernde Selbstbesinnung auf diese seine Maßstäbe, eine andauernde
-Rechtfertigung dieser seiner Zuständigkeit. Die ganze unendliche Welt
-legt der kritisch Prüfende, kritisch Entscheidende auf die Wage: der
-kritisch Prüfende und Entscheidende wird sich und der Welt selber
-zur Wage, die nun niemals mehr zur Ruhe kommt, sondern beständig auf
-und nieder schaukelt, auf und nieder gaukelt. Jeder Einfall, jede
-Beobachtung, jede Entdeckung erzwingt eine Verschiebung der Gewichte
-und infolgedessen zittert und bebt, wankt und schwebt, tanzt und
-schwankt alles Gewußte und alles Wißbare ohne Aufhören. Nichts mehr in
-Raum-Zeit und Zahl steht fest, nichts mehr steht: und am wenigsten die
-Wahrheit. Wie vordem das Radjuwel das Kennzeichen gewesen ist für die
-Lehre Gotamos oder der Fisch das Kennzeichen<span class="pagenum"><a name="Seite_324" id="Seite_324">[S. 324]</a></span> für die Zugehörigkeit
-zum Christentum, so wird jetzt das Fragezeichen zum Kennzeichen des
-kritischen Wissensbegriffes und des ihm zugehörigen Weltalters,
-&mdash; das Fragezeichen das Kennzeichen und vielleicht eher noch das
-Kainszeichen einer zu geistiger Fried- und Heimatlosigkeit verdammten
-Menschheit. Unausgesprochen oder ausgesprochen, unausgeschrieben oder
-ausgeschrieben erscheint das Zeichen der Frage hinter allen Urteilen
-und Deutungen, Annahmen und Voraussetzungen der heutigen Wissenschaft
-als die <i>reservatio mentalis</i>, die jedes erkenntnismäßige Ergebnis zu
-einem nur einstweiligen, nur uneigentlichen, nur annäherungweisen,
-nur widerruflichen unrühmlich herabsetzt. Es kann sich alles ungefähr
-so verhalten, wie sich’s dem kritischen Bewußtsein zu dieser Stunde
-zu verhalten scheint. Aber es kann sich auch alles völlig anders
-verhalten, und der Möglichkeiten, wie sich’s verhalten könne, ist
-nirgendwo kein Ende abzusehen...</p>
-
-<p>Aus dieser verzweifelten Lage versucht sich der europäische Genius
-noch einmal zu retten, eh’ er sich stumpfsinnig und ergeben in
-das augenscheinlich Unvermeidliche schickt. Der kritische, ja der
-protestantische Begriff des Wissens ist es, der jedem Einzelnen
-die eiserne Pflicht auferlegt, die Aussagen des Verstandes, die
-Grundsätze der Vernunft, die Entscheidungen der Urteilskraft auf ihr
-Wahr oder Falsch, Richtig oder Irrig hin zu sichten und sich die
-Stellungnahme zu ihnen je nach dieser Sichtung vorzubehalten. Aber
-selbst in diesem Zeitalter der Kritik und des<span class="pagenum"><a name="Seite_325" id="Seite_325">[S. 325]</a></span> Kritizismus ist dem
-Abendländer das Bewußtsein noch nicht völlig verloren gegangen, daß
-die wesentlich menschheitliche Leistung des Wissens unmöglich auf
-die kritische Schlichtung der Erkenntnisse in gültige und ungültige
-allein beschränkt sein könnte. Sogar jetzt bleibt eine Ahnung wach, daß
-alles Wissen, wie es auch beschaffen sei, für den geistig-seelischen
-Aufbau der Person und für deren Selbstverwirklichung fruchtbar zu
-machen sei. Gleichzeitig mit der Hochtürmung des kritischen Gedankens
-in der kantischen Philosophie setzt eine neue humanistische Bewegung
-ein von ungleich stärkerer und umfänglicherer Artung als jene des
-fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts: und vor allem ist es ihr
-zu danken, wenn man sich wieder deutlicher besinnt auf das, was ich
-eben die menschheitliche Leistung des Wissens nannte. Das Wissen
-kann, nein das Wissen soll der Bildung dienen, die Bildung aber der
-planmäßigen Selbststeigerung, Selbstbereicherung, Selbstveredelung
-aller menschlichen Fähigkeiten. Wenn also in Wahrheit die kritische
-Auffassung des Wissens auf humanistische Ansätze im Zeitalter des
-Protestantismus zurückgeführt werden darf, dann schreitet sie ihrerseit
-auch wieder instinktiv zum Humanismus fort. Nur daß jetzt, &mdash; wir
-sind im achtzehnten Jahrhundert, &mdash; die immerhin schmächtigen und
-leibarmen Gestalten erfurter oder gothaer <i>doctores</i> zu jenen stattlich
-ragenden Persönlichkeiten ausgewachsen sind, welche Deutschlands Parnaß
-damals bevölkerten. Noch einmal geben sich auf deutscher Scholle der
-sokratisch Weise und der humanistisch<span class="pagenum"><a name="Seite_326" id="Seite_326">[S. 326]</a></span> Gebildete ein Stelldichein;
-noch einmal treffen sich beide wenigstens in dem einen Gedanken enge,
-daß jede menschliche Person die Anwartschaft auf ihre eigene Wahrheit
-habe, um mit ihr zu leben und zu sterben, &mdash; ja nicht allein auf ihre
-eigene Wahrheit, sondern etwa auch auf ihren eigenen Irrtum, wie
-Lessing so herzhaft tapfer erkannt und Goethe so natürlich schön gelebt
-hat. Dieser humanistische Begriff der Bildung anerkennt zwar also
-jegliche Pflicht zur Prüfung und Entscheidung über das Wahr-Falsch des
-Wissens durchaus, aber ordnet dieser grundsätzlich protestantischen
-Verpflichtung doch sofort die zweite als die höhere über, sich aus
-dieser schlechten Unendlichkeit von Wahrheiten diejenigen gleichsam
-auszusuchen, welche geeignet erscheinen, die eigene Persönlichkeit
-ihrer äußersten Steigerung zuzuführen: und gleichfalls aus der
-Unendlichkeit aller Irrtümer sogar auch solche Irrtümer, die demselben
-Zweck dienlich sein möchten. Dem Weisen von ehedem war noch genau das
-zu wissen nötig, was er in seiner Eigenschaft als Mensch, Mitmensch,
-Bürger zu tun oder zu lassen habe, um als ein ‚Wohlbeschiedener‘ zu
-wandeln, &mdash; darüber hinaus durfte getrost alles Wissen überhaupt auf
-sich beruhen bleiben. Der Gebildete indes nimmt es als sein bestes
-Vorrecht, alles, wie sich’s eben fügt und schickt und trifft, seinen
-aneignenden und anpassenden Tätigkeiten zu unterwerfen, womit er
-freilich den schmalen Rahmen zerbricht, in welchen der Weise sein
-schlichteres Bildnis von sich selber einzufassen liebte... In dem Maß,<span class="pagenum"><a name="Seite_327" id="Seite_327">[S. 327]</a></span>
-als mithin der Zielgedanke der Weisheit den Zielgedanken der Bildung an
-innerer Standfestigkeit und Unerschütterlichkeit übertrifft, in dem Maß
-übertrifft auch der Zielgedanke der Bildung den der Weisheit an innerer
-Umfänglichkeit und Spannungkraft. Der Weise ist immer auch zugleich ein
-Geiziger, aber der Gebildete verschwendet, und zwar am meisten sich
-selbst. Baustoff zum Aufbau seiner selbst, seines Selbst deucht ihn
-alles, was überhaupt noch in die Grenzen menschlichen Aufnahmevermögens
-fällt, nicht allein das ihm eigentümliche Wahre, sondern auch das
-ihm eigentümliche Irrige. Der Gebildete weiß, daß Wahrheit und Wahn
-aller Völker, Helden und Zeiten bilden können und gebildet haben, und
-je stärker sich der Gebildete von dieser unumstößlichen Gewißheit
-durchdrungen fühlt, desto weiter spannen sich die Grenzen dessen,
-was er zu seiner Selbstverwirklichung verwerten kann. Das Wissen
-des Weisen trachtet darnach, ein Mindestmaß zu werden; das Wissen
-des Gebildeten eifert nach dem Höchstmaß schlechterdings, und wenn
-einen, so lockt ihn der goldene Überfluß der Welt. Was da das Aug’
-erblickt, das Ohr vernimmt, die Hand ertastet, der Sinn erdenkt, die
-Einbildungkraft erträumt, die Sehnsucht erwünscht, der Geist erdichtet,
-das wird ihn unter günstigen Bedingungen formen und gestalten. Denn
-Bildung ist Selbstvervielfältigung um alle die Erfahrungstoffe
-und Erlebnisinhalte der Welt, und in diesem Wortverstand deckt sie
-sich schon beinah’ mit der Erinnerung, die vorhin gleichermaßen
-gekennzeichnet ward<span class="pagenum"><a name="Seite_328" id="Seite_328">[S. 328]</a></span> als eine Art von Selbstvervielfältigung. So spinnt
-der neue Humanismus seidene Fäden über alle Länder und Erdteile, über
-alle Zeiten und Gesittungen, über alle Äußerungen und Hervorbringungen,
-über alle Geschehnisse und Geschichten. Neben das Rom der älteren
-Humanisten tritt überragend Griechenland, neben Griechenland der
-Balkan, Judäa, Arabien, Kleinasien, der Jrân, Ägypten, Indien,
-China... Eine Weltwanderschaft beginnt, eine zweite <i>conquista</i>, nur
-ohne Grausamkeit und Teufelei, ohne Blutvergießen und Verrat, ohne
-Leibesmord und Seelenvergiftung, vielmehr alleinig mit der göttlichen
-Waffe des Geistes. Der materiellen Besitzergreifung dieser Erde
-folgt die spirituelle, und sie tilgt die blutigen Spuren jener mit
-der Barmherzigkeit eines Engels. Denn diese Bildung &mdash; ich nutze die
-Gelegenheit, es endlich einmal auszusprechen! &mdash; diese Bildung zeigt
-ihre ehrwürdigen Träger und Vertreter wundersam begütigt: begütigter
-vielleicht als die Heiligen der bisher bekannten Religionen in Europa.
-Fast sieht es aus, als sei der Mensch dieses bösen Kontinentes hier zum
-erstenmal wirklich Mensch, hier zum erstenmal wirklich gut geworden,
-jetzt, wo er sich zum erstenmal bildet. Nicht aus Zufall auch wird in
-diesem Weltalter der Bildung gleichfalls zum erstenmal die Duldung
-zum Ideal der Zeit erhoben, nachdem sämtliche frühere Zeiten von
-einer Tugend solchen Namens nicht nur nichts wußten, sondern nichts
-wissen wollten. Zu dieser Stunde aber konnte, ja mußte die Duldung
-ernstlich geboten werden, &mdash; obschon diese Duldung<span class="pagenum"><a name="Seite_329" id="Seite_329">[S. 329]</a></span> natürlich eine
-vieldeutige Erscheinung von mancherlei verschiedenen Ursachen gewesen
-ist, die keineswegs alle auf dem Gebiet des Geistes liegen. Die Duldung
-konnte, ja mußte in dieser Stunde geboten werden, weil der Gebildete
-endlich begreift, wie gleichmäßig fruchtbar jede Tatsache des Wissens,
-jede Tatsache des Glaubens sogar vom Menschen gemacht werden kann,
-unbeschadet seiner protestantisch-kritischen Pflicht zur Prüfung
-über Wahr und Falsch. Weil aber und wofern es der Gebildete ist,
-welcher dies begreift, vermag er den kritischen Begriff des Wissens
-von innen her zu überwinden. Wahr ist zwar nur, was die Vernunft in
-Übereinstimmung mit ihren eigenen Grundlagen und Voraussetzungen
-findet: aber in einem freien Sinn ist außerdem alles wahr, was den
-Menschen bändigt und erzieht, veredelt und aufklärt, läutert und
-verschönert, barmherzig und liebreich macht wie beispielweis jede
-der drei bekannten großen Religionen. Und weshalb nur jede der drei
-großen? weshalb nur jede der sogenannten Religionen? weshalb nicht
-alle in der Seele empfangenen und aus der Seele geborenen Religionen,
-Bekenntnisse, Glaubensvorstellungen, Moralen, Weltbilder, Künste,
-Heil- und Heiligtümer? So aufgefaßt aber machen die geflügelten Worte
-des Juden Nathan zum Kalifen Salah-ed-Din einen bislang unbekannten
-Zustand unseres Festlands kenntlich: einen bislang unbekannten Zustand
-nicht nur unseres Europa, sondern gleichsam eines neuen und eben
-erst erstehenden Kontinentes, der vielleicht nicht ganz unpassend
-Europasien zu nennen<span class="pagenum"><a name="Seite_330" id="Seite_330">[S. 330]</a></span> wäre, wenn anders man mir dieses Wort verzeihen
-will, welches eines Tages, wer weiß es, ein kaum mehr zu entbehrender
-Begriff sein wird... Genau diese nathanische Toleranz aber ist es,
-die jetzt dem europäischen Gebildeten den Zugang, den lang und
-fest versperrten, zum mütterlichen Festland wiederum entriegelt.
-Denn daß in diesem Augenblick einer der kritischsten, ja einer der
-polemischsten Köpfe seines kritischen Jahrhunderts diese durchweg
-männliche Duldsamkeit verkündigt, &mdash; es gibt auch eine weibische
-Duldsamkeit, von der hier nicht geredet werden soll! &mdash; daß just der
-Kritiker zur Toleranz sich bildet und in der Toleranz seine Kritik
-überwindet: das ist schon ein Stück Asien mitten im Herzen Europas.
-Das ist die erste Regung asiatischer, ja schon fast gotamidischer
-Groß- und Langmut, die sich unerschüttert-unerschütterlich genug weiß,
-alles unter dieser irdischen Sonne Auf- und Niedergehende in seiner
-Art an seinem Platze gelten zu lassen. Hier spricht die Menschlichkeit
-Asiens, wenn just der leidenschaftlichste Anti-Dogmatikus, der
-hitzigste Anti-Theologus das uralte Gleichnis von den drei Ringen
-wieder aufgreift und es der europäischen Welt, nein der Welt überhaupt
-als das nie mehr preiszugebende <i>tertium testamentum</i> hinterläßt. Der
-glänzendste Vertreter mittelalterlicher Bildung, der Fürst, an welchem
-das glorreiche Deutschland des Mittelalters zugrunde ging, konnte auf
-die nämliche Frage noch, welche Saladin dem weisen Nathan stellt, die
-Antwort von den drei Betrügern finden. Lessing jedoch fand darauf die
-tiefere und<span class="pagenum"><a name="Seite_331" id="Seite_331">[S. 331]</a></span> schönere Antwort von den drei Wahrheiten: und so fand er
-auf seine Weise eine Spur von jener Lehre, „deren Anfang begütigt,
-deren Mitte begütigt, deren Ende begütigt“...</p>
-
-<p>Das Zwischenspiel der europäischen Bildung, die endlich wieder einmal
-wußte, weshalb der Mensch wissen soll und wissen muß, war herrlich
-aber kurz. Es versprach überschwänglich viel und vieles, und das
-war mehr, als es halten konnte. Ein Jahrhundert, in wesentlichen
-Stücken deutsch trotz aller staatlichen Unbedeutung Deutschlands, ein
-Jahrhundert zwischen den Mannesjahren Herders, Wielands, Lessings
-und dem Tod der beiden Humboldts, &mdash; und vorbei! Dasselbe Volk aber,
-welches den Begriff der Bildung in einem ruhmreichen Geschlecht von
-Denkern, Künstlern, Dichtern und Gelehrten auf seinen europäischen
-Gipfel getrieben hatte, schändet diese Bildung und schändet sich selber
-mit einem niemals zu verzeihenden Zynismus. Was seit dem Sieg des
-schlechteren Deutschland über das bessere in Deutschland selber und
-folglich auch in Europa Bildung heißt, verhält sich zu der Bildung des
-achtzehnten Jahrhunderts wie sich ein Mann etwa von der Würde Schillers
-zu einem einjährig-freiwilligen Prüfling mit ‚erlangter Reife‘ verhält,
-oder wie sich ein Kunstwerk von dem Wert des Palazzo Pitti zu einem
-Schweinekoben verhält. Darüber ist längst jedes Wort zuviel; &mdash; genug,
-daß sich seit jenem schlimmsten Höllensturz, den vielleicht die
-europäische Geschichte vor dem November 1918 zu verzeichnen hat, die
-kritisch-protestantische Wissenschaft<span class="pagenum"><a name="Seite_332" id="Seite_332">[S. 332]</a></span>lichkeit des Abendlandes ohne
-jede selbst auferlegte Hemmung gehen läßt und austobt wie ein Mönch,
-der sein Gelübde brach. Jetzt hat ein jeglicher die Pflicht und auch
-das Recht, nach Möglichkeit alles zu wissen, alles zu begutachten,
-alles zu beurteilen, alles zu richten, alles zu entscheiden, alles
-zu erlauben, alles zu verbieten. Wahrheiten, die nicht Wahrheiten
-jedermanns sind und nicht ‚allgemein und notwendig‘ gelten oder nicht
-gelten, gibt es von jetzt an nicht mehr. Wahrheiten, die vielleicht
-nach dem strengen Wortgebrauch des Wissenschafters keine sind, vielmehr
-eher Irrtümer, die aber trotzdem ‚wahr‘ in einem anderen Wortgebrauche
-sind, weil sie Leben spenden und Entwicklungen fördern und Kräfte
-entfesseln und Bewegungantriebe übermitteln und Spannungen bewirken
-und Lösungen vorbereiten, &mdash; sie gibt es von jetzt an nicht mehr.
-Wahrheiten, die mit den einzelnen Lebensaltern wachsen und wieder mit
-ihnen welken und darum stets wieder ihre Zeit haben wie die Gezeiten
-des Himmels und der Erde, gibt es von jetzt an nicht mehr. Wahrheiten,
-die furchtbar auszuhalten sind wie eine verlorene Schlacht und dennoch
-eines Helden persönlichsten Sieg über die Welt und über sich selber
-darstellen, gibt es von jetzt an nicht mehr. Wahrheiten, die zwar nicht
-in Hörsälen nachgeschrieben, mit dem Steiß ersessen, mit dem Experiment
-erhärtet werden, dafür aber etwa mit dem eigenen Leben beglichen und
-mit dem eigenen Blut bezahlt sind, gibt es von jetzt an nicht mehr:
-desgleichen nicht mehr Wahrheiten, die zwar nicht in staatlichen
-Prüfungen<span class="pagenum"><a name="Seite_333" id="Seite_333">[S. 333]</a></span> öffentlich erprüft, dafür aber in vielerlei heimlichen
-Proben erprobt sind, nämlich in der Feuerprobe, in der Wasserprobe,
-in der Wollustprobe, in der Todesprobe, wie ein Adept altägyptischer
-Mysterien... Fortab verhält sich eine Sache so oder anders, und sobald
-dies ausgemacht ist, ist dieselbe Sache eigentlich im ersten wie im
-zweiten Fall erledigt, &mdash; denn ausgemachte Wahrheiten pflegen uns
-gemeinhin ebenso wenig zu bekümmern wie ausgemachte Unwahrheiten. Die
-Kriterien aber sind in jedermanns Besitz, wofern ja die Vernunft und
-ihre Verfahrungweisen wenigstens grundsätzlich in jedermanns Besitz
-sind. Kritik braucht daher nirgends haltzumachen, soll und darf
-sogar nirgends haltmachen. Jeder stempelt alles ab, fertigt alles
-ab, nimmt zu allem Stellung, wahrt zu allem Abstand, behält sich die
-letzte Entscheidung gegenüber allem vor, unterwirft seinem Recht- und
-Richterspruche alles. Denn Wissen, das heißt Gerichtstag halten, wie
-einmal ein Dichter über das Dichten sagte; aber Gerichtstag halten
-diesmal nicht über sich selber, wahrhaftig nicht! sondern über diese
-ganze sicht- und unsichtbare Welt. Bis zuletzt keiner mehr woaus woein
-weiß. Bis zuletzt keiner mehr eine Stätte weiß, wo er sein Haupt zur
-Ruhe betten kann. Bis zuletzt keiner mehr Ursach’, Grund und Zweck
-weiß, warum er weiß. Bis zuletzt keiner mehr in Wahrheit weiß, ob er
-weiß oder ob er nicht weiß...</p>
-
-<p>Europa aber oder die Christenheit, ihr Christen es litt und leidet
-unbeschreiblich unter dieser verhängnisvollsten Konsequenz des
-europäischen Protestantismus,<span class="pagenum"><a name="Seite_334" id="Seite_334">[S. 334]</a></span> die da Kritik heißt: Kritik ohne
-Einschränkung oder Zügelung, Kritik ohne Pause oder Ruhepunkt, Kritik
-ohne Grenze oder Maß, Kritik ohne Anstand oder Zucht. Mit dieser
-Kritik ist der Protestantismus des Westens außer Rand und Band
-geraten, und außer Rand und Band geraten sind mit ihm die Protestanten
-und Nichtprotestanten alle, die sich ihm freiwillig oder gezwungen
-gefügt haben, weil sie nicht das Odium der Unwissenschaftlichkeit
-auf sich nehmen wollten. Indes dieser Kritizismus am Leib und mehr
-noch an der Seele und am Geist der westlichen Menschheit frißt
-und wahrscheinlich alle drei noch einmal auffrißt, zeigt sich der
-Protestantismus Indiens von dieser Krankheit schlechthin unergriffen.
-In einer unverhältnismäßig entschiedeneren Art Protestant als irgend
-wer unter den repräsentativen Protestanten des Abendlandes, &mdash; den
-einzigen Nietzsche ehrenvoll ausgenommen! &mdash; verbietet eben dieser
-Protestant κατ’ ἐξοχήν Gotamo seinem Orden alles, was der
-Westen als die weltgeschichtlich bedeutsamste Errungenschaft des
-protestantischen Zeitalters immer noch mit vollen Backen auszuposaunen
-liebt: das uneingeschränkte Recht der Persönlichkeit auf Kritik,
-die uneingeschränkte Pflicht der Persönlichkeit zur Kritik, die
-uneingeschränkte Freiheit der Persönlichkeit zur Kritik. Wir Europäer,
-die wir seit Platons Tagen gelernt haben, das Wissen um der Wahrheit
-willen zu betreiben und bestenfalls in den Hoch- und Glanzzeiten
-unserer drei oder vier klassischen Kulturen den zersetzenden
-Wirkungen des <i>l’art pour l’art</i> ausgewichen sind, &mdash; wir Europäer<span class="pagenum"><a name="Seite_335" id="Seite_335">[S. 335]</a></span>
-wurden durch eben dieses <i>l’art pour l’art</i> die frechen <i>libertins</i>
-des Wissens und der Wahrheit, mit nur geringer Hoffnung, uns diese
-<i>libertinage</i> noch einmal selber zu verbieten, selber zu verbitten:
-ganz einfach aus der Erkenntnis ihrer Gefährlichkeit heraus. Der
-indische Mensch hingegen, von allem Anfang an das Wissen als eine
-Leistung von ganz anderem Sinn bewertend, bedient sich auch nirgends
-der Kritik, um von ihr aus das Wissen zu rechtfertigen, zu erhärten,
-zu bewähren. Vielmehr liegt es durchaus in der Machtvollkommenheit des
-Wissenden, das Wissen über jede Möglichkeit der Anzweiflung hinaus zu
-rechtfertigen, zu erhärten, zu bewähren. Dadurch nämlich, daß er mit
-Hülfe des Wissens jenen menschlichen Zustand verwirklicht, welchen
-das denkwürdige Gespräch der Chândogya-Upanischad zwischen Nârada
-und Sanatkumâra als die Überwindung des Kummers bezeichnet: „Ich
-aber, o Ehrwürdiger, bin bekümmert...“ &mdash; „Ich aber, o Ehrwürdiger,
-bin nicht mehr bekümmert!“... Wo der Wissende denen, die um ihm sind
-oder die sich ihm nähern, zu erkennen gibt, daß er diesen Zustand
-wirklich in sich verkörpert, da hat der Wissende nicht allein sich
-selber, sondern außerdem auch sein Wissen über jeden Einwand gewiß
-gemacht. An seinem persönlichen Zustand und Urstand liest man die
-Stufe erlangter Wissenschaft unmittelbar ab, wie man an den Zahlen
-eines Wärmemessers die Grade der Wärme oder Kälte unmittelbar abliest.
-So wird die Fragestellung nach Wahr oder Falsch nicht geradezu
-abgewiesen, denn dazu ist sie für die Lebens<span class="pagenum"><a name="Seite_336" id="Seite_336">[S. 336]</a></span>führung in jedem Sinn
-viel zu unentbehrlich. Wären wir nämlich außer stand, Wahr und Falsch
-zu unterscheiden, dann könnten wir wohl auch Wahrheit von Lüge nicht
-unterscheiden, und dieser Mangel an notwendigstem Wissen würde
-sofort in den Mangel an notwendigstem Gewissen umschlagen. Gehört
-doch gerade nach der Lehre des Buddho die Lüge zu den fünf gröbsten
-Hemmungen, die unbedingt beseitigt werden müssen, ehe die feinere
-Arbeit der Selbstläuterung und Selbstheiligung von statten gehen kann.
-Schon also um nicht lügen zu müssen, muß man Wahrheit von Wahn zu
-unterscheiden vermögen, und in diesem Betracht läßt freilich auch die
-buddhistische Heilslehre Kritik nicht nur zu, sondern fordert sie mit
-aller Strenge. Auf der Erkenntnis der Wahrheit im Gegensatz zur Lüge
-beruht auch hier jede höhere Menschlichkeit, und nur, was Wahrheit im
-Gegensatz zu Irrtum, Irrtum im Gegensatz zu Wahrheit betrifft, trennt
-sich die Auffassung Indiens, insonderheit die Auffassung Gotamos mit
-Bestimmtheit von der unseren. Indes Wert oder Unwert des Wissens bei
-uns ausschließlich davon abhängig gemacht wird, ob es Wahrheit, ob es
-Irrtum mitteilt, entscheiden dort Wahrheit und Irrtum von sich aus
-nicht über Wert oder Unwert des Wissens. Wesentlich für das Wissen
-ist ausschließlich das eine, daß es den Wissenden emporstufe und
-empormensche gemäß der Lehre, gemäß der Regel. Ein Wissen jedoch,
-nur dazu erworben, um Wahres von Verkehrtem, Falschem, Irrigem zu
-sondern, ist in den Augen Gotamos wo<span class="pagenum"><a name="Seite_337" id="Seite_337">[S. 337]</a></span>fern nicht wertlos, so doch
-vollkommen belanglos: Adiaphoron! In dem berühmten Gleichnis vom
-vergifteten Pfeil in der Dreiundsechzigsten Rede aus der Mittleren
-Sammlung Majjhimanikâyo fertigt der Buddho alle diesbezügliche
-Neubegier mit einem unübertrefflich feinen und geistreichen Spott ab,
-und wer hier zwischen den Zeilen und nicht allein auf ihnen zu lesen
-verstünde, der würde vielleicht gewahr, daß für Gotamo unter den
-Inbegriff ‚wissenschaftlicher‘ Neubegier so ziemlich alle die ‚ewigen‘
-Fragen unserer Europäerwelt mit ihren Disjunktionen, Alternativen,
-Paralogismen, Subreptionen, Antinomien fallen, &mdash; tausendunddrei und
-ihr seid auch dabei!...</p>
-
-<p>Nur Eine Wissenschaft, nur Eine Wahrheit tat hier also wirklich not.
-Sie aber, und dies ist die hohe Überraschung für den Protestanten des
-Westens, ist keiner Kritik unterworfen. Das Wissen, ein Verfahren der
-Verwirklichung und Vollendung des ‚heiligen Zieles‘, erträgt in dieser
-Eigenschaft schlechterdings keinen Einspruch, keinen Abstrich, keine
-Verbesserung, keine Erweiterung: weder im großen und ganzen noch im
-einzelnen und kleinen. Hier steht jeder Buchstab’, jedes Wort und jeder
-Satz, und weh’ dem eitlen Besserwisser, der sich nach Abendländersitte
-hier gedreistet, kritische Glossen an den Rand zu schreiben. Der
-Buddho, unstreitig die edelste Verkörperung menschlicher Duldsamkeit,
-zeigt sich durchaus unduldsam in Ansehung der Lehre und versteht
-bezüglich ihrer wahrlich keinen Spaß. Wir Europäer, unduldsam bis ins
-Mark und aus Unduld<span class="pagenum"><a name="Seite_338" id="Seite_338">[S. 338]</a></span>samkeit unsäglich böse, tückisch und rachsüchtig,
-wir haben die ‚Freiheit der Kritik‘ erfunden, um uns vor uns selbst
-zu schützen, &mdash; und haben damit kraft ungeschriebenen Gesetzes auch
-der dreckigsten Nase erlaubt, ja geradewegs geboten, die reinlichsten,
-heiligsten, göttlichsten Dinge zu beschnüffeln. Aber Gotamo, dessen
-Muttersprache nicht einmal ein Wort für Ketzerei enthält, geschweige
-denn einen Begriff, &mdash; wie fertigt er seine Mönche ab, wenn sie sich
-herausnehmen wollen, eine eigene Meinung hinsichtlich der Lehre zu
-haben! Mit welch ätzender Schärfe, mit welch schneidender Härte weist
-er den leisesten Versuch zurück, an der Lehre zu kritteln und zu
-deuteln: mit einer Härte und Schärfe, welche kein römischer Papst hat
-jemals übertreffen können. Das Wort sie sollen lassen stahn, dieses
-Prooimion überschreibt groß und wuchtig die Pforte, durch welche der
-Mönch Einlaß findet in diesen heiligsten Orden der Welt. Undenkbar,
-ganz unausdenkbar, daß jeder grünere oder reifere, jeder dümmere
-oder klügere Mensch ein Recht dazu besäße, die Lehre zu erörtern
-oder vollends über ihren Wert oder Unwert (der diesseit-jenseit von
-Wahr und Falsch ist!) die Entscheidung zu treffen. Undenkbar, ganz
-unausdenkbar, daß ein beliebiger Jemand den lebendig gewachsenen
-Wunderbau dieser ‚Wissenschaft‘ etwa hätte auf einem neuen Grundriß
-errichten, daß er hier eine Wand hätte einziehen, dort eine Mauer
-hätte ausbrechen lassen dürfen. Wohl hat der Buddho nicht verhindern
-können, daß nach seiner endgültigen Erlöschung manche ‚unechte‘ Rede
-unter<span class="pagenum"><a name="Seite_339" id="Seite_339">[S. 339]</a></span> dem Stempel ‚Das hab ich gehört‘ in Umlauf kam, &mdash; manche Rede,
-die er nie gesprochen oder wenigstens nie in diesen Worten gesprochen
-hatte. Wohl hat er ferner nicht verhindern können, daß sein Bild im
-Gedächtnis der Nachlebenden solang aufgehöht und übermalt ward, bis
-es zuletzt zu jener Völligkeit des erhabenen Reliefs gedieh, welche
-unerläßlich zu sein scheint, damit unberatene Völker das geistige
-Walten eines ‚Herrn‘ verspüren. Und am wenigsten hat er verhindern
-können, daß die Legende, will heißen das zu ‚Sagende‘ und zu ‚Lesende‘,
-ihn schließlich mit der Aureole von Majestät umspann, die stets das
-Wahrzeichen einer vollzogenen Göttlichsprechung des Menschen durch die
-Menschheit gewesen ist. Jedoch was in der Folgezeit auch geschehen
-sein mochte, damit aus dem urwüchsigen Buddhismus des <i>Hînayânam</i>
-(das ist ‚Kleines Fahrzeug‘) der Buddhismus des <i>Mahâyânam</i> (das ist
-‚Großes Fahrzeug‘) werden konnte und mithin aus der Religion des
-Buddho die eine Kirche oder die mehreren Kirchen der Âdhibuddhas,
-Dhyânibuddhas, Dhyânibodhisattvas, &mdash; in keinem Fall verliert sich der
-Protestantismus Gotamos in den Kritizismus, wie das dem europäischen
-Protestantismus zugestoßen ist. In keinem Fall beschwört folglich der
-indische Protestantismus über seine Heimat die Krisis herauf eines
-Wissens um der Wahrheit an und für sich selbst willen, wie das der
-Kritizismus des Westens getan hat. Wieviel starke oder schwache Fäden
-daher auch gezwirnt sein mögen, die zwischen indischem und europäischem
-Protestantismus hin- und<span class="pagenum"><a name="Seite_340" id="Seite_340">[S. 340]</a></span> widerschießen, und wie vertraulich nah’
-der Buddho bald einem Eckhart, bald einem Kant, bald einem Nietzsche
-rücke, &mdash; was seine Lehre anlangt, gehört sie mit ihrem Anspruch auf
-unbedingte Geltung eher den katholisch-dogmatischen Lebensordnungen
-an als den protestantisch-kritischen. Oder sag’ ich vorsichtiger
-und richtiger: sie würde eher jenen als diesen zugehörig sein, wenn
-sie nicht zu guter Letzt weder mit dem Dogma noch mit der Kritik in
-unserem europäischen Wortverstand im geringsten etwas zu schaffen
-hätte. Denn faß’ ich jetzt einmal noch alles hier Gesagte zusammen
-und frage einmal noch: was hat es für eine Bewandtnis mit dieser
-Lehre, diesem Wissen <i>sui generis</i> diesseit wie jenseit von Dogmatik
-und Kritik? &mdash; so ist nur eine Antwort darauf möglich: diese Lehre,
-dieses Wissen ist kein Urteilen mehr und kein Schließen, kein Besondern
-mehr und kein Verallgemeinern, kein Rechnen mehr und kein Zählen,
-kein Verbinden mehr und kein Trennen, kein Ergründen mehr und kein
-Erklären, kein Messen mehr und kein Wägen, kein Unterscheiden mehr und
-kein Ineinandersichten, kein Voraussetzen mehr und kein Beweisen, kein
-Zergliedern mehr und kein Verknüpfen, kein Begriffbilden mehr und kein
-Sinndeuten. Sondern ist recht und schlecht ein Tun und Vollbringen,
-durch welches der Mönch nach erworbener Meisterschaft sein Verhältnis
-zur Welt und sein Verhalten zu ihr regelt. Verwinder des Nichtwissens,
-Verwinder des Wähnens, Verwinder des Leidens, strahlt der Wissende
-das Licht seines Wissens in alle Richtungen und Winkel des erfüllten<span class="pagenum"><a name="Seite_341" id="Seite_341">[S. 341]</a></span>
-Raums. „Liebevollen Gemüts weilend strahlt er nach einer Richtung,
-dann nach einer zweiten, dann nach der dritten, dann nach der vierten,
-ebenso nach oben und nach unten: überall in allem sich wiedererkennend
-durchstrahlt er die ganze Welt mit liebevollem Gemüte, mit weitem,
-tiefem, unbeschränktem, von Grimm und Groll geklärtem. Erbarmenden
-Gemütes &mdash; freudevollen Gemütes &mdash; unbewegten Gemütes weilend strahlt
-er nach einer Richtung, dann nach einer zweiten, dann nach der dritten,
-dann nach der vierten, ebenso nach oben und nach unten: überall
-in allem sich wiedererkennend durchstrahlt er die ganze Welt mit
-erbarmendem Gemüte, mit freudevollem Gemüte, mit unbewegtem Gemüte, mit
-weitem, tiefem, unbeschränktem, von Grimm und Groll geklärtem“...</p>
-
-<p>Der Mönch der unbeschränkten Gemüterlösung, der Strahlende Mönch,
-ihr Christen, das also ist der gotamidisch Wissende. Der Strahlende
-Mönch, das ist der Wissende, der da sein Wissen, indem er’s übt und
-vollbringt, wider jeden Einwand feit und sichert. Der Strahlende
-Mönch, das ist der Wissende, der sein Wissen gültig in sich selber und
-gültig durch sich selber rechtfertigt, erhärtet und bewährt. Europa
-aber, ihr Christen, das berstende Haupt der Erde, &mdash; es möchte sein,
-ihr Christen, daß es in dunkelster Stunde seines Mönches harre, der
-da wissend geworden in die Verfinsterung hinein sein Licht strahlt:
-erbarmenden Gemütes, freudevollen Gemütes, unbewegten Gemütes...</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="chapter">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_343" id="Seite_343">[S. 343]</a></span></p>
-
-<h2 class="nobreak" id="DIE_VIERTE_UNTERWEISUNG">DIE VIERTE UNTERWEISUNG:<br />
-BUDDHO DER ÖST-WESTLICHE</h2>
-
-</div>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_345" id="Seite_345">[S. 345]</a></span></p>
-
-<p class="initial">DAS HEILIGE JA LASST UNS BEKENNEN DAS HEILIGE JA ÜBER DIE AUF- UND
-NIEDERGÄNGE &mdash; DAS HEILIGE JA ÜBER GEBURT UND TOD, GESTIRN UND
-SCHICKSAL &mdash; DAS HEILIGE JA ERSCHAFFE DIESE WESEN UND ERHALTE SIE,
-DAMIT SIE IN DER FÜLLE STEHN WIE EINE HUNDERTBLÄTTERROSE IN IHRES
-MITTSOMMERS MITTAGGLÜCK &mdash; DAS HEILIGE JA ZERSCHMELZE DIESE WESEN IN
-SEINES EWIGEN FEUERS TIEGEL UND HÄRTE SIE DARIN, BIS SIE GEDIEHEN
-SIND, BIS SIE GEDIEGEN SIND &mdash; UND ALSO VERLÖSCHE DAS HEILIGE JA
-DIESE WESEN IN SEINES EWIGEN WASSERS BORN UND BRING IN IHM DIE WESEN
-WIEDER EWIGLICH &mdash; WILLKOMMEN DEM JA-SELBST ALLE WESEN UND WILLKOMMEN
-IHM GLEICHERMASSEN DIE GEGEN- UND WIDERWESEN ALLE &mdash; DIES IST DAS
-HEILIGE JAWORT UND FROHWORT UND DES FROHWORTES HEILIGE GRUSSSPENDE,
-ANDACHTSPENDE, OPFERSPENDE &mdash; DIES IST GELÄUTERTEN HERZENS ERSTGEBURT,
-DARGEBRACHT IM FESTWEIHTEMPEL DER WELT &mdash; WER DU AUCH BIST, O MENSCH,
-IN VIERTEN VIERTELS EDLER MONDSCHWELLUNG DEINER MENSCHLICHKEIT ODER IN
-IHRES DRITTEN, ZWEITEN, ERSTEN VIERTELS BEDAUERLICHER SCHWINDUNG:</p>
-
-<p class="center">&mdash; ICH WILL DIR WOHL &mdash;<br />
-DIES IST DIE LETZTE UNTERWEISUNG</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_346" id="Seite_346">[S. 346]</a></span></p>
-
-<div class="section">
-
-<p class="initial">Es ist uns etwas zugestoßen, ihr Christen, während dieser
-Mitternachtstunde in der Völkergruft Europas. Es ist uns etwas
-zugestoßen, wofür es noch keinen Namen gibt; es ist uns ein Zeichen
-geworden, welches noch niemand deuten kann. Mit nichten aber ist es
-dieser Krieg oder was ihm noch folgen wird auf seiner qualmenden Bahn.
-Auch der drohende Niedergang ist es nicht einer dreitausendjährigen
-Gesittung, die ihren Weg einst vom Südosten des Festlands aus
-genommen hatte, dann den Westen und die Mitte wie mit artenreichem
-Pflanzenwuchs verschwenderisch berankte, und jetzt im Nordosten des
-Festlands jählings endigt. Gehört doch derlei jeweils zu dem Leben
-der Geschichte: daß Siebenjährige, Dreißigjährige Kriege wüten, daß
-volkreiche Staaten gegründet und zerstört werden, daß rühmliche
-Gesittungen reifen und entarten. Sogar Umwälzungen von heftigster
-Gewaltsamkeit, die wir, käme es nur auf uns an, höchstens als grausame
-Ausnahmen gelten ließen, gehören offenbar zu den gebräuchlicheren
-Mitteln der Geschichte. Wären wir zum Beispiel genauere Kenner unseres
-Mittelalters, als wir in der Regel sind, dann wäre uns bewußt, daß
-in unserer eigenen Vergangenheit ein gesellschaftlicher Umsturz nach
-dem andern pausenlos eintrat wie das Feuern aus den Geschützen einer
-Batterie. Erlauchte Rassen und Stämme, eben noch Träger weithin
-wirkender geschichtlicher Bewegungen, sind schon einen Augenblick
-später von den Wirbeln des Todes fast spurlos verschlungen. Und wo
-die Rassen oder<span class="pagenum"><a name="Seite_347" id="Seite_347">[S. 347]</a></span> Stämme als solche dauern, da schichten sich ihre
-Stände in desto stärkeren Erschütterungen um und um. Was das für ein
-Trauerspiel gewesen sein mag, wenn etwa die freien Bauernschaften der
-taciteischen Germanen unter den fränkischen, sächsischen, salischen
-Königen unwiderstehlich zu Hintersassen, zu Hörigen erniedrigt wurden,
-das ahnen wir vielleicht in diesen Tagen, wo ein blühender Mittelstand
-einem ähnlichen Verhängnis verfallen zu sein scheint. Was damals den
-freien Bauern der Dorf- und Markgenossenschaft geschah, ist später dem
-Laienadel nicht erspart geblieben, der seinerseit vom Aufstieg der
-Städte und von der Ausbreitung der Geldwirtschaft an in fortschreitende
-Abhängigkeit vom bürgerlichen Geldgeber gerät. Bis dann im
-Dreißigjährigen Krieg auch diesem Bürger wiederum die Stunde geschlagen
-hatte und er zu seinem Teil dem <i>dominus terrae</i> mehr oder minder
-schimpflich untertänig ward... Umwälzungen dieser Art, wie bitter sie
-von den Betroffenen empfunden werden und wie zahlloses Menschenglück
-ihnen zum Opfer fällt, gehören also dennoch dem unbegreiflichen
-Leben und Weben der Geschichte an. Wir Gegenwärtigen verwundern uns
-mutmaßlich über sie nur darum so ungemein, weil wir in vierzig Jahren
-gleißender Befriedung und Verbürgerung die schicksalhafte Härte und
-Unabänderlichkeit geschichtlichen Geschehens höchstens noch in den
-Annalen der Vergangenheit fanden. Welch ein unterschwürig bedrohtes,
-stets der Bedrängnis seitens des Mächtigeren ausgesetztes Dasein der
-geschichtliche Mensch<span class="pagenum"><a name="Seite_348" id="Seite_348">[S. 348]</a></span> bis dahin zu fristen verdammt war, hatten wir
-gründlich vergessen, &mdash; vielleicht mit alleiniger Ausnahme derer,
-die sich mit Recht oder Unrecht die Enterbten zu nennen pflegten.
-Erschüttert und aufgewühlt, ja in tiefster Seele recht eigentlich
-außer uns gesetzt, erfühlen wir’s erst seit Neunzehnhundertundvierzehn
-wieder, was es heißt, um Luft und Licht, Freiheit und Leben zu ringen
-auf jenem fürchterlichen Kampfschauplatz, der Geschichte heißt...</p>
-
-</div>
-
-<p>Trotzdem kann es nicht diese mit Blut und Tränen erkaufte Erkenntnis
-sein, die uns aus jedem wohltätigen Gleichgewicht der Seele gebracht
-hat. Da es der geschichtlichen Menschheit nur in wunderseltensten
-Feierstunden besser erging als uns, meist jedoch wesentlich schlechter,
-müßte sie folgerichtig auch ihrerseit die Merkmale, und zwar die
-verstärkten Merkmale unserer dermaligen Gemütsverfassung aufweisen,
-&mdash; weist sie aber dessen unerachtet nicht auf! Im Gegenteil. Je
-unsicherer, gesetzloser, verbrecherischer die Zeiten waren, je heftiger
-der Einzelne unter sittlicher und bürgerlicher Willkür zu leiden
-hatte, je fragwürdiger sich sein ganzes gesellschaftliches Dasein
-ausnimmt, desto hochwertiger bedünken uns oft die Leistungen unserer
-geschichtlichen Vorfahren. In einer Chronik des dreizehnten oder
-sechzehnten Jahrhunderts blätternd, verstehen wir’s schlechterdings
-nicht, wie es die Menschen unter den geschilderten Verhältnissen
-hatten überhaupt nur aushalten können. Uns aber dann von diesen
-Chroniken her den Denkmalen jener Zeiten zuwendend, den Denkmalen in<span class="pagenum"><a name="Seite_349" id="Seite_349">[S. 349]</a></span>
-Erz und Stein, in Holz und Glas, auf Leinwand und auf Pergament, &mdash;
-wie sind wir nicht erstaunt und ergriffen von der Weitatmigkeit des
-Schwungs, der die Besten ihres Zeitalters zu solchen Werken, solchen
-Taten hinriß! Und wie wir denn im Leben wohl hie und da einen Mann
-kennenlernen, der von wilden Leidenschaften hin- und hergetrieben
-wird und dennoch auf dem Grunde seines Wesens einen tiefen, schönen
-Frieden göttlich spiegelt, so scheinen just die Zeitalter klassischer
-Erfüllung nach außen hin zwar stürmischer als alle anderen bewegt,
-jedoch nach innen in jenem Zustand seelischer Ausgeruhtheit durchaus
-zu verharren, wie er nach traumlos erquickendem Schlaf das menschliche
-Gehirn allein zu seinen schöpferischen Eingebungen stärkt und befähigt.
-Diesen beneidenswerten Anblick indes bieten wir selbst heute in
-keinerlei Betracht dar, wenigstens nicht für uns selbst als unsere
-eigenen Beobachter und Beurteiler. Im Unterschied zu so begünstigten
-Zeitaltern ist das unsrige vielleicht, nach außen gewendet, nicht
-einmal stürmisch bewegt zu nennen, &mdash; wie ungereimt dies auch
-klingen mag! &mdash; geschweige, daß es, nach innen gewendet, den Zustand
-gestärkten Ausgeruhtseins, Ausgeruhthabens nach irgend einer Richtung
-hin darbieten würde. Die entnervende Unruhe, die uns ergriff, ist
-nicht die Unruhe des aufbrandenden Lebens, sondern des fiebernden
-Blutes. Unserm Betätigungdrang fehlt bei aller Rastlosigkeit der weit
-ausholende Pendelschlag organischer Rhythmik. Unserm Übereifer zu
-Lebens<span class="pagenum"><a name="Seite_350" id="Seite_350">[S. 350]</a></span>erneuerungen um jeden Preis mangelt die sichere Einstellung in
-die letzten Welt- und Lebensziele. Unserer Geschwätzigkeit über Gott
-und Geist gebricht das unbeirrbare Zutrauen zu uns selbst und der von
-uns gewählten Richtung. Darum überzeugt keiner den andern, traut keiner
-dem andern, glaubt keiner dem andern. Ein unbestimmbares Etwas, eine
-Tugend, eine Gnade ist uns offenbar abhanden gekommen, welche unsere
-Vorfahren in den schlimmsten Zeiten der Vergangenheit nicht zu missen
-hatten. Irgend ein Gut, dessen der geschichtliche Mensch unerläßlich
-zum Leben bedarf, wurde uns entwendet; irgend welche Gewichte, die den
-Uhrgang unserer Zeitlichkeit zu regeln haben, sind ausgehängt worden.
-Aber es ist wahrhaftig schwer, ein Ding zu suchen und wieder zu finden,
-von welchem man nicht einmal eine deutliche Vorstellung hat und das man
-trotzdem verlor...</p>
-
-<p>Vor einem halben Jahrhundert, etwas früher oder etwas später, mag es
-sich zugetragen haben, daß unsere europäische Gesellschaft allmählich
-in diese seltsame Schwankunglage hineinglitt, von der hier die Rede
-ist. Mit einigen ganz unverkennbaren Anzeichen von beängstigender
-Übereinstimmung setzt ein Zeitalter ein, das mit einigem Fug das
-Zeitalter der Entblößungen genannt werden dürfte: denn eine Entblößung
-der Gattung Mensch vor sich selbst beginnt, wie sie mit ähnlicher
-Unerbittlichkeit, mit ähnlicher Schamlosigkeit von keinem der
-geschichtlich bekannten Zeitalter geübt worden ist. Das war wie wenn
-ein vor<span class="pagenum"><a name="Seite_351" id="Seite_351">[S. 351]</a></span>nehm und kostbar gekleidetes Weib sich eines Abends vor dem
-Stehspiegel auszöge und nun, da sie ein Kleidungstück nach dem andern
-ablegt, erst mit Befremden, dann mit Mißbehagen, dann mit Kummer, dann
-mit Abscheu, dann mit Haß auf sich selber die vormals nie beachteten
-Mängel ihres unvollkommenen Leibes wahrnähme: dies also bin ich, dies
-ist mein dünnes, ausgekämmtes Haar, dies mein verbrannter Hals und
-Nacken, dies meine abgeblühte Büste, dies meine wulstig gepolsterten
-Hüften, dies meine kurzen und gekrümmten Beine, dies mein flach und
-platt geformter Fuß... Ähnlich einem solchen Weibe, das sich vor ihrem
-Spiegel peinlich entkleidet und ihre arme Nacktheit nach all ihren
-Häßlichkeiten streng durchmustert, zornig und traurig zumal, daß
-sie nur ist wie sie ist, und dennoch außerstand, auf ihre grausame
-Selbstprüfung zu verzichten, &mdash; ähnlich beginnt der europäische Mensch
-zu einer ganz bestimmten Zeit im abgelaufenen Jahrhundert sich vor
-sich selber ohne Schonung zu entblößen und alles, was er bisher tat
-und schuf, auf seinen Unwert hin zu erforschen. Da ist vor allem sein
-höchster Stolz und Abgott, der sogenannte Staat: bei Licht besehen nur
-die Anstalt einer kleinen Anzahl Mächtiger zur dauernden Knechtung
-und Entrechtung machtloser Massen. Da ist des ferneren die sogenannte
-Gesellschaft: bei Licht besehen nur die angemaßte Herrschaft einer
-Kaste, einer Klasse über andere Kasten und Klassen, die herkömmlich
-als nicht geeignet für die Ausübung der Herrschaft gelten. Da ist
-die<span class="pagenum"><a name="Seite_352" id="Seite_352">[S. 352]</a></span> sogenannte Wirtschaft: bei Licht besehen nur die regelrecht
-betriebene Ausbeutung menschlicher Arbeitkräfte als einer käuflichen
-Ware durch den einzelnen oder vergenossenschafteten Unternehmer. Da
-ist die sogenannte bürgerliche Lebensordnung: bei Licht besehen nur
-die als Ehrbarkeit vermummte Heuchelei und die als Sittenstrenge
-sich aufspielende Zuchtlosigkeit. Da ist die sogenannte Ehe: bei
-Licht besehen nur der Lebens- und Todeskampf der ewig feindlichen
-Geschlechter. Da ist die sogenannte Liebe: bei Licht besehen nur die
-wilde Gier der gegenseitigen Besitzergreifung. Da ist die sogenannte
-Sittlichkeit: bei Licht besehen nur die Bemäntelung selbstsüchtiger
-Leidenschaften durch angeblich selbstlose Beweggründe und Triebfedern.
-Da ist die sogenannte Religion: bei Licht besehen nur die Übertragung
-niemals erfüllter und unerfüllbarer Menschenwünsche auf die Gestalten
-erdichteter Götter. Da sind die sogenannten Ideale: bei Licht besehen
-nur die bewußten Widerspiegelungen jeweils wirtschaftlicher Vorgänge
-und Verhältnisse, wenn nicht am Ende gar die aus Angst vor der
-Wirklichkeit erzeugten Welt- und Selbstbeschönigungen. Da ist die
-sogenannte Seele: bei Licht besehen nur ein Bündel von unersättlichen
-Trieben und Begehrungen, von denen niemand wissen kann, welche in der
-nächsten Sekunde die Oberhand gewinnen werden. Da ist der sogenannte
-menschliche Verstand, die menschliche Vernunft sogar: bei Licht
-besehen nur eine Waffe mehr im Kampf ums Dasein, um den Nächsten zu<span class="pagenum"><a name="Seite_353" id="Seite_353">[S. 353]</a></span>
-überlisten und womöglich über seine Leiche eine Stufe höher zu turnen
-hinauf zum Besitz, zur Macht und zum Erfolg. Da ist das sogenannte
-Recht: bei Licht besehen nur die Verewigung menschlicher Rachsucht
-und Vergeltungwut, die das Verbrechen ahndet, indem sie’s wiederholt,
-und den Verbrecher straft, indem sie ihn foltert oder tötet... Dieser
-Art fühlte sich der <i>homo europaeus</i> jener Jahrzehnte gedrungen, die
-Summe seiner bisherigen Anstrengungen mit einer gewissen Lust an
-Selbstzerstörung dämonisch zwangsläufig zu ziehen; &mdash; solchermaßen fand
-er alles Geleistete verdammungwürdig, verächtlich, schlecht. Nicht
-wollte und konnte er eher ruhen, bis er sich die letzten Fetzen jener
-prachtvollen, aber lügenhaften Verhüllungen von seinem Leib gerissen
-hatte, &mdash; Verhüllungen, die ihm bisher prahlerisch verheimlicht hatten,
-daß er das böse Tier der Eis- und Steinzeit je und je geblieben war:
-„säuischer als Schweine, grimmiger als Löwen, geiler als Böcke,
-neidiger als Hunde, unbändiger als Pferde, gröber als Esel, versoffener
-als Rinder, listiger als Füchse, gefräßiger als Wölfe, närrischer als
-Affen und giftiger als Schlangen und Krotten,“ wie unser herzhafter
-Simplizissimus derb und heftig herausgesagt hat... Der Mensch, das
-Tier der Urzeit: so zweigte ihn ja jetzt die Wissenschaft selber
-zoologisch, morphologisch ein in den Stammbaum der lebendigen Wesen,
-die das Tierreich bilden. Aber der Mensch ist nicht nur das Tier der
-Urzeit, sondern das böse Tier der Jetztzeit, weil er sich trotz seiner
-Abkunft aus dem Tier<span class="pagenum"><a name="Seite_354" id="Seite_354">[S. 354]</a></span>reich ein menschliches Wissen um Böse und um
-Gut erworben hatte. In dieser Jetztzeit ist der Augenblick für ihn
-gekommen, in dieser Jetztzeit, und keineswegs schon am Anfang, wie es
-das Alte Testament will, wenn es vom ersten Menschenpaar berichtet:
-„da wurden ihrer beiden Augen aufgetan, und wurden gewahr, daß sie
-nacket waren“... In dieser Stunde der gnadenlosen Selbstentblößung und
-Selbstbeschämung sieht sich der europäische Mensch nacket, &mdash; hier
-übermannt ihn die Erkenntnis, daß alles, was er aufgewendet hatte in
-den Jahrtausenden, die seine Erinnerung umspannt und mehr noch in
-den anderen, die seine Erinnerung nicht umspannt, dem eigenen Urteil
-nirgends standhalten konnte. Nun er mit unsäglichem Aufgebot dies wilde
-böse Tier in sich gebändigt hatte, mußt’ er sich überzeugen, daß er von
-seiner Wildheit zwar manches abgegeben, die Bosheit jedoch bewahrt und
-gemehrt hatte, und daß verrucht war, was ihm von Herz und Händen ging...</p>
-
-<p>Jahraus jahrein hatte so der europäische Mensch durch die Zunge solch
-unentwegter Selbstankläger zu sich selbst gesprochen. Jahraus jahrein
-hatte er sich mit eigener Zunge selbst gestochen und zerstochen, bis
-er zuletzt noch einmal durch die Stimme dreier Propheten sprach,
-die am Werk der Selbstentblößung ihrerseit am eifrigsten beteiligt
-waren. Und was sie lautbar machten, hörte sich freilich schon wie der
-zerberstende Hornstoß Heimdalls, des Zeichengebers an, als er von der
-Zinne Walhalls Schiff Naglfar draußen am Rand des brüllenden Nordmeers<span class="pagenum"><a name="Seite_355" id="Seite_355">[S. 355]</a></span>
-kreuzen sah... Von diesen denkwürdigen Dreien durchlitt der Erste zum
-voraus in eigener Person alles Leid, welches in Bälde eine Menschheit
-würde überkommen müssen, wenn sie wirklich die letzte Scham von sich
-geworfen hatte und mit der eigenen Nacktheit Unzucht trieb. Wie er
-indes in Wahrheit keines Rats sich wußte, und sogar nicht einmal ein
-Wort, ein trostspendendes oder aufrichtendes, finden konnte, verbeugte
-er sich nur tief bis auf die Erde, etwa wie sich der Staretz Sossima
-vor Mitjä Karamassoff verbeugt hat, &mdash; und ging vorüber. Der Zweite
-dieser Drei aber tat sich in eigener Person alle Qualen an, mit welchen
-binnen kurzem der arme Teufel Mensch seinen Mitmenschen foltern würde:
-er weiß es selber nicht, warum und zu wessen größerer Ehre. Zwar fand
-auch dieser Zweite nicht eigentlich einen Rat, aber immerhin doch ein
-Wort der Klage. Und legte sein Wort, seltsam genug! der Tochter des
-indischen Himmelskönigs in den Mund, welche wie weiland der blonde Held
-Krischna auf die Erde herabgefahren war, damit ihr des Menschlichen
-ferner nichts fremd bleiben möchte. Mit innigem Erbarmen sagt Indras
-Tochter immer nur das eine, was allerdings wenig helfen oder bessern
-konnte: Es ist schade um die Menschen, es ist schade... und also
-wehklagend ging auch der zweite Prophet vorüber. Der Dritte jedoch,
-höheren, helleren Geistes als die beiden andern und von dem Merkmal auf
-des Merkmals Ursache schließend, erkannte die elende Unzulänglichkeit
-der bisherigen Gattung Mensch, die soviel<span class="pagenum"><a name="Seite_356" id="Seite_356">[S. 356]</a></span> schwerer zieht und wiegt
-als sogar ihre Bosheit. Dieser erschütternden Unzulänglichkeit gewahr
-werdend, leuchtet ihm eine Botschaft auf, die Rat zu schaffen scheint,
-wenn nicht schon für den Augenblick, so doch für die Zukunft: der
-Mensch ist Etwas, das überwunden werden muß. Diese Botschaft ging nicht
-vorüber, auch wenn ihr Künder vorüberging, und haftete zitternd wie der
-Schuß eines befiederten Pfeiles in den Herzen...</p>
-
-<p>Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muß; die menschliche
-Unzulänglichkeit ist Etwas, das überwunden werden muß! Es wird also
-eine Zeit sein, wo sich der Mensch seiner Nacktheit vor dem Spiegel
-nicht mehr länger zu schämen braucht, weil sie ihm keine Mängel
-und Gebresten, sondern Schönheiten und Vollkommenheiten zeigt.
-Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muß und folglich auch
-hoffentlich überwunden werden kann? &mdash; dies Ziel lockt stärker als
-irgend eines. Aber wie kann er denn überwunden werden? Den Menschen
-zu überwinden, roh, tierhaft und unmenschlich, wie er aus den Händen
-der Schöpfung hervorging: darauf hatten doch sicherlich schon alle
-die Anstalten gezielt, welche der ehrlichen Selbstprüfung von vorhin
-nicht standgehalten hatten. Den Menschen zu überwinden waren die
-sämtlichen Erfindungen, Einrichtungen, Gründungen, Hervorbildungen
-gemacht worden, die eine wesentlich menschheitliche Werkwelt zu
-unserer Genugtuung umfassen. Mit welcher Sorgfalt hatte der Mensch
-nicht diese Werk- und Werkzeugwelt,<span class="pagenum"><a name="Seite_357" id="Seite_357">[S. 357]</a></span> die er Kultur nennt, zwischen
-seinen frühesten Ursprung und seine späteste Mündung geschichtet. Mit
-welcher Künstlichkeit hatte er nicht seine Sinne vervielfältigt und
-seinen Sinn geschärft, um mit vervielfältigten Sinnen und geschärftem
-Sinn eine höhere und menschenwürdigere Umwelt selbsttätig um sich
-zu schaffen. Jede Erfindung und jedes Werkzeug bedeutete ja oder
-sollte wenigstens bedeuten eine Steigerung menschlichen Könnens, eine
-Verringerung menschlichen Arbeitaufwandes, eine Bewehrung menschlicher
-Schutzlosigkeit, eine Ausweitung menschlichen Machtbereichs. Jede Kraft
-und Eigenschaft der Natur wurde derart zu einer Kraft und Eigenschaft
-des Menschen erhoben, und so ging an ihm schier buchstäblich das
-hoffmannsche Märchen von Klein-Zaches, genannt Zinnober, in Erfüllung,
-wonach alles Nützliche, Angenehme, Tüchtige, das in Gegenwart dieser
-kleinen Mißgestalt von anderen geleistet ward, durch eine wunderliche
-Übertragung dieser Mißgestalt selber als dem eigentlichen Urheber
-dankbarst zuerkannt wurde... Das bevorzugte Mittel also, welches
-insonderheit dem europäischen Menschen zur Überwindung des Menschen,
-wie er sie verstand und allein verstehen konnte, verhelfen sollte,
-heißt infolgedessen mit einem einzigen Wort umschrieben: Werkwelt,
-Werkzeugwelt. Die Werk- und Werkzeugwelt sollte ihn über sich selbst
-hinaus steigern, über sich selbst hinaus erhöhen. Mußte er jetzt, aufs
-bitterste enttäuscht, mit sich selber die Erfahrung machen, daß diese
-Werk- und Werkzeugwelt als<span class="pagenum"><a name="Seite_358" id="Seite_358">[S. 358]</a></span> Mittel zu diesem Ziel versagte und er
-umsonst Pelion auf Ossa getürmt hat, um den Olymp zu zwingen, &mdash; was
-bleibt ihm übrig oder was kann er ins Auge fassen, dies Ziel auf andere
-Weise zu erreichen? Wie kaum eine geschichtliche Menschheit zuvor hatte
-der Europäer diese Werkwelt nach Umfang und Inhalt, Beschaffenheit
-und Zahl gemehrt und alle seine Geisteskräfte, Seelenkräfte dafür
-hingegeben. War es jetzt nicht mehr wie nur ein bloß zufälliger
-Fehlschlag, daß es just bei ihm schlimmer als in irgend einer Vorzeit
-menschelte: war es in Wahrheit ein zwangsläufig getaner Fehlgriff, &mdash;
-wo kann, wie soll der Europäer alsdann noch Hoffnung für sich selber
-schöpfen?</p>
-
-<p>Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden muß, &mdash; so spricht zu
-allen Zeiten jede Religion, die ihren Blick auf die nächst höhere
-Verkörperung des Menschen heftet, die sie Gott nennt. Der Mensch
-ist Etwas, das überwunden werden muß, &mdash; so lautet die knappste,
-treffendste und erschöpfendste Formel aller Religionen, die ihren
-eigenen Willen zur Selbstvergöttlichung als das ewige Bedürfnis
-erkennen müssen, welches sie stets wieder von neuem zur Erscheinung
-bringt: als „<i>la tendence, qui les a produit</i>“, wie Jean Marie
-Guyeau sinngemäß sagt. Zugleich aber ist dies die ewige Tragödie
-aller Religionen, daß sie das hauptsächliche Mittel zur Erzielung
-dieser angestrebten Überwindung, nämlich die Herausstellung jener
-wesentlich menschheitlichen Werk- und Werkzeugwelt, die wir Kultur
-nennen, als ungeeignet<span class="pagenum"><a name="Seite_359" id="Seite_359">[S. 359]</a></span> zu ihrem Endzweck schlechterdings verneint
-und sich auf diese Weise mit dieser Werk- und Werkzeugwelt selbst
-aufs entschiedenste entzweit und überwirft. Denn keine einzige der
-bekannten höchsten Religionen, am wenigstens aber die Religion
-als solche, gebietet ihren Anhängern und Bekennern: Erfinde du
-Werkzeuge und vervielfältige deine Sinne! Gründe du Staaten, schaff’
-Rechts- und Wirtschaftordnungen, laß’ Gesittungen erstehen, ersinne
-Wissenschaften, befleißige dich der Verbürgerung, alles damit du in
-dir selbst den Menschen überwindest! Wenn solche oder ähnliche Gebote
-je ergangen sind, wie beispielweis in der ursprünglichen Verkündigung
-des iranischen Zarathuschtra, ist sich die Religion ihres stärksten
-Antriebes noch nicht inne geworden. Wo sie sich aber dieses Antriebs
-wirklich inne geworden ist, findet sie sich im günstigsten Fall mit
-der Gegebenheit dieser Werk- und Werkzeugwelt ab, aber fördert sie von
-sich aus keineswegs, geschweige denn, daß sie dieselbe fordert. Die
-Welt gewinnen und dadurch die Seele schädigen, &mdash; die Welt verlieren
-und dadurch die Seele erfüllen: das ist in schroffer Unzweideutigkeit
-die Wahl, vor welche jede der höheren Religionen ihre Gläubigen stellt
-und auf diese Weise in tödlichen Widersatz bringt zu allen sonstigen
-Bemühungen um Fortschritt und Aufstieg, Entwicklung und Gesittung.
-Ist es also dem Menschen im heiligsten Sinne Ernst mit des Menschen
-Überwindung, so weiß die Religion unstreitig dafür Rat, &mdash; nur daß
-eben dieser Rat allen eingeborenen<span class="pagenum"><a name="Seite_360" id="Seite_360">[S. 360]</a></span> Neigungen zur Selbststeigerung
-durch Kultur stracks zuwiderläuft. Und in der Tat, ihr, die ihr euch
-Christen nennt! Sogar in dieser Kummerstunde, da niemand mehr woaus
-woein weiß, sogar in dieser Stunde vollkommener Ratlosigkeit ist
-keiner unter euch, der nicht in der heimlichsten Falte seines Herzens
-mindestens ein einziges unfehlbares Mittel wüßte, diese eisige Hölle
-um uns herum in ein blühendes Paradies umzuzaubern. In der Kenntnis
-dieses Mittels, ich sage nicht in seiner Anwendung, sind wir Europäer
-unfehlbare Christen und werden Christen bis zu unserem bitteren Ende
-bleiben, ob wir nun wollen oder widerstreben. Wir haben das Gebot
-empfangen, welches die Verirrungen des Lebens ins gleiche zu setzen
-vermöchte: Ἀγαπήσεις τὸν πλησίον σου ὡς σεαυτόν, &mdash; wolle du
-deinem Nächsten wohl wie dir selbst... Dies Wort, melodisch aus dem
-Königreich der Himmel tönend, von dem geschrieben steht, es sei mitten
-in uns, &mdash; dies Wort konnten wir in der Wüste unserer Gehässigkeit
-verschmachten und in der Sintflut unserer Begierden ertrinken lassen:
-aber wir konnten die Tatsache nicht aus der Welt entfernen, daß es
-an uns ergangen ist. Dies Wort ist an uns ergangen und auch der
-Verstockteste ist außerstand, sich weiszumachen, er habe nie etwas
-davon vernommen. Ist es somit wirklich die Religion, die da befiehlt,
-den Menschen in sich zu überwinden, dann ist zumindest uns westlichen
-Bekennern des Christentums von diesem das rechte Mittel zu diesem
-rechten Ziel bezeichnet worden. Denn wer seinem<span class="pagenum"><a name="Seite_361" id="Seite_361">[S. 361]</a></span> Nächsten wohl will wie
-sich selber, der überwindet in seinem Wohlwollen sich selber und seinen
-Nächsten dazu; der überwindet in sich und seinem Nächsten alles, was
-nicht das Wohlwollen selber ist; und derart überwindet er den Menschen
-in sich, der noch nicht Wohlwollen selber ist, und mit dem Menschen die
-ganze Welt, die noch nicht Wohlwollen selber ist. Drum lüge oder leugne
-keiner, daß er nicht wissen könne, wie der Mensch den Menschen zu etwas
-überwinden könne, das mehr oder höher und stärker ist wie der Mensch.
-Das Mittel ist erfunden, die Botschaft ist ergangen, das Wort steht und
-steht ewig...</p>
-
-<p class="reverse">Das Mittel ist erfunden, &mdash; und hat dennoch seinen
-Zweck verfehlt.</p>
-
-<p class="reverse">Die Botschaft ist ergangen, &mdash; und hat dennoch
-nichts gefruchtet.</p>
-
-<p>Das Wort steht und steht ewig, &mdash; aber schwindelnd fällt der Mensch in
-der Zeit von einem Abgrund in den andern...</p>
-
-<p>Wie aber dies, ihr Christen? Sind wir denn in Wahrheit so bös, so
-unmenschlich, so teuflisch, daß wir zwar auf unsern Lippen den Honig
-der frohen Botschaft zu schmecken geben, in unsern Herzen aber
-schwarze Galle keltern? Liegt es in Wahrheit nur auf uns, daß uns
-jener evangelische Weg zur Überwindung unserer Menschheit zum Ab-
-und Irrweg sondergleichen geworden ist? Müssen wir uns in diesem
-unwiederbringlichen Augenblick der Selbsteinkehr und Gewissensprüfung
-in Wahrheit als den Aus<span class="pagenum"><a name="Seite_362" id="Seite_362">[S. 362]</a></span>wurf aller geschichtlichen Geschlechterfolgen
-verdammen, weil wir mit dem Bekenntnis des Wohlwollens und Brudersinnes
-die Tat des Wohlwollens und Brudersinns am sichersten erstickten?
-Heute, wo die Schuppen der Beschönigung von den Augen fallen, ziemt
-uns vor allen Fragen diese Frage: von der Antwort auf sie hängt
-jede Zukunft ab. Rund tausend Jahre sind es, daß wir des Nazoräers
-Bekenntnis zur Nächstenliebe als unsere erwählte <i>religio</i>, will
-heißen Bindung, Verpflichtung, Treue angenommen haben. Und nun
-ängstigt uns nach rund tausend Jahren mehr fast als alle Angst der
-Argwohn, wir könnten vielleicht nicht trotz dieses Bekenntnisses,
-sondern wegen seiner, nur immer böser und schlechter, liebloser und
-härter, unedler und grausamer geworden sein seit jenen Tagen etwa,
-da der große Sachsenkaiser Otto dem mittelalterlichen Reich Europa
-seine dreihundertjährige Verfassung gab. Am Ende ist es eben diese
-Verpflichtung, diese Bindung gewesen, die unsere Anlage zum Wohlwollen
-und Brudersinn, die wir doch auch in uns wie in jedem lebendigen
-Geschöpf vermuten müssen, verkümmern und verkrüppeln ließ. Verkümmern
-und verkrüppeln ließ zwar nicht deshalb, weil etwa diese Religion
-uns Menschen, wie wir einmal sind, zu hoch und schwer wäre, &mdash; denn
-jede Religion, ihr Christen, ist dem Menschen, wie er einmal ist, zu
-hoch und schwer: und daß sie’s ist, macht ihren unschätzbaren Wert
-als Religion aus! Verkümmern und verkrüppeln ließ aber trotzdem, weil
-sie befahl und forderte, gebot und heischte, was durch Befehl und
-Forderung,<span class="pagenum"><a name="Seite_363" id="Seite_363">[S. 363]</a></span> Gebot und Heischung nimmer zu bewirken ist. Es könnte
-demnach sein, ihr Christen, daß uns just das Christentum zeitweilig zum
-Verhängnis geworden ist, indem es eine übermenschlich-überschwängliche
-Botschaft zwar erließ, aber auf keine Weise andeutete oder zeigte,
-wie der irdische Mensch, das wilde böse Tier, nun dieser Botschaft
-auch entsprechen könne. Wohlwollen unserm Nächsten, Brudersinn unserm
-Fernsten noch, wer wäre Wolf genug zu leugnen, daß beides heute noch
-die Welt zum Paradies gestalten würde, wo wir sie alle christlich
-übten. Aber der Mensch, obschon von Natur ganz offenbar mit einer
-Anlage zum Wohlwollen und Brudersinn begnadet, ist darum noch lange
-nicht wirklich wohlwollend, wirklich brudersinnig, &mdash; und wird es
-auch nicht, wenn man ihm kurzerhand gebietet: Sei’s! Das aber ist das
-letzte und schleichendste Unheil, welches uns Abendländer betroffen
-hat und unsern dermaligen Höllensturz mit verursacht: wir wissen,
-wissen alle unheimlich genau, was not tut, um die Not zu wenden und den
-Menschen seiner nächst höheren Verkörperung des großen Wohlwollenden
-und Brudersinnigen zuzuführen. Aber es war niemand, der uns gewiesen
-und bedeutet hätte, wie das geschehen könne. Wir wissen, wissen es,
-aber können es nicht. Und sogar wo es einer als Land- und Meerwunder
-wirklich kann, da ist er’s nicht, sondern kann es nur. Das aber, ihr
-Christen, ist des Abendländers Untergang...</p>
-
-<p>Das aber, ihr Christen, ist des Morgenländers Aufgang, ist insonderheit
-des Buddho Gotamo Aufgang!<span class="pagenum"><a name="Seite_364" id="Seite_364">[S. 364]</a></span> Denn wo wir nur wissen, hat er das Können
-aufgewiesen, und wo wir nur können, hat er angeleitet und geweckt
-zum Sein. Dabei ist sein heiliges Ziel in Ansehung menschheitlicher
-Emporstufung haargenau das christliche. Vielleicht mit dem einzigen
-Unterschied, daß der Buddho die Gestalt des großen Wohlwollenden mit
-soviel höherer Künstlerschaft umrissen habe wie der Christus, &mdash; eben
-jene Gestalt nämlich, die ich zum Beschluß der Dritten Unterweisung
-dem christlichen Abendland als das Urbild des Strahlenden Mönches
-vorzustellen gewagt habe: „Liebevollen Gemütes weilend strahlt er nach
-einer Richtung, dann nach einer zweiten, dann nach der dritten, dann
-nach der vierten, ebenso nach oben und nach unten: überall in allem
-sich wiedererkennend, durchstrahlt er die ganze Welt mit liebevollem
-Gemüte, mit weitem, tiefem, unbeschränktem, von Grimm und Groll
-geklärtem. Erbarmenden Gemütes &mdash; freudevollen Gemütes &mdash; unbewegten
-Gemütes strahlt er“... In Ansehung dieses göttlich Wohlwollenden,
-übermenschlich Wohlwollenden also ist das religiöse Endziel im Westen
-und im Osten streng dasselbe, und nichts würde von dieser Gewißheit
-aus einer völligen Durchdringung des Christentums mit dem Buddhismus
-hinderlich sein, &mdash; wenn eben nicht die Art und Weise, wie Jesus und
-wie Gotamo die Verwirklichung dieses Zustands betreiben, so stracks
-einander zuwiderliefe, daß hier die Grundkräfte europäischer und
-indischer Religiosität als Gegenkräfte in Erscheinung treten. Das
-evangelische Wohlwollen nämlich für den sogenannten Nächsten wurzelt<span class="pagenum"><a name="Seite_365" id="Seite_365">[S. 365]</a></span>
-ausgesprochenermaßen im Wohlwollen für das eigene Selbst, will heißen
-in der Selbstliebe und Eigensucht. Ἀγαπήσεις τὸν πλησίον σου ὡς σεαυτόν,
-wolle du deinem Nächsten wohl wie dir selber, gebietet
-der Herr des Evangeliums, &mdash; und manches spricht dafür, daß wir hier
-auf die ausschlaggebende Ursache stoßen, warum die Nächstenliebe
-des Christentums ein freundlicher Traum geblieben ist und sehr
-wahrscheinlich sogar hat bleiben müssen. Denn wie verhält sich’s doch
-damit? Jesus erachtet Wohlwollen für Mitmensch und Bruder durchaus für
-möglich, sonst würde er es nicht als Notwendigkeit gefordert haben.
-Aber nicht hält er’s für möglich, dies Wohlwollen auf andere Weise zu
-erzielen als gleichsam auf dem Umweg über das eigene Ich und Selbst.
-Das Ich und Selbst der eigenen Person steht hier im Brennpunkt aller
-Wirklichkeiten, und folglich im Brennpunkt auch aller Handlungen
-und Taten, die sich auf Wirklichkeiten beziehen. Die vorzüglich
-religiöse Leistung der Persönlichkeit krönt sich darin, dem fremden
-Ich grundsätzlich denselben Grad von Wirklichkeit zuzubilligen wie
-dem eigenen Ich und aus dieser Billigung heraus ihm keine mindere
-Berechtigung zu schenken wie diesem. Der naive Mensch, heißt das
-der selbstische Mensch, wird hier sozusagen feierlich aufgeboten
-zur freiwilligen Anerkenntnis des fremden Du, &mdash; durch die Erwägung
-zwar, daß auch dies Du zuletzt ein Ich mit sämtlichen Eigenschaften
-und Merkmalen eines solchen sei. Der naive, will sagen selbstische
-Mensch ist also böse nicht eigentlich deshalb, weil er seine eigene
-Persönlichkeit und<span class="pagenum"><a name="Seite_366" id="Seite_366">[S. 366]</a></span> persönliche Eigenheit instinktiv als Wirklichkeit
-setzt und voraussetzt, sondern weil er jede fremde Persönlichkeit
-und Eigenheit nur als eine Wirklichkeit zweiten, dritten, zehnten
-Grades gelten läßt, &mdash; kurz als eine Wirklichkeit derart verminderten
-Erlebensgrades, daß er kaltblütig über ihre Ansprüche und Rechte, über
-ihr Sosein und Dasein wegschreitet, nicht anders, wie man im Gedränge
-über viele menschlische Schatten auf der Straße schreitet. Und kein
-Zweifel! Wer jemals ein wenig über die Beschaffenheit des Verbrechens
-und mehr noch des Verbrechers nachgedacht hat, wird hier, in dieser
-von Jesus berührten Tatsache, fast jeden gewünschten Aufschluß finden:
-daß der Verbrecher von Haus aus unfähig ist, in rein erkenntnismäßiger
-Schätzung sein Opfer in dieselbe Reihe von Wirklichkeiten mit sich
-selber einzustellen, &mdash; er selber füllt diese Reihe mit sich ganz
-alleinig. Überall, wo ein Mensch in gräßlicher Verhärtung gegen Wohl
-und Weh des Mitmenschen beharrt und dieser Verhärtung entsprechend
-handelt, darf man behaupten, er sei Verbrecher, darf man behaupten,
-ihm sei die heilige Um- und Neuschöpfung der fremden Wesenheit zum
-vertrauten Ich, zum Ich überhaupt, noch nicht gelungen. Tatsächlich
-macht Jesus hier die erste, unerläßlichste Bedingung der Möglichkeit
-menschenwürdigen Gemeinschaftlebens namhaft: jedwedes menschengleiche,
-ja nur menschenähnliche Geschöpf ist im Bewußtsein ebenso als wirklich,
-ebenso als seiend, ebenso als wesenhaft zu erschaffen wie das eigene
-Ich und Selbst. Auch Du ein Ich, wie Ich zu<span class="pagenum"><a name="Seite_367" id="Seite_367">[S. 367]</a></span>letzt nur Du, folglich
-auch Du meines Wesens Mark und Mitte nicht abgelegener als Ich ihm
-bin: das ungefähr wäre die rechte Formel für Jesu Auffassung von
-Wohlwollen, Brudersinn, Nächstenliebe; &mdash; auch Du, Du ein Ich, wie
-Ich zuletzt ein Du, und folglich all meiner Taten und Gedanken nicht
-minder Sinn, Zweck und Ziel als Ich es ihnen selber bin. Das Maß der
-Welt, in welches sie gefüllt und geschöpft wird, ist durchaus hier das
-menschliche Selbst und seine unerschütterliche Wirklichkeit. Im besten
-Fall kann jeder Einzelne sich selber höchstens dazu bestimmen, jedem
-Anderen das gleiche Maß von Wirklichkeit im Bewußtsein einzuräumen. Ein
-übermenschlich verwegenes Ideal aber wäre dieses, wenn jeder Einzelne
-seine Bewußtheit derart unendlich auszuweiten vermöchte, daß darin die
-Wirklichkeiten aller menschlichen Welterscheinungen in einem einzigen
-brüderlich umhalsten Chore miteinander reigten, &mdash; jeder Fernste in
-solch gottgeweiteter Bewußtheit zum Nächsten aufgerückt und nahgerückt,
-jeder Nächste aber gleichbürtig, gleichgewichtig, gleichwertig mit Mir
-selbst...</p>
-
-<p>Das Selbst also, ihr Christen, die eigene Person ist dem Herrn unseres
-Evangeliums die Schwelle, über welche jedes Ich getragen werden muß,
-um überhaupt als Ich geehrt zu werden. Das Selbst, sag’ ich, die
-eigene Person und ihre ganz unumstößliche Wirklichkeit und Gewißheit
-ist die Schwelle, die vom Ich zum Du, vom Ich zum Wir führt, &mdash; was
-aber jenseit dieser Schwelle stehn oder liegen bleibt, kann dem
-Bereich ichbürtiger Wesenheiten auch nicht angehören.<span class="pagenum"><a name="Seite_368" id="Seite_368">[S. 368]</a></span> Wobei schon
-hier keineswegs übersehen und vergessen werden darf, daß auch im
-günstigsten von allen möglichen Fällen alles jenseit der Schwelle
-stehn und liegen bleibt, was nicht menschengleich oder menschenähnlich
-ist, was mithin nicht Nächster und nicht Bruder werden kann... Dem sei
-indes, wie ihm wolle. Unter allen Umständen besteht das evangelische
-Mysterium, wie nochmals mit Nachdruck ich zusammenfassend sagen
-möchte, in der Verwirklichung des Mitmenschen als Nächster und als
-Bruder, und diese Verwirklichung zwar vollzogen auf dem Umweg über
-die Wirklichkeit des eigenen Selbstes. Das gotamidische Mysterium
-hingegen, so einig es im Hinblick auf menschheitliche Emporstufung
-zur Gestalt des großen Wohlwollenden mit dem evangelischen Mysterium
-offenkundig ist, wird dennoch gerade durch die Umdrehung dieses
-evangelischen Verfahrens erwirkt. Nicht dadurch wird das ausnahmlose
-Wohlwollen beim Strahlenden Mönch gegen alle Wesen (nicht nur gegen
-den Nächsten und den Bruder) erzeugt, daß er diese durch eine
-Tathandlung fortschreitende Erkenntnis auf dieselbe Wirklichkeitstufe
-mit seiner eigenen Person befördert. Sondern ganz im Gegenteile
-dadurch, daß er den Wirklichkeitgrad der eigenen Person, den
-scheinbar unbezweifelbaren, auf den Wirklichkeitgrad aller übrigen
-Welterscheinungen herunterdrückt, kraft einer nicht zu widerlegenden
-religiösen Selbsterfahrung, Selbstbewertung, die er an sich und mit
-sich macht. Wenn daher Jesus befiehlt: Wolle du deinem Nächsten wohl
-wie dir selber; wenn somit der nämliche Jesus das<span class="pagenum"><a name="Seite_369" id="Seite_369">[S. 369]</a></span> Wohlwollen für
-das eigene Selbst ohne weiteres als die gegebene Voraussetzung des
-Wohlwollens für andere hinnimmt und bestätigt, &mdash; so fußt der Christus
-auf einer Einstellung, welche den Buddho sicherlich über die Maßen
-befremdet haben würde, falls er hätte Kenntnis von ihr erlangen können.
-Denn eben dieses Selbst der eigenen Persönlichkeit, in europäischer
-Sprache das Individuum oder die unzerstückelbare Lebenseinheit,
-Wirkungeinheit, Zweckeinheit geheißen, welche jeder westliche Mensch
-mit der ganzen Heftigkeit seiner Instinkte gleichsam als sein <i>ens
-realissimum</i> umklammert hält und niemals fahren läßt solang er lebt, &mdash;
-eben diese Ur- und Musterwirklichkeit aller sonstigen Wirklichkeiten
-hat sich ja dem Buddho längst entlarvt als ein Ding, welches um keinen
-Deut wesenhafter oder wirklicher als jedes andere Ding unter der Sonne
-genannt werden darf. Und hier, wo die Religiosität des Ostens mit der
-Religiosität des Westens wie Ja und Nein zusammenstößt, aber leider
-nicht zusammenklingt, hier ist es angezeigt, uns noch einmal jenes
-herzlich seltsame Wort in den Sinn zurückzurufen, welches uns in der
-Ersten Unterweisung hat so scharf aufhorchen machen. <i>N’etam mama</i>,
-das gehört Mir nicht, hat dies Wort gelautet, zu welchem der Buddho
-sein schneidendstes Nein gleichsam gerinnen und erhärten lassen.
-<i>N’etam mama</i>, das gehört Mir nicht: was da entsteht und vergeht, was
-da gezeugt wird und verwest, was da wechselt und abändert, was da
-erscheint und verschwindet. Solches alles gehört Mir nicht, solches
-alles bin Ich nicht:<span class="pagenum"><a name="Seite_370" id="Seite_370">[S. 370]</a></span> folglich gehört auch diese Meine eigene Person
-Mir nicht, folglich bin auch Meine eigene Person Ich nicht! Alles
-Wirkliche aus zweiter, dritter und letzter Hand gehört Mir nicht und
-bin Ich nicht. Aber auch alles Wirkliche aus erster Hand gehört Mir
-nicht und bin Ich nicht: nämlich Ich selber nicht, wie ich mir in
-der raumzeitlichen Gliederung bewußtes Erlebnis und Begebnis ward!
-Diese ganze Erscheinungunendlichkeit, wie sie gestalthaft abgegrenzt
-im Bewußtsein auftaucht und gestalthaft abgegrenzt im Unbewußtsein
-wieder untersinkt, einschließlich meiner höchsteigenen Icherscheinung,
-sie gehört Mir nicht und sie bin Ich nicht! Sie gehört Mir nicht
-und sie bin Ich nicht, weil sie eben auf Grund ihrer Eigenschaft
-als Erscheinung nicht bis dahin reichen kann, wo ich als religiös
-Erlebender zutiefst Mich Wesen weiß. Keine Verkörperlichung und
-keine Verpersönlichung, nicht einmal meine eigene, faßt dort noch
-Fuß und Grund, wo Ich &mdash; oder vielmehr nicht mehr Ich! &mdash; in dem
-Augenblicke gesammeltster Selbstvertiefung Grund und Fuß zu fassen
-fähig bin. Damit jedoch ist des evangelischen Jesus Selbsterfahrung,
-den die Wirklichkeit des Ich aller Wirklichkeiten Ur- und Musterbild
-zu sein bedünkte, durch eine Selbsterfahrung entgegengesetzter Art
-zwar nicht getilgt und aufgehoben, aber eingeschränkt und ergänzt.
-Nicht ist fremdes Ich für ebenso wirklich, daseiend und wesenhaft wie
-eigenes Ich zu erachten: sondern umkehrt eigenes Ich hier für ebenso
-unwirklich, nichtseiend, wesenlos wie fremdes Ich. Jene bevorzugte
-Wirklichkeit, vom evangelischen Herrn als Hebelpunkt<span class="pagenum"><a name="Seite_371" id="Seite_371">[S. 371]</a></span> gebraucht, um
-von ihr her die eingefleischte Eigensucht und Selbstliebe, die bruder-
-und nächstenmörderische, aus ihrem natürlichen Schwerpunkt zu wälzen,
-&mdash; jene Wirklichkeit gilt dem Buddho auf keine Weise für bevorzugt.
-Im Gegenteil ist sie es, die sich dieselbe Dämpfung gefallen lassen
-muß, welche das ‚<i>N’etam mama</i>‘ auf alle Wirklichkeiten legt. Auch ich
-selber gehöre Mir nicht; auch ich selber erschöpfe Mich nicht in der
-Erscheinung Meiner, die sich gestalthaft vor meinen Sinnen ausbreitet;
-auch Ich selber bin über Meine raumzeitliche Wirklichkeit hinaus noch
-Etwas, das die Sprache einer Wirklichkeit nicht mehr zu verlautbaren
-vermag: wenn auch sicherlich nicht ‚Ich‘ mehr...</p>
-
-<div class="section">
-
-<p class="initial">Wer aber, ihr Christen, von dieser beziehungreichen Tatsache her seinen
-Blick nun schweifen ließe in die beiden Welten, in welchen getrennt
-voneinander der Buddho und der Christus eingebürgert hausen, der fände
-sich wohl nicht wenig überrascht: so buchstäblich weltverschieden,
-weltgeschieden stellten ihm sich beide Welten dar. Den christlichen
-Erlöser erblickte ein derartiger Betrachter inmitten einer Wirklichkeit
-wimmelnd bis zum Rand mit gestalthaften Lebenseinheiten nach Art
-der menschlichen Persönlichkeit. Wie etwa ein stätig fortlaufendes
-Gebilde der Anschauung, eine geometrische Gerade oder Fläche, von der
-Einwirkung des Gedankens in zusammenhanglose Einzelpunkte zerlegt wird,
-oder wie eine stätig<span class="pagenum"><a name="Seite_372" id="Seite_372">[S. 372]</a></span> zusammenhängende Flüssigkeit unter der Einwirkung
-von Wärme oder Witterung zu einem Haufen einzelner Flocken stockt,
-&mdash; nicht anders zersetzt sich unter dem Einfluß dieser evangelischen
-Einstellung eine vorher noch kaum gestalthaft belebte Umwelt zu einer
-immer ausschließlicher gestalthaft belebten. Wenn unsere europäische
-Wissenschaft, vielleicht mehr als sie ahnt ‚christliche‘ Wissenschaft,
-nie und nimmer geruht hat, bis sie jede Wahrnehmungstätigkeit der
-Sinne allmählich in eine womöglich zahlenhaft zu erfassende Menge von
-letzten, das heißt unteilbaren Beziehungknoten zergliederte; wenn sie,
-um altbekannte Beispiele anzuführen, den Einen Grundstoff der Welt
-in viele Kräfte, die Eine Materie in viele Atome, das Eine Leben in
-viele Lebenseinheiten, die eine Zelle in viele Zellteile, das Eine
-Licht in viele Farben, die Eine Farbe in viele Bewegungvorgänge, die
-Eine Qualität in viele Intensitäten, ja zuletzt das Eine Atom in einen
-ganzen Kosmos von zentralen Kernen und umlaufenden Elementarquanten
-aufgelöst hat, &mdash; sie folgte damit ihrem christlichen Instinkt, der
-unersättlich ist nach Wirklichkeiten im Sinn der eigenen Individuität.
-Christentum ist Individualismus, Christentum ist Personalismus,
-&mdash; von diesem Gedanken aus läßt sich unschwer so etwas wie die
-Kurve der abendländischen Seele aufzeichnen, die schicksalhaft
-die christliche Seele gewesen ist und ist, so sehr, daß sie auch
-nach ihrer bevorstehenden Umgestaltung des christlichen Einschlags
-nie völlig mehr entbehren wird. Christentum ist Individualismus,
-Christentum ist Per<span class="pagenum"><a name="Seite_373" id="Seite_373">[S. 373]</a></span>sonalismus; folglich erschafft es sich überall
-individuelle, individuierte, personifizierte Wirklichkeiten. Diese
-feststehende Tatsache ist für das westliche Festland Europa, welches
-das Christentum aufgenommen und verarbeitet hat, geradezu Fatum
-geworden. Wo das Christentum aufblüht, blüht der persönlich gestaltete,
-persönlich ausgeformte Mensch auf, denn dem evangelischen Christus
-bedeutet das raumzeitlich verkörperte Selbst Alpha und Omega aller
-Wirklichkeit überhaupt. Und wiederum: wo das raumzeitlich verkörperte
-Selbst Alpha und Omega aller Wirklichkeit als solcher erscheint, da
-müssen folgerechterweise alle Kräfte des Geistes und der Seele der
-möglichst plastischen Herausmeißelung der jeweiligen Lebenseinheit
-und Lebenseinzelnheit dienen. Die Wirklichkeit trachtet nach
-Verwirklichung, und wo das Selbst erste und letzte Wirklichkeit für
-sich beansprucht, trachtet das Selbst zuerst und zuletzt nach seiner
-eigenen Verwirklichung. Der Christ beginnt sich demnach vielkantig
-nach allen Achsen des Raumes auszuwachsen. Zwar ist des Wunderns seit
-langem schon kein Ende gewesen, daß das geschichtliche Christentum aus
-dem Europäer so etwas ganz anderes gemacht habe als den friedfertigen,
-selbstverleugnenden, bruderlieben Heiligen der evangelischen
-Schriften. Heut’ wäre es endlich an der Zeit, sich darüber erschöpfend
-ausgewundert zu haben. Denn alle diese evangelischen Tendenzen haben
-zu ihrer unanfechtbaren Voraussetzung die unanfechtbare Wirklichkeit
-der eigenen Person nebst den auf sie selbst bezüg<span class="pagenum"><a name="Seite_374" id="Seite_374">[S. 374]</a></span>lichen Trieben
-und Begierden, Neigungen und Leidenschaften. Das Grundrecht auf
-Selbsttrotz und Eigensucht ist der <i>rocher de bronce</i>, vom Herrn des
-Evangeliums in eigener Person feierlich stabiliert und sanktioniert,
-&mdash; das ist der Fels, in welchen die Fundamente der sichtbaren und
-unsichtbaren Kirche eingesprengt worden sind. Wer sich darüber
-Klarheit verschafft hat, wird es auch nur als aufrichtige Konsequenz
-aus diesem Umstand betrachten, wenn gerade der europäische Christ den
-Anblick nie gesehener Härte und Ungerührtheit darbietet: es ist ein
-heute nicht mehr statthafter Irrtum, wenn immer noch die weichmütigen
-Romantiker eines unverfälschten Urchristentums dem evangelischen
-Heiland die römische Kirche oder die Kirchen überhaupt als die
-gesellschaftlichen Verkörperungen des eigentlichen Antichristentums
-entgegenzustellen und zu verdammen belieben. Die Kirche ist nun einmal
-nicht die babylonische Hure, sondern sie hat nur im Übermaß Ansätze
-entwickelt, die im Evangelium selber vorhanden sind. Diese ganze
-romantische Auffassung, am übertreibendsten bekanntlich in Dostojewskis
-Großinquisitor herausgestellt, ja wie eine weltgeschichtliche Fanfare
-herausgeschmettert, ist ungerecht nach beiden Seiten. Denn in der
-Christustendenz evangelischen Wohlwollens glimmt und glutet eben
-heimlich schon die Tendenz des Antichrists, das Selbst zu behaupten
-über jedes Maß und Ziel hinaus: glimmt und glutet mithin heimlich
-schon der Funke, der das ganze europäische Mittelalter hindurch
-Scheiterhaufen um Scheiter<span class="pagenum"><a name="Seite_375" id="Seite_375">[S. 375]</a></span>haufen entzündet hat, bis nach dem Krieg von
-Dreißig Jahren das mittlere Europa selbst nur noch ein Scheiterhaufen
-war... Dieser Scheiterhaufen gemahnt uns, ihr Christen, daran, daß
-Jesus Christus schon geboten hat: wolle du wohl deinem Nächsten wie dir
-selbst, &mdash; daß mithin schon Jesus Christus die Selbstliebe (und die
-Puritaner wußten das sehr genau!) in die Rechte feierlich eingesetzt
-hat, die sie seither für sich in Anspruch nimmt. Nie wäre von diesem
-Gebot her einzusehen, warum das eigene Selbst etwa zugunsten des
-fremden hätte verleugnet oder unterdrückt werden sollen, &mdash; nie, warum
-es auch nur nach Tunlichkeit abgeblendet hätte werden sollen. Sogar den
-äußersten Fall gesetzt, es hätte der evangelische Herr geboten, was
-er in Wahrheit nicht geboten hat: Wolle du deinem Nächsten wohl mehr
-als dir selbst, &mdash; wie wäre da nicht sofort die Gegenfrage zu stellen
-gewesen: Warum denn, o Herr, dem Nächsten mehr Wohlwollen als mir
-selber? Mit welchem Fug wird sein Selbst dem meinigen vorgezogen? Sind
-wir nicht just vom Urteil der Selbstschätzung, Selbstwertung aus alle
-gleich? Bin ich mir minder Ich als sich mein Nächster Ich ist? Oder wie
-könnte mir das Ich des Nächsten näher sein als mein Ich! Was stellt das
-Ich des Andern über Mich und weshalb sollte ich Mich auslöschen, damit
-Er heller brennt, flackert und zackert? Mit welchem Recht der Götter
-oder Menschen geht des Nächsten Selbstsucht über meine eigene? Und sind
-wir Brüder für uns selbst nur vor uns selbst, wie darf der Bruder hier
-über dem Bruder stehen, der Bruder<span class="pagenum"><a name="Seite_376" id="Seite_376">[S. 376]</a></span> hier vor dem Bruder gehen? Wahrlich
-und Wehe! der Altruismus ist immer nur der Egoismus des Nächsten..</p>
-
-</div>
-
-<p>Ziehen wir derart die Summe von zwei christlichen Jahrtausenden für
-Europa, so muß sich also notwendig ergeben, daß niemals noch sonstwo
-die menschliche Person zu diesem Grad von Stärke und Selbstherrlichkeit
-heraufgezüchtet ward wie im christlichen Europa. Was unter günstigen
-Bedingungen ein Christ und Europäer aufbringt an Entschlossenheit
-und Arbeitkraft, Willen und Umsicht, Kaltblütigkeit und Tapferkeit,
-Genauigkeit und Zähigkeit, &mdash; es übertrifft alles Dagewesene bei
-weitem. Mit dem alleinigen Ziel vor Augen, sich durchzusetzen gegen
-jeden Widerstand, setzt dieser Christ und Europäer sich denn in
-Wirklichkeit auch durch, &mdash; mit welchen Mitteln freilich oft, das frage
-niemand. Tatmensch, Geschäftmensch, Gewaltmensch noch wider jeden
-Einwand des Gewissens, betreibt er von früh bis spät ausschließlich
-seine wirtschaftliche und gesellschaftliche Selbstverwirklichung.
-In dem Bewußtsein seiner persönlichen Einzelnheit und Einzigkeit,
-in dem Bewußtsein folglich seiner unbedingten Einmaligkeit und
-Unersetzlichkeit, welches ihm eine streng christliche Philosophie
-anerzogen, angezüchtet hat, findet er eine höchste Rechtfertigung
-für die rücksichtloseste Ausprägung seiner Eigenheit; in eben dieser
-Ausprägung vermutet er den Endzweck und das Amen alles Geschehens
-überhaupt. Sei der, der du bist und werde, der du bist, beides in
-seiner Aufgipfelung und Vollendung, &mdash; diese Quintessenz der religiösen
-Belehrung, welche in der Bhagavad-Gîtâ Gott<span class="pagenum"><a name="Seite_377" id="Seite_377">[S. 377]</a></span> Krischna dem Prinzen
-Arjuna widerfahren läßt, ist auch die Quintessenz, wir wissen es seit
-Pindaros, aller europäischen Wirklichkeitauffassung: nur freilich
-aus dem Indischen ins Europäische übersetzt und damit einigermaßen
-entseelt, entadelt, entgeistigt. Der europäische Mensch wird, der er
-ist; das heißt er setzt sich durch um jeden Preis und auf jede Weise.
-Die Erste Unterweisung hat es erwähnt, die Vierte erinnert hiermit
-daran, wie der Erfolg dieses persönlichen Sich-Durchsetzens in der Welt
-vom Kalvinismus und Puritanismus geradezu als der schlüssige Beweis vor
-Gott und Menschen erachtet wird, daß einer berufen und erwählt sei. Wer
-seine Eigenheit zur Anerkennung bringt, wer den Erfolg an seine Seite
-zwingt, wer das Glück zur Treue überredet, der hat sich bewiesen, genau
-wie er sich im entgegengesetzten Falle widerlegt hat. Solchermaßen
-statuiert der christliche Europäer ein Recht auf Persönlichkeit, und
-wer feiner hinhorcht, wird sich vielleicht davon überzeugen, daß er
-sogar eine Pflicht zur Persönlichkeit statuiert. Lediglich unter diesem
-Gesichtswinkel vermag er sich überhaupt noch ein erstrebenswertes
-Lebensziel vorstellig zu machen. Nur um Gottes willen von der formlosen
-Masse und Massenhaftigkeit abrücken! Nur um jeden Preis ein eigenes
-Gesicht, und sei es ein hoffärtiges und freches, zur Schau tragen! Nur
-unter allen Umständen aus der flüssigen Mutterlauge zum festen Kristall
-aufschießen! Das ist der heiß begehrte Preis, der dem Sieger nach
-zermürbendem und zerrüttendem Kampfe winkt...</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_378" id="Seite_378">[S. 378]</a></span></p>
-
-<p>Denn Kampf bis aufs Messer, Kampf in einer noch nirgends zu erfahrenden
-Grausamkeit des Begriffs ist das Leben dieses christlichen Europäers.
-Die Selbstverwirklichung bis zum äußersten als die einzig anerkannte
-Lebenspflicht muß selbstredend in heftigen Widerstreit geraten mit
-derselben Lebenspflicht jeder Persönlichkeit, welche der ersten
-gesellschaftlich oder wirtschaftlich irgendwie benachbart ist,
-&mdash; ein selten eindringliches Beispiel übrigens, wie manchmal die
-Möglichkeit einer Gemeinschaft nicht durch Verschiedeninhaltlichkeit
-der ergriffenen Zwecke, sondern durch Gleichinhaltlichkeit derselben
-vernichtet wird. In diesem christlichen Europa will in Wahrheit
-jedermann genau dasselbe: nämlich die denkbar reichstgeschliffene
-Ausformung seiner jeweiligen Eigenheit und Einzelnheit. Und das
-Ergebnis davon heißt eben Kampf, Krieg, Wettbewerb, ἀγών,
-<i>struggle for life</i>, Zuchtwahl... Kampf der Vater aller Wirklichkeiten,
-das ist in Wirklichkeit die Überschrift, welche der Vater der
-europäischen Menschlichkeit auf seiner Völkerbrücke zu Ephesos an das
-Tor zu unserm Festland schlug und hämmerte. Kampf der Vater und Kampf
-die Mutter, das ist die Wahrheit geblieben, die auch vom Christentum
-nicht nur nicht widerrufen, sondern bestätigt worden ist, denn der
-Herr des Evangeliums scheint es erraten zu haben, warum er, vorzugweis
-er sich als denjenigen bezeichnete, der nicht den Frieden, aber das
-Schwert bringen werde: nicht einmal das Kreuz von Golgatha konnte
-die Pforten des Janustempels sperren, die ewig offenklaffenden,<span class="pagenum"><a name="Seite_379" id="Seite_379">[S. 379]</a></span> und
-tatsächlich hat das Christentum sein Öl der Linderung ins Feuer statt
-aufs Wasser ausgegossen... Kampf brandet und Kampf entbrennt also schon
-im kaum befruchteten Keim, wo offenbar das Männliche mit dem Weiblichen
-im Hader liegt, bis entweder das Männliche über das Weibliche oder
-das Weibliche über das Männliche Herr ward und dadurch das Geschlecht
-des künftigen Wesens entschied. Und derselbe Kampf wird ausgetragen,
-wo die vererbten Eigenschaften einer Ahnenreihe mit den vererbten
-Eigenschaften anderer Ahnenreihen streiten, oder wo den vererbten
-Eigenschaften neue hinzuerworbene von Grund auf widerstreben. Wohin
-der Blick des Christ-Europäers fällt, gewahrt er Kampf und Krieg im
-Kleinen wie im Großen, und sogar noch wenn er an Sommerfeierabenden,
-an endlos schwalbenzwitschernden und grillenzirpenden, besinnlich auf
-der Gartenbank vor seinem Hause sitzt und eine Weile ruht, fühlt er
-vom Grausen plötzlich sich geschüttelt beim Anblick eines räuberischen
-Tausendfüßlers, wenn dieser sich auf einen verzweiflungvoll
-aufbäumenden Regenwurm stürzt und dessen unbewehrten Leib mitten
-entzweibeißt: so hat dem Rabbi von Bacharach die Eiskralle des
-Entsetzens ins Herz gegriffen, als er am Vorabend vor Pascha unter dem
-schimmernden Tafellinnen plötzlich die eingeschmuggelte Leiche eines
-Kindes sah... In einem Augenblick derart hellsehenden Weltverstehens
-mag es sein, daß dem Christ-Europäer das furchtbare Gesetz des Lebens
-aufleuchtet, welchem zufolge jedes organische Gebild der glücklich
-Über<span class="pagenum"><a name="Seite_380" id="Seite_380">[S. 380]</a></span>lebende und Überstehende zahlloser sicht- und unsichtbarer
-Einzelkämpfe ist. Weit entfernt, daß ihm als Menschen, ihm als Christen
-diese Kämpfe erspart blieben oder wenigstens in ihrem Grad gemildert,
-in ihrer Form ‚vermenschlicht‘ würden, findet er ganz im Gegenteil
-gerade sich in seiner Eigenschaft als Mensch zu einer Kampfweise
-genötigt, wie sie gleich wahllos in den Mitteln und gleich böse die
-außermenschliche, untermenschliche Natur nicht kennt. Wohl frißt auch
-dort ein Tier das andere Tier, ein Tier die Pflanze und gelegentlich
-auch eine Pflanze das Tier ganz unbedenklich. Aber im allgemeinen
-spielt sich dieser Kampf doch meist zwischen den verschiedenen Arten
-als solchen ab, seltener zwischen den Vertretern ein und derselben Art,
-was leider bei uns Menschen die selbstverständliche Regel wird. Sind
-wir ganz offenkundig schon dadurch gegen das Tier vielfach im Nachteil,
-daß mit verhältnismäßig geringen Schwankungen die geschlechtliche
-Brunst bei uns das Jahr über ununterbrochen dauert, was für nicht
-wenig Menschen eine Hölle von Anfechtungen bedeutet, so sind wir
-auch in dieser Beziehung schlimmer daran als das Tier, daß wir uns
-fortwährend gegen unsresgleichen wenden und wehren müssen, &mdash; und dies
-wie gesagt obendrein mit Mitteln, Pfiffen, Schlichen, die das Tier
-verschmäht: „Denn heimlich wie die Höhle, o Herr, ist der Mensch, und
-offen wie die Ebene, o Herr, ist das Tier“, sagt Pesso, der Sohn des
-Elefantenlenkers, zum Erhabenen...</p>
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_381" id="Seite_381">[S. 381]</a></span></p>
-
-<p>Der sogenannte Kampf ums Dasein also, von seinem europäischen Entdecker
-zu seiner Zeit sicherlich zu Unrecht herangezogen, um die Wandlung
-einer Art zur anderen und ‚höheren‘ erklärlich zu machen, &mdash; zu Unrecht
-herangezogen, sag’ ich, weil er sich zwischen verschiedenen Arten
-eigentlich gar nicht ereignen kann, wofern verschiedene Arten jeweils
-auch in verschiedenen Umwelten leben, verschiedenen Daseinsbedingungen
-unterliegen und darum streng genommen um diese Daseinsbedingungen
-auch nicht wirklich kämpfen können! &mdash; beim Menschen wird dieser
-Kampf ums Dasein dennoch schauerliche Wahrheit. Kämpft doch der
-Mensch mit dem Menschen in der Tat um die nämliche Ackerscholle, um
-die nämlichen Bodenschätze, um die nämlichen Weideplätze, um die
-nämlichen Absatzmärkte, um die nämliche Arbeitstelle, um den nämlichen
-Güteranteil, um das nämliche Weib, um das nämliche Glück, um die
-nämliche Ehre, um den nämlichen Rang. Der Mensch kämpft ums Dasein,
-das heißt, er kämpft um sich selber und um seine Selbstverwirklichung,
-und beides winkt ihm nur, wo er seinen Wettbewerber übermächtigt.
-Schon daß er lebt, bedeutet unter allen Umständen eine Übermächtigung
-unbekannt wie vieler Ansätze und Möglichkeiten, die zum gleichen Leben
-drängten; so kann er von allen Wesen am buchstäblichsten von sich
-selbst bekennen: denn wir sind teuer erkauft. <i>Sub specie</i> dieses
-Gedankens war es dann nicht weniger als Die europäische Vision, das
-Leben überhaupt als Willen zur Macht aufzufassen und zu entlarven.
-Zum<span class="pagenum"><a name="Seite_382" id="Seite_382">[S. 382]</a></span> mindesten sind alle Gipfelungen und Aufhöhungen des Lebens in
-diesem unserm christlichen Europa unmittelbar eins mit dem stolzen
-Gefühl erworbenen Machtzuwachses durch den Sieg über andere Mächte,
-andere Mächtige. Die Macht ist die einzige und letzte Tugend des
-Christ-Europäers, an die er noch wirklich glaubt, zu welcher er betet
-und der er opfert. Macht über den Feind ist die Tugend des Kriegers,
-Macht über den Sklaven die Tugend des Freien, Macht über das Weib die
-Tugend des Mannes, Macht über den Stoff die Tugend des Künstlers,
-Macht über das Werkzeug die Tugend des Handwerkers, Macht über das
-Betriebsmittel die Tugend des Unternehmers, Macht über die Masse die
-Tugend des Führers, Macht über das Element die Tugend des Technikers,
-Macht über die Unordnung die Tugend des Wissenschafters, Macht über
-den Zufall die Tugend des Weisen, Macht über den Trieb die Tugend des
-Bändigers. „Jeder von uns“, so steht im pseudoplatonischen Theages zu
-lesen, „möchte womöglich aller Menschen Herr sein, am liebsten Gott...“
-Der Wille zur Macht als der oberste und im Grund sogar einzige Wert des
-Lebens, die Macht und ihre Ausbreitung, Steigerung das eigentliche Ziel
-und der eigentliche Sinn des Lebens, das ist der kardinale europäische
-Gedanke, und wer wird zu behaupten wagen, er sei nicht irgendwie auch
-der kardinale christliche Gedanke gewesen? Denn war der christliche
-Gott nicht vorzugweis der <i>pater omnipotens</i>, war nicht die All-Macht
-an und für sich das <i>summum bonum</i> oder der<span class="pagenum"><a name="Seite_383" id="Seite_383">[S. 383]</a></span> höchste Wert: nur eben
-in der Sprache der Scholastik statt in der Sprache Nietzsches? Wer
-unbefangen hinsieht, gewahrt denn auch gerade in jenem Mittelalter
-die ragendsten Vertreter des Machtgedankens überhaupt, welche unser
-Festland bis auf die neue Zeit hervorgebracht hat, &mdash; sei es in der
-Gestalt jenes Innozenz des Dritten oder Bonifaz des Achten, sei es in
-der Person jenes Heinrich von Hohenstaufen, der Deutschland, Italien,
-Sizilien als ein einziges Reich kaiserlich beherrschte und über das
-Mittelmeer schon seine gewaltige Hand auf Kleinasien gelegt hatte,
-als er alexandrisch früh und unbegreiflich aus einer ungeheuern Bahn
-geschleudert ward: seit Heinrich des Dritten gleichfalls allzu jungem
-Tod das zweite Beispiel übrigens aus unserer deutschen Geschichte,
-wie eine Entwicklung mit schwindelerregenden Adspekten verhängnisvoll
-abgerissen ward... Schon damals also, und wie erst recht heute,
-kommt der Europäer erst zu sich im Gefühl der Macht; in ihm allein
-genießt er seiner selbst und schwelgt er in seinem Selbst. Unter
-den Gesichtswinkel der Macht gerückt, erscheint dem Europäer jedes
-vorhandene Dasein und jeder vorhandene Gegenstand ein Widerstand, an
-welchem er sich mißt: vermag er ihn wirklich zu überwinden, so fühlt er
-triumphierend das verstärkte Bewußtsein seiner Eigenheit. Was ihn nicht
-umwirft, macht ihn mächtiger, &mdash; folglich wirft der Europäer vieles, ja
-alles um, damit er dadurch mächtiger würde...</p>
-
-<p>Im Zeichen dieses machthaft gesteigerten, machthaft gespannten Daseins
-beginnt dann dieser <i>homo<span class="pagenum"><a name="Seite_384" id="Seite_384">[S. 384]</a></span> europaeus</i>, <i>homo christianissimus</i> sich
-auf eine Art rein biologisch auszuleben, wie sich das keine einzige
-Menschheit der bekannt gewordenen Geschichte vorher je gestattet
-hatte. Vernunft, Maß, Mitte, Zweck, Ziel, Übereinkunft, Herkommen,
-Norm, Gesetz, Urteil, Geschmack, die ehemals aus einer begründeten
-Angst vor dem Leben zwischen den Menschen und das Leben absondernd
-eingeschaltet wurden, liegen jetzt zertrümmert an der großen Straße,
-die das Leben selbstherrlich wie nie zuvor beschreitet. Der Bios
-und der Logos, mutmaßlich von Heraklit zum erstenmal in ihrer
-Gleichwertigkeit und Gleichunentbehrlichkeit trotz ihres verschiedenen
-Vorzeichens miteinander verkoppelt zu jenem doppelten System von
-Kräften, dessen Arbeitertrag eben Europa heißt, &mdash; der Bios und der
-Logos werden jetzt durch die Vehemenz des Lebens, Nichts-als-Lebens,
-auseinander gerissen, und der Bios dem Logos unbedingt und unbedenklich
-übergeordnet. Womit ein Rangstreit voreilig und unsachlich entschieden
-wird, der in zwei langen Jahrtausenden vielleicht der stärkste Antrieb
-zu dem Aufbau unserer europäischen Gesittung war und uns jedenfalls
-in dieser ganzen Zeit geschichtlich bei Atem erhalten hatte. Nunmehr
-aber heißt der Zweck und Sinn des Lebens Leben selbst und darf dem
-Leben nicht länger durch eine metaphysische, richtiger metabiotische
-Einlegung vom Geist oder der Vernunft her unterstellt werden. Die
-einmal angetretene Erscheinung aber des Lebens, sei sie <i>collectivum</i>,
-sei sie <i>individuum</i>, gilt als das höchste Gut, dem gegenüber jedes
-Leben<span class="pagenum"><a name="Seite_385" id="Seite_385">[S. 385]</a></span>digen höchste Pflicht darin besteht, sich selber bis zum eigenen
-Untergang und noch darüber hinaus lebendig auszuwirken: koste es,
-was es wolle; koste es sogar die Vernichtung, die Zerstörung aller
-übrigen Erscheinungen des Lebens. Das Leben selbst, im christlichen
-Europa ganz folgerichtig ergriffen und begriffen als das höchste
-Gut, schwillt tosend über alle Dämme, und da ist kein Opfer vornehm
-und edel genug, &mdash; am wenigsten aber das einst so gefürchtete, jetzt
-leichthin dargebrachte <i>sacrifizio dell’intelletto</i>! &mdash; welches nicht
-mit Recht von ihm gefordert werden dürfte. Kindlich über die Maßen das
-alte Vorurteil, menschlicher Verstand oder Geist könnten das Leben
-meistern oder wenn nicht geradezu meistern, so wenigstens gängeln
-oder zügeln. Kindlicher noch das Vorurteil, das Leben als solches
-sei da, um höheren Vernunftabsichten, sittlichen Weltordnungen,
-göttlichen Heilsplänen irgendwie zu dienen. Bis hierher freilich war
-das Menschenleben in seiner vorbildlichsten Führung wesentlich ein
-Dienen, und wer am würdigsten gelebt hatte, der durfte am rühmlichsten
-zuletzt von sich bekennen: <i>In serviendo consumatus sum</i>, im Dienen
-hab’ ich mich aufgezehrt... Aber derlei Romantik ist jetzt wahrlich
-nicht mehr an der Zeit, der fortgeschrittenen. Das Leben ist erfaßt als
-Unbedingtheit, Unbezüglichkeit. Vielleicht als das letzte sogenannte
-<i>absolutum</i> unserer abendländischen Philosophie hat es niemanden
-und nichts mehr über sich, dem es selbst beim besten Willen dienen
-könnte, &mdash; indes ihm selber, wohlverstanden, alles dienen muß und
-soll. <i>Ars longa,<span class="pagenum"><a name="Seite_386" id="Seite_386">[S. 386]</a></span> vita brevis</i>, sagte sich vormals der europäische
-Mensch zu seinem Trost und seiner Stärkung, wenn er sein kleines Leben
-an große Dinge demütig und dennoch stolz dahin gab. <i>Vita longa, ars
-brevis</i>, lächelt er jetzt (etwas beklommen und beklemmend freilich)
-sich selber zu, wenn er im heißatmigen Föhn des Lebens all’ die zarten
-und zartesten Flocken schmelzen sieht, die er im Ablauf der Zeit zu
-den herrlichen Kristallgebilden seiner geschichtlichen Kulturen, wie
-er einst meinte und hoffte, für die Ewigkeit geformt hat. Weh’, ihm
-schmolz im Föhn des Lebens auch der Kristall der Ewigkeit dahin,
-und unter dem niederschmetternden Eindruck dieses unvergleichlichen
-Verlustes geschieht es denn, daß er seine letzte Rückkehr zur Natur,
-zum Leben in Szene setzt, &mdash; diese Rückkehr, zu welcher man ihn seit
-anderthalb Jahrhunderten mit immer größerer Dringlichkeit zu überreden
-bemüht gewesen ist: bezeichnenderweis von demselben Frankreich aus,
-welches nunmehr in Henri Bergson den Vollender und Vollstrecker unseres
-europäischen Biologismus verkörpert zeigt. Der Europäer, sag’ ich,
-kehrt einmal noch zurück zur Natur, enttäuscht von allen bisherigen
-Kulturen. Er kehrt zurück zur Natur, will meinen, er beginnt sich
-biotisch, biologisch auszutoben, auszurasen, auszutanzen, &mdash; und dieser
-Vorgang ist am Ende immer noch wichtig genug, um unsere Aufmerksamkeit
-ein wenig auf sich zu ziehen.</p>
-
-<p>Denn vergessen wir, ihr Christen, vor allen Dingen dieses eine nicht,
-daß der Europäer der heutigen Zeitläufte, längst ehe er zum Biotiker
-wurde, er Energetiker<span class="pagenum"><a name="Seite_387" id="Seite_387">[S. 387]</a></span> gewesen war. Energetiker zwar nicht etwa im
-Sinn einer besonderen physikalischen Auffassung und Deutung, sondern
-Energetiker ganz unmittelbar in der Betätigung seiner schaffenden und
-gestaltenden Kräfte. Aus dieser sehr beachtenswerten Ursache heraus
-kann er gar nicht umhin, sich nun auch die Tatsache des Lebens selber
-energetisch zurechtzulegen. Auch das Leben, ja das Leben erst recht
-offenbart sich ihm als ein energetisches Geschehen, als ein Umsatz von
-Energie in Energie, und der Lebendigste ist ihm ganz ohne Zweifel der,
-welcher den ‚größten Umsatz‘ hat. Wer da die meiste Arbeitfähigkeit
-und Arbeitkraft entwickelt, wer sich mit Energie am unerschöpflichsten
-geladen zeigt, ist der Lebendigste von allen und als Lebendigster ohne
-Frage auch der Wirklichste. Unter allen anderen, die gleichzeitig
-mit ihm leben und mit ihm wirken, hat er am unwiderleglichsten zu
-Allem recht: erlaubt ist, was da lebt, verboten nur der Tod. So lädt
-sich denn jeder Einzelne mit einer Menge von Lebenskräften, das ist
-Arbeitkräften, welche genügen würden, ihn selber samt der Hälfte
-der Welt in die Luft zu sprengen. Und Gott weiß, ihr Christen, die
-Luft um uns herum zittert von den Stößen der Sprengungen, die sich
-ringsherum alle Augenblicke ereignen: irgendwer, irgendwas fliegt in
-jedem Zeitteil dieser vorgerückten Zeigerstellung in die Luft... Der
-Einzelmensch ist nur mehr eine Zusammenballung und Zusammenkernung von
-positiven Kräften, die ihre Umgebung negativ laden und mit furchtbarer
-Gewalt von sich abstoßen. Eine unheimliche Span<span class="pagenum"><a name="Seite_388" id="Seite_388">[S. 388]</a></span>nung zwischen den
-einzelnen Lebensträgern entsteht und steigert sich schnell bei ihnen,
-ob sie nun im engern Sprachverstand als <i>individua</i> oder im weiteren
-als <i>collectiva</i> anzusprechen sind, zur wahren Unerträglichkeit: jedes
-<i>collectivum</i>, jedes <i>individuum</i> empfindet das andere schlechthin
-als unerträglich. Eine schreckliche Einsamkeit zieht sich um jeden
-Menschen zusammen wie eine schwarze Wolke, die nur noch in flammenden
-Blitzen redet, wenn sie nicht dann und wann etliche Tropfen auf die
-verschmachtende Erde fallen läßt, die aussehen wie Blut... Kaum in den
-wildesten Vergangenheiten mögen sich Einzelmenschen, Stände, Berufe,
-Klassen, Stämme, Völker, Staaten, Rassen derart indianerhaft bis zum
-Tod am Marterpfahl gehaßt haben wie heute, wo die frohe Botschaft vom
-Leben wie ein Fünftes Evangelium ergangen ist. Zu einem Sammelbecken
-der Energie staut jeder das Gefälle seines Lebens, aber weil er wegen
-der allzu großen Nähe und Widerstandskraft anderer diese gestauten
-Energien nirgends abfließen lassen kann, beginnt er sehr bald unter
-seinem eigenen Zuviel zu leiden. Aus diesem unvermeidlichen Leiden
-am andern nährt sich ebenso unvermeidlich sein Haß auf den andern.
-In diesem an sich schon übervölkerten Europa bedeutet jedes einzelne
-dieser lebendigen Energiezentren, Energiequanten ein Höchstmaß an
-Störung, Hemmung, Ablenkung für die andern mit lauter magnetischen und
-elektrischen Gewittern in der Folge. In unglaublichem Ausmaß hat sich
-ein ahnungvolles Wort Nietzsches aus seinen Niederschriften zu einer
-Philosophie des Willens<span class="pagenum"><a name="Seite_389" id="Seite_389">[S. 389]</a></span> zur Macht als ein prophetisches erwiesen:
-„Die europäische Tatkraft wird zum Massenselbstmord treiben“... Die
-europäische Tatkraft, will sagen der europäische Energismus und
-Biologismus, der den Europäer ohne jede Schutzmaßregel dem Leben und
-seinen Entladungen preisgibt, hat wirklich zum Selbstmord der Massen
-getrieben. (Was wir aber darunter ungefähr zu verstehen haben, hat
-der nunmehr sieben Jahre gegen Deutschland geführte Vernichtungkrieg
-einigermaßen offenbar gemacht)...</p>
-
-<p>So hat das Leben, das Nichts-als-Leben und Nur-noch-Leben die
-europäische Menschheit dieser Stunde angefallen, wie es dann und wann,
-anscheinend grund- und ursachlos, eines jener chemischen Elemente
-anfällt, die der Gruppe von radioaktiven Stoffen zugehören. Das Leben
-befiel uns und überfiel uns gleichsam, und es leitete mit diesem
-Überfall anscheinend bei uns denselben Zustand des Zerfalls ein wie
-bei diesen mehr wie rätselhaften Elementen. Wunderbar zwar, wir alle
-wissen es, beginnt ein solch’ plötzlich auflebendes Element leuchtende
-Teilchen von sich selber fort und fort zu schleudern und alle jene
-märchenhaften Phänomene aufzuweisen, welche zu unserm unermeßlichen
-Erstaunen ein für alle mal an den Namen Radium klassisch geknüpft sind.
-Dies wie gesagt wissen wir alle. Aber wir wissen auch das andere,
-daß eben mit diesen fortgeschleuderten und vergeudeten Teilchen der
-atomistische Zerfall des ganzen Elementes zum Vollzug gelangt: das
-Element lebt auf, indem es seine eigene Substanz verausgabt.<span class="pagenum"><a name="Seite_390" id="Seite_390">[S. 390]</a></span> Zum Leben
-irgendwie gereizt, verführt, bestimmt, &mdash; das alles ist ja vollkommener
-Mythos innerhalb der Grenzen strengster Wissenschaft! &mdash; gestaltet
-das Element sein bisher ausschließlich physikalisch-chemisches Dasein
-in ein biologisches um, wobei ihm just wiederum diese Umgestaltung
-Sterblichkeit, Tod und Untergang bringt. Etwas ganz Ähnliches, deucht
-mich, geschehe nun auch hier, wo wir europäische Menschen, die wir
-vormals wohl ein wesentlich humanes, ja humanistisches Dasein zu
-führen wenigstens beflissen waren, vom Leben als solchem nun gereizt,
-verführt, bestimmt sind, uns einem vorwiegend biologischen Dasein
-unbedingt hinzugeben, &mdash; und so bringt auch uns diese Umgestaltung
-Sterblichkeit, Tod und Untergang. Luziferisch glutend wie ein
-feuerspeiender Berg in der Nacht loht heute Europa in den Bränden
-seiner Lebenswut und Lebensgeilheit, &mdash; aber wer wäre im ernstlichen
-Zweifel, was dieses prachtvolle Nachtschauspiel, Machtschauspiel zu
-bedeuten hätte! Ein oder zweitausend Jahre europäischen Christentums
-haben endlich auch die verborgensten Voraussetzungen des Christentums
-zum Reden und das Eis des Schweigens unter weithin vernehmlichem
-Krachen zum Bersten gebracht. Und sieh’ da, es zeigte sich folgendes:
-diese Voraussetzungen waren nicht geradezu nachweisbar falsch oder
-irrig, aber sie mußten irgendwie dennoch lückenhaft und unvollständig
-gewesen sein, denn ihnen mangelte offenbar etwas zum Schutz gegen
-des Lebens Un- und Übermaß. Sicherlich hat das Christentum niemals
-Ja gesagt zu den selbstzerstörerischen Konse<span class="pagenum"><a name="Seite_391" id="Seite_391">[S. 391]</a></span>quenzen, welche ein
-nunmehr abgelaufener Äon mit zunehmender Unzweideutigkeit aus dem
-Christentum selbst gezogen hatte. Aber ebenso sicherlich hilft ihm
-auch die ehrlichste Verwahrung und Entrüstung nichts, daß es trotz
-alles Gegenscheins zuletzt doch christliche Voraussetzungen gewesen,
-oder sagen wir etwas vorsichtiger und gerechter: mit-gewesen sind,
-welche diesen Konsequenzen zugesteuert haben. Genau diesen nämlichen
-Konsequenzen würde <i>homo europaeus</i>, <i>homo christianissimus</i>
-unabänderlich noch einmal zusteuern, falls er durch die Vergangenheit
-noch nicht genug gewitzigt, noch einmal sich entschließen würde oder
-entschließen könnte, als Christ seine Geschichte von vorne zu beginnen:
-„Noch einmal sattelt mir den Hippogryphen, ihr Musen, Zum Ritt ins
-alte romantische Land“... Unabänderlich würde der europäische Christ
-auch bei einer Wiederholung seines weltgeschichtlichen Pensums seine
-persönliche Selbstverwirklichung, Selbstverlebendigung um jeden Preis
-zum letztgewollten Ziel seines Daseins machen, nachdem es nun einmal
-sogar seine Religion nicht besser kennt und weiß, als daß Lebenseinheit
-und Ichgestalt, Individuität und Personität die letztmögliche und
-höchstmögliche Ausformung des Wirklichen überhaupt darstellten ...
-Gegen diese Wucherungen der Individuität, die sich notwendig aus
-dieser Auffassung ergeben müssen, kann man <i>post festum</i> mancherlei
-taugliche Maßregeln ergreifen, wie sie der Herr des Evangeliums und
-die sogenannte christliche Ethik denn auch in der Folge mit größerer
-oder geringerer Ent<span class="pagenum"><a name="Seite_392" id="Seite_392">[S. 392]</a></span>schiedenheit ergriffen haben. Aber alle diese
-Maßregeln sind im besten Fall nur dazu geeignet, die Selbstsucht und
-den Eigentrutz der einzelnen Person etwa ein wenig abzuschwächen
-oder gelegentlich sogar zu unterdrücken zugunsten der Selbstsucht
-und des Eigentrutzes einer anderen Person: beides jedoch von innen
-heraus zu überwinden, vermögen auch diese Maßregeln keineswegs bei
-der Grundsätzlichkeit der christlichen Gesamteinstellung zu Welt und
-Wirklichkeit Dasein und Leben...</p>
-
-<p>Indessen sei es nochmals hier mit allem Nachdruck bemerkt, daß uns
-nichts dazu berechtigen würde, diese Gesamteinstellung des Christentums
-zu Welt und Wirklichkeit eine irrtümliche oder falsche zu nennen. Wahr
-oder Falsch, Wahr oder irrig, das sind wahrhaftig nicht die Maßstäbe,
-die an die entscheidenden Einstellungen des Menschen zur Welt und zur
-Wirklichkeit gelegt werden dürfen, wenn sie nicht zu Weiterungen führen
-sollen, die handgreiflich unzulässig, weil unsinnig und widersinnig
-sind. Es geht nicht an zu sagen, zwei Jahrtausende europäischen
-Christentums seien abwegig, irrig oder falsch gewesen. Das Schicksal
-ganzer Kontinente ist so wenig wie das Schicksal eines Individuums
-rückblickend anders vorstellig zu machen, als es eben gewesen ist, und
-wenn jemals das gewaltige Wort vom <i>amor fati</i> angewendet zu werden
-verdient, so hier. Ist es aber, ihr Christen, unter keinen Umständen
-zulässig zu behaupten, zweitausend Jahre christlichen Weltauffassens,
-Lebensgestaltens seien verkehrt gewesen, &mdash; so dürfte anderer<span class="pagenum"><a name="Seite_393" id="Seite_393">[S. 393]</a></span>seit
-freilich die Behauptung doch ihren guten Sinn haben, daß diese zwanzig
-Jahrhunderte ein Verhältnis zur Wirklichkeit für allein möglich,
-allein wertvoll und allein sälig machend erachtet hätten, dessen
-Einschichtigkeit, Unvollständigkeit, Halbschlächtigkeit uns unter dem
-Druck und Eindruck gegenwärtiger Erfahrungen offenbar geworden ist.
-Die Behauptung ist erlaubt, die Behauptung ist gefordert, daß wir mit
-dieser christlichen Einstellung allein nicht länger als Menschen zu
-leben vermögen: nicht länger zu leben mit einer Einstellung, welche
-just das Dasein europäischer Menschheit und Christenheit, wie es heute
-geführt werden muß, zum mensch- und tierunwürdigsten aller Zeitalter
-stempelt. Wer die Europa-Dämmerung dieser Jahre erlebt, wer sie
-erlitten hat, der wird den Argwohn nimmer in sich unterdrücken können,
-daß diese ganze christliche Gesittung bei der Veranschlagung des Lebens
-eine unbekannte Größe, &mdash; es braucht mit nichten ein unbekannter Gott
-zu sein! &mdash; vergessen haben möchte, welches Vergessen dann in der Folge
-zu all den unsäglichen Störungen des Lebens führt, die wir heute an uns
-selbst und am Körper der Gesellschaft beobachten müssen...</p>
-
-<p>Vielleicht wär’ es dabei von etlichem Gewinn, uns an dieser Stelle
-zuletzt der nicht ganz unähnlichen Krisis zu entsinnen, welche
-auf wissenschaftlichem Gebiet heute bekanntlich die klassische
-Mechanik durchzumachen hat. Diese klassische Mechanik, seit
-langem das verwöhnteste Kind europäischer Wissenschaftlichkeit,
-wankt heute ja, genau wie der Bau<span class="pagenum"><a name="Seite_394" id="Seite_394">[S. 394]</a></span> unserer ganzen Gesellschaft,
-in ihren unterirdischsten Gewölben, und dieser Tatbestand hat
-seither zur Entdeckung eines Weltgesetzes Anlaß gegeben, welches
-den Gebildeten unter dem Namen des Satzes von der Relativität, das
-ist: Verhältniswertigkeit, allgemein bekannt geworden ist. Nun
-wohl! Was ist dabei im letzten Sinn geschehen? Etwas im Grunde sehr
-Schlichtes, Einfältiges, Allzumenschliches, wie mir scheinen will. Eine
-Wissenschaft nämlich, bis vor kurzem die Wissenschaft schlechthin,
-hat als die sogenannt klassische Mechanik der Galilei, Kepler,
-Newton, Descartes ein Weltbild in Begriffen entworfen und bis in die
-feingliedrigsten Einzelheiten hinein durchdacht und durcharbeitet,
-welches gewissermaßen die Wirklichkeit, wie sie an und für sich sei,
-darzustellen beflissen war: die Wirklichkeit mithin ganz ohne jene
-erkenntnismäßigen Zutaten, Zusätze, Formungen, mit welchen sonst
-(nach philosophischer Auffassung wenigstens) das erkennenwollende und
-erkennende Ich diese Wirklichkeit ‚subjektiv‘ zu färben und zu tönen
-pflegt. Auf diese Weise hatte die klassische Mechanik von Masse,
-Geschwindigkeit, Bewegung, Schwerkraft, Raum und Zeit gesprochen, &mdash;
-nicht anders, als ob derlei Wesenheiten vollkommen unabhängig von allen
-Einstellungen und Beeinflussungen jenes erkennenden, beobachtenden und
-rechnenden Ich an und für sich bestünden. Das ging solang es ging:
-just nämlich solang, bis zuletzt sogar die Planeten widerspenstig
-wurden und nicht mehr in den errechneten Zeiten ihre errechneten Bahnen
-zurücklegten.<span class="pagenum"><a name="Seite_395" id="Seite_395">[S. 395]</a></span> Die klassische Mechanik der Galilei, Kepler, Newton,
-Descartes hatte so getan, als ob eine wissenschaftliche Darstellung
-des unbegrenzt großen Körpers ‚Welt‘ zu geben wäre, ohne daß man die
-Einwirkungen weiter berücksichtigte, welche der kleine und begrenzte
-Körper ‚Mensch‘ auf jede derartige Darstellung notwendig schon durch
-seine unumgängliche Gegenwart ausüben mußte. Jetzt endlich unter dem
-Druck der gedachten Umstände begann man sich dieser Einwirkungen
-des physiopsychischen Systems Mensch auf das maschinelle System
-Welt grundsätzlich zu besinnen; jetzt traf man Anstalten, jenes
-System als den lebendigen und insofern auch abhängig-veränderlichen
-‚Bezugknoten‘ in die Maschen des wissenschaftlichen Begriffsgespinstes
-hinein zu stricken. Die vorher unbedingt gedachte, unbedingt gesetzte
-Wirklichkeit bewegter Massen im Raum erwies sich jetzo als bedingt,
-nämlich durchaus als zugeordnet und folglich als verhältniswertig
-und verhältnismäßig zu diesem lebendigen Bezugknoten Mensch. Dieser
-Gedanke war kaum in seiner grundsätzlichen Bedeutsamkeit zugelassen
-worden, als die Störungen zum Verschwinden gebracht werden konnten,
-welche schließlich die gesamte klassische Mechanik in Frage gestellt
-hatten. Im wesentlichen handelte es sich nur noch darum, jenen neu
-aufgefundenen Bezugknoten in seinem veränderlichen Wert irgendwie
-mathematisch-analytisch in die Rechnung einzufügen, &mdash; ein Vorgang,
-dessen Wie uns hier begreiflicherweis nichts weiter angeht. Wohl
-aber gibt uns das Daß desselben, obgleich auch<span class="pagenum"><a name="Seite_396" id="Seite_396">[S. 396]</a></span> seinerseit in erster
-Linie eine Angelegenheit der Mechanik, einen schätzbaren Wink, wie
-man etwa auch außerhalb der strengen Wissenschaft Unstimmigkeiten und
-Störungen einschneidender Art zu beheben vermöchte: Unstimmigkeiten
-und Störungen wahrhaftig nicht in den Umlaufbahnen des Merkur oder in
-der Fortpflanzungrichtung der Lichtstrahlen, sondern Unstimmigkeiten
-und Störungen in der Gesamtlebensführung eines Zeitalters, &mdash;
-Unstimmigkeiten und Störungen so schwerster, ausschweifendster,
-verderblichster Art, daß sie schließlich die allgemeine Tatsache
-des Lebens selber gefährden müssen. Jene klassische Mechanik euerer
-Galilei, Kepler, Newton, Descartes, ihr Christen, hatte den wechselnden
-Bezugknoten Mensch und menschlicher Beobachter bei ihrer mathematischen
-Substruktion einer dreidimensionalen Weltwirklichkeit in Anschlag zu
-bringen vergessen: einen veränderlich-abhängigen Wert also je nach
-der örtlichen Einstellung zu den wahrgenommenen Erscheinungen und
-Erscheinungabläufen. Das Christentum aber, welches nun einmal euer
-europäisches Schicksal geworden ist, ihr Christen: dies Christentum hat
-unzweifelhaft etwas anderes vergessen. Was dieses andere freilich sei,
-ist schwer zu sagen, schwer zu suchen, schwer zu finden...</p>
-
-<div class="section">
-
-<p><span class="pagenum"><a name="Seite_397" id="Seite_397">[S. 397]</a></span></p>
-
-<p class="initial">Sichten wir noch einmal alles ineinander, was hier gesagt ward
-über das Verhältnis des europäischen und mithin doch wohl auch des
-christlichen Menschen zu seiner Welt, so wäre etwa als grundsätzlicher
-Ertrag das Urteil festzuhalten: der Abendländer formt diese Welt
-aus seinen Sinnen und mit seinem Sinn restlos in eine Unendlichkeit
-gestaltartiger Gebilde aus. Das All zerlegt sich ihm in wechselnd
-wechselseitige Beziehung solch wohl ausgeformter, festabgegrenzter
-Gegenständlichkeiten zueinander, und vollends das Leben erscheint ihm
-lediglich unter dem Gesichtswinkel ewig bewegter und veränderlicher
-Grundgestalt. Die Wirklichkeit des Europäers ist durchgängig aufgeteilt
-in letzte Einzelnheiten, letzte Einheiten, die er schon früh in seiner
-dreitausendjährigen Geschichte die Unteilbarkeiten, ἄτομοι,
-<i>individua</i> zu nennen liebte. Nichts liegt seiner Gewohnheit ferner
-als der Argwohn, diese vielfach gegliederte Wirklichkeit könne am Ende
-doch nicht das Wirkliche schlechthin sein, und buchstäblich hat er
-sein Sach’ auf Sich gestellt, wofern er sich die ganze wahrnehmbare
-und unwahrnehmbare Welt so deutet, als ob sie sich zusammensetze aus
-lauter mehr oder weniger ähnlichen Wiederholungen seiner eigenen
-Individuation. Im fließenden Wandel der Gestaltungen deucht ihn die
-Gestalt allein das Dauernde und Beharrliche, und sein Blick erlischt,
-sein Auge erblindet jäh, wo man es abzuziehen trachtet von den streng
-ausgeprägten Gegenständen und genau abgegrenzten Besonderungen
-seiner vielgegliederten Wirklichkeit. Die Welt unter<span class="pagenum"><a name="Seite_398" id="Seite_398">[S. 398]</a></span>worfen dem
-Gesetz fortschreitender Besonderung, das ist die vorzugweis
-abendländische Welt, und wo das Gesetz nicht mehr gilt, wird mit naiver
-Selbstverständlichkeit angenommen, daß auch die Welt selber nicht mehr
-gelte. Diesseit und jenseit der Unterscheidung beginnt das Nichts
-und Abernichts, &mdash; das ist europäische Einstellung und Überzeugung,
-und wir hier vermögen jetzt sogar zu begreifen, inwiefern dies
-christliche Einstellung, evangelische Überzeugung gewesen ist. Wie der
-mathematische Dividendus einer rationellen Zahl durch Teilung restlos
-aufgeht in seine Divisoren, so geht die abendländische Wirklichkeit
-restlos in ihre Besonderungen auf. In dieser Auffassungweise verrät
-sich ein gar nicht auszurottender Rationalismus europäischen
-Weltdenkens und Weltwissens, auch wenn dieses Weltdenken und Weltwissen
-seit der Mathematik der Griechen aufs tiefste sich beunruhigt zeigt
-von dem Problem des Irrationalismus, bis dieser Irrationalismus
-schließlich in der gegenwärtigen Philosophie Deutschlands, Frankreichs,
-Amerikas Trumpf geworden ist. Die Welt ein aufteilbares Ursein, die
-Welt grundsätzlich ein <i>Dividuum</i>, und nur die letzten Einheiten ihres
-Bestands unteilbares Dasein oder <i>Individuum</i>: in dieser Deutung krönt
-die Abendlandsmenschheit ihr höchstes Wissen von der Wirklichkeit.</p>
-
-</div>
-
-<p>Nicht aber krönt in derselben Deutung die indische Menschheit dieses
-ihr Wissen, und am wenigsten der Buddho mit Namen Gotamo. Wer die
-unermeßliche Paradoxie, welche für abendländischen<span class="pagenum"><a name="Seite_399" id="Seite_399">[S. 399]</a></span> Geschmack der Lehre
-und Tat des Buddho immer anhaften wird, mit ihrer ungeminderten Wucht
-auf sich prallen lassen will, braucht sich nur diesen nämlichen Umstand
-zu vergegenwärtigen: denn die Erfahrung einer vollkommen entstalteten
-und entformten Wirklichkeit diesseit und jenseit aller Besonderungen
-und Unterscheidungen, diese Erfahrung aller Erfahrungen macht geradezu
-das religiöse Erlebnis des Buddho aus: namentlich aber besteht das
-gotamidische Mysterium der Erlösung einzig und ausschließlich in der
-vollbrachten Ablösung von eben dieser Wirklichkeit restloser Ausformung
-und Ausgestaltetheit. Wo Sinn und Sinne des europäischen Menschen
-unermüdlich in eine gestalthafte Welt schweifen und mit der Schärfe
-astronomischer Refraktoren sogar noch jede nebelungewisse Milchstraße
-am Himmel in ein Gewimmel von lauter einzelnen Sternen optisch
-zerbrechen, da sammelt sich der Geist des gotamidischen Menschen in
-stiller Einfaltung auf das versiegelte Geheimnis einer Gegen-Welt,
-für welche jeder Begriff von Gestalt, Form, Mannigfaltigkeit,
-Unterschied, Einzelheit, Größe oder Zahl seine Gültigkeit einbüßt.
-Diese Wirklichkeit des Abendländers ist mehr oder weniger eine
-Vervielfältigung seiner selbst, eine Vervielfältigung seines Selbstes.
-Jede Erscheinung seiner Umwelt dünkt ihn gleichsam ein Doppelgänger
-seines Ich, wie er denn unbefangen genug eben sein Ich der gesamten
-Wirklichkeit als ihr individuelles Modell philosophisch unterstellen zu
-dürfen wähnt. Das Ich setzt Sich und das Ich setzt das Nicht-Ich, sagt
-Fichte<span class="pagenum"><a name="Seite_400" id="Seite_400">[S. 400]</a></span> bekanntlich mit einer verräterischen Offenherzigkeit, und er
-hätte vielleicht gut getan hinzuzufügen: das Ich setzt das Nicht-Ich
-als das Spiegelbild und Ebenbild des Ich...</p>
-
-<p>Natürlich kann und darf man nun nicht behaupten, daß diese gestalthaft
-besonderte und ausgeformte Wirklichkeit für Gotamo und den
-gotamidischen Menschen nicht vorhanden wäre. Auch der östliche Mensch,
-das versteht sich, schafft sich seine Welt und seine Wirklichkeit ihm
-zum Bilde, wenn er auch in der Ausformung und Aufteilung dieser Welt,
-in ihrer Zerlegung und Zerfällung nicht annähernd so weit gegangen ist
-wie der wissenschaftlich verfahrende Europäer. Im Unterschied zu diesem
-betrachtet er jedoch diese instinktiv betriebene Vermenschlichung der
-Welt keinen Augenblick als Endgültigkeit, und zwar eben darum nicht,
-weil sie der Welt sein menschheitlich geprägtes Selbst zugrunde legt:
-denn just dieses menschheitlich geprägte Selbst betrachtet er keinen
-Augenblick lang als Endgültigkeit. Vielmehr wertet er es kühl und
-besonnen, wie etwa ein scharfer Denker eine wohlgelungene Gleichnisrede
-bewertet, von der er nur allzu gut weiß, daß sie das Unsägliche
-zwar immerhin in einer gewissen Sinnfälligkeit verdeutlicht, &mdash;
-verdeutlicht aber eben doch nur in der Weise einer Gleichnisrede. Allzu
-treuherzig, allzu leichtgläubig nimmt dagegen der Abendländer sein
-eigenes Selbst für bare Münze, mit welcher er alle großen und kleinen
-Forderungen der Welt begleichen zu können wähnt, indes der Buddho,
-längst nicht<span class="pagenum"><a name="Seite_401" id="Seite_401">[S. 401]</a></span> mehr treuherzig und noch weniger leichtgläubig, die mehr
-wie fragwürdige Beschaffenheit auch dieses Selbstes durchschaut hat:
-er ahnt ein rätselhaftes Sinnbild, wo sich der Abendländer kindisch
-an die sogenannte Wahrheit klammert. Die Annahme, diese durchgängig
-menschheitlich gebildete Wirklichkeit, welche den Kosmos als den
-Makranthropos, Megistanthropos, den Anthropos und Autos zuletzt aber
-als den Mikrokosmos begreiflich zu machen glaubt, sie könnte die
-Wirklichkeit schlechthin oder die einzig ‚wahre‘ Wirklichkeit sein, &mdash;
-diese Annahme hätte der Buddho schwerlich für glaubwürdiger erachtet,
-als wenn zum Beispiel aus der Schar der Wesenheiten ein Wurzelfüßer,
-eine Koralle, ein Ringelwurm, eine Schnecke, eine Wespe, ein Sperling
-vor ihn hingetreten wären mit der geflissentlichen Beteuerung: Diese
-meine Wurzelfüßerwelt, o Gotamo, ist die Wirklichkeit schlechthin,
-ist die einzige und wahre Wirklichkeit! Diese meine Korallenwelt,
-diese meine Ringelwurmwelt, diese meine Schneckenwelt, diese meine
-Wespenwelt, diese meine Sperlingwelt, o Gotamo, ist die Wirklichkeit
-schlechthin, ist die einzige und wahre Wirklichkeit! Wähne doch ja
-nicht, Herr, daß es da neben oder außer oder über oder unter oder
-zwischen dieser jeweiligen Welt noch eine andere Welt gäbe, etwa eine
-sogenannte Menschenwelt, oder gar, verzeih’ uns! eine gotamidische
-Welt, von der wir wahrlich weder etwas zu ertasten noch zu erriechen,
-zu erschmecken, zu erspähen vermögen!... Ich meine, das Lächeln ist
-zu erraten, mit welchem der Buddho diesen vielerlei Wesenheiten ihr
-ungebärdiges Drängeln,<span class="pagenum"><a name="Seite_402" id="Seite_402">[S. 402]</a></span> ihr unvernünftiges Schwören, ihr lästerliches
-Pressen beantwortet hätte. Ein begütigendes, ja ein überredendes
-Lächeln, welches am Ende die klügsten dieser unduldsamen Geschöpfe zu
-der neuen Einsicht geführt haben möchte, daß ihre jeweilige Welt, eben
-weil ihre, nur ihre Welt, nun und nimmer mit der Welt überhaupt dem
-Umfang und Inhalt nach sich decken könne. Und vielleicht, wer weiß,
-hätte sich der Buddho sogar noch zu der Erläuterung herbeigelassen:
-Ein jegliches von euch guten Wesen schuf sich seine Welt nach Maßgabe
-und Bedarf seiner eigenen Gestalt. Wie aber die Gestalt von euch
-Wurzelfüßern, Korallen, Ringelwürmern, Schnecken, Wespen, Sperlingen
-sowohl im einzelnen wie der ganzen Gattung nach vergänglich ist, so
-ist auch euere ganze Welt vergänglich. Unvergänglich, unsterblich,
-ewig aber ist allein, was nicht und nirgendwo Gestalt annahm nach
-euerer Gestalt, und darum nirgends auch Gestalt verlieren kann,
-ihr Wesen... „Weiter sodann, Ânando: nach völliger Überwindung der
-Formwahrnehmungen, Vernichtung der Gegenwahrnehmungen, Verwerfung der
-Vielheitwahrnehmungen gewinnt der Mönch in dem Gedanken ‚Nichts ist da‘
-das Reich des Nichtdaseins. Und was dabei noch fühlbar, wahrnehmbar,
-unterscheidbar, bewußtbar ist, solche Dinge sieht er als wandelbar,
-wehe, siech, bresthaft, schmerzhaft, übel, gebrechlich, ohnmächtig,
-hinfällig, eitel, als nichtig an. Und von solchen Dingen säubert er
-sein Herz. Und hat er sein Herz von solchen Dingen gesäubert, so lenkt
-er es zu ewiger Artung hin: ‚Das ist die Ruhe,<span class="pagenum"><a name="Seite_403" id="Seite_403">[S. 403]</a></span> das ist das Ziel:
-dieses Aufgehn aller Unterscheidung, die Abwehr aller Anhaftung, das
-Versiegen des Durstes, die Wendung, Auflösung, Erlöschung‘“...</p>
-
-<p>Es gibt also eine Welt diesseit und jenseit aller Unterscheidungen,
-diesseit und jenseit aller Besonderungen, diesseit und jenseit aller
-Gestaltungen, diesseit und jenseit aller Mannigfaltigkeiten. Es gibt
-eine Welt, von keinem Begriff zu umspannen und von keinem Wort zu
-treffen, und dennoch eine unumstößliche Gewißheit. So sicher wie es
-über der Wurzelfüßerwelt eine Korallenwelt gibt, über der Korallenwelt
-eine Ringelwürmerwelt, über der Ringelwürmerwelt eine Schneckenwelt,
-über der Schneckenwelt eine Wespenwelt, über der Wespenwelt eine
-Sperlingwelt, über der Sperlingwelt eine Menschenwelt, so sicher
-gibt es über der Menschenwelt eine solche, die überhaupt nicht mehr
-dieser oder jener Art von Lebewesen und ihren leiblich-geistigen
-Erkenntnismitteln entspricht: ein Welt-Sein nicht für diese oder jene
-Wesen, sondern ein Welt-Sein schlechtweg, ein Welt-Sein an und für
-sich, &mdash; ein Welt-Sein mithin, wie es in ihren lichtesten Augenblicken
-sogar die europäische Philosophie geahnt hat. Von dieser Welt als ‚Ding
-an sich‘, die von keinem irgendwie beschaffenen Wissen erreicht wird
-und erreicht werden kann, weil es ein Wissen in unserm menschheitlichen
-Sinn nur dort gibt, wo unterschieden und besondert und gestaltet und
-vermannigfacht wird, &mdash; von dieser Welt ist dennoch eine Kunde zu
-dem Buddho hingedrungen. Es ist eine Kunde zu ihm gedrungen in Form
-einer<span class="pagenum"><a name="Seite_404" id="Seite_404">[S. 404]</a></span> schwer erkämpften, schwerer noch bewahrten Seelenverfassung,
-die eben als solche nicht mehr dieser, sondern jener Wirklichkeit
-entspricht: „Das ist die Ruhe, das ist das Ziel; dieses Aufgehen
-aller Unterscheidung, die Abwehr aller Anhaftung, das Versiegen des
-Durstes, die Wendung, Auflösung, Erlöschung...“ Denn in der Tat gesetzt
-den Fall, diese Allerwelts-Wirklichkeit unserer menschheitlichen
-Sinneswahrnehmungen entstehe gerade dadurch, daß wir ihr unser
-vorgefundenes Selbst irgendwie als ihr Vorbild, Urbild, Musterbild
-zu beliebiger Vervielfältigung unterstellen, &mdash; müßte es denn nicht
-in genialischer Umkehrung dieses Sachverhaltes grundsätzlich möglich
-sein, durch planmäßig betriebenen Abbau dieses Selbstes auch die ihm
-angepaßte, ihm entsprechende Wirklichkeit abzubauen? Dies muß möglich
-sein und dies ist möglich. Denn just dieser Abbau des Selbstes gelangt
-zum Vollzug, wenn der Buddho auch das Selbst der Grundformel seiner
-Heilslehre unterwirft: ‚<i>N’etam mama</i>, das gehört Mir nicht!‘ Auch Ich
-selbst gehöre Mir nicht, auch Ich selbst bin nur eine veränderliche
-Gestalt, ein gleitendes Werden unter veränderlichen Gestalten und unter
-gleitendem Werden. Auch Ich selbst habe weder Bestand noch Dauer; auch
-mein Selbst durchläuft nur die Grade der Wirklichkeit vom Nullwert bis
-zu einem bestimmten Höchstwert und von diesem Höchstwert wieder zum
-Nullwert...</p>
-
-<p>Dennoch ist es aber eben dieses Selbst, ich sagte es schon mehrmals,
-welches sich gleichsam quer wie<span class="pagenum"><a name="Seite_405" id="Seite_405">[S. 405]</a></span> eine starke Schwelle vor die Welt des
-Abendländers legt und nichts in das Erlebnis dringen läßt, was nicht
-irgendwie diesem Selbst gleich oder ähnlich ist: das <i>individuum</i>,
-von sich und seiner Erstgültigkeit, Letztgültigkeit ein für allemal
-durchdrungen, stimmt seinen gesamten aufnehmenden und empfangenden
-Apparat wiederum nur auf das <i>individuum</i> ab und baut sich auf diese
-Weise seinen Kosmos, der zuletzt nichts anders ist als das, was nach
-dem Dafürhalten Platons das vollkommene Staatswesen sein sollte und
-sein wollte, &mdash; nämlich der Mensch im Großen und Größesten, der
-Makranthropos, der Megistanthropos!... Nun wohl! Setzen wir jetzt
-einmal, dem Vorgang des Buddho folgend, den Wert dieser Schwelle
-gleichsam zum Versuch soweit herab, daß er sich der Null annähert:
-sind wir alsdann in diesem Fall unserer ganzen Voraussetzung gemäß
-nicht zu der Erwartung berechtigt, wenn nicht sogar verpflichtet,
-daß diesem veränderten Schwellenwert ein verändertes Erleben von
-Wirklichkeit und Welt wechselbezüglich entsprechen wird? Dürfen
-wir jetzt nicht mit Recht und Fug erwarten, daß über diese nunmehr
-beinah’ eingeebnete Schwelle ausgeformter Eigenheit, Einzelnheit
-und Besonderheit das Erlebnis einer zwar unausgeformten und darum
-auch unausdenklichen und unaussprechlichen, dennoch aber bestehenden
-Weltwirklichkeit auf wunderbare Art vorgelassen, zugelassen wird?
-Dies nun freilich keineswegs so, als ob diese Gegenwelt zu unserer
-Welt, unseren Erkenntnismitteln als solchen unzugänglich, trotzdem
-nachträglicherweis<span class="pagenum"><a name="Seite_406" id="Seite_406">[S. 406]</a></span> und hinten herum von unserem Verstand noch etwa
-auf frischer Tat zu ertappen wäre: als ob man doch irgendwie durch
-allerlei Künste der Verdrehung diese verborgene Welt auf Einen Nenner
-mit unserer offenbaren Welt zu bringen vermöchte. Davon ist keine
-Rede. In keinem Augenblick verfällt der Buddho auf den plumpen Irrtum
-der europäischen, insonderheit aber deutschen Philosophie nach Kant,
-die sich in totgeborenen Versuchen erschöpft, das verbotene Ding an
-sich einer Welt diesseit und jenseit aller Unterscheidungen doch noch
-heimlich auszukunden. Mit solchen Bemühungen einer sich in lächerlichen
-Graden selbst mißverstehenden Wissenschaftlichkeit hat der Buddho im
-mindesten nichts zu schaffen. Die vollkommen unverbrüchliche, niemals
-zu entsiegelnde Unerkennbarkeit dieser uns nun einmal abgekehrten
-Seite der Welt gilt gleichmäßig für die wissenschaftliche Neugier der
-Philosophen und Kosmologen wie für die nicht mehr wissenschaftliche,
-aber desto unbezähmtere Neugier der Theosophen und Okkultisten, und
-sie wird mit solcher Strenge geachtet, daß man umsonst im ganzen
-Pâli-Kanon nach einem Ausdruck fahnden würde, der diese Gegenwelt
-diesseit und jenseit aller Unterscheidungen auch nur durch Verneinungen
-zu bezeichnen bestimmt wäre. Denn was das gotamidische <i>nibbânam</i>
-oder <i>nirvânam</i> betrifft, mit welchem wir neuzeitlichen Europäer
-denselben taktlosen Unfug, um nicht zu sagen dieselbe schamlose
-Unzucht getrieben haben wie mit dem Tao des großen Lao-Tse, dieses
-<i>nibbânam</i> oder <i>nirvânam</i> heißt ja<span class="pagenum"><a name="Seite_407" id="Seite_407">[S. 407]</a></span> doch, entsinnen wir uns, nichts
-anderes als Wunschversiegung, Wunscherlöschung, Wunschverwindung.
-Alles, was wir demnach von dieser Gegenwelt wissen können, beschränkt
-sich auf einen selbsttätig erzeugten Zustand und Urstand des Gemütes
-und schließt jedes Urteil, jedes Bild, jede Vorstellung von der
-Wirklichkeit aus, die diesem Zustand oder Urstand entsprechen mag.
-Was von jener entformten und entstalteten Welt diesseit und jenseit
-aller Unterscheidungen etwa als Ahnung in die Seele des entselbsteten
-Menschen dringt, das wäre höchstens jenem zarten, falben, feierlichen
-Abglanz zu vergleichen, der auch in mondlosen Nächten als schwer
-bestimmbarer Lichtschein von unbekannten Lichtursprüngen, unbenannten
-Lichtquellen her durch unser irdisches Geräume träuft und flutet...</p>
-
-<p>Dieser gotamidisch entselbstete, gotamidisch enteignete Mensch,
-soviel mag uns am Ende sacht umschreibend zu sagen vergönnt sein,
-weilt fortab in einer entselbsteten und enteigneten Wirklichkeit,
-wo mindestens er selbst keinen Anspruch mehr erhebt auf den Besitz
-eines lebendigen Wesens oder eines toten Dinges: wo mindestens
-er selbst nie mehr die Hand legt auf irgend jemanden oder irgend
-etwas, um es zu seinem Eigentum zu machen. Mit seiner unvergeßlich
-einprägsamen Formel ‚<i>N’etam mama</i>, das gehört Mir nicht, Ich
-selber gehöre Mir nicht, das All und Alles gehört Mir nicht‘, &mdash;
-mit dieser ewigen Formel eines allgemeinen Freispruchs, Losspruchs,
-Ledigspruchs streicht der Buddho aus dem Schatz<span class="pagenum"><a name="Seite_408" id="Seite_408">[S. 408]</a></span> unserer Sprache
-jedes besitzanzeigende Für-Wort und Wort: streicht er über das Wort
-hinaus jede Tat der Aneignung und Besitzergreifung aus der Vollzahl
-aller Taten. Mit diesem Handgriff, diesem Geistgriff von beispielloser
-Entschiedenheit versetzt sich der Buddho mitten hinein in eine vorher
-nie auch nur geträumte Wirklichkeit, wo jeder Titel des Besitzes
-selbst im geläutertsten Sprachverstand erloschen und jede Gebärde der
-Besitzergreifung verboten ist: „Das ist die Ruhe, das ist das Ziel! Das
-ist die Wendung, Auflösung, Erlöschung.“ An diese ganze hochgebäumte
-Menschenwelt und Menschenumwelt legt der Buddho seine Axt, indem er
-einen unübertrefflich genauen und nervigen Hieb durch die Wurzel führt,
-aus welcher die erstickende Wucherung aller irdischen Individuation
-und Spezifikation als Geiltrieb in das Kraut schießt. Denn Wille zur
-Besitzergreifung und Aneignung, Wille zum Nießbrauch und folglich auch
-zum Mißbrauch fremden Seins und fremden Wesens heißt die Wurzel dieser
-Menschenwelt: die Axt aber, die sie mitten auseinanderschneidet, ist
-die erlangte Einsicht, daß jegliches Verhältnis und Verhalten, durch
-welches ein Wirkliches Hand auf ein Wirkliches legt, zuletzt auf eine
-Täuschung, auf einen Irrtum hinauslaufen müsse. Ich selber gehöre ja
-Mir nicht, &mdash; wie sollte oder könnte da Mir anderes gehören? Ich selber
-gehöre Mir nicht, oder in der Sprache unseres westlichen Evangeliums,
-welches hier in gewissem Sinn seinen eigenen Voraussetzungen
-vorübergehend untreu zu werden scheint: Unser keiner lebt ihm selber!
-Mir<span class="pagenum"><a name="Seite_409" id="Seite_409">[S. 409]</a></span> selber gehöre Ich nicht, oder abermals in der Sprache dieses
-Evangeliums: Unser keiner stirbt ihm selber! Wahrhaftig, wer diesen
-Sachverhalt mit dem Geist erfaßt und mit der Seele angenommen hat, er
-heiße Jesus oder Gotamo, der Gesalbte oder der Erwachte: wie sollte der
-noch nach Besitz von Wirklichkeit gieren?</p>
-
-<p>Von Haus aus gipfelt freilich alles Menschendichten und -trachten
-wesentlich darin, diese nun einmal angetretene Welt tunlichst mit
-Wirklichkeiten vollzustopfen, etwa wie ein wohlhabender Mann seine
-Wohnung tunlichst mit Geräten vollstopft, und diese planmäßige
-Vermehrung von Wirklichkeiten pflegt im weitesten Ausmaß als Vermehrung
-des Besitzes empfunden zu werden. In einem höchst eindeutigen, ja
-einsilbigen Wortverstand ist für uns alle das Gesetz der größten
-Zahl bestimmend: je mehr Wirklichkeit, desto besser für uns, die wir
-wirklich sind! Wie der Bauer einen unersättlichen Hunger nach Land
-verspürt, so hungert uns alle ganz unersättlich nach Wirklichkeiten
-gleichviel welcher Art, und es verdient bemerkt zu werden, daß
-wir diesen Hunger als die <i>sacra auri fames</i> schon frühzeitig
-heilig gesprochen haben. Vermehrte Nachkommenschaft, vermehrte
-Bevölkerungdichte, vermehrte Arbeitleistung, vermehrte Gütererzeugnis,
-vermehrte Betriebsmittel, vermehrter Umsatz, vermehrter Verkehr,
-vermehrter Wissensstoff, vermehrte Weltgeltung, vermehrte Bedürfnisse,
-vermehrte Beeindruckbarkeit, vermehrte Reizquellen, vermehrte
-Lustgefühle, &mdash; all das bedeutet grundsätzlich eine unendliche
-Steigerung dessen, was der Einzelne<span class="pagenum"><a name="Seite_410" id="Seite_410">[S. 410]</a></span> möglicherweis sich aneignen kann.
-Je zahlreicher die Wirklichkeiten, desto häufiger und mannigfaltiger
-die Gelegenheit, von ihnen her Wirkungen zu empfangen, auf sie
-Wirkungen zu übertragen und schließlich in beiderlei Geschehen die
-eigene Wirklichkeit zu bereichern. Jede neue Wirklichkeit, sei sie nun
-ein Gefühlsreiz, eine Erfindung, ein Kunstwerk, eine Gründung, eine
-Heilquelle, ein Weltbegriff, kann von jedem Mitglied der menschlichen
-Gesellschaft besessen und eben dadurch dem Zweck von dessen
-Selbstverwirklichung dienstbar gemacht werden: wird doch sogar das
-geliebte Weib vom Mann geliebt, damit er ‚von ihr Besitz ergreife‘, &mdash;
-will doch sogar die Liebe selbst (nach einer großen Aufrichtigkeit der
-Sprache) besitzen, was sie liebt, und im Besitz der Liebe Wirklichkeit
-genießen... Womöglich einmal aber in den Besitz aller Wirklichkeiten
-überhaupt zu gelangen und ihr Inhaber, ihr Herr, ihr Gott zu sein,
-womöglich einmal alle Wirklichkeit wie ein Weib zu umfangen, &mdash; das ist
-der brünstige Traum, der vielleicht jeden einmal in einer schwachen
-oder starken Stunde anfällt. Denn wer mehr besitzt, der ist mehr; wer
-mehr ist, der ist auch mehr wert, &mdash; diese ebenso naive wie zynische
-Schätzung, welche ganz unbedenklich Rang und Wert der Wesen nach ihrer
-Fähigkeit zur Aneignung und Besitzergreifung bemißt, entbehrt trotz
-aller Einwände, die wider sie erhoben werden können und müssen, dennoch
-von dieser gewohnheitmäßigen Einstellung her auf die Wirklichkeit nicht
-einer höheren Berechtigung. An Wirklichkeiten und durch Wirk<span class="pagenum"><a name="Seite_411" id="Seite_411">[S. 411]</a></span>lichkeiten
-sich staffelweis selbst empor zu erwirklichen: das ist bewußt oder
-unbewußt das Ziel unbefangener Menschlichkeit. Das ist insonderheit
-das Ziel, dem unser heutiges Europäertum mitsamt seinen kolonialen
-Abkömmlingen mit Ausschließlichkeit zustrebt...</p>
-
-<p>Diesem Ziel aller Ziele nun stellt der Buddho Gotamo gleichsam seine
-reine Umkehrung entgegen, &mdash; und dies ist wohl die weltgeschichtlich
-entscheidendste Leistung dieses stärksten Exponenten des indischen
-Kontinents! Was nach der Lehre Gotamos nottut, ist eben nicht diese
-Erwirklichung des eigenen Selbstes an den Wirklichkeiten der Welt
-neben und außer ihm. Was hier nottut, ist vielmehr ganz im Gegenteil
-die Entwirklichung aller Wirklichkeiten auf Grund einer zuerst zu
-vollziehenden Selbstentwirklichung. Und zwar hat diese notwendige
-Entwirklichung ganz schlicht zu geschehen durch die Besinnung auf
-eben jenen Sachverhalt, welchen der Buddho in die Mitte seiner
-Lehre rückt: Besitz von Dingen, Besitz von Wesenheiten, Besitz von
-Wirklichkeiten ist unmöglich, &mdash; wo er aber möglich scheint, äfft uns
-ein ungeheuerer Irrtum. Noch eh’ wir uns dazu überredet haben, dies
-oder jenes zu besitzen, ward es uns auch schon aus der vollen Hand
-gerissen, und unverlierbar ist allein die Gewißheit, daß dem so ist,
-und also auch die Folge, die wir dieser Gewißheit geben. Diese Welt,
-von welcher der Europäer überzeugt ist, daß er sie beherrsche, und
-nicht allein beherrsche, sondern ganz und gar besitze, diese Welt ist
-in Wahrheit Niemandens Welt, am wenigsten aber die Welt des<span class="pagenum"><a name="Seite_412" id="Seite_412">[S. 412]</a></span> Menschen.
-Eine Niemands-Welt, eine Niemands-Wirklichkeit ist es, die wir arme
-Narren in verzeihlich-unverzeihlicher Selbsttäuschung die unsrige zu
-nennen pflegen, und erst jenes gotamidische ‚<i>N’etam mama</i>‘ ist es,
-welches wie ein Donnerkeil die Nebel dieser Selbsttäuschung zerstreut
-und zerteilt. Als Niemandens-Welt, die Mir nicht gehört und nicht
-gehören kann, als Niemandens-Wirklichkeit, die Mir nicht gehört und
-nicht gehören kann, entweltet der Buddho diese Welt und entwirklicht
-er diese Wirklichkeit. Denn was wir Welt heißen und was Wirklichkeit,
-ist eben nur die Gesamtheit alles dessen, von dem wir wähnen, daß es
-als möglicher Besitz von uns besessen, als möglicher Besitz von uns
-angeeignet, als möglicher Besitz von uns verbraucht werden könne, &mdash;
-das Verbum ‚besitzen‘ heißt bekanntlich im älterem Deutsch ‚vermögen‘.
-Wer uns diese Möglichkeit nimmt, der nimmt gewissermaßen auch den
-Dingen und Erscheinungen um uns her ihre Wirklichkeit, wofern diese
-Wirklichkeit eben nur der Ausdruck ist für die besitzergreifende
-Beziehung von uns zu allen Dingen und Erscheinungen. Und das ist wohl
-der letzte, das der tiefste Sinn dieser vielleicht hier allzuoft
-benutzten, hoffentlich aber darum doch noch nicht abgenutzten Formel
-‚<i>N’etam mama</i>, das gehört Mir nicht‘, &mdash; wofern durch sie der
-Buddho vollkommen deutlich macht, daß es ein Verhältnis des Besitzes
-zwischen Mensch und Welt nicht gibt, leitet er damit gleichzeitig eine
-Entwirklichung größten Stiles dieser nie und nimmer zu besitzenden
-Welt ein! Denn was auch immer wir als Wirklichkeit erleben und
-als<span class="pagenum"><a name="Seite_413" id="Seite_413">[S. 413]</a></span> Wirklichkeit setzen, das erleben oder setzen wir im Interesse
-etwaniger Besitzergreifung als wirklich: indes uns alles zu fernster
-Unwirklichkeit verdämmert und verdampft, was ein Interesse künftiger
-Besitzergreifung grundsätzlich nicht zuläßt. Die scheinbar so
-unerschüttert wirkliche, unverwüstlich wirkliche Welt entwirklicht
-sich demnach in dem Augenblick, wo sie in des Wortes höchster und
-tiefster Bedeutung enteignet wird. Diesen paradoxen Zusammenhang von
-Wirklichkeit und möglicher Besitzergreifung, möglicher Aneignung dürfte
-von sämtlichen Menschen der Buddho zuerst durchschaut und zuerst &mdash;
-zerschnitten haben. Wer an die Welt der Dinge, bedeutet der Buddho uns,
-nicht mehr mit irgendeinem offenkundigen oder versteckten Anspruch des
-Besitzes herantritt, der erlebt sie auf eine andere Weise wie vorher.
-Was ihm vorher Wirklichkeit zu sein deuchte, das erscheint ihm jetzt
-gleichsam als Bild, und was er vorher rund als Körper sah, enttieft
-sich ihm nunmehr gleichsam zur Fläche. In unbeabsichtigter, aber
-darum nicht weniger eindrucksvoller Symbolik hat die buddhistische
-Plastik diesen Tatbestand auf ihre Art dargestellt, wenn sie den
-vielgestaltigen Schildereien des Menschenlebens, mit welchen sie
-verschwenderisch die Tempelwände des Boro-Budur schmückt, dennoch in
-keinem Fall die Tiefe der vollen Körperhaftigkeit zugesteht, sondern
-ihnen die aufgehöhte Fläche des Reliefs alleinig vorbehält: wogegen
-rund, körperlich, allseitig im Raum nur der Buddho selber thront,
-&mdash; freilich abseit vom eigentlichen Leben und seiner hinreißenden
-Bilder<span class="pagenum"><a name="Seite_414" id="Seite_414">[S. 414]</a></span>flucht, vollkommen aus- und abgeschieden in der Einsamkeit
-seiner ihm geweihten Nischen: „Das ist die Ruhe, das ist das Ziel“...</p>
-
-<p>Eine Entwirklichung der Wirklichkeit als Ziel der Ziele anstatt der
-sonst betriebenen Erwirklichung an Wirklichkeiten, &mdash; hier wird der
-Europäer stutzig. Denn sei dieses asketische Ziel seinen lebendigsten
-Instinkten auch noch so widersprechend, ja widerwärtig, &mdash; irgendwann
-hat doch auch er sich schon einmal mit diesem Ziel befaßt: irgendwann
-ist er auf diesem Weg dem Buddho schon einmal ein Stück weit entgegen
-gegangen. Entwirklichung der Wirklichkeit: weist nicht auch dieser
-fremdeste aller Gedanken zuletzt wie alles maßgeblich Europäische auf
-den Namen Kant zurück? Gibt es nicht auch nach der unzweideutigen
-Erklärung Kants ein menschheitliches Verhältnis zur Umwelt, dessen Sinn
-und Wert sich darin ausspricht, daß der Mensch Dinge und Wesenheiten
-auffaßt, als seien sie gar keine Wirklichkeiten als solche, sondern
-ein entwirklichter Schein? Fordert nicht Kant, dieser genugsam
-nüchterne und jeder Ausschweifung abholde <i>magister mundi europaei</i> bei
-besonderer Gelegenheit geradezu die Preisgabe jedes menschheitlichen
-Interesses an dem, was eine Sache zur Wirklichkeit macht, zugunsten
-dessen, was eine Sache zum bloßen Schein herunterdrückt? Fußt nicht
-auf diesem ganz bewußten Verzicht auf das, was wirklich in allen
-Wirklichkeiten ist, nach dem Dafürhalten Kants die ungemeine Tatsache
-der sogenannten Schönheit, der sogenannten Kunst?<span class="pagenum"><a name="Seite_415" id="Seite_415">[S. 415]</a></span> Adelt nicht
-gerade das die Welt zur schönen Welt, daß der Mensch ihre einzelnen
-Gegebenheiten und Erscheinungen von ihren wirklichen Zwecken ablöst
-und sich selber jede Bezugnahme auf eine mögliche Besitzergreifung,
-mögliche Aneignung, mögliche Nutzbarmachung freiwillig zwar, aber
-mit desto größerer Entschiedenheit verbietet? Hat nicht mithin Kant
-auf seine Weise, auf europäische Weise, das ungeheuere Gesetz dieser
-gotamidischen Entwirklichung der Wirklichkeit anerkannt und mehr
-wie nur anerkannt, wenn er zwar nicht die europäische Religion,
-immerhin aber die europäische Kunst grundsätzlich auf den Tatbestand
-zurückzuführen lehrt, daß die Welt als Wirklichkeit erlebt niemals
-eigentlich schön sei, die Welt als Schönheit erlebt aber niemals
-eigentlich wirklich? Leuchtet dem europäischen Denker, wenn er
-also von jener Entwirklichung der Wirklichkeit durch den indischen
-Buddho Gotamo hört, nicht als das einzig gültige Gleichnis dieses
-Vorgangs eine freilich in anderer Absicht vollzogene, aber trotzdem
-doch vollzogene Entwirklichung auf, eine ästhetische Entwirklichung,
-mit welcher er sich in seiner eigenen Vergangenheit höchst sinnvoll
-beschäftigt findet? Und kann bei dieser seltsamen Entdeckung der
-europäische Denker umhin, sich volle Rechenschaft darüber abzulegen,
-daß diese Entwirklichung der Wirklichkeit, obzwar zugestandenermaßen
-viel weniger religiös als ästhetisch gemeint, des unerachtet einer
-Tathandlung zu verdanken ist, die man mit nicht geringerem Recht
-eine Ablösung, eine Ent<span class="pagenum"><a name="Seite_416" id="Seite_416">[S. 416]</a></span>sagung, eine ‚Askesis‘ zu nennen befugt ist
-wie die entsprechende Tathandlung des Buddho? Wo wir uns jeglichen
-Interesses entschlagen an dem, was die Wirklichkeiten der Welt zur
-Wirklichkeit stempelt, sagt Kant, da schaffen wir die Möglichkeit
-einer schönen Welt, die uns interesseloses Wohlgefallen einflößt.
-Kaum aber ist dies in seinen Weiterungen so uneuropäische Bekenntnis
-den Lippen Kants entschlüpft, dieses Bekenntnis zur Schönheit als
-einem richtigen ‚asketischen Ideale‘ im Sinne Nietzsches, ja wenn man
-recht verstehen will sogar als einem Asketen-Ideal entwirklichter,
-das heißt entgifteter und entstachelter Wirklichkeit, &mdash; kaum,
-sag’ ich, hat sich der repräsentative europäische Denker dieses
-Bekenntnis fast etwas widerwillig selber abgerungen, als schon
-der europäische Künstler, wir wissen es, die schwer zu ermessende
-Bedeutungsfülle dieses Bekenntnisses dahin erwägt und überschlägt,
-daß es seinerseit die Welt als Spiel zu nehmen und als Spiel zu
-genießen zuläßt. Kants Entwirklichung der Wirklichkeit im Vorgang
-der ästhetischen Einstellung zur Welt erlaubt in Wahrheit nämlich
-zweierlei: entweder dem Gang der Welt unbeteiligt, unverstört und
-ungekränkt als Zuschauer zu folgen, &mdash; und das ist ungefähr die
-Folgerung Schopenhauers aus Kant gewesen. Oder aber als Mitspieler
-spielend in das ergötzliche Spiel selber einzugreifen, &mdash; und das
-war die fruchtbarere Folgerung Schillers. Im einen wie im anderen
-Fall indes bedeutet dieses Verhalten <i>in aestheticis</i> eine derart
-unverbrauchte und zukunft<span class="pagenum"><a name="Seite_417" id="Seite_417">[S. 417]</a></span>versprechende Möglichkeit, sich auch auf
-europäische Weise menschlich mit der Wirklichkeit abzufinden, daß der
-kantische Gedanke wie ein Frühlingsüdwind die Seele Europas sogar dort,
-wo sie bisher am härtesten zugefroren war, auftauen macht und einen
-schier schon verwinterten Samen unbegreiflich schnell ins Schwellen
-bringt. Als Spiel betrachtet oder gar als Spiel gespielt ist diese
-alte Welt sozusagen über Nacht jung und hell und schön geworden; als
-Spiel gewertet und erlebt wird sie überhaupt erst erträglich und
-aushaltbar: Spiel freilich jetzt am besten und glücklichsten in jener
-überaus sinnvollen Bedeutung genommen, welche Karl Bücher diesem
-Begriff gegeben hat, wenn er von einem gewissen Zustand sagt, daß „es
-nur eine Art der menschlichen Tätigkeit gibt, welche Arbeit, Spiel
-und Kunst in sich verschmilzt. In dieser ursprünglichen Einheit der
-geistig-körperlichen Betätigung des Menschen erkennen wir bereits
-die spätere wirtschaftlich-technische Arbeit, die Hauptformen des
-Spiels und aller Künste“... Interesseloses Wohlgefallen aber an einer
-Wirklichkeit, die eben durch den Verzicht auf jegliches ‚Interesse‘
-sich entwirklicht zeigt, das ist mit andern (und vielleicht auch
-etwas stärkeren) Worten lustvolles Genießen dieser entwirklichten
-Wirklichkeit: lustvolles Genießen mithin gerade dort, wo bisher der
-Mensch und insonderheit der christeuropäische Mensch so überwiegend
-von den Gefühlen dunkler Furcht und dumpfen Argwohns bedrängt war, daß
-er sich vor dieser seiner Wirklichkeit immer wieder<span class="pagenum"><a name="Seite_418" id="Seite_418">[S. 418]</a></span> zu den Göttern
-rettete. Als Kunstwerk oder Spielwerk aber scheint nun die Wirklichkeit
-mit einemmal entleidet, auch wenn sie voller Leids ist. Mag dieses
-Spiel nur niedere Komödie sein, wo sich die zerstörenden Gegenkräfte
-der Welt noch kurz, bevor der Vorhang fällt, in fröhlichem Gelächter
-innig gepaart zueinander finden, &mdash; oder mag es im Gegenteil Tragödie
-höchsten Stiles sein, wo Götter und Helden, feierlich den Opferreigen
-tanzend, am Ende der Nacht wie Sternbilder des Himmels still
-verbleichen und edel untergehen: dies Spiel verlockt doch immerzu,
-umbuhlt doch immerzu, bestrickt doch immerzu mit jener feurig kecken
-Überredsamkeit des Don Giovanni, welcher nicht einmal der steinerne
-Komtur als leibhaftiges Symbol des Todes hat widerstehen können:
-„Willst du mein Gast sein? &mdash; Ja!“...</p>
-
-<p>Ist aber die Wirklichkeit, von Kant zuerst bei uns zum schönen Schein,
-von Schiller dagegen zum schönen Spiel entwirklicht, nichts anderes
-als ein Gebild der Kunst, dann offenbar bedarf sie zu ihrer steten
-Neu-Hervorbringung des Künstlers. Als Kunstwerk, Spielwerk ist diese
-Welt das Werk des Künstlers: der Künstler aber eben der, der alle seine
-menschheitlichen Spannungen im Werk zur Lösung bringt. In diesem Sinn
-also Wirklichkeit und Welt als Werk des Künstlers aufzufassen, den
-Menschen aber eben als den Künstler dieses Werks, darin besteht der
-wesentlich europäische Vollzug einer Entwirklichung des Wirklichen.
-Wie wir übrigens jetzt doch sehr bestimmt wahrnehmen, von jenem
-gota<span class="pagenum"><a name="Seite_419" id="Seite_419">[S. 419]</a></span>midisch-indischen Vollzug bei aller inneren Übereinstimmung
-des Zieles in den Mitteln tief verschieden. Denn diese europäisch
-entwirklichte Wirklichkeit, sie bleibt ja wohlgemerkt kraft ihrer
-Eigenschaft als Kunstwerk mit all den heißen Leidenschaften und
-Begierden, Sehnsüchten und Wünschen des Künstlers bis zum Rand geladen.
-Sie ist nicht trotzdem, sondern weil sie dem Künstler-Menschen nur
-noch Spiel ist, nicht matter, abgekühlter, lebensferner wie vorher,
-vielmehr im Gegenteil farbiger, glühender, atembeklemmender wie je.
-Der Künstler, das sehen wir jetzt deutlich, entwirklicht die Welt
-auf andere Art wie das Religiöse, und dementsprechend entwirklicht
-der Europäer die Welt auch auf andere Art wie der Inder. Selbst wo
-der Künstler sich seiner Absicht nach also in seinem Werk von seiner
-Welt erlöst und damit augenscheinlich eine religiöse Leistung zum
-Vollzug bringt, &mdash; und welcher Künstler wäre erfahrener in diesen
-Selbst- und Welterlösungen gewesen wie Goethe? &mdash; selbst dort erlöst
-er dessen unerachtet nur als Künstler und nicht als Religiöser. Er
-bringt den Lebensstrom nicht wie der Büßer in sich zum Stocken,
-sondern er schaltet ihn nur gleichsam wie einen Kraftstrom in einen
-anderen Kreislauf ein. Imgleichen bringt er den Lebensdrang in sich
-nicht zur Unterbindung, sondern verpflanzt ihn gleichsam nur in eine
-andere Welt-Seins-Lage, Welt-Scheins-Lage. Ist doch der Künstler
-schlechterdings der Schaffende und folglich sein Erlösen zuletzt nichts
-anderes als ein Schaffen: wogegen sich<span class="pagenum"><a name="Seite_420" id="Seite_420">[S. 420]</a></span> der Büßer in einer Gegenwelt
-aufhält, für welche der Begriff des Schaffens seinen deutbaren Sinn
-nicht minder wie der Begriff der Gestalt verlor. Ein Schaffen bleibt
-sonach das entwirklichende Spiel des Künstlers im Gegensatz zu den
-Erlösungen des Büßers, und derart gipfelt mit unentwegter Folgestrenge,
-Folgetreue dieser europäische Vollzug der Welt-Entwirklichung <i>more
-aesthetico</i> im Schaffen. Als Schaffender lernt es der <i>homo europaeus</i>
-in dieser Welt endlich aushalten; als Schaffender weiß er sie endlich
-zu genießen; als Schaffender erlöst er sich endlich von ihrer
-Wirklichkeit zu ihrer Bildlichkeit und Sinnbildlichkeit. Nicht zufällig
-aber, wahrhaftig nicht! ihr Christen, heißt der europäische Oberbegriff
-alles europäischen Philosophierens schon beim alten, niemals alternden
-Platon &mdash; ποίησις, das ist Erschaffung, das ist Schöpfung.
-„Denn die Ursache von jedwedem“, so lesen wir im Gastmahl, „was aus
-dem Nicht-Sein ins Sein übergeht, ist insgesamt ποίησις“. Als
-Schaffender wagt der Europäer, sonst vielleicht eine schlechte und
-mißratene <i>species</i> Mensch, sein heiliges Ja zur Welt zu sprechen,
-da auch er als Nicht-Schaffender nur das Nein aufgebracht hatte. Als
-Schaffender verlernt er Leidender zu sein und an der Wirklichkeit,
-am Leiden selbst länger noch zu leiden. Als Schaffender verlernt
-er im Gesetz des Schaffens den Zufall des Leidens, dem er als
-Nicht-Schaffender wehrlos ausgesetzt bleibt. Unendlich beziehungreich
-hat darum der letzte Europäer, Nietzsche, dieses Erschaffen und
-Umschaffen der Welt zum<span class="pagenum"><a name="Seite_421" id="Seite_421">[S. 421]</a></span> Kunstwerk, Spielwerk, Künstlerwerk auf den
-Namen des Künstler-Gottes Dionysos getauft: seit Messer Ariosto bis
-zu Byron und Shelley, seit Cervantes bis zu Hoffmann und Keller, seit
-Shakespeare bis zu Büchner und Grabbe, seit Pier della Franceska bis
-zu Delacroix und Marées, seit Meister Rabelais bis zu Balzac und
-Rolland, seit Orlando di Lasso bis zu Mozart und Schubert befindet
-sich Europa auf seiner Höhe nur dann, wenn es die goldene Flöte des
-Dionysos bläst. Im Zeichen des dionysischen Schaffens vollendet sich
-Europa, &mdash; der Rest, an Umfang ungeheuer, an Wert gering, gehört
-Fabrikarbeit und Werkeltag, Berufsfron und Geschäft, Gelehrsamkeit
-und Schulfuchserei, Dienst und Drill. Die Welt aber ein dionysisches
-Begebnis: so heißt bisher Europas beste Stunde, so heißt bisher Europas
-ewigste Vollendung, die ihm niemand, nicht einmal der Europäer,
-streitig machen soll; &mdash; zugleich das einzige Ergebnis, welches der
-Mühe lohnt, daß diese kleine Teil-Welt, kaum mit Fug ein Welt-Teil zu
-nennen, nicht auch geschichtlich nur Asiens Halbinsel und Anhängsel
-geblieben ist. Als dionysisch Schaffender indes, angesichts seiner
-zu einem Kunst-Werk, Spiel-Werk schöpferisch erlösten Europa-Welt
-erklimmt der Europäer den Gipfel seines Kontinents, der da die Wasser
-zwischen Europa und Asien scheidet und gleichsam der ‚Ewige Ort‘ ist
-für alle guten und hohen Geister seit den Tagen des Herakleitos und
-Pythagoras, des Empedokles und Platon bis hinauf zu der Gegenwart
-Kants und Jean Pauls, Goethes und Nietzsches. Nur noch ein<span class="pagenum"><a name="Seite_422" id="Seite_422">[S. 422]</a></span> einziger
-kurzer Schritt, und dieser dionysische Europäer, Künstler und nicht
-Büßer zwar, aber dennoch ein Entwirklicher der Wirklichkeit und ein
-Erlöser von der Wirklichkeit, &mdash; nur ein Schritt noch, und er bekommt
-seine große Aufgabe zu Gesicht und mit ihr den großen Orient. Nur ein
-einziger kurzer Schritt noch, und der dionysische Europäer erschaut das
-Wunder aller Wunder, wie nämlich Europas Gott Dionysos dem indischen
-Buddho auf der Ost-Westbrücke begegnet und magisch mitten durch ihn
-hindurch schreitet. Nur ein einziger kurzer Schritt noch, und die Zeit
-ist erfüllt, da ein neuer Held Alexandros Europa und Asien aus Einem
-Mischkrug trinken wird...</p>
-
-<p>Eine Begegnung, sag’ ich, werde sich ereignen zwischen dem Gott, der
-bisher trotz des biblischen <i>deus absconditus</i> der vornehmste und
-edelste, sicherlich aber der unsterblichste Gott Europas gewesen ist,
-und zwischen dem indischen Buddho Gotamo. Denn es kommt ja der Gott
-Dionysos von dieser Welt geradewegs her, die er als Schaffender in
-ein säliges Spiel zu wandeln lehrt: und es kehrt ja der Buddho als
-‚Strahlender Mönch‘ zu dieser Welt geradeswegs zurück, nachdem er
-sich durch keine niederzerrende Fessel mehr an sie gefesselt weiß.
-Wie könnten mithin da die beiden sich verfehlen? In Wahrheit kehrt
-der Buddho aus jener unsäglichen Gegenwelt <i>nibbânam</i> zu dieser
-Welt zurück und auf seinem Antlitz blüht etwa jetzt der warme Klang
-von Zärtlichkeit, wie er stets solchen eignet, die sich<span class="pagenum"><a name="Seite_423" id="Seite_423">[S. 423]</a></span> rein auf
-sich selber abzustimmen vermochten und nun aller Wesen Wider-Klang
-glockenhaft empfangen. Auf ähnliche Weise kehrt der Buddho jetzt
-zurück, nicht unähnlich vielleicht jenem allerglücklichsten Könige aus
-Sakontalâ, der als Gast in Indras Himmel eingeladen war und nun auf
-Indras Wolkenwagen mit Indras Wagenlenker sanft zur Erde, sanft zur
-Heimat gleitet: „Die Schnellfahrt abwärts verleiht der Menschenwelt ein
-wunderseltsam Aussehn!... Ja, &mdash; diese Erde ist berückend schön“... Auf
-so beschaffener Rück- und Niederfahrt zur Welt also mag es geschehen
-sein, daß Indiens Buddho den orphischen Gott in Sicht bekam, von dem ja
-seinerseit die Sage vielsagend zu berichten weiß, daß er nach Indien
-gewallfahrtet sei. Wann dann der Buddho aber ihn, den ‚guten Europäer‘
-in Person, etwa die Worte sprechen hörte: „Wohlan ihr Freunde! Schaffen
-wir Schaffenden diese Wirklichkeit zu einem Kunstwerk, Spielwerk um,
-auf daß wir nicht an ihr zuschanden werden müssen“... wann ihn der
-Buddho dieser Art sich äußern hörte, &mdash; dann dürften ihn mancherlei
-gute Gründe und Untergründe zu folgender Erwiderung bewegen: „Die
-Wirklichkeit zum Spiel entwirklichen, o Trefflicher, ist gut! Vergiß
-indes das eine nicht über deinem Spiel, daß es auch einen Einsatz
-hat! Vergiß den Einsatz nicht, Dionysos! Sei es uns Menschen immerhin
-verstattet, daß wir, was um uns her geschieht, unwirklicher und darum
-auch unwichtiger nehmen lernen wie vorher. Sei es immerhin verstattet,
-das jeg<span class="pagenum"><a name="Seite_424" id="Seite_424">[S. 424]</a></span>licher von uns die süßeste Miene auch noch zum bittersten
-Spiel machen lerne, dieweil es eben ein Spiel und Spiegel, Bild und
-Sinnbild ist. Der Einsatz aber unsres Spiels, Dionysos, muß bei
-weitem für ernster gelten als alles, was insonderheit ihr spaßhaften
-Europäer bis heute ernst zu nehmen pflegtet. Auf diesem Schauplatz
-Welt, auf diesem Spielplatz Welt, da geht es um Entscheidungen,
-Teuerster, deren Tragweite bis an die Grenzen dieser Welt reicht, &mdash;
-und falls diese Welt, wie ihr behauptet, keine Grenzen hätte, bis an
-die Grenzenlosigkeit der Welt. Ihr Europäer meint, wo um des Einzelnen
-Tod oder Leben gewürfelt werde, da handle sich’s um keine Kleinigkeit.
-Ich aber habe jederzeit verkündigt, daß jeder Einzelne in jedem
-Augenblick nicht allein um sein eigen Leben und um seinen eigenen Tod
-würfle, sondern um hundert hunderttausend Leben, die er leben muß und
-leben wird, und um hundert hunderttausend Tode, die er sterben muß
-und sterben wird. Ihr Abendländer gebt ja vor zu wissen, daß alles,
-was hier je geschieht, seine Folgen habe, wie es auch umgekehrt die
-Folge ist von allem, was je geschah, und euern Genius Jean Paul hörte
-ich mit hohem Staunen schon fast Mein Wort wörtlich sprechen: „daß
-jede Tat (noch) viel gewisser eine ewige Mutter wird, als eine ewige
-Tochter ist“... Trotzdem tut ihr aber alle ohne Ausnahme so, als ob
-das Grundgesetz der Welt, das unverbrüchliche und ausnahmlose, mit
-dessen wissenschaftlicher Fassung ihr euch so unerträglich spreizt und
-brüstet, in jedem besonderen Fall, der euch selbst<span class="pagenum"><a name="Seite_425" id="Seite_425">[S. 425]</a></span> betrifft, außer
-Kraft treten könne, außer Kraft treten müsse. Denn jeder von euch tut,
-als ob seine Tat überhaupt keine Folgen hätte, und niemand hat ein
-Gefühl dafür, was das heiße, Ursache zu sein, Urheber zu sein, Urtäter
-zu sein. Oder ist euer Sinn nicht immer so ganz und gar ein kurzer,
-blöder, daß ihr wähnt, ihr könntet etwas tun, Böses oder Gutes, ohne es
-für die Unendlichkeit zu tun, &mdash; oder ihr könntet etwas unterlassen,
-Rechtes oder Schlechtes, ohne es für die Unendlichkeit zu unterlassen?
-Hinter der kleinen Muschel hört ihr das Meer zwar branden, aber
-welchem von euch donnert und rollt hinter der kleinen Tat der eiserne
-Gang der Welt anfanglos nach rückwärts und nach vorwärts endlos? Wem
-klirrt die Kette unendlicher Notwendigkeiten hinter jeder Wahlhandlung
-seiner Freiheit, oder wem dröhnt die Stille der Ewigkeit hinter jedem
-fallenden, hinter jedem hallenden Tropfen der Zeit? Solang’ ihr an
-euerer Seelen Unsterblichkeit glaubtet und an Gottes Vergeltung nach
-dem Tod, schien wenigstens den Bessern unter euch der gegenwärtige
-Entschluß nicht ganz unwichtig im Hinblick auf ein Künftiges, &mdash; wenn
-ihr freilich sogar auch dann noch dumm-listig und pfiffig-dreist genug
-zu dem unlauteren Versuche waret, den jenseitigen Richter euerer Un-
-und Übeltaten mit Trink- und Schmiergelderchen kirren zu wollen und
-euch selbst zu überreden: Er ist einer wie wir! Er hat seinen Preis und
-lässet sich kaufen!... Seither indes, und es ist schon ziemlich lange
-her, fandet ihr Europäer eine bessere Unsterblichkeit, nicht von euern<span class="pagenum"><a name="Seite_426" id="Seite_426">[S. 426]</a></span>
-Priestern, sondern von euern Gelehrten entdeckt und die Unsterblichkeit
-der Keimzelle nüchtern und wissenschaftlich geheißen. Und von da an,
-damit ich dir’s gestehe, Lieber! &mdash; von da an bezauberte mich die
-Hoffnung, daß ihr über diesen Umweg eines Tages den Weg sogar zu mir
-noch finden möchtet! Denn jetzt mußte es ja dem Blindesten hell vor
-den Augen werden, was eigentlich der Einsatz ist, um den gespielt wird
-im Spiel des Lebens. Jetzt mußt’ er’s mit den Händen tasten, &mdash; wie
-er in eigener Person die Summe aller Vorfahren bis hinauf zum ersten
-Menschen, bis hinauf zum ersten Tier in sich verkörperte, verseelte und
-vergeistigte, so würde er umgekehrt sich selbst wiederum verkörpern,
-verseelen und vergeistigen bis hinauf zum letzten Menschen und wer
-weiß! bis hinauf zum ersten Wesen der nächst höheren Gattung. Als
-ich von dieser Unsterblichkeit der Keimzelle vernahm, da dachte ich
-euch mir hart auf der Spur, und hart auf der Spur dem ewigen Gesetz,
-das ich einst, wie du weißt, meinen Mönchen nachließ: „<i>Kammadâyâdâ
-sattâ ti</i>, &mdash; Erben der Werke sind die Wesen, Erben der Taten sind die
-Wesen“... Als Erben der Werke, Erben der Taten, dacht’ ich damals,
-würdet ihr endlich alle Verkörperlichungen des Lebens bis hinab
-zum letzten Menschen und was nach ihm kommen wird betrachten. Als
-Selbst-Verkörperlichungen würdet ihr endlich die Körper euerer Enkel
-und Enkelsenkel bis ins letzte Glied begreifen lernen: und so würdet
-ihr endlich den Einsatz erraten, um den das königliche Spiel der Welt
-gespielt wird. War dies auch noch<span class="pagenum"><a name="Seite_427" id="Seite_427">[S. 427]</a></span> lange nicht Mein Weltgesetz, Meine
-Unsterblichkeit, Meine Lehre von der Wiederkunft, &mdash; denn dir ist’s
-bekannt, Dionysos, daß ich vielschichtig denke und bin, wo ihr nur
-einschichtig denkt und seid! &mdash; es war dennoch ein gutes Stück davon.
-Ein jeglicher würde als Ahne im Leib seiner Enkel wiederkehren, und
-so in ihrem Geist, in ihrer Seele; ein jeglicher würde wiederkehren
-nach Maßgabe seiner eigenen Seinsschaffenheit, zu welcher er sich
-selbstgestalterisch bestimmt hat und zu welcher er allen nachkommenden
-Samen mitbestimmt. Wie mußte euch der Sturm dieser ungeheuern
-Verpflichtung auf den Boden schmettern, &mdash; wie mußte euch der Wirbel
-dieser übermenschlichen Verantwortung wieder aufrecht reißen: daß jeder
-ein Richter ist aller ungeborenen Wesen, wenn er über sich selbst
-entscheidet, daß jeder in die fernsten Sterne zielt, wenn er den Pfeil
-der Tat von seines Bogens Sehne schnellt, &mdash; wie sagt doch, o Dionysos,
-euer großer Heraklit: „Nun aber heißt des Bogens Name Leben...“ Jetzt
-hattet ihr das Gewicht gefunden, das ich von meinem fernen Festland
-aus leider nicht an euch hängen konnte: jetzt ward es euch von euerer
-Wissenschaft geschenkt, damit ihr endlich als das Lot der Welt im Raume
-pendeln, schweben konntet. Ach, welche Hoffnungen setzte ich nicht
-damals in euch, auf euch, daß wir uns endlich, endlich finden würden...
-Aber was geschah? Auch dieses goldene Gewicht ließet ihr auf der Wage
-stehn. Auch jetzt verschmähtet ihr’s, selber Wage und Wagschale zu sein
-und als Gewichtstein dort hinabzusinken, wo es tief ist. Flaum<span class="pagenum"><a name="Seite_428" id="Seite_428">[S. 428]</a></span>leicht
-und daunenweich bliebt ihr auch jetzt, und anstatt hoch im Glockenstuhl
-der Zeit durch manches blaue Lichtjahr stolz zu schwingen, ließet ihr
-euch von jedem schwachen Hauch entwehen. Wie Irrwische sah’ ich euch
-hüpfen auf den Sümpfen eueres Kontinentes, Dionysos! Wohl lerntet ihr
-hier und da das Leben spielen, &mdash; aber ihr lerntet die Regel nicht,
-wie euer Spiel gewonnen und verloren wird. Nun ich dich aber hier,
-Dionysos, an Einsatz, Regel, Sinn, Geist deines Welt-Spiels mahne, sei
-dir das tiefere Geheimnis euerer westlichen Bedrängnis nicht ferner
-vorenthalten. Ihr liebt es, liebt es heute insbesonders, euch selbst
-in dieser apokalyptischen Stunde des Abfalls von Gott zu bezichtigen.
-Manchmal sind sogar die Besten, Hellsten, Klügsten unter euch der
-Meinung, sie brauchten nur wieder Götter glauben, und alles, was
-seither aus den Fugen sprang, renke sich schnell dann wieder ein wie
-zuvor. Das aber ist euer Grund- und Lebensirrtum! Denn nicht, daß ihr
-gottlos geworden seid, macht euch so unbeschreiblich elend und gemein;
-nicht dies hat über euch gebracht das Messerstich-Alter, welches ich in
-der Sechsundzwanzigsten Rede aus der längeren Sammlung Dîghanikâyo &mdash;
-sie führt aber in Meinem Kanon seltsamerweis den Titel ‚Der Kaiser‘,
-wie du weißt! &mdash; bis ins kleinste euch geweissagt habe. Sondern daß
-ihr weltlos geworden seid, ihr westlichen Menschen, weltlos wie keine
-andere Menschheit je zuvor. Ja, ihr lebt schlechterdings außer der
-Welt. Ihr lebt nicht vorwärts und nicht rückwärts; ihr lebt nicht ins
-Diesseit und nicht ins Jenseit; ihr<span class="pagenum"><a name="Seite_429" id="Seite_429">[S. 429]</a></span> lebt nicht in die Breite und nicht
-in die Tiefe. Selbst wo ihr Götter schufet, da schufet ihr sie viel
-lieber gegen die Welt als für sie. Ihr schufet Gott, damit er euch
-bei jeder Gelegenheit beausnahmen möchte von dem Gesetz der Welt, und
-selten, daß euere Götter etwas besseres waren als ein schiefer Vorwand
-für solch hochmütige Beausnahmung, &mdash; übrigens zugleich mein stärkster
-Einwand gegen alle Götter, Dionysos, und mein stärkster Einwand
-sogar gegen dich, verzeih!... Wundert euch darum nicht, ihr weltlos
-Gewordenen, wenn die Welt schließlich an euch vorüberläuft. Schon jetzt
-hat sie euerer so gut wie vergessen, und über eine kleine Weile wird
-Gras über euch gewachsen, Sand über euch geweht sein. Mich selber nennt
-ihr gottlos, und in Wahrheit habe ich meinen Jüngern Gott verboten,
-&mdash; aus Gründen, die du jetzt vielleicht zu ahnen beginnst. Aber bin
-ich auch gottlos: nie und unter keinen Umständen war ich weltlos. Wenn
-ich mich von der Welt am strengsten abschied, war ich vielleicht am
-innigsten mit ihr vereint. Und nur weil ich Bürger dieser und jener
-Welt war, vermochte ich’s, diese Welt durch jene Welt zu überwinden:
-‚Ich aber, ihr Mönche, verstehe diese Welt und jene Welt‘...“</p>
-
-<p>Solche oder ähnliche Rede mochte der indische Buddho Gotamo mit dem
-orphischen Gott Dionysos bei ihrer denkwürdigen Begegnung gewechselt
-haben auf dem Brückenjoch der Festländer. Dionysos aber ließ das Haupt
-lange auf seine Brust herabsinken. Und er verharrte reglos in einer
-Schweigsamkeit, die sich<span class="pagenum"><a name="Seite_430" id="Seite_430">[S. 430]</a></span> wie der längste Schatten des kürzesten Tages
-dämmergrau und erkältend zwischen die Wächter der beiden Reiche legte.
-Dann aber hob er sein saphirnes Auge auf und lächelte dem Buddho sonnig
-zu: „Recht hast du mir mit allem, o Buddho! Wir Menschen des westlichen
-Reiches spielten bisher Welt und spielten Leben, ohne die Regel unseres
-Spiels zu kennen und den Einsatz zu bedenken. Und daran bin ich am
-meisten schuldig. Früh hab’ ich ja in meiner orphischen Vergangenheit
-die Unsterblichkeit verkündet, ganz wie du selber, Gotamo. Und oftmals,
-wenn ich nach sinnaufwühlenden Offenbarungnächten den ersten Strahl
-meines heiligen Gestirns den Giebel meines Tempels zu Tempe goldig
-kränzen sah und gleichzeitig mich durch den Mund des Orpheus als
-Seelenretter und Heiland preisen hörte, &mdash; wie mußte ich da an dich,
-Spender der Unsterblichkeit denken, der du zu Maghadâ hast den Löwenruf
-erschallen lassen: ‚Leihet Gehör, ihr Mönche, die Unsterblichkeit
-ist gefunden‘... Das war damals, o Buddho, in jener ungeheuern Zeit
-des Götterfrühlings auf hesperischer Erde... Heut’ jedoch weiß ich
-auf das klärste, daß ich dich herzlich mißverstanden hatte. Mit
-ähnlichen Worten meintest du nicht das Ähnliche mit mir. Ich selber
-fühlte nur die zeugerische Lust des Werdens, das immer wird, und kaum
-geworden, wieder entwird. Ich selber war nur immer eingedenk des ewigen
-Schaffens, wie es in jeglicher Erschaffung sich selbst erscheint, in
-jeglicher Erscheinung aber die Erschaffenheit verneint, die nicht das
-Schaffen selber ist und sein kann. Als un<span class="pagenum"><a name="Seite_431" id="Seite_431">[S. 431]</a></span>zerstörliche Werdenskraft
-und Allkraft genoß und litt ich meine Ewigkeit, lebte und starb ich
-meine Ewigheit. Darüber vergaß ich, wundere dich nicht, das Gesetz des
-Werdens. Ich vergaß, daß alles Künftige in der Welt sich nur insoweit
-knoten würde, als es von einer eigenwilligen Gegenwart selbstherrlich
-geschürzt wird. Den Knoten der Welt und des Werdens, den an- und
-absteigenden in der Zeit, vergaß ich; vergaß, daß er an- und absteigt
-in der Zeit nur wie wir es selber ihm bestimmen. Wohl hatte ich während
-meiner Wallfahrt an euern heiligen Gangâ, dessen Silberquellen, wie ihr
-sagt, dem Gletschertor der Milchstraße klingend wie Sternschnuppentau
-entschmelzen, vom Strome her die Stimmen deiner Mönch’ und Nonnen
-häufig psalmodieren hören:</p>
-
-<div class="poetry-container">
- <div class="poetry">
- <div class="stanza">
- <div class="verse">„Und was der Mensch auch wirken mag,</div>
- <div class="verse">Verdammte Taten, edles Werk:</div>
- <div class="verse">Der Erbe ist er überall,</div>
- <div class="verse">Der Erbe seiner eigenen Tat...“</div>
- </div>
- </div>
-</div>
-
-<p>Aber was ich von dorther hörte, obwohl mich’s manchmal wundersam
-berührte, verstand mein Sinn noch nicht. Einmal ist Keinmal, Einmal
-ist höchstens Einmal, hatten wir’s in unserem armsäligen Einmaleins
-je und je vernommen. Wie hätten wir da dein glühendes Richterwort
-fassen sollen: Einmal ist Immer! Einmal ist Unendlichmal! Einmal
-ist Ewig! Ach! allzulang waren wir westlichen Olympier nur ‚Götter
-Lustig im Dämmerlicht‘ gewesen... Aber du selber, Herr, sagtest es
-vorhin, wir seien endlich jetzt auf deiner Spur. Ja, wir sind dir, wir
-sind der Welt end<span class="pagenum"><a name="Seite_432" id="Seite_432">[S. 432]</a></span>lich auf der Spur, o Gotamo! Zwar ist vor Kurzem
-noch an dem furchtbaren Gesetz, das du zuerst der Welt gegeben und
-aufgegeben hast, der stärkste meiner Söhne mir zerbrochen, (er hieß
-mit Namen Gold-Stern, das ist Zarathustra, und du kennst ihn, liebst
-ihn als von deiner Art, Herr...) Noch hat also zwar nicht einmal er,
-von allen zukünftigen Geistern meines Reiches der Zukünftigste und
-der Geistigste, deinen Urgedanken der unendlichen Wiederkunft aller
-Wesen je nach ihren Werken unangefochten bis ans Ende auszudenken,
-auszuhalten vermocht: noch ist unser Stärkster zu schwach gewesen
-für dein Gesetz und deine Welt, o Buddho. Aber er hat ihn doch &mdash;
-und welch ein großer Anfang, Aufgang ist dies! &mdash; als erster seit
-Jahrtausenden wieder religiös erlitten und gelebt, statt einfach
-wissenschaftlich festzustellen. Hier oder nirgends ahnte er, der neue
-<i>homo religiosus</i>, die neue Pflicht, die neue Bindung, welche demnächst
-auch uns in erneuter <i>religio</i> dem All verpflichten und verbinden
-würde. Hab’ also noch Geduld mit uns, Erhabener! Beim zagen Schimmer
-dieses Stern-Gedankens werden auch wir endlich lernen, uns wieder in
-die feierliche Nacht der Welt hineinzutasten. Du bist der Buddho, du
-bist der Erwachte, vollkommen Erwachte! Du bist erwacht, vollkommen
-erwacht zur Welt, von der wir heute morgendlich noch träumen. Aber du
-kennst die tausend Zeichen, die alle, alle darauf deuten, daß auch
-wir demnächst die Erwachenden und Erwachsamen sein werden: ein neuer
-Aufgang mitten in Europas Untergängen... Für jetzt und heut’ indes,<span class="pagenum"><a name="Seite_433" id="Seite_433">[S. 433]</a></span> o
-Buddho, ist unser beider Äon wieder einmal abgelaufen, &mdash; erst an des
-nächsten Ende werden wir uns wiedersehen. Dann aber wird der längste
-Schatten dieses kürzesten Tags, der jetzt graudämmerig und erkältend
-zwischen uns sich spreitet, dem kürzesten Schatten des längsten Tags
-gewichen sein. Dann wollen wir auf diesem Brückenjoch der Länder das
-nächste Mittsommerfest, Mittsommerglück gemeinsam feiern... Horch!..
-Läutete da nicht eine Glocke? Summte nicht ein Gong?.. Wie ein Kristall
-blaut wunderbar die Zeit! Schau um dich, Gotamo! Es weltet weit und
-breit!..“</p>
-
-<hr class="chap" />
-
-<div class="rightbox">
-
-<p class="p0 tdr">DIE WIEDERGABE DER BUDDHO-STATUE ERFOLGT MIT
-GENEHMIGUNG DES FOLKWANG-VERLAGES IN HAGEN</p>
-
-</div>
-
-<hr class="full" />
-
-<div class="section">
-
-<p class="s3 center">AUS REICHLS VERLAGSBERICHT</p>
-
-</div>
-
-<p class="center topspace">DER VOLLSTÄNDIGE VERLAGSBERICHT WIRD AUF VERLANGEN KOSTENLOS UND
-PORTOFREI GELIEFERT</p>
-
-<p class="s3 center">OTTO REICHL VERLAG DARMSTADT</p>
-
-<div class="reklame">
-
-<div class="chapter">
-
-<hr class="anzeigen" />
-
-</div>
-
-<p class="s3 center mbot1"><b>LEOPOLD ZIEGLER</b></p>
-
-<p class="s3 p0">GESTALTWANDEL DER GÖTTER</p>
-
-<p class="p0">VON <i>LEOPOLD ZIEGLER</i></p>
-
-<p class="p0">DRITTE AUFLAGE, ZWEI BÄNDE</p>
-
-<p class="p0">IN LEINWAND GEBUNDEN 240 M., IN HALBLEDER GEBUNDEN 360 M.</p>
-
-<p class="s5 p0"><b>Inhalt:</b> Erste Betrachtung: Weltheiligung, Sühnwirkung, Sinndeutung
-der Griechen. Zweite Betrachtung: Der Mythos vom Mittlergott und
-die Religion der Seele. Dritte Betrachtung: Der Heilsdreiweg der
-Christenheit. Vierte Betrachtung: Deutsche Reformation. Fünfte
-Betrachtung: Der Mythos Atheos der Wissenschaften. Sechste Betrachtung:
-Die Mysterien der Gottlosen.</p>
-
-<hr class="anzeigen" />
-
-<p class="s3 p0">DER EWIGE BUDDHO</p>
-
-<p class="p0">EIN TEMPELSCHRIFTWERK IN VIER UNTERWEISUNGEN VON <i>LEOPOLD ZIEGLER</i></p>
-
-<p class="p0">IN LEINWAND GEBUNDEN 150 M., IN HALBLEDER GEBUNDEN 250 MARK</p>
-
-<p class="s5 p0"><b>Inhalt:</b> Die erste Unterweisung: Buddho der Protestant. Die zweite
-Unterweisung: Buddho der Erlebende. Die dritte Unterweisung: Buddho der
-Wissende. Die vierte Unterweisung: Buddho der Öst-Westliche.</p>
-
-<hr class="anzeigen" />
-
-<p class="s3 p0">DER DEUTSCHE MENSCH</p>
-
-<p class="p0">VON <i>LEOPOLD ZIEGLER</i></p>
-
-<p class="p0">ZUR ZEIT VERGRIFFEN</p>
-
-<hr class="anzeigen" />
-
-<p class="s3 p0">VOLK, STAAT UND PERSÖNLICHKEIT</p>
-
-<p class="p0">VON <i>LEOPOLD ZIEGLER</i></p>
-
-<p class="p0">GEBUNDEN 9 M.</p>
-
-<p class="s5 p0"><b>Inhalt:</b> Das Volk und seine Souveränität. Der Staat und die
-Gerechtigkeit. Der Notstand der Persönlichkeit und seine Überwindung.</p>
-
-<hr class="anzeigen" />
-
-<p class="s3 p0">DAS WELTBILD HARTMANNS</p>
-
-<p class="p0">VON <i>LEOPOLD ZIEGLER</i></p>
-
-<p class="p0">GEBUNDEN 15 M.</p>
-
-<p class="s5 p0"><b>Inhalt:</b> System und Zeit. Deduktion, Induktion und Wahrscheinlichkeit.
-Die Ableitung der Qualität. Die Entstehung des Bewußtseins. Monistische
-Philosophie. Induktion und genetische Metaphysik. Der Wahrheitsbegriff.</p>
-
-<hr class="anzeigen" />
-
-<p class="s3 p0">ZUR METAPHYSIK DES TRAGISCHEN EINE PHILOSOPHISCHE STUDIE</p>
-
-<p class="p0">VON <i>LEOPOLD ZIEGLER</i></p>
-
-<p class="p0">BROSCHIERT 6 M.</p>
-
-<p class="s5 p0"><b>Inhalt:</b> I. Die letzten Prinzipien des Tragischen. II. Die Postulate des
-Tragischen. III. Das Tragische als Antizipation des Weltprozesses.</p>
-
-<hr class="anzeigen" />
-
-<p class="s3 p0">FLORENTINISCHE INTRODUKTION</p>
-
-<p class="p0">ZU EINER PHILOSOPHIE DER ARCHITEKTUR UND DER BILDENDEN KÜNSTE</p>
-
-<p class="p0">VON <i>LEOPOLD ZIEGLER</i></p>
-
-<p class="p0">GEBUNDEN 24 M.</p>
-
-<div class="chapter">
-
-<hr class="anzeigen" />
-
-</div>
-
-<p class="s3 center mbot1"><b>GRAF HERMANN KEYSERLING</b></p>
-
-<p class="s3 p0">DAS REISETAGEBUCH EINES PHILOSOPHEN</p>
-
-<p class="p0">VOM <i>GRAFEN HERMANN KEYSERLING</i></p>
-
-<p class="p0">FÜNFTE AUFLAGE 1921. ZWEI BÄNDE</p>
-
-<p class="p0">IN LEINWAND GEBUNDEN MIT DEM BILDNIS
-DES VERFASSERS 240 M., IN HALBLEDER GEBUNDEN 360 M.</p>
-
-<hr class="anzeigen" />
-
-<p class="s3 p0">WAS UNS NOT TUT &mdash; WAS ICH WILL</p>
-
-<p class="p0">VOM <i>GRAFEN HERMANN KEYSERLING</i></p>
-
-<p class="p0">DRITTE AUFLAGE 1920</p>
-
-<p class="p0">BROSCHIERT 6 M.</p>
-
-<hr class="anzeigen" />
-
-<p class="s3 p0">DAS GEFÜGE DER WELT</p>
-
-<p class="p0">VERSUCH EINER KRITISCHEN PHILOSOPHIE</p>
-
-<p class="p0">VOM <i>GRAFEN HERMANN KEYSERLING</i></p>
-
-<p class="p0">ZWEITE AUFLAGE 1920</p>
-
-<p class="p0">GEBUNDEN 90 M., IN HALBLEDER GEBUNDEN 180 M.</p>
-
-<p class="s5 p0"><b>Inhalt:</b> I. Die Einheit des Universums. II. Kontinuität und
-Diskontinuität. III. Harmonices mundi. IV. Die Probleme des Geistes. V.
-Die Freiheit im Weltzusammenhange. Epilog: Was ist Wahrheit?</p>
-
-<hr class="anzeigen" />
-
-<p class="s3 p0">UNSTERBLICHKEIT</p>
-
-<p class="p0">EINE KRITIK DER BEZIEHUNGEN ZWISCHEN NATURGESCHEHEN UND MENSCHLICHER
-VORSTELLUNGSWELT</p>
-
-<p class="p0">VOM <i>GRAFEN HERMANN KEYSERLING</i></p>
-
-<p class="p0">DRITTE AUFLAGE 1920</p>
-
-<p class="p0">GEBUNDEN 75 M., IN HALBLEDER GEBUNDEN 150 M.</p>
-
-<p class="s5 p0"><b>Inhalt:</b> I. Über den Unsterblichkeitsgedanken überhaupt. II.
-Todesgedanken. III. Das Problem des Glaubens. IV. Dauer und Ewigkeit.
-V. Das Bewußtsein. VI. Mensch und Menschheit. VII. Individuum und Leben.</p>
-
-<hr class="anzeigen" />
-
-<p class="s3 p0">PHILOSOPHIE ALS KUNST</p>
-
-<p class="p0">Vom <i>GRAFEN HERMANN KEYSERLING</i></p>
-
-<p class="p0">GEBUNDEN 75 M., IN HALBLEDER GEBUNDEN 150 M.</p>
-
-<p class="s5 p0"><b>Inhalt:</b> I. Philosophie als Kunst. II. Sterndeutung. III. Zeitliche,
-zeitlose, ewige Geister. IV. Entwicklungshemmungen. V. Individuum und
-Zeitgeist. VI. Idealismus und nationale Erziehung. VII. Germanische
-und romanische Kultur. VIII. Ost und West auf der Suche nach der
-gemeinsamen Wahrheit. IX. Die begrenzte Zahl bedeutsamer Kulturformen.
-X. Das Schicksalsproblem. XI. Vom Interesse der Geschichte. XII.
-Deutschlands Beruf in der veränderten Welt. XIII. Erscheinungswelt und
-Geistesmacht. XIV. Für und wider die Theosophie. XV. Was uns not tut -—
-was ich will.</p>
-
-<hr class="anzeigen" />
-
-<p class="s3 p0">DEUTSCHLANDS WAHRE POLITISCHE MISSION</p>
-
-<p class="p0">VOM <i>GRAFEN HERMANN KEYSERLING</i></p>
-
-<p class="p0">DRITTE AUFLAGE 1920</p>
-
-<p class="p0">BROSCHIERT 6 M.</p>
-
-<hr class="anzeigen" />
-
-<p class="s3 p0">POLITIK &mdash; WIRTSCHAFT &mdash; WEISHEIT</p>
-
-<p class="p0">VOM <i>GRAFEN HERMANN KEYSERLING</i></p>
-
-<p class="p0">ERSCHEINT IM JANUAR 1922</p>
-
-<hr class="anzeigen" />
-
-<p class="s3 p0">DER WEG ZUR VOLLENDUNG</p>
-
-<p class="p0">MITTEILUNGEN DER SCHULE DER WEISHEIT IN DARMSTADT</p>
-
-<p class="p0">HERAUSGEGEBEN VOM <i>GRAFEN HERM. KEYSERLING</i></p>
-
-<p class="p0">JEDES HEFT 7.50 M.</p>
-
-<hr class="anzeigen" />
-
-<p class="s3 p0">DER LEUCHTER</p>
-
-<p class="p0">WELTANSCHAUUNG UND LEBENSGESTALTUNG</p>
-
-<p class="p0">JAHRBUCH DER SCHULE DER WEISHEIT IN DARMSTADT</p>
-
-<p class="p0">HERAUSGEGEBEN VOM <i>GRAFEN HERM. KEYSERLING</i></p>
-
-<p class="p0">JAHRBUCH 1920. GEBUNDEN 90 M.</p>
-
-<p class="s5 p0"><b>Inhalt:</b> Graf Hermann Keyserling: Worauf es ankommt. G. F. Hartlaub:
-Kritik der Geheimwissenschaft. Heinrich Nienkamp: Werten und Wirken.
-Leopold Ziegler: Buddho der Protestant. Herman Hefele: Die Idee
-des Kommunismus. Gerhard von Mutius: Humanität und Bildung. Max
-Scheler: Sozialismus und Persönlichkeit. Fritz Wichert: Sich selber
-beistehen. Friedrich Gogarten: Die Kirche. Peter Behrens: Das Ethos
-und die Umlagerung der künstlerischen Probleme. Rudolf Binding:
-Ethische Grundlagen eines Volkes. Günther Weitbrecht: Wertung und
-Erkenntnis. Günther Weitbrecht: Der Brunnen des Lebens. Alexander von
-Gleichen-Rußwurm: Unter Platanen.</p>
-
-<hr class="anzeigen" />
-
-</div>
-
-
-
-
-
-
-
-
-<pre>
-
-
-
-
-
-End of the Project Gutenberg EBook of Der ewige Buddho, by Leopold Ziegler
-
-*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER EWIGE BUDDHO ***
-
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-Foundation" or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection
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-1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
-warranties or the exclusion or limitation of certain types of
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-unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
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-electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
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-or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
-additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
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-Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
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-from people in all walks of life.
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-Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
-and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
-generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
-Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
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-Literary Archive Foundation
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-The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
-501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
-state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
-Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
-number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
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-locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
-Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
-date contact information can be found at the Foundation's web site and
-official page at www.gutenberg.org/contact
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-Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
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-Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
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-Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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